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German Pages 252 Year 2019
Christiane Hackel Aristoteles-Rezeption in der Geschichtstheorie Johann Gustav Droysens
Transformationen der Antike Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 58
De Gruyter
Christiane Hackel
Aristoteles-Rezeption in der Geschichtstheorie Johann Gustav Droysens
De Gruyter
Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.
ISBN 978-3-11-062404-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063229-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063065-7 ISSN 1864-5208 Library of Congress Control Number: 2019931428 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorbemerkung Die vorliegende Studie wurde im Juni 2018 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation eingereicht. Ihre Konzeption reicht in die Zeit meiner Mitarbeit am Berliner Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zurück. Die nun abgeschlossen vorliegende rezeptionsgeschichtliche Untersuchung ist thematisch im Grenzbereich verschiedener Wissensdisziplinen (Geschichte der Altertumswissenschaft, Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie und Philosophiegeschichtsforschung) angesiedelt. Sie leistet eine systematische Aufarbeitung der in der Geschichtstheorie Johann Gustav Droysens zu findenden Aristoteles-Bezüge und reiht sich somit in die Gruppe der Arbeiten zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen der droysenschen Historik ein. Indem sie Droysens Aristoteles-Rezeption in den Kontext der im 19. Jahrhundert zu beobachtenden Aristoteles-Renaissance einordnet, leistet sie darüber hinaus einen Beitrag zu deren weiterer Erforschung. Ich danke meinen beiden Betreuern, Prof. Dr. Wilfried Nippel und Prof. Dr. Gerald Hartung, für Ihr Interesse an der Thematik. Prof. Dr. Colin Guthrie King, Katja Wannack, PD Dr. Horst Walter Blanke, PD Dr. Georg Toepfer, Dr. Josefine Kitzbichler und Dr. Thomas Poiss waren mir während verschiedener Phasen meiner Arbeit wichtige Gesprächspartner. Sie alle haben mich an ihrem Wissen partizipieren lassen und mich mit ihren Anregungen und Hinweisen unterstützt, wofür ich ihnen sehr danke. Dank gebührt darüber hinaus Katharina Reinecke für ihr fach- und sachkundiges Lektorat, den beiden studentischen Mitarbeitern des August-BoeckhEditionsprojekts, Ludwig Maisel und Simon Neumaier, für Ihre Unterstützung bei diversen Korrekturvorgängen und bei der Erstellung des Personenregisters, Dr. Josefine Kitzbichler für ihre Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts für den Druck sowie dem SFB 644 »Transformationen der Antike« für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ganz besonders dankbar bin ich meinem Lebensgefährten Steffen Markowski für unzählige anregende Gespräche, das erste kritische Lesen aller meiner Texte und nicht zuletzt für seine Geduld und stete Ermutigung. Meinem Vater Dr. med. Wolfram Hackel danke ich für seine interessierte und konstruktive Begleitung des Entstehungsprozesses der Arbeit und meiner Tochter Rosa Laetitia Hackel dafür, dass sie mich eine neue Sicht auf die Dinge der Welt gelehrt hat. Berlin, im November 2018
Christiane Hackel
Inhalt Vorbemerkung ..................................................................................................................... V Prolog .................................................................................................................................... 1 Erkenntnisinteresse ................................................................................................ 1 Zur Überlieferung der Geschichtstheorie Droysens (Textgrundlage) ............ 2 Forschungsstand .................................................................................................... 8 Zur vorliegenden Arbeit ..................................................................................... 13 1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3. 1.3.4. 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.3.8 1.3.9 1.3.10 1.3.11 1.4 1.5
Versuch einer historischen Kontextualisierung der Aristoteles-Rezeption Droysens ................................................................. Zur Bedeutung der aristotelischen Philosophie und zu ihrer Rezeption bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ................................................................... Zur Editionsgeschichte der aristotelischen Schriften ..................................... Die neuzeitliche Editionsgeschichte des Corpus Aristotelicum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ................................................................ Die von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Aristoteles-Ausgabe (1831–1870) ....................................... Die von der Tauchnitzʼschen Buchhandlung verlegten Aristotelis opera omnia ......................................................................................... Wichtige Stationen der Aristoteles-Rezeption im deutschsprachigen Raum vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ....... Vorbemerkungen ................................................................................................. Johann Gottlieb Buhle (1763–1821) ............................................................... Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) .................................... Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und seine Schüler ............... Die Übersetzung der Kategorienschrift von Droysens Studienfreund Albert Heydemann (1808–1877) ..................................................................... August Boeckh (1785–1867) ............................................................................ Heinrich August Ritter (1791–1869) .............................................................. Christian August Brandis (1790–1867) .......................................................... Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) ................................................ Die Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG) ............................................ Die aristotelische Philosophie als Lehrgegenstand an deutschsprachigen Universitäten ................................................................. Weiterführende methodische Überlegungen .................................................. Fazit .......................................................................................................................
17 17 19 19 22 27 28 28 31 33 35 40 44 46 51 56 71 72 73 75
VIII
Inhalt
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre ........... 77 Die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre ........................................................... 77 Die vier Teiloperationen des Verstehens ......................................................... 80 Der Vorrang der Finalursache vor der Bewegungsursache ............................ 85 Die vier Hinsichten der Systematik ................................................................... 89 Die vier Formen der erzählenden Darstellung ................................................. 97 Droysens Bezeichnung der vier Ursachen als »Kategorien« ...................... 104
3.
Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles ................................ 107
4.
Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung und als ἐπίδοσις εἰς αὑτό ..................................................................................... Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (I) ............................................ Die aristotelische Form-Materie-Distinktion ............................................... Aristotelesʼ Unterscheidung der zwei Seinsmodi von Möglichkeit (δύναμις) und Wirklichkeit (ἐνέργεια) ...................................... Aristotelesʼ Konzeption der κίνησις (Bewegung, Veränderung) in der Physik ....................................................................................................... Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung ......................... Exkurs: Unstimmigkeiten ................................................................................ Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (II): Aristotelesʼ Bestimmung der Seele als Formursache und als vollendete Wirklichkeit (ἐντελέχεια) des Körpers ................................... Droysens Auffassung von der Geschichte als einer kontinuierlichen Steigerung zu sich selbst (ἐπίδοσις εἰς αὑτό) .................................................... Der Unterschied von Natur und Geschichte ................................................ Kontinuität als ein Charakteristikum jeglicher historischen Entwicklung ................................................................. Geschichte als (Höher-)»Entwicklung« der Menschheit im epigenetischen Sinn ..................................................................................... Geschichte als teleologischer Prozess .............................................................. Resümee ..............................................................................................................
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5
Droysens Konzeption von Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) der im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse ............ Droysens Konzeption von Sprache und Kunst sowie von untersuchender und erzählender Darstellung als Mimesis (μίμησις) .......... Mimesis als zentraler Begriff in der Dichtungstheorie des Aristoteles ....... Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs ................................................. Anmerkungen zu Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs ................. Versuch einer Kontextualisierung von Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs .......................................................................................... Exkurs: Droysens Rezeption der aristotelischen Poetik ...............................
115 115 116 117 118 119 123 125 128 130 133 134 136 141 145 154 154 156 159 161 168
Inhalt
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3
Von der Apodeixis zur Topik ............................................................................ Das aristotelische Organon ............................................................................... Apodeixis ............................................................................................................ Topik ................................................................................................................... Droysen und die Tradition der Rhetorik .......................................................
IX 175 176 178 185 197
Epilog ................................................................................................................................ 201 Anhang ............................................................................................................................. Statistische Erhebungen ................................................................................... Schematische Darstellung der Gliederung der ersten Fassung der Systematik .................................................................... Gliederung der Systematik ab dem Jahre 1858 .............................................. Siglen und Abkürzungen .................................................................................. Literaturverzeichnis .......................................................................................... Personenregister ................................................................................................
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Prolog Erkenntnisinteresse Johann Gustav Droysen (1808–1884) kam 1826 zum Studium an die 1810 neugegründete Berliner Universität. Seine wichtigsten akademischen Lehrer waren August Boeckh, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Geograph Carl Ritter und der Philosoph Heinrich Ritter. Droysen begann seine wissenschaftliche Karriere als Klassischer Philologe und Althistoriker und beendete sie als Historiker Preußens. Seine heutige Bekanntheit verdankt er aber vor allem seinen wiederholt gehaltenen Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte – die allerdings erst sein Enkel Rudolf Hübner im Jahre 1937 (also über 50 Jahre nach Droysens Tod) unter dem Titel Historik publiziert hat. In der dort von ihm entwickelten Geschichtstheorie unternimmt Droysen den Versuch, die Geschichte auf theoretischer und methodologischer Ebene als autonome Wissenschaft zu konstituieren. Längst bekannt ist, dass er zu diesem Zweck auf Gedankengut Boeckhs, Hegels und Humboldts zurückgegriffen hat. Weniger bekannt hingegen ist die große Präsenz des Aristoteles und aristotelischen Gedankengutes in der Historik, obwohl verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht worden ist.1 Diese Hinweise haben den Anstoß zu der hier vorliegenden rezeptionsgeschichtlichen Studie gegeben. Ihr Anliegen ist es, alle Aristoteles-Bezüge in Droysens Geschichtstheorie möglichst vollständig zu erfassen und systematisch aufzuarbeiten. Sie reiht sich somit in die Gruppe der Arbeiten zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Geschichtstheorie Droysens ein. Das die Untersuchung leitende Erkenntnisinteresse bestand darin, herauszuarbeiten, in welcher Weise und warum Droysen an verschiedenen Stellen auf Aristoteles zurückgreift und welche Funktion der aristotelischen Philosophie in seinem Theorieentwurf zukommt, d. h. ob und inwieweit die von ihm herangezogenen aristotelischen Begriffe und Theorieelemente konstitutiv für seine Begründung der Geschichtswissenschaft sind.2 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich, zunächst in kleinen Schritten, eine Renaissance der aristotelischen Philosophie vorzubereiten begonnen, die zu der Zeit, als Droysen seine Geschichtstheorie ausarbeitete, in größter Blüte stand. Daher steht Droysen mit seinem Rückgriff auf aristotelisches Gedankengut in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht allein. Um seine Aristoteles-Rezeption verstehen und bewerten zu können, war es daher notwendig, den geistesgeschichtlichen Kontext, dem sie sich _____________ 1 2
Siehe hierzu unten den Überblick über den Forschungsstand. Wie es z. B. von Pandel (1990), 63, behauptet worden ist.
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Prolog
verdankt, wenigstens ansatzweise, d. h., soweit dieser für Droysen von Relevanz gewesen ist, mit in den Blick zu nehmen und zu rekonstruieren. (Das geschieht im ersten Kapitel.) Nun hat sich Droysen aber durch seine offensichtlichen Bezugnahmen auf Aristoteles zugleich als Akteur in diese Aristoteles-Renaissance eingeschrieben, wodurch die hier unternommene Rekonstruktion der Aristoteles-Rezeption Droysens auch einen Beitrag zur weiteren Erforschung der aristotelischen Studien im 19. Jahrhundert leistet. Da die Konzeption der Arbeit noch in die Zeit meiner Mitarbeit am Berliner Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« (SFB 644) zurückreicht, wird es am Ende auch darum gehen, die Art und Weise, in welcher Droysen mit dem antiken Gedankengut (der aristotelischen Philosophie) umgeht, mittels des dort erarbeiteten theoretischen und begrifflichen Instrumentariums zu kategorisieren.
Zur Überlieferung der Geschichtstheorie Droysens (Textgrundlage) Im Folgenden sollen die Publikationen, auf denen unsere Kenntnis der Geschichtstheorie Droysens basiert, kurz vorgestellt werden. Das erweist sich aus drei Gründen als notwendig: Erstens, weil es keine von Droysen autorisierte Edition gibt, da Droysen seine Historik-Vorlesung nicht selbst publiziert hat. Zweitens, weil wir mit den verschiedenen Auflagen der Grundrisse der Historik und den posthum erschienenen Editionen der Vorlesungsmanuskripte (von Hübner, Leyh und Blanke) verschiedene Ausarbeitungsstufen seiner Theorie vorliegen haben. Und drittens, weil wir es mit ganz verschiedenen Textsorten zu tun haben. All das wird gern übersehen. Droysen war ein Autor, der seine Texte nicht nur sprachlich und stilistisch, sondern auch inhaltlich immer wieder überarbeitet hat. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die verschiedenen Ausarbeitungsstufen seiner Theorie neben- und gegeneinander zu lesen. Obwohl es nicht das Ziel der hier unternommenen Untersuchung ist, die sich über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren erstreckende Genese von Droysens Geschichtstheorie nachzuvollziehen oder die verschiedenen Ausarbeitungsstufen miteinander zu vergleichen, gilt es dennoch jeweils zu reflektieren, aus welcher seiner Schriften eine bestimmte Aussage stammt. Daher werde ich im Folgenden immer darauf hinweisen, auf welchen Text Droysens ich mich jeweils beziehe. Ebenso ist es aber auch notwendig, stets zu berücksichtigen, auf welche Droysen-Texte sich Äußerungen anderer über seine Geschichtstheorie jeweils beziehen, um deren Aussagen angemessen bewerten zu können. Deshalb folgt hier eine knappe Übersicht über die in dieser Untersuchung herangezogenen Texte Droysens und deren jeweilige Publikationsgeschichte, ohne welche die Wirkungsgeschichte von Droysens Geschichtstheorie unverständlich bliebe. Zuerst zu Droysens Vorlesung über Historische Encyclopädie und Methodologie, die er in einem Zeitraum von 25 Jahren insgesamt 17 Mal vorgetragen hat, erstmals im Sommersemester 1857 in Jena und zum letzten Mal im Wintersemester 1882/83 in
Zur Überlieferung der Geschichtstheorie Droysens
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Berlin.3 Er hat diese Vorlesung aber – anders als etwa seine Vorlesung über die Freiheitskriege4 – nie selbst publiziert. Die von Droysen im Laufe der Jahre immer wieder überarbeiteten Vorlesungsmanuskripte sind im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz überliefert. 1937 edierte Droysens Enkel Rudolf Hübner die letzte Fassung des Vorlesungsmanuskriptes seines Großvaters aus dem Jahre 1881.5 Nun entspricht diese Edition nicht den Kriterien einer modernen historisch-kritischen Ausgabe, da Hübner entgegen seiner Aussage eben nicht nur auf Droysens letztes Manuskript, sondern auch auf weitere Manuskripte zurückgegriffen hat, ohne das aber im Einzelnen kenntlich zu machen, und weil seine Ausgabe laut Peter Leyh sinnentstellende Lesefehler enthält.6 Aus diesem Grund erarbeitete Peter Leyh eine neue, auf zwei Bände hin angelegte Edition, von der 1977 allerdings nur der erste Band erschienen ist: die Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen von 1857.7 Nun ist allerdings auch diese Edition nicht unproblematisch, da Peter Leyh ebenfalls Materialien aus anderen Fassungen mit einbezieht. Diese Einschübe aus späteren Manuskripten sind zwar als solche gekennzeichnet, was aber leicht zu übersehen ist, weshalb der »eilige Nutzer« sie gar nicht als solche wahrnimmt, worauf Wilfried Nippel zu Recht wiederholt hingewiesen hat.8 Der zweite Band, der eine den heutigen editorischen Standards entsprechende Ausgabe der letzten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes bieten soll, wird zur Zeit von Horst Walter Blanke erarbeitet. Bis dieser erscheint, ist es also für eine Kenntnis der späten Fassung weiterhin notwendig, auf die Edition Rudolf Hübners zurückzugreifen. Beide Fassungen von Droysens Geschichtstheorie, die frühe und die späte, unterscheiden sich trotz aller Konstanten erheblich voneinander. Das Gleiche trifft auch für den Grundriss der Historik zu, der in fünf bzw. sechs verschiedenen Fassungen vorliegt. So wie Droysen für seine Studenten auch zu anderen seiner Vorlesungen sogenannte Grundrisse veröffentlicht hat, die in der Regel die Gliederung der jeweiligen Vorlesung und knappe Inhaltsangaben in Paragraphenform enthalten, publizierte er bereits 1858 in Form eines Manuskriptdruckes einen Grundriss zu seiner HistorikVorlesung. Diesem folgte im Jahre 1862 ein weiterer Manuskriptdruck. In diesem Grundriss hat Droysen in extrem verknappter und daher nicht immer leicht verständlicher Form den Inhalt seiner Vorlesung in einzelnen Paragraphen niedergeschrieben. 1868 erschien die erste Buchhandelsausgabe des Grundrisses der Historik, der 1875 eine zweite und 1882 eine dritte Auflage folgten. Die drei Buchhandelsausgaben enthalten neben dem Grundriss zusätzlich noch drei Beilagen. Bei diesen handelt es sich um drei, aus ganz verschiedenen Anlässen entstandene Aufsätze Droysens: Die Er_____________ 3 4 5 6 7 8
Vgl. das Vorwort von Peter Leyh in: Historik (L), IX. Droysen (1846). Historik (H). Diese Edition erschien 1977 in achter Auflage. Vgl. das Vorwort von Peter Leyh in: Historik (L), XV. Historik (L). In Vorträgen und im mündlichen Gespräch sowie in Nippel (2012), 339, Anm. 14.
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Prolog
hebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft (1863), Natur und Geschichte (1866) und Kunst und Methode (1867), ohne die der Grundriss wahrscheinlich schwerlich auf dem Buchmarkt unterzubringen gewesen wäre und die offensichtlich die Funktion haben, das Knochengerüst, das der Grundriss bietet, erläuternd zu flankieren.9 Zu den fünf von Droysen selbst veröffentlichten Versionen des Grundrisses kommt dann noch die erst von Peter Leyh publizierte »erste vollständige handschriftliche Fassung« hinzu, die Droysen wahrscheinlich zwischen Mitte August 1857 und Mitte Februar 1858 niedergeschrieben hat.10 Chronologische Auflistung der von Droysen selbst publizierten Grundrisse: Jahr 1858 1862 1868 1875 1882
Verlag Manuskriptdruck bei Frommann, Jena Manuskriptdruck bei Moeser, Berlin Buchhandelsausgabe, erste Auflage bei Veit & Comp., Leipzig Buchhandelsausgabe, zweite Auflage bei Veit & Comp., Leipzig Buchhandelsausgabe, dritte Auflage bei Veit & Comp., Leipzig
Umfang11 27 Seiten bzw. 77 Paragraphen 16 Seiten bzw. 77 Paragraphen 38 Seiten bzw. 91 Paragraphen, ergänzt um drei Beilagen 38 Seiten bzw. 91 Paragraphen, ergänzt um drei Beilagen 35 Seiten bzw. 95 Paragraphen, ergänzt um drei Beilagen
Die erste handschriftliche Fassung des Grundrisses und der Manuskriptdruck von 1858 sind – bis auf wenige neu hinzugekommene Passagen, wie eine vom Mai 1858 stammende dreieinhalbseitige Einführung, und teilweise ergänzte und zumeist ausführlichere Quellenangaben – nahezu identisch. Die beiden Manuskriptdrucke von 1858 und 1862 haben zwar die gleiche Struktur und Paragraphenanzahl, aber bei der Version von 1862 handelt es sich um den im Vergleich knappsten aller Grundrisse, da Droysen hier viele radikale Kürzungen vorgenommen hat, denen z. B. auch die Einführung zum Opfer gefallen ist. In die erste Buchhandelsauflage von 1868 hat er allerdings einige der 1862 gestrichenen Passagen dann doch wieder aufgenommen (wie z. B. die Einführung vom Mai 1858), was nicht verwundert, da die Streichungen dem Verständnis nicht gerade förderlich gewesen sind. Neu hinzugekommen sind darüber hinaus ein anderthalbseitiges Vorwort (vom November 1867), das Droysen dann auch für die beiden Folgeauflagen von 1875 und 1882 unverändert übernimmt, und die drei Beilagen. Darüber hinaus fallen gegenüber 1858 viele Überarbeitungen und Ergänzungen auf. Dafür hat Droysen für die zweite Buchhandelsauflage von 1875 fast keine weiteren Veränderungen vorgenommen, so dass die ersten beiden Buchhandelsauflagen quasi identisch sind. Im _____________ 9 10 11
Vgl. hierzu Nippel (2008), 232 f. Vgl. das Vorwort des Herausgebers in: Historik (L), XVIII. Die Seitenangaben bieten natürlich nur eine ungefähre Orientierung, da der Satz jeweils verschieden ist.
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Vorwort zur zweiten Auflage von 1875 notiert Droysen zwar: »Für diese neue Auflage ist der Grundriss in wenigen Paragraphen und nur des bestimmteren Ausdrucks willen verändert worden.«12 – mir sind aber bei der vergleichenden Durchsicht der Auflagen von 1868 und 1875 bis auf zwei unwesentliche Veränderungen keine Unterschiede zwischen beiden Ausgaben aufgefallen. Im Vergleich dazu ist die dritte Auflage von 1882 stark überarbeitet. Sie enthält viele Ergänzungen im Text. Die gravierendste und zuerst in den Blick fallende Änderung ist die Umstellung der Gliederung. Bisher ist der Grundriss in drei übergeordnete Teile (Einleitung, Methodik, Systematik) gegliedert gewesen. Von nun an kommt am Ende ein vierter hinzu: die Topik. Bei dieser handelt es sich um nichts anderes als das bisherige letzte Kapitel des Methodik-Teils, also um das Kapitel über die Darstellung (Apodeixis). Grob betrachtet hat Droysen 1868 und 1882 die wesentlichsten Überarbeitungen vorgenommen, weshalb Blanke von drei verschiedenen Grundriss-Versionen spricht. Zur ersten Version zählt er die Grundrisse von 1857/58, 1858, 1862, zur zweiten die von 1868 und 1875 und zur dritten die letzte Fassung von 1882.13 Eine weitere Quelle für Droysens Geschichtstheorie sind die überlieferten studentischen Mit- bzw. Nachschriften der Historik-Vorlesung. Natürlich gibt eine Mitschrift einen Vortrag nie eins zu eins wieder, sondern ist immer durch das Verständnis des Zuhörers bedingt. Dennoch vermitteln die Mitschriften einen Eindruck des Vortrages und ergänzen auf diese Weise »die übrigen Überlieferungsträger zur Historik und stellen ein wichtiges Korrektiv zu ihnen dar«.14 In dieser Funktion einer Ergänzung und eines Korrektivs wird im Rahmen dieser Arbeit auch die publiziert vorliegende Nachschrift des nachmaligen Historikers Harry Bresslau (1848–1926) herangezogen.15 Bei ihr handelt es sich um eine von insgesamt fünf mir bekannten studentischen Mitschriften, die in verschiedenen Archiven überliefert sind16 (wenn man einmal von Christian Pflaum absieht, der 1907 Teile einer heute verlorengegangen Mitschrift von 1858 veröffentlicht hat17). Die Nachschrift Harry Bresslaus stammt vom Sommersemester 1868 und hat einen Umfang von 87 Seiten. Sie trägt den Titel Encyklopädie und Methodologie der Geschichte und enthält keine Aufzeichnungen zur Systematik. Da Droysen die diesbezüglichen Ausführungen manchmal nicht vorgetragen hat, ist davon auszugehen, dass er sie auch im Sommersemester 1868 aus Zeitgründen weggelassen hat. Das letzte Kapitel der Methodik, das die Darstellung behandelt, bricht mit der Problematisierung der didaktischen Darstellung ab, so dass die Ausführungen über die »diskussive Darstellung« fehlen. _____________ 12 13 14 15 16
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Grundriss (1875), VI. Vgl. Blanke (2012), 403–412. Ebd. 415. Vgl. Bresslau (2007), 199–233. Vgl. das im Internet auf den Seiten des Droysen-Archivs (unter Gliederungspunkt vier) publizierte Verzeichnis aller zur Zeit bekannten studentischen Mit- bzw. Nachschriften von Vorlesungen Droysens; www.droysen-archiv.hu-berlin.de, zuletzt aufgerufen am 15.12.2017. Pflaum (1907), 68–115: »Anhang. Sachlich bedeutsame Materialien zur Vorgeschichte von Joh. Gust. Droysens ›Grundriss der Historik‹«.
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Zu den sogenannten Beilagen des Grundrisses sind noch die folgenden Dinge anzumerken. Zu Recht hat Wilfried Nippel darauf hingewiesen, dass diese nicht per se zur Historik gehören, da sie von ihrem Duktus und Schreibanlass her ganz andere Textsorten darstellen.18 So handelt es sich bei der Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft um einen Rezensionsessay der History of Civilisation des englischen Historikers Henry Thomas Buckle, der zuerst im Jahre 1863 in der Historischen Zeitschrift19 erschienen war. Zu dem im Grundriss von 1868 erstmals veröffentlichten Aufsatz Natur und Geschichte bemerkt Droysen im Vorwort, dass er »aus Anlass einer Diskussion geschrieben« sei, »in der alle Vortheile des metaphysischen Standpunktes auf der Seite meines Gegners waren«.20 Den dritten Aufsatz Kunst und Methode, der im Grundriss von 1868 ebenfalls erstmals abgedruckt wird, führt er auf Bemerkungen in seiner im Juli 1867 in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Antrittsrede zurück. Darüber hinaus äußert sich Droysen in besagtem Vorwort von 1868 dahingehend, dass er geschwankt habe, ob er dem Grundriss noch einen vierten Aufsatz hinzufügen sollte – nämlich die sogenannte Privatvorrede. Bei dieser handelt es sich um einen Text, den er ursprünglich als Einleitung zum 1843 erschienenen zweiten Teil seiner Geschichte des Hellenismus verfasst, dann aber in nur wenigen Exemplaren hatte drucken lassen.21 Trotz seiner laut ausgesprochenen Überlegungen im Vorwort hat es Droysen letztendlich auch 1868 wieder »vorgezogen, diesen Aufsatz noch zurückzulegen« – und hat diese Entscheidung auch für die beiden Folgeauflagen des Grundrisses beibehalten.22 Erst posthum im Jahre 1893 wurde die Privatvorrede dann im Rahmen der von Droysens Schwiegersohn Emil Hübner herausgegebenen Kleinen Schriften zur Alten Geschichte erstmals publiziert. Im Jahre 1925 hat Erich Rothacker die dritte Buchhandelsauflage des Grundrisses der Historik von 1882 neu herausgegeben und in diese Publikation auch die Privatvorrede aufgenommen und zwar unter dem Titel Theologie der Geschichte. Seitdem zählt auch diese – ob nun berechtigteroder unberechtigterweise (was zu diskutieren hier nicht der richtige Ort ist) – zum Kanon der geschichtstheoretischen Texte Droysens. Durch die Anreicherung des Grundrisses durch die Beilagen und durch seine im Vorwort von 1868 laut ausgesprochene Überlegung, dass er geschwankt habe, noch einen weiteren Aufsatz abzudrucken, hat Droysen der späteren Praxis Vorschub geleistet, dass man – zwecks eines besseren und tieferen Verständnisses seiner Geschichtstheorie – weitere Texte herangezogen und diese dann ebenfalls dem Kanon seiner geschichtstheoretischen Schriften zugeschlagen hat. _____________ 18 19 20
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Vgl. hierzu und zum Folgenden Nippel (2008), 232 f. HZ 9 (1863), 1–22. Grundriss (1882), 415. Blanke (2008), 63, datiert den Aufsatz in das Jahr 1866. Nippel äußert die Vermutung, dass sich Droysens nebulöse Bemerkung auf eine Diskussion mit Naturwissenschaftlern in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften beziehen könnte; vgl. Nippel (2008), 391, Anm. 199. Vgl. zu diesem Text Blanke (2008), 20. Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Nippel (2008), 233 f.
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So erschien 1972, noch vor der Publikation der Historik von Peter Leyh, ein schmales – durch die nachfolgenden Editionen mittlerweile überholtes – Bändchen,23 das Ausschnitte aus verschiedenen Texten Droysens versammelt (bis hin zu Briefen und Auszügen aus bis dato ungedrucktem Material), die thematisch seiner Geschichtstheorie zuzuschlagen sind. Dieser Tradition folgend edierte Horst Walter Blanke im Jahre 2007 unter dem Titel Texte im Umkreis der Historik eine Sammlung von insgesamt 50 aus den Jahren 1826 bis 1880 stammenden Texten Droysens. Damit setzte Blanke die von Peter Leyh in den 1970er Jahren begonnenen Arbeiten fort und konnte dabei auch auf dessen konzeptionelle und materiale Vorarbeiten zurückgreifen. Zuerst sticht die Diversität der hier vereinten Texte ins Auge, da diese ganz verschiedenen Gattungen angehören. So sieht man sich unter anderem mit Gedichten, Auszügen aus Briefen, Rezensionen, Vorlesungseinleitungen und Denkschriften konfrontiert. Darüber hinaus hat man es sowohl mit von Droysen bereits selbst an diversen Orten publizierten als auch (zum überwiegenden Teil) mit bis dato unpublizierten Materialien zu tun. Die einzige Klammer, welche all diese Texte vereint, ist der ihnen jeweils unterstellte – mal mehr oder auch mal weniger offensichtliche – Bezug zu Droysens Nachdenken über methodische und wissenschaftskonstitutive Probleme der Geschichtswissenschaft sowie über das Ganze der Geschichte. Wie Horst Walter Blanke selbst eingesteht, ist der »Beitrag, den diese Texte zur Theorie-Diskussion leisten, […] durchaus unterschiedlich«. So stellten z. B. die aus Droysens Berliner Studentenzeit stammenden Materialien »strenggenommen keine Texte zur Historik [dar, C.H.], wohl aber eindrucksvolle Dokumente zur Entwicklungsgeschichte des Droysenschen Denkens«.24 An dieser Stelle zeigt sich, dass der von Blanke gewählte Titel zwar sehr eingängig, aber durch die Verkürzung auch irreführend ist und dass daher der von Leyh ursprünglich vorgesehene Titel Materialien zur Entwicklungsgeschichte von Droysens Theorie der Geschichtswissenschaft25 der bessere gewesen wäre. Zumal Blanke selbst als die hinter dieser Textsammlung stehende Leitfrage angibt: »Wie hat sich die Historik [Droysens, C.H.] aus unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen und aus verschiedenen Textsorten entwickelt?«26 Über die tatsächliche inhaltliche und sachliche Nähe einzelner Texte dieser eher disparaten Sammlung zur Historik lässt sich sicher streiten. Insgesamt trägt die Edition aber dazu bei, Droysens intellektuelle Entwicklung und die Genese seines Geschichtsdenkens weiter zu erhellen. Insofern stellt sie eine willkommene Ergänzung zur Historik dar.27 Als Textgrundlage für die vorliegende Untersuchung dienten in erster Linie die beiden Editionen der Historik-Vorlesung und die von Droysen selbst edierten Grundrisse. Darüber hinaus habe ich aber auch die anderen oben vorgestellten Materialien, _____________ 23 24 25 26 27
Droysen (1972). Blanke (2012), 397. Vgl. das Vorwort von Blanke in: Droysen (2007), XIV. Blanke (2012), 396. Zu klären, inwieweit diese Texte tatsächlich der Historik zuzuschlagen sind, erforderte allerdings eine eigene Untersuchung.
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insofern sie Aufschluss über Droysens Aristoteles-Rezeption geben (was nur in wenigen Fällen zutrifft), mit herangezogen, um ein möglichst vollständiges Bild zu gewinnen.
Forschungsstand Der erste mir bekannte Hinweis darauf, dass in Droysens Grundriss der Historik aristotelisches Gedankengut zu finden ist, begegnet im Briefwechsel von Heinrich Leo (1799–1878), Historiker und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, den dieser mit dem Präsidenten des Oberlandes- und Appellationsgerichts in Magdeburg, Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877), führte,28 deren beider politische Sympathien der äußersten Rechten in Preußen galten. Leo schreibt am 23. Dezember 1867 an seinen Briefpartner: Darf ich mich erkühnen, Sie ebenfalls einmal auf eine kleine Schrift, die eben erschienen ist und noch in allen Buchhandlungen vorräthig liegt, aufmerksam zu machen. Sie führt den Titel ›Grundriß der Historik. Von Joh. Gust. Droysen.‹29
Bei besagter Schrift handelte es sich um die erste Buchhandelsauflage des Grundrisses, dessen Vorwort vom November 1867 stammt und der laut Angabe des Titelblattes 1868 erschienen ist. Das bedeutet, dass Leo eines der ersten Exemplare des frisch erschienenen Büchleins in einer Buchhandlung erworben haben muss. Dass Droysen für Leo kein Unbekannter gewesen ist, ergibt sich aus Droysens Briefwechsel, in dem zwei Briefe Leos an Droysen aus den Jahren 1835 und 1836 abgedruckt sind.30 Aus diesen geht hervor, dass sich Droysen, dessen Briefe an Leo nicht überliefert sind, bei seinen ersten Versuchen, in der wissenschaftlichen Welt Fuß zu fassen, damals auch an Leo gewandt hatte. In besagtem Brief Leos an Gerlach heißt es weiter: Von Droysenʼs eigenen historischen Arbeiten bin ich allerdings nicht zu sehr erbaut, es kann ja Jemand aber recht gut wissen, wie eine gute Arbeit beschaffen sein muß, ohne sie selbst überall und nach allen Seiten leisten zu können, und so enthält diese Historik auch in ihren freilich sehr aphoristischen Paragraphen im Wesentlichen doch sehr Vortreffliches und sogar Erbauliches, nur muß man, um nicht auf den Gedanken zu kommen, auch da treibe, namentlich im Anfang, die pantheistica pravitas31 sehr ihr Wesen, den letzten Paragraphen zuerst lesen, ehe man anfängt, das Übrige zu lesen, denn die Schrift schließt mit
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Vgl. Kraus (1893/94). Die im hier verhandelten Zusammenhang interessierenden Briefe befinden sich in: Bd. 51, 2 (1894), 1121–1139. Den Hinweis auf Leos Bemerkungen verdanke ich Pandel (1990), 62 f. Das Auffinden der Briefe Leos verdanke ich hingegen Katja Wannack, der es trotz der vagen – leider überhaupt nicht zum Ziel führenden – Quellenangaben Pandels gelungen ist, den Druckort der Briefe Heinrich Leos zu ermitteln. Kraus (1894), 1129. BW I, 76 f. und 109 f. Welche Äußerungen Droysens auf eine pantheistische Verschrobenheit schließen lassen, ist mir nicht ersichtlich, es sei denn, Leo hebt damit auf Droysens Theismus ab, dessen christliche Färbung ihm möglicherweise auf den ersten Blick verborgen geblieben ist, weshalb er ihn zunächst als Pantheismus interpretiert und abgelehnt hat.
Forschungsstand
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dem Satze: »Die Geschichte ist das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbstgewißheit. Sie ist nicht ›das Licht und die Wahrheit‹, aber ein Suchen danach, eine Predigt darauf, eine Weise dazu; dem Johannes gleich (I, 8–9)32: οὐκ ἦν τὸ φῶς, ἀλλ’ ὅτι μαρτυρήσῃ περί τοῦ φωτός.« Das Büchlein ruht im Ganzen wesentlich auf aristotelischem Grunde, und vielleicht gewinnen Sie in diesem Ausspinnen aristotelischer Apperceptionen Aristoteles selbst etwas lieber.33
Leo hebt zwei Punkte hervor, welche die Attraktivität des Grundrisses für ihn begründen: Droysens christliche Weltsicht und dessen Bezugnahmen auf Aristoteles, die er als so prominent empfindet, dass er hofft, dass sein Briefpartner über das Lesen des Grundrisses zu Aristoteles finde. Dass Leo weiß, wovon er spricht, wenn er den Droysenschen Grundriss als »wesentlich auf aristotelischem Grunde« beruhend charakterisiert, ergibt sich aus seinem vorangegangenen Brief an Gerlach, in dem er diesem über seine Aristoteles-Lektüren berichtet: Sehr viel weiß ich von Aristoteles auch nicht, aber die Politik habe ich früher und die Metaphysik neuerdings ordentlich studirt und habe mich so gefesselt gefühlt durch den nüchternen Mann, daß ich, wo ich irgend Zeit gewinne, weiter darin fortfahren werde. Es ist weit gescheidter, [...] den Mann zu studiren, als im Herrenhause zu sitzen […]. Wenn ich eine Zeile von Aristoteles unverständlich finde, so weiß ich doch im Voraus, ich werde jubeln, sobald mir der Sinn aufgeht. […] Wir verstehen uns […] schlecht im Herrenhause, und um so mehr, als ich mir in letzter Zeit immer einen Band des Aristoteles mit ins Hotel de Brandebourg nahm, und mich immer sehnte, zu demselben zurückzukommen, wenn ich im Herrenhause war.34
Auch im darauffolgenden Brief vom 1. Januar 1868 kommt er dann noch einmal auf Aristoteles zurück.35 Dass Leo seinem Korrespondenzpartner die Lektüre des Grundrisses derart ans Herz legt, spricht dafür, dass Droysen – zumindest hinsichtlich einer bestimmten Gruppe von Rezipienten – einen Nerv der Zeit getroffen haben muss. Leider handelt es sich bei Leos Briefen um die einzige mir bekannte Quelle, die Auskunft darüber erteilt, wie der Grundriss damals rezipiert worden ist. Dieser ist zwar auch in verschiedenen Rezensionsorganen angezeigt worden,36 was dafür spricht, dass sein Erscheinen in den damaligen Fachkreisen sehr wohl registriert wurde, aber es handelt sich dabei zumeist um bloße Anzeigen, in denen keine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Die _____________ 32
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Die Angabe der Bibelstelle hat Leo in Droysens Text eingefügt. In der Übersetzung Martin Luthers lautet das Zitat aus der Septuaginta (Joh. 1, 8): »Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.« Kraus (1894), 1129. Ebd. 1126 f. Ebd. 1136. Vgl. das von Katja Wannack erstellte Verzeichnis der Rezensionen zu Werken Droysens, das im Internet auf den Seiten des Droysen-Archivs (unter Gliederungspunkt fünf) einsehbar ist; vgl. http:// www.droysen-archiv.hu-berlin.de, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017. Für die Rezensionen zu den Grundrissen und den Historik-Editionen siehe ebd. 14 und 16–19. Für die erste Buchhandelsauflage von 1868 hat Katja Wannack drei Rezensionen beziehungsweise Anzeigen ermittelt, für die zweite Buchhandelsauflage von 1875 vier und für die dritte Auflage von 1882 keine; vgl. ebd. 14.
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Aristoteles-Bezüge werden von keinem der Rezensenten im 19. Jahrhundert erwähnt (und wahrscheinlich auch gar nicht gesehen). Der nächste, der Droysens Beeinflussung durch Aristoteles anspricht, ist der Historiker Alfred Dove (1844–1916), der sich selbst zu den Schülern Droysens rechnete. Dove geht in seiner anlässlich von Droysens 70. Geburtstag 1878 verfassten biographischen Würdigung auch kurz auf die Prägung Droysens durch seine akademischen Lehrer ein und bemerkt in diesem Zusammenhang: Denn niemals hat in Berlin die Philosophie in höherer Geltung und breiterer Wirkung gestanden, als in Droysens akademischen Lehrjahren, wo Hegel und Schleiermacher einander gegenüber walteten. Nach ihrem Tode sodann ließ man zwar alsbald von der Fortbildung der modernen Philosopheme ab, doch nur um desto fleißiger das historische Studium der Philosophie überhaupt zu betreiben; eben in den Dreißiger Jahren hielten die deutschen, vornehmlich aber wieder die Berliner Gelehrten die Stunde für eine kritische Renaissance des Aristoteles gekommen. Und gerade von diesem Denker nun, mit dem ihn [Droysen, C.H.] seine Originalarbeiten über die Geschichte des alexandrinischen Weltalters37 in unmittelbare Berührung brachten, ist, wie fast alle seine Schriften zeigen, auf Droysens Weltanschauung der mächtigste und nachhaltigste Einfluß ausgegangen.38
Ferner kommt Dove zu der Einschätzung, dass Droysen die »antik idealistische Lehre Wilhelm von Humboldts [...] in seiner Historik mit dem realistischen Tact eines praktischen Geschichtsforschers gewissermaßen aus dem Platonischen ins Aristotelische übersetzt« habe. Doves Bemerkung hinsichtlich der Historik bezieht sich entweder auf den Grundriss der Historik (von dem seit 1875 die zweite Auflage vorlag) oder auf den Vortrag der Vorlesungen, den er vermutlich gehört hat, was seine Bemerkung – und die unten zitierte von Droysen – nahelegen. Denn Droysen hat Dove in einem Brief vom 16. Juli 1878 für diese »Apotheose« seiner Person gedankt. Dabei hat er Doves Angaben nicht korrigiert, sondern bemerkt unter anderem: Vor allem danke ich Ihnen, daß Sie sich der Historik freundlich erinnern, die ich jetzt wieder einmal lese, und zwar mit dem größten Vergnügen und an der interessanten Aufgabe, die ich mir darin gestellt habe, weiterarbeitend.39
Angeregt durch Doves Bemerkungen unternimmt Hildegard Astholz in ihrer 1933 veröffentlichten Dissertation über Das Problem »Geschichte« untersucht bei Johann Gustav Droysen den Versuch, »die Beziehungen Droysens zu A[ristoteles, C.H.], wie sie sich für das Problem der ›Geschichte‹ herausstellen, anzudeuten und wenn möglich auszuführen«.40 Somit ist Astholz die erste, die sich mit der Problematik aus-
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Gemeint sind Droysens Geschichte Alexanders des Großen und die Geschichte des Hellenismus. Dove (1878), 107 f. BW II 930 ff., Zitate (in der genannten Reihenfolge) 932 und 930. Astholz (1933), 18, Anm. 20: »Droysens Vertrautheit mit Aristoteles verraten gelegentliche Zitate, die besonders häufig in dem knappen Grundriß der Historik vorkommen. A. Dove weist auf den nachhaltigen Einfluß des A. auf Droysens Weltanschauung hin […]. Es soll in dieser Untersuchung erstmalig der Versuch gemacht werden, die Beziehungen Droysens zu A., wie sie sich für das Problem der ›Geschichte‹ herausstellen, anzudeuten und wenn möglich auszuführen.«
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einandersetzt, indem sie die offensichtlichsten Aristoteles-Bezüge benennt41 und thematisiert und zwar auf der Textgrundlage der Grundrisse und deren Beilagen sowie der 1907 von Christian Pflaum publizierten Materialien. In Metahistory bemerkt Hayden White ganz lapidar: In seine Explikation des historischen Feldes baut Droysen eine entschieden aristotelische Auffassung von Wissenschaft, Kunst und Philosophie ein, die in der Historiographie zum Zuge kommen soll.42
Allerdings erläutert White nirgendwo, was er unter einer »entschieden aristotelische[n] Auffassung von Wissenschaft, Kunst und Philosophie« versteht, die zu haben er Droysen unterstellt. Und er verweist in diesem Zusammenhang auch auf keinerlei anderweitige Literatur. Ähnlich kryptisch und daher nicht wirklich hilfreich sind seine Andeutungen bezüglich der Präsenz von Elementen der aristotelischen Philosophie in der Historik in seinem Rezensionsessay43 der historisch-kritischen Ausgabe der Historik von Peter Leyh. Hans-Jürgen Pandel setzt sich im Kontext seiner Studie Mimesis und Apodeixis u. a. auch mit Droysens Historik als einem der zentralen Texte des 19. Jahrhunderts zur Geschichtstheorie auseinander. Im Mittelpunkt von Pandels Interesse steht die »Geschichtsschreibung als theoretisches Problem«.44 In seiner »historiographischen Studie«, die sich als Beitrag zu einer »Geschichte der Theorien der Geschichtsschreibung« versteht, arbeitet er heraus, »wie die deutsche Geschichtswissenschaft im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das Wesen der Geschichtsschreibung bestimmte« – nämlich als Nachahmung (Mimesis): Der Begriff der Mimesis ist auch dort, wo er als Wort nicht auftaucht, jene Schlüsselkategorie, die die Basisoperation der Geschichtsschreibung bezeichnen soll. Bei fast allen Historikern des frühen 19. Jahrhunderts finden wir Aussagen, die auf dieses Basismodell als Paradigma für den Prozess der Geschichtsschreibung verweisen.45
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Vgl. Astholz (1933), 33 f., 40 f., 57 (zu Droysens Verwendung der Formel ἐπίδοσις εἰς αὑτό zur Charakterisierung der spezifischen Eigenart historischer Prozesse); 46 f. (zur Übereinstimmung hinsichtlich der Definition historischer Zeit bei Droysen und Aristoteles); 58, Anm. 28 (dass die Gliederung von Droysens Systematik den vier Gesichtspunkten von Stoff, Form, Bewegungsursache und Zweck entspricht); 75 f., Anm. 96 (Feststellung einer Übereinstimmung des Begriffes des Guten bei Droysen und bei Aristoteles); 91 (zu Droysens Bemerkung, dass der Mensch – im Gegensatz zum Tier – nicht bloß ein οἷον αὐτό zurücklässt); 180 f. (zu Droysens Formulierung: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck [τὸ ὅθεν ἡ κίνησις].«); 187 (zu Droysens Bemerkung, dass die Geschichte der Gattungsbegriff des Menschen sei, »denn die Gattung ist ἵνα ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχωσιν«). Auf Einzelheiten der von Astholz hergestellten Bezüge und ihre Interpretation wird an den entsprechenden Stellen zurückzukommen sein. White ([1973] 1991), 354. Dass White diese Behauptung nirgends näher ausführt und begründet, hat bereits Norkus (1994), 65, bemängelt. White (1980), 87. Eine Durchsicht der mir bekannten Rezensionen der Grundriss- und der HistorikEditionen (vgl. hierzu das von Katja Wannack erstellte Verzeichnis; siehe oben Anm. 36) hat ergeben, dass neben Hayden White nur ein weiterer Rezensent auf die Aristoteles-Bezüge in der Historik zu sprechen kommt: der Historiker Peter Rassow (1889–1961). Vgl. Rassow (1940), 133 f. Pandel (1990), 1. Die Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung stammen aus: Pandel (1990), 1, 2, 1 und 18.
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Das sei auch bei Droysen der Fall. Pandel problematisiert im Kontext seiner Studie aber nicht nur Droysens Aufgreifen der aristotelischen Mimesis-Theorie, sondern er arbeitet ferner heraus, dass Droysens Unterscheidung von genau vier Formen der Interpretation die aristotelische Theorie von den vier Ursachen zu Grunde liegt.46 Pandels darauf folgenden Versuch, nachzuweisen, dass in Droysens Verwendung des Begriffs der »Apodeixis« nicht nur Herodot mitschwinge, sondern auch die aristotelische Verwendung des Begriffs (als Terminus technicus für den wissenschaftlichen Beweis, dessen Explikation Aristoteles eine eigene Schrift, die Analytica posteriora gewidmet hat), zeugt allerdings, wie aufzuzeigen sein wird, von wenig Sachverstand.47 Als nächstes folgt ein Aufsatz zu Droysens Aristoteles-Rezeption von Zenonas Norkus aus dem Jahr 1993, der unmittelbar an das von Pandel Gesagte anknüpft. Nokurs zeigt auf, dass nicht nur Droysens Unterscheidung der vier Formen der Interpretation von der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre inspiriert ist (was Pandel herausgearbeitet hatte), sondern auch Droysens Vierteilung der Systematik und seine Unterscheidung von vier Formen der erzählenden Darstellung. Ferner bemüht er sich um eine »Aufweisung der aristotelischen Ursprünge von Droysens Geschichtsauffassung«48 und stellt zusammenfassend die starke These auf, dass es sich bei Droysens Historik um eine Art Neoaristotelismus handle, weshalb sie in eine Reihe mit den zeitgenössischen Erscheinungen des Neoaristotelismus eines Adolf Trendelenburg oder Franz Brentano zu stellen sei.49 Ob das zutrifft, wird zu klären sein. In seiner vergleichenden Betrachtung der Geschichtsphilosophie Droysens und Hegels arbeitet Christoph Johannes Bauer heraus, dass Droysen die von ihm vordergründig zurückgewiesenen Fundamente der Hegelschen Geschichtsphilosophie im Grunde genommen übernimmt und betont, dass sich in dieser Hinsicht »der gemeinsame Rekurs der beiden Denker auf die Aristotelische Metaphysik als entscheidend«50 erweise. Bauer sieht Hegel und Droysen in der Kontinuität einer Geschichte der Geschichtswissenschaften stehen, deren Grundlagen sie selbst wesentlich mitbestimmt hätten, deren Voraussetzungen jedoch bereits von Aristoteles formuliert worden seien. Bauer ist daher der Meinung, »daß sowohl die Geschichtsphilosophie Hegels als auch diejenige Droysens nur unter Berücksichtigung der Aristotelischen Metaphysik vollständig erfaßt werden kann«, da sich nur so »die Besonderheit eines teleologischen Fortschrittsmodells, das als Zu-sich-selbst-kommen einer an sich bereits vorhandenen Möglichkeit gedacht wird,« verstehen lässt, ebenso wie das, »was Hegel eigentlich meinte, wenn er von dem ›Wirklichen‹ sprach, das ›vernünftig‹ sein soll«. Deshalb hält er hinsichtlich der Bezugnahme beider Denker auf Aristoteles »eine eingehendere Beschäftigung mit den Werken des griechischen Philosophen« für notwendig und _____________ 46 47 48 49 50
Ebd. 62–81. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 5.2.2 der vorliegenden Arbeit sowie das 5. Kapitel insgesamt, in dem sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit den von Pandel vertretenen Positionen findet. Norkus (1994), 43. Ebd. 39. Bauer (2001), 5.
Forschungsstand
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sieht hier »das Feld künftig noch zu bewältigender Forschungsarbeit«.51 Bauer betont, ebenso wie Pandel, die Vermittlerfunktion Hegels hinsichtlich Droysens AristotelesRezeption. Der Aufsatz von Silvia Caianiello aus dem Jahre 2004 knüpft an das von Pandel und Norkus Herausgearbeitete an und fasst es zusammen, bringt aber bis auf kleine Präzisierungen und Ergänzungen keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Keine der in diesem chronologischen Durchgang genannten Arbeiten leistet eine systematische und umfassende Aufarbeitung von Droysens Aristoteles-Rezeption, so dass eine solche, welche versucht, alle Aspekte systematisch zu erfassen, einzuordnen und zu bewerten, nach wie vor aussteht. Dabei wird zu klären sein, ob man tatsächlich so weit gehen kann zu sagen, dass »Droysens Historik auf der Aristotelischen Philosophie beruht«52 bzw. dass es sich bei Droysens Historik um eine Art Neoaristotelismus handelt.53 Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den in der genannten Literatur vertretenen Positionen hinsichtlich einzelner Motive bei Droysen findet an jeweils passender Stelle statt.
Zur vorliegenden Arbeit »Einen schönsten Dank für das zierliche Gefäß, das […] als Postament […] für den schönen kleinen Gipskopf des Aristoteles dienen soll, der mein vis à vis beim Arbeiten ist.«54
Laut Aussage der Register der beiden posthumen Historik-Editionen55 ist Aristoteles der in diesen am häufigsten genannte bzw. zitierte Autor – gefolgt von Thukydides, Aischylos, Homer, Herodot, Gervinus und Niebuhr. Darüber hinaus – und erst hier rechtfertigt sich das der Thematik entgegengebrachte Interesse – macht Droysen aristotelische Begriffe und Theorieelemente für die von ihm entworfene Geschichtstheorie fruchtbar. Da Droysen oft nur rudimentär zitiert und nicht immer kenntlich macht, wenn er sich auf Aristoteles bezieht oder von diesem entlehnte Begriffe und Konzepte verwendet, benötigt man eine gewisse Kenntnis der aristotelischen Philosophie, um diese Bezüge überhaupt dechiffrieren zu können. Es verwundert daher nicht, dass der erste, der zu der Einschätzung gelangte, dass Droysens Grundriss der Historik »im Ganzen wesentlich auf aristotelischem Grunde« ruhe, der Historiker Heinrich Leo war, der, wie oben berichtet, kurz zuvor die aristotelische Metaphysik gelesen hatte und seine _____________ 51 52 53 54 55
Alle Zitate in diesem Satz ebd. 385. Pandel (1990), 63. Norkus (1994), 39. Aus einem Brief Droysens an seinen Sohn Gustav Droysen vom 28.12.1880; BW II, 938. Historik (H) und Historik (L); vgl. dazu die statistischen Erhebungen im Anhang der vorliegenden Arbeit.
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Lektüreeindrücke noch unmittelbar parat gehabt hat.56 Die Vorarbeit zu vorliegender Untersuchung bestand daher darin, zunächst alle aristotelischen Begriffe und Theorieelemente in Droysens Geschichtstheorie als solche zu identifizieren. Der Arbeit liegt somit eine statistische Aufnahme aller Passagen in der Historik und in den Grundrissen der Historik, in denen Droysen Aristoteles beim Namen nennt, ihn zitiert oder aristotelische Begriffe einführt, zu Grunde. Ihr erstes Kapitel skizziert den historischen Kontext, in dem Droysens AristotelesRezeption zu verorten ist. Im Fokus des zweiten Kapitels steht Droysens Aufgreifen der Vier-UrsachenLehre, wie sie Aristoteles in der Physik und der Metaphysik entwickelt hat, und deren dreifache Anwendung innerhalb von Droysens Theorie der Geschichtswissenschaft: Denn erstens nutzt er die vier Ursachen des Aristoteles als Grundgerüst für seine Verstehenslehre, die das Verstehen in vier Teiloperationen untergliedert. Zweitens und korrespondierend zur Verstehenslehre sind die aristotelischen vier Ursachen für Droysens Systematik des Gebiets der historischen Methode konstitutiv (denn die Systematik gliedert sich in genau vier Teile, da Droysen die »geschichtliche Arbeit« nach ihren Stoffen, ihren Formen, ihren Arbeitern und ihren Zwecken untersucht wissen will). Drittens geht Droysens Unterscheidung von vier Formen der erzählenden Darstellung auf die aristotelische Vierteilung zurück. Das dritte Kapitel thematisiert Droysens Rezeption der aristotelischen Politik. Den Anlass für die Untersuchungen des vierten Kapitels bildet zum einen Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung und zum anderen seine Auffassung von der Geschichte als einer kontinuierlichen Steigerung zu sich selbst – zu deren Bezeichnung er auf eine Wendung aus De anima (ἐπίδοσις εἰς αὑτό) zurückgreift – , bevor dann die mit Droysens Geschichtsauffassung verbundenen Implikationen zur Sprache kommen. Auch in diesem Kapitel geht es zunächst darum, die im Hintergrund stehenden aristotelischen Konzepte zu verdeutlichen. Da nicht vorauszusetzen ist, dass alle an der Historik Interessierten intime Aristoteles-Kenner sind, gehe ich etwas ausführlicher auf die für Droysen relevanten Ausschnitte aus der aristotelischen Philosophie ein und skizziere diese jeweils kurz, um allen Lesern einen Anhaltspunkt zu geben, worauf Droysen sich jeweils bezieht. Dies geschieht auf der Grundlage einer eigenen Lektüre der entsprechenden aristotelischen Primärtexte und unter Hinzuziehung aktueller einführender Forschungsliteratur,57 ohne den Anspruch zu erheben, zu einer Diskussion der jeweiligen Aristoteles-Passagen beitragen oder letztgültige Interpretationen bestimmter aristotelischer Philosopheme geben zu wollen. Im fünften und letzten Kapitel erfolgt dann eine Prüfung, ob und inwiefern Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung an bei Aristoteles zu findende Begriffe und _____________ 56 57
Vgl. den Brief von Heinrich Leo an Ernst Ludwig von Gerlach, vom 23. Dezember 1867; Kraus (1894), 1129. Hierzu gehören insbesondere die Einführungen von Höffe (1999), Rapp (2001) und Welsch (2012). Ferner haben sich das Aristoteles-Handbuch von Rapp/Corcilius (2011) sowie das von Höffe (2005) herausgegebene Aristoteles-Lexikon als besonders nützliche Hilfsmittel erwiesen.
Zur vorliegenden Arbeit
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Konzepte anknüpft. Durch die von Droysen verwendete Begrifflichkeit und die von ihm hergestellten Bezüge ist es in diesem Kontext notwendig, die Poetik, die Analytica posteriora sowie die Topik des Aristoteles heranzuziehen. Aufgrund der Eigendynamik, die einer jeden Untersuchung innewohnt, finden sich in fast allen Kapiteln, so auch im letzten, ein oder mehrere »Exkurse«, die etwas vom Thema der Arbeit wegführen, aber indirekt dennoch zu seiner Erhellung beitragen, da sie das Bild in verschiedenen Hinsichten komplettieren. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, musste hingegen die zwischen Aristoteles und Droysen liegende, sich über zwei Jahrtausende erstreckende Rezeptionsgeschichte weitgehend ausgeblendet werden. Droysen und Aristoteles stehen natürlich nicht so unvermittelt nebeneinander, wie sie aus pragmatischen Gründen im Folgenden zumeist betrachtet werden, da Droysen die aristotelischen Texte vermittelt durch die Tradition rezipiert hat. Das wird nur an ausgewählten Beispielen deutlich und ist ansonsten als Leerstelle zu bedenken.
1. Versuch einer historischen Kontextualisierung der Aristoteles-Rezeption Droysens 1.1 Zur Bedeutung der aristotelischen Philosophie und zu ihrer Rezeption bis zum Ende des 18. Jahrhunderts »Aristoteles ist der würdigste unter den Alten, studiert zu werden.«1 So soll es Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gesagt haben. Das ist somit eine der Bewertungen, die Droysen hinsichtlich der Philosophie des Aristoteles mit auf den Weg bekommen hat. Und zweifellos handelt es sich bei Aristoteles (384–322 v. Chr.), wie die Rezeptionsgeschichte seines Werkes zeigt, nicht um irgendeinen nachrangigen Autor, sondern um einen der bedeutendsten und am meisten rezipierten Philosophen überhaupt. Wolfgang Welsch betont, dass Aristoteles immer wieder als »der Philosoph« schlechthin angesehen worden ist und urteilt: »Aristoteles ist in der Philosophie […] von bleibender Vorbildlichkeit.«2 Die uns überlieferten Schriften des Aristoteles behandeln ein beeindruckend breites Spektrum an Themen. So stehen neben Werken, die der theoretischen Philosophie zuzuordnen sind (wie die Metaphysik), andere, die sich mit naturphilosophischen (wie z. B. die Physik), ethischen, gesellschaftlichen (wie etwa die Politik) oder ästhetischen Fragestellungen (Poetik und Rhetorik) beschäftigen. Ferner gilt Aristoteles als Begründer der Biologie und als Begründer der Logik. Sein Einfluss auf die arabische Philosophie, aber vor allem auf die Entwicklung des westlichen Denkens, ist so groß, dass: If one were ex hypothesi to imagine surgically removing the Aristotelian strand from the history of Western philosophy, or science, or theology, it is difficult even to imagine what the end result would look like.3
Aristoteles hat das Gebiet und die Reichweite des Denkens auf seine Weise vermessen und nicht nur Themen und Problemstellungen für die europäische Denktradition vorgegeben, sondern auch »much of our basic theoretical vocabulary is Aristotelian in provenance«. Die aristotelische Philosophie ist durch alle Jahrhunderte hindurch rezipiert und weiter tradiert worden.4 So war z. B. das Studium aller aristotelischen Schriften im 13. _____________ 1 2 3 4
Hegel (1986), Bd. 19, 246. Droysen hat diese Vorlesung Hegels im Wintersemester 1827/28 gehört. Welsch (2012), 11 und 9. Kukkonen (2010), 70 (dieses und das folgende Zitat). Vgl. den kurzen Überblick über die Rezeption der aristotelischen Philosophie im islamischen und im westlichen Kulturraum bei Kukkonen (2010), 71–76. Siehe aber auch die etwas längere Darstellung
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Jahrhundert fester Bestandteil des Lehrplans der artes liberales.5 Und auch im 17. und frühen 18. Jahrhundert, zu einer Zeit, in der sich einige Philosophen kritisch von der aristotelischen Philosophie abwandten (wie Bacon, Descartes oder Hobbes), blieb sie dennoch für andere (wie z. B. für Leibniz) ein wichtiger Bezugspunkt ihres Denkens.6 Im 18. Jahrhundert scheint dann allerdings das Interesse an der Philosophie Platons das an der des Aristoteles überwogen zu haben. In diesem Sinne äußert sich zumindest Buhle, der in seinem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie bemerkt: Während man in unserem Jahrhunderte den Aristoteles beynahe vergaß, hat die Platonische Philosophie das Glück gehabt, von mehreren talentvollen und gelehrten Geschichtsforschern bearbeitet und aufgehellt zu werden.7
Später kann man dann bei Hegel lesen: »Platon wird viel gelesen; Aristoteles ist in neuerer Zeit fast unbekannt, und es herrschen die falschesten Vorurteile über ihn.«8 Und auch Adolf Stahr beklagt sich noch 1830 in der Vorrede zum ersten Band seiner Aristotelia, dass Aristoteles viel zu wenig Beachtung fände und dass darüber hinaus seine Werke kaum zugänglich seien, weil es keine modernen Ausgaben gäbe.9 Prominente Beispiele für die Bevorzugung Platons sind Kant, Schleiermacher und Boeckh.10 Diese Situation kehrt sich allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts um. Da wird Aristoteles dann zum am meisten rezipierten Philosophen und seine Schriften erfahren so viel Aufmerksamkeit wie nie zuvor: Le XIXe siècle a redécouvert en Aristote un véritable interlocuteur philosophique, à un degré rarement rencontré à dʼautre époques de la philosophie, sinon à la Renaissance.11
Peter Petersen, der sich mit diesem Phänomen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, spricht daher rückblickend vom 19. Jahrhundert als einem »Zeitalter der Erneuerung des Aristoteles«12 – und meint damit zum einen die Bemühungen der Philologen um die Konstitution und Bereitstellung einer verlässlichen Textgrundlage (Bemühungen, welche sich in Werkausgaben und einer Vielzahl von philologischen Studien sowie in Übersetzungen in einzelne Nationalsprachen widerspiegeln) und zum anderen das neu auflebende Interesse an Aristoteles in der zeitgenössischen Philosophie, das sich in philosophischen Werken, aber auch in einer sich _____________ 5 6 7 8 9 10
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in Rapp/Corcilius (2011), 405–455: »V. Wirkung/A. Schulen und Epochen«, sowie die an diesen Orten jeweils genannte Literatur. Vgl. Kukkonen (2010), 74, und Rapp/Corcilius (2011), 431 f. Kukkonen (2010), 76, sowie vor allem Rapp/Corcilius (2011), 443–449. Buhle (1797), 8. Hegel (1986), Bd. 19, 133. Stahr (1830), IX ff. Petersen (1913), 126 f., und (1921), 428, attestiert Kant sogar mangelhafte Kenntnisse der aristotelischen Philosophie. Trendelenburg (1867), 179, bemerkt: »Kant geht an Aristoteles still vorüber. […] die Auffassungen des Alterthums, in schöpferischer Einfachheit gross, liegen ihm im Grabe der Vergangenheit und er lässt sie ruhen.« Zu Schleiermacher und Boeckh vgl. die unten folgenden Ausführungen. Thouard (2004), 10. Petersen (1913), 137.
Zur Editionsgeschichte der aristotelischen Schriften
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wandelnden Darstellung und Bewertung der aristotelischen Philosophie in der Philosophiegeschichtsschreibung äußert. Beide, die philologischen Bemühungen um den überlieferten Text und die Rezeption innerhalb der Philosophie, sind natürlich nur idealtypisch voneinander zu trennen. Und gerade im 19. Jahrhundert begegnen uns mehrere Akteure, die in Personalunion beide Interessen in sich vereinen, man denke nur an Christian August Brandis, Adolf Trendelenburg oder Carl Prantl – aber dazu später. Fakt ist, dass das Studium eines Autors immer einer verlässlichen Textgrundlage bedarf – als conditio sine qua non sozusagen. Denn: Keine Philosophie ist in irgendeinem Sinne einfach gegebener Gegenstand der Reflexion, vielmehr bestimmen Edition, Übersetzung und Interpretation ihr Bild, das wiederum in abgestuften Graden vom Schlagwort bis zur extensiven Auslegung entwickelbar ist.13
Daher muss auch die Editionsgeschichte als eine wichtige Rezeptionsbedingung in einer Untersuchung immer mit berücksichtigt werden, was im nächsten Kapitel geschehen soll.
1.2 Zur Editionsgeschichte der aristotelischen Schriften 1.2.1 Die neuzeitliche Editionsgeschichte des Corpus Aristotelicum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Im Folgenden sollen die wichtigsten Stationen der Editionsgeschichte des Corpus Aristotelicum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorgestellt werden. Denn erst vor dieser Folie lässt sich die Bedeutung der von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Aristoteles-Ausgabe angemessen würdigen.14 Der folgende Überblick beschränkt sich auf die fünf bedeutendsten Werkausgaben. Abgesehen von dem einen antiken, aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammenden Papyrus, der eine Beschreibung der Verfassung der Athener enthält und der erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt worden ist, stammen die ältesten uns überlieferten Aristoteles-Handschriften aus dem neunten Jahrhundert. Ihre Inventarisierung und Erforschung, vor allem auch die ihrer Abhängigkeiten untereinander, ist bis heute nicht abgeschlossen. Die neuzeitliche Editionsgeschichte des Corpus Aristotelicum beginnt nur knapp 50 Jahre nach der Erfindung des modernen Buchdrucks durch Gutenberg und zwar mit der sogenannten Aldina, die zwischen 1495–1498 in Venedig erschienen ist. Diese von Aldus Manutius herausgegebene editio princeps umfasst fünf Bände und basiert auf nur zwei (oder drei) jungen Codices.15 _____________ 13 14
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Schneider (1999), 249. Zur neuzeitlichen Editionsgeschichte der aristotelischen Werke vgl. den Aufsatz von Myriam Hecquet-Devienne, die auch einen relativ vollständigen Überblick über die wichtigsten Gesamtausgaben bietet, sowie die Bibliographie von Marie-Dominique Philippe. Vgl. aber auch ältere Auflistungen und Nachschlagewerke, wie z. B. Hoffmann (1838), 271–375 und 612 f., oder Engelmann (1880), 188 f., der allerdings nur die ab 1700 erschienen Editionen verzeichnet. Schröder (2009), 351. Zur Aldina vgl. ferner Hecquet-Devienne (2004), 417.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Die nächste bedeutende, weil sehr verbreitete, Edition verdanken wir Erasmus von Rotterdam. Sie erschien 1531 in Basel (und 1550 in einem Nachdruck) und umfasst zwei Bände. Dass sie bis ins 19. Jahrhundert hinein Verwendung fand, ist daran ersichtlich, dass sich ein Exemplar der Ausgabe von 1531 in Hegels Besitz befand und er aus ihr zitiert hat.16 1590 erschien dann in Lyon die erste zweisprachige Ausgabe des aristotelischen Gesamtwerkes, die in zweispaltigem Satz den griechischen Text zusammen mit einer lateinischen Übersetzung bietet. Der Herausgeber dieser Edition war Isaac Casaubon, der laut einem späteren Rezensenten »ausser den vorhergehenden Ausgaben, auch Handschriften zu Rathe gezogen, aus beiden die Abweichungen bemerket und eigene Verbesserungen gemachet« hat.17 Diese zweibändige Werkausgabe hat ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert hinein Verwendung gefunden, so war sie z. B. Bestandteil von Schleiermachers persönlicher Bibliothek.18 Für die letzte große Renaissance-Ausgabe, die sowohl den griechischen Text als auch eine lateinische Übersetzung bietet, zeichnet Guillaume Du Val verantwortlich. Seine Edition erschien zuerst 1619 und in überarbeiteter Form letztmalig 1654 in Paris. Die Leistung Du Vals wurde in der Vergangenheit unterschiedlich bewertet. So schreibt Hamberger 1756: Die Verdienste des Du Val um den Text sind so groß nicht. Er hat bloß einen Abdruck der Casaubonischen Ausgabe geliefert, nur bloß mit den Lesarten, die am Rande derselben stehen, und er gedenket auch mit keinem Worte, daß er etwas neues geleistet habe.19
Ein anderer Autor hingegen urteilt knapp einhundert Jahre später, dass Du Val die Ausgabe Casaubons »mit Vermehrungen und Verbesserungen herausgegeben« habe.20 Welcher Meinung der Vorzug zu geben ist, muss hier offen bleiben. Unabhängig von diesen Einschätzungen ist die Ausgabe von Du Val hier aus zwei Gründen zu erwähnen: Erstens, weil es sich bei ihr um die für längere Zeit letzte Gesamtausgabe des Corpus Aristotelicum handelt, zweitens, weil der nächste Versuch einer Gesamtausgabe am Ende des 18. Jahrhunderts den von ihr gebotenen Text zu Grunde legt. Die auf die Edition von Du Val folgende knapp 150-jährige Pause in der Editionstätigkeit des aristotelischen Gesamtwerkes wird gemeinhin damit erklärt, dass man sich nach 1650 mehr auf die Herausgabe einzelner Werke des Aristoteles und die Kommentierung seiner Texte konzentriert habe.21 Dazu beigetragen hat allerdings höchstwahrscheinlich auch die bereits erwähnte kritische Abwendung von der Philosophie des Aristoteles im 17. und 18. Jahrhundert und die Bevorzugung Platons, wel_____________ 16 17 18
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Vgl. Köppe (2017), 426–444. Hier sind alle Ausgaben aristotelischer Werke, die Hegel besessen hat, verzeichnet. Die Edition von Erasmus ist unter KHB 471 (ebd. 437) verzeichnet. Hamberger (1756), 274. Vgl. Meckenstock (1993), 136 f. Hier sind unter den Nummern 74 bis 87 all die Titel und Ausgaben von Aristoteles verzeichnet, die Schleiermacher besessen hat, die Ausgabe von Casaubon ist unter der Nummer 74 zu finden. Hegel hat diese Ausgabe auch besessen; vgl. Köppe (2017), 438 f. (KHB 472). Hamberger (1756), 274 f. In demselben Sinne vermerkt Hoffmann (1838), 276: »Du Val gab nur den Text des Casaubonus, obgl. er auf d. Tit. Verbess. verspricht.« Wagner (1840), 82. Hecquet-Devienne (2004), 418.
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che dazu geführt hat, dass eben nicht nur das philosophische, sondern auch das philologische Interesse an den Texten des Aristoteles nachgelassen hat.22 Daher gehört die Werkausgabe, die Johann Gottlieb Buhle (1763–1821) auf Anregung seines Göttinger Lehrers Christian Gottlob Heyne (1729–1812) zwischen 1791 und 1800 herauszugeben begonnen hatte, zu den Zeichen, die den Beginn eines sich in der Folge vollziehenden Wandels ankündigten. Buhle, der in Personalunion Philologe, Philosoph und Philosophiehistoriker gewesen ist und dessen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles sich neben der Werkausgabe auch in anderen Publikationen niedergeschlagen hat,23 hat für seine Ausgabe den Text von Du Val zu Grunde gelegt und diesen mit den Lesarten anderer Editionen verglichen.24 Meines Erachtens sollte die Bedeutung der von Buhle begonnenen Edition nicht unterschätzt werden, auch wenn sie ein Torso geblieben ist und trotz der ihr unzweifelhaft anhaftenden Mängel – denn dass ein Einzelner an dem Anspruch, eine Edition des gesamten Corpus Aristotelicum vorzulegen, scheitern muss, ist aus heutiger Perspektive nur allzu offensichtlich und spricht nicht gegen Buhle. Zumal man bedenken muss, dass die Edition nicht nur den griechischen Text, sondern zugleich (jeweils auf der unteren Seitenhälfte) auch eine lateinische Übersetzung bietet, die von Buhle selbst stammt, wie dem Titel seiner Edition zu entnehmen ist. Und wahrscheinlich hat sein Scheitern letztendlich mit dazu beigetragen, der unumgänglichen Einsicht den Weg zu ebnen, dass ein Projekt dieser Größenordnung eine andere, nämlich eine kollektive Herangehensweise benötigt. Für Buhle spricht ferner sein Bewusstsein für die Problematik der Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Texte, welches ihn veranlasst hat, nicht nur alle bisherigen (ihm bekannten) Ausgaben aristotelischer Werke, sondern auch die Codices in einem dem ersten Band vorangestellten umfangreichen Vorwort zu verzeichnen.25 Diese Tatsache lässt vermuten, dass es ihm, wenngleich er für seine Edition nicht auf die handschriftliche Überlieferung zurückgegriffen hat, dennoch bewusst gewesen zu sein schien, dass dies eigentlich wünschenswert gewesen wäre.
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Vgl. hierzu auch Petersen (1921), 426 f. Schleiermacher und Hegel haben auch diese Werkausgabe besessen; vgl. Meckenstock (1993), 136, hier verzeichnet unter der Nummer 75, und Köppe (2017), 434–437, verzeichnet unter KHB 466– 470. Vgl. ferner die Auflistung der Werke Buhles auf den Internetseiten des Teuchos-Zentrums (»Teuchos – Zentrum für Handschriften und Textforschung«) in Hamburg (http://www.teuchos.uni-hamburg.de/resolver?Buhle.Johann.Gottlieb, zuletzt aufgerufen am 28.08.2017), die allerdings nicht ganz vollständig ist. Vgl. daher zusätzlich Engelmann (1880), 201. Vgl. Wagner (1840), 82, sowie Petersen (1921), 432. Buhle in Aristotelis Opera omnia Graece, Bd. 1, 155–274. Zu der im ersten Band gegebenen Auflistung der bisherigen Editionen folgen in Bd. 3, 699 f., noch ergänzende Angaben. Der erste Band enthält neben einem Vorwort von 31 Seiten noch eine umfangreiche Einleitung von 358 Seiten.
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1.2.2 Die von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Aristoteles-Ausgabe (1831–1870) Das Zustandekommen und die Anfänge dieses Akademieprojektes sollen im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, da ich hierfür auf eigene, bisher noch nicht publizierte Archiv-Recherchen zurückgreifen kann und sich alle bisherigen Darstellungen ausschließlich auf die entsprechenden Passagen in der Akademiegeschichte von Adolf Harnack stützen.26 Im Jahr 1831, dem Todesjahr Hegels, erschienen in dem Berliner Verlag von Georg Andreas Reimer die ersten drei Bände der insgesamt fünf Quartbände umfassenden Akademie-Edition des Corpus Aristotelicum. Das Neue an dieser Edition war, dass sie von der historisch-kritischen Maxime geleitet wurde, dass man zu den Handschriften zurückkehren muss und dass man nur auf der Basis eines kritischen Vergleichs der wichtigsten überlieferten Aristoteles-Codices einen verlässlichen Text konstituieren kann. Diese Edition hat somit für die damalige Zeit vollkommen neue Standards gesetzt und dadurch eine unumkehrbare Zeitenwende in der AristotelesForschung eingeleitet. Initiator und Motor dieser Edition war Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, erarbeitet hat sie allen voran Immanuel Bekker – unter der Mitarbeit von Christian August Brandis. Zur zweiten Generation der Mitarbeiter zählten dann Valentin Rose, Hermann Usener und Hermann Bonitz. Schleiermacher (1768–1834) – Theologe, Philosoph, Platon-Übersetzer und nicht zuletzt ein vorzüglicher Philologe, Professor an der Berliner Universität und Akademie-Mitglied – lässt sich in den Akademie-Akten und vor allem in seinem Briefwechsel mit Immanuel Bekker als der ursprüngliche Initiator und immer wieder als die treibende Kraft des ganzen Projektes der Aristoteles-Ausgabe ausmachen. Die Anfänge des Projektes fallen in das Jahr 1817, wie ein Brief der historisch-philologischen Klasse der Akademie an das zuständige Ministerium zeigt.27 Aus diesem Brief geht ferner hervor, dass die wesentlichen Einsichten Schleiermachers und seiner Akademie-Kollegen waren, dass »die Veranstaltung einer vollständigen und kritischen Ausgabe der Werke des Aristoteles« nur auf der Grundlage einer Kollationierung der wichtigsten überlieferten (und bis dato bekannten) Aristoteles-Codices geschehen kann, weshalb hierzu also zunächst »die Einsammlung der Vergleichungen von allen Handschriften welche in den Bibliotheken von Italien und Frankreich aufbewahrt werden« notwendig ist, und dass es sich bei diesem Vorhaben um »ein Unternehmen« handelt, das »sich den Kräften eines Privatmannes gänzlich entzieht, und durchaus das Zusammenwirken und die Unterstützung eines Gelehrten-Vereins erfordert«.28 _____________ 26 27
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Harnack (1900), Bd. 1.2, 675 ff., 724 f. und 899 f. Archiv der BBAW, Akte II – VIII – 252, Bl. 4–7. Es handelt sich hierbei um den Entwurf eines Schreibens der Akademie an das Ministerium vom 7.2.1817 in der Handschrift von Philipp Karl Buttmann (1764–1829), der zu diesem Zeitpunkt der Sekretar der historisch-philologischen Klasse gewesen ist. Ebd. Bl. 6r.
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Die letztgenannte Formulierung erinnert an die vielzitierten Worte August Boeckhs aus seinem Schreiben an die historisch-philologische Klasse der Akademie von 1815, in dem er die Einrichtung eines Projektes der Sammlung aller antiken griechischen Inschriften (deren Bedeutung als historische Quellen er klar erkannt hatte) beantragt: Der Hauptzweck einer Königlichen Akademie der Wissenschaften muss dieser sein, Unternehmungen zu machen und Arbeiten zu liefern, welche kein Einzelner leisten kann, theils weil seine Kräfte denselben nicht gewachsen sind, theils weil ein Aufwand dazu erfordert wird, welchen kein Privatmann zu machen wagen wird.29
Boeckhs Antrag wurde stattgegeben und somit konnte im Mai 1815 mit dem Corpus Inscriptionum Graecarum das erste wissenschaftliche Groß- und Langzeitunternehmen der Akademie starten (das von einer Kommission geleitet wurde, der Schleiermacher von Beginn an angehörte), welches bis heute unter dem Namen Inscriptiones Graecae fortgeführt wird. Es muss hier erwähnt werden, da es eine unmittelbare Vorreiter- und Vorbildrolle für die Aristoteles-Ausgabe hatte, die sich im Laufe der Jahre zu einem ebensolchen Groß- und Langzeitunternehmen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und somit als deren zweites Projekt dieser Art entwickelte.30 Zwei Dinge hinsichtlich des Zustandekommens des Aristoteles-Editionsprojektes sind aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswert: Zum einen, dass sich zu Beginn niemand über den wirklichen Umfang und somit die zu erwartende Projektlaufzeit im Klaren gewesen ist – eine solche Abschätzung aber auch gar nicht eingefordert wurde. Und zum anderen, dass das »höchst wichtige[…] Projekt« der »Veranstaltung einer vollständigen und kritischen Ausgabe der Werke des Aristoteles« dem geldgebenden Ministerium quasi als Kuckucksei untergeschoben worden ist, indem sie diesem als Nebenprodukt einer aus anderen Gründen beantragten Reise Immanuel Bekkers verkauft wurde. Denn zur Vorgeschichte der Aristoteles-Ausgabe gehört der von Barthold Georg Niebuhr im September 1816 in der Dombibliothek von Verona entdeckte Gaius-Palimpsest. Um diese antike römische Rechtsquelle der Forschung zugänglich zu machen, wollte die Akademie zwei ausgewiesene Experten, Johann Friedrich Ludwig Göschen (1778–1837) und den Altphilologen Immanuel Bekker nach Italien entsenden, weshalb sie beim Ministerium die dafür notwendigen Mittel beantragte, dem Ministerium aber im gleichen Schreiben nahelegte, dass, wenn Bekker dann schon einmal in Italien sei, er sich eigentlich auch gleich noch um die dortigen AristotelesHandschriften kümmern könne. An dieser Stelle bedarf es einer kurzen Vorstellung Immanuel Bekkers (1785– 1871). Bekker ist wahrscheinlich der produktivste Herausgeber antiker Texte überhaupt, denn die Liste der von ihm edierten griechischen und römischen Autoren ist beeindruckend lang.31 Bekker war der Sohn eines Berliner Schlossermeisters und ge_____________ 29 30 31
Hier zitiert nach: Harnack (1900), Bd. 1.2, 669. Für einen Überblick über die Akademie-Projekte vgl. http://altewelt.bbaw.de/tradition, zuletzt aufgerufen am 28.8.2017. Vgl. zu Bekker den instruktiven Aufsatz von Wilt Aden Schröder und die von diesem erstellte Bibliographie der Publikationen Bekkers; Schröder (2009), 365–368. Online findet man diese Bibliogra-
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hörte nicht nur dem gleichen Jahrgang an wie August Boeckh, sondern hatte ebenso wie dieser bei Friedrich August Wolf in Halle Philologie studiert. Bekker war seit 1811 ordentlicher Professor für Klassische Philologie an der Berliner Universität und seit 1815 auch Akademiemitglied. Zu dem Zeitpunkt, als er nach Verona geschickt wurde, arbeitete er schon seit einiger Zeit an einer (ursprünglich gemeinsam mit F. A. Wolf geplanten) Platon-Ausgabe, für die er bereits 1810–1811 in Paris Handschriften kollationiert hatte. Bekkers achtbändige Platon-Ausgabe, die dann zwischen 1816–1818 erschien, ist die »Ausgabe, die sich erstmals auf eine umfängliche Sammlung von Lesarten auf breiter Handschriftengrundlage stützte«32. Genau dieser Text bildete dann die Grundlage für Schleiermachers zweite überarbeitete Auflage der ersten fünf Bände seiner Platon-Übersetzung, die zwischen 1817–1826 erschienen sind, und ebenso für den abschließenden sechsten Band von 1828. Schleiermacher wusste also um Bekkers Verdienste um den platonischen Text und sah daher in ihm den richtigen Mann für die Aristoteles-Ausgabe. Ferner waren Schleiermacher und Bekker nicht nur Universitäts- und Akademiekollegen, sondern sie trafen sich darüber hinaus in der Griechischen Gesellschaft, auch Griechheit oder Graeca genannt, einem privaten Lesezirkel, in dem sich Kenner und Freunde der griechischen Sprache und Literatur zur gemeinsamen Lektüre antiker Texte trafen, in dem aber auch eigene Editions- und Übersetzungsarbeiten diskutiert wurden.33 Als Bekker von der Akademie nach Verona geschickt wurde, war das schon seine dritte Reise in Sachen Handschriften, denn nach seiner Paris-Reise von 1810/11 war er von Juli bis Oktober 1815 nochmals in Paris gewesen, diesmal mit dem Auftrag, Inschriften für das Corpus Inscriptionum Graecarum zu recherchieren und die Rückführung der von den Franzosen geraubten Kulturgüter (insbesondere der Handschriften) zu regeln. Er war also in diesen Belangen ein erfahrener Mann, der seine Expertise schon unter Beweis gestellt hatte. Wahrscheinlich hat Bekker die Reise nach Verona, wo er (gemeinsam mit Göschen) am 21. Mai 1817 angekommen ist, nicht ganz uneigennützig angetreten, denn es ist davon auszugehen, dass er von der Hoffnung geleitet worden ist, in Italien weitere Platon-Handschriften einsehen zu können. Darüber hinaus hat er in der Folge in den italienischen Bibliotheken, wie aus seinen Briefen hervorgeht, neben den aristotelischen Codices auch Handschriften für seine Ausgabe der Attischen Redner konsultiert (die dann 1822/23 erschien). Dem Aristoteles-Projekt hat sich Bekker zuerst nur sehr zögerlich zugewendet, so dass er immer wieder brieflich von Schleiermacher dazu ermahnt und überredet werden musste. Es _____________
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phie sowohl auf den Seiten des Teuchos-Zentrums (http://www.teuchos.uni-hamburg.de/interim/prosop/Bekker.Immanuel.html, zuletzt aufgerufen am 30.8.2017) als auch auf den Seiten der Commentaria in Aristotelem Graeca et Byzantina an der Berliner Akademie der Wissenschaften (http://cagb-db.bbaw.de/register/personen.xql?gnd=118850210, zuletzt aufgerufen am 30.8.2017). Käppel (2013), 52. Vgl. Motschmann (2015), 145–150. Schleiermacher war spätestens seit 1809 Mitglied der Graeca, denn am 27.10.1809 findet sich erstmalig in seinen Tageskalendern der Vermerk über die Teilnahme an einer »griechische[n] Sizung bei Buttmann«. Bekker wurde 1813 Mitglied der Graeca; vgl. Motschmann (2015), 146. Da keine Vereinsmaterialien überliefert sind, hat man nur spärliche Informationen darüber, welche Autoren im Laufe der Jahre in der Graeca gelesen worden sind.
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hat über ein Jahr gedauert, bis er sich mit dieser Aufgabe dann letztendlich identifiziert und die Aristoteles-Edition zu seiner eigenen Sache gemacht hat.34 In Italien kam dann noch ein weiterer junger Mann ins Spiel, der sich ebenfalls um die Aristoteles-Edition verdient machen sollte: Christian August Brandis (1790– 1867).35 Dieser hatte in Kiel zunächst Theologie, dann aber Philologie, Geschichte und Philosophie studiert und sich daraufhin an der Universität in Kopenhagen und 1816 nochmals in Berlin habilitiert. Am 18. Juni 1816 wurde er zum Gesandtschaftssekretär Niebuhrs, der preußischer Gesandter am päpstlichen Hof geworden war, ernannt und hielt sich als solcher dann ab dem 7. Oktober 1816 in Rom auf. Nebenher begann er »gleichsam aus privatem Interesse«36 die Aristoteles-Handschriften der Vaticana zu verzeichnen – also lange vor Bekkers Ankunft in Rom. Davon hatte der immer gut vernetzte Schleiermacher über seine weitverzweigten Kommunikationskanäle offensichtlich eher Kenntnis erhalten als Bekker, denn in einem Brief vom 22. September 1817 schreibt Schleiermacher an letztgenannten: Was Sie wegen des Aristoteles schreiben, [Bekker hatte geschrieben, dass er sich einen Gehilfen für den Aristoteles wünsche, weil die Arbeit ohne einen solchen nicht zu bewältigen sei, und hatte Lachmann als solchen vorgeschlagen, C.H.] ist mir eben so unerwartet, als was mir, ich weiß nicht wer, ganz entgegengeseztes erzählte, nemlich Sie hätten sich schon mit Brandis zu einer Ausgabe des ganzen Aristoteles vereinigt.37
Und dazu kam es dann ein knappes Jahr später (ab dem Sommer 1818) auch. Denn wieder einmal hatte Schleiermacher im Hintergrund, d. h. in Berlin, die Fäden gezogen, indem er beim Ministerium die notwendige Erlaubnis und die erforderlichen Mittel für die Mitarbeit von Brandis erwirkt hatte.38 _____________ 34
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Vgl. hierzu den bisher publizierten Briefwechsel zwischen Schleiermacher und Bekker aus den Jahren 1815 bis 1820 in: Meisner (1916), 47–126. Am 13.6.1818 teilt Bekker Schleiermacher mit (Meisner [1916], 88): »Am Aristoteles geschehe Ihr Wille.« Und im darauf folgenden Brief vom 10.8.1818 (Meisner [1916], 90) heißt es dann schon: »Zum Aristoteles, lieber und verehrter Schleiermacher, wächst mir der Muth. Freilich habe ich noch nichts verglichen außer der Nikomacheischen und der großen Ethik in Einem Codex, aber auch in einem so alten und guten, daß ich mit Einem oder zwei der Art zu allen Aristotelischen Schriften unbedenklich die ganze Ausgabe unternehmen möchte. Und die Beschränkung auf wenige wird überdies schon dadurch unumgänglich, daß der Schwall der wenig oder nichts versprechenden zu groß ist, um zu erlauben, was beim Plato allenfalls erlaubt ist, durch Vergleichung aller sich aller vergleichungswerthen zu versichern. Jene wenigen werden nun aber ziemlich zerstreut sein. In Bonn wissen wir nur Einen, vom Organon: in Venedig ist vermuthlich auch nur der Eine von der Thiergeschichte, den ich bereits gebraucht habe: was in Mailand sei, wird schwer halten auszumitteln. Es könnte also wohl nöthig werden, nach Wien und Paris zu gehn, vielleicht nach England: ist dazu Zeit vorhanden und Geld?« Aus dem hier von Bekker entworfenen Szenario geht hervor, dass er nun endgültig die ihm von Schleiermacher von Anbeginn an zugedachte Rolle übernommen hat. Vgl. zu Brandis das von Wilt Aden Schröder erstellte Biogramm auf den Seiten der Commentaria in Aristotelem Graeca et Byzantina: http://cagb-db.bbaw.de/register/personen.xql?id=cagb:Brandis.Christian.August, zuletzt aufgerufen am 28.8.2017. Schröder (2009), 346. Meisner (1916), 67. Vgl. den Entwurf eines an das Ministerium gerichteten Schreibens von Schleiermachers Hand vom 20.7.1818 (Archiv der BBAW, Akte II – VIII – 252, Bl. 30), in dem Schleiermacher das Ministerium
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Ab Juli 1818 waren Bekker und Brandis also gemeinsam im Dienste der Aristoteles-Ausgabe unterwegs, um in verschiedenen namhaften Bibliotheken Italiens, der Schweiz, Frankreichs, Englands und Hollands Aristoteles-Handschriften zu ermitteln, zu verzeichnen, zu sichten und zu vergleichen. Stellt man die damaligen Bedingungen und Verhältnisse in Rechnung, erscheint das als eine ungeheure Leistung – nicht nur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Codices bei schlechtem Licht handschriftlich kopiert werden mussten.39 Im August 1820 kehrten sie nach Berlin zurück. Aber erst ein knappes Dreivierteljahr später (am 6. März 1821) nimmt das Editionsprojekt durch die Gründung der Aristoteles-Kommission an der Akademie der Wissenschaften (bestehend aus Schleiermacher, Bekker, Boeckh, Buttmann, zu denen wenig später noch Johann Wilhelm Süvern und Brandis hinzukamen) eine feste institutionelle Form an.40 Von da an dauerte es dann noch einmal zehn Jahre, bis 1831 die ersten beiden Quartbände Aristoteles Graece. Ex Recensione Immanuelis Bekkeri edidit Academia Regia Borussica erschienen, die den griechischen Text aller aristotelischen Werke bieten (und die eine durchgehende Seitenzählung aufweisen) sowie Band drei mit einer lateinischen Übersetzung. Der vierte, von Brandis herausgegebene Band datiert von 1836 und enthält Scholien zum aristotelischen Werk. Erst 1870 erschien dann der abschließende fünfte Band mit »den Fragmenten von Valentin Rose, Ergänzungen zu den Scholien von Brandis und dem jungen Hermann Usener und dem Hauptstück, dem Index Aristotelicus von Hermann Bonitz«.41 Auch wenn Bekkers Edition mittlerweile durch zahlreiche in der Zwischenzeit unternommene philologische Einzelstudien in vielen Punkten als überholt zu betrachten ist – was aber, folgt man Max Weber, kein qualitätsminderndes Urteil ist, da überholt zu werden nun einmal zugleich Schicksal und Zweck aller wissenschaftlichen Arbeit _____________
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daran erinnert, dass Bekker seinen Aufenthalt in Italien verlängert habe »vorzüglich zum Behuf einer von der Akademie beabsichtigten großen kritischen Bearbeitung des Aristoteles. Nun befindet sich gegenwärtig noch in jenem Bereiche der Legationssekretär Dr. Brandis welcher schon seit längerer Zeit mit dem Aristoteles beschäftigt einen Theil seiner dortigen Muße mit Vergleichung Aristotelischer Handschriften verwendet hat und von dessen Kenntnissen sich die Akademie höchst wünschenswerthe Beiträge zu diesem großen Unternehmen verspricht. Er ist auch nicht abgeneigt ihr seinen Anteil zur Disposition zu überlassen und noch einige Zeit in Italien zu bleiben und vereint mit Prof. Bekker in Kritischen Arbeiten fortzufahren.« Diesem Antrag wurde stattgegeben und Brandis »zum ao. Professor der Philosophie in Berlin [ernannt, C.H.], verbunden mit dem Auftrag der Berliner Akademie, zusammen mit Bekker die Texte des Aristoteles und von dessen Kommentatoren zu bearbeiten«; vgl. http://cagb-db.bbaw.de/register/personen.xql?id=cagb:Brandis.Christian.August, zuletzt aufgerufen am 28.8.2017. Wer dagegen heute einen Eindruck von einigen der Aristoteles-Handschriften gewinnen möchte, kann das ganz einfach vom heimischen Schreibtisch aus tun, denn über die Internetseite von »Teuchos – Zentrum für Handschriften und Textforschung« hat man Zugriff auf einige der mittelalterlichen Codices und zwar unter der Rubrik Materialien. Vgl. http://beta.teuchos.uni-hamburg.de, zuletzt aufgerufen am 28.8.2017. Das ist der Grund, weshalb erst ab diesem Zeitpunkt eigene Akten des Projektes im Akademie-Archiv vorliegen. 1832 wurde die Aristoteles-Kommission noch um Lachmann, Meineke und Wilken erweitert. Schröder (2009), 351. Zum Index-Band und dem Grund für sein verzögertes Erscheinen vgl. Harnack (1900), Bd. 1.2, 899 f.
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ist42 –, so handelt es sich bei ihr dennoch um einen Meilenstein in der AristotelesForschung, da sie bei ihrem Erscheinen ganz neue Maßstäbe gesetzt und die Aristoteles-Forschung auf eine neue Grundlage gestellt hat. Denn Bekker »hat zum ersten Mal einen kritischen, diplomatisch abgesicherten und vielfach verbesserten Text geschaffen« und zwar einmal aufgrund der besseren Textgrundlage, aber »auch aufgrund eigener glänzender Konjekturen, von denen viele heute noch anerkannt werden; und er hat die Ausgabe mit einem vorbildlich gestalteten kritischen Apparat ausgestattet«.43 Hinzu kommt, dass sich die Edition der Berliner Akademie der Wissenschaften sehr schnell als Referenzausgabe etabliert hat und jeder, der heute einen aristotelischen Text zitiert, sich implizit darauf bezieht, indem er die Stelle angibt – mittels Angabe der Seite, der Spalte (a oder b) und der Zeile –, an der die jeweilige Passage in der Edition von 1831 zu finden ist. Auf die von Bekker herausgegebene Akademie-Edition folgten dann im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zahlreiche Einzelausgaben aristotelischer Werke und vermehrt auch Übersetzungen ins Deutsche und in andere Nationalsprachen. Fakt ist, dass sich der von Bekker konstituierte Text schnell als maßgeblich durchgesetzt hat.44 1.2.3 Die von der Tauchnitzʼschen Buchhandlung verlegten Aristotelis opera omnia Die beiden 1831/32 und 1843 bei Tauchnitz in Leipzig verlegten AristotelesWerkausgaben erscheinen im Rückblick eher als ein Kuriosum. Beide Ausgaben bieten den gleichen fehlerhaften (auf der Grundlage der Editionen von Sylburg und Casaubonus erstellten) Text in einer vollkommen von der Tradition abweichenden Werkreihenfolge. Sie unterscheiden sich nur in ihrem äußeren Erscheinungsbild: So verfügt die Ausgabe von 1831/32 über keinerlei Vorwort und verzichtet auch auf die Nennung eines Herausgebers. Sie besteht aus 16 Bänden,45 die dann 1843 in einen 1034 Seiten umfassenden Quartband zusammengefasst worden sind, für den Carl Hermann Weise (1787 bis ca. 1843) als Herausgeber fungiert, von dem daher auch das 43-seitige Vorwort stammt. Da beide Ausgaben denselben fehlerhaften Text in derselben unorthodoxen Reihenfolge bieten, liegt die Vermutung nahe, dass Weise bereits für die erste Ausgabe verantwortlich zeichnet. Hermann Bonitz hat Weises Edition aufgrund ihrer zahlreichen Unzulänglichkeiten (irreführende Interpunktion, zahlreiche Druckfehler, Nichtberücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse, eigenwillige Anordnung der Werke) in einer Rezension46 mit harten Worten bedacht. Trendelenburg _____________ 42 43 44 45 46
Weber (1919), 487. Schröder (2009), 351. Ebd. 352: »Der Bekkersche Aristoteles hat sofort Wirkung erzielt und die Forschung ungemein angeregt […].« Die Bände sind zu einem mehr als moderaten Preis auch einzeln käuflich gewesen. Vgl. Hoffmann (1838), 276. Bonitz (1842), 515 f. Die Rezension von Bonitz erschien bereits im Frühjahr 1842 und bezieht sich auf den ersten Druckbogen der Edition, der Physik und Metaphysik enthalten hat (ebd. 515), denn die Gesamtedition erschien erst im Jahr darauf.
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bringt die Kritik von Bonitz an Carl Hermann Weises Machwerk mit folgenden Worten auf den Punkt: What is added upon the order of Aristotleʼs writings shows a want of all sound knowledge of the subject, and it is incredible how such a production could venture to make appearance in Germany after Bekkerʼs edition […].47
Aus der vernichtenden Kritik von gelehrter Seite aus ist darauf zu schließen, dass diese Edition nicht von einem wissenschaftlichen Streben motiviert gewesen sein kann. Stattdessen liegt die Vermutung nahe, dass sie ihr Erscheinen auf dem Buchmarkt rein merkantilen Interessen verdankt. Zumal Bonitz hinsichtlich der »Bekkerʼschen Ausgabe« bemerkt, dass »ihr hoher Preis ihre Verbreitung erschwert« habe und anklingen lässt, dass es in seinen Augen die Aufgabe der »Verlagshandlung des Bekkerʼschen Aristoteles« (also die Aufgabe von Georg Andreas Reimer) gewesen wäre, »neben der grossen Ausgabe eine brauchbare Handausgabe« zu veranstalten.48 Hier bestand also eine Marktlücke. Und diese Marktlücke, die sich Tauchnitz zu Nutze gemacht hat, weist auf einen Mangel hin, der seinerseits wiederum auf das ihn verursachende Phänomen verweist: Das Interesse an der aristotelischen Philosophie war zu dieser Zeit bereits spürbar gewachsen.
1.3 Wichtige Stationen der Aristoteles-Rezeption im deutschsprachigen Raum vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 1.3.1 Vorbemerkungen Angesichts der im 19. Jahrhundert zu beobachtenden allgemeinen Tendenz einer erneuten und zugleich verstärkten Hinwendung zur aristotelischen Philosophie, die mit deren gleichzeitiger Aufwertung verbunden gewesen ist, kann man zu Recht von einer Aristoteles-Renaissance sprechen. Bei dieser handelt es sich um einen komplexen Vorgang, der von Akteuren, die zum Teil ganz verschiedene Interessen verfolgt haben, angestoßen und vorangetrieben worden ist. Diese durchaus unterschiedlichen Motivations- und Interessenskonstellationen haben sich aber zum Teil gegenseitig überlagert und ineinander gegriffen, so dass es im Rückblick nicht immer möglich ist, klare Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Auf einer ersten Ebene kann man ganz grob zwei Motivationen, die zu einer Hinwendung zur aristotelischen Philosophie geführt haben, unterscheiden: Da ist zum einen ein starkes historisch-philologisches, an einer historisch-kritischen Rekonstruktion der aristotelischen Philosophie interessiertes Bemühen auszumachen und zum anderen bei manchen Akteuren wiederum ein rein sachliches, um inhaltliche Aktuali_____________ 47
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Trendelenburg (1844), 455. Für ernsthaft um die Philosophie des Aristoteles bemühte Gelehrte wie Bonitz und insbesondere für Trendelenburg, der Schwierigkeiten gehabt hatte, für seine sorgfältig erarbeitete Edition von De anima einen Verleger zu finden (vgl. Bratuscheck [1873], 74), muss das Erscheinen dieser Ausgabe einen besonderen Affront dargestellt haben. Bonitz (1842), 515 und 517.
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 29
sierung bemühtes Interesse. Ausdruck des historisch-philologischen Interesses sind unter anderem die Bestrebungen, eine verlässliche Textgrundlage bereitzustellen sowie die aristotelischen Werke ins Deutsche zu übersetzen, ebenso wie die Bemühungen, der historischen Person des Aristoteles habhaft zu werden,49 oder auch die Versuche einer historischen Verortung der aristotelischen Philosophie innerhalb der Philosophiegeschichte. Von einem sachlich motivierten Interesse kann man dort sprechen, wo es darum ging, Aristoteles als Dialogpartner in den Kontexten aktueller Diskussionen oder des eigenen Philosophierens zu befragen. In der Mehrheit gingen wahrscheinlich beide Motive Hand in Hand und überlagerten sich, so dass im Hintergrund letztendlich »eine nachhaltige Allianz von Philosophie und Philologie hervor[tritt, C.H.], in deren Zentrum ein gemeinsames Interesse an der Aristotelischen Philosophie«50 liegt. Nun ist die vielfältige »Linienführung der Wirkungsgeschichte aristotelischer Philosophie im 19. Jh.« nach wie vor »noch nicht umfassend erforscht«.51 Denn abgesehen von den mittlerweile in die Jahre gekommenen Monographien von Peter Petersen aus den Jahren 1913, 1914 und 1921, die zwar wichtige Informationen bieten, aber natürlich nicht den neuesten Forschungsstand repräsentieren, gibt es nur knappe Überblicksdarstellungen52 und Einzeluntersuchungen zu einigen, aber weitaus nicht zu allen Teilaspekten der Problematik53. Eine systematische Untersuchung steht also nach wie vor aus. Die folgende Darstellung orientiert sich an der genannten Literatur, weicht aber in zwei wesentlichen Punkten von dieser ab: Erstens, im Gegensatz zu Thouard und _____________ 49
50 51 52 53
Wie es z. B. Adolf Stahr in seinen Aristotelia (1830–1832) versucht, die schnell zum überall zitierten Standardwerk avancierten. Der erste Band behandelt »Das Leben des Aristoteles von Stagira«, der zweite problematisiert die »Geschichte der Aristotelischen Schriften«. In späteren Jahren hat Stahr dann mehrere aristotelische Werke ins Deutsche übertragen, und zwar die Politik, die Poetik, die Rhetorik und die Nikomachische Ethik. Adolf Stahr (1805–1876) gehört daher in die Reihe der Philologen, die sich im 19. Jahrhundert besonders um Aristoteles verdient gemacht haben. Eine Problematisierung der überlieferten Quellen zum Leben des Aristoteles und eine Darstellung desselben findet man in der Regel aber auch zu Beginn jeder Aristoteles-Darstellung in diversen Philosophiegeschichten. Hartung (2006a), 293. Hartung (2011), 450. Vgl. Hartung (2011) und (2006a) sowie Thouard (2004), 9–21. Wie z. B. die einzelnen Beiträge in dem von Denis Thouard herausgegebenen Sammelband von 2004, in denen verschiedene Aspekte und Protagonisten der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert problematisiert werden, oder die Aufsätze von Gerald Hartung von 2006b, 2008 und 2009 zu Adolf Trendelenburg; die Arbeiten von Marks/v. Pechmann (1991) und von Leinkauf (1998) zu Schelling und den von Pozzo (2004) herausgegebenen Sammelband. Ferner gibt es bei der Gesellschaft für antike Philosophie seit 2006 eine Arbeitsgemeinschaft mit dem Titel Aristotelische Forschungen im 19. Jahrhundert. Zur Rezeption Aristotelischer Philosophie im Kontext der Wissenschaften, welche wiederholt Tagungen organisiert hat, wie zuletzt 2013 in München. Ein für Oktober 2018 unter dem Titel Aristotelische Forschungen im 19. Jahrhundert angekündigter Band wird die Vorträge der letztgenannten Konferenz zugänglich machen. Vgl. den Internetauftritt der genannten Arbeitsgemeinschaft unter: http://ganph.de/arbeitsgemeinschaften/aristoteles-in-der-moderne, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Hartung, welche die Sichtweise von Petersen übernehmen – der in seiner Trendelenburg-Monographie geschrieben hat: Mit dem Jahre 1831, in dem der erste Band der Akademieausgabe erschien, in demselben Jahre, wo der Diktator Hegel die Augen schloß, begann in Deutschland das Zeitalter der Erneuerung des Aristoteles.54
– und die daher in ihren Arbeiten auf die Zeit nach Hegels Tod fokussieren, erscheint es mir wichtig, den zeitlichen Untersuchungszeitraum nach vorn auszudehnen und so auch die Phänomene mit in den Blick zu nehmen, welche es überhaupt erst möglich gemacht haben, dass man im »Kontext der Krise der spekulativen Philosophie«55 nach Hegels Tod auf Aristoteles zurückgreifen konnte. Zu diesen gehört zum einen die Akademie-Ausgabe des Corpus Aristotelicum, deren Anfänge, wie oben dargestellt, ins Jahr 1817 zurückreichen, und zum anderen Hegels Aristoteles-Rezeption. Und somit wäre auch der zweite Punkt der Abweichung benannt, denn ohne das Einbeziehen Hegels bliebe meines Erachtens jede Überblicksdarstellung über die Erneuerung und Intensivierung der aristotelischen Studien im 19. Jahrhundert unvollständig. Hegel gehört zu den ersten, welche im 19. Jahrhundert die Bedeutung der aristotelischen Philosophie voll und ganz erkannten, auch zu ihrem Studium anzuregen suchten. […] Mit seiner ganzen Kraft ist Hegel an die Philosophie des Aristoteles gegangen: hat den Mann gegen ›gedankenlose Traditionen und die falschesten Vorurteile‹ in Schutz genommen56
urteilt Petersen 1913 rückblickend. Obwohl Hegels Aristoteles-Darstellung, wie Thouard richtig feststellt, eher dem Bild entspricht, das Hegel von sich selbst vermitteln wollte: […] être le penseur systématique aussi universel quʼAristote lʼavait été en son temps, réconciliant, par-delà les séparations modernes, la logique et la métaphysique, réhabilitant la psychologie dans sons ambition spéculative, retrouvant enfin le sens de lʼentéléchie, de lʼaccomplissement téléologique ignoré par les Modernes57
– so hat er doch wesentlich dazu beigetragen, die Philosophie des Aristoteles wieder in die aktuelle Diskussion einzuführen. Das wird im Fortgang der vorliegenden Untersuchung auch am Beispiel seines Schülers Johann Gustav Droysen sichtbar werden. Die noch ausstehende systematische Untersuchung der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert kann hier natürlich nicht geleistet werden. Im folgenden Kapitel kann es daher nur darum gehen, anhand der Auflistung und Vorstellung einiger wichtiger Protagonisten und Projekte den geistesgeschichtlichen Kontext sichtbar werden zu lassen, in dem Droysens Rückgriff auf Aristoteles zu verorten ist. Die folgende Darstellung unterliegt folgenden Beschränkungen: Sie nimmt nur den deutschsprachigen _____________ 54 55 56 57
Petersen (1913), 137. Vgl. ferner Thouard (2004), 13, sowie Hartung (2006a), 290. Thouard (2009), 326 und 304. Petersen (1913), 132. Thouard (2004), 13. Noch kritischer hat es Peter Petersen (1913), 133, formuliert: »Was ihn [Hegel, C.H.] für Aristoteles einnahm, war hauptsächlich das Gefühl einer Verwandtschaft der eigenen Philosophie mit der des Stagiriten. […] Darum sind die Ausführungen in den ›Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‹ derart vom Schleier hegelscher Gedanken umhüllt, daß Aristoteles selbst einem flüchtigen Kenner heute fremd erscheinen muß.«
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 31
Raum in den Blick und hier wiederum nur die Positionen, die besonders wichtig und einflussreich gewesen sind. Darüber hinaus bezieht sie aber auch einige weniger bedeutende Beiträge mit ein, und zwar dann, wenn diese aufgrund ihrer unmittelbaren Beziehung zu Droysen hier dennoch von Bedeutung sind. So erklärt sich die auf den ersten Blick inkohärente Liste der im Folgenden behandelten Positionen. Eine weitere Unausgewogenheit ist dem Umstand geschuldet, dass zu manchen der im folgenden Kapitel besprochenen Protagonisten bereits Studien vorliegen, so dass es möglich war, sich hinsichtlich dieser kürzer zu fassen, zu anderen aber nicht, was eine ausführlichere Besprechung notwendig macht. Die Darstellung folgt im Großen und Ganzen einer chronologischen Ordnung, die nur dann durchbrochen wird, wenn es aus systematischen oder sachlichen Gründen sinnvoll erschien. In den Augen Kants und Schleiermachers war Platon gegenüber Aristoteles der bedeutendere Philosoph. Dennoch findet man bereits Ende des 18. Jahrhunderts vereinzelt positive Urteile über Aristoteles, wie z. B. bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit58 bemerkt: Aristoteles sei vielleicht »der scharfsinnigste, festeste und trockenste« Geist gewesen, »der je den Griffel geführet«, durch ihn habe »die reine Vernunft und Wissenschaft« so sehr gewonnen, »daß er in ihrem Gebiet als ein Monarch der Zeiten dasteht«. Zu denken ist an dieser Stelle ferner an Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781), der sich in seiner Hamburgischen Dramaturgie intensiv mit der Poetik des Aristoteles auseinandergesetzt und diese dadurch wieder in den ästhetischen Diskurs hereingeholt hat. Zu verweisen wäre darüber hinaus auf die (für die damalige Zeit durchaus ungewöhnlichen) intensiven Aristoteles-Studien des Schriftstellers und Gelehrten Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746–1803)59 oder die AristotelesLektüren Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832). Keinerlei Aristoteles-Bezüge findet man hingegen im 1820 erschienenen Entwurf einer Theorie der Geschichte von Wilhelm Wachsmuth (1784–1866), ein Werk auf das sich Droysen mehrfach bezieht. Wachsmuth hatte, ebenso wie Droysens altphilologischer Lehrer August Boeckh, bei Friedrich August Wolf in Halle studiert, war also von seiner Ausbildung her Altphilologe, hat dann aber später (ebenso wie Droysen) als Historiker gewirkt. In besagtem Werk finden sich zwar viele Bezugnahmen auf zeitgenössische und antike Autoren (so u. a. auf Platon),60 aber keine einzige Erwähnung des Aristoteles, weshalb man den Eindruck gewinnt, dass dieser außerhalb Wachsmuths Wahrnehmungshorizontes gelegen hat. 1.3.2 Johann Gottlieb Buhle (1763–1821) Aufschlussreich für den am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Einstellungswandel gegenüber der aristotelischen Philosophie ist auf jeden Fall der bei Johann _____________ 58 59 60
Herder (1787), 189. Vgl. hierzu den Aufsatz von Bungarten aus dem Jahre 2007. Wachsmuth (1820), 32.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Gottlieb Buhle zu beobachtende Wandel in der Bewertung des Aristoteles. Im Vorwort zum ersten Band seiner oben besprochenen Aristoteles-Werkausgabe von 1791 wirbt Buhle eher defensiv um Verständnis für seine Beschäftigung mit Aristoteles.61 In seinem acht Bände umfassenden Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (das bei den Ägyptern beginnt und dessen letzter Band über Kant und Fichte bis hin zu Schelling und Jacobi reicht)62 nimmt die Darstellung der Philosophie des Aristoteles63 mehr als doppelt so viel Raum ein wie die Platons64. Vielleicht wollte Buhle damit das von ihm zu Beginn seiner Platon-Darstellung beschriebene Missverhältnis der bisherigen Bevorzugung Platons65 ausgleichen. Dass er dagegen Aristoteles mehr Wertschätzung entgegenbringt, macht er später unmissverständlich klar: Soviel Plato für die Vervollkommnung der Philosophie, und für den zweckmäßigen Aufbau und die Erweiterung des Gebiets der menschlichen Erkenntniß überhaupt that; so wurde er dennoch hierin von einem seiner Zuhörer, dem Aristoteles, in einem Grade übertroffen, der, wenn man nur einigermaßen fähig ist, hierüber zu urtheilen, zur lebhaftesten Bewunderung dieses außerordentlichen Kopfes fortreißt.66
Reichlich 20 Jahre später, in seinem 1820 in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste erschienenen Artikel über Aristoteles äußert er dann seine Bewunderung gleich zu Beginn unverhohlen, indem er Aristoteles als den »scharfsinnigste[n] Denker, thätigste[n] Forscher und größte[n] Gelehrte[n] des alten Griechenlands«67 bezeichnet. Und man beachte die in der folgenden Formulierung implizit enthaltene Wertung: Platon wurde die Nähe des Aristoteles »um so lästiger und drückender«, »je mehr ihm dieser an wahrer spekulativer Denkkraft, und anderweiter [!] mannigfacher wissenschaftlicher Einsicht überlegen war«. Das bestätigend und ergänzend heißt es weiter hinten: _____________ 61 62
63 64 65
66 67
Vgl. das Vorwort in Buhle (1791), V f. und XI f., sowie Petersen (1921), 432. In dem zwischen 1796 und 1804 erschienenen Lehrbuch beginnt Buhle seine Darstellung mit der Philosophie der Ägypter, Hebräer etc., da in seinen Augen die Philosophie mit dem Gebrauch der Vernunft einsetzt. Wie im Titel angekündigt, findet man zu Beginn eines jeden Kapitels die jeweils relevante Literatur aufgelistet, zunächst die »Quellen« und darauf folgend »Neuere Werke und Hülfsmittel« – deren Verzeichnung allein schon eine beeindruckende Leistung darstellt. Das bedeutet, dass man, wenn man sich für den damaligen Kenntnisstand interessiert, bei Buhle auf jeden Fall fündig wird. Der letzte Band bietet zu Beginn noch einmal eine Inhaltsangabe aller acht Bände und ganz am Ende zwei Indices zur besseren Erschließung des Gesamtwerkes. Von der Seite seiner Ausstattung her wirkt Buhles Lehrbuch, das ein beeindruckendes Zeugnis aufgeklärter Gelehrsamkeit darstellt, fast modern. Buhle war nach seinem Studium in Göttingen geblieben, wo er von 1797 bis 1804 als ordentlicher Professor an der Universität lehrte. Daher konnte er für seine Studien auf die umfangreiche Göttinger Bibliothek zurückgreifen. Die Jahre 1804 bis 1814 verbrachte er in Moskau, von wo aus er dann nach Braunschweig ging. Buhle (1797), 276–575, und Buhle (1798), 3–258. Buhle (1797), 4–275. Ebd. 8: »Während man in unserem Jahrhunderte den Aristoteles beynahe vergaß, hat die Platonische Philosophie das Glück gehabt, von mehreren talentvollen und gelehrten Geschichtsforschern bearbeitet und aufgehellt zu werden.« Ebd. 294 f. Buhle (1820), 273. Die noch folgenden aus diesem Artikel zitierten Passagen finden sich auf den Seiten 274, 287 und 303.
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 33 Als Inbegriff von Principien ist sie [die aristotelische Philosophie, C.H.] dem Inhalt und der Form nach nicht bloß das erste philosophische System, welches die Geschichte kennt, sondern auch das vollendetste des griechischen Alterthums.
Aufgrund der Tatsache, dass der Kantianer Buhle Aristoteles durch die Brille der kantischen Philosophie liest (ohne die negative Wertung Kants zu übernehmen), hat seine Aristoteles-Darstellung einen eigentümlichen Charakter (das betrifft sowohl das Lehrbuch als auch den Artikel von 1820). Für die hier verhandelte Frage der um 1800 beginnenden Aristoteles-Renaissance ist insbesondere die Schlusspassage des Artikels von 1820 aufschlussreich. Denn laut Buhles Einschätzung verlor Aristoteles beziehungsweise die aristotelische Philosophie einmal durch die Angriffe des Petrus Ramus und der Ramisten an Ansehen und zum anderen durch die mannigfaltigen originalen philosophischen Untersuchungen und deren Resultate seit dem 16ten Jahrhundert bis zu unseren Tagen. Er [Aristoteles, C.H.] würde darüber nach und nach ganz vergessen seyn, wenn nicht die Literatoren und Geschichtschreiber der Philosophie an ihn erinnert hätten. Das 18. Jahrhundert hindurch ist keine Ausgabe der sämtlichen Werke des Aristoteles gedruckt, ein Beweis, wie wenig dringend das Bedürfniß derselben war! Erst in den neuesten Decennien hat man wieder angefangen, das Verdienst des Aristoteles um Wissenschaft und Aufklärung richtiger zu würdigen; die noch vorhandenen Früchte seiner vielseitigen Forschung zweckmäßig zu benutzen; und auch seiner philosophischen Ansicht die Achtung zu beweisen, auf welche sie gerechten Anspruch hat.
1.3.3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) An dieser Stelle ist auch noch einmal auf Schleiermacher, den Initiator und Motor der Akademie-Edition des Corpus Aristotelicum, zurückzukommen, der im Übrigen nur fünf Jahre jünger als Buhle gewesen ist und dennoch schon einer anderen Wissenschaftlergeneration angehört. Die Frage, die sich hinsichtlich Schleiermachers stellt, ist doch, wieso sich dieser – in Eduard Zellers Augen viel »zu einseitige[...] Bewunderer Platoʼs«68 – so vehement für die neue Aristoteles-Edition eingesetzt hat? Diese Frage drängt sich angesichts der Tatsache, dass Schleiermacher die aristotelische Philosophie wiederholt mit kritischen Worten bedacht hat, wie z. B. in einem Notat zu De anima von 1803, wo es heißt, Aristoteles sei »der Anfang des Verderbens in der Philosophie«69 oder in seiner ausgesprochen negativen Beurteilung der aristotelischen Philosophie im Rahmen seiner philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, die sein Schüler Heinrich Ritter später ediert hat,70 umso mehr auf. _____________ 68 69
70
Zeller (1843), 31. Schleiermacher (1988), 335: »[205.] Man kann vom Aristoteles sagen daß er den Wald vor Bäumen nicht sieht, – das Allgemeine nicht vor dem Besonderen, das Absolute nicht vor dem Einzelnen, das Innere nicht vor dem Aeußeren. So wenigstens sind die Bücher de anima. So ist Er der Anfang des Verderbens in der Philosophie.« Vgl. Schleiermacher (1839), 113–121. Die Darstellung der platonischen Philosophie findet man auf den Seiten 97–111.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Hermann Diels äußerte 1882 hinsichtlich Schleiermachers Engagement für die Akademie-Edition die Ansicht: Mochte auch Schleiermachers individuelle Neigung sich mehr zu Platons wahlverwandter Natur hingezogen fühlen, so verkannte er doch nicht, dass nur Aristoteles ein Recht habe, als der alle Strahlen gleichmässig sammelnde und wieder ausstrahlende Brennpunkt antiker Wissenschaft zu gelten.71
Aristoteles als Brennpunkt – das war ganz bestimmt nicht Schleiermachers Ansicht. Zumindest sehe ich dafür keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Meine Vermutung hingegen ist, dass es weniger ein inhaltliches Interesse an der aristotelischen Philosophie und gleich gar nicht eine besondere Wertschätzung derselben gewesen sind, die Schleiermacher hier geleitet haben, sondern dass es sein ausgezeichneter philologischer Sinn beziehungsweise sein ausgeprägtes historisch-kritisches Bewusstsein gewesen ist, das ihn das Problematische der bis dato vorliegenden Aristoteles-Editionen hat klar erkennen lassen. Und es war der Philologe Schleiermacher, der sich hier herausgefordert sah, Abhilfe zu schaffen. Wenngleich der erste Anlass seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles sehr wohl inhaltlicher Natur gewesen ist. So standen am Anfang seiner Aristoteles-Studien – die noch in seine Hallenser Studienzeit fallen und durch seinen Lehrer, den Philosophen Johann August Eberhard, angeregt worden sind und die sich wie ein roter Faden durch Schleiermachers gesamtes Leben ziehen – die Bücher VIII und IX der Nikomachischen Ethik, in denen Aristoteles die Freundschaft behandelt, eines der Themen der Romantik. Und Fakt ist, dass sich Schleiermacher im Rahmen der Ausarbeitung seiner eigenen Anschauungen auch wichtige Positionen der europäischen Philosophiegeschichte zur Kenntnis genommen hat, wie unter anderen die von Platon und Aristoteles. Schleiermachers inhaltliche Bezugnahmen auf Aristoteles, die man z. B. in seiner Ethik,72 seiner Staatslehre und seiner Dialektik73 findet, sind allerdings bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Daher kann dieser Aspekt hier nicht weiter verfolgt werden. Zwischen 1816 und 1821 hat Schleiermacher sich in sechs der von ihm in der Akademie gehaltenen Vorträgen mit den ethischen Schriften des Aristoteles auseinandergesetzt. Parallel dazu findet genau in dieser Zeit die Etablierung des Akademievorhabens einer kritischen Edition der aristotelischen Schriften statt. Beides ist meines Erachtens in unmittelbarem Zusammenhang zueinander zu sehen. Am bekanntesten ist sein am 4. Dezember 1817 vor dem Plenum der Akademie gehaltener Vortrag Ueber die ethischen Werke des Aristoteles, in dem er als erster die Frage aufwirft, ob Aristoteles tatsächlich der Autor aller drei unter seinem Namen überlieferten Ethiken ist – und sich damit an den Anfang einer philologischen Diskussion um die Authentizität der drei aristotelischen Ethiken stellt. Durch seine Vorträge zu aristote_____________ 71 72
73
Diels (1882b), 719. Zur Ethik vgl. den Aufsatz von Herms (2003), insbesondere 171: »Freilich, so genau wir die Erträge von Schleiermachers Platostudien überblicken, so unübersichtlich liegen die Dinge einstweilen immer noch im Blick auf Aristoteles. […] So können die angedeuteten Vermutungen einstweilen nicht weiterverfolgt werden.« Vgl. hierzu Thouard (2009), 303–328, insbesondere 311–318.
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 35
lischen Themen hat Schleiermacher in der Zeit, als Bekker und Brandis fern von Berlin Aristoteles-Handschriften kollationiert haben, das Thema in der Akademie präsent gehalten. Schleiermacher hat also, obwohl er kein Bewunderer des Aristoteles gewesen ist, dennoch wesentlich dazu beigetragen, dass dessen Philosophie Gesprächs- und Forschungsgegenstand geblieben ist. 1.3.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und seine Schüler Der erste Philosoph, der nach langer Zeit der aristotelischen Philosophie wieder eine zentrale Bedeutung beigemessen hat, war Georg Wilhelm Friedrich Hegel. So gab es in den Augen von Nicolai Hartmann seit dem Ausgang des Mittelalters sowieso nur zwei große Aristoteliker, nämlich Leibniz und Hegel.74 Letztgenannter steht zugleich am Beginn der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert, denn er war es, »der zum ersten Mal seit Jahrhunderten für eine Wiederbelebung der aristotelischen Philosophie wie auch für den Umsturz aller billigen Gemeinplätze über diese […] warb«.75 Er »ist der Erste in der Moderne, der Aristoteles gründlich auf Griechisch studiert« hat und sich im »Unterschied zu seinen Vorgängern […] niemals auf traditionelle Interpretationen« verlassen hat.76 Hegels intensivste Auseinandersetzung mit den Werken des Aristoteles fällt höchstwahrscheinlich in das Jahr 1805, als er sich in Jena auf seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie vorbereitet hat, die er dann im Wintersemester 1805/06 zum ersten Mal vorgetragen hat.77 In dieser lobt Hegel die Philosophie des Aristoteles, deren Darstellung »ungeheuer lang, enthusiastisch und leidenschaftlich« geraten ist, wie die keines anderen Philosophen.78 Hegel begründet diese Ausführlichkeit gegen Ende seiner Aristoteles-Darstellung wie folgt: In dieser Darlegung des Hauptinhalts der Aristotelischen Philosophie bin ich weitläufiger gewesen, teils der Wichtigkeit der Sache selbst (es ist ihr eigener Inhalt) [wegen], teils weil in der Tat an keiner Philosophie sich die neuere Zeit so vergangen hat als an ihr und keinem der alten Philosophen so viel abzubitten ist als Aristoteles. Aristoteles ist, wenn einer, für einen der Lehrer des Menschengeschlechts anzusehen […].79
Aber es ist nicht nur Hegels positives Hervorheben der aristotelischen Philosophie in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, sondern auch und vor allem sein in einigen Punkten unübersehbares Anknüpfen an Aristoteles, denn »zentrale Themen von dieser Philosophie werden von ihm unverhohlen in seine eigene integriert _____________ 74 75 76 77
78 79
Hartmann (1957), 216. Ferrarin (2009), 278. Ebd. 278 und 279. Vgl. Ferrain (2001), 408: »I think we must conclude that if, until roughly 1804/5, Hegel accepts relatively current and mediated notions from the Aristotle of the traditions he was acquainted with, the original core of his interpretation assumes a definite and univocal structure and inner articulation when Hegel studies Aristotle in depth for his first course in the history of philosophy. In 1805, there are many meaningful changes in Hegel’s systematic conceptions, which are today well known.« Ferrarin (2009), 279, Anm. 3. Hegel (1986), Bd. 19, 242.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
und aufgenommen«.80 Auf einige dieser Punkte wird in der Schlussbetrachtung dieser Arbeit mit Hinblick auf Droysen eingegangen werden, der bei Hegel die folgenden sechs Vorlesungen gehört hat: im Sommersemester 1827 Logik und Metaphysik und Philosophie der Religion, im Wintersemester 1827/28 Geschichte der Philosophie und Philosophie des Geistes sowie im darauffolgenden Wintersemester Aesthetik und Philosophie der Geschichte.81 Hegels Wertschätzung der aristotelischen Philosophie ist von seinen Zeitgenossen durchaus wahrgenommen worden und nicht ohne Wirkung geblieben, vor allem bei seinen Schülern.82 Hier ist in erster Linie an Karl Ludwig Michelet (1801–1893) und Franz Biese (1803–1895) zu denken, die beide mit Aristoteles-Monographien hervorgetreten sind, aber auch an Droysen und dessen Studienfreund Albert Gustav Heydemann, die ebenfalls durch Hegels Schule gegangen und höchstwahrscheinlich durch ihn zu ihren Aristoteles-Studien angeregt worden sind. Ob auch die AristotelesLektüre des eingangs bereits zitierten Historikers Heinrich Leo (1799–1878), der sich in den Jahren 1824 bis 1827 im Berliner Umkreis Hegels bewegt hat,83 durch Hegel angeregt worden ist, lässt sich leider nicht mehr feststellen. Im Bereich des Möglichen läge es. Bieses Publikationen zur aristotelischen Philosophie beschränken sich auf seine umfangreiche, zu seiner Zeit durchaus anerkennend zur Kenntnis genommene zweibändige Monographie Die Philosophie des Aristoteles in ihrem inneren Zusammenhange, deren erster Band 1835 und deren zweiter 1842 erschienen ist. Biese war seit 1836 Lehrer am von ihm mit aufgebauten Pädagogium in Putbus auf Rügen, wo er nach und nach ganz in seiner neuen Tätigkeit als Schulmann aufgegangen zu sein scheint, so dass keine weiteren wissenschaftlichen Publikationen mehr folgten. Karl Ludwig Michelet hingegen hat nicht nur die Vorlesungen seines 1831 verstorbenen Lehrers mitherausgegeben, sondern ist (neben anderen philosophischen Werken) auch mit verschiedenen Publikationen zu Aristoteles hervorgetreten. Genau genommen handelt es sich um drei Arbeiten: Die Ethik des Aristoteles in ihrem Verhältnisse zum Systeme der Moral (von 1827), eine Textausgabe der Nikomachischen Ethik samt einem lateinischen Kommentar (die beiden Bände sind 1829 und 1835 _____________ 80
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Ferrarin (2009), 279. Auf die Gesamtheit der Elemente der aristotelischen Philosophie, die Hegel in seine eigene Philosophie einarbeitet, kann hier nicht eingegangen werden. Diese sind Gegenstand verschiedener Spezialuntersuchungen. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Dangel (2013), Düsing (1983), Halfwassen (1999), Kern (1971) und Siep (2008). Vgl. Droysens Studienbuchseite (diese ist überliefert im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, unter: Abgangszeugnisse Bd. 53 [14.04.–30.06.1829], Bl. 134 f.) und sein Abgangszeugnis (GStA PK, VI. HA, Nl. Johann Gustav Droysen, Nr. 181 Personalpapiere). Eine auf deren Grundlage erstellte und nach Dozenten geordnete Auflistung der von Droysen besuchten Vorlesungen findet sich in Hackel (2008), 21. Leider sind alle Vorlesungsmitschriften Droysens der von ihm gehörten Hegel-Vorlesungen verschollen. Zur gleichen Einschätzung gelangt auch Ferrarin (2001), 5: »The extent of Hegel’s debt and admiration for Aristotle was very well perceived by Hegel’s pupils, who while divulging and popularizing their teacher’s thought unfailingly emphasized the Aristotelian origin of many of Hegel’s points.« Zu Leos Beziehung zu und Haltung gegenüber Hegel vgl. den Aufsatz von Schoeps (1979), insbesondere 322–327.
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 37
erschienen) und eine Abhandlung zur Metaphysik des Aristoteles in französischer Sprache: Examen critique de l’ouvrage d’Aristote intitulé Métaphysique, die 1836 in Paris erschienen ist. Bei dieser Publikation handelt es sich um eine Preisschrift. Michelet, der hugenottischer Herkunft war, war von Victor Cousin (1792–1867), den er 1826 in Berlin kennengelernt hatte, dazu ermutigt worden,84 sich an dem von der Académie des sciences morales et politiques in Paris veranstalteten Wettbewerb85 zur Metaphysik des Aristoteles zu beteiligen. Die von Michelet und Félix Ravaisson (1813– 1900) eingereichten Arbeiten erhielten beide den ausgelobten Preis zugesprochen. Die Publikation Michelets lässt eine zwischen Berlin und Paris bestehende Querverbindung, die sich insbesondere in Victor Cousin personalisiert, sichtbar werden. Auch diese gehört zur komplexen »Linienführung der Wirkungsgeschichte aristotelischer Philosophie im 19. Jh.«,86 die es noch offenzulegen und zu erforschen gilt – bis hin zur Klärung der Frage, ob Cousin ebenfalls durch Hegel auf die Bedeutung der aristotelischen Philosophie aufmerksam geworden ist, für deren Verbreitung er sich dann seinerseits in Paris eingesetzt hat.87 Auf jeden Fall zeichnet wahrscheinlich Cousin für die Formulierung der besagten Preisfrage verantwortlich. Darüber hinaus hat Michelet in den fast fünfzig Jahren (1827 bis 1874), in denen er regelmäßig (zum Teil zeitgleich mit Droysen) an der Berliner Universität gelehrt hat, auch wiederholt Lehrveranstaltungen zu Aristoteles angeboten88 und hat auf diese Weise für eine Präsenz der aristotelischen Philosophie gesorgt. Dabei muss man allerdings beachten, dass er in seinen Publikationen eine sehr eigenwillige Darstellung derselben bietet, da er Aristoteles ausschließlich durch die Brille der hegelschen Philosophie gelesen hat, so dass er in ihm einen spekulativen Denker par excellence sah. Was im Übrigen auch auf Biese zutrifft und was schon seine Zeitgenossen89 bemängelt haben. Diese verzerrte Wahrnehmung und Bewertung der aristotelischen Philosophie findet sich auch in Michelets Darstellung von »Hegels Einfluß auf die Geschichte der Philosophie« im Rahmen seiner Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland. Obwohl diese (aus der Nahsicht des Schülers verfasste) Schilderung der Rolle Hegels im Kontext der Geschichte des Aristotelismus im 19. Jahrhundert nicht für bare Münze genommen werden kann, da sie von Michelets Selbstüberschätzung _____________ 84
85 86 87 88 89
Vgl. Michelet (1838), 685 und 687. Cousin hat sich für längere Zeit in Deutschland, insbesondere in Berlin, aufgehalten. Michelet berichtet (ebd. 685) mit der ihm eigenen selbstverliebten Attitüde über seinen Kontakt mit Cousin: »Denn seitdem Cousin nach seinem ersten Aufenthalt in Berlin 1826 die Principien der Hegelʼschen Lehre, die wir, v. Henning, Hotho und ich, mit ihm systematisch durchsprachen, nach Frankreich gebracht […] hatte, hörte die Hegelʼsche Philosophie auf, in die Grenzen Deutschlands eingeschlossen zu sein und erhielt einen europäischen Ruf.« Vgl. dazu den Bericht in: Cousin (1835). Hartung (2011), 450. Vgl. Cousin (1835), I–VII. Vgl. Schneider (2005), 239–290. Zu Michelet vgl. ebd. 260–265, für Michelets Lehrveranstaltungen zu Aristoteles siehe ebd. 263. Vgl. z. B. die 1837 in den Gelehrten Anzeigen der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften anonym erschienene Rezension von Michelets Edition der Nikomachischen Ethik, die deren Schwächen nicht ohne Witz auf den Punkt bringt.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
und einer Überhöhung Hegels durchwebt ist, ist sie dennoch aufschlussreich. Weshalb die entsprechende Passage hier in voller Länge zitiert werden soll: Was einzelne Gestalten aus der Geschichte der Philosophie betrifft, so hat Hegel und seine Schule unter Anderem den Anstoß zu einer ganz neuen Auffassungsweise des Aristoteles gegeben. Vor zehn Jahren noch war es nur esoterische im Hörsaale eingeschlossene Lehre der Schule, daß Aristoteles den ganzen Umfang des speculativen Wissens, wie wir ihn in seiner Genesis durch die Dialektik der Methode erringen, im naiven Besitze der unmittelbaren Genialität hatte. Das von Locke auf Kant und bis zu Schleiermacher herunter nachgesprochene Axiom, daß Aristoteles ein unspeculativer Empiriker sei, der die sinnliche Wahrnehmung zum Princip der Erkenntniß mache, war so allgemein und fast rechtskräftig geworden, daß Niemand auch nur den leisesten Zweifel dagegen aufsteigen zu lassen wagte. Die erste Schrift, meines Wissens, in welcher die neue Hegelʼsche Ansicht über den speculativen Werth des Aristoteles ausgesprochen wurde, ist meine schon erwähnte Abhandlung: ›Die Ethik des Aristoteles in ihrem Verhältnisse zum Systeme der Moral‹, 1827, deren Vertheidigungen des Aristoteles gegen die Schleiermacherʼschen Angriffe alle aus dem Gesichtspunkte flossen, jene schiefe Auffassungsweise des Aristoteles abzuwenden und die tiefe speculative Bedeutung seiner Ansichten herauszuheben. Nirgend vielleicht hat die Schule so schnell nach Außen gewirkt, als hier. Die Philologen griffen ebenfalls zum so vernachlässigten Aristoteles, und sowohl Ausgaben als Schriften über Aristoteles erschienen in großer Anzahl. Die Akademie selbst, auf Schleiermachers Vorschlag, ließ eine Gesammtausgabe des Philosophen mit lateinischer Uebersetzung und Auszügen aus den griechischen Comentatoren veranstalten (1831–1836, 4 Bde.). Die Gegner der Hegelʼschen Schule wußten aber immer nicht recht, wie umgehen mit Aristoteles. Sie mußten mit in das Lob einstimmen, konnten aber ebensowenig die hergebrachten Vorstellungen ganz aufgeben: und so wurde das Urtheil schielend und die Erklärung schwankend.90
Aufgrund seiner Wertschätzung und seines Aufgreifens der aristotelischen Philosophie wurde Hegel auch von einigen seiner Zeitgenossen in seiner Bedeutung für seine Zeit mit der des Aristoteles für die damalige Zeit parallelisiert, wie z. B. von seinem Schüler Franz Biese, der in seiner Aristoteles-Monographie schreibt: Unserem Jahrhundert blieb es vorbehalten, das höhere Interesse an Aristoteles zu wecken, und es wurde dasselbe besonders erzeugt durch die tiefere Auffassungsweise, mit welcher Hegel die Geschichte der Philosophie behandelte. Diesem größten Denker unseres Jahrhunderts […] gebührt der Ruhm, auf den größten Denker unter den griechischen Philosophen die Aufmerksamkeit von Neuem gelenkt zu haben.91
– wenn Hegel nicht gar als »deutscher Aristoteles« gefeiert wurde.92 _____________ 90 91 92
Michelet (1838), 686 f. Biese (1835), XLV. Wie z. B. bereits 1810 von K. F. Bachmann in seiner »Anzeige der Phänomenologie«; hier zitiert nach Marks/v. Pechmann (1991), 163. Unter umgekehrtem Vorzeichen (also kritisch), aber dennoch die Tatsache indirekt bestätigend, äußert sich hingegen Schelling, der schreibt, dass »nichts antiaristotelischer sich denken läßt, als die Lehre, die sich neuerlich am meisten des Aristoteles rühmte«; Schelling (1856), 382. Nun ist Schellings späte Kritik, die zum Teil seiner schon länger gelebten Rivalität seinem ehemaligen Stiftsbruder und Freund gegenüber geschuldet ist, natürlich nicht unberechtigt, da man bei Hegel tatsächlich eine sehr eigene wenn nicht gar eigenwillige Lesart der aristotelischen Philosophie findet.
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Aber auch Beobachter aus der Ferne haben Hegels Bedeutung für das Wiederhereinholen des Aristoteles in den philosophischen Diskurs wahrgenommen und gewürdigt, wie z. B. Karl Zell, der in seinem Aristoteles-Artikel von 1839 für die RealEncyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft bemerkt, dass er sich hinsichtlich Aristotelesʼ philosophischer Leistungen auf das Zeugnis eines Philosophen berufen könne, »der am tiefsten und vollständigsten den Geist der Aristotelischen Philosophie aufgefaßt zu haben scheint«,93 nämlich Hegel, der vom philosophischen Standpunkte aus »durch die Darstellung und Beurtheilung der Ar[istotelischen, C.H.] Philosophie eine neue Bahn eröffnet«94 habe. Auch der Philosophiehistoriker Eduard Zeller, der Hegel eher fern gestanden hat, weiß um »Hegels Vorliebe für Aristoteles«95 und kommt nur wenige Jahre später als Michelet zu einer ähnlichen Einschätzung wie dieser: Den spekulativen Kern des aristotelischen Systems hat H. nach Jahrhunderte langer Verkennung zuerst wieder anʼs Licht gestellt, und auch im Einzelnen mehr als Ein allverbreitetes Mißverständnis aristotelischer Stellen berichtigt (vergl. z. B. II, 264. 336. 342), und mag auch hier noch Manches zu thun sein, so hat doch H. zuerst eine Bahn gebrochen, auf der ihm bereits mehrere treffliche Gelehrte gefolgt sind.96
Zeller hat darüber hinaus noch ganz richtig beobachtet, dass »die Nothwendigkeit der historischen Kritik […] H. nie in ihrer vollen Bedeutung zum Bewußtsein gekommen«97 ist. Denn tatsächlich findet man bei Hegel eine große Skepsis gegenüber dem Nutzen philologischer Textkritik: In der Tat sind mehrere Werke des Aristoteles höchst korrupt, lückenhaft und unvollständig. Mehrere […] scheinen zum Teil aus mehreren Schriften zusammengeflickt zu sein, so daß die höhere Kritik hier ihrem ganzen Scharfsinn Lauf lassen kann und nach diesem mit vieler Wahrscheinlichkeit sich die Sache auf eine Weise erklären kann, – eine Weise, der dann ein anderer Scharfsinn wieder eine andere entgegenstellen kann.98
Eine Skepsis die bis zur offenen Ablehnung reichen kann, denn wenn man der Mitschrift eines seiner Hörer Glauben schenken darf, so hat Hegel in seiner Vorlesung über die Philosophie der Welt-Geschichte den Wahrheitsgehalt antiker Quellen nicht nur nie in Frage gestellt, sondern es sogar regelrecht abgelehnt, deren Aussagen zu hinterfragen, denn: Durch die Kritik wird das schon an sich Trübe der Griechischen Geschichte noch trüber gemacht – selbst die Ankunft der Fremdlinge, der Asiaten nach Griechenland wird von der Spitzfündigkeit der Gelehrten widerlegt, die alles über den Haufen werfen wollen. Ich halte
_____________ 93 94 95 96 97 98
Zell (1839), 786. Ebd. 796. Zeller (1843), 3. Ebd. 62. Ebd. 63. Hegel (1986), Bd. 19, 143.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung mich an Herodot und Thucidides die vielleicht alles das besser verstanden haben als unsre neuen Kritiker es verstehen können99,
kurz darauf bekräftigt er diese Position nochmals: »Was mich anbetrifft so kehre ich mich um100 die Herrn Kritiker gar nicht, sondern nehme was mir von den Römern zugekommen ist.«101 Eine erstaunliche Haltung angesichts der Tatsache, dass die historisch-kritische Methode in den historischen und philologischen Wissenschaften mittlerweile zum Konsens geworden war. Möglicherweise gründete Hegels Ablehnung weniger auf sachlichen Gründen als auf der persönlichen Zurückweisung, die ihm durch Schleiermacher widerfahren ist, der bekanntlich Hegels Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften erfolgreich hintertrieben hat. Und höchstwahrscheinlich ist es die zwischen Hegel und Schleiermacher bestehende Antinomie gewesen,102 die mit dafür verantwortlich ist, dass Hegel, der 1819 nach Berlin gekommen war, dem seit 1817 von der Akademie verfolgten Editionsprojekt der aristotelischen Schriften nie eine größere Aufmerksamkeit geschenkt hat. 1.3.5 Die Übersetzung der Kategorienschrift von Droysens Studienfreund Albert Heydemann (1808–1877) Das Übersetzen antiker Werke war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine gängige Übung, insbesondere für angehende Philologen, die sich damit ersten (wissenschaftlichen) Ruhm, aber vor allem ein Zubrot zu ihrem Lebensunterhalt verdienen wollten. So stand auch am Anfang von Droysens Karriere eine Übersetzung. Sein Interesse und seine Neigung hatten ihn allerdings die Tragödien des Aischylos wählen lassen, deren Übersetzung dann 1832 erschien, nachdem sie bereits schon eine Weile in der Schublade gelegen hatte, da Droysens Suche nach einem Verleger nicht sofort von Erfolg gekrönt gewesen ist.103 Wenn im Folgenden etwas ausführlicher auf Heydemann eingegangen wird, so geschieht das in gewisser Weise zugleich auch stellvertretend und exemplarisch. Denn die im 19. Jahrhundert angefertigten Übersetzungen aristotelischer Werke ins Deutsche und in andere Nationalsprachen bezeugen ebenso wie Werkausgaben und einschlägige Abhandlungen das wachsende Interesse an Aristoteles und haben dann selbst wiederum zu seiner weiteren Popularisierung beigetragen (nicht zuletzt dadurch, dass sie in den einschlägigen Rezensionsorganen Beachtung gefunden haben).
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100 101 102 103
Stefan Florian Garczyński, Vorlesungsmitschrift von Hegel, Philosophie der Geschichte, gehalten im Wintersemester 1826/27; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Hdsch. 236, Zitat Bl. 100r. um] an Ebd. Bl. 124r. Vgl. hierzu Jaeschke (2010), 43, 45 und 48. Vgl. Droysens Briefe aus dieser Zeit in BW I und Kitzbichler (2008), 33.
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Der in Berlin geborene Albert Gustav Heydemann (1808–1877)104 war ein Studienfreund Droysens und gehörte wie dieser zum Freundeskreis um Felix Mendelssohn Bartholdy.105 Ebenso wie Droysen hat auch Heydemann unter anderem Vorlesungen bei Hegel, Heinrich Ritter, Boeckh, Bernhardy, Lachmann und Bopp besucht. Bei Hegel, »dessen System ihn längere Zeit ganz für sich eingenommen zu haben scheint«, hat Heydemann sogar in jedem Semester ein Kolleg gehört.106 Beide Studienfreunde haben im Frühjahr 1829 ihr Lehrerexamen abgelegt und anschließend ihr Probejahr absolviert. Droysen in Berlin am Gymnasium zum Grauen Kloster, Heydemann am Gymnasium in Stettin (an dem Droysen sein Abitur abgelegt hatte). Im Oktober 1830 hat Heydemann dann eine Stelle als dritter Unterlehrer am Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin angetreten, so dass beide Freunde bis zu Droysens Weggang nach Kiel im April 1840 wieder in einer Stadt lebten. Heydemann unterrichtete die folgenden zwanzig Jahre am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, ab April 1834 als Oberlehrer und ab April 1843 als Gymnasialprofessor, bis er 1850 als Gymnasialdirektor nach Posen und 1856 als Gymnasialdirektor nach Stettin berufen wurde, wo er 1877 starb. Ursprünglich scheint Heydemann, ebenso wie Droysen, eine akademische Laufbahn angestrebt zu haben. Zumindest lässt sich die Publikation seiner Übersetzung der Kategorien des Aristoteles als ein in diese Richtung unternommener Schritt deuten, zumal Heydemann in dem der Übersetzung angefügten Nachwort die Absicht kundtut, weitere Übersetzungen aristotelischer Werke folgen lassen zu wollen.107 Da er diese Absicht nicht ausgeführt hat, ist zu schließen, dass er den Plan einer akademischen Karriere irgendwann aufgegeben haben muss, auch wenn Droysen ihn noch in den 1840er Jahren von Kiel aus brieflich zu Promotion und Habilitation gedrängt hat.108 Alle auf die Kategorien folgenden Publikationen Heydemanns gelten histori_____________ 104 Zur Biographie Heydemanns vgl. den Nekrolog von Lemcke (1878), auf dessen Informationen auch der Artikel über Heydemann von Gottfried von Bülow in der Allgemeinen Deutschen Biographie basiert. Vgl. ferner Heydemanns Personalbogen, der über eine Suche in der Online-Datenbank des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung online einsehbar ist unter der URL: http://archivdatenbank.bbf.dipf.de, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 105 Daher ist neben anderen Mitgliedern des Freundeskreises auch Heydemann auf der von Wilhelm Hensel 1829 angefertigten Zeichnung Das Rad (so die Eigenbenennung des Freundeskreises) porträtiert; vgl. Hackel (2008), 26–29. 106 Vgl. Lemcke (1878), 756. Für den Fall, dass Heydemanns Studienbuchseite im Universitätsarchiv überliefert ist, ließe sich die Angabe anhand dieser überprüfen. 107 Vgl. Heydemann (1835), 31: »Die mitgetheilte Uebersetzung möge als Vorarbeit zu einer Uebertragung mehrerer der größeren aristotelischen Werke angesehen werden, die theils noch keinen deutschen Übersetzer gefunden haben, wie die übrigen Theile des Organon, und einige der naturgeschichtlichen Werke, theils dem jetzigen Standpuncte der Wissenschaft gemäß mit erneuter Sorgfalt behandelt zu werden verdienen, wie die ethischen, politischen und rhetorischen Schriften.« Heydemanns Übersetzung der Kategorien des Aristoteles erschien im Herbst 1834 im Programm des Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums und im darauffolgenden Jahr als Commissionsdruck bei Veit & Comp. 108 Vgl. Droysens Brief an Heydemann, vom 20.6.1840; BW I, 176: »Hast Du Zeit für Dich eine Arbeit zu unternehmen? Und was ist es? Fühlst Du keine Neigung, Dich hier etwa zum Doktor machen zu
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
schen und pädagogischen Themen und stehen in direktem Zusammenhang mit seiner Gymnasiallehrertätigkeit, wie die Übernahme der Funktion des Mitherausgebers der 1847 neugegründeten Zeitschrift für das Gymnasialwesen, deren erster Jahrgang zahlreiche Beiträge von ihm enthält. Bedingt durch seinen Wechsel nach Posen im Jahre 1850 fungierte Heydemann allerdings nur für die ersten drei Jahrgänge der Zeitschrift als Mitherausgeber. Die Themen von Heydemanns späteren Publikationen sowie die nach seinem Tode erschienenen Nekrologe109 vermitteln das Bild eines engagierten und anerkannten Pädagogen. Da Heydemann zu den Hörern Hegels gehört hat, liegt es im Bereich des Möglichen, wenn nicht sogar Wahrscheinlichen, dass sein Blick durch Hegel auf Aristoteles gelenkt worden ist. Sinnigerweise hat sich Heydemann für seine Übersetzung die Schrift ausgesucht, die in allen herkömmlichen Werkausgaben, so auch in der Immanuel Bekkers, an erster Stelle steht. Das bestätigt in gewisser Weise seine Absichtserklärung im Nachwort, weitere Übersetzungen folgen zu lassen. Der Beginn mit der Kategorienschrift war (ein leider uneingelöst gebliebenes) Programm. Heydemanns Publikation der Kategorien von 1834/1835 besteht aus einer Übertragung des griechischen Textes ins Deutsche und einem zwölf Seiten umfassenden Nachwort. In diesem diskutiert er sowohl den Aufbau und die innere Einheit der Kategorienschrift selbst als auch deren Stellung und Verhältnis zu den anderen fünf Schriften des Organon und zwar hinsichtlich ihrer zeitlichen Verortung, aber auch aus inhaltlich-argumentativer Perspektive.110 Seine Argumentation zeigt, dass er mit dem gesamten Corpus Aristotelicum vertraut gewesen ist und den neuesten Forschungsstand hinsichtlich der Kategorien kannte. Auch wenn Heydemann sich nicht zur Textgrundlage seiner Übersetzung äußert, spricht alles dafür, dass er den von Bekker edierten Text zu Grunde gelegt hat, da er sich im Nachwort auf die Akademie-Edition von 1831 bezieht. Was die Qualität von Heydemanns Übersetzung betrifft, so ist über diese in einer zeitgenössischen Rezension, die anlässlich der Publikation der Übersetzung der ersten beiden Schriften des Organon von Karl Zell erschienen ist und die kein geringerer als Adolf Stahr verfasst hat, zu lesen, dass Heydemann mit zuweilen fast ängstlich zu nennender Treue sich seinem Original möglichst genau anzupassen und dabei die ganze Naivetät des in den logischen Schriften ganz eigenthümlichen Lapidarstyls auch dem deutschen Leser zu reproduciren bemüht ist, wobei es denn natürlich hier und da nicht ohne einen gewissen Anstrich von Steifheit und Gezwungenheit abgeht.111
Was Stahr hier mit kritischem Unterton bemerkt, klingt für den heutigen Leser eher nach einem Vorzug, insbesondere gegenüber der sprachlich geglätteten Übersetzung _____________ lassen? Es kostet eine deutsche oder eine lateinische Dissertation und 50 Taler. Oder denkst Du noch daran, Dich in Berlin promovieren zu lassen und zugleich zu habilitieren?« 109 Vgl. Lemcke (1878), Bülow (1880) sowie Wandels eigene Erinnerungen und der von ihm zitierte Brief von Studemund in Wandel (1888), 117–121. 110 Heydemann (1835), 31 ff. und 34 f. 111 Stahr (1837), 89.
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von Karl Zell, der nach Stahrs Auskunft nicht einmal die Aristoteles-Edition der Berliner Akademie als Vorlage für seine Übersetzung benutzt hat. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei Heydemanns Übersetzung insofern um eine Pionierleistung handelt, als es sich bei ihr um die zweite Übersetzung der Kategorien ins Neuhochdeutsche handelt112 und um die erste, welche den modernen von Bekker rezensierten Text zu Grunde legt. Zieht man noch das von Heydemann verfasste Nachwort hinzu, so erweist sich seine Publikation insgesamt als eine sich auf der Höhe der damaligen wissenschaftlichen Standards bewegenden Leistung. Dementsprechend wurde seine Publikation auch in verschiedenen Rezensionsorganen positiv erwähnt.113 Es ist daher umso verwunderlicher, dass Heydemann nicht an seinem ursprünglichen Plan festgehalten und weitere Schriften des Organon übersetzt hat. (Es sei denn, er hatte frühzeitig Kenntnis von den Übersetzungsplänen Karl Zells und wollte nicht mit diesem konkurrieren.) Als Anekdote am Rande sei noch bemerkt, dass ein Exemplar von Heydemanns Übersetzung Bestandteil der Bibliothek des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855) gewesen ist.114 Möglicherweise hat dieser es während seines ersten Berlin-Aufenthaltes in den Jahren 1841/1842 erworben. Nun ist natürlich die Frage, inwieweit Droysen an Heydemanns AristotelesStudien Anteil genommen hat. Da die überlieferten Dokumente darüber keine Auskunft geben (weil beide Freunde zu dem hier interessierenden Zeitpunkt in Berlin gelebt haben, so dass kein Briefwechsel existiert), kann man nur versuchen, aus den vorhandenen Spuren115 Schlussfolgerungen zu ziehen. Anhand der überlieferten Briefe lässt sich rekonstruieren, dass sich beide Freunde nicht nur über ihre jeweiligen Lebensumstände auf dem Laufenden hielten, sondern sich darüber hinaus über ihre Lektüren und die Dinge, an denen sie gerade arbeiteten, ausgetauscht haben. Daher ist anzunehmen, dass sie in ihren gemeinsamen Berliner Jahren mündlich über diese Dinge kommuniziert haben und Anfang der 1830er Jahre auch Detailfragen der Geschichte des Alexanders des Großen116 und der Kategorien des Aristoteles zu den Gegenständen _____________ 112 Die erste stammt von Salomon Maimon und erschien 1794 in Berlin; vgl. Oehler (1986), 131 und 146. 113 Neben der Rezension von Stahr sind mir zwei weitere Rezensionen positiven Tenors bekannt, Anonymus (1834) und (1835), bei denen es sich durchweg um Zufallsfunde handelt, so dass zu vermuten ist, dass eine systematische Suche weitere Rezensionen zu Tage fördern würde. 114 Vgl. Stewart/Nun (2010), 99. 115 Vgl. das auf den Seiten des Droysen-Archivs (http://www.droysen-archiv.hu-berlin.de, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017) veröffentlichte Briefverzeichnis: 2.1.3 Briefe von Droysen, 29 f. Es sind insgesamt 16 Briefe Droysens an Heydemann im BW überliefert. Dabei handelt es sich um drei zwischen November 1829 und März 1830 verfasste Briefe (das war die Zeit, als Heydemann sein Probejahr in Stettin abgeleistet hat) und 13 Briefe aus der Zeit nach Droysens Weggang nach Kiel (Juni 1840 bis Dezember 1845). Leider ist nicht mehr zu klären, ob die Korrespondenz daraufhin abgebrochen wurde oder ob die restlichen Briefe verlorengegangen sind. Da die Briefe Heydemanns, die sich im Nachlass des Empfängers, also im Droysen-Nachlass befinden müssten, dort nicht überliefert sind, ist davon auszugehen, dass Droysen sie vernichtet hat. 116 In der Geschichte Alexanders des Großen, die Ende 1833 erschienen ist, kommt Droysen natürlich nicht umhin, auch auf dessen Lehrer Aristoteles zu sprechen zu kommen. Ferner zieht er neben vielen
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ihrer Gespräche gehörten. Zumindest verweist Heydemann in seinem Nachwort zu den Kategorien hinsichtlich von Datierungsfragen zweimal auf Droysens Geschichte Alexanders des Großen.117 Darüber hinaus bildete die Problematik des Übersetzens eine gemeinsame Schnittstelle beider Freunde – auch wenn Droysen mit Aischylos und Aristophanes zwei Dichter übersetzt hat und Heydemann dagegen einen philosophischen Text. Heydemanns 1833 erschienene Rezension von Droysens AischylosÜbersetzung, die wahrscheinlich als Freundschaftsdienst zu betrachten ist, dokumentiert in gewisser Hinsicht das gemeinsame Gespräch aus Heydemanns Perspektive.118 Daher kann man vermutlich mit guten Gründen davon ausgehen, dass umgekehrt Droysen Heydemanns Übersetzung ebenfalls gekannt und ein gedrucktes Exemplar derselben besessen119 und somit über eine gewisse Kenntnis des Inhaltes der aristotelischen Kategorienschrift verfügt hat. 1.3.6 August Boeckh (1785–1867) Der Platoniker August Boeckh ist hier nur aufgrund seiner Beziehung zu Droysen zu erwähnen. Droysen hat bei ihm die folgenden sechs Vorlesungen gehört: im Sommersemester 1826 Demosthenes Rede von der Krone und Geschichte der griechischen Litteratur, im darauffolgenden Wintersemester Tacitus Historien und Metrik, im Sommersemester die Encyklopädie der philologischen Wissenschaften und im Wintersemester 1827/28 noch die Vorlesung über Griechische Alterthümer.120 Boeckh hat von seinem Hallenser Lehrer Friedrich Schleiermacher die Begeisterung für Platon übernommen. Dennoch ist Aristoteles in seinem Denken generell präsent, wenn auch nie im Fokus seines Interesses. Es gibt keine Rede oder Publikation Boeckhs speziell zu Aristoteles. Und auch keine Vorlesung zu aristotelischen Themen,121 dafür hat er regelmäßig über Platon gelesen. In den Anfangsjahren hat Boeckh auch die Geschichte der griechischen Philosophie vorgetragen, letztmalig im Sommersemester 1818. Ab dem darauffolgenden Sommersemester hat er nur noch regelmäßig über Griechische Litteraturgeschichte gelesen. Da für ihn die Philosophie nicht unter _____________ 117 118 119
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anderen auch drei aristotelische Werke als Quellen heran, die Politik, die Oikonomika und die Meteorologica. Heydemann (1835), 33. Diese, sieben Seiten umfassende, Rezension ist, wie nicht anders zu erwarten, wohlwollend, benennt aber auch mehrere Kritikpunkte. Ähnlich wie zehn Jahre später, als er Heydemann für die Zusendung einer von diesem verfassten Rede dankt und sich zu deren Inhalt äußert. Vgl. den Brief Droysens vom 6.2.1844 an Heydemann; BW I, 265. Es handelt sich um Heydemanns »Rede zur Feier des Vertrages von Verdun«, die im Programm des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums von 1843 abgedruckt worden ist. Vgl. oben Anm. 81. Droysens Mitschriften dieser Vorlesungen sind im Droysen-Nachlass in Halle überliefert (ULB Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), Abt. Sondersammlungen: Familiennachlass Droysen, Yi 32). Vgl. das chronologische Verzeichnis aller von Boeckh gehaltenen Vorlesungen in: Hoffmann (1901), 467–469.
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die Rubrik Literatur fällt, wird er, wenn überhaupt, dann nur in seiner Vorlesung über die Geschichte der griechischen Philosophie auf Aristoteles eingegangen sein.122 Um zu eruieren, was Boeckh seinen Studenten und somit auch Droysen bezüglich der aristotelischen Philosophie mit auf den Weg gegeben haben könnte, habe ich seine Encyklopädie-Vorlesung und seine Gesammelten Kleinen Schriften hinsichtlich dieser Frage durchgesehen und bin dabei zu folgendem Ergebnis gelangt: Einmal fällt auf, dass er Platon und Aristoteles sehr oft (undifferenziert) gemeinsam anführt.123 Auf Aristoteles bezieht er sich zumeist, indem er ihn als historische Quelle heranzieht (vor allem die Politik) oder als Zitat-Reservoir, um eigene Aussagen zu untermauern. D. h., Boeckh hat sich nicht philosophisch und argumentativ mit den Positionen des Aristoteles auseinandergesetzt. Er hat ihn da zitiert, wo er eine historische Quelle oder Autorität für eigene Aussagen benötigte. Hinsichtlich des von ihm in der Encyklopädie artikulierten Wissenschaftsverständnisses sind im hier interessierenden Kontext noch zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen ist er der Meinung, dass eine wissenschaftliche Disziplin weder allein über die Angabe ihres Stoffes respektive ihres Gegenstandes noch allein über ihre Methode, also ihre Form, zu definieren ist, sondern dass eine Definition immer beides enthalten muss: Dem Stoffe entgegengesetzt ist die Form der Wissenschaft, welche in der Behandlungsweise […] liegt, die man auf den Stoff richtet. Aber freilich in der blossen Behandlungsweise kann der Begriff der Wissenschaft auch nicht gesucht werden, wenn ihr nicht ein bestimmter Stoff zugewiesen wird […]. Es muß offenbar Beides im Begriff enthalten sein.124
Entsprechend dieser Vorgabe definiert der dann die Philologie als »Erkenntniss des Erkannten«125. Dieser Auffassung liegt die aristotelische Stoff-Form-Definition zu Grunde,126 auf die sich Boeckh hier aber gar nicht bezieht, da er in diesem Zusammenhang nicht auf Aristoteles verweist. Er greift hier stattdessen schlichtweg auf eine Denkfigur zurück, die zu seiner Zeit allgemeiner Konsens gewesen ist.127 Zum anderen teilt Boeckh die von Aristoteles in der Metaphysik geäußerte Auffassung, dass die höchste Wissenschaft (theoria) immer nur um ihrer selbst willen und nicht als Mittel zu einem ihr fremden Zweck betrieben wird128: »Der Zweck der Wissenschaft aber ist, wie Aristoteles sagt, das Wissen, das Erkennen selbst.«129 _____________ 122 In der Encyklopädie findet man im Kapitel über die »Geschichte der Philosophie« ebenfalls ein paar knappe zusammenhängende Bemerkungen über die aristotelische Philosophie. Vgl. Boeckh (1877), 574 ff. 123 Wie z. B. in Boeckh (1874), 322. 124 Boeckh (1877), 4. 125 Ebd. 11. 126 Vgl. z. B. Met. VIII 2, 1043a14 ff. Zur aristotelischen Form-Materie-Distinktion siehe Kapitel 4.1.1 der vorliegenden Arbeit sowie zur Einführung z. B. Beere (2011), 214–220. 127 Vgl. z. B. Fichte (1965), 121: Der »erste Satz aller Wissenschaftslehre« müsse beides haben: »Gehalt und Form«. 128 Vgl. z. B. Met. I 2, 982b27. 129 Boeckh (1877), 25.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
1.3.7 Heinrich August Ritter (1791–1869) Ritter gehörte wie Hegel und Boeckh ebenfalls zu Droysens Universitätslehrern. Droysen hat zwei Vorlesungen von ihm besucht: In seinem ersten Semester Die Geschichte der Philosophie bey den alten Völkern, oder den ersten Theil der Geschichte der Philosophie130 und im darauffolgenden Wintersemester 1826/27 Den zweyten und letzten Theil der Geschichte der Philosophie oder die Geschichte der christlichen Philosophie131. Von beiden Vorlesungen sind Mitschriften Droysens überliefert.132 In der Mitschrift der ersten Vorlesung finden sich die folgenden Namen in der hier wiedergegebenen Reihenfolge: Aristoteles, Plato, Epicur, Plutarch, Eusebius, Diogenes Laertios, Sokrates, Homer, Hippon Rheginus, Anaximenes, Diogenes Apolloniates, Heraklitus Ephesius, Anaximander Milesius, Anaxagoras, Archelaos, Xenophanes von Colophon, Parmenides aus Elea, Melissos aus Samos, Zenon Eleates, Empedocles Agrigentinus, Laertios, Leucippus, Aristippos der Ältere, Theodorus Atheos, Xenocrates, Theoprastos, Straton, Zenon von Kition und Kleanthes.133
Auch wenn die Reihenfolge der Namensnennung Fragen aufwirft, kann man davon ausgehen, dass Droysen nicht nur bei Hegel, sondern auch in dieser Vorlesung Ritters etwas über Aristoteles erfahren hat. Hier allerdings eher kritisch gefärbt. Das ist Ritters – später im Rahmen seiner Philosophiegeschichte publizierten – Aristoteles-Darstellung zu entnehmen, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Zunächst sei die Frage erlaubt, wer dieser heute kaum noch bekannte Heinrich Ritter – dem im Gegensatz zu Hegel das Schreiben offensichtlich nicht schwergefallen ist, da er ein viele Bände umfassendes von ihm selbst publiziertes Werk hinterlassen hat – eigentlich war. (Ungefähr die Hälfte von Ritters Publikationen ist übrigens im Hamburger Verlag von Friedrich Perthes erschienen, in dem auch Droysens erste Werke zur Alten Geschichte erschienen sind.) Im anhaltinischen Zerbst geboren, studierte Ritter von 1811 bis 1815 Theologie und Philosophie, zunächst in Halle, dann in Göttingen und zuletzt in Berlin, wo er unter anderem Vorlesungen Schleiermachers, Fichtes und Solgers hörte. Ab 1817 lehrte er dann als Privatdozent und ab 1824 als außerordentlicher Professor an der _____________ 130 Vgl. oben Anm. 81. Für den Titel der Vorlesung vgl. das Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Universität zu Berlin im Sommerhalbjahre 1826 vom 17ten April an gehalten werden. Dieses ist über die Seiten der Bayerischen Staatsbibliothek München online einsehbar unter: http://opacplus.bsbmuenchen.de/search?oclcno=643119136, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 131 Vgl. das Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Universität zu Berlin im Winterhalbjahre 1826 bis 1827 vom 23ten Oktober an gehalten werden. Dieses ist über die Seiten der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Rubrik Digitale Sammlungen online einsehbar unter: http://www.digi-hub.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:11-d-4732146, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 132 ULB Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), Abt. Sondersammlungen: Familiennachlass Droysen, Yi 32 A 3 und Yi 32 I 5. 133 Freundliche Mitteilung von Markus Lucke, Abt. Sondersammlungen der ULB Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), vom 6.6.2017.
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Berliner Universität. 1833 folgte er einem Ruf nach Kiel und 1837 einem nach Göttingen, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.134 Der stark von seinem Lehrer Friedrich Schleiermacher beeinflusste Ritter hatte sich zu seiner Zeit vor allem durch eine zwölfbändige Philosophiegeschichte (Hamburg 1829–1853) einen Namen als Philosophiehistoriker gemacht, sowie durch eine 1838 zusammen mit Ludwig Preller unter dem Titel Historia Philosophiae Graece et Romanae ex Fontium Locis Contexta herausgegebene Quellensammlung zur antiken Philosophie. Diese enthält ausgewählte Zitate aus den Werken griechischer und römischer Philosophen und richtete sich sowohl an Studenten als auch an Gymnasiasten. Laut dem Urteil von Eduard Zeller handelte es sich um ein brauchbares Kompendium.135 Für den Erfolg dieser Quellensammlung spricht auch, dass sie nach Ritters Tod in leicht überarbeiteter Form noch sechs weitere Auflagen erlebte, deren neunte und letzte im Jahre 1913 erschienen ist.136 Dass Ritters Bücher heute längst der Vergessenheit anheimgefallen sind (was daraus zu ersehen ist, dass es zu Ritter weder aktuelle Forschungsliteratur gibt noch sich irgendjemand auf die von ihm vertretenen philosophischen Positionen bezieht), hat seinen Grund darin, dass sein ganzes Werk von einer christlich gefärbten theistischen Grundhaltung durchzogen und motiviert ist, so dass man über weite Strecken meint, ein persönliches Glaubensbekenntnis und nicht eine philosophische Abhandlung zu lesen. Auch wenn Ritter explizit von einem notwendigen Erfahrungsbezug alles Erkennens ausgeht, so ist dennoch Gott für ihn »der oberste Grund aller Dinge«137 und zwar sowohl in ontologischer als auch in gnoseologischer Hinsicht. Wiederholt formuliert er es daher als Ziel und Aufgabe der Philosophie, zur Erkenntnis Gottes zu führen.138 Noch über der Philosophie steht in seinen Augen die Theologie als die höchste aller Wissenschaften.139 Ritters Philosophiegeschichte umfasst zwölf Bände (die jeweils um die sechs- bis siebenhundert Seiten stark sind) und ist in zwei Abteilungen gegliedert: Die ersten vier _____________ 134 Für kurze biographische Zusammenfassungen vgl. Prantl (1889), Kloeden (2001) und Scholz (2003). 135 Zeller (1843), 48. 136 Historia Philosophiae Graece. Testimonia auctorum conlegerunt notisque instruxerunt H. Ritter et L. Preller (quam curavit Eduardus Wellmann), Gotha 1913. 137 Ritter (1862), 322. Ganz ähnlich kann man es schon in einem relativ frühen Werk Ritters, seinem Abriß der philosophischen Logik lesen: »Der Begriff Gottes erscheint auf solche Weise uns als der lebendige Grund unseres Strebens nach Wissen.«; »Wir können Gott nicht ohne die Welt und die Welt nicht ohne Gott denken.«; »Gott ist der Anfang des Lebens […] Gott ist der Fortgang desselben […] er ist auch das Ende des Lebens, indem er das Ziel ist, nach welchem wir streben.«; vgl. Ritter (1829a), 161, 164, 177. Laut Ritter müssen wir »aus der Unvollkommenheit der Welt schließen, daß unserer Vernunft nicht bei dem Gedanken der Welt stehen bleiben kann, sondern den Gedanken Gottes suchen muß, weil er allein die Vernunft befriedigt«; Ritter (1856), 494 f. Es verwundert also nicht, wenn Ritter der Erkenntnis Gottes 1836 ein ganzes Werk gewidmet hat. Hinsichtlich dieser Ansichten Ritters besteht eine große inhaltliche Nähe zu Droysen. Vgl. hierzu unten Kapitel 4.5.4. Wobei man aber auch sehen muss, dass Ritter und Droysen mit dieser Weltanschauung damals nicht allein gestanden haben. 138 Vgl. z. B. Ritter (1829a), 178, oder auch Ritter (1856), 575, 581 f. 139 Ritter (1856), 587.
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Bände behandeln die Geschichte der Philosophie alter Zeit. Die Bände fünf bis zwölf tragen den Titel Geschichte der christlichen Philosophie. Die Darstellung des zwölften Bandes endet mit Rousseau und reicht somit bis in die Zeit vor Kant hinein. Angesichts von Ritters christlichem Theismus, in dessen Augen das Christentum eine gewaltige Macht und die »allein wahre Religion«140 ist, verwundert es nicht, dass sein eigentliches Interesse der »christlichen Philosophie« gilt. Diese lässt sich aber nur angemessen verstehen, wenn man ihre Vorgeschichte, die Philosophie der alten Völker, kennt. Daher steht diese am Anfang seiner Darstellung der Philosophiegeschichte. Ritters eigentliches Ziel ist es, die Wirkungen des Geistes des Christentums auf die Entwicklung der Philosophie aufzuzeigen.141 Das Christentum hat seiner Meinung nach »eine neue tiefere Philosophie gegründet«,142 indem es »den Gedanken an eine Vollendung aller Entwicklung [...] in der Seele des Menschen befestigte«, wodurch erst »eine wissenschaftliche Lehre möglich geworden [ist, C.H.], welche in allgemeinen Zügen befriedigen kann«.143 In der alten Philosophie hingegen ist noch »keine richtige Erkenntniß des Lebens und seiner Bedeutung möglich« gewesen.144 Die Philosophie hatte dieser Umgestaltung durch das Christentum bedurft, »denn sie war fern geblieben von den Hoffnungen, in welchen allein wir streben können unserm Leben einen würdigen Inhalt zu gewinnen«.145 Nun geht Ritter (wie die ihm zeitgenössischen historistischen Historiker) von der damals noch neuen und sich zu dieser Zeit erst durchsetzenden Einsicht aus, dass es für ein angemessenes Verständnis der Gegenwart einer Kenntnis der Vergangenheit bedarf: Will man die eigene zeitgenössische Situation richtig einschätzen, so muss man wissen, wie sie entstanden ist. Das gilt auch für die Philosophie. Insbesondere ein Philosoph, der auf die weitere Entwicklung der Philosophie Einfluss nehmen möchte, sollte philosophiehistorisch gebildet sein.146 Und Ritter möchte Einfluss nehmen. (In _____________ 140 141 142 143 144 145 146
Ritter (1841), 8. Ebd. 10. Ebd. 18. Ebd. 16. Ebd. 16. Ebd. 13. Vgl. z. B. Ritter (1817), 117: »Die vollständige Kenntniß eines Dinges haben wir nur mit der Kenntniß seiner Ursach[!]. Zu einer vollständigen geschichtlichen Kenntniß der philosophischen Ansichten unseres Zeitalters gehört also eine wissenschaftliche Kenntniß von der Geschichte der Philosophie, und wenn wir mit Bewußtsein uns einen Einfluß auf den Gang der philosophischen Wissenschaft verschaffen wollen, so können wir diese Kenntniß nicht entbehren.« und »Eines jeden Dinges Wesen wird am bestimmtesten und am vollständigsten aus seinem Leben erkannt.« Wer also »in das philosophische Leben seiner Zeit künstlerisch eingreifen will«, der muss sich zuerst zu diesem in das richtige Verhältnis setzen, und zwar indem er »sich zuerst durch die Geschichte« mit seiner Entstehung bekannt mache, um sein »Wesen vollkommen zu begreifen« und ferner muss er »eben so geschichtlich« das Verhältnis (des philosophischen Lebens seiner Zeit) zur »lebendigen Fortbildung der Philosophie überhaupt erforschen«. Wenn er beides erreicht hat, »so kann der sich« dessen Ansichten »als des besten Mittels bedienen, um auf seine Zeitgenossen zu wirken« (ebd. 119). Vgl. hierzu auch die »Einleitung« in den ersten Band der Philosophiegeschichte: »Was also zu unserer Bildung geführt hat, zu entwickeln, ist die Hauptaufgabe der Geschichte.«; Ritter (1829b), 3–42, Zitat 36.
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diesem Punkt wird eine weitere Parallele zwischen Ritter und Droysen sichtbar. Auch Droysen will später Einfluss nehmen, wenngleich nicht auf den Fortgang der Philosophie, sondern mittels der Politik auf den der Geschichte.) Die Geschichte der christlichen Philosophie gliedert sich für Ritter in drei Perioden.147 Deren erste, die patristische und scholastische Philosophie, sieht er durch »eine einseitig theologische Richtung«148 gekennzeichnet, die zweite, welche mit der Wiederherstellung der Wissenschaften begann, hingegen durch eine »einseitig weltliche Forschung«.149 Erst die dritte Periode, deren Beginn er aufgrund einer sehr eigenwilligen Kant-Interpretation »vorzugsweise«150 als dessen »unsterbliches Verdienst«151 betrachtet, ist laut Ritter wieder auf einen Ausgleich beider Richtungen bedacht.152 Und eben das, was er Kant zuschreibt, ist auch sein eigenes Anliegen: »der Forschung wieder eine theologische Richtung« beziehungsweise eine »der Theologie günstigeren Denkweise« zu geben, indem er zwar bei der Erfahrung beginnt, aber zugleich auch die sie transzendierenden Momente (Gott etc.) wieder in den Blick nimmt und somit die einseitige Ausrichtung der Philosophie auf das Innerweltliche korrigiert. Das ist die Haltung, die Ritters gesamter Philosophiegeschichte zu Grunde liegt und mit welcher er im Rahmen seiner Geschichte der Philosophie alter Zeit auch an Platon und Aristoteles herantritt und deren Philosophie bewertet. Ritters AristotelesDarstellung findet sich im dritten Band seiner Philosophiegeschichte, der zufälligerweise im gleichen Jahr wie die ersten beiden Bände der Akademie-Ausgabe des Aristoteles erschienen ist. Sie ist mit knapp 400 Seiten ca. 70 Seiten länger als seine im zweiten Band zu findende Platon-Darstellung. Beide haben genau genommen den Umfang von nicht zu schmalen eigenständigen Monographien. Ritter folgt einer etablierten Tradition, wenn er seine Problematisierung der aristotelischen Philosophie mit den einzelnen Schriften des Organon beginnt und mit der Politik endet. Auf Poetik und Rhetorik geht er (ebenso wie Hegel) nicht ein. Diese sind Gegenstand eines separaten Rezeptionsstranges. Seine ausführliche Darstellung ist vom Grundtenor her nüchtern und sachlich, aber hin und wieder von kritisch wertenden Bemerkungen durchsetzt. Auch wenn er der aristotelischen Philosophie in manchen Hinsichten zubilligt, einen Fortschritt gegenüber vorherigen Positionen darzustellen, so überwiegt doch sein kritischer Unterton, da ihr »die letzte Vollendung zu fehlen« scheine.153 Das Hauptmanko der aristotelischen Philosophie besteht für Ritter in der »Scheu des Aristoteles vor den Idealen«, d. h., dass dessen Wissenschaft ganz auf »die beschränkten irdischen Verhältnisse« fokussiert ist, wohingegen die Wissenschaft, die Platon sucht, sich über diese »hinausschwingen soll, um den Men_____________ 147 148 149 150 151 152 153
Vgl. Ritter (1841), 47–74. Ebd. 69. Ebd. 66. Ebd. 73. Ebd. 74. Ebd. 71. Ritter (1831), 380.
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schen nicht zu betrachten in seinem gegenwärtigen Elende, sondern von diesem befreit in einem reinern[!], vom Körper entfesselten Leben«.154 Aristoteles weiche »der Frage nach der Begründung der Welt in Gott ganz aus«, so dass man sich »nicht verhehlen [kann, C.H.], daß die Aristotelische Philosophie nicht geeignet war, das philosophische Forschen in eine sichere Bahn zu bringen«.155 – Im Gegensatz zu Platon, durch dessen Lehren »eine großartige Ansicht des Lebens und der Welt« hindurchgeht. Denn »Gott ist das feste und unveränderliche Gute, die Welt ist das Gute im Werden und die menschliche Seele ist das, durch welches und in welchem das Gute in der Welt werden soll.«156 Mag Platon auch in seinen Bestimmungen über das Gute vielfach geirrt haben – und wie konnte er anders, da er seiner Zeit und seinem Volke angehörte? – so hat er doch hierin dem, welcher zur Erkenntniß Gottes gelangen möchte, einen nicht verächtlichen Weg der Forschung gezeigt.157
Und da Ritter zu genau denen gehört, die eine Erkenntnis Gottes anstreben, steht ihm Platon diesbezüglich näher. Allerdings kritisiert er, dass sich Platons »philosophische Forschung« von der erfahrbaren Wirklichkeit abwende. Das sei »die wichtigste Einseitigkeit seiner Lehre«.158 Im Jahre 1837 erschien eine zweite Auflage des dritten Bandes von Ritters Philosophiegeschichte. Sie enthält einige neu hinzugefügte Anmerkungen und wenige sich daraus ergebende Änderungen im Haupttext. Aus den Anmerkungen geht hervor, dass Ritter die in der Zwischenzeit erschienenen Arbeiten Trendelenburgs zu Aristoteles zur Kenntnis genommen hat.159 Erstaunlicherweise hat sich Eduard Zeller nicht an Ritters Herangehensweise gestört und attestiert dessen vierbändiger Geschichte der Philosophie alter Zeit eine »umfassende, lückenlose und selbständige Gelehrsamkeit in unserem Fache« und urteilt weiter: Um sorgfältige Sammlung und gründliche kritische Durchforschung des geschichtlichen Materials mit allen Hülfsmitteln unserer Zeit, um schärferes Eindringen in den Geist und innern Zusammenhang der philosophischen Systeme, um klare und geschmackvolle Darstellung hat sich der Verf. ein bleibendes Verdienst erworben […].160
Fazit Ob Ritters Aristoteles-Darstellung einen größeren Eindruck bei Droysen hinterlassen hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es fallen nur zwei Dinge ins Auge, bei denen eine Beeinflussung vermutet werden kann, die aber auch dem Zufall geschuldet sein können: Ritters ausführliche Darstellung der sogenannten Vier-Ursachen_____________ 154 155 156 157 158 159 160
Alle Zitate in diesem Satz: Ritter (1831), 386. Ebd. 394. Ritter (1830), 463. Ebd. 469. Ebd. 472. Vgl. z. B. Ritter (1837), 80, Anm. und 104 f., Anm. 2. Zeller (1843), 41.
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Lehre161 und sein Beharren darauf, dass Aristoteles (Platon folgend) die Philosophie in Logik, Physik und Ethik eingeteilt habe,162 was bekanntlich so nicht zutrifft, aber auch von Droysen artikuliert wird.163 Davon abgesehen gibt es noch die folgenden unübersehbaren Parallelen zwischen Ritter und Droysen. Einmal stimmen beide in ihrer christlich gefärbten theistischen Weltsicht überein. Hier muss sich Droysen Ritter also sehr nahe gefühlt haben. Ferner kommen die Reflexionen, die Ritter in Vorrede und Einleitung zum ersten Band seiner Philosophiegeschichte über die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsschreibung anstellt, denen der ihm zeitgenössischen historistischen Historiker sehr nahe. (Letzteres ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass Ritter in seinen ersten Berliner Jahren eine enge Freundschaft und einen intensiven Gedankenaustausch mit Leopold Ranke gepflegt hat.) Hinzu kommt, dass beide mit ihrer wissenschaftlichen Forschung Einfluss nehmen wollten, wenn auch auf verschiedene Bereiche, Ritter auf die Weiterentwicklung der Philosophie und Droysen auf die Politik und mittels dieser auf den Verlauf der Geschichte im Allgemeinen. Und Ritter identifiziert, wie es Droysen später ebenfalls tun wird, die »Induction« als die Methode der Geschichtsschreibung. 1.3.8 Christian August Brandis (1790–1867) Von Brandis ist oben schon einmal in seiner Funktion als Mitarbeiter der AristotelesEdition der Berliner Akademie und als Herausgeber des vierten Bandes ebendieser Edition (der eine Auswahl an Scholien zu den aristotelischen Texten versammelt) die Rede gewesen. Anders als Bekker, der heute ausschließlich als Editor antiker Texte erinnert wird, hat sich Brandis auch als Philosophiehistoriker einen Namen gemacht. Sowohl in seinen Publikationen164 als auch in seinen an der Universität Bonn gehaltenen Lehrveranstaltungen,165 wo er seit dem Wintersemester 1821/22 als ordentlicher Professor der (antiken) Philosophie lehrte, hat er sich immer wieder Aristoteles zugewandt. Das führte Trendelenburg zu der Einschätzung: Aristoteles, der mit einer Macht des Geistes, wie sie kein wissenschaftlicher Mann vor ihm oder nach ihm hatte, durch die Jahrhunderte drang und noch heute Gegenwart hat, war der eigentliche Antrieb zu Brandis unverdrossener, gelehrter Arbeit.166
_____________ 161 Ritter (1831), 149–175, zu Droysen vgl. das 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit. 162 Ritter (1831), 58–74. 163 Vgl. Historik (L), 36 und 293. Droysen leitet diese Einteilung allerdings korrekterweise nicht von Aristoteles her, sondern führt sie ganz allgemein auf die Antike zurück. 164 Vgl. die Auflistung seiner Werke auf den Seiten der Commentaria in Aristotelem Graeca et Byzantina: http://cagb-db.bbaw.de/register/personen.xql?id=cagb:Brandis.Christian.August, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 165 Vgl. hierzu die Auflistung bei Schneider (1999), 141 f. Hier sind neben den Vorlesungen der anderen Dozenten auch die von Brandis zwischen 1821/22 und 1855 regelmäßig zu Aristoteles angebotenen verzeichnet. 166 Trendelenburg (1869), 10.
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Und hinsichtlich Brandisʼ Anteil an der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert bemerkte er: So wirkte Brandis früh und [als, C.H.] einer der ersten unter uns für das heilsame Studium des Aristoteles, das mehr war als eine Angelegenheit der Gelehrsamkeit, das mit dazu dienen sollte, die philosophischen Bestrebungen der Zeit zu besonnener Methode und zu einem gemeinsamen Mittelpunkt zurückzuführen.167
Besonders eindrucksvoll ist Brandis’ Interesse für Aristoteles in seinem Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Philosophie dokumentiert, das er zwischen 1835 und 1866 in sechs Teilbänden publiziert hat. Dieses »Handbuch« ist in drei Teile gegliedert und enthält eine umfangreiche Aristoteles-Darstellung. Letztere erstreckt sich über drei Teilbände und füllt vom Umfang her die Hälfte des Handbuches aus.168 In seiner an Schelling adressierten Vorrede zu Teilband 2.2.1 von 1853 entschuldigt sich Brandis daher auch für seine etwas zu ausführlich geratene Darstellung der aristotelischen Philosophie, »wodurch das Ebenmaß meiner Geschichte der griechischen Philosophie ohnläugbar gefährdet wird«.169 Dafür lobt Trendelenburg später diese Darstellung mit den Worten: Nie ist wohl über Aristoteles nach so eingehendem kritischen Studium seines Textes und seiner alten Commentatoren, mit einer so sorgsamen Berücksichtigung des Besondern und Einzelnen geschrieben worden.170
Wenn Eduard Zeller Brandis 1843 hinsichtlich des bis dato erschienenen ersten Bandes des »Handbuches« als einen »der gründlichsten Kenner der alten Philosophie« bezeichnet, aber zugleich kritisiert: »allen Anforderungen an eine Geschichte der Philosophie genügt sein Werk« allerdings nicht, weil er kein zusammenhängendes Ganzes gestaltet habe, sondern sein Werk nur aus einzelnen Paragraphen bestünde, weshalb die Geschichte der Philosophie hier nur mehr »als Aggregat von Einzelheiten behandelt« würde171 – so hat er insofern Recht, als es sich, wie der Titel besagt, tatsächlich um ein »Handbuch« und nicht um eine Philosophiegeschichte im engeren Sinne handelt. Brandis hat im Grunde genommen quellengesättigte Werkeinleitungen beziehungsweise -zusammenfassungen verfasst, die eine Lektüre der Primärtexte nicht ersetzen, sondern vielmehr zu dieser anleiten wollen. Seine Darstellung, die an einigen Stellen auch auf die zeitgenössische Forschungsliteratur Bezug nimmt, ist sachlich und bar jeglicher Wertung. Sein Werk hat demzufolge einen viel moderneren Anstrich als z. B. das von Heinrich Ritter. Interessant sind ferner die von Brandis vorgenommenen Widmungen, da diese Auskunft über seine Selbstverortung und die Freundschaftsnetzwerke geben, in die er eingebunden gewesen ist. So ist der erste Band: »Drei geliebten, Freunden […] in sehnsüchtig dankbarer Vergegenwärtigung schöner Jahre der anregendsten wissen_____________ 167 Trendelenburg (1853), Sp. 405. 168 Im Gegensatz dazu nimmt die Darstellung der platonischen Philosophie in Brandis (1844) nur 436 Seiten ein, die der aristotelischen hingegen über 1800 Seiten! 169 Vgl. Brandis (1853), VIII f., Zitat IX. 170 Trendelenburg (1869), 14. 171 Zeller (1843), 48 f.
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schaftlichen Gemeinschaft mit ihnen, gewidmet.« Diese sind: Immanuel Bekker, ferner der »königl. Preuß. geh. Legationsrathe und außerordentl. Gesandte am päpstlichen Hofe« Karl Bunsen und Brandis’ Studienfreund August Twesten. Im Vorwort zum ersten Band bringt Brandis darüber hinaus seine Verehrung für Schleiermacher zum Ausdruck: Eine neue Bahn historisch-philosophischer Forschung hat Schleiermacher, der Unvergeßliche, durch seine Grundlinien zu einer Kritik der Sittenlehre, durch seine Monographien und durch seinen Plato eröffnet, mehrere ausgezeichnete Forscher sind ihm auf dieser Bahn gefolgt; unter ihnen mit unzweifelhaftem Erfolge Heinr. Ritter. Mit solchen vom Geiste der Wahrheit beseelten Männern hebt man das Einverständniß nicht auf, auch wenn man in Auffassung und Erklärung mancher einzelner Erscheinungen von ihnen abzugehen sich genöthigt sieht.172
Dem bereits im Vorwort des ersten Bandes erwähnten Heinrich Ritter widmete er dann den 1860 erschienenen Teilband 3.1 mit den Worten: [in, C.H.] Erinnerung an die schönen Abende im Winter 1832–33 […], in denen uns beide, mein geliebter und geehrter Freund, in Gemeinschaft mit dem unvergleichlichen Schleiermacher und mit den beiden großen Kennern der klassischen Sprachen und Literaturen, I. Bekker und C. Lachmann, Bruchstücke der ältesten hellenischen Philosophen beschäftigten […]173.
Brandis datiert das Entstehen seiner Freundschaft zu Ritter in diesen Winter. Beide seien sie Schleiermacher »auf der von ihm eröffneten Bahn sorgfältigerer und fruchtbarerer Erforschung und Behandlung der Geschichte der Philosophie«174 gefolgt. Der Widmungsträger von Bd. 2.2.1 (1853) ist Schelling, an den sich wendend Brandis schreibt: Bei meinen Untersuchungen über Aristoteles ist Niemand mir gegenwärtiger gewesen wie Sie, mein hochverehrter Herr und Gönner; nicht als möchte ich es unternehmen Einhelligkeit Ihres Lehrgebäudes mit dem des großen Stagiriten nachzuweisen; wohl aber weil ich die Ueberzeugung hege daß kein Philosoph unseres Jahrhunderts an Tiefe und Umfang des Geistes dem Aristoteles näher steht als Sie, und weil ich Ihrer Teilnahme an meinen Aristotelischen Arbeiten mich versichert halten darf.175
Brandis bekennt sich also einmal zu Schleiermacher und zum anderen zu Schelling, den er 1822 in Erlangen kennengelernt hatte und dem er 1828 in Karlsbad wieder begegnet war.176 Mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) tritt ein weiterer Akteur der Aristoteles-Renaissance ins Blickfeld, der hier allerdings nur gestreift werden kann. Schellings »ungewöhnlich[…] intensive[…] und textnahe[…] Rezeption der aristote-
_____________ 172 173 174 175 176
Brandis (1835), V f. Brandis (1860), V. Ebd. VI. Brandis (1853), V. Vgl. Trendelenburg (1869), 13.
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lischen Philosophie«177 in den 1840er Jahren ist durchaus als Reflex auf die zeitgenössische Entwicklung der Philosophie zu sehen und bezeugt und reformuliert auf der anderen Seite ihrerseits den hohen Stellenwert, welcher der Philosophie des Aristoteles damals beigemessen wurde.178 Wenn Schelling in seiner posthum erschienen Philosophie der Mythologie schreibt, dass es der »beste Verlauf eines der Philosophie geweihten Lebens« sei, »mit Platon anzufangen, mit Aristoteles zu enden«, so liest sich das ein wenig wie eine Legitimation seiner erst in die späte Zeit seines Lebens fallenden Aristoteles-Studien. Schelling äußert weiter seine Überzeugung, daß derjenige nichts Dauerhaftes schaffen wird, der sich nicht mit Aristoteles verständigt und dessen Erörterungen als Schleifstein seiner eigenen Begriffe benutzt hat. Platon und Aristoteles sind selbst erst zusammen ein Ganzes.179
Und auch in der folgenden Bemerkung klingt seine späte Begeisterung für die aristotelische Philosophie an: »Groß war in allen Zeitaltern Platons Wirkung, der eigentliche Lehrer des Morgen- und Abendlandes war Aristoteles.«180 Schellings AristotelesRezeption, die konstitutiv für die Entwicklung seiner Spätphilosophie gewesen ist,181 ist allerdings, ebenso wie die von Marx und Engels, ohne Folgen geblieben.182 Zurück zu Brandis: Woher rührte eigentlich dessen frühes Interesse für die Philosophie des Stagiriten? Fällt dieses doch in eine Zeit, in der Aristoteles noch nicht en vogue gewesen ist. Anstatt einer Antwort auf diese Frage (falls eine solche überhaupt anhand der überlieferten Dokumente heute noch möglich wäre) sollen im Folgenden zwei Anhaltspunkte genannt werden: Trendelenburg teilt in seiner Gedächtnisrede mit, dass Brandisʼ Vater, ein praktischer Arzt, seinen Sohn »in die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles« eingeführt habe.183 Möglich wäre es also, dass schon dadurch ein Interesse bei ihm geweckt worden ist. Einen zweiten Anhaltspunkt bietet das Tagebuch von August Detlev Twesten (1789–1876), mit dem Brandis seit seiner Kieler Studienzeit (1806–1809) eng befreundet gewesen ist. Twesten, der viel später als Theologe Schleiermachers Nachfolger in Berlin werden sollte, war 1810 nach Berlin gegangen, um hier an der neueröffneten Universität Vorlesungen zu hören. In Berlin führte er eine Art Tagebuch über _____________ 177 Marks/v. Pechmann (1991), 161. Vgl. zu Schellings später Aristoteles-Rezeption den (die ältere Diskussion gut zusammenfassenden) äußerst instruktiven Aufsatz von Ralph Marks und Alexander von Pechmann, die den zeitgenössischen Hintergrund der Aristoteles-Rezeption in der Spätphilosophie Schellings rekonstruieren und so plausibel aufzeigen können, welche Gründe Schelling veranlasst haben, »als bald 70jähriger das für ihn neue Feld der Aristoteles-Forschung aufzunehmen« (ebd. 163). 178 Vgl. Marks/v. Pechmann (1991), 165: »So gesehen, verstehen wir die Aristoteles-Rezeption Schellings zum einen als ein durch die für diese Zeit charakteristische Umorientierung der Wissenschaften und der Philosophie motiviertes Vorhaben, und zum anderen als einen selbst zeitgenössischen Beitrag, diesen Umbruch mit den Mitteln der Philosophie zu bewältigen« (Hervorhebungen im Original). 179 Schelling (1856), 380. 180 Schelling (1856), 382. 181 Vgl. hierzu vor allem die Studie von Leinkauf (1998), 44–157. 182 Vgl. Höffe (1999), 300. 183 Trendelenburg (1869), 5.
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seine intellektuelle Entwicklung, das für Brandis bestimmt war, um diesen daran teilhaben zu lassen.184 Wie wir aus diesen an Brandis adressierten Aufzeichnungen erfahren, hatte Twesten in Berlin auch Umgang mit dem Philosophen und Arzt Johann Benjamin Erhard (1766–1827). Dieser hat Twesten, so erfährt man weiter, darauf aufmerksam gemacht, was mir selbst auch auffiel, daß man von Aristoteles Organon noch keine Uebersetzung habe, besonders, da es des Aristoteles Hauptwerk und nebst Lamberts neuen Organen [!] auch nach Fichtes Aeußerung die Hauptquelle der Logik ist.185
Einen reichlichen Monat später berichtet Twesten Brandis, dass er wieder bei Erhard zu Tisch gewesen sei: Die Frucht des heutigen Zusammenseins ist der Grund zum Entwerfen meiner ersten zu veröffentlichenden litterarischen Arbeit. Welcher meinst du wohl? Einer Uebersetzung des Organon des Aristoteles, wozu Erhard den Commentar machen wird; aber darum altum silentium! und das sage ich dir, daß du mir nicht deinen Plan zur Bearbeitung des Aristoteles aufgiebst. […] bis Ostern werde ich mich recht in den Aristoteles hinein lesen und dann das Werk beginnen. Auch bis dahin schon werde ich vorläufig übersetzen und dir vielleicht stückweise diesen ersten Entwurf der Uebersetzung zusenden, damit du mir deine Bemerkungen darüber mittheilst.186
Dieses Projekt, in das auch Brandis mit einbezogen war,187 verläuft sich dann aber schon wenige Monate später wieder im Sande: Was den Aristoteles betrifft, so lese ich jetzt denselben nicht viel mehr, als die paar Abende mit Erhard zusammen. […] thue mir zu Gefallen, daß auch du ihn fleißiger liest, und besonders auf die Wörter und Redensarten achtest.188
Das schreibt Twesten an Brandis, wie um sich selbst aufzumuntern. Danach erwähnt er das Projekt nicht mehr. Nun erfahren wir aus den Aufzeichnungen Twestens zwar, dass Brandis einen »Plan zur Bearbeitung des Aristoteles« verfolgt, aber leider nicht, worin dieser bestanden hat. Vielleicht galt er schon der Metaphysikschrift. Auf jeden Fall wird so verständlicher, weshalb Brandis, als er im Oktober 1816 als Gesandtschaftssekretär nach Rom kam, aus eigenem Antrieb damit begann, die Aristoteles-Handschriften der Vatikanischen Bibliothek zu verzeichnen.189 Das wurde hier so ausführlich dargestellt, weil natürlich auch die Tatsache interessant ist, dass es der Kantianer Erhard gewesen ist, der Twesten im privaten Zirkel zu _____________ Heinrici (1889), 29. Ebd. 44 (Eintrag Twestens vom 27.10.1810). Ebd. 76 f. (der Eintrag datiert vom 2.12.1810). Vgl. Twestens an Brandis adressierten Tagebucheintrag vom 31.12.1810 (Heinrici [1889], 103 f.): »Daß du an meinem Plan mit dem Aristoteles theilnimmst, freut mich sehr; ich werde deiner Hülfe sehr benötigt sein. Die Abhandlung über das Verhältniß seines Organons ist keine Aufgabe, zu der ich mich sehr geneigt fühle; willst du sie bearbeiten, sollte es mich freuen; ich und Erhard würden dir dabei nach Vermögen behülflich sein.« 188 Ebd. 135 (Eintrag Twestens vom 13.2.1811). 189 Brandis hat dieses Verzeichnis dann 1831 in den Akademieabhandlungen publiziert.
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dieser Übersetzungsarbeit angeregt hat. Eine Idee, die bei Twesten zunächst auf fruchtbaren Boden gefallen ist – zumal er sich zu dieser Zeit in seiner AristotelesBegeisterung190 mit seinem Freund Brandis im Einklang wusste –, der er sich dann aber höchstwahrscheinlich nicht gewachsen genug gefühlt hat. In seinen späteren Lebensjahren hat sich Twesten dann – im Gegensatz zu Brandis – ganz von Aristoteles abgewendet.191 1.3.9 Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) Der philologisch hervorragend geschulte Philosoph Adolf Trendelenburg zählt ohne Frage zu den bedeutendsten Protagonisten und Multiplikatoren der AristotelesRenaissance im 19. Jahrhundert, weshalb er im Folgenden etwas ausführlicher vorgestellt werden soll. Hinzu kommt, dass Droysen und Trendelenburg einander persönlich kannten, wobei allerdings nicht mehr zu rekonstruieren ist, wie tiefgreifend ihre Bekanntschaft gewesen ist (dazu unten ausführlicher). Trendelenburg hat von 1833 bis 1871 an der Berliner Universität gelehrt und hier eine große Wirksamkeit als akademischer Lehrer entfaltet. Zu seinen Schülern zählen unter anderen Carl Prantl, Wilhelm Dilthey, Franz Brentano, Hermann Cohen, Rudolf Eucken und Friedrich Paulsen – um nur die bedeutendsten zu nennen. Darüber hinaus war er ab 1846 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften und fungierte dort von 1847 bis 1872 als Sekretar der philosophisch-historischen Klasse. Trotz seines großen Einflusses und seiner großen Reputation zu Lebzeiten geriet Trendelenburg schon bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Mit der Generation seiner Schüler starb zugleich die Erinnerung an ihn. Aufgrund dieser Tatsache bezeichnet Frederick Beiser ihn als einen »shrouded Colossus«.192 Wer ist also dieser große »Unbekannte«193 und worin gründet seine Bedeutung – insbesondere für das Studium der aristotelischen Philosophie? Nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Vaterstadt Eutin studierte Trendelenburg Philologie und Philosophie, zunächst für drei Semester in Kiel (ab dem Sommersemester 1822).194 Hier waren es insbesondere die beiden Philosophen Karl Leonhard Reinhold (1758–1823) und Johann Erich von Berger (1772–1833), von _____________ 190 Vgl. Twestens Tagebucheintrag vom 3.1.1811 (Heinrici [1889], 106): »Der Alte [Aristoteles, C.H.] macht mir durch seine Klarheit, Nüchternheit, Scharfsinn und Verstand viel Vergnügen.« Wenige Wochen später, am 23.01.1811 (Heinrici [1889], 120) schreibt er: »So mag auch ich lieber des Aristoteles grobes Korn, als Platons feine Philosophie. […] Diesen Charakter des ernsten Hineingehens, des Strebens nach wirklicher Ueberzeugung, hat Aristoteles in der ganzen Geschichte zuerst, und auf seinen geraden und gesunden Sinn muß man mir nichts sagen.« 191 Thouard (2009), 318. 192 Beiser (2013), 11. So wird Trendelenburg z. B. von Herbert Schnädelbach in seiner Darstellung der Philosophie in Deutschland 1831–1933 nicht einmal namentlich genannt! 193 Köhnke (1986), 23. 194 Vgl. zum Folgenden die detaillierte Darstellung von Trendelenburgs Studienzeit bei Bratuscheck (1873), 17–58.
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denen er wichtige Impulse erhielt. Im Herbst 1823 ging er für zwei Semester nach Leipzig, um dort Gottfried Hermann (1772–1848) zu hören. Daran anschließend zog es ihn nach Berlin, wo er seine Studien durch den Besuch von Vorlesungen bei Boeckh, Schleiermacher und Hegel komplettieren wollte. Gleich in seinem ersten Berliner Semester im Winter 1824/25 hörte er bei Hegel dessen Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte. Die aber »wohl am wenigsten geeignet war«, um Trendelenburg von seiner bereits bestehenden reservierten, um nicht zu sagen, kritischen Einstellung gegenüber Hegel abzubringen, sondern die ihn eher darin bestätigte, so dass er keine weitere Vorlesung Hegels besuchte.195 Im Sommersemester 1825 hörte er Schleiermachers Ästhetik-Vorlesung und bemerkt darüber gegenüber seinem Vater: »Ich wüsste nicht, wo ich mehr lernen könnte für die Gedankenentwickelung in mir und in anderen.«196 Sein wichtigster Universitätslehrer in Berlin wurde aber August Boeckh. Trendelenburg besuchte mehrere Vorlesungen Boeckhs und wurde, was vielleicht noch wichtiger ist, bereits in seinem ersten Berliner Semester als ordentliches Mitglied in dessen philologisches Seminar aufgenommen. Boeckh hatte sich schon bald nach seiner Berufung nach Berlin für die Gründung eines solchen Seminars stark gemacht, das dann tatsächlich im Juni 1812 eröffnet werden konnte.197 Ziel von Boeckhs philologischem Seminar, in das eine begrenzte Anzahl von Studenten höherer Semester aufgenommen wurde, war es, einen Rahmen zu schaffen, in dem diese die für ein selbständiges wissenschaftliches Arbeiten notwendigen Kompetenzen und Fertigkeiten erlernen und einüben konnten. Dazu gehörte das Verfassen von Seminararbeiten, die nach ihrer Abfassung von allen Seminarteilnehmern gelesen und im Anschluss daran mündlich diskutiert wurden. Die Themenwahl für diese Arbeiten oblag den Seminaristen selbst. Alle drei Arbeiten, die Trendelenburg während der drei Semester seiner Mitgliedschaft in Boeckhs Seminar angefertigt hat, widmen sich aristotelischen Themen und bilden letztendlich (im Rückblick gesehen) bereits eine Hinführung zu seiner Dissertation. Die Titel der Arbeiten lauten in chronologischer Reihenfolge: In loca quaedam difficiliore ex Aristotelis Metaph. II., Locus de Platone ap. Aristot. Metaph. I, 6, De Platonis numeris ex Aristotelis testimoniis.198 Am Ende dieser Reihe steht dann Trendelenburgs im Frühjahr 1826 bei _____________ 195 Vgl. Bratuscheck (1873), 39 und 44 f., Zitat 45. 196 Zitiert nach Bratuscheck (1873), 45. 197 Die folgende Darstellung basiert auf dem Aufsatz von Sabine Seifert von 2013 sowie auf der von ihr am 8.12.2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation Die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität. August Boeckhs philologisches Seminar in Konzeption und Praxis (1812–1826), die 2019 im Berliner Wissenschaftsverlag erscheinen soll. 198 Freundliche Mitteilung von Sabine Seifert, die für ihre Dissertation die von Boeckh für das Kultusministerium verfassten Jahresberichte über das philologische Seminar ausgewertet hat. (Diese sind in folgenden Archiven überliefert: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Philosophische Fakultät Nr. 99; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Sekt. 2 Tit. X Nr. 2, Bd. 1–2). Boeckhs Urteil über die ersten beiden Arbeiten Trendelenburgs lautete: »Beide mit Geschick und richtigem Urtheil, auch klar und deutlich geschrieben«. Über die dritte Arbeit teilt er im entsprechenden Jahresbericht mit: »Diese Abhandlung ist ein Theil der in Leipzig gedruckten Schrift des Verf. Platonis de ideis et numeris doctrina ex Aristotele illustrata, womit derselbe zugleich bei der hiesigen philosophischen Facultät die Doctorwürde erlangt hat. Sie ist
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der philosophischen Fakultät eingereichte Dissertationsschrift: De locis in quibus Aristoteles summam et universam Platonis philosophiam commemoravit, die übrigens aufgrund der Wertschätzung, die Trendelenburg gegenüber der aristotelischen Philosophie zum Ausdruck brachte, auch von Hegel mit positiven Worten bedacht worden ist.199 Im Druck erschien sie unter dem Titel: Platonis de ideis et numeris doctrina ex Aristotele illustrata.200 Trendelenburg hat für diese Arbeit sämtliche Stellen bei Aristoteles, die sich auf die platonische Ideen- und Zahlenlehre beziehen, zusammengetragen und sie hinsichtlich der Frage, was die bei Aristoteles zu findenden Mitteilungen über die platonische Philosophie zu deren Verständnis beitragen können, interpretiert.201 Bereits die zweite Seminararbeit, die sich der Darstellung der platonischen Ideenlehre in Met. I 6 widmet, kann man also rückblickend als eine Vorarbeit Trendelenburgs zu seiner Dissertation betrachten, die dritte hingegen als direkte Vorstufe. Mit der Ausarbeitung seiner Seminararbeit zur Dissertation stellt Trendelenburg keinen Einzelfall dar, wie sich aus den Forschungen von Sabine Seifert ergibt.202 Ferner zeigt dieses Beispiel, welch große Bedeutung dem Seminar Boeckhs für die wissenschaftlich-philologische Ausbildung der Studierenden zukam. Nach der Beendigung seines Studiums nahm Trendelenburg zunächst eine Stelle als Hauslehrer bei Karl Ferdinand von Nagler, Generalpostmeister und preußischer bevollmächtigter Minister beim Bundestag in Frankfurt am Main, an, um dessen zu diesem Zeitpunkt elfjährigen Sohn in den nächsten sieben Jahren auf das Abitur vorzubereiten. Diese Stellung, die mit verschiedenen Reisen und Ortswechseln verbunden war, bot Trendelenburg zudem die Möglichkeit, viele Kontakte mit einflussreichen oder ihn interessierenden Persönlichkeiten zu knüpfen, wie z. B. im Frühjahr 1828 mit Christian August Brandis, den er schon länger aufgrund seiner Arbeiten zu Aristoteles kennenzulernen gewünscht hatte.203 Auch wenn ihm seine Tätigkeit wenig Zeit für seine philosophischen Studien ließ, setzte er diese doch fort. 1828 erschien im vierten Heft des zu diesem Zeitpunkt von Niebuhr und Brandis herausgegebenen Rheinischen Museums seine Abhandlung über den Begriff des τὸ ἑνὶ εἶναι bei Aristoteles. Da im _____________
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bündig und deutlich geschrieben; der Stoff ist vollständig herbeigeschafft, das Urtheil richtig und besonnen.« Aus den Jahresberichten geht ferner hervor, dass Trendelenburg in jedem Semester seiner Seminarmitgliedschaft eine »Prämie von 20 Thalern erhalten« hat. (Freundliche Mitteilung von Sabine Seifert, die bereits die ersten drei Jahresberichte Boeckhs online ediert hat in: Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin, online einsehbar unter: http://www.berliner-intellektuelle.eu/?de, zuletzt aufgerufen am 12.8.2017.) Vgl. Bratuscheck (1873), 50. Leipzig 1826. Die Dissertation umfasst 100 Druckseiten und ist dem Direktor des Eutiner Gymnasiums Georg Ludwig König (einem Göttinger Schüler Christian Gottlob Heynes) gewidmet, dem Trendelenburg u. a. eine erste Einführung in die Philosophie Kants verdankte. Vgl. die ausführlichen Informationen zu Trendelenburgs Dissertation bei Bratuscheck (1873), 43 f. und 49–58, sowie die Rezension von Trendelenburgs Freund Christian Petersen im Rheinischen Museum von 1828. Freundliche Mitteilung von Sabine Seifert (siehe oben Anm. 197). Trendelenburg, hatte während seiner Studienzeit in Leipzig auch überlegt, wegen Brandis nach Bonn anstatt nach Berlin zu wechseln. Vgl. Bratuscheck (1873), 63.
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selben Heft zugleich eine ausführliche Rezension seiner Dissertationsschrift (verfasst von seinem Freund Christian Petersen) erschien und auch Brandis sich in seinem darauffolgenden Aufsatz Ueber die Zahlenlehre der Pythagoreer und Platoniker mehrfach auf Trendelenburgs Dissertation bezieht, ist er in besagtem Heft des Rheinischen Museums ausgesprochen präsent.204 Die wichtigste Frucht dieser Jahre ist aber die »in der Aristotelischen Literatur epochemachend[e]«205 Edition von Aristotelesʼ Schrift De anima, die im Herbst 1833 erschien. In dieser hat Trendelenburg die von Bekker begonnene philologische, d. h. historisch-kritische Arbeit an der Textkonstitution fortgesetzt. Er hat zu diesem Zweck den von Bekker 1831 edierten Text als Grundlage genommen und ihn an den Stellen, an denen es ihm geboten erschien, verbessert – indem er auch die Aldina und schon publiziert vorliegende griechische Aristoteles-Kommentare sowie ihm von Brandis zur Verfügung gestellte Vorarbeiten für den vierten Band der AristotelesEdition zu Rate gezogen hat.206 Somit hat auch Trendelenburg mit dazu beigetragen, dass die Aristoteles-Kommentatoren mehr und mehr ins Blickfeld gerieten und man sich der Bedeutung, die ihnen hinsichtlich eines besseren Verständnisses der Philosophie des Aristoteles zukommt, bewusst wurde. Der griechische Text von De anima nimmt in dieser Edition 109 Seiten ein. Er wird flankiert von einem 450-seitigen lateinischen Kommentar, der auf eine Erläuterung des Textes abzielt und welcher die eigentliche philosophische Leistung der Edition darstellt, da er auf der Kenntnis aller aristotelischen Werke basiert. 1833 wurde Trendelenburg außerordentlicher Professor und 1837 ordentlicher Professor der praktischen Philosophie und Pädagogik an der Berliner Universität, wo er auch mehrmals das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät und dreimal das Amt des Rektors innehatte. Hier entfaltete er eine bedeutende Wirksamkeit als Universitätslehrer. Und auch in seiner fast vier Jahrzehnte währenden Vorlesungstätigkeit spielte die aristotelische Philosophie immer eine besondere Rolle und zwar insbesondere in den von Trendelenburg seit dem Wintersemester 1837/38 durchgeführten philosophischen Übungen. Bei der Einführung dieses neuen Formats in die universitäre Unterrichtspraxis standen höchstwahrscheinlich seine positiven Erfahrungen in Gottfried Hermanns griechischer Gesellschaft und in August Boeckhs philologischem Seminar Pate – auch wenn Trendelenburg offiziell Rankes historische Übungen als Vorbild angibt.207 Bratuscheck, der sowohl Schüler Boeckhs als auch Trendelenburgs gewesen ist, betont ebenfalls die Nähe zu den philologischen Seminaren, auch indem er nicht von Übungen, sondern von Trendelenburgs »Seminar« spricht. Gegenstand dieser insgesamt 68 Semester lang durchgeführten Übungen waren, bis auf sechs Ausnahmen, immer aristotelische Werke.208 Bratuscheck bemerkt daher rückblickend: _____________ 204 205 206 207 208
Vgl. Rheinisches Museum 4 (1828). Bratuscheck (1873), 80. Bratuscheck (1873), 64 f. Ebd. 101, Anm. Eine nach Themen geordnete Auflistung aller von Trendelenburg gehaltenen Vorlesungen und Übungen findet man bei Schneider (2005), 252–257. Vgl. ferner Bratuscheck (1873), 101–104.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung So blühte hier in der That ein aristotelisches Seminar der modernen Philosophie […]. Tr.’s Seminar hat besonders mit dazu beigetragen, dass das Studium des Aristoteles im letzten Menschenalter mit ausserordentlichem Eifer und entsprechendem Erfolge betrieben worden ist. Einen wie hervorragenden Antheil Tr. hieran hat, beweist die grosse Anzahl der ihm dedicierten Schriften, welche doch nur einen kleinen Bruchtheil derer bilden, die von ihm mittelbar oder unmittelbar angeregt sind. Platoniker wie Böckh klagten zu Anfang der fünfziger Jahre, man vernachlässige Plato über seinen grossen Schüler. Indess erstrebte Tr. nur eine gleiche Würdigung der beiden grossen Philosophen […].209
1836 publizierte Trendelenburg mit den Elementa logices Aristotelicae einen schmalen Band, der ebenfalls sein Anknüpfen an die aristotelische Philosophie dokumentiert. Es handelt sich dabei um eine Art Lehrbuch, das Gymnasiasten eine erste Einführung in die Philosophie geben sollte. Denn die philosophische Propädeutik stellte zwar seit 1825 einen obligatorischen Unterrichtsgegenstand an preußischen Gymnasien dar, war aber bisher noch nicht inhaltlich fixiert worden.210 Trendelenburg, der »die Zweckmäßigkeit des vorbereitenden philosophischen Unterrichts auf den Gymnasien«211 sehr wohl gegeben sah, hat in inhaltlicher Hinsicht zwei Grundsatzentscheidungen getroffen: Erstens wählte er die Logik als Gegenstand dieser Propädeutik aus. Denn er sah im logischen Unterricht das geeignetste Mittel »für den Zweck des in die Philosophie einleitenden Unterrichts«,212 da dem Schüler »in der Logik die nackten Grundbegriffe [begegnen], die in aller Erkenntniß verborgen walten«213 und sich die logischen Gesetze als roter Faden durch alle Wissenschaften hindurchziehen.214 Ferner sieht Trendelenburg im logischen Unterricht eben keine »äußere Vermehrung der Lehrgegenstände«, sondern erhofft sich von diesem stattdessen, dass er die Schüler in die Lage versetze, Verknüpfungen zwischen den einzelnen Lehrgegenständen herzustellen, so dass sie mehr und mehr eine ordnende »Uebersicht« über »die zerstreute Menge der Kenntnisse« gewinnen.215 Die Logik wird hier also als eine in gewisser Weise unverzichtbare propädeutische und somit zugleich grundlegende Disziplin aufgefasst. Mit dieser Auffassung von der Logik folgt Trendelenburg einem tradierten Verständnis der aristotelischen Philosophie, in dem die das Organon bildenden Schriften nicht ohne Grund am Beginn des aristotelischen Werkes stehen, sondern wegen des ihnen zugeschriebenen propädeutischen Charakters. Es verwundert daher zweitens nicht, dass Trendelenburg nicht irgendeine Logik als Grundlage für sein Lehrbuch gewählt hat, sondern die aristotelische, weil diese, so seine Argumentation, den Ausgangspunkt und die Grundlage für alle späteren Logiken darstelle. Ferner: »Aristote_____________ Bratuscheck (1873), 102 und 104. Ebd. 81. Vgl. zu dieser Schrift insgesamt: ebd. 81 f. und 95–98. Trendelenburg (1842), I. Ebd. XV. Ebd. XII. Ebd. VI. Hier deuten sich im Grunde genommen schon einige der Motive hinsichtlich seines Verständnisses von der Funktion, Aufgabe und Charakter der Logik an, die Trendelenburg später in den Logischen Untersuchungen wieder aufnehmen und weiter ausarbeiten wird. 215 Ebd. VII f.
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les Logik ist nicht veraltet«, sondern ganz im Gegenteil z. B. der formalen Logik Kants vorzuziehen, weil diese die Formen des Denkens von allem Bezug auf den Gegenstand, in welchen das Denken eindringt, isolierte und für sich betrachten zu können meinte, aber dadurch dem realen Charakter der aristotelischen Logik Eintrag that
und sie somit einen Rückschritt gegenüber Aristoteles bedeute.216 Ferner betrachtet es Trendelenburg als »sehr wichtig, an der Quelle selbst die ursprüngliche Geltung [der philosophischen Begriffe, C.H.] kennen zu lernen«217, weshalb er noch einen weiteren Vorteil im Rückgriff auf Aristoteles sieht: In Aristoteles verfestigt sich die philosophische Sprache zu einer wissenschaftlichen Terminologie, welche noch gegenwärtig die Grundlage der unsern bildet. Unsere philosophischen Wörter tragen fast alle […] die Spuren des aristotelischen Ursprungs.218
Trendelenburg hat für das von ihm zusammengestellte und verfasste propädeutische Kompendium zentrale Passagen (im griechischen Original) aus dem gesamten aristotelischen Werk (vor allem aber aus dem Organon), die sich auf logische Fragestellungen beziehen, versammelt. Er selbst bemerkt zu seiner Auswahl: Mit den eigenen Worten des Aristoteles sind die Umrisse der wichtigsten logischen Sätze gegeben und zu dem Ende einfache und prägnante Stellen zusammengereiht.219
Ziel sei es gewesen, »die aristotelische Logik in ihren Grundbegriffen aus sich selbst« heraus darzustellen, ohne dabei zu sehr in die Breite zu gehen und zu ausführlich zu werden.220 Das Buch ist so aufgebaut, dass im Anschluss an die allesamt mit einem Herkunftsnachweis versehenen griechischen Zitate, die auf 23 Druckseiten wieder gegeben sind, en bloc deren lateinische Übersetzung folgt, auf die wiederum lateinische Erläuterungen der einzelnen Textstellen folgen, welche zwei Drittel des Gesamtumfanges des 145 Seiten starken Bändchens ausmachen. 1842 erschien dann eine etwas anders organisierte rein deutsche Variante der Elementa unter dem Titel: Erläuterungen zu den Elementen der aristotelischen Logik. In dieser folgen auf die ins Deutsche übertragenen aristotelischen Zitate die jeweiligen Erläuterungen immer unmittelbar. Da allerdings die Zitate hier ohne die dazugehörigen Quellenangaben abgedruckt sind, kann man das Buch nicht anders als eine Ergänzung zur griechisch-lateinischen Version verstehen, von der im gleichen Jahr, also 1842, bereits die zweite Auflage erschien. Aufgrund der hohen Auflagenzahl, welche die Elementa in der Folge erlebten (sie erschienen 1892 in neunter Auflage und wurden auch mehrfach rezensiert, u. a. 1842 von Heinrich Ritter in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen), muss man davon ausgehen, dass sie tatsächlich Verwendung an den preußischen Gymnasien (wenn nicht sogar darüber hinaus) gefunden haben und somit zum »gleichsam offizielle[n] preußi_____________ 216 217 218 219 220
Ebd. V. Ebd. IX. Ebd. VIII. Ebd. IV. Ebd. XI.
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sche[n] Lehrbuch der Philosophie«221 avancierten. Trendelenburgs Büchlein dürfte zweifellos zu einer Popularisierung der aristotelischen Logik beigetragen haben. Wobei man allerdings bedenken muss, dass das, was hier als aristotelische Logik präsentiert wird, im Grunde genommen ein Konstrukt ist, da von Aristoteles kein Werk mit dem Titel »Logik« überliefert ist und es sich bei dem, was Trendelenburg hier als aristotelische Logik präsentiert, um eine Sammlung von Textpassagen aus verschiedenen aristotelischen Werken handelt. 1840 publizierte Trendelenburg sein erstes Hauptwerk, die Logischen Untersuchungen, die 1862 dann in einer zweiten und 1870 in einer dritten (jeweils überarbeiteten) Auflage erschienen sind. Sie sind bei ihrem ersten Erscheinen vor allem aufgrund der hier von Trendelenburg formulierten fundamentalen Kritik an der hegelschen Philosophie anerkennend von seinen Zeitgenossen rezipiert worden. In den Logischen Untersuchungen knüpft Trendelenburg an das von ihm in den Elementa explizierte Logik-Verständnis an und entwickelt es weiter. Denn bereits dort hat er deutlich gemacht, dass es ihm nicht um die formale Logik geht (welche die Formen des Denkens von allen Inhalten losgelöst zu betrachten können meint), sondern dass er ebenso wie Hegel die Logik als eine Logik und Metaphysik gleichermaßen umfassende Disziplin auffasst. Hatte er diese »Logik im weiteren Sinn« in den Elementa bereits als unabdingbare und grundlegende propädeutische Disziplin expliziert, so avanciert sie in den Logischen Untersuchungen zu einer »Theorie der Wissenschaft« insgesamt.222 Das heißt, Trendelenburg konzipiert hier die Logik als eine für alle (empirischen) Wissenschaften gleichermaßen gültige Theorie des Erkennens überhaupt. Denn Trendelenburg unterstellt, dass es den besonderen, einzig auf ihren Gegenstand fokussierten Wissenschaften an Methodenbewusstsein mangle. Dem will er abhelfen. Daher sieht er hier die Stunde der Logik gekommen als einer allen empirischen Wissenschaften gleichermaßen zu Grunde liegenden und zugutekommenden Methodendisziplin. Die Logik beziehungsweise die Philosophie wird dadurch zu einer allen »übrigen« Wissenschaften zu Grunde liegenden Disziplin, die es ermöglicht, dass aus dem »Stückwerk« des Wissens aller »einzelnen« Wissenschaften ein Ganzes werde.223 Weil alle Disciplinen auf dem Grunde einer solchen Wissenschaft stehen und sich stillschweigend auf Voraussetzungen aufbauen, welche sie allein zu erkennen bestrebt ist: so ist eine solche Theorie der Wissenschaft (die Logik im bezeichneten weiteren Sinne) grundlegende Wissenschaft, philosophia fundamentalis.224
Nun verstehen wir, wie Gadamer richtig festgestellt hat,225 einen Text erst dann angemessen, wenn wir wissen, auf welche Frage er zu antworten versucht. Bei Trendelenburg sind es genau genommen mehrere Absichten, die er mit seinen Logischen Untersuchungen verfolgt. Zum einen geht es ihm um die Klärung der schon von Kant gestellten Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis (und darüber _____________ 221 222 223 224 225
Köhnke (1986), 43. Trendelenburg (1870), Bd. 1, 11; Bd. 2, 453 f. und 530. Trendelenburg (1870), Bd. 1, 316 f. Trendelenburg (1870), Bd. 1, 14. Gadamer (1990), 375–384: »Die Logik von Frage und Antwort«.
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hinaus um die Klärung der Voraussetzungen empirischer Wissenschaft). Wie ist Erkennen (Erkenntnis) möglich, wo doch Denken und Sein einander fremd gegenüber stehen, ja geradezu einen Gegensatz bilden? Wie ist es möglich, dass sich Denken und Sein im Erkennen vereinigen?226 Die von Hegel gegebene Antwort, dass das Denken das Sein aus sich erzeuge, kritisiert und verwirft er ebenso wie Hegels dialektische Methode227 und präsentiert in den Logischen Untersuchungen seine eigene Lösung: indem er in der »Bewegung« das gesuchte Prinzip, d. h. die Tätigkeit findet, die Denken und Sein gleichermaßen zukommt, und die daher in der Lage ist, die Grenzen von Denken und Sein zu überwinden und so zwischen Denken und Sein zu vermitteln und Erkenntnis zu ermöglichen.228 Zum anderen schreibt Trendelenburg in diesem Werk zugleich gegen den Bedeutungsverlust der Philosophie an: Die Philosophie, die berufen ist, […] in einer nothwendigen Aufgabe der Wissenschaften die Völker und Zeiten zu vereinigen, wie einst Plato und Aristoteles thaten, […] muss aus dieser demüthigenden Stellung, in die sie gedrängt wird, wieder heraus; und die logischen Untersuchungen wünschen dabei mitzuwirken.229
Nach Hegels Tod war die Philosophie in eine tiefe Orientierungskrise geraten, mitbedingt durch den rasanten Aufstieg und die Erfolge der Naturwissenschaften, die schon seit einiger Zeit enorm an gesamtgesellschaftlichem Ansehen gewonnen hatten.230 Trendelenburgs Anliegen in den Logischen Untersuchungen war es also auch, der an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängten Philosophie wieder zu Macht, Ansehen und ihrer alten Autorität zu verhelfen, indem er sie beziehungsweise die Logik als basale, allen Wissenschaften gleichermaßen zu Grunde liegende Theorie und Methode ausweist. Wodurch die Philosophie wieder ihren Ort und ihre Stimme im Kanon der Wissenschaften zurückerhält. Auch in diesem Werk bildet die aristotelische Philosophie einen prominenten Bezugs- und Anknüpfungspunkt für Trendelenburgs Argumentation, weshalb ihr eine herausgehobene Stellung zukommt. Denn: Es muss das Vorurtheil der Deutschen aufgegeben werden, als ob für die Philosophie der Zukunft noch ein neu formulirtes Princip müsse gefunden werden. Das Princip ist gefunden; es liegt in der organischen Weltanschauung, welche sich in Plato und Aristoteles gründete […].231
Daher ist er auch der Meinung: _____________ 226 Vgl. Trendelenburg (1870), Bd. 1, 133 f. Vgl. ferner: »Welche ist nun diese ursprüngliche und einfache, dem Denken und Sein gemeinsame Thätigkeit der Vermittlung« (ebd. 140) beziehungsweise »Welche ist die ursprüngliche das Denken und Sein vermittelnde Thätigkeit?« (ebd. 330). 227 Ebd. 36–129. Die hier von Trendelenburg artikulierte Hegel-Kritik hat unter seinen Zeitgenossen viel Beachtung gefunden. 228 Vgl. ebd. 140–235, insbesondere 141, 146 sowie 326: Bewegung ist »die erste und elementare Vermittlung zwischen Denken und Sein […] die erste Bedingung aller weiteren Erkenntnis, indem sie gleichsam von dem Geiste zur Natur und von der Natur zum Geiste über die beide trennende Kluft die Brücke schlägt.« 229 Trendelenburg (1870), Bd. 1, VIII. 230 Diesen Aspekt macht Hansen zu Recht stark; Hansen (2000), 46, 50. 231 Trendelenburg (1870), Bd. 1, IX.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung Hätte ein mächtiger Geist, wie Schelling […] mit Plato und Aristoteles angefangen, […] so wäre ein Stück deutsche Philosophie anders ausgefallen, grösser, dauernder, fruchtbarer.232
Trendelenburg knüpft in diesem Werk an zahlreichen Stellen an Aristoteles an, wie z. B. an die aristotelische Analyse der Bewegung in der Physik und indem er die Welt teleologisch organisiert denkt. Die wirkliche Ursache einer Sache ist ihr Zweck, das Worumwillen ihres Seins und Werdens. Das heißt, Trendelenburg ordnet der physischen Naturbeschreibung nach dem Muster der Kausalität […] demnach eine metaphysische Sinndeutung der Naturentwicklung über[...]. Wo diese Überzeugung fehlt, da fehlt [seiner Meinung nach, C.H.] auch die Möglichkeit, Naturentwicklung sinnvoll begreifen zu können.233
Ferner kann man über Trendelenburgs gesamte Vorgehensweise in den Logischen Untersuchungen sagen, dass sie sich an der des Aristoteles orientiert, da er am Beginn eines jeden Kapitels zuerst die Positionen seiner Vorgänger erörtert und prüft und daraus dann seine eigene Position ableitet.234 Zusammenfassend lässt sich mit Gerald Hartung festhalten, dass die Philosophie des Aristoteles in Trendelenburgs Augen für seine Gegenwart deshalb eine so große Bedeutung hat, weil sie drei Bedingungen erfüllt: sie wird den Anforderungen zeitgemäßen Philosophierens im Gespräch mit den Einzelwissenschaften gerecht; sie gibt das Muster vor, wie Philosophie als Theorie der Wissenschaften dennoch eine prägende Funktion im Wissenschaftsdiskurs ausüben kann; und sie verhandelt die Grundbegriffe aller Wissenschaften auf einem hohen systematischen Niveau, so dass ein Rekurs auf die aristotelische Philosophie notwendig ist, um mit der eigenen Denktradition ins Gespräch zu kommen.235
Auf Berührungspunkte Droysens mit der von Trendelenburg in den Logischen Untersuchungen explizierten organisch-teleologischen Weltansicht wird an späterer Stelle noch zurückzukommen und etwas ausführlicher einzugehen sein. Auch in den noch folgenden Werken236 bildet die Philosophie des Aristoteles immer wieder einen wichtigen Bezugspunkt für Trendelenburgs Denken. Eine interessante Quelle stellt insbesondere der von Trendelenburg für The biographical Dictionary of the Society for the Diffusion of useful Knowledge verfasste Artikel über Aristoteles dar, der von dem englischen Altertumswissenschaftler und Latinisten George Long (1800–1879), der zugleich zu den Mitinitiatoren und Herausgebern dieses Lexikons gehörte, ins Englische übersetzt worden ist. Vermutlich ist es auch George Long gewesen, der Trendelenburg um den Aristoteles-Artikel gebeten hat. In gewisser Weise ist es ein Glücksfall, dass Trendelenburg dazu aufgefordert worden ist, diesen Artikel zu schreiben. Denn dadurch war er gezwungen, auf einem begrenzten _____________ 232 233 234 235 236
Ebd. IX f. Hartung (2006a), 297. Vgl. z. B. Trendelenburg (1870), Bd. 1, 215. Hartung (2012), 24. Ein von Klaus Christian Köhnke erstelltes Verzeichnis der Veröffentlichungen von Friedrich Adolf Trendelenburg findet man am Ende des von ihm mit herausgegebenen Tagungsbandes: Hartung/ Köhnke (2006), 271–295.
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Raum (der Beitrag umfasst 23 Seiten à 44 Spalten) seinen Wissensstand hinsichtlich der aristotelischen Philosophie und ihrer Rezeption in Form einer Überblicksdarstellung darzulegen. Herausgekommen ist dabei eine gut lesbare Einführung, die aufgrund ihrer klaren Diktion erahnen lässt, weshalb Trendelenburg ein so erfolgreicher Lehrer gewesen ist. Die Darstellung folgt einem gängigen Schema. Sie beginnt mit der Schilderung der Biographie des Aristoteles, auf diese folgt eine generelle Charakteristik der aristotelischen Philosophie, darauf folgen Informationen zur antiken Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Schriften und zu den bisherigen Editionen des Gesamtwerkes. Daran anschließend stellt Trendelenburg die einzelnen Werke vor. Da er am Ende jedes thematischen Abschnitts Ausgaben und Sekundärliteratur nennt, erhält man einen Überblick über den damaligen Forschungsstand zu den einzelnen Werken und Themen. Der Artikel schließt mit einem Blick auf die Wirkungsgeschichte, einer Auflistung der wichtigsten griechischen Kommentatoren und einem Abriss der neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte, innerhalb dessen der englische Übersetzer George Long an entsprechender Stelle auf eigener Anschauung beruhende Informationen zum Stand der Aristoteles-Rezeption in England ergänzt hat. Da für die hier verhandelte Problematik interessant ist, wie Trendelenburg die Aristoteles-Rezeption des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gesehen und beurteilt hat, sei hier die Schlusspassage seines Artikels zitiert (aus der man darüber hinaus auch ablesen kann, welche Rolle Trendelenburg Aristoteles für sein eigenes Philosophieren zugewiesen hat): In Germany in the last century Lessing directed attention to Aristotleʼs Poetic. Buhle began a complete edition of Aristotleʼs works, which, however, was not finished; J. G. Schneider laboured successfully on the History of Animals and the Politic. Yet the prevailing taste was in favour of Plato, and the difficulty of Aristotleʼs language was for a long time an impediment to the study of his philosophy. Schleiermacher and Niebuhr, in the Berlin Academy, proposed the edition of Aristotele and his Commentators which Bekker and Brandis have so successfully executed; and Hegel showed the greatness of Aristotle as a philosopher, and held him up to admiration. The energies of the Germans have thus been roused to explore the hidden treasurs of the Stagirite, and Aristotle again occupies the central place in the philosophy of Germany. […] From this impulse Philosophy will derive solid and lasting advantage, if we do not, as man once did, place the essence of Aristotle in detached dogmas and forms. Since his time science has been enriched with the acquisations of ages, but from him we may still learn how to comprehend this accumulated mass in its full extent and depth, and to follow his sure and subtle method of investigation.237
Exkurs Bei der ganz am Ende genannten Literatur verweist Trendelenburg auch auf den Aristoteles-Artikel in der Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft von Karl Zell und bemerkt, dieser »shows a great insight into Aristotle, and a sound knowledge of the subject«238. Der Philologe Karl Zell (1793–1873), der in Freiburg und _____________ 237 Trendelenburg (1844), 471. 238 Ebd.
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Heidelberg gelehrt hat, gehört im Grunde genommen ebenfalls zu den Akteuren der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert, auch wenn ihm nur eine Nebenrolle zukommt. Denn neben diesem Artikel für die Real-Encyclopädie hat er weitere Aristotelica publiziert, so unter anderem eine auf acht »Bändchen« verteilte Übersetzung des Organon, die zwischen 1836 und 1862 erschienen ist. Sein von Trendelenburg erwähnter Artikel über Aristoteles stellt eine dornige Lektüre dar, da er in der Hauptsache aus einer Aneinanderreihung bibliographischer Angaben besteht. Daher ist er dennoch, wenn man von seiner literarischen Qualität absieht, eine Fundgrube. Im hier verhandelten Kontext interessiert Zells Schilderung der Geschichte der aristotelischen Studien im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Dabei fällt auf, dass sich Trendelenburg in seiner Darstellung dieses Sachverhaltes sehr eng an Zell anschließt, so dass es offensichtlich ist, dass sie ihm als Vorlage gedient hat. Zell schreibt: Diese Vernachläßigung [des Aristoteles, C.H.] nahm im 18ten Jahrh. noch zu. In Deutschland richtete erst Lessing in seiner Dramaturgie die Aufmerksamkeit wieder auf Ar., namentlich dessen Poetik; und von Seiten der Philologen geschah dieses durch Reiz, dann im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts durch einige junge Philologen aus Friedrich August Wolfs Schule: Vater, Delbrük[!], Fülleborn, Spalding, so wie auch jetzt erst wieder durch Buhle eine neue Gesammtausgabe unternommen, aber nicht zu Ende geführt wurde. Ihnen reihte sich am Anfang des 19ten Jahrh. Gottfried Hermann an. In den ersten zwei Jahrzehnten bei der großen innern und äußern Zunahme der classischen Studien in Deutschland dauerte dennoch die Vernachläßigung dieses Schriftstellers fort mit Ausnahme der wichtigen Leistungen J. G. Schneiders für die Thiergeschichte und dessen Ausgabe der Politik. Nach dieser Zeit regte sich in Deutschland eine lebhaftere Theilnahme für die Ar. Schriften sowohl von dem philologischen als von dem philosophischen Standpunkte. In letzterer Beziehung hat Hegel durch die Darstellung und Beurtheilung der Ar. Philosophie eine neue Bahn eröffnet. Eine Epoche für die Ar. Studien macht die von der königlichen Akademie zu Berlin veranstaltete Gesammtausgabe. In Wetteifer mit diesem gelehrten Vereine förderte das französische Institut das Verständniß und die Bearbeitung der Werke des Philosophen durch glücklich gestellte und gelöste Preisaufgaben […].239
Welche Bedeutung die Philologen, deren Namen Zell hier anführt: Reiz, Vater, Delbrück, Fülleborn, Spalding, Gottfried Hermann (die Trendelenburg dann aber in seine gekürzte Version nicht mit aufnimmt), tatsächlich für das Studium des Aristoteles hatten, wäre zu prüfen. Die Leistungen Johann Gottlob Schneiders (1750–1822) stellt Zell wahrscheinlich deshalb so betont heraus, weil dieser zu seinen Lehrern in Breslau gehört hat. Da Trendelenburg diesen Namen in seine Aufzählung mit aufnimmt, ist zu vermuten, dass er die Aristoteles-Ausgaben Schneiders kannte. Frederick Beiser nennt fünf Gründe für Trendelenburgs herausragende Bedeutung:240 Trendelenburgs Hegel-Kritik in den Logischen Untersuchungen (1840) war so einflussreich, dass sie das Ende der Hegemonie Hegels in Logik und Metaphysik her-
_____________ 239 Zell (1839), 796. 240 Beiser (2013), 13. Ich gebe die hier von Beiser genannten Punkte im Folgenden in freier deutscher Übersetzung wieder.
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beiführte. Sein zweites Hauptwerk Naturrecht auf dem Grunde der Ethik (1860)241 war das letzte große Statement des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert und die letzte große Verteidigung der Naturrechtstradition gegen die historistischen und positivistischen Kräfte seiner Zeit. Ferner war Trendelenburg der letzte große Aristoteliker und der Vater der Wiederbelebung der aristotelischen Studien im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus zählt er zu den anspruchsvollsten und genauesten Philosophiehistorikern seiner Zeit und hat neue Standards hinsichtlich der Textinterpretation gesetzt.242 Und er ist einer der Begründer dessen, was man heute Begriffsgeschichte nennt, also der Erforschung der Herkunft philosophischer Begriffe und Konzepte. (Eine Forschungsrichtung, die später sein Schüler Rudolf Eucken fortsetzen sollte.) Trendelenburg hat also in vielfacher Weise (durch seine Schriften, Vorträge und Lehrveranstaltungen) zu einem verstärkten Studium des Aristoteles beigetragen und andere dazu angeregt, wie sich auch aus den Forschungsinteressen einiger seiner Schüler schließen lässt. So erinnert sich Friedrich Paulsen (1846–1908), der 1871 noch bei Trendelenburg »mit einer vergleichenden Arbeit über Form und Methode der Aristotelischen Ethik promoviert wurde«,243 wie folgt an seinen Lehrer: »Trendelenburg, der Erneuerer der aristotelischen Philosophie, lange Jahre ein einflussreicher Lehrer, verknüpfte das philosophische mit dem philologischen Studium.«244 Auf diese Weise gelang es ihm, seinen Schülern zum Aristoteles Mut zu machen. Man hatte von der Philosophie des alten Griechen wohl manches gehört, auch versucht ihn zu lesen, aber die Ungewissheit, ob es sich auch heute noch lohne ihn zu studieren, ob seine Weisheit nicht veraltet sei, schreckte zurück. Erst als uns in Trendelenburg ein Mann entgegentrat, der in der aristotelischen Philosophie lebte und zu dem Griechen gleichsam noch in einem persönlichen Verhältnis stand, da kam uns der Glaube an die Sache, an ihre Bedeutung auch für die Gegenwart, und mit dem Glauben der Mut zum Eindringen in die fremde Gedankenwelt. Noch immer gilt das Wort des Aristoteles: glauben muss, wer lernen will. Ihm zu diesem Glauben zu helfen, ist das erste und vielleicht das allerwichtigste, was der Unterricht des Lehrers vor dem Buche voraus hat; wobei denn auch der Anteil, den hieran die Anwesenheit von Mitschülern und Mitstrebenden hat, nicht zu vergessen ist.245
Ferner ist hier an folgende Schüler Trendelenburgs zu denken: an den aus München stammenden und später auch in München wirkenden Carl Prantl (1820–1888), der sich in verschiedenen Publikationen mit der aristotelischen Philosophie auseinandergesetzt hat und der 1854 eine Übersetzung der aristotelischen Physik vorgelegt hat, oder auch an Franz Brentano (1838–1917), dessen »Aristotelismus und […] Weiterentwicklung der philosophischen Psychologie ohne seinen Lehrer nicht denkbar« _____________ 241 Vgl. hierzu Hartung, der herausarbeitet, dass dieses Werk als eine Teilabhandlung der von Trendelenburg angestrebten Ethischen Untersuchungen zu sehen ist, die dieser als Pendant zu seinen Logischen Untersuchungen vorgesehen hatte; Hartung (2006b), 94. 242 Hierin kann man den Boeckh-Schüler wiedererkennen, der in Boeckhs Seminar sehr gut sein Handwerkszeug erlernt hat, das er dann auf seine Inhalte angewendet hat. 243 Kränsel (2001), 128. 244 Paulsen (1902), 68. 245 Paulsen (1902), 243 f.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
gewesen wären246 und von dem wiederum eine Linie bis zu Heidegger führt247. Zu nennen ist an dieser Stelle aber auch Rudolf Eucken (1846–1926), der nicht nur mit seiner Basler Antrittsvorlesung von 1871 ebenfalls an das von Trendelenburg Gelehrte anknüpft und es weiter ausbaut, indem er »die Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die Gegenwart« programmatisch herausstellt. Eucken konstatiert, dass bei der neueren Philosophie ein kritisch-analytischer Charakter überwiege, weshalb in neuerer Zeit die Einheit der Weltanschauung mehr und mehr verloren zu gehen drohe, das menschliche Gemüt aber »nach einer einheitlichen Welt- und Lebensanschauung« verlange.248 Diese sei vor allem in der Philosophie des Aristoteles zu finden, da sich in dieser »Philosophie und positive Forschung […] gegenseitig durchdringen und fördern«. Das ist von Bedeutung, denn das Einzelne, rein für sich und ohne allgemeine Beziehung, hat keinen wissenschaftlichen Werth, das Allgemeine aber, das nicht auf dem sichern Fundament der Specialforschung ruht, ist inhaltsleer und ohne Frucht; erst in der Verbindung beider Elemente gedeiht ihm die Wissenschaft.249
Und daher bleibe Aristoteles auch durch den Wandel der Zeiten hindurch ein unerreichtes Vorbild [darin, C.H.], daß er eine synthetisch-organische Weltanschauung auf Grund der sorgfältigsten Einzelforschung durch die verschiedenen Wissenschaften durchgeführt hat; die Vertiefung in seine universale, die Gegensätze harmonisch vereinigende Geistesrichtung kann dazu beitragen, unsere Wissenschaft vor der Gefahr zu behüten,
einseitig zu werden und »die gewaltige philosophische Kraft« des Aristoteles kann unsere eigne Kraft stärken und unsern Glauben an die Zukunft unserer Wissenschaft befestigen. So erblicken wir in der jetzigen Blüthe des Aristotelischen Studiums eine durchaus erfreuliche Erscheinung.250
Droysen und Trendelenburg Droysen und Trendelenburg kannten einander. Es lässt sich aber nicht sagen, wann sie sich kennengelernt haben und wie ihr Verhältnis zueinander gewesen ist. Denn es ist kein Briefwechsel zwischen ihnen überliefert. Ebensowenig sind mir andere Dokumente bekannt, die Aufschluss darüber geben könnten. Im gedruckt vorliegenden Briefwechsel von Droysen wird Trendelenburg laut Register viermal genannt.251 Leider geht aus diesen Erwähnungen nicht viel mehr hervor, als dass man einander kannte und zwar spätestens seit dem 10. April 1838.252 _____________ 246 247 248 249 250 251 252
Hartung (2008), 326 f. Ebd. sowie Höffe (1999), 301. Eucken (1872a), 20 und 21, Zitat 24. Dieses und das vorherige Zitat ebd. 28. Dieses und die vorherigen Zitate ebd. 35. Vgl. ferner Eucken (1872b). BW I, 155, 348, 364; BW II, 577. Vgl. den Brief von Gregor Wilhelm Nitzsch (1790–1861), Professor für Klassische Philologie in Kiel, an Droysen: »Seit ich vor Ostern 1838 Sie mit Professor Trendelenburg am Festtage Ihrer ersten Va-
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Als Studenten der Berliner Universität sind sie sich wegen des zwischen ihnen bestehenden Altersunterschiedes noch nicht begegnet. Trendelenburg hat mit dem Wintersemester 1825/26 sein Studium beendet und ist aus Boeckhs Seminar ausgeschieden. Droysen hat sein Studium erst im darauffolgenden Sommersemester 1826 begonnen, und bevor er Mitglied in Boeckhs philologischem Seminar wurde, verging ein weiteres Jahr. In den Jahren 1833 bis zu Droysens Weggang nach Kiel im Frühjahr 1840 haben beide an der Berliner Universität gelehrt und haben sich während dieser Zeit kennengelernt, wie aus dem oben erwähnten Brief hervorgeht. Dann ist Droysen genau dorthin gegangen, wo Trendelenburg herstammte, nach Schleswig-Holstein, und hat dort Freund- und Bekanntschaften mit Menschen geschlossen, die auch Trendelenburg nahestanden. Seit Droysens Kieler Zeit gehörten z. B. die Brüder Wilhelm und Georg Beseler, Justus Olshausen und dessen Familie sowie Christian Petersen zu ihren gemeinsamen Bekannten. Durch seine zweite Eheschließung im Juni 1849 ist Droysen sogar in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu Trendelenburg getreten, da seine zweite Ehefrau Emma Droysen, geb. Michaelis (1829–1881), eine Großnichte von Adolf Trendelenburg war.253 Dadurch, dass Droysen zum Wintersemester 1859/1860 dem Ruf an die Berliner Universität gefolgt ist, waren beide wieder Universitätskollegen (bis zu Trendelenburgs Tod im Jahre 1872). Inwieweit sie sich auch in der »Gesetzlosen Gesellschaft«, deren Mitglieder sie beide waren, begegnet sind, müsste man prüfen. Fakt dagegen ist, dass beide zu den 14 Gründungsmitgliedern der von Moritz August von Bethmann Hollweg initiierten »Mittwochsgesellschaft«254 gehörten, die am 19. Januar 1863 das erste Mal zusammen getreten ist. Der Zweck dieses aus wissenschaftlich bedeutenden Männern bestehenden Zirkels bestand im freien Austausch wissenschaftlicher Gedanken. Man versammelte sich alle 14 Tage am Mittwochabend bei einem der Mitglieder, um den Vortrag eines der anderen Mitglieder zu hören. Droysen gehörte dem Zirkel nur ein reichliches Jahr an (bis zum 1. Mai 1864) und hielt während dieser Zeit auch nur einen Vortrag »Zur Politik des Großen Kurfürsten zwischen 1640 und 1670« (am 27. Januar 1864). Trendelenburg dagegen blieb der Mittwochsgesellschaft bis zum 2. Januar 1870 treu und hielt während dieser Zeit insgesamt sechs Vorträge, die (bis auf einen) alle der antiken Philosophie gewidmet waren.255 In der Mittwochsgesell_____________ terfreude begrüßte, verehrtester Herr Professor, bin ich oft in Gedanken bei Ihnen gewesen« (Kiel, 31.10.1839; BW I, 155). 253 Emma Droysens Großmutter mütterlicherseits, Juliane Jahn, geb. Trendelenburg (1776–1852), war eine Cousine von Trendelenburgs Vater, dem Eutiner Postmeister Friedrich Wilhelm Trendelenburg (1761–1835). Demzufolge war Adolf Trendelenburg der Großcousin von Emma Droysens Mutter Julie Michaelis (1806–1892), die in Kiel einen »Musenhof« geführt hat. Später hat dann Adolf Trendelenburgs vierte Tochter Minna (1842–1924) Emma Droysens jüngeren Bruder, den Archäologen Adolf Michaelis (1835–1910) geheiratet. Das lässt darauf schließen, dass beide Familien nach wie vor im Kontakt miteinander gestanden haben. Die Hochzeit hat erst im Dezember 1874, also zwei Jahre nach Trendelenburgs Tod, stattgefunden. Vgl. Michaelis (1988), Stammbäume. 254 Vgl. zum Folgenden Besier (1990), 51–54, 309, 311 und 314–319. 255 Trendelenburg hielt in der Mittwochsgesellschaft Vorträge zu folgenden Themen: Die eigentümlich aristotelischen Grundgedanken in Aristotelesʼ Politik (in der 7. Sitzung am 08.04.1863), Die Grundzü-
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
schaft sind sie sich also ebenfalls begegnet, wenn auch nur in dem einen Jahr von Droysens Mitgliedschaft. Als Droysen dann im Juni 1867 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden ist, hat Trendelenburg in seiner Funktion als Sekretar der philosophisch-historischen Klasse diesen in einer kurzen, gut über Droysens Werke informierten und ausgesprochen freundlichen Rede willkommen geheißen.256 Beider Mitgliedschaft in der Königlichen Wissenschaftlichen Prüfungskommission (deren Aufgabe darin bestand, alle angehenden preußischen Gymnasiallehrer auf ihre wissenschaftliche Befähigung hin zu prüfen) war wiederum zeitversetzt. Denn Trendelenburg war deren Mitglied von 1835 bis 1867. Von 1847 bis 1860 (außer in den Jahren 1849 und 1850) war er sogar ihr Vorsitzender. Droysen hingegen ist erst nach Trendelenburgs Tod Mitglied der Wissenschaftlichen Prüfungskommission geworden (von 1877 bis 1884). Nun lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren, inwieweit Droysen Trendelenburgs wissenschaftliche Publikationen und dessen philosophische Ansichten wahrgenommen oder gar rezipiert hat. Es spricht aber vieles dafür, dass er, schon aufgrund seiner Zeitgenossenschaft und der oben aufgeführten realen Berührungspunkte, nicht umhin gekommen ist, diese wenigstens grob zu registrieren. Auch wenn ihre Mitgliedschaft in Boeckhs Seminar zeitversetzt gewesen ist, so vereint sie dennoch, dass sie beide die boeckhsche Schule durchlaufen haben. Ferner verkehrten sie – beruflich und familiär bedingt – in denselben Kreisen und hatten gemeinsame Freunde. Beide haben sie ihre jeweilige wissenschaftliche Position auf ihr (gelebtes protestantisches) Christentum zurück bezogen257 und ihre Preußen-Begeisterung geteilt.258 Und sie hatten höchstwahrscheinlich (über Wilhelm Dilthey hinaus weitere) gemeinsame Schüler. _____________ ge von Wilhelm Fischbeins Physiognomik (23. Sitzung am 16.11.1864), Erklärung einer Stelle aus Platons Phaidon (nach Schleiermachers Übersetzung p. 96), in welcher Sokrates an der Lehre des Anaxagoras eine geistreiche Kritik übt (39. Sitzung am 13.12.1865), Der Eindruck des Sokrates auf die Menschheit und seine Wirkung im Leben der Wissenschaft (55. Sitzung am 20.02.1867), Von Aristoteles stammende Termini unserer heutigen Sprache (77. Sitzung am 20.01.1869); vgl. Besier (1990), 314–319. 256 Vgl. Trendelenburg (1868), 403–407. 257 Trendelenburg vertritt ebenfalls eine theistische Position, wenn auch nicht so vordergründig wie Heinrich Ritter. So schreibt er gleich zu Beginn der Logischen Untersuchungen (Trendelenburg [1870], Bd. 1, 2) in großer gedanklicher Nähe zu Droysen: »Es bleibt immer der Trieb alles menschlichen Erkennens darauf gerichtet, das Wunder der göttlichen Schöpfung durch ein nachschaffendes Denken zu lösen.« Gegen Ende hin formuliert er: »Nur im Begriff des Ganzen beruhigt sich die rastlose Bewegung des Geistes. Die unbedingte Einheit ist in dem Vorgange des Erkennens […] die stillschweigende Voraussetzung. […] Dies Unbedingte, das die Einheit des Ganzen trägt, nennt die philosophische Abstraktion das Absolute, der lebendigere Glaube nennt es Gott. In dem Absoluten allein befestigt sich das Relative, in dem Unbedingten gewinnt das Bedingte Halt und Bedeutung, in Gott die Schöpfung Einheit und Ende.« Und vgl. Trendelenburg (1870), Bd. 2, 461: »Die Vorstellung Gottes ist in irgend einer Gestalt vor der Wissenschaft da, hingegen ist der Begriff des Unbedingten von der Wissenschaft erzeugt.« 258 Trendelenburg soll bereits als 25-Jähriger geäußert haben: »Wer Preußens fortschreitende Entwickelung beobachtet, wer Preußens weltgeschichtlichen Standpunkt als der vordenkenden Macht des protestantischen freieren Nordens ahndet, muß Preußen lieb haben.« Das teilt Hartwig Beseler mit, allerdings ohne eine Quelle anzugeben; vgl. dessen Nachwort in: Michaelis (1988), XVIII.
Aristoteles-Rezeption vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 71
1.3.10 Die Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG) An der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde auch nach dem Abschluss der Aristoteles-Ausgabe (mit dem 1870 erschienenen fünften und letzten Band) die philologische Arbeit an der Überlieferung zur aristotelischen Philosophie fortgesetzt. Denn 1874 fasste die Akademie auf Antrag des Philologen Hermann Bonitz (1814–1888) und des Philosophen Eduard Zeller (1814–1908), der 1872 als Trendelenburgs Nachfolger nach Berlin berufen worden war, den Beschluss: »eine neue, auf genauer Vergleichung der Handschriften beruhende Ausgabe der griechischen Commentatoren zu den Aristotelischen Schriften zu veranstalten«.259 Das bedeutet, dass Aristoteles über dieses Projekt weiterhin in der Berliner Akademie der Wissenschaften präsent geblieben ist – und zwar zu einer Zeit, in der dann mittlerweile auch Droysen Akademie-Mitglied geworden war. Hier bedarf es noch eines Wortes zu Eduard Zeller, den Droysen schon lange vor seiner Berufung nach Berlin persönlich kennengelernt hatte. Zeller, der ursprünglich in Tübingen Theologie studiert hat, wo er besonders von Ferdinand Christian Baur (1792–1860) beeinflusst worden ist, wird heute vor allem aufgrund seines mehrbändigen, wiederholt aufgelegten philosophiehistorischen Werkes Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung erinnert, das auch eine umfangreiche Darstellung der aristotelischen Philosophie enthält.260 Droysen und Zeller hatten sich Anfang Oktober 1845 in Darmstadt auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner kennengelernt.261 Seit dieser Zeit schätzte Droysen Zeller und versuchte daher wiederholt, ihn in seine Nähe zu holen, und pflegte, als sie dann seit 1872 beide in Berlin lehrten, einen freundschaftlichen Umgang mit ihm.262 Allerdings gründete Droysens Wertschätzung nicht auf Zellers philosophiehistorischen Leistungen, sondern auf einer Übereinstimmung ihrer weltanschaulich-politischen Ansichten. Ich halte es daher eher für unwahrscheinlich, dass er Zellers Publikationen zu Aristoteles zur Kenntnis genommen hat – auch wenn er sie vielleicht besessen hat. Die Leitung des neuen Akademie-Vorhabens der Erarbeitung einer textkritischen Edition der antiken und spätantiken griechischen Aristoteles-Kommentatoren wurde einer Kommission, zunächst bestehend aus Hermann Bonitz, Johannes Vahlen und Eduard Zeller, übertragen. 1876 wurde Adolf Torstrik (1821–1877) Redakteur dieses _____________ 259 Vgl. hierzu Harnack (1900), Bd. 1.2, 1031 ff., Zitat 1032. 260 Vgl. Zeller (1846), 362–559, sowie (1862), 1–639, und (1879), 1–805. In der ersten Auflage hat die Aristoteles-Darstellung knapp 200 Seiten umfasst, in der zweiten Auflage ist sie dann auf 639 Seiten und und in der dritten sogar auf 805 Seiten angewachsen. 261 Vgl. Droysens Brief an seinen Studienfreund Albert Heydemann vom 26.12.1845; BW I, 320. Dort berichtet er: »Niemand war mir interessanter als Dr. Zeller, der Philosoph aus Tübingen: ich konnte da einen Blick in die schwäbischen Gelehrten- und Philosophenverhältnisse hinein tun, der mir unerwartete Beziehungen erschloß.« Schon in einem Brief an Max Duncker vom Januar 1845 hatte sich Droysen positiv über die Tübinger Schule geäußert und in diesem Zusammenhang auch Zeller namentlich genannt; vgl. BW I, 305. 262 Vgl. BW II, 375, 754 und 954.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
Unternehmens.263 Nach dessen frühen Tod übernahm Hermann Diels (1848– 1922)264 diese Aufgabe. Die von Diels und seinen Mitarbeitern in der Folge erarbeitete Edition der Commentaria in Aristotelem Graeca. Edita consilio et auctoritate Academiae litterarum Regiae Borussicae erschien zwischen 1882 und 1909 und umfasst 23 Bände (aufgeteilt auf 51 Teilbände). Parallel dazu erschien noch das Supplementum Aristotelicum (1885–1903, 3 Bände in 6 Teilbänden), »eine Sammlung wichtiger, bisher unbekannter oder ungenügend edirter Schriften von Aristotelikern oder alten Benutzern des Aristoteles«.265 In diesem Kontext wären ferner auch die durch die Arbeit an den CAG angeregten oder die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Studien und Editionen zu berücksichtigen.266 1.3.11 Die aristotelische Philosophie als Lehrgegenstand an deutschsprachigen Universitäten Ausgesprochen aufschlussreich hinsichtlich der Präsenz des Aristoteles im 19. Jahrhundert sind ferner die Ergebnisse einer von Ulrich Johannes Schneider im Rahmen seiner Studie über den Prozess der Institutionalisierung der Universitätsphilosophie im 19. Jahrhundert vorgenommenen Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse deutschsprachiger Universitäten. Denn die Regelmäßigkeit, mit der bestimmte Themenkomplexe laut Angabe der Vorlesungsverzeichnisse behandelt worden sind, berechtige dazu, so Schneider, von einem »Themenkanon der akademischen Philosophie« im 19. Jahrhundert zu sprechen.267 Und den zu rekonstruieren, unternimmt er dann anhand einer Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse aus dem besagten Zeitraum. Dabei gelangte er zu folgendem Ergebnis: Zu den regelmäßig wiederkehrenden Themenkomplexen gehörten auch Lehrveranstaltungen zu einzelnen Philoso-
_____________ 263 Vgl. das Biogramm zu Torstrik auf den Seiten der CAGB: https://cagb-db.bbaw.de/ register/personen.xql?id=cagb:Torstrik.Adolf, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. Torstrik hatte 1862 eine neue (Trendelenburg gewidmete) Edition von De anima vorgelegt (Aristotelis De anima libri III. Recensuit Adolfus Torstrik, Berlin 1862). »Das Werk eines großartigen Kritikers, bewundernswert ebenso durch Knappheit wie durch unversiegliche Erfindung in der Behandlung schwieriger Stellen.«; Theiler 1983, 83. 264 Vgl. zu Diels das von Wilt Aden Schröder erstellte Biogramm ebd.: http://cagb-db.bbaw.de/register/personen.xql?id=cagb:Diels.Hermann, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 265 Harnack (1900), Bd. 1.2, 1033. Eine Übersicht über die einzelnen Bände findet man auf den Seiten der CAGB: https://cagb-db.bbaw.de/vorhaben/index.xql?id=cag-editoren, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. Eine Übersicht, die auch das Supplementum mit umfasst und mit Links zu den jeweiligen Digitalisaten versehen ist, findet man bei Wikisource: https://de.wikisource.org/wiki/Commentaria_in_Aristotelem_Graeca, zuletzt aufgerufen am 10.12.2017. 266 Wie z. B. Diels (1882a) sowie die von Bonitz bereits im Vorlauf erarbeitete und 1847 erschienene Edition des Kommentars von Alexander von Aphrodisias zur Metaphysik. 267 Schneider (1999), 81.
Weiterführende methodische Überlegungen
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phen. »Die Erfassung der zwischen 1820/21 und 1855/56 am häufigsten behandelten Philosophen zeigt« nun, dass Aristoteles an deren Spitze steht, gefolgt von Hegel, Platon und Kant.268 Aristoteles ist, aufs ganze Jahrhundert gesehen, der am meisten behandelte Philosoph; in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nimmt er nach Kant die zweite Stelle ein (noch vor Platon) […].269
1.4 Weiterführende methodische Überlegungen Die oben praktizierte Herangehensweise, das Phänomen der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert mittels einer (weitestgehend) chronologischen Auflistung und Problematisierung der Personen, die sich besonders um das Werk des Aristoteles verdient gemacht haben, zu rekonstruieren, ist natürlich nur zum Teil befriedigend. Auf diesem Wege konnten schlaglichtartig nur bestimmte Ausschnitte beleuchtet werden und der Vorwurf der Beliebigkeit und Unausgewogenheit kann nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden. Denn der Komplexität dieses Phänomens, das durch ganz unterschiedliche Motivations- und Interessenskonstellationen gespeist worden ist, die ein Netz haben entstehen lassen, ist auf diesem Wege nicht gerecht zu werden. Um die vielfältige »Linienführung der Wirkungsgeschichte aristotelischer Philosophie im 19. Jh.«270 umfassend zu erforschen, bedürfte es eines kollektiven Forschungsprojektes. Dieses ist seit langem konzipiert, konnte aber bisher nicht institutionell etabliert werden. Die im Folgenden (in Anlehnung an die Vorgehensweise von Ulrich Johannes Schneider in seiner Studie über die deutsche Universitätsphilosophie) geäußerten Überlegungen verstehen sich als Ergänzung zu dem und Differenzierung des bereits von Gerald Hartung im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft »Aristotelische Forschungen im 19. Jahrhundert«271 Angedachten, wie das Phänomen der AristotelesRenaissance in den Blick zu nehmen wäre. Fragt man danach, wie sich die Rezeption eines Philosophen, in diesem Falle die des Aristoteles, äußert, so ist das meines Erachtens im 19. Jahrhundert an den folgenden Kriterien festzumachen. Die Rezeption eines Philosophen äußert sich in:
_____________ 268 Ebd. 111–113, Zitat 112. 269 Ebd. 113. Vgl. ferner die tabellarische Übersicht zu den Lehrveranstaltungen über einzelne Philosophen an deutschen Universitäten zwischen 1820/21 und 1855/56 (ebd. 111). 270 Hartung (2011), 450. 271 Es handelt sich hierbei um eine bereits 2006 etablierte Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Gesellschaft für antike Philosophie e.V. Das Positionspapier von Gerald Hartung findet man auf der Webseite der GANPH unter: http://ganph.de/arbeitsgemeinschaften/aristoteles-in-der-moderne/profil-und-ziele, zuletzt aufgerufen am 3.1.2018.
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Versuch einer historischen Kontextualisierung
der Erarbeitung von Werkausgaben,272 die das Gesamtwerk umfassen, aber darüber hinaus natürlich auch in der Erarbeitung von Ausgaben einzelner Schriften, – der Erarbeitung von Kommentaren,273 – Übersetzungen in einzelne Nationalsprachen,274 – wissenschaftlichen Monographien, Aufsätzen oder Akademieabhandlungen (die wiederum entweder eine historische oder eine sachliche Fragestellung verfolgen können; hier sind, was Aristoteles betrifft, die Grenzen zwischen Philologie und Philosophie oft fließend), – Darstellungen in der (deutschsprachigen) Philosophiegeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, – Artikeln in Nachschlagewerken (und Lehrbüchern)275. Das alles spiegelt sich dann wiederum in zeitgenössischen Rezensionen wider, so dass man auch diese in die Untersuchung mit einbeziehen müsste. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob und inwieweit an wissenschaftlichen Akademien ein Zuwachs an Preisaufgaben zur aristotelischen Themen zu verzeichnen ist. Ferner äußert sich die Rezeption eines Philosophen auch in der Tatsache, dass seine Werke Lehrinhalt an der Universität werden, wie die Studie von Ulrich Johannes Schneider gezeigt hat. Da das aristotelische Werk sehr breitgefächert ist, wäre es zudem sinnvoll, die Rezeption einzelner Werke oder Werkgruppen getrennt nachzuzeichnen, weil diese in ganz verschiedenen, zum Teil gänzlich voneinander unabhängigen Kontexten (sei es in der
– –
_____________ 272 »Die Idee einer Werkausgabe ist immer von der Absicht der Vergegenwärtigung getragen, von dem Wunsch, ein Vergessen oder Verkennen aufzuheben oder zu korrigieren.« – wie Schneider mit Blick auf Spinoza hervorhebt; Schneider (1999), 259. Das Gleiche gilt natürlich für Aristoteles. Erstaunlicherweise gibt es keine Untersuchung, die dieses Problem einmal insgesamt im Falle des Aristoteles für das 19. Jahrhundert beleuchten würde. 273 Und zwar von Kommentaren im eigentlichen, d. h. im engeren Sinne. Denn natürlich könnte man auch alle anderen, im Folgenden noch zu nennenden, Kategorien als eine Art Kommentar zum Werk des Aristoteles begreifen. Was hier nicht geschehen soll, wobei auch hier gilt, dass die Grenzen letzten Endes fließend sind. 274 Diese sind zum Teil in der älteren Literatur verzeichnet. Vgl. z. B. Hoffmann (1838), 348–358, der auch die bis dato vorliegenden Übersetzungen aristotelischer Werke in die europäischen Nationalsprachen verzeichnet, oder Rhode (1967). Es gibt aber keine aktuelle Übersicht. Eine solche zu erstellen, wurde im Rahmen des Teilprojektes B 7 »Übersetzung der Antike« am SFB 644 »Transformationen der Antike« (2005–2012) in Form einer Datenbank begonnen. Die Arbeit daran wurde von Josefine Kitzbichler fortgeführt, so dass diese unter dem Titel Deukalion. Datenbank zur Dokumentation von deutschsprachigen Übersetzungen griechischer und lateinischer Literatur der Antike ab ca. 1800 demnächst freigeschaltet werden kann. 275 Die beiden letztgenannten Punkte könnte man in gewisser Weise auch als Sonderfälle des Vorherigen interpretieren, denn wenn man z. B. Ritters Aristoteles-Darstellung von 340 Seiten im Kontext seiner Philosophiegeschichte nimmt, so hat diese den Umfang einer eigenständigen Monographie. Und jede Darstellung eines Philosophen im Kontext einer Philosophiegeschichte ist natürlich zugleich eine Interpretation seines Werkes. Dennoch macht es Sinn, diese Unterscheidung zu treffen. Denn eine Kanon-Aufstellung geschieht vorrangig über Überblicksdarstellungen, Nachschlagewerke und Lehrbücher. Ferner lassen sich innerhalb der Grenzen eines Genres besser Vergleiche zu vorherigen oder nachfolgenden Zeiten anstellen oder auch zu anderen Philosophen. Das Genre begrenzt den Untersuchungsrahmen auf eine sinnvolle Weise.
Fazit
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Biologie, der Ethik, der Logik oder der Ästhetik) stattgefunden hat. Parallel zu dem bisher Angeführten müsste man natürlich auch die wichtigsten Protagonisten in den Blick nehmen und den Vorgang aus ihrer Perspektive rekonstruieren. Und insgesamt bedürfte es einer Vergleichsgröße. Das ist zum einen natürlich die vorhergehende Zeit, zum anderen müsste man die Aristoteles-Rezeption mit der eines anderen Philosophen, wie z. B. der Platons kontrastieren, um das Spezifische ersterer herausarbeiten zu können.
1.5 Fazit Durch die obige Darstellung sollte dennoch deutlich geworden sein, dass sich die große Präsenz der aristotelischen Philosophie im philosophischen Diskurs, aber auch in den geisteswissenschaftlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts nicht leugnen lässt.276 Besonders wichtige Impulsgeber für die Neubelebung der aristotelischen Studien waren, je auf ihre Weise, Hegel und Schleiermacher. Hegel hat dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit wieder auf Aristoteles zu lenken, indem er aristotelische Positionen als ernst zu nehmende und überdenkenswerte Argumente in den philosophischen Diskurs eingespeist hat. Und Schleiermacher hat durch seinen vehementen Einsatz für das Zustandekommen, die Fortführung und Fertigstellung der historisch-kritischen Edition des Corpus Aristotelicum ebenfalls dafür gesorgt, dass Aristoteles wieder in den Fokus des philosophischen, aber vor allem auch des philologischen Interesses gerückt ist. In der nächsten Generation war es dann allen voran Trendelenburg, der als besonderer Multiplikator der Aristoteles-Renaissance eine herausragende Rolle gespielt hat. Ein, wenn nicht vielleicht sogar der bedeutendste, Brennpunkt aristotelischer Studien im 19. Jahrhundert war Berlin, denn alle drei oben genannten Protagonisten haben in Berlin gewirkt, und es war die Berliner Akademie der Wissenschaften, an der die große Werkausgabe und die Edition der CAG erarbeitet worden sind. Zugleich war Berlin die Stadt, in der Droysen ab dem Sommersemester 1826 seine akademische Sozialisation erfahren hat. Es lässt sich zwar keine direkte Beeinflussung Droysens nachweisen, aber es spricht vieles dafür, dass Hegels Wertschätzung der aristotelischen Philosophie auch auf Droysen abgefärbt hat. Weitere Details wird die folgende Untersuchung zu Tage fördern.
_____________ 276 Es wurde zur Bezeichnung des Phänomens der Aristoteles-Renaissance im 19. Jahrhundert auch gelegentlich der Begriff des »Neoaristotelismus« ins Spiel gebracht, den ich nicht verwende, da Gutschker und Hartung den Begriff meines Erachtens zu Recht als untauglich verwerfen. Vgl. Gutschker (2002), 8, und Hartung (2006a), 290: Der Begriff Neoaristotelismus »ist in den ideologischen Streitigkeiten des zurückliegenden Jahrhunderts entstanden, hat dort in polemischer Absicht durchaus seine Funktion gehabt, ist aber für eine detaillierte Analyse der Aristoteles-Rezeption im 19. Jh. irreführend«.
2. Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre 2.1 Die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre Dieses Kapitel verfolgt zwei Ziele: Erstens dem mit den aristotelischen Texten nicht so vertrauten Leser das notwendige Hintergrundwissen an die Hand zu geben (der Aristoteles-Kundige kann es somit überspringen) und zweitens herauszuarbeiten, welche Werke des Corpus Aristotelicum Droysen rezipiert haben muss, damit er zu einer Kenntnis der Vier-Ursachen-Lehre gelangen konnte. Hinter dem Element der aristotelischen Philosophie, das unter der Bezeichnung »Vier-Ursachen-Lehre« in die philosophische Tradition eingegangenen ist, verbirgt sich die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung von vier αἴτια (Gründen, Ursachen) beziehungsweise ἀρχαί (Anfängen, Prinzipien), die er an drei Stellen in seinem Werk ausführlicher erläutert; und zwar in der Physik und in der Metaphysik.1 Die einschlägige Passage in der Metaphysik ist bis auf minimale, nicht ins Gewicht fallende Abweichungen mit der in der Physik identisch. Da Aristoteles an anderer Stelle in der Metaphysik2 auf die Erörterung der vier Ursachen in der Physik verweist, ist davon auszugehen, dass es sich bei der Physik um den früheren Text handelt.3 Die Bezeichnung Vier-Ursachen-Lehre ist insofern irreführend, als es Aristoteles hierbei nicht um die Beschreibung kausaler Zusammenhänge geht, wie der Begriff »Ursache« nahelegt.4 Sondern der Kontext, in dem Aristoteles die Unterscheidung von vier αἴτια beziehungsweise ἀρχαί einführt, ist sowohl in der Physik als auch in Buch I der Metaphysik ein epistemologischer. Aristoteles geht es um das Problem der Generierung von Wissen: Wie kann ich überhaupt wissen, dass ich etwas weiß? Das heißt, es geht ihm um die Klärung der Frage, welche Kriterien es gibt, anhand derer sich festmachen beziehungsweise nachweisen lässt, dass man über ein verlässliches und belastbares Wissen hinsichtlich einer Sache verfügt.
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Vgl. Phys. II 3, 194b16–195b30; Met. I 3, 983a24–984b22, und V 2, 1013a23–1014a25. Eine gute einführende Darstellung in die Problematik bietet u. a. Andrea Falcon in ihrem Beitrag Aristotle on Causality, der auf den Seiten von The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2012 Edition) online zu finden ist unter: http://plato.stanford.edu/archives/win2012/entries/aristotle-causality, zuletzt aufgerufen am 8.1.2018. Met. I 3, 983a33 f. Das ist auch die in der Aristoteles-Forschung vorherrschende Meinung; vgl. Wagner (1967), 459. Vgl. hierzu die Ausführungen von Detel (2011), 1. Halbband, 311.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
»Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.«5 lautet leitmotivisch der vielzitierte Eingangssatz der aristotelischen Metaphysik, in deren erstem Kapitel Aristoteles eine Differenzierung verschiedener Formen des Wissens vornimmt, um so zur Weisheit (σοφία) – als der obersten Stufe menschlicher Erkenntnis – hinzuführen. Den Ausgangspunkt jeglichen Wissens bildet die Sinneswahrnehmung (αἴσθησις), auf diese folgt die Erinnerung (μνήμη), auf der wiederum die Erfahrung (ἐμπειρία) basiert, gefolgt von Kunst (τέχνη), Wissen (ἐπιστήμη) und Weisheit (σοφία). Aristoteles entwirft somit eine epistemische Stufenleiter, die ihren Ausgang nimmt von der bloßen, aber gleichzeitig notwendigen Kenntnis des Einzelnen, welche Sinneswahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung gewähren, hin zu einem Wissen des Allgemeinen. Wirkliches Wissen von einer Sache haben wir laut Aristoteles erst dann, wenn wir das Warum (διότι) einer Sache erfasst haben,6 also wenn wir ihre Ursachen oder Prinzipien (αἴτια, ἀρχαί) kennen7 und demzufolge unser Wissen begründen können. Der Verweis darauf, dass nur begründetes Wissen wirkliches Wissen ist, hat bei Aristoteles den Charakter einer stereotypen Wendung, da er nicht müde wird, ihn zu wiederholen.8 In Bezug auf die zu Beginn der Metaphysik von Aristoteles entworfene epistemische Stufenleiter bedeutet das, dass derjenige, der nur über Erfahrung (ἐμπειρία) verfügt, über keine Kenntnis der Prinzipien oder Ursachen verfügt, derjenige, der Kunst (τέχνη) und Wissenschaft (ἐπιστήμη) beherrscht, hingegen schon.9 Da Aristoteles die Kenntnis der Ursachen (die einen in die Lage versetzt, eine Sache erklären zu können) als das Kriterium dafür ausmacht, dass wir etwas wissen, stellt er ferner die Frage: Welche und wie viele Ursachen gibt es eigentlich? Und er gelangt zu dem Ergebnis, dass vier grundlegende Typen von Ursachen zu unterscheiden sind, unter die sich alle Einzelfälle subsumieren lassen – weil auf die Frage »Warum ist diese Sache so und nicht anders« vier verschiedene Antworten (beziehungsweise Erklärungen) möglich sind. Denn die Antwort auf eine solche Frage kann insgesamt auf vier verschiedene Gesichtspunkte fokussieren: den Stoff, die Form, den Anfang der Bewegung oder den Zweck der betreffenden Sache. In die Tradition sind diese vier Gesichtspunkte als causa materialis, causa formalis, causa agens und causa finalis eingegangen. In der Physik spricht Aristoteles auch davon, dass die Anzahl der Ursachen dieselbe ist, »wie die der Bedeutungen, die die Frage nach dem Warum anzunehmen vermag«,10 weshalb man statt von Ursachen besser von vier Erklärungsweisen sprechen sollte oder von den vier Aspekten einer Erklärung. Eine Erklärung – so Aristoteles – kann zum einen auf den Stoff, aus dem etwas besteht oder gefertigt wurde, verweisen: Bei diesem Schuh handelt es sich deshalb um _____________ 5 6 7 8 9 10
Met. I 1, 980a21. Met. I 1, 981a28 ff. Met. I 1, 982a1 ff. Vgl. Met. I 1, 981a23–b13; I 3, 983a25 f.; II 1, 993b23 f.; II 2, 994b29 f.; VI 1, 1025b1–7; An. post. I 2, 71b9–16 und 29 ff.; II 11, 94a20–23; Phys. I 1, 184a12 ff.; II 3, 194b17–20. Met. I 1, 981a28–981b12. Phys. II 7, 198a14 ff.
Die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre
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einen Regenstiefel, weil er aus wasserabweisendem Material besteht. Die Erklärung kann aber auch auf die Form fokussieren: Dieser Schuh ist ein Regenstiefel, weil er die Form eines Regenstiefels hat. Oder sie kann das, was die Sache bewirkt oder hervorgebracht hat, in den Blick nehmen: Bei diesem Gegenstand handelt es sich nicht um irgendwelche Rohmaterialien, sondern um einen Regenstiefel, weil die Materialien von einem Arbeiter (mit Hilfe von Maschinen) so zusammengefügt worden sind, dass aus ihnen ein Regenstiefel entstanden ist. Die Erklärung kann aber auch auf den Zweck rekurrieren: Dieser Schuh ist ein Regenstiefel, da er die Funktion erfüllt, vor Nässe zu schützen. Aristoteles verwendet die folgende Begrifflichkeit, wenn er von den vier Ursachen spricht: causa materialis causa formalis causa agens bzw. efficiens causa finalis
Stoff (ὕλη), das Zugrundeliegende (ὑποκείμενον), das, woraus etwas (τὸ ἐξ οὗ) entsteht Form (εἶδος), Gestalt (μορφή), Muster/Urbild (παράδειγμα), Was(-zu-sein-für-etwas)-zu-sein-heißt (τί ἦν εἶναι) Bewegungsanstoß, das, woher der Anfang der Bewegung/ Veränderung kommt (τὸ ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως), das Von-wem (τὸ ὑφ’ οὗ) Zweck/Ziel (τέλος), das Worumwillen (τὸ οὗ ἕνεκα)
Man kann also erstens etwas erklären, indem man auf den Stoff (ὕλη), also auf das, woraus etwas entstanden ist (τὸ ἐξ οὗ), auf das ihm Zugrundeliegende (τὸ ὑποκείμενον) rekurriert. Oder man begründet eine Sache zweitens, indem man auf ihre Form (εἶδος), ihr Muster (παράδειγμα) respektive ihre Gestalt (μορφή) oder, wie Aristoteles auch schreibt, auf das Was(-zu-sein-für-etwas)-zu-sein-heißt11 (τί ἦν εἶναι) verweist. Oder man benennt drittens als Grund dafür, warum etwas so ist, wie es ist, denjenigen oder dasjenige, was eine Sache bewirkt oder hervorgebracht hat, also dasjenige, was die jeweilige Bewegung (Veränderung) ausgelöst hat (τὸ ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως) oder auch das Von-wem (τὸ ὑφ’ οὗ)12 – in dieser Hinsicht ist z. B. der Vater die Ursache des von ihm gezeugten Kindes13. Der vierte Typ ist die Möglichkeit der teleologischen Erklärung, die den Zweck (τέλος) oder das Worumwillen (τὸ οὗ ἕνεκα) benennt. Hinsichtlich der natürlichen Dinge ist es allerdings so, dass die drei letztgenannten Gründe beziehungsweise Erklärungen (Form, Bewegungsursache und Zweck) oft zusammenfallen.14 Droysen greift in der Historik in drei Kontexten auf diese vier von Aristoteles unterschiedenen Erklärungsweisen zurück und macht sie für seine Geschichtstheorie fruchtbar: Zum einen liefern sie ihm das Grundgerüst für seine Verstehenslehre, zum _____________ 11 12 13 14
Vgl. hierzu Weidemann (2005), 595–598, von dem auch die hier zitierte Übersetzung von τί ἦν εἶναι stammt. Diese Begrifflichkeit, die sich bei Aristoteles nicht so häufig findet (vgl. z. B. Met. IV 5, 1010a21, und VII 7, 1032a17 f.), wurde hier eingeführt, da Droysen gerade sie verwendet. Vgl. Historik (L), 30. Phys. II 3, 194b30 f. Vgl. Phys. II 7, 198a24 f.
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anderen und in Korrespondenz zur Verstehenslehre sind sie für Droysens Systematik des Gebiets der historischen Methode konstitutiv und drittens ist ihnen Droysens Unterscheidung von vier Formen der erzählenden Darstellung geschuldet.
2.2 Die vier Teiloperationen des Verstehens Im Mittelpunkt von Droysens Erkenntnisinteresse steht die Geschichte – verbunden mit der Frage nach der Möglichkeit unseres Wissens von vergangenem Geschehen: Wie gelangen wir zu einem verlässlichen Wissen über die Vergangenheit? Droysen unterteilt die Historik in zwei Hauptteile: in die Methodik und die Systematik. In der Systematik problematisiert er den Stoff, also den Gegenstand des Historikers. Das ist die Vergangenheit, oder genauer genommen sind es die in die Gegenwart hineinragenden Überreste der Vergangenheit, also das, was von der Vergangenheit noch im Hier und Jetzt existiert: das »historische Material« beziehungsweise die »Quellen«,15 aufgrund derer allein wir überhaupt eine Kenntnis von vergangenem Geschehen haben können.16 In der Methodik expliziert Droysen die historische Methode, die es ermöglicht, das historische Material, die Quellen, zum Sprechen zu bringen, d. h. sie zu verstehen. Droysen untergliedert die historische Methode in vier Teilschritte: erstens in die Heuristik (das Schärfen der Fragestellung und das Auffinden aussagekräftiger historischer Quellen), zweitens die Kritik (das Überprüfen der tatsächlichen Aussagekraft der gefundenen Quellen), drittens die Interpretation (das Gewinnen einer Aussage aus den, durch die Kritik gereinigten, Quellen) und viertens in die Darstellung (welche auf die Kommunikation des neu gewonnenen Wissens abzielt). Diese Untergliederung impliziert allerdings keine Rangfolge und ist rein theoretischer Natur, da der historische Erkenntnisprozess eine zirkuläre Struktur aufweist, weil sich die einzelnen Operationen von Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung wechselseitig bedingen.17 Trotz deren prinzipiellen Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit bildet die Interpretation (das Verstehen) die Kernoperation der historischen Methode, denn »das
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Im Folgenden werde ich den Begriff »Quelle« im heute üblichen und nicht im Sinne Droysens verwenden. Es sei hier nur auf Droysens eigenwillige Terminologie hingewiesen, die von der damaligen und heute allgemein üblichen abweicht. Als übergeordneten Begriff für die Bezeichnung der Gesamtheit dessen, woraus Kenntnisse über vergangenes Geschehen zu gewinnen sind, verwendet Droysen nicht den Begriff der »Quellen«, sondern den des »historischen Materials«. Den Terminus »Quelle« verwendet Droysen in einer engeren Bedeutung. Er bezeichnet damit das historische Material, das mit der Intention, der Erinnerung zu dienen, verfasst worden ist und demzufolge immer nur Auffassungen von vergangenem Geschehen wiedergibt. Das, was Droysen als »Quellen« bezeichnet, entspricht also dem, was heute üblicherweise als »Tradition« bezeichnet wird; vgl. Brandt (1992), 48 f. Vgl. z. B. Historik (H), 219. Vgl. z. B. Historik (H), 283.
Die vier Teiloperationen des Verstehens
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Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation«, heißt es im Vorlesungsmanuskript.18 Das Verstehen beziehungsweise die Interpretation unterteilt Droysen wiederum in vier (zusammenwirkende) Teiloperationen: erstens die pragmatische Interpretation, zweitens die Interpretation der Bedingungen, drittens die psychologische Interpretation und viertens die Interpretation der Ideen. Das Ziel der pragmatischen Interpretation ist es, zunächst den historischen Sachverlauf zu rekonstruieren, indem der Historiker den »pragmatischen«, d. h. den »inneren Zusammenhang« aus den ihm vorliegenden, von der Kritik verifizierten und geordneten, historischen Quellen herstellt. Auf diese folgt die Interpretation der Bedingungen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass alle (freien) menschlichen Handlungen durch konkrete Umstände, wie z. B. durch geographische und klimatische Gegebenheiten oder den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, bedingt sind. Zu diesen einen Sachverlauf mitbestimmenden Bedingungen zählen auch die Leidenschaften und Motive der handelnden Persönlichkeiten (also deren psychische Konstitution). Diese zu erkennen ist das Ziel der psychologischen Interpretation. Seinen Abschluss findet das Verstehen in der Interpretation der Ideen. Diese zielt darauf ab, die im historischen Geschehen sich verwirklichenden Ideen auszumachen. Der Historiker hat also über eine Rekonstruktion des historischen Sachverlaufs hinaus die diesen bestimmenden und die sich in ihm verwirklichenden transzendenten Triebkräfte zu erkennen. Zusammengefasst lässt sich formulieren: Das Ziel der Interpretation ist es, auf der Basis aussagekräftiger Quellen einen historischen Vorgang unter Berücksichtigung seines konkreten Verlaufs (pragmatische Interpretation), seiner räumlichen, zeitlichen und materiellen Bedingungen (Interpretation der Bedingungen) sowie der Leidenschaften und Motive der Handelnden (psychologische Interpretation) und hinsichtlich der in der Geschichte als wirksam entdeckten Kräfte (Interpretation der Ideen) zu rekonstruieren. Es sind nur zwei Passagen, aus denen explizit hervorgeht, dass es die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre ist, die Droysens Untergliederung des Verstehens in vier verschiedene, sich ergänzende Teiloperationen zu Grunde liegt. Die eine der beiden Passagen findet sich in der ersten Fassung von Droysens Vorlesungsmanuskript von 1857, die Peter Leyh 1977 ediert hat, und zwar relativ zu Beginn, in der »Einleitung«. Die andere Passage steht (in der wahrscheinlich später als das Vorlesungsmanuskript zu datierenden) ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses der Historik von 1857/58, und zwar im Kapitel über die Interpretation. Dort schreibt Droysen: Wie sich im Gehen vereint a. der Mechanismus der schreitenden Glieder, b. die durch den ebenen Boden, die Stufe usw. bedingte Spannung der Muskeln, c. der Wille, welcher den Körper bewegt, d. der Zweck des Wollenden, um deswillen er geht, – so – nach den den vier ἀρχαῖς des Aristoteles – hat die Interpretation zu fragen.19
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Historik (H), 22. Eine ähnliche Formulierung findet sich in den Grundrissen, vgl. Grundriss (1857/58), § 6, 398; Grundriss (1882), § 8, 423. Grundriss (1857/58), § 31, 403. Im Rahmen von Trendelenburgs Erörterung der Bedeutung des Zweckbegriffs findet sich übrigens auch das Beispiel des Gehens. Droysens Formulierung ließe sich daher auch als Kurzzusammenfassung des bei Trendelenburg Ausgeführten lesen. Vgl. Trendelenburg
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
Denkt man diese Passage mit dem oben über Droysens Unterscheidung von vier Formen der Interpretation Dargelegten zusammen, so ergibt sich das folgende Bild. Droysen unterscheidet: Erstens, die auf die Rekonstruktion des Sachverlaufs einer historischen Entwicklung abzielende pragmatische Interpretation, welche in seinem Verständnis, wie jetzt sichtbar geworden ist, den Aspekt der Form (die causa formalis) in den Blick nimmt. Zweitens, die Interpretation der Bedingungen, deren Fokus darauf gerichtet ist, zu erkennen, in welchem Maße die materiell gegebenen Umstände, also der Stoff (die causa materialis), einen historischen Vorgang bestimmt haben. Drittens, die psychologische Interpretation, die Droysen eigentlich als einen Spezialfall der Interpretation der Bedingungen einführt und welche eine Teilerklärung dafür, warum sich ein Vorgang auf diese Weise und nicht anders vollzogen hat, in den Leidenschaften und Motiven der beteiligten Menschen findet. Die psychologische Interpretation fokussiert in Droysens Verständnis das Moment, das eine Bewegung beziehungsweise Entwicklung angestoßen hat, also die Bewegungsursache (die causa agens). Und viertens, die Interpretation der Ideen, hinter der, wie sich nun zeigt, der Gedanke steht, dass die Geschichte einen Sinn haben, dass ihr ein Zweck zu Grunde liegen muss. Erst dann, wenn der Historiker in der Lage ist, diesen Zweck, das Worumwillen (die causa finalis) herauszupräparieren, hat er einen historischen Vorgang vollständig verstanden. Das bedeutet: Die von Droysen konzipierte pragmatische Interpretation zielt auf die Form, die Interpretation der Bedingungen auf den Stoff. Die psychologische Interpretation hingegen nimmt, indem sie nach den Intentionen der Handelnden fragt, die Bewegungsursache und die Interpretation der Ideen den Zweck in den Blick. Somit entspricht die pragmatische Interpretation der auf die Form, die Interpretation der Bedingungen der auf den Stoff und die psychologische Interpretation der auf die Bewegungsursache rekurrierenden Erklärung und die Interpretation der Ideen der teleologischen Erklärung eines Sachverhalts.20 In allen späteren Varianten des Grundrisses hat Droysen dann allerdings den Hinweis auf Aristoteles getilgt, denn dort endet die oben zitierte Passage anstatt mit der Formulierung: »so – nach den den vier ἀρχαῖς des Aristoteles – hat die Interpretation zu fragen« jeweils mit den Worten: »so nach vier Gesichtspunkten vollzieht sich die Interpretation«.21 Darüber, warum Droysen den Hinweis auf Aristoteles später unterlässt, kann man nur spekulieren. Vielleicht fand er seine Konzeption dann so überzeugend, dass er der Meinung war, des Hinweises auf ihre ursprüngliche Inspirationsquelle nicht mehr zu bedürfen. Die zweite Passage, aus der explizit hervorgeht, dass Droysens Verstehenslehre auf der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre basiert, ist in Paragraph sechs der Einleitung _____________
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(1840), Bd. 2, 6 ff. Auf die Logischen Untersuchungen wird noch mehrfach zurück zu kommen sein. Ich werde mich in diesem Kontext dann jeweils auf die erste Auflage beziehen, da Droysen, wenn, diese zur Kenntnis genommen hat. Auf diesen Aspekt der Aristoteles-Rezeption Droysens hat als erster Pandel (1990), 71–78, hingewiesen. Die von Norkus (1994), 52 und 55, vorgenommene Zuordnung ist mir unverständlich geblieben und macht in meinen Augen keinen Sinn. In seinen Augen zielt die pragmatische Interpretation auf den Zweck und die Interpretation der Ideen auf die Form. Historik (H), 339. Diese Stelle entspricht der folgenden im Grundriss (1858), § 31, 15.
Die vier Teiloperationen des Verstehens
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des Vorlesungsmanuskripts von 1857 zu finden. Sie hat allerdings keinen Eingang in den Grundriss der Historik gefunden. Zunächst sei kurz der Kontext, in dem besagte Passage steht, umrissen. Paragraph sechs der Einleitung ist überschrieben: »Die Grenze der historischen Methode«. Er führt geradewegs auf die von Droysen im nächsten Paragraphen eingeführte Unterscheidung von insgesamt drei wissenschaftlichen Methoden hin: der historischen, der physikalischen und spekulativen Methode. Die historische Methode (das Verstehen) ordnet Droysen der Geschichtswissenschaft zu, die physikalische (das Erklären) den Naturwissenschaften und die Spekulation gleichermaßen Philosophie und Theologie. Der Argumentationszusammenhang, in dem Droysen in Paragraph sechs auf die vier Ursachen des Aristoteles zu sprechen kommt, ist der der Abgrenzung der historischen Methode von der naturwissenschaftlichen. Droysen legt dar, dass die historische Methode insofern begrenzt ist, als dass der Historiker den Zusammenhang der historischen Ereignisse nur verstehen, nicht aber (wie der Naturwissenschaftler) erklären kann, denn es lässt sich hinsichtlich der Geschichte nicht nachweisen, dass die Dinge notwendigerweise so und nicht anders geschehen mussten. Der Historiker kann hinsichtlich der Frage, warum eine historische Entwicklung so und nicht anders verlaufen ist, nur versuchen, ihren Verlauf zu verstehen und zwar unter der Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen sie sich vollzogen hat. Zu den Bedingungen gehören einmal »die Summe der stofflichen Bedingungen«22 wie die geographische Lage und das Klima. Diese Bemerkungen zielen unverkennbar auf die von Droysen in der Methodik eingeführte Interpretation der Bedingungen ab. Ferner spielen die persönlichen Motive der Handelnden mit hinein. Letztere Passage verweist auf die psychologische Interpretation. Die beiden eben genannten Aspekte reichen aber nicht aus, so Droysen, um eine historische Entwicklung angemessen verstehen zu können – denn dazu bedürfe es noch einer Kenntnis des Zweckes respektive des Zieles, auf welches das historische Geschehen hinführt. Eine Überlegung, aus der Droysen dann im Endeffekt die Notwendigkeit der Interpretation der Ideen ableitet. Und um das alles zu verdeutlichen, rekurriert Droysen auf Aristoteles: Aristoteles untersucht die vier Prinzipien, ἀρχαί, Kategorien,23 nach denen alles, was durch Ursachen, d. h. nicht durch sich selbst wie die Gottheit, ist,24 betrachtet werden muß. Er
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Historik (H), 29. »Prinzipien, ἀρχαί, Kategorien« – diese Aneinanderreihung, die Droysen hier vornimmt, ist verwirrend, suggeriert sie doch, dass laut Aristoteles die vier Prinzipien (ἀρχαί) zugleich Kategorien (im aristotelischen Sinne) seien, was aber nicht der Fall ist. Auf diese Besonderheit wird unten in Kapitel 2.6 eingegangen, da Droysen in allen drei Fällen, in denen er die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre für seine Theorie fruchtbar macht, die ἀρχαί auch als Kategorien bezeichnet. Die Formulierung »alles, was durch Ursachen, d. h. nicht durch sich selbst wie die Gottheit, ist« ist ebenfalls nicht ganz unproblematisch, da Aristoteles diese Unterscheidung nirgendwo trifft und es näher läge, Droysens Formulierung im Sinne der platonischen Ideenlehre zu interpretieren (wo transzendente Ideen die Ursachen für die in der Welt vorfindlichen Dinge sind) und hier Droysens Rede von Gott als eine theologisierende Interpretation von Platons Idee des Guten als Ursache des Guten in der Welt aufzufassen. Allerdings lässt sich – wenn auch mit einem etwas größeren argumentativen Aufwand – ein Bezug zu Aristoteles herstellen, indem man unterstellt, Droysen habe bei seiner Aussage an folgende Worte aus der Metaphysik gedacht: »Gott gilt allen für eine Ursache und ein Prinzip« (Met. I 2, 983a8 f.), die auch Hegel ([1986], Bd. 19, 150) in seiner Vorlesung zitiert hat, und die-
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre betrachtet wohl das Bild einer Götterstatue für den Tempel.25 In der Seele des Künstlers ist das Bild [also eine Vorstellung von der Form vorhanden, C.H.],26 ehe es war (τὸ τί ἦν εἶναι),27 aber es bedarf des Stoffes (τὸ ὑποκείμενον),28 dem es aufgeprägt werde, und in diesem Stoff liegen Bedingnisse mancher Art für die Form, die in des Künstlers Seele sich gestaltet; seine Konzeption wird eine andere, je nachdem sie in Erz, Marmor, Holz ausgeführt werden soll. Daß beides, der Gedanke [also die Form, C.H.] und der Stoff, zusammenkommen, dazu bedarf es der σύνθεσις [Synthese, C.H.], des Zusammenbringens, und des Zusammenbringers [also eines Bewegungsanstoßes, C.H.], und je nach seiner Art wird auch er mehr oder weniger geschickt, sicher, vollständig sein Werk tun, das ist das, was Aristoteles nennt τὸ ὑφ’ οὗ.29 Die drei entsprechenden Momente für die Geschichte sind nachgewiesen, die stofflichen Bedingungen [die causa materialis, C.H.], das im Naturwüchsigen Präformierte [die causa formalis, C.H.], die menschlichen Tätigkeiten [das, woher der Anfang der Bewegung kommt, die causa agens, C.H.]. Aber der Künstler (das Bewegende) würde die in seinen Gedanken lebende Form einer Statue nicht in dem Stein ausprägen, wenn nicht der Zweck ihn zur Tätigkeit triebe: Es würden die geschichtlichen Dinge als ein Spiel des Zufalls und der Willkür erscheinen, wenn nicht Zweckbestimmungen in ihr [d. h. in der Geschichte, C.H.] erkennbar wären, die sie bewegten: Weder die ursprünglichen Anlagen noch die Bedingungen der Entwicklung noch der gestörte oder ungestörte Verlauf, den diese nehmen, noch die jeweiligen Ergebnisse sind anders zu verstehen, als in dieser Projektion auf eine höhere Zweckbestimmung, der sie bewußt oder unbewußt dienen.30
Die beiden bisher angeführten Passagen zeigen, dass die Hinweise Droysens auf Aristoteles eher versteckt und daher leicht zu überlesen sind. Trotzdem ist es unübersehbar, dass ihm die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre als Inspirationsquelle gedient hat und dass ihm in der frühen Ausarbeitungsphase seiner Theorie der Verweis auf Aristoteles wichtig gewesen ist. Das Aufzeigen des Aristoteles-Bezugs wirft folgende neue Schlaglichter auf Droysens Theorie des Verstehens: Erstens entwickelt Aristoteles, wie eingangs dargelegt, die Vier-Ursachen-Lehre im Kontext der Klärung der Frage nach der Generierung von Wissen. Aristoteles gelangt dabei zu dem Ergebnis: Wir wissen etwas über eine Sache,
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se Worte in oben zitierter Weise interpretiert, oder indem man unterstellt, dass Droysen hier den von Aristoteles in Met. XII postulierten unbewegten Beweger (Gott), der, selbst unbewegt, die Bewegungsursache für alles andere Seiende darstellt, im Sinn gehabt hat. Aristoteles zieht bei seiner Erläuterung der vier Ursachen wiederholt das Beispiel einer Statue heran. Vgl. Met. V 2, 1013a24–1013b26, und Phys. II 3, 195a7 ff. Diese Formulierung hat durch den Assoziationsraum, den sie eröffnet, auch einen leicht platonischen Anklang: Wenn man das Bild als die von der Seele geschaute Idee nimmt. Was(-zu-sein-für-etwas)-zu-sein-heißt – eine der von Aristoteles für die Formursache gebrauchten Bezeichnungen. Das Zugrundeliegende – eine der von Aristoteles für die causa materialis gebrauchten Bezeichnungen. Das Von-wem – das ist eine der von Aristoteles für die Bewegungsursache gebrauchten Bezeichnungen. Historik (L), 29 f.
Der Vorrang der Finalursache vor der Bewegungsursache
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wenn wir ihre Ursachen kennen.31 Wenn Droysen, wie aus den obigen Zitaten sichtbar geworden ist, seine Verstehenslehre in Analogie zur aristotelischen Vier-UrsachenLehre konzipiert, so ist es also durchaus möglich, dass seine dahinter stehende Intention die gewesen ist, das historische Wissen auf diese Weise als begründetes Wissen auszuweisen, wie Pandel hervorhebt.32 Zweitens ergibt sich durch die Herausarbeitung des Aristoteles-Bezugs eine überraschende Nähe zwischen dem Erklären und dem Verstehen einer Sache. Und zwar obwohl Droysen strikt zwischen Erklären und Verstehen unterscheidet und beide als eigenständige Methoden verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zuordnet. Droysens Trennung zwischen Verstehen und Erklären geht an dieser Stelle nicht mehr wirklich auf. Handelt es sich doch, wie oben dargelegt, bei den vier Ursachen des Aristoteles im Grunde genommen um vier Aspekte einer Erklärung.33 Drittens verstärkt Droysens Rekurs auf Aristoteles zum einen seine Argumentation, dass keine der vier Formen der Interpretation für sich stehen kann, da sie sich alle vier (gleichberechtigt) ergänzen, denn erst ihr Zusammenwirken ermöglicht letzten Endes das »Verstehen« eines historischen Vorgangs.34 Gleichzeitig (fünftens) untermauert er damit aber auch, wie im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden soll, den Vorrang der Interpretation der Ideen vor den drei anderen Formen der Interpretation.
2.3 Der Vorrang der Finalursache vor der Bewegungsursache Eine weitere Textpassage aus dem Corpus Aristotelicum, die Droysen zitiert, um die Priorität der teleologischen Erklärung und somit die der Interpretation der Ideen als prima inter pares herauszustellen, stammt aus dem ersten Buch von De partibus animalium. Bei diesem handelt es sich um eine relativ selbständige Abhandlung, die als allgemeine Einleitung in die Zoologie fungiert und deren Bemühungen darauf abzielen, die Zoologie als ein eigenständiges Wissensgebiet zu konstituieren. In ihr setzt sich Aristoteles mit Fragen der Generierung und Systematisierung von Wissen auseinander: Wie ist bei der Erarbeitung eines neuen Wissensgebietes sinnvoll vorzugehen? In dieser Hinsicht, so Aristoteles,35 ist unter anderem auch zu klären, ob man zuerst die Einzelphänomene oder das Warum, also den Grund einer Sache, in den Blick nehmen soll. Das wiederum führt ihn zu dem Problem, dass in diesem Zusammenhang auch zu entscheiden ist,
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Vgl. oben Anm. 7. Pandel (1990), 73. Diesen Aspekt macht Pandel (1990), 81, ebenfalls stark. Historik (H), 465 sowie 30 f.: »Nur aus den Teilen verstehen wir das Ganze, und wieder, erst aus dem Ganzen die Teile.« Vgl. hierzu auch Pandel (1990), 75 f. De part. an. I 1, 639b8 ff.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre da wir mehrere Ursachen im Bereich der natürlichen Entstehung erkennen, nämlich das ›worum-willen‹ und das ›woher der Anfang der Bewegung kommt‹ […] welche Ursache ihrer Natur nach die erste und welche die zweite ist.36
Die Antwort für Aristoteles ist klar, denn er fährt wie folgt fort: Offenbar ist die erste (Ursache) die, die wir das ›warum von etwas‹ nennen. Denn diese ist der Plan [λόγος, C.H.]; der Plan ist aber sowohl im Bereich der künstlichen Produkte des Handwerks als auch im Bereich der Dinge, die von Natur aus bestehen, der Ausgangspunkt.37
Aristoteles argumentiert hier also hinsichtlich der Frage danach, welche der beiden genannten Ursachen bei der Entstehung im Bereich der Natur (aber auch bei den vom Menschen hergestellten Dingen) die Priorität besitzt, für den Vorrang der Zweckursache (τὸ οὗ ἕνεκα) gegenüber dem der Bewegungsursache (τὸ ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως). Der Zweck (der Plan) von einer Sache ist das, was zuerst da ist, was ganz am Anfang steht. Gäbe es die Vorstellung (Zweckursache) von etwas nicht, würde es nicht entstehen. Daher hat immer die finale Erklärung Priorität. Bei der im vorherigen Kapitel analysierten Passage aus der Historik steht unverkennbar die soeben erläuterte aristotelische Argumentation im Hintergrund, auch wenn Droysen dort nicht auf diese verweist.38 Das tut er dafür an anderer Stelle. Denn im Grundriss der Historik schreibt er in den die Systematik einleitenden Paragraphen hinsichtlich jeglicher historischen Entwicklung: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck.«39 In seinem handschriftlichen Grundriss-Entwurf fügt er ein paar Absätze später – unter Rekurs auf die oben problematisierte Passage aus De partibus animalium – hinzu: »Dieser höchste Zweck ist zugleich der Anfang und Ursprung; λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος [dieser ist der Plan, der Plan aber ist der Ausgangspunkt, C.H.].«40 Im ersten Manuskriptdruck zitiert er dann die besagte Stelle aus De partibus animalium etwas ausführlicher und fügt ihr sogar einen Quellennachweis an:
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De part. an. I 1, 639b11–13: Πρὸς δὲ τούτοις, ἐπεὶ πλείους ὁρῶμεν αἰτίας περὶ τὴν γένεσιν τὴν φυσικήν, οἷον τήν τε οὗ ἕνεκα καὶ τὴν ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως, διοριστέον καὶ περὶ τούτων, ποία πρώτη καὶ δευτέρα πέφυκεν. De part. an. I 1, 639b13–16: Φαίνεται δὲ πρώτη, ἣν λέγομεν ἕνεκά τινος· λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δ’ ὁ λόγος ὁμοίως ἔν τε τοῖς κατὰ τέχνην καὶ ἐν τοῖς φύσει συνεστηκόσιν. Historik (HL), 29. Später führt Aristoteles auch in De partibus animalium (I 1, 640a28–34) das – von Droysen in der Historik (H), 29, ebenfalls aufgegriffene – Beispiel der Statue an: »So ist bei den Produkten, die aufgrund von Handwerkskunst entstehen, die Erzeugungsursache in ähnlicher Weise vorher vorhanden, zum Beispiel die Bildhauerkunst (, die vor der Statue dasein muß); diese entsteht nämlich nicht spontan. Die Handwerkskunst ist ja der Plan des Produkts ohne das Material.« Grundriss (1857/58), § 43, 407. Der Satz findet sich auch in allen noch folgenden Grundrissen: Grundriss (1858), § 43, 20; Grundriss (1862), § 43, 11; Grundriss (1868), § 50, 26; Grundriss (1875), § 50, 26; Grundriss (1882), § 46, 435. Grundriss (1857/58), § 46, 407.
Der Vorrang der Finalursache vor der Bewegungsursache
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Dieser höchste Zweck ist zugleich ihr [der Geschichte, C.H.] Anfang und Ursprung: φαίνεται δὲ πρώτη ἀρχὴ ἣν λέγομεν ἕνεκά τινος. λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος. Arist. de part. an. I.1.41
Der eigentliche Gegenstand, auf den sich Aristotelesʼ Argumentation in De partibus animalium bezieht, ist die Entstehung im Bereich der Natur, aber er nimmt in Analogie zu diesen auch die vom Menschen hergestellten Gegenstände mit in den Blick. Droysen hingegen geht es an dieser Stelle um den Anfang und den Ursprung der (menschlichen) Geschichte, also um einen ganz anderen Kontext. Liest man diese Passage aus dem Grundriss unter Berücksichtigung von Droysens Gesamtkonzeption, dann stellt man zudem fest, dass das Aristoteles-Zitat eigentlich überhaupt nicht in Droysens Argumentationsgang passt.42 Bei der Überarbeitung des Grundrisses für die erste Buchhandelsauflage hat Droysen hinsichtlich der ersten oben zitierten Passage eine Veränderung vorgenommen, indem er jetzt schreibt: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck (τὸ ὅθεν ἡ κίνησις).«43 Damit stellt er allerdings seine Leser vor ein nicht befriedigend zu lösendes hermeneutisches Problem. Denn die in Klammern eingefügte griechische Passage, die als Erläuterung seiner Aussage gedacht ist, bietet keinerlei Verständnishilfe, weil sie sich überhaupt nicht auf die hier von Droysen problematisierte Zweckursache bezieht, sondern auf die Bewegungsursache (das Woher der Bewegung). Sind es doch genau die Worte, die Aristoteles verwendet, um die causa agens zu benennen. Da Droysen die griechische Passage auch in den noch folgenden Grundriss-Auflagen abdruckt, ist ihm sein Irrtum offensichtlich nie aufgefallen. Hildegard Astholz dagegen ist diese Unstimmigkeit sehr wohl aufgefallen. Sie versucht sie aber als von Droysen intendiert und sinnhaft auszuweisen.44 Allerdings vermag ich ihrem Gedankengang nicht zu folgen. Man kann eben einem Irrtum, um den es sich hier eindeutig handelt, keinen Sinn unterlegen. Ein anderer Rückschluss scheint mir dagegen angebracht: Die Fehler und Ungenauigkeiten, die Droysen, wie sich noch zeigen wird, beim Verweisen auf oder Zitieren von fremdem Gedankengut wiederholt unterlaufen, legen nahe, dass er in der Regel aus dem Gedächtnis zitiert und seine Zitate auch für den Druck nicht überprüft hat. Dennoch lässt sich festhalten, dass Droysen, indem er explizit auf die aristotelische Argumentation rekurriert, versucht, den Zweckbezug als conditio sine qua non des Verstehens zu erweisen und somit die Priorität der Interpretation der Ideen gegenüber den drei anderen Formen der Interpretation zu untermauern. Im Vorlesungsma_____________ 41
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Grundriss (1858), § 46, 21. Unüblich für Droysens sonstigen Umgang mit Zitaten ist hier der ausführliche Stellennachweis. Dieser bezieht sich auf De part. an. I 1, 639b14 f. In Anlehnung an die bereits oben zitierte Übersetzung von W. Kullmann lautet die von Droysen zitierte Passage: Offenbar ist die erste (Ursache) die, die wir das ›warum von etwas‹ nennen. Denn diese ist der Plan (λόγος), der Plan aber ist der Ausgangspunkt. Vgl. ferner die Zitation der Passage in: Grundriss (1868) und (1875) jeweils § 53, 28. In den Grundrissen von 1862 und dem allerletzten von 1882 ist diese Passage allerdings nicht enthalten. Vgl. hierzu die Ausführungen am Ende von Kapitel 4.5.4 der vorliegenden Arbeit. Grundriss (1868), § 50, 26; Grundriss (1875), § 50, 26; Grundriss (1882), § 46, 435. Astholz (1933), 180 f.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
nuskript im Abschnitt über die »Die Interpretation der Ideen« formuliert Droysen diesen Gedanken ganz explizit: Die »Idee […] ist nach Aristotelesʼ Ausdruck die höchste von den vier Ursachen oder ἀρχαί, τὸ τοῦ[!] ἕνεκα, auch wohl der λόγος, ἡ πρῶτη ἀρχή, ἡ ἀρετή«.45 Aus dieser Passage werden mindestens zwei weitere Dinge deutlich. Erstens, Droysen gebraucht den Begriff »Idee« hier als Synonym für den Begriff »Zweck«. Denn Aristoteles spricht bekanntlich nirgends davon, dass die Idee die höchste Ursache sei, sondern wenn, dann spricht er vom Zweck oder dem Worumwillen. Droysens Formulierung von der Idee als Ursache wäre, wenn man sie wörtlich nähme, eher ein platonischer Gedanke.46 Zweitens scheint es Droysen mit dem Zitieren tatsächlich nicht sonderlich genau zu nehmen, denn die von ihm genannte Reihung von »λόγος, ἡ πρῶτη ἀρχή, ἡ ἀρετή« kommt nirgendwo bei Aristoteles vor. Auch bei dieser Formulierung assoziiert man zuerst die von Platon postulierte Idee des Guten als Ursache des Guten in der Welt.47 Wenn sich auch nicht abstreiten lässt, dass man mittels einiger argumentativer Anstrengung auch diese Reihung als aristotelisch erweisen könnte, da für Aristoteles die Tugend etwas Vollendetes und Anstrebenswertes und somit ein Ziel darstellt. Was bedeutet die Tatsache, dass Droysen mittels eines Rückgriffs auf Aristotelesʼ Ausführungen in De partibus animalium für den Vorrang der Zweckursache argumentiert, für das Verständnis der von ihm entworfenen Theorie? Droysens Argumentation vermittelt den Eindruck, dass die Rekonstruktion vergangenen historischen Geschehens gar nicht das primäre Anliegen des Historikers ist, so dass es dem Historiker nicht um die Beantwortung der Frage geht, wie sich etwas vollzogen hat, sondern darum, warum sich etwas gerade so und nicht anders zugetragen hat. Als das eigentliche Ziel der Interpretation entpuppt sich nun die Identifikation der hinter allem historischen Geschehen stehenden Ideen. Somit stellt sich also heraus, dass die oben von mir _____________ 45 46
47
Historik (L), 201. Die griechische Passage könnte man in etwa wie folgt übersetzen: der logos (Plan), das erste Prinzip/die erste Ursache, die Tugend. Interessanterweise findet sich in der Mitschrift von Hegels Vorlesung über die Geschichte der Philosophie von Georg Wilhelm Heinrich Härung vom Wintersemester 1820/21 folgende Formulierung: »Das Erste das wesentliche Wissen ist die Erkenntniß der Zwecke und dieses ist das Gute, eine Idee, überhaupt das Beste der ganzen Natur; dies ist ganz platonisch.« Vgl. Hegel (2016), Bd. 30.1, 343. Was Hegel tatsächlich gesagt hat oder hat sagen wollen, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In der Edition von Michelet findet sich allerdings Ähnliches. Dort nimmt Hegel (1986), Bd. 19, 152, im Kontext seiner Darstellung der Vier-Ursachen-Lehre (beruhend auf Met. I 3) ebenfalls diesen Kurzschluss zwischen der Zweckursache und dem Guten vor, indem er als vierte Ursache angibt: »das Prinzip des Zwecks oder des Guten«. Darauf folgt eine etwas längere Problematisierung des Zwecks, worauf der Satz fällt: »So ist bei Aristoteles auch das Gute, der Zweck, das Allgemeine die Grundlage, das Substantielle […].« Vgl. Hegel (1986), Bd. 19, 153. Nun kommt Droysens Aussage den Äußerungen Hegels sehr nahe, so dass eine Möglichkeit wäre, dass er hier auf Wissensbestände zurückgreift, die aus der besagten Hegel-Vorlesung stammen. Auf der anderen Seite sind diese bei Droysen wiederholt zu findenden platonisierten Aristoteles-Deutungen kein Einzelfall zu dieser Zeit, da z. B. auch Droysens Lehrer August Boeckh Aristoteles von Platon her kommend interpretiert hat, wie sich noch zeigen wird. Vgl. hierzu die Ausführungen im Abschnitt Altphilologischer Diskurs im Kapitel 5.1.4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Platon, Politeia VII, 517b f.
Die vier Hinsichten der Systematik
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gebrauchte Formulierung, die Interpretation insgesamt ziele auf die Rekonstruktion eines historischen Geschehens, indem sie seine Form (d. h. seinen Verlauf ), seinen Stoff (d. h. seine geographischen und zeitlichen Bedingungen), seinen Bewegungsanfang (d. h. die Intentionen der Handelnden) sowie die zugrundeliegenden Ideen dechiffriert, nicht ganz Droysens Intentionen entspricht. Mit dem Wissen um die im Hintergrund stehende Vier-Ursachen-Lehre und die Priorisierung der Zweckursache lässt sich die Aufgabe der Interpretation demzufolge angemessener wie folgt beschreiben: Der Historiker hat genau genommen die Faktoren (Gründe) zu identifizieren, die den Verlauf eines historischen Geschehens bestimmt haben, um offenlegen zu können, warum sich etwas gerade auf diese Weise und nicht anders zugetragen hat. Es geht ihm also nicht nur darum, eine historische Entwicklung zu rekonstruieren, sondern darüber hinaus darum, zu verstehen, warum sie in der aufgefundenen Weise verlaufen ist. Eine weitere Parallele ist, dass Droysen analog zur aristotelischen Unterstellung von der Zweckmäßigkeit der Natur48 voraussetzt, dass der Geschichte ein Plan zu Grunde liegt. In seinen Augen sind die Ideen (Droysen gebraucht die Begriffe Idee/Ideen, Gedanke, Ziel, Zweck, Plan, Logos synonym)49 die eigentlich wirksamen Kräfte in der Geschichte, sie sind die Faktoren beziehungsweise die conditio sine qua non, ohne welche ein historisches Ereignis nicht stattgefunden hätte. Hat der Historiker »verstanden«, d. h. erkannt, welche Idee, welcher Plan hinter einer bestimmten historischen Entwicklung steht, also welcher Zweck sich in einer bestimmten historischen Entwicklung »verwirklichen« wollte, ist er in der Lage zu sagen, welche Entwicklung beabsichtigt gewesen ist und in welche Richtung es weitergehen sollte. Genau darin sieht Droysen die Hauptaufgabe seines Faches: der Gesellschaft Orientierung für zukünftiges Handeln bieten – wenn nicht sogar darüber hinaus darin, die Politik mit konkreten Handlungsanweisungen zu versehen. Um dieser Aufgabe – zu sagen, wohin der Weg führen soll – nachkommen zu können, muss der Historiker das hinter allem stehende Ziel, d. h. den allem zu Grunde liegenden Logos dechiffrieren.
2.4 Die vier Hinsichten der Systematik Die zweite im vorherigen Kapitel analysierte Stelle aus der Einleitung der Historik lässt sich, wie oben dargelegt, als Keimzelle für Droysens Verstehenslehre lesen. Die Passage verweist aber zugleich auf den zweiten Teil der Vorlesung, auf die Systematik. In dieser problematisiert Droysen den Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft. Das ist die Vergangenheit beziehungsweise »der Kosmos der sittlichen Welt«.50 Da »die sittliche Welt […] in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Konflikten usw.« darstellt,51 bedarf es eines ordnenden Zugriffs, um das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, um ent_____________ 48 49 50 51
Vgl. Phys. II 8. Für weitere Überlegungen zu Droysens Ideenbegriff vgl. Kapitel 4.3 der vorliegenden Arbeit. Grundriss (1882), 435 und Historik (H), 189. Grundriss (1857/58), 406 f.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
scheiden zu können, was Anteil an einer historischen Entwicklung hatte und was nicht. Aus diesem Grund unternimmt Droysen in der Systematik den Versuch, den Objektbereich des Historikers mittels bestimmter Oberbegriffe zu systematisieren: Die Systematik »hat aus dem Wesen der Geschichte die derselben wesentlichen Kategorien zu entwickeln, um ihr Gebiet zu definieren« und eine »geordnete Überschau« desselben zu geben.52 Die von Droysen entworfene Systematik ist also als ein analytisches Instrumentarium gedacht, das den geschichtswissenschaftlichen Gegenstand operationalisierbar machen soll. Bei der Systematik handelt es sich daher weder um eine Zusammenstellung der einzelnen zur Geschichte gehörenden Disziplinen und Arbeitsfelder (wie sie Boeckh in seiner philologischen Encyklopädie53 für die Altertumswissenschaft aufstellt) noch um einen kursorischen universalhistorischen Abriss in chronologischer Perspektive (wie ihn z. B. Friedrich Rehm in seinem Lehrbuch der historischen Propädeutik von 1830 liefert) – zwei Herangehensweisen, von denen sich Droysen explizit abgrenzt54 –, sondern um eine Explikation des Objektbereichs der Geschichtswissenschaft in systematischer Hinsicht. Welches sind nun aber die »Gesichtspunkte«55 beziehungsweise die »Kategorien«,56 unter denen »der Kosmos der sittlichen Welt«, d. h. die »reiche Mannigfaltigkeit«57 der Geschichte, zu betrachten und zu erforschen ist? In der letzten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes formuliert Droysen die Antwort auf diese Frage wie folgt: Der sachliche Inhalt unserer Wissenschaft ist die Arbeit der Menschheit, die die sittliche Welt auferbaut hat. Diese Arbeit gilt es nach ihren wesentlichen Momenten zu betrachten und die verschiedenen Seiten derselben darlegend sie ihrem ganzen Umfang nach zu umschreiben. Wir können füglich die alte aristotelische Vierteilung zugrunde legen, die wenigstens den Vorzug hat, praktisch die möglichen Momente zu erschöpfen. Wir betrachten also die geschichtliche Arbeit: 1. nach den Stoffen, an denen sie formt, 2. nach den Formen, in welchen sie sich gestaltet, 3. nach den Arbeitern, durch welche sie getan wird, 4. nach den Zwecken, die sich in ihrer Bewegung vollziehen.58
Als die für die Betrachtung der geschichtlichen Welt leitenden »Gesichtspunkte« führt Droysen also die vier von Aristoteles unterschiedenen Aspekte einer Erklärung ein: den Stoff, die Form, das Bewegende und den Zweck, und etabliert somit das aristotelische Viererschema als Wissenssystematik für den Objektbereich des Historikers. Dementsprechend untergliedert er die Systematik in vier übergeordnete Kapitel, die überschrieben sind: I. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Stoffen, II. Die geschichtliche _____________ 52 53 54 55 56 57 58
Historik (L), 285. Boeckh (1877). Vgl. Historik (L), 285, aber auch Historik (H), 188. Hier sind es namentlich Rehms und Wilhelm Wachsmuths Vorgehensweisen, von denen Droysen sich abgrenzt. Historik (L), 363 und 407. Historik (L), 285 und 287 f. Historik (L), 363. Historik (H), 193; Hervorhebung von mir, C.H.
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Arbeit nach ihren Formen, III. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Arbeitern, IV. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken.59 Diese Gliederung der Systematik findet man allerdings in der von Peter Leyh edierten frühesten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes noch nicht. Sie ist erst in der kurz darauf entstandenen (Ende 1857 oder Anfang 1858) frühesten (handschriftlichen) Fassung des Grundrisses der Historik zu finden und gibt von da an – in allen weiteren Auflagen des Grundrisses und in der von Rudolf Hübner edierten (letzten) Version des Vorlesungstextes – die Einteilung der Systematik in vier übergeordnete Kapitel vor. In der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes hatte Droysen die Systematik nur in zwei Kapitel gegliedert und diese überschrieben mit: »A. Die sittlichen Mächte« und »B. Der Mensch und die Menschheit«. Dieser Einteilung liegt seine Unterscheidung von zwei Momenten, durch die er die sittliche, d. h. die geschichtliche Welt bis dahin im Wesentlichen konstituiert sah, zu Grunde. Das erste Moment sind die »sittlichen Gemeinsamkeiten«.60 Das zweite und mit dem ersten in Wechselwirkung stehende Moment ist der (einzelne, individuelle, empirische) Mensch beziehungsweise die (Idee der) Menschheit (also das allgemeine Ich). Droysen beschreibt beide Momente als in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehend,61 denn der in eine ganz konkrete historische Situation und sittliche Gemeinsamkeit hineingeborene Mensch wird zunächst in seiner Entwicklung von dieser bestimmt, wirkt aber später verändernd auf diese zurück. Droysen führt hierfür die Metapher des Gewebes an: Die sittlichen Gemeinsamkeiten bilden den »Aufzug des Gewebes«, und die »Persönlichkeit« beziehungsweise »die ihrer Erscheinung zugrunde liegende Idee, die sich als das eigentliche Subjekt der Geschichte ergeben wird«, stellt den »Einschlag« dar.62 Bei den sittlichen Gemeinsamkeiten, die er in Teil A problematisiert, unterscheidet Droysen drei grundsätzliche Typen, die sich wechselseitig bedingen und beeinflussen und die er dann jeweils noch weiter spezifiziert: erstens die »natürlichen Gemeinsamkeiten«, die er in den leiblichen Bedürfnissen des Menschen wurzeln sieht. Zu _____________ 59 60 61 62
Grundriss (1882), 436, 437, 441, 443; Historik (H) 194, 202, 265, 269. Vgl. hierzu das das 3. Kapitel der vorliegenden Arbeit. Vgl. Historik (L), 382 f. (§ 22 Dialektik der Geschichte) sowie 290 f. Historik (L), 289. Die Metapher von Aufzug und Einschlag, die gemeinsam das Gewebe bilden, findet sich auch in der Politik des Aristoteles und in Platons Nomoi, hier allerdings in Bezug auf das Verhältnis, in dem Herrschende und Beherrschte zueinander stehen. Aristoteles kritisiert in Pol. II 6, 1265b18 ff., dass man in Platons Nomoi eine Auskunft darüber vermisse, »wie die Herrschenden sich von den Beherrschten unterscheiden sollen«. Denn Platon sage »nur, wie der Aufzug aus anderer Wolle gemacht sei als der Einschlag, so müßten sich auch die Herrschenden zu den Beherrschten verhalten«. Vgl. hierzu Platon, Nomoi 734e–735a (hier in der Übersetzung von F. D. E. Schleiermacher): »Wie es nun hinsichtlich eines Gewebes oder sonst eines derartigen Geflechtes nicht möglich ist, daß Einschlag und Aufzug aus demselben Faden gefertigt werde, sondern notwendig das zum Aufzug Verwendete durch seine Vorzüglichkeit sich unterscheiden muß – ist es doch stark und hat in seiner Beschaffenheit eine gewisse Festigkeit erlangt, das andere dagegen ist weicher und besitzt eine angemessene Dehnbarkeit: ebenso muß man gewissermaßen in dieser Weise die zur Herrschaft im Staate Bestimmten von denjenigen unterscheiden, die entsprechend jeweils nur durch eine geringe Erziehung erprobt sind«.
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diesen zählt er einmal die Familie, dann Geschlecht und Stamm und ferner »das Volk«. Zweitens unterscheidet er die in der Aktivität des Geistes wurzelnden »idealen Gemeinsamkeiten«.63 Zu diesen gehören: Sprache, Kunst, Wissenschaft und Religion. Zwischen den beiden bereits genannten stehen drittens die »praktischen Gemeinsamkeiten«, bei diesen unterscheidet Droysen »Wirtschaft«, »Recht« und »Staat«. Der B-Teil der Erstfassung der Systematik ist gegenüber dem A-Teil erheblich kürzer. Seine Überschrift »Der Mensch und die Menschheit« lässt eine stringente Behandlung dieser Problematik erwarten. Stattdessen bietet Droysen hier aber eine in sieben Paragraphen unterteilte, recht assoziative Aneinanderreihung verschiedener Themen. Vergleiche hierzu die schematische Darstellung der Gliederung der ersten Fassung der Systematik im Anhang der vorliegenden Untersuchung. Sehr aufschlussreich für Droysens Aristoteles-Rezeption sind allerdings seine Ausführungen im allerletzten Paragraphen.64 Denn dieser enthält eine Passage, die man als Nukleus für die kurz darauf erfolgte Überarbeitung der Gliederung der Systematik, wie sie dann schon in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses (1857/58) zum Tragen kommt, auffassen kann. Diese neue Gliederung lässt sich somit als Konsequenz dessen verstehen, was Droysen in Paragraph 23 darlegt. In den Paragraphen davor hat Droysen, wie oben ausgeführt, nur zwei wesentliche Momente unterschieden (den Menschen und die sittlichen Gemeinsamkeiten, in die dieser hineingeboren wird) und hat vorrangig deren Wechselwirkung problematisiert. In Paragraph 23 entwickelt Droysen dann gegenüber dem zuvor Ausgeführten eine vollkommen neue Auffassung, indem er jetzt vom Menschen als dem »Arbeiter der Geschichte« spricht und sich dabei explizit auf das aristotelische Viererschema bezieht, indem er dem Menschen die Rolle des Bewegungsanfanges zuordnet, der Stoff und Form zusammenbringt und somit etwas Neues schafft. Hier entwirft Droysen anhand der vier Ursachen ein viel komplexeres Gefüge als in den Paragraphen davor. Und in meinen Augen sind es genau diese Überlegungen, die ihn dann veranlasst haben, die Systematik anhand der aristotelischen Vierteilung neu zu gliedern. Relativ zu Beginn von Paragraph 23 schreibt Droysen: Wir haben auch sonst schon mit Aristoteles die vier ἀρχαί oder Ursachen ins Auge gefaßt. Wir wissen, wie zur Statue gehören die ἀρχή des Stoffes, das ὑποκείμενον [das Zugrundeliegende, C.H.], die Möglichkeit, daraus eine Statue zu machen; dann der Gedanke, der sich in dem Stoff ausprägt und der, so sich ausprägend, das wirklich wird, was er an sich war, τὸ τί ἦν εἶναι [Was(-zu-sein-für-etwas)-zu-sein-heißt, also die Form, C.H.], es drängt ihn, ἐν ἔργῳ [in der Wirklichkeit, C.H.]65 zu erscheinen, er ist die Energie. Wir sehen, wie in betreff unserer Aufgabe hier beide ἀρχαί [Stoff und Form, C.H.] bereits besprochen sind. In den Zuständen fanden wir das ὑποκείμενον [das Zugrundeliegende, also den Stoff, C.H.] für den Gedanken, und er wird, indem er sie umformt, in ihnen zur Erscheinung kommen. Auch die dritte ἀρχή haben wir erörtert, es ist der Zweck, der λόγος, der sich erfüllen will; in jenem Beispiel des Kunstwerkes ist es die Herstellung der Statue, des Got-
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Historik (L), 313. Historik (L), 384–393 (§ 23). Wahrscheinlich hatte Droysen hier in etwa im Sinn: Es drängt ihn, sich in die Tat umzusetzen.
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tesbildes in dem Heiligtum. Wir haben den λόγος gefunden, der die Bewegung der Geschichte bestimmt, und wir haben recht getan, diese ἀρχή als die erste zu setzen. Denn der Zweck ist das Erste, ist die πρῶτη ἀρχή [erste Ursache, C.H.].66
Droysens Bemerkung: »und wir haben recht getan, diese ἀρχή [also die causa finalis, C.H.] als die erste zu setzen«67 kann sich nur auf die oben analysierte Passage aus Paragraph sechs der Einleitung des Vorlesungsmanuskriptes68 beziehen. Überhaupt ist eine große gedankliche Nähe dieser zu der hier zitierten Passage zu konstatieren. Es ist der gleiche Kontext, aus dem heraus Droysen an beiden Stellen argumentiert. Nur dass seine Argumentation in der Einleitung sich auf das Verstehen bezieht und darauf hinausläuft, die Wichtigkeit der Zweckursache herauszustellen, wohingegen seine Argumentation hier die Systematik des Gebiets der historischen Methode und die Bewegungsursache im Blick hat, indem sie darauf zielt, die Rolle, die dem Menschen zukommt, zu bestimmen. Weshalb er wie folgt fortfährt: Zum Werden aber des Zweckbegriffs gehört nicht bloß der Stoff, nicht bloß der Gedanke [d. h. die Form, C.H.], sondern noch eine vierte ἀρχή, welche Aristoteles das Bewegende, das Machen, die Synthesis nennt, – der Künstler in jenem Beispiel, der Stoff und Gedanke zueinander vermittelt.69
Die in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses vorgenommene Änderung der Grobgliederung der Systematik zeigt, dass es die eben zitierten Überlegungen gewesen sind, die Droysen allem Anschein nach zu dieser Überarbeitung veranlasst haben. Denn in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses heißt es dann: Die sittliche Welt ist a. nach dem Stoff, an dem sie formt, b. nach den Formen, in welchen sie sich gestaltet, c. nach den Arbeitern, durch welche sie sich auferbaut, d. nach den Zwecken, die sich in ihrer Bewegung vollziehen, geschichtlich zu betrachten.70
Und dieser Maßgabe entspricht dann auch die neue Gliederung der Systematik. Was Droysen allerdings aus der ersten Vorlesungsfassung beibehält und in die neue – an Aristotelesʼ Viererschema orientierte – Gliederung integriert, sind die schon zuvor von ihm unterschiedenen sittlichen Gemeinsamkeiten. Diese und den Menschen ordnet er den neuen Gliederungspunkten von Form- und Bewegungsursache zu. Die Ausführungen zum Stoff und zum Zweck hingegen, die inhaltlich in Droysens erster Konzeption fehlten, sind ganz neu hinzugekommen. Vergleiche hierzu die im Anhang der vorliegenden Untersuchung abgedruckte Gliederung der Systematik ab dem Jahre 1858. Droysen begreift, wie schon gesagt, die Geschichte als »die Arbeit des Menschengeschlechts«,71 d. h. der Mensch (als Bewegungsanfang) gibt dem Stoff, den er vor_____________ 66 67 68 69 70
Historik (L), 385. Vgl. hierzu die Ausführungen zum Vorrang der Finalursache oben in Kapitel 2.3. Historik (L), 385. Ebd. 29. Ebd. 385 f. Grundriss (1857/58), § 47, 407; Hervorhebungen im Original. Alle nachfolgenden Auflagen des Grundrisses enthalten, wenn auch nicht wortgetreu, diesen Satz, so auch der Grundriss (1882), § 49, 436. Das Interessante ist, dass der namentliche Verweis auf Aristoteles allerdings nur im Vorlesungsmanuskript von 1881 zu finden ist; Historik (H), 193.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
findet, eine Form, indem er (mehr oder weniger bewusst) höhere Zwecke beziehungsweise Ideen verfolgt. Als den »Stoff der geschichtlichen Arbeit«, den der Mensch formt, betrachtet Droysen erstens die »Natur« insgesamt, so wie sie der Mensch vorfindet, zweitens den »kreatürlichen Menschen«, drittens die »gewordenen menschlichen Gestaltungen«, d. h. die sittlichen Gemeinsamkeiten, in die der Mensch hineingeboren wird, und viertens die »menschlichen Zwecke« – damit sind die jeweils individuellen Handlungsmotive und Ziele der Menschen gemeint, die sich die Geschichte zu Nutze macht, um ihre Zwecke zu verfolgen. Denn die Zwecke und Ziele, welche die Menschen selbst verfolgen, sind im übergeordneten Kontext der geschichtlichen Arbeit nur Mittel beziehungsweise Stoff zum Zweck.72 »Die Formen, in denen das sittliche Dasein sich verwirklicht, sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, deren Typen (τὸ τί ἦν εἶναι)73 als sittliche Mächte in Herz und Gewissen sind.«74 Die in der Geschichte zu beobachtenden Formen des menschlichen Zusammenlebens sieht Droysen, wie oben angesprochen, aus unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen entspringen, weshalb er drei übergeordnete Gruppen unterscheidet: die natürlichen, die praktischen und die idealen Gemeinsamkeiten. Bei allen Untergruppen der sittlichen Gemeinsamkeiten beziehungsweise sittlichen Mächten handelt es sich um »Formgebungen«75 des Menschen. Den Menschen hatte Droysen in der ersten Fassung der Systematik zunächst über seine Gegenüberstellung zu den sittlichen Gemeinsamkeiten und die Auseinandersetzung mit diesen definiert. Das ändert sich, wie oben dargelegt, mit den Überlegungen Droysens in Paragraph 23.76 Jetzt erhält der Mensch zugleich die Rolle des Vermittlers von Stoff und Form und fungiert von nun an als Bewegungsanfang. Und Droysen bezeichnet ihn von nun an als den »Arbeiter der Geschichte«,77 denn der _____________ 71 72
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Historik (L), 372. Hier greift Droysen unverkennbar auf das hegelsche Motiv von der »List der Vernunft« zurück. Denn Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte bekanntlich gelehrt, dass die Individuen und Völker, indem sie ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen nachgehen und diese zu befriedigen suchen, zugleich für den Weltgeist tätig sind – ohne sich dessen allerdings bewusst zu sein, geschweige denn davon zu wissen. Auf diese Weise sind sie die Mittel und Werkzeuge, derer sich der Weltgeist respektive die Freiheit bedient, um sich in der Geschichte hervorzubringen. Vgl. Hegel (1995), 155–162. Zu Deutsch: Was(-zu-sein-für-etwas)-zu-sein-heißt – das ist eine der von Aristoteles gebrauchten Bezeichnungen für die causa formalis. Grundriss (1857/58), § 49, 408; Grundriss (1858), § 49, 22; Grundriss (1862), § 49, 13; Grundriss (1868) und (1875), jeweils § 60, 29. Die Formulierung ist in allen Grundrissen enthalten. In der letzten Auflage hat Droysen allerdings – warum auch immer – das griechische Zitat (τὸ τί ἦν εἶναι) gestrichen. Vgl. Grundriss (1882), § 30, 437: »Die Formen, in denen die geschichtliche Arbeit sich bewegt, sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, deren Typen als sittliche Mächte in Herz und Gewissen der Menschen sind.« Historik (L), 13. Historik (L), 384–393. Historik (L), 386 ff. Erst hier, im allerletzten Paragraphen (§ 23), führt Droysen diese Bezeichnung ein. Zuvor spricht er immer vom Menschen und der Arbeit des Menschengeschlechts; vgl. Historik (L), 372, 378. In Historik (L), 63, findet sich aber bereits ein Vorausklang, denn dort heißt es hinsichtlich des Geschichtsforschers, dass er sich klarmachen müsse, »daß er im Zusammenhange einer
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Mensch »arbeitet« geschichtlich, indem er Stoff und Form zusammenbringt.78 Trotz dieser Neujustierung hallt der aus Droysens erster Konzeption stammende Dualismus von Mensch und Zuständlichkeiten in allen nachfolgenden Grundriss-Fassungen noch nach, weshalb sich beide Konzeptionen auf eine eigenartige Weise überlagern.79 Der Mensch bewegt aber nur, weil er Zwecke verfolgt. Denn das anvisierte Ziel (telos), der Zweck, ist die eigentliche Ursache jeder Handlung. Die Geschichte bewegt sich in Droysens Augen auf einen letzten Zweck zu, der zugleich der Impuls aller historischen Entwicklung ist. Ohne den »Zweck der Zwecke«, »der alle anderen bewegt, umschließt, treibt, der höchste, der unbedingt bedingende«, gäbe es keine Geschichte, also keine »rastlose und fortschreitende Bewegung der Menschheit«.80 Oder anders formuliert: »Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck.«81 Eine ähnlich ausführliche Erläuterung seiner Anwendung der Vier-UrsachenLehre auf den Gegenstandsbereich der Geschichte, wie sie im letzten Paragraphen in der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes zu finden ist, enthält auch Droysens 1863 in der Historischen Zeitschrift erschienene Rezension82 von Buckles History of civilisation in England (1858/1861) – obwohl Aristoteles nicht namentlich, sondern nur metaphorisch genannt wird. Diese Rezension bildete dann ab 1868 unter dem Titel Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft eine der drei dem Grundriss der Historik angefügten Beilagen. Droysen argumentiert hier gegen die von Buckle vertretene Ansicht, dass die Geschichte, ebenso wie die Naturwissenschaften, festen Gesetzen folge. Und schreibt: Wenn Buckle in der Geschichte die große Arbeit des Menschengeschlechts erkennt, wie konnte er da umhin, sich zu fragen: welcher Art, aus welchem Stoff diese Arbeit sei, wie sich die Arbeiter zu ihr verhalten, für welche Zwecke gearbeitet wird? Er würde […] erkannt haben, daß die geschichtliche Arbeit ihrem Stoff nach sowohl natürlich Gegebenes wie geschichtlich Gewordenes umfaßt, daß beide ebenso Mittel und Schranke, ebenso Bedingung wie Antrieb für sie ist.83
Buckle würde sich gehütet haben zu glauben, dass die auf dem Wege der Verallgemeinerung gefundenen Gesetze – die Summe der Geschichte seien […], indem sie ihre Erscheinungen ›erklären‹. Erklärt sind sie damit so wenig, wie die schöne Statue des Adorante mit dem Erz, aus dem sie gegossen, dem Ton, aus dem die
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unermeßlichen Arbeit steht, und daß er wie jeder in dieser langen Kette langsam vorrückende Arbeiter seine Stelle, seinen pflichtmäßigen Posten hat«. Historik (L), 388. Vgl. insbesondere Historik (L), 388 f., und Historik (H), 268: »[...] daß aus den Zuständlichkeiten, wie sie geworden sind, sich mit der Empfindung ihrer Mängel und ihres Druckes die Vorstellung entwickelt, daß da vieles ist, was nicht so sein sollte […].« Historik (H), 279. Grundriss (1857/58), § 43, 407; Grundriss (1858), § 43, 20; Grundriss (1862), § 43, 11; Grundriss (1868), § 50, 26; Grundriss (1875), § 50, 26; Grundriss (1882), § 46, 435. Eine weitergehende Erörterung von Droysens Zweckbegriff findet sich in Kapitel 4.5.4 (Geschichte als teleologischer Prozess) der vorliegenden Arbeit. HZ 9 (1863), 1–22. Grundriss (1882), 463 f.; Hervorhebungen von mir, C.H.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre Form gefertigt, dem Feuer, mit dem das Metall in Fluß gebracht worden ist. Es bedurfte, wie schon ›der Meister derer, welche wissen‹,84 gelehrt hat, auch der Vorstellung von dem Bilde, das da werden sollte; und sie war in des Künstlers Seele, ehe das Werk war, in dem sie sich verwirklichen sollte (τὸ τί ἦν εἶναι); es bedurfte auch des Zweckes, um deswillen das Bildwerk gemacht werden sollte, etwa eines Gelübdes an den rettenden Gott, dessen Tempel es schmücken sollte; es bedurfte der geschickten Hand [causa agens], um den Zweck [causa finalis] und das Gedankenbild [causa formalis] und den Stoff [causa materialis] zusammenzuschließen zu dem vollendeten Werk. Freilich auch das Erz [causa materialis] war nötig, damit der Adorante gefertigt werde; aber es wäre doch ein übles Stück Zivilisation, wenn man dies wundervolle Kunstwerk nur nach dem Metallwert schätzen wollte, wie Buckle [es] mit der Geschichte tut.85
Die Geschichte nur anhand eines dieser vier Momente zu erklären, wäre einseitig. ›Alles‹, lehrt jener alte Philosoph [Aristoteles], ›was durch Ursache ist, nicht durch sich selbst, wie die Gottheit‹,86 enthält jene vier Momente, von denen keins allein und für sich das Ganze erklären kann und soll. Und genauer, nach jenen vier Momenten zerlegen wir es uns in unserem Geist, für unsere Betrachtung, mit dem Bewußtsein, daß sie in der Wirklichkeit, die wir betrachten wollen, völlig eins und voneinander durchdrungen sind; wir scheiden und unterscheiden so mit dem Bewußtsein, daß es nur eine Hilfe für unseren rekonstruierenden Verstand ist […]. Also in der Geschichte kommt es nicht bloß auf den Stoff an, an dem sie arbeitet. Neben dem Stoff ist die Form; und in diesen Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiterbewegendes Leben. Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in denen wir leiblich und geistig werden, was sie sind […].87
Droysen übernimmt also die vier Ursachen des Aristoteles als Wissenssystematik für den Objektbereich des Historikers. Dabei ist es offensichtlich, dass die Interpretation der Bedingungen auf den Stoff der geschichtlichen Arbeit gerichtet ist, die pragmatische Interpretation auf die Form, die psychologische Interpretation auf den Menschen als den Arbeiter (Beweger) der Geschichte und die Interpretation der Ideen auf den Zweck – obwohl Droysen diesen Zusammenhang nirgends explizit herstellt. Meines Erachtens ist ferner das Zugrundelegen der Vierteilung bei der Systematik in Reaktion auf die Unterscheidung der vier Formen der Interpretation erfolgt, um eine Entsprechung herzustellen.
_____________ 84
85 86 87
Dieser Vers aus Dantes Göttlicher Komödie (Inferno IV, 131) bezieht sich auf Aristoteles. Die Worte entsprechen der im 19. Jahrhundert sehr populären Übersetzung von Karl Streckfuß: Die göttliche Komödie des Dante Alighieri übersetzt und erläutert von Karl Streckfuß, Halle 1824–1826, die in zahlreichen Auflagen erschienen ist: »Dann, höher blickend, sah im hellen Schein / Ich auch den Meister derer, welche wissen, / Der von den Seinen schien umringt zu seyn«; Streckfuß 1824, 81 (Dante, Inferno, IV, 130 ff.). Droysen flicht die Formulierung auch in die zweite Auflage des Alexanders von 1877 ein; vgl. Droysen (2004), 410. Grundriss (1882), 464. Alle in eckigen Klammern eingefügten Erläuterungen und Ergänzungen stammen von mir, C.H. Vgl. hierzu die oben (in Anm. 24 dieses Kapitels) angestellten Überlegungen. Hier gibt Droysen die Stelle wieder, als ob es sich um ein Zitat handle. Ebd. 465. Alle Hervorhebungen und Ergänzungen in eckigen Klammern stammen von mir, C.H.
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Die vier Formen der erzählenden Darstellung
2.5 Die vier Formen der erzählenden Darstellung In der Darstellung findet die historische Forschung ihren Abschluss. An eine Formulierung Herodots anknüpfend, verwendet Droysen als Synonym für den Begriff Darstellung auch den griechischen Terminus ἀπόδειξις,88 den er in der frühen Fassung des Vorlesungsmanuskripts in lateinischer Umschrift (Apodeixis) auch als Überschrift für das der Darstellung gewidmete Kapitel wählt. Droysen entwirft in der Historik eine Typologie von vier verschiedenen übergeordneten Darstellungsformen, indem er vier Möglichkeiten, die im Forschungsprozess gewonnenen historischen Erkenntnisse zu kommunizieren, unterscheidet: die untersuchende, die erzählende, die didaktische und die diskussive Darstellung.89 Die erzählende Darstellung führt Droysen als die bisher einzig praktizierte und populärste Darstellungsform ein. Ihr Charakteristikum ist, dass sie versucht, ein Abbild des historischen Geschehens zu geben, indem sie »das Erforschte als einen Sachverlauf in der Mimesis seines Werdens dar[stellt]«.90 Sie kann immer dann zur Anwendung kommen, wenn dem Historiker genügend aussagekräftige Quellen zur Verfügung stehen, um ein historisches Geschehen lückenlos in seiner chronologischen Reihenfolge rekonstruieren zu können. Sie ist die einzige der vier Darstellungsformen, bei der Droysen eine weitere Binnendifferenzierung vornimmt. In der Erstfassung seines Vorlesungsmanuskriptes sowie in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses hatte Droysen bei der erzählenden Darstellung zunächst drei Unterformen unterschieden: die biographische, die monographische und die katastrophische Erzählung. Im ersten Manuskriptdruck des Grundrisses von 1858 hat er dann aber nachjustiert und unterscheidet von da an vier verschiedene Formen, indem er den drei oben genannten noch die pragmatische Erzählung voranstellt. Das ergibt dann ab dem Grundriss von 1858 folgendes Schema: Darstellung untersuchende
erzählende
didaktische
diskussive
a) pragmatische b) monographische c) biographische d) katastrophische Diese Gliederung, die, wie gesagt, weder in der frühesten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes noch in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses zu finden ist, behält Droysen bis zum Schluss bei. Die einzige große Änderung, die er hinsichtlich des Kapitels über die Darstellung noch vornehmen wird, ist, dass er es in der letz_____________ 88 89 90
Vgl. dazu unten Kapitel 5.2. Vgl. dazu das 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit, das sich ausführlich mit Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung auseinandersetzt. Grundriss (1882), § 91, 446.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
ten Auflage des Grundrisses (1882) aus der Methodik ausgliedern und als einen eigenen Teil hinter der Systematik, ganz am Ende des Grundrisses, platzieren wird.91 Weder in der Erstfassung des Vorlesungsmanuskriptes (die der Edition von Peter Leyh zu Grunde liegt) noch in einer der sechs überlieferten Versionen des Grundrisses oder der Vorlesungsmitschrift von Harry Bresslau stellt Droysen einen Bezug der von ihm unterschiedenen vier Erzählformen zur aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre her. Das tut er ausschließlich in der letzten Fassung seines Vorlesungsmanuskriptes von 1881,92 die der Historik-Ausgabe von Rudolf Hübner zu Grunde liegt, was gleich noch zu thematisieren sein wird. Zunächst ist es aber erst einmal wichtig, genauer zu erfassen, auf welchen gedanklichen Voraussetzungen die erzählende Darstellung beruht und wie Droysen sie demzufolge konzipiert. Es ist bereits herausgearbeitet worden, dass für Droysen das Verstehen in der Interpretation der Ideen kulminiert. Wenn man Droysens einführende Ausführungen zur Erzählung in der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes aufmerksam liest, sieht man, dass der Gegenstand der erzählenden Darstellungsform genau genommen eben diese Ideen sind. Schreibt Droysen doch in der das Kapitel über Die Apodeixis einleitenden Passage: Auch wir haben in schärfster Weise anerkannt, daß es sich in der Geschichte um Wirklichkeiten, d. h. um das Verhältnis von Ideen und dem Stoff, in dem sie sich realisieren, handle, auch wir werden mit Humboldt sagen dürfen: das Geschäft des Geschichtsschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung sei Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen.93
Allerdings spricht Droysen im Abschnitt über die erzählende Darstellung selbst dann plötzlich nicht mehr von »Ideen«, sondern stattdessen von »historischen Gedanken« oder von der »historischen Wahrheit« oder auch bloß von »Gedanken« oder einem »Gedankenkomplex«, dessen Genese der Historiker darzustellen habe.94 In einer Passage charakterisiert er die Erzählung wie folgt: Also, der erste und wesentlichste Gesichtspunkt in der historischen Erzählung ist, daß diese Form nicht eine unmittelbare Wiederholung des äußeren Verlaufs der Dinge ist und sein will, sondern eine μίμησις, eine subjektive Form, die auf ganz andere Weise als durch die Kontinuität der tatsächlichen Dinge, nämlich durch den Gedanken, d. h. durch die histo-
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94
Diese Problematik ist Gegenstand von Kapitel 5.2 der vorliegenden Arbeit. Historik (H), 288. Historik (L), 217. Droysen zitiert hier aus Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtschreibers von 1821, in der Humboldt (1960), 605, formuliert: »Das Geschäft des Geschichtschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Daseyn in der Wirklichkeit zu gewinnen.« Die Ursachen für Droysens begriffliche Inkonsequenz sind mir bislang verborgen geblieben. Sie ist aber nicht zu übersehen: Im Abschnitt über die Interpretation spricht Droysen durchgängig von »Ideen« und der »Interpretation der Ideen«, im Abschnitt über die Erzählung vom »historischen Gedanken« etc. und in der Systematik verwendet er in erste Linie den Begriff des Zwecks. Wobei die Bevorzugung des Zweckbegriffs in der Systematik auch darin begründet sein könnte, den AristotelesBezug deutlicher herauszustellen. Diese begriffliche Inkonsequenz erschwert das Verständnis von Droysens Theorie, auch deswegen, weil er an anderer Stelle das Wort »Gedanke« im Zusammenhang mit der causa formalis verwendet, hier aber indirekt im Zusammenhang mit der causa finalis.
Die vier Formen der erzählenden Darstellung
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rische Wahrheit der Dinge zusammengehalten wird, […] die das äußerliche Nacheinander der Dinge […] vertieft um die Bedeutung eines Zusammenhanges, den die Erkenntnis als die Wahrheit der Dinge aufweist und den sie aus der endlosen Mannigfaltigkeit von Bezügen, in denen die Dinge äußerlich verlaufen, gleichsam herauswickelt.
Wenig später heißt es dann: »der Historiker […] entnimmt seine Gedanken aus der Wirklichkeit der Dinge und ihrem Verständnis«95. Diese Bemerkungen zielen meines Erachtens auf nichts anderes als auf die Interpretation der Ideen, so dass man schlussfolgern kann, dass es immer eine »Idee« ist, die den Ariadne-Faden einer historischen Erzählung bildet. Wie begründet Droysen nun die Notwendigkeit der Unterscheidung verschiedener Formen der Erzählung? Da der Historiker nicht jedes kleinste Detail »erzählen« kann, ist er immer gezwungen auszuwählen, was Eingang in seine Erzählung findet und was nicht. Nach welchen Kriterien trifft er nun seine Auswahl, fragt Droysen und fährt fort: »die ganze Frage ruht auf dem Gedanken oder Gedankenkomplex, den der Erzähler darlegen will«.96 Denn welche Form der Erzählung der Historiker nun wählt, hängt von »dem Verhältnis des Gedankens oder Gedankenkomplexes, den die Erzählung zur Anschauung bringen soll«, ab.97 Dem Verhältnis des historischen Gedankens wozu, fragt man sich als Leser, erhält aber keine Antwort auf diese Frage. Auch Droysens nachfolgende einführende Beschreibung der von ihm zunächst unterschiedenen drei Formen der biographischen, monographischen und katastrophischen Erzählung bleibt sehr im Vagen stecken. In der ersten überlieferten Fassung des Grundrisses nennt er ebenfalls nur diese drei Formen in eben dieser Reihenfolge. Aber schon kurze Zeit später, im ersten Manuskriptdruck des Grundrisses von 1858 ist dann noch eine vierte Form (die pragmatische Erzählung) hinzugekommen und Droysen hat jetzt auch die Reihenfolge der Nennung geändert. Die Passage über die vier Erzähltypen ist in den fünf von Droysen publizierten Grundrissen nahezu identisch. Auch in der letzten Auflage des Grundrisses von 1882 hat er nur minimale Formulierungsänderungen vorgenommen, obwohl er die Passagen über die historische Erzählung im ebenfalls zu dieser Zeit entstandenen letzten Vorlesungsmanuskript sehr stark überarbeitet hat. Ich zitiere im Folgenden nach dem Grundriss von 1868: Die erzählende Darstellung hat vier Hauptformen: 1) die pragmatische zeigt, wie ein schliessliches Ergebniss durch die auf diesen Punkt convergirende Bewegung der Dinge wurde, so werden konnte und werden musste. 2) die monographische zeigt, wie eine historische Gestaltung in ihrem Werden und Wachsen sich selbst erst vertieft, durcharbeitet, gleichsam ihren Genius hervorgebracht hat. _____________ 95
96 97
Beide Zitate: Historik (L), 232; Hervorhebungen von mir, C.H. In der Mitschrift von Harry Bresslau (2007), 231, lautet die entsprechende Passage: »Der Historiker entnimmt seinen Gedanken aus den Wirklichkeiten der Dinge und ihrem Verstehen.« Historik (L), 230. Historik (L), 242.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
3) die biographische zeigt, wie der Genius dieser historischen Gestaltung ihr Dasein, ihr Thun und Leiden von Anfang her bestimmt, in ihr sich dargelegt und bezeugt hat. 4) die katastrophische zeigt relativ berechtigte Mächte, Richtungen, Interessen, Parteien u.s.w. im Kampf, über den [!] der höhere Gedanke schwebt, als dessen Momente oder Seiten sich die kämpfenden Gegensätze aufweisen. Sie zeigt, wie aus Titanenkämpfen eine neue Welt und die neuen Götter wurden.98 Diese Passage ist ein gutes Beispiel dafür, wie kryptisch und nebulös und daher hermetisch Droysens Formulierungen in den Grundrissen oft sind. Man erhält hier weder eine Auskunft darüber, warum Droysen gerade diese vier Erzähltypen unterscheidet, noch werden diese wirklich fassbar. Allerdings erhält man durch die Reihenfolge, in der die einzelnen Erzähltypen genannt werden, einen Hinweis für ihr Verständnis. Denn diese legt nahe, dass Droysen einen Bezug zu den vier Teiloperationen des Verstehens herstellen wollte. D. h. die pragmatische Erzählung steht in einer gewissen Beziehung zur pragmatischen Interpretation, die sich, wie wir sahen, auf die Form bezieht; die monographische Erzählung zur Interpretation der Bedingungen, die sich auf den Stoff bezieht; die Biographie zur psychologischen Interpretation und die katastrophische Erzählung zur Interpretation der Ideen. Im mündlichen Vortrag ist Droysen allerdings von der hier zitierten Reihenfolge abgewichen, wie die Vorlesungsmitschrift von Harry Bresslau, die von 1868 stammt, und Droysens Vorlesungsmanuskript von 1881, das Hübners Historik-Edition zu Grunde liegt, zeigen. Die eingängigste Charakterisierung der vier Erzähltypen findet man in der Vorlesungsmitschrift von Harry Bresslau. Dieser hat notiert: Die vier Formen der erzählenden Darstellung unterscheiden sich nach dem Standpunct des Erzählers. Ihrer sind vier. Die pragmatische Erzählung wendet sich ganz und gar auf den Sachverlauf […] den äußerlichen Verlauf des Vorgangs […] um darzulegen, wie ein Gewolltes sich vollzieht. […] Besonders dann ist diese Form anwendbar, wenn ein großes durchgehendes Wollen, ein leitender Gedanke das ganze beherrscht – so für die Kriege Napoleons, Friedrich d. Großen.99
Das Anliegen der Biographie ist die wollende Kraft hervorzuheben, welche die Bewegung macht. Ohne den Menschen keine geschichtliche Bewegung. Wir geben durch die Biographie dem werdenden Gedanken sein bewegendes persönliches Subjekt.100
Die monographische Erzählung hingegen stellt sich auf den Standpunct die Bedingungen und Mittel, Stoffe und Gegebenheiten darzustellen, durch welche sich der Gedanke […] bewegt. […] Diese Art ist für die vom Menschen gemachten Ordnungen Staat, Kirche, Recht, Verfassung und so weiter anwendbar.
_____________ Grundriss (1868), § 46, 23 f. Die Formulierungen der beiden Grundrisse von 1868 und 1875 sind hinsichtlich dieser Passage vollkommen identisch. 99 Bresslau 2007, 231. 100 Ebd. 98
Die vier Formen der erzählenden Darstellung
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Das Wesentliche bei der katastrophischen Darstellung ist »der Kampf relativ berechtigter Gedanken, die zu einem höheren Gedanken, als Zweckbegriff, aufgelöst werden. Die Form ist also katastrophisch, dramatisch.«101 Erst in der letzten Fassung seines Vorlesungsmanuskriptes begründet Droysen die von ihm vorgenommene Unterscheidung von vier Erzähltypen, indem er sie in einen expliziten Bezug zur aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre stellt. Denn dort schreibt er: Die möglichen Gesichtspunkte [der Erzählung] ergeben sich daraus, welches von den Momenten, die im Werden der Dinge sich unterscheiden lassen, vor den anderen hervortritt oder von dem Erzähler hervorgehoben wird; ob der bewegende Zweck oder die Persönlichkeit, durch welche sich die Bewegung vollzieht, oder die Art, der Pragmatismus der Bewegung [also die Form], oder das, woran sich die Bewegung vollzieht [der Stoff]. So ergeben sich vier Kategorien, die jede in ihrer Art berechtigt sind.102
Die eben zitierte Passage legt nahe, Droysens Theorie der historischen Erzählung wie folgt zu interpretieren: Je nachdem, welcher der vier Aspekte (der Stoff, die Form, das Bewegende oder der Zweck) in den Augen des Historikers den größten Anteil daran hatte, dass eine historische Entwicklung so und nicht anders verlaufen ist, wird er genau diesen in den Mittelpunkt seiner Erzählung rücken und sich dementsprechend für den einen und gegen die anderen Erzähltypen entscheiden. Ist es der Kampf verschiedener Ideen oder Zwecke gegeneinander, den der Historiker als bestimmend für den Verlauf einer historischen Entwicklung ausgemacht hat, so kommt die katastrophische Erzählung zur Anwendung. Und das Subjekt dieser katastrophischen Erzählung sind dann die von der Geschichte verfolgten Zwecke beziehungsweise die sich in ihr verwirklichenden Ideen. Geht es dem Historiker hingegen um »die Erklärung des Gewordenen durch die Kontinuität und den sachgemäßen Verlauf seines Werdens«, so wird er sich für die pragmatische Erzählung entscheiden, bei welcher »der Sachverlauf, der Pragmatismus der Bewegung« und somit die Form den hervorgehobenen Gesichtspunkt bildet.103 Die pragmatische Erzählung konzentriert sich also auf die Darstellung des Wandels der Formen. Steht hingegen »das, woran sich die Bewegung voll[zog, C.H.]«, also der Stoff, im Mittelpunkt des Interesses, fällt die Wahl auf die monographische Erzählung. Diese faßt die Bedingungen, die Mittel und Gegebenheiten, die immer neuen Umstände [welche Droysen als Stoff interpretiert, C.H.] ins Auge, um zu zeigen, wie daraus allmählich das Wesen und die Eigenart, der Gedanke geworden
ist.104 Hier sind es also die die Entwicklung einer Idee hemmenden oder fördernden Bedingungen, die für Droysen stofflicher Natur sind, die im Vordergrund des Interesses stehen.
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Ebd. 232. Historik (H), 288. Alle Einfügungen in eckigen Klammern stammen von mir, C.H. Ebd. 288. Ebd. 293.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
Ist der Anteil einer historischen Persönlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung, so wird der Historiker das Geschehen in Form von deren Biographie festhalten. Der Gesichtspunkt der Biographie ist der wollender Kraft und Leidenschaft, durch welche die Bewegung sich vollzieht. Der geschichtliche Gedanke kann einmal nicht zur Realität kommen ohne die bewegende Kraft, die Stoff und Form zusammenführt.105
Diese »bewegende Kraft« ist der Mensch. Aber auch für die Darstellung der Geschichte einer Stadt oder der eines Ordens (Droysen bringt das Beispiel der Hansestadt Lübeck und des Ordens Jesu) ist unter Umständen diese biographische Erzählform angemessen.106 In der oben zitierten Passage setzt Droysen die vier von ihm unterschiedenen Erzähltypen aber nicht nur zu den vier Teiloperationen des Verstehens in Beziehung, sondern vor allem zu den vier Hinsichten der Systematik. Die zu den vier Interpretationsschritten bestehende Analogie wurde schon angesprochen. Die Beziehung der vier Erzählformen zu den vier Hinsichten der Systematik und den vier Teiloperationen der Interpretation lässt sich schematisch wie folgt darstellen: Die Systematik betrachtet die geschichtliche Arbeit nach ihren Stoffen Formen Arbeitern Zwecken
Erzählform
Interpretation
monographische pragmatische biographische katastrophische
der Bedingungen pragmatische psychologische der Ideen
Wobei anzumerken ist, dass sich bei der Systematik alle vier Hinsichten zu einem Gesamtbild ergänzen, ebenso wie bei der Interpretation alle vier Teiloperationen zusammenwirken müssen. Das ist bei den vier Erzähltypen anders, da hier jeder, jeweils nur einen Aspekt in den Fokus rückend, für sich steht, weshalb Droysen auch wiederholt auf die Einseitigkeit der einzelnen Erzählformen hinweist.107 Aus diesem Grund überzeugt die Anwendung des Viererschemas auf die Erzählung nicht ganz. Bei Aristoteles sind die vier Ursachen quasi vier Aspekte ein und derselben Sache. Hingegen steht die pragmatische (die Form anvisierende) Erzählung den anderen drei Erzählformen eigentlich gegenüber, da es sich bei ihr gewissermaßen um die Grundform und bei den drei restlichen um Spezialformen handelt. Das von Droysen anfänglich ent_____________ 105 Ebd. 290. 106 Ebd. 292. 107 Vgl. z. B. ebd. 294. Eben deshalb, weil die Erzählung immer nur einseitig einen Aspekt hervorhebt, ist laut Droysen eine »Weltgeschichte« auch nicht zu »erzählen«. Diese bedarf immer der Form einer didaktischen Darstellung; vgl. Historik (L), 256. Und ebenso ist auch nur eine solche »Weltgeschichte« von didaktischem Wert, nicht aber eine Erzählung. Die Einseitigkeit der erzählenden Darstellung ist also der Grund dafür, dass ihr, ebenso wie der untersuchenden Darstellung, in Droysens Augen eine geringere Bedeutung zukommt. Die didaktische und die diskussive Darstellung stehen hingegen an erster Stelle.
Die vier Formen der erzählenden Darstellung
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worfene Dreierschema von biographischer, monographischer und katastrophischer Erzählung war also eigentlich in sich stimmiger.108 Wie sich aus meinen obigen Ausführungen ergibt, sind in meinen Augen die von Zenonas Norkus vorgenommenen Zuordnungen und das von ihm entworfene Schema schlichtweg falsch.109 Denn er ist der Meinung, dass sich die pragmatische Interpretation und die pragmatische Erzählung auf die Zweckursache bezögen, die Interpretation der Ideen und die monographische Erzählung auf den Aspekt der Form und die Interpretation der Bedingungen und die katastrophische Erzählung auf den stofflichen Aspekt. Ferner übersieht er, dass es sich bei den verschiedenen Interpretationsformen um sich ergänzende Teiloperationen eines Vorganges handelt, die letztendlich zusammenwirken müssen. Tabellarische Darstellung der von Norkus vorgenommenen Zuordnungen: Ursache materiale formale bewegende Zweck
Erzählform katastrophische monographische biographische pragmatische
Interpretation der Bedingungen der Ideen psychologisch pragmatische
Allerdings muss man Norkus zu Gute halten, dass Droysens begriffliche Inkonsequenzen und seine Darstellung an manchen Stellen Missverständnisse geradezu provozieren. Wenn Droysen z. B. im Grundriss formuliert, dass die monographische [Darstellung, C.H.] zeigt, wie eine historische Gestaltung in ihrem Werden und Wachsen sich selbst erst vertieft, durcharbeitet, gleichsam ihren Genius hervorgebracht hat.110
Dann vermutet man an dieser Stelle eher einen Bezug zur Form als zum Stoff. Genauso missverständlich ist die entsprechende Formulierung im letzten Vorlesungsmanuskript: »Monographisch verfolgt die Erzählung diese eine werdende Gestaltung durch ihre geschichtlichen Verpuppungen und Metamorphosen hindurch.«111 Diese Formulierungen legen tatsächlich nahe, dass die monographische Erzählung den Wandel der Formen beschreibt. Was sie ja in gewisser Weise auch tut, da die erzählende Darstellung generell und somit auch jede ihrer Unterformen »das Erforschte als einen Sachverlauf in der Mimesis seines Werdens dar[stellt, C.H.]«.112 Somit beschreibt sie eigentlich immer einen Wandel (der Form). Nur eben jeweils mit einer anderen Fo_____________ 108 Pandel (1990), 124, sieht das aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen anders. Denn in seinen Augen »füllt die pragmatische Darstellung eine logisch notwendige Stelle«. Erstaunlicherweise übersieht er darüber hinaus den Aristoteles-Bezug der vier Formen der erzählenden Darstellung (ebd. 122–126) und somit auch, dass diese in Beziehung zu den vier Formen der Interpretation stehen. Was umso erstaunlicher ist, da er den Aristoteles-Bezug der Letztgenannten wenige Seiten zuvor problematisiert hatte (ebd. 62–81). 109 Norkus (1994), 53–56 und 52. 110 Grundriss (1868), § 46, 23. 111 Historik (H), 293. 112 Grundriss (1882), § 91, 446.
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Droysens Transformation der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre
kussierung. Und im Fokus der monographischen Erzählung stehen die von Droysen als Stoff aufgefassten Bedingungen der jeweils dargestellten historischen Entwicklung, da es bei der monographischen Erzählung darum geht, aufzuzeigen, wie bestimmte (materiale) Voraussetzungen ganz bestimmte Ausformungen bedingt haben. Aber auch die Tatsache, dass Droysen an mehreren Stellen mittels des Begriffes »Gedanke« auf die causa formalis rekurriert,113 dann aber an anderer Stelle den Begriff als Synonym für das Wort »Idee« und somit indirekt für die causa finalis verwendet, begünstigt Missverständnisse. Ein weiterer Punkt, der Irritationen hervorruft, ist die Tatsache, dass es in dem von Droysen entworfenen Schema der vier Hinsichten der Systematik Überschneidungen gibt: Der Mensch kommt in diesem Schema zweimal vor. Einmal zählt er als »kreatürliche(r) Mensch« zum Stoff der geschichtlichen Arbeit. Zum anderen ist er als »Arbeiter der Geschichte« der Bewegungsanfang.114 Das gleiche trifft auf die sittlichen Gemeinsamkeiten zu. Diese bilden einerseits einen Teil des Stoffs der Geschichte und sind andererseits zugleich die Formen, in denen sich die Geschichte bewegt.
2.6 Droysens Bezeichnung der vier Ursachen als »Kategorien« In den Kategorien lotet Aristoteles aus, in welchen und in wie vielen Hinsichten man etwas von einer Sache (dem Seienden) aussagen (κατηγορεῖν) kann und kommt dabei auf zehn verschiedene Möglichkeiten beziehungsweise auf zehn übergeordnete Aussageklassen: Jedes ohne Verbindung gesprochene Wort bezeichnet entweder eine Substanz [οὐσία, d. h. ein existierendes Einzelding, wie z. B. einen Tisch oder einen bestimmten Menschen, wie z. B. Aristoteles; C.H.] oder eine Quantität oder eine Qualität oder eine Relation oder ein Wo oder ein Wann oder eine Lage oder ein Haben oder ein Wirken oder ein Leiden.115
Alles, was man über ein existierendes Einzelding aussagen kann, lässt sich laut Aristoteles anhand dieses Schemas kategorisieren. Denn bei einer bezeichneten Sache handelt es sich immer entweder um eine Substanz, oder um eine Quantität, eine Qualität, eine Beziehung, eine Ortsangabe, eine Zeitangabe etc. Man nehme z. B. Johann Gustav Droysen: Alle Aussagen, die man über ihn machen kann, lassen sich den zehn von Aristoteles aufgefundenen Aussageklassen zuordnen. Droysen war ein Mensch (Substanz), er hatte eine ganz bestimmte Körpergröße (Quantität), war sehr gebildet (Qualität), Vater von fünf Kindern (Relation) und hat in verschiedenen deutschen Städten gelebt (Wo). In seiner Jugend (Wann) hatte er volles Haar (Haben). Er hat an der Universität gelehrt und Bücher publiziert (Wirken) und wurde von seiner Familie geliebt, seinen Studenten verehrt und seinen Gegnern gehasst (Leiden). Auf dem _____________ 113 Vgl. Historik (L), 29 f. und 385 f.; Grundriss (1882), 464. 114 Historik (L), 386 ff. 115 Cat. 4, 1b25–27; deutsche Übersetzung zitiert nach Welsch (2012), 76.
Droysens Bezeichnung der vier Ursachen als »Kategorien«
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Gemälde von Eduard Bendemann sieht man ihn in seinem Arbeitszimmer vor seinem Schreibtisch stehend (Lage). In der Rezeption der Kategorien wurde das von Aristoteles verwendete Verb κατηγορεῖν (anklagen, aussagen) substantiviert und fand in der Bedeutung von Klasse oder Gattung in einem ganz allgemeinen und unspezifischen Sinn Eingang in die Alltagssprache. In allen drei Fällen, in denen Droysen die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre aufgreift und sie für seine Theorie fruchtbar macht, bezeichnet er die ἀρχαί als Kategorien.116 Das ist verwirrend, da man zunächst meint, Droysen würde, da er jedes Mal in einem aristotelischen Kontext argumentiert, auch diesen Begriff im aristotelischen Verständnis eines terminus technicus für die Systematik der zehn möglichen von Aristoteles unterschiedenen Aussageweisen verwenden. Das ist aber nicht der Fall und ergäbe auch keinen Sinn. Droysen verwendet den Begriff »Kategorien« hier, ebenso wie an allen anderen Stellen in der Historik, in einem umgangssprachlichen Sinne von ordnenden Oberbegriffen oder dem eines Einteilungsschemas oder Klassifikationssystems.117 Dennoch bleibt Droysens Bezeichnung der vier Ursachen als »Kategorien« oder »Gesichtspunkte«118 irritierend. Führt er doch damit in gewisser Weise einen Kurzschluss zwischen Ursachen und Kategorien herbei. Blickt man so auf seine Theorie, dann hieße das, dass er die Vier-Ursachen-Lehre in allen drei Fällen als Klassifikationssystem nutzt. Ob das seine Absicht war, lässt sich heute nicht mehr klären. Was allerdings festzuhalten ist, ist, dass auch an dieser Stelle Droysens erstaunlich freizügiger, um nicht zu sagen, oberflächlicher Umgang mit zentralen Begriffen nicht zu übersehen ist.
_____________ 116 Vgl. Historik (L), 29: »Aristoteles untersucht die vier Prinzipien, ἀρχαί, Kategorien, nach denen alles, was durch Ursachen, d. h. nicht durch sich selbst wie die Gottheit, ist, betrachtet werden muß.« Vgl. ferner Historik (L), 285 und 287, sowie Historik (H), 288: »Die möglichen Gesichtspunkte [der Erzählung] ergeben sich daraus, welches von den Momenten, die im Werden der Dinge sich unterscheiden lassen, vor den anderen hervortritt oder von dem Erzähler hervorgehoben wird; ob der bewegende Zweck oder die Persönlichkeit, durch welche sich die Bewegung vollzieht, oder die Art, der Pragmatismus der Bewegung [also die Form], oder das, woran sich die Bewegung vollzieht [der Stoff ]. So ergeben sich vier Kategorien, die jede in ihrer Art berechtigt sind.« Alle Einfügungen in eckigen Klammern stammen von mir, C.H. 117 Vgl. z. B. Historik (L), 39: »Jene großen Kategorien [vorher hatte er von Sphären gesprochen, C.H.] des Guten, Wahren, Schönen, Heiligen sind ethische Kategorien, d. h. Denkformen, in denen sich uns das Gewordene und Werdende zusammenfaßt und ergänzt«. Vgl. ferner Historik (L), 307 (wo Droysen den Begriff als Synonym für »Gesichtspunkte« verwendet), oder Historik (L), 322 (wo die Kategorien als Synonym für »Denkvorstellungen« stehen). 118 Vgl. Historik (L), 307, und Historik (H), 288.
3. Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles Droysens Bezugnahmen auf Aristotelesʼ Politik finden sich im zweiten Hauptteil der Historik, der Systematik, bei der es sich um eine Explikation des Objektbereichs der Geschichtswissenschaft in systematischer Hinsicht handelt. Die leitenden, die Systematisierung ermöglichenden Gesichtspunkte findet Droysen, wie oben in Kapitel 2.4 dargestellt, in den vier von Aristoteles in Physik und Metaphysik unterschiedenen Ursachen. Daher gliedert er die Systematik (ab dem Grundriss von 1857/58) entsprechend in vier übergeordnete Kapitel: Im ersten problematisiert er den Stoff der geschichtlichen Arbeit, im zweiten deren Formen, im dritten den handelnden Menschen (als Bewegungsursache) und im vierten den Zweck der Geschichte. Darüber hinaus bezieht sich Droysen im zweiten, die Formen der geschichtlichen Arbeit problematisierenden Kapitel der Systematik auf Aristotelesʼ politische Theorie, indem er die am Anfang der aristotelischen Politik stehende Einsicht aufgreift, »daß der Mensch ein soziales, politisches Geschöpf sei, vom Staat […] gehalten«1. An späterer Stelle führt Droysen diesen Gedanken dann explizit auf Aristoteles zurück: Bekannt ist der Ausdruck des Aristoteles, daß der Mensch ein ζῷον πολιτικόν sei, ein staatliches Geschöpf. Er bezeichnet damit dies der menschlichen Natur inwohnende Moment, in der staatlichen Gemeinschaft zu leben, das ist dem Menschen ebenso von Natur notwendig wie Sprechen und Denken.2
Die leitende Frage, um deren Klärung es Aristoteles in der Politik in erster Linie geht, lautet: Welches ist die beste Verfassung und wie muss diese beschaffen sein, um ein gutes Leben zu ermöglichen?3 Aus diesem Interesse heraus vergleicht Aristoteles verschiedene Typen von Verfassungen miteinander und wägt deren Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Das erste Buch beginnt aber zunächst mit einer Analyse der Bestandteile, aus denen der Staat (πόλις) zusammengesetzt ist. Die elementarste menschliche Gemeinschaft (κοινωνία) und somit die kleinste Einheit der Polis ist die einen Haushalt bildende Familie (οἰκία), bestehend aus Mann, Frau, Kindern und Sklaven. Mehrere Familien bilden dann jeweils ein Dorf und mehrere Dörfer eine Polis.4 Diese, alle anderen umfassende, ist die vornehmste Gemeinschaft,5 denn sie ist autark und ihr Zweck besteht darin, ein vollkommenes Leben zu ermöglichen.6 Da der einzelne Mensch nicht in der Lage ist, autark für sich allein zu leben, ist es für Aristoteles offen_____________ 1 2 3 4 5 6
Historik (L), 260. Historik (L), 355, ebenso Historik (H), 258; mit einem Zitat aus Pol. I 2, 1253a2. Vgl. z. B. Pol. IV 1, 1288b21 ff. Pol. I 2, 1252a24–1252b30. Pol. I 1, 1252a6 f. Pol. I 2, 1252b28 ff.
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Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles
sichtlich, dass »der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist«, der Mensch also immer der sozialen Anbindung bedarf und daher nur in Gemeinschaft mit anderen (über)leben kann »und daß jemand, der von Natur und nicht bloß zufällig außerhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder besser als ein Mensch«.7 An diesen Gedanken anschließend und unter Rückgriff auf den von Aristoteles verwendeten Begriff der κοινωνία (Gemeinschaft, Gemeinsamkeit, Teilnahme) entwickelt Droysen im zweiten Kapitel der Systematik eine Typologie »sittlicher Gemeinsamkeiten« (κοινωνίαι), also der Formen, in denen sich das menschliche Leben und somit alle geschichtliche Entwicklung vollzieht. Er bemerkt dazu in der Einleitung zur Systematik: Wir fanden, daß die sittliche Welt sich wesentlich in den sittlichen Gemeinsamkeiten darstelle, daß in diesen erst die Persönlichkeit werde, sich auswirke, damit zu sich selbst komme. Wir drückten so in unserer Art dasselbe aus, was Aristoteles meint, wenn er von einer dieser κοινωνίαι, dem Staat, sprechend sagt: τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί [der Staat gehört zu den von Natur aus bestehenden Dingen, C.H.],8 er meint damit, in der Natur des Menschen liege es, staatlich zu leben und die φύσις τέλος ἐστί,9 d. h. der Zweckbegriff ist die bestimmende Natur der Dinge.10
Zwei Seiten später greift er diesen Gedanken noch einmal auf und bemerkt: Mit tiefer Einsicht erörtert Aristoteles das Wesen der sittlichen Gemeinsamkeiten: wer ihrer entbehren könne, sei entweder ein Gott oder Tier, ein Mensch sei er nicht; ganz recht, denn die Armseligkeit und Blödigkeit des natürlichen Menschen bedarf der Ergänzung und Steigerung in der Gemeinsamkeit, erst in ihr wird er, was er ohne sie nur die Möglichkeit hat zu werden.11
Bei seiner Erörterung der idealen Gemeinsamkeiten kommt Droysen dann nochmals darauf zurück und führt diesmal auch das entsprechende Zitat an: _____________ 7 8 9 10
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Pol. I 2, 1253a2 ff. Pol. I 2, 1253a2. Pol. I 2, 1252b32: ἡ […] φύσις τέλος ἐστίν. Wörtlich zu übersetzen mit: Die Natur ist (ein) Zweck. Historik (L), 288. Droysen bezieht sich hier zwar auf Aristotelesʼ Argumentation in Pol. I 2, 1252b27–1253a3. Der Eingangssatz liest sich aber, als ob er unmittelbar an Hegels Ausführungen zu den sittlichen Mächten in der Rechtsphilosophie anknüpfen würde. Vgl. Hegel (2009), Bd. 14.1, 137 (§ 145), sowie Hegel (2015), Bd. 26.2, 692 f. und 26.3, 1260 f. (Die Rechtsphilosophie selbst hat Droysen allerdings gar nicht gehört, sondern nur die dieser übergeordnete Vorlesung über die Philosophie des Geistes. Vgl. oben Kapitel 1.3.4, Anm. 81.) Allerdings formuliert Hegel (2015), Bd. 26.2, § 153, 698, in diesem Kontext in großer Nähe zu Aristoteles (ohne diesen zu nennen): »Die Gewißheit der Freiheit der Individuen in der Subjectivität hat Wahrheit in dem sittlichen Gemeinwesen. In einem solchen Ganzen erreicht der Mensch seine Bestimmung; […] der Mensch kann sich nicht vorstellen als eine Insel, und daß er als Einzelner seine Bestimmung erreicht, er wird nur und kommt nur zur Wirklichkeit in einem sittlichen Ganzen.« Historik (L), 290. In der Edition von Hübner lautet die entsprechende Passage: »Mit tiefer Einsicht hat zuerst Aristoteles das Wesen der sittlichen Gemeinsamkeiten als κοινωνίαι entwickelt, u. a. im ersten Kapitel der Politik: ›wer aber nicht Gemeinsamkeit pflegte oder nichts bedürfte, weil er sich selber genug sei (δι’ αὐτάρκειαν), der wäre entweder ein Gott oder ein Tier; ein Mensch wäre er nicht‹. Der Mensch bedarf der sittlichen Gemeinsamkeiten […] Diese Gemeinsamkeiten beherrschen uns als sittliche Mächte«; Historik (H), 203.
Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles
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So bedarf der Mensch der idealen Gemeinsamkeiten, und er ist um so menschlicher, je mehr er ihrer bedarf. Ὁ δὲ μὴ δυνάμενος κοινωνεῖν ἢ μηδὲν δεόμενος δι’ αὐτάρκειαν ἢ θηρίον ἢ θεός ἐστι. Arist.12
Diese Passage zitiert Droysen auch in allen Grundrissen – außer in dem stark gekürzten von 1862 – und zwar jeweils im zweiten Kapitel der Systematik.13 Auch wenn sich Droysen an diesen Stellen explizit auf Aristoteles bezieht, verdankt das von ihm entwickelte Schema der sittlichen Gemeinsamkeiten,14 insgesamt betrachtet, Hegel und Boeckh weitaus größere Anregungen als Aristoteles. Das ist aufgrund der großen historischen Distanz und der in dieser Zeit stattgefundenen historischen Entwicklung auch nicht verwunderlich. Droysen selbst reflektiert: Mit gerechtem Ruhm preist man die Republik Platos, die Politik des Aristoteles; aber in beiden ist der Begriff Staat noch nicht über die πόλις, die Stadtgemeinde, hinaus, das Staatliche und Kommunale ist ihnen noch völlig ineinander, und aus ihrer Vorstellung ist es so gut wie unmöglich sich einen hellenischen Staat zu bilden, einen nationalen Staat, in dem sich die Macht dieses Volkstums zusammenfaßte zu Schutz und Trutz; sie wissen dafür nur die Formel der συμμαχία [Bund, Bündnis, C.H.] der Einigung der vielen kommunalen und lokalen Souveränitäten.15
In der von Droysen im zweiten Kapitel der Systematik entworfenen Typologie sittlicher Gemeinsamkeiten finden sich sowohl einige der Gliederungspunkte aus dem zweiten, materialen Teil der Encyklopädie Boeckhs wieder (wie Familie, Religion, Kunst, Wissenschaft und Sprache) als auch einige der von Hegel unterschiedenen Aspekte des objektiven und des absoluten Geistes (wie Familie, Gesellschaft, Recht, Staat, Kunst und Religion). Dennoch ist nicht zu leugnen, dass Droysen ein originäres und differenziertes Schema kreiert hat. Er unterscheidet drei übergeordnete Sphären: die natürlichen, die idealen und die praktischen Gemeinsamkeiten. Diese Dreiteilung resultiert, so seine Begründung, aus der »geistig-sinnlichen Natur des Menschen«, also »entweder aus seinen natürlichen oder seinen idealen Bedürfnissen oder […] aus beiden zugleich«.16 Innerhalb der Sphäre der natürlichen Gemeinsamkeiten bildet (wie bei Aristoteles und Hegel) die Familie die kleinste Einheit: »Die Familie ist die Basis aller Sittlichkeit […]. Wo die Familie gesund ist, da ist der Staat und die Religion und alles menschlich Heilvolle gesund.«17 _____________ 12
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Historik (L), 313. Die griechische Passage, die Droysen hier verkürzt wiedergibt, stammt aus Pol. I 2, 1253a27 ff. Eugen Rolfes übersetzt sie mit: »Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott.« Die von mir kursiv hervorgehobene Passage hat Droysen ausgelassen. Grundriss (1857/58), § 49, 408; Grundriss (1858), § 49, 22; Grundriss (1868) und (1875), jeweils § 60, 29; Grundriss (1882), § 55, 437. In den letzten drei Auflagen kennzeichnet er die Auslassung und gibt die Quelle an. Vgl. hierzu die im Anhang der vorliegenden Arbeit wiedergegebene Gliederung der Systematik, aus der die von Droysen unterschiedenen Formen der geschichtlichen Arbeit klar hervorgehen. Historik (L), 355 f. Diese Passage entspricht: Historik (H), 258. Historik (L), 291. Historik (L), 296.
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Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles
Insgesamt betrachtet sind Droysens Bezugnahmen auf die Politik überschaubar, denn zu den bereits genannten kommen nur noch zwei weitere: Zum einen grenzt sich Droysen aus der historischen Distanz heraus von Aristoteles’ Auffassung von der Sklaverei als etwas Naturgegebenem ab18 und zum anderen greift er auch in der Historik auf die Passage zurück, die er bereits der ersten Ausgabe seiner Geschichte Alexanders des Großen als Motto vorangestellt hatte: ὥσπερ γὰρ θεὸν ἐν ἀνθρώποις εἰκὸς εἶναι τὸν τοιοῦτον […] κατὰ δὲ τῶν τοιούτων οὐκ ἔστι νόμος· αὐτοὶ γάρ εἰσι νόμος.19 Der Kontext, in dem diese Äußerung in der Politik fällt, ist eine erneute Erörterung der Frage, wer herrschen soll. Und der dahinter stehende Gedanke ist der von Aristoteles entwickelte Rechtsgrundsatz, dass gleiches Recht nur für Gleiche gilt und dass Ungleiche immer eine ungleiche Stellung und Behandlung verdienen.20 Daher sollen auch diejenigen oder derjenige, die oder der die anderen qualitativ überragen/überragt, herrschen: Denn ein solcher Mann müßte ja wie ein Gott unter Menschen sein. Daraus geht klar hervor, daß auch die Gesetzgebung nur für Leute gilt, die von Geburt und in ihren Fähigkeiten gleich sind. Über jene Überragenden kann jedoch kein Gesetz aufgerichtet werden, denn sie sind selber das Gesetz.21
Im Fortgang der Argumentation führt Aristoteles dann die Institution des Scherbengerichts in Demokratien als eine Möglichkeit ein, sich zu mächtig gewordener Männer die das Gesetz nicht mehr erreicht, zu entledigen.22 Es ist auffällig, dass alle Politik-Passagen, die Droysen in seine Argumentation einflicht, schon bei Hegel zu finden sind, so auch die eben problematisierte Stelle.23 Hegel zitiert sie im Rahmen seiner Darstellung der Philosophie des Aristoteles in der Geschichte der Philosophie und stellt dabei einen (bei Aristoteles nicht zu findenden) Bezug zu Alexander den Großen her (was in der späteren Forschung durchweg Widerspruch ausgelöst hat24): ›Denn die Besten würden Unrecht leiden, wenn sie den anderen gleichgestellt würden, die ihnen ungleich sind an Tugend und politischem Vermögen (δύναμις). Denn ein solcher
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Im Rahmen einer Erörterung der kulturellen Entwicklung der Freiheitsrechte und Selbstbestimmung bemerkt Droysen in Historik (L) 352: »aber zu aller Zeit hat es Sklaverei gegeben, selbst Aristoteles glaubt sie noch aus dem Begriff rechtfertigen zu können, nicht aus dem Recht des Stärkeren, sondern aus dem des Besseren; die Barbaren scheinen ihm geborene Sklaven zu sein«. Das Pendant zu dieser Passage findet sich in Historik (H), 256. Vgl. ferner Historik (H), 182: »Aristoteles konnte noch die Sklaverei als einen ethisch notwendigen Zustand rechtfertigen […].« Vgl. Aristoteles’ Ausführungen zur Sklaverei in: Pol. I 4 ff., 1253b1–1255b15, und 13, 1259b18–1260b8. Droysen (1833), Titelblatt. Das Zitat stammt aus Pol. III 13, 1284a10–14: »Denn ein solcher Mann müßte ja wie ein Gott unter Menschen sein. [...] Über jene Überragenden kann jedoch kein Gesetz aufgerichtet werden, denn sie sind selber das Gesetz.« (Übersetzung Eckart Schütrumpf ) Vgl. Pol. III 9, 1280a11 ff. und Pol. III 13, 1284a9. Pol. III 13, 1284a10–14; in der Übersetzung von Eckart Schütrumpf. Zur Interpretation der Passage vgl. Schütrumpf (1991), Bd. 9.2, 525–530. Vgl. Pol. III 13, 1284a18 ff. und 1284b22 ff. Hegels Ausführungen zur Politik des Aristoteles im Rahmen seiner Darstellung der Geschichte der Philosophie finden sich in: Hegel (1986), Bd. 19, 225–229; Hegel (2016), GW 30.1, 111 und 353. Vgl. Schütrumpf (1991), Bd. 9.2, 527 ff.
Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles
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Ausgezeichneter gleicht einem Gotte unter den Menschen.‹ Hier schwebte dem Aristoteles ohne Zweifel sein Alexander vor, der einem Gotte gleich herrschen muß, über den niemand herrschen kann, nicht einmal das Gesetz. ›Für ihn ist kein Gesetz, da er sich selber das Gesetz ist. Man könnte ihn etwa aus dem Staat werfen, aber über ihn regieren nicht, sowenig als über Jupiter. Es bleibt nichts übrig, was in der Natur aller ist, als einem solchen gerne zu gehorchen […], daß solche ewige […] Könige in den Staaten sind.‹25
Da Droysen Aristotelesʼ Aussage ebenfalls auf Alexander den Großen bezieht, liegt es nahe, dass er sie samt ihrer Deutung von Hegel übernommen hat. Dafür spricht auch, dass er in der Geschichte Alexander des Großen ganz eng an das von Hegel in seiner geschichtsphilosophischen Vorlesung entwickelte Konzept der weltgeschichtlichen Individuen anschließt und Alexander als einen »Werkmeister« der Geschichte in dessen Sinne interpretiert, wie gleich aus den ersten Sätzen des Werkes hervorgeht, die sich lesen, als seien sie von Hegel diktiert, auch wenn dessen Name kein einziges Mal fällt: Wenigen Menschen und wenigen Völkern wird das Vorrecht zuteil, eine höhere Bestimmung als die Existenz [...] zu haben. Berufen sind alle; aber denen, welche die Geschichte zu Vorkämpfern ihrer Siege, zu Werkmeistern ihrer Gedanken auserwählt, gibt sie die Unsterblichkeit des Ruhmes, in der Dämmerung des ewigen Werdens gleich einsamen Sternen zu leuchten.26
Das Aristoteles-Motto, auf das Droysen in seiner Argumentation mehrmals indirekt zurückkommt, nutzt er, um Alexander den Großen gegenüber moralischer Kritik an dessen Handeln zu verteidigen: Stets ist das stolze Recht des Sieges der Sieg eines höheren Rechtes; der Heldenkraft des geschichtlichen Berufes gegenüber wird die Ohnmacht persönlicher Tugenden und ererbter Rechte offenbar; die geschichtliche Größe [...] ist mächtiger als Recht und Gesetz.27
Nun zielt aber Aristotelesʼ oben zitierte Aussage gar nicht auf einen moralischen Kontext. Diesen hat wiederum Hegel damit verknüpft. Droysen hat demnach nicht nur den von Hegel hergestellten Bezug der Aussage auf Alexander übernommen, sondern zugleich dessen in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte geäußerte Ansicht, dass es _____________ 25 26 27
Hegel (1986), Bd. 19, 228. Hegel zitiert hier verschiedene Versatzstücke aus Pol. III 13, 1284a9 ff. sowie das Ende das 13. Kapitels, ebd. 1284b28–34. Droysen (1833), 1. Droysen (1833), 205. Vgl. ferner ebd. 248, Anm. 53: »Indeß haben große Männer das Recht, nach ihrem Maaße gemessen zu werden, und in dem, was man ihre Fehler nennt, liegt ein tieferer Sinn als in der ganzen Moral, gegen die sie zu verstoßen Muth haben. Träger der Gedanken ihrer Zeit und ihres Volkes, handeln sie mit jener dunklen Leidenschaft, die, eben so weit als ihr Beruf über den Horizont der Alltäglichkeit hinaus, sie in die einsame Region der geschichtlichen Größe trägt, die nur der Blick der Bewunderung zu erreichen vermag.« An späterer Stelle (ebd. 468 f.) rechtfertigt Droysen, dass bei Alexanders Durchquerung der Wüste Gedrosien aufgrund der Strapazen mehr als die Hälfte seiner Soldaten umgekommen ist damit, dass Alexander »den großen Plan nicht um der Gefahren willen [...] die Opfer nicht scheuen [...] die Stimme der Menschlichkeit und Besorgnis nicht achten [durfte, C.H.], wo es galt, wesentliche Zwecke zu erreichen; und erkennt man einmal die Größe und Berechtigung jenes Gedankens, Asien für das hellenische Leben zu gewinnen, so muß man auch die Konsequenzen desselben [...] anerkennen und als geschichtlich recht begreifen«.
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Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles zu der großen weltgeschichtlichen Gestalt Alexanders nicht heranreichen [würde, C.H.], wenn man ihn, wie die neueren Philister unter den Historikern tun, nach einem modernen Maßstab, dem der Tugend oder Moralität, messen wollte.28
Festzuhalten bleibt, dass die gesamte Konzeption von Droysens Alexander-Darstellung auf Hegels Geschichtsphilosophie basiert. Diese bildet quasi den Rahmen für Droysens Erzählung – nur dass Droysen diesen Bezug nirgends herstellt, da Hegel ungenannt bleibt. Aristoteles hingegen wird zwar namentlich zitiert und genannt, aber vom ursprünglichen Sinn seiner Aussage bleibt durch die zweifache Umdeutung nicht mehr viel übrig. (Der Vollständigkeit halber ist hinsichtlich von Droysens Alexander-Buch noch zu erwähnen, dass er, abgesehen von dem vorangestellten Motto, natürlich auch mehrfach auf die aristotelische Politik als historische Quelle zurückgreift. Wobei er m. E. auch hier nur solche Passagen anführt, die in der Forschungsliteratur generell präsent gewesen sind.) Auch in der Historik kommt Droysen in einem ähnlichen Kontext auf die besagte Stelle aus der Politik zurück und geht dabei ganz ähnlich vor wie schon 1833. Ein Name wird genannt: der des Aristoteles, entwickelt wird aber ein an Hegel anknüpfender Gedanke. Droysen argumentiert in der Historik hinsichtlich derer, denen geschichtliche Größe zukommt, weil sie »den Gedanken, der gereift und doch noch verhüllt, nach Geburt drängend und doch erst nur noch Gedanke,« verwirklichen, so wie Luther, Alexander der Große, Dante oder Spinoza es getan haben: Wo solche mächtige namengebende Gestalt in der Geschichte auftritt, da ist sie, nach Aristotelesʼ Ausdruck, wie ein Gott unter den Menschen, auch ist über sie kein Gesetz, αὐτοὶ γάρ εἰσι νόμοι. Sie führen, sie herrschen. So sind sie nicht bloß momentane Vertreter eines Gedankens, sondern dieser Gedanke, in ihrer Gestalt erscheinend, wird zugleich der Typus dieser Zeit, dieses Volkes; und umgekehrt, leitend, beherrschend, sind sie der Typus ihrer Zeit, ihres Volkes; in ihnen sehen die Mitlebenden das vorbildlich, was sie meinen und wollen, und die Nachwelt erkennt in solchen Gestalten, was jene Zeit gemeint und gewollt hat.29
Diese Menschen »führen und herrschen durch die Kraft des Gedankens, den sie in sich tragen, der in ihnen zur Wirklichkeit wird«.30 Hier sind unmissverständlich die »Werkmeister« der Geschichte gemeint, obwohl Droysen an dieser Stelle den wenige Seiten zuvor eingeführten Begriff 31 nicht verwendet. Insgesamt ist noch anzumerken, dass sich Droysen offensichtlich nicht für die eigentliche Fragestellung der Politik interessiert hat – was man ihm als Historiker aber auch nicht zum Vorwurf machen kann; dass ihm Aristoteles vor allem als Stichwortgeber dient (und zwar auffälligerweise überall da, wo er gedanklich an Hegel anknüpft) _____________ 28
29 30 31
Hegel (1973), Bd. 12, 334. Wie sich überhaupt Hegels Ausführungen zu Alexander dem Großen (ebd. 332–335) wie eine erste, wenn auch noch unvollständige, Skizze zu Droysens Geschichte Alexanders des Großen lesen. Historik (L), 390. Droysen zitiert hier Pol. III 13, 1284a14. Historik (L), 391. Vgl. Historik (L), 385, 388.
Droysens Bezugnahmen auf die Politik des Aristoteles
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und dass er, wenn überhaupt, dann höchstwahrscheinlich nur Ausschnitte der Politik rezipiert hat, da es im Grunde genommen nur drei Stellen sind, die er in der Historik variiert zitiert.
4. Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung und als ἐπίδοσις εἰς αὑτό 4.1 Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (I) Wie in der Forschungsliteratur bereits verschiedentlich thematisiert,1 verwendet Droysen die aus De anima entlehnte präpositionale Wendung ἐπίδοσις εἰς αὑτό,2 um die Geschichte im faktischen Sinne vergangenen Geschehens als eine »fortschreitende Steigerung«3 zu charakterisieren. Droysens Verwendung des Wortes »Bewegung« – im aristotelischen Sinne von kinêsis (Veränderung, Bewegung) – zur Bezeichnung der Geschichte wurde dagegen bisher keine Beachtung geschenkt. Warum man auch hinsichtlich dieses Begriffs Droysen eine Nähe zu Aristoteles unterstellen kann, soll zuerst dargelegt werden. Dafür ist es notwendig, die aristotelischen Konzeptionen, auf die Droysen sich hier direkt oder indirekt bezieht, kurz vorzustellen. Das ist zunächst die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung von Form und Materie sowie seine Distinktion der beiden Seinsmodi von Möglichkeit und Wirklichkeit und ferner seine Bestimmung der Seele als vollendete Wirklichkeit des Körpers. Das sind im Übrigen alles Momente, auf die auch Hegel im Rahmen seiner Aristoteles-Darstellung in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie eingegangen ist.4 Das hier verfolgte Vorgehen zielt zum einen darauf ab, Aristotelesʼ Konzeption von Bewegung vorzustellen und zum anderen darauf, den Kontext, in dem Aristoteles in De anima die Formulierung von der ἐπίδοσις εἰς αὑτό gebraucht, zu erhellen, um dadurch den Bedeutungsgehalt, den die Begriffe bei Aristoteles haben, zu erschließen. Vor dieser Folie kann dann daran anschließend ihre Verwendung bei Droysen genauer analysiert werden. Allerdings lässt sich heute nicht mehr klären, ob er die Begrifflichkeit einer eigenen Aristoteles-Lektüre oder der Vermittlung anderer verdankt, wie z. B. der Hegels oder Trendelenburgs. Letzteres scheint mir am naheliegendsten zu sein, da sich Droysens Aristoteles-Kenntnis, je genauer man sie unter die Lupe nimmt, doch mehr und mehr als eine nur punktuelle und rudimentäre herausstellt. _____________ 1 2 3 4
Vgl. z. B. Astholz (1933), 33–41; Rassow (1940), 133 f.; Bauer (2001), 348 f.; Hühn (2010), 144– 146. Vgl. De an. II 5, 417b6 f. Dort heißt es: εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις καὶ εἰς ἐντελέχειαν. Droysen gibt die Passage also in verkürzter Form wieder. Grundriss (1882), 421. Hegel (2016), Bd. 30.1, 101–112 (Sommersemester 1819) und 339–355 (Wintersemester 1820/21), sowie Hegel (1986), Bd. 19, 132–249.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
4.1.1 Die aristotelische Form-Materie-Distinktion Ein zentraler Topos der aristotelischen Philosophie, der auch in Droysens Geschichtstheorie implizit allgegenwärtig ist,5 ist Aristotelesʼ berühmte Form-Materie-Distinktion, sein sogenannter Hylemorphismus,6 also seine Ansicht, dass sich an allen wahrnehmbaren Dingen das Material, aus dem diese bestehen, und die Form, die sie haben, unterscheiden lassen. Die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung von Form (Gestalt) und Stoff (Materie) resultiert aus seiner Analyse der kinêsis (Veränderung, Bewegung) in der Physik. Dort geht er unter anderem der Frage nach: Was bleibt erhalten und was vergeht, wenn sich etwas verändert?7 Seine Antwort lautet: Das, was einer jeden Veränderung zu Grunde liegt und erhalten bleibt, ist die Materie (hylê), was sich hingegen verändert, ist die Form (eidos, morphê). An allen konkreten Gegenständen lassen sich also diese beiden komplementären Aspekte unterscheiden. Ein anderer Kontext, in dem Aristoteles die Form-Materie-Definition problematisiert, ist seine Untersuchung der ousia (Wesen, Substanz) in der Metaphysik.8 Hier bestimmt er die Form als das Moment, das einen zugrundeliegenden Stoff überhaupt erst zu einem bestimmtem Etwas (tode ti) macht. Die Materie allein ist unbestimmt. Erst durch das Annehmen einer Form wird sie zu einem konkreten Individuum.9 Jeder konkrete Gegenstand konstituiert sich also aus einem ihm zugrundeliegenden Material und einer bestimmten Form. Die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung von Stoff und Form ist allerdings nur rein begrifflicher Natur,10 denn die Form kann nicht für sich allein und abgetrennt von der Materie existieren. Ebenso wenig wie es eine ungeformte Materie gibt. Materie und Form sind nicht […] zwei selbständig existenzfähige Gegenstände; sie bezeichnen vielmehr die zwei Rollen oder Funktionen, deren Zusammenspiel die Entstehung eines Gegenstandes erklärt.
Sie »sind ›Reflexionsbegriffe‹ für zwei Gesichtspunkte eines einzigen Gegenstandes, der realiter […] immer nur in Verbindung von Materie und Form vorkommt«.11 Ferner meint die Form mehr als die sichtbare Gestalt, nämlich die innere Struktur. Das wird z. B. durch die aristotelische Bestimmung der Seele als Formursache des Körpers deutlich.12
_____________ 5 6 7 8 9 10 11 12
Vgl. z. B. Historik (L), 20. Siehe ferner Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit. Meine folgende Darstellung orientiert sich an Beere (2011), Rapp (2001), 122–127, und Corcilius 2011, 75–84. In Phys. I 7 erörtert Aristoteles diesen Sachverhalt am Phänomen des Entstehens. Vgl. Met. VII (insbesondere 7–9 und 17) und VIII. Vgl. Met. VII 17, 1041b7 ff. Vgl. Phys. II 1, 193b3 ff. Beide Zitate: Höffe (1999), 114. Vgl. hierzu Kapitel 4.4 der vorliegenden Arbeit.
Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (I)
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4.1.2 Aristotelesʼ Unterscheidung der zwei Seinsmodi von Möglichkeit (δύναμις) und Wirklichkeit (ἐνέργεια) Eng verknüpft mit der Form-Materie-Distinktion ist Aristotelesʼ Unterscheidung der zwei einander entgegengesetzten Seinsweisen von δύναμις (Möglichkeit, Vermögen, Fähigkeit) und ἐνέργεια (Wirklichkeit, Tätigkeit, Verwirklichung). Durch die Tradierung des Begriffspaares in der Scholastik spricht man nach wie vor auch von Aktualität und Potentialität oder von Akt und Potenz. Die Unterscheidung dieser beiden Seinsmodi ist für die aristotelische Philosophie von fundamentaler Bedeutung und Aristoteles greift in verschiedenen Kontexten auf sie zurück, einmal bei seiner Analyse der Bewegung in der Physik, aber auch bei der Problematisierung der ousia (Wesen, Substanz) in der Metaphysik.13 Was ist damit gemeint? Aristoteles geht davon aus, dass alle Dinge entweder möglich oder wirklich sind, sich also entweder im Seinsmodus der Möglichkeit oder dem der Wirklichkeit befinden. In dieser Sichtweise befindet sich ein noch unbehauener Marmorblock im Modus der Möglichkeit, eine Statue zu werden, d. h. der Marmorblock »ist« dem Vermögen nach schon die aus ihm entstehende Statue. Oder die für ein Bücherregal bestimmten Holzbretter sind potentiell schon ein Bücherregal. Aber erst, wenn der Tischler das Bücherregal fertig gebaut hat und die Bretter die Form eines Bücherregals angenommen haben, sind sie »wirklich« und tatsächlich ein Bücherregal. Die der Veränderung zugrundeliegende Materie ist zunächst unbestimmt und daher immer nur der Möglichkeit nach (potentiell) etwas. Erst die Form verleiht der Materie ihre Identität und macht sie zu etwas Bestimmtem von der und der Art (tode ti). Die Form »verwirklicht« quasi die in der Materie angelegte Bestimmtheit. Insofern korreliert das Moment der Form dem Seinsmodus der Wirklichkeit. In den Kontext der Unterscheidung der zwei Seinsmodi von Möglichkeit und Wirklichkeit gehört noch ein weiterer Begriff, der der ἐντελέχεια (Vollendung, Verwirklichung, vollendete Wirklichkeit). Unter dem oft mißverstandenen Begriff ist das Moment zu verstehen, in dem etwas ›in sein Ziel‹ (en telei), folglich zu seiner Erfüllung gelangt. Der Begriff ist fast synonym mit dem der energeia (Verwirklichung, Akt). Aristoteles bevorzugt aber den Ausdruck ›Entelechie‹, wenn er das Moment des Erfüllt- und Vollendetseins, und den Ausdruck ›Akt‹, wenn er das Moment der Aktivität betonen will.14
Der Begriff der energeia hat also eher den Vorgang der Verwirklichung im Blick, der Begriff der entelecheia hingegen das Ergebnis, also die Vollendung15 beziehungsweise »die erfüllte Verwirklichung im Sinne von ›Ins-Ziel(telos)-Gekommensein‹«16.
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Vgl. Phys. III 1 und Met. V 7, 1017b1 ff., sowie insbesondere Met. IX. Für eine ausführlichere Einführung mit weiterführenden Literaturhinweisen vgl. Beere (2011). Höffe (1999), 143. Liske (2002), 135. Höffe (1999), 113.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
4.1.3 Aristotelesʼ Konzeption der κίνησις (Bewegung, Veränderung) in der Physik Der griechische Titel der Physik-Schrift φυσικὴ ἀκρόασις lautet übersetzt »Vortrag über die Natur«. Die Natur beziehungsweise die natürlichen Dinge zeichnen sich laut Aristoteles gegenüber Artefakten dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zu diesen, das Prinzip der Bewegung, also den Impuls, sich zu verändern, in sich selbst haben.17 Es verwundert daher nicht, dass das Phänomen der Bewegung einer der zentralen Gegenstände der Physik-Schrift ist und es von Aristoteles in verschiedenen Hinsichten problematisiert wird. Bewegung meint bei Aristoteles jegliche Form von Veränderung. Denn er gebraucht in der Physik die Begriffe Bewegung (kinêsis) und Veränderung (metabolê) oft in einem Atemzug und quasi austauschbar. Aristoteles unterscheidet insgesamt vier Formen von Veränderung beziehungsweise Bewegung: erstens qualitative (wenn etwas z. B. krank oder gesund wird), zweitens quantitative (wenn etwas z. B. größer oder kleiner wird) Veränderung, drittens Ortsveränderung und viertens Entstehen und Vergehen.18 Aristoteles definiert Bewegung – im Rückgriff auf die beiden von ihm unterschiedenen Seinsmodi der Möglichkeit und der Wirklichkeit – als »nachrangige Wirklichkeit« eines Möglichen, insofern es möglich ist.19 Bewegung/Veränderung meint also, dass etwas, das zuvor nur möglich gewesen ist, Wirklichkeit geworden ist. Bewegung ist demzufolge der Übergang vom Zustand der Möglichkeit einer Sache in den Zustand ihrer Wirklichkeit. So ist z. B. der Lindenbaum die Wirklichkeit des Keimlings, der zunächst nur die Möglichkeit in sich hatte, ein Baum zu werden. Diesen Vorgang des Wachsens fasst Aristoteles als quantitative Veränderung auf. Lernt hingegen ein Mensch, der über die entsprechenden intellektuellen Möglichkeiten verfügt, eine Fremdsprache, so findet im aristotelischen Verständnis bei dieser Verwirklichung eines zuvor nur potentiell Seienden eine qualitative Veränderung statt – nämlich in dem Moment, in dem der Lernende über erste Fremdsprachenkenntnisse verfügt. Ferner ist, wie bereits oben angesprochen, die Stoff-Form-Distinktion Teil der aristotelischen Analyse der Bewegung. Bei jeder Veränderung gibt es etwas, das erhalten bleibt, und etwas, das sich wandelt. Das sich Verändernde ist die Gestalt (morphê) beziehungsweise die Form (eidos). Das in einer Veränderung Beständige, das, was bestehen bleibt, ist der Stoff. Aristoteles spricht hier auch vom Zugrundeliegenden (hypokeimenon).
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Vgl. Phys. II 1, 192b14 ff., und Met. V 4, 1015a13 ff. Für eine ausführlichere Einführung mit weiterführenden Literaturhinweisen vgl. Fischer (2011), 372–377. Vgl. z. B. Phys. III 1, 201a9–15. Phys. III 1, 201a9–11 und 201b4 f. Die Übersetzung der Passage folgt dem Übersetzungsvorschlag von A. F. Koch (2005), 555.
Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung
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4.2 Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung »Bewegung« ist nicht nur ein zentraler Topos in der aristotelischen Physik, sondern zugleich einer der Schlüsselbegriffe in den Logischen Untersuchungen Trendelenburgs. Hat dieser doch in der »Bewegung« die von ihm gesuchte »ursprüngliche und einfache, dem Denken und Sein gemeinsame«20 und somit beide »vermittelnde Thätigkeit«21 gefunden und mit direktem Rekurs auf Aristoteles festgestellt, dass die Bewegung nicht nur das Grundphänomen der ganzen Natur, sondern auch das des Geistes sei.22 Daher ist es vielleicht nicht ganz zufällig, dass der Begriff auch in der Geschichtstheorie Droysens eine prominente Rolle spielt. »Bewegung« gehört neben »Kontinuität«, »Entwicklung«, »Fortschreiten« oder »Fortschritt« und der Wendung von der ἐπίδοσις εἰς αὑτό in die Reihe der Begriffe, die Droysen verwendet, wenn er von der Geschichte im faktischen Sinne vergangenen Geschehens spricht. Zunächst sticht die große Präsenz des Begriffes in der Historik und in den Grundrissen ins Auge.23 So findet sich das Substantiv »Bewegung« im Grundriss von 1868 allein in den ersten beiden Paragraphen der Systematik insgesamt fünf Mal, flankiert von einer Verwendung des dazugehörigen Verbs und einer des entsprechenden Adjektivs.24 Aus den Sachregistern der beiden Historik-Ausgaben wird diese große Präsenz allerdings nicht ersichtlich, da der Begriff zwar in diese aufgenommen worden ist, dann aber, wie eine gründliche Lektüre ergeben hat, nicht alle seine Erwähnungen verzeichnet worden sind, so dass die tatsächliche Häufigkeit der Begriffsverwendung aus den Registern nicht abzulesen ist. Darüber hinaus fällt eine große konzeptionelle Nähe zu der in der aristotelischen Physik zu findenden Begriffskonzeption von κίνησις auf. Ob Droysen nun mittels der _____________ 20 21 22
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Trendelenburg (1870), Bd. 1, 140. Ebd. 330. Ebd. 154: »Unsere Untersuchungen verfolgen die Bewegung nicht in der Natur, sondern in der Welt des Geistes. Aber es muss für sie feststehen, dass die Bewegung das Grundphaenomen der ganzen Natur ist. Denn nur dadurch wird die geistige Bewegung das grosse Organ der Erkenntniss. ›Wer die Bewegung nicht kennt, kennt die Natur nicht,‹ sagte schon Aristoteles. Vielleicht wird sich demnächst zeigen, dass ebenso, wer die Bewegung nicht erkennt, auch den Geist nicht kennt, wenigstens nicht, wie er aus seinem Innern in das Aeussere eindringt.« Hier bietet sich der im Deutschen Textarchiv zugänglich gemachte Grundriss von 1868 an, da der Text hier auf bestimmte Begriffe hin durchsuchbar ist. Vgl. http://www.deutschestextarchiv.de/ book/show/droysen_historik_1868, zuletzt aufgerufen am 29.1.2018. Vgl. Grundriss (1868), § 49, 26 (Hervorhebungen von mir, C.H.): »Das Gebiet der historischen Methode ist der Kosmos der sittlichen Welt. Die sittliche Welt ist je in ihrer rastlos bewegten Gegenwart ein endloses Durcheinander von Geschäften, Zuständen, Interessen, Conflicten, Leidenschaften u. s. w. […] sie ist ihrer eigensten Natur nach historisch; sie ist es in jeder ihrer Gestaltungen, in jedem Puls ihrer Bewegung. […] Die sittliche Welt in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Bewegung betrachten, heisst sie geschichtlich betrachten.« Vgl. ferner § 50: »Das Geheimniss aller Bewegung ist ihr Zweck (τὸ ὅϑεν ἡ κίνησις). Indem die geschichtliche Betrachtung in der Bewegung der sittlichen Welt deren Fortschreiten erkennt, deren Richtung verfolgt, Zweck auf Zweck sich erfüllen sieht, ahnet sie, dass in dem Zweck der Zwecke sich die Bewegung schliesst, dass das, was diese Welt bewegt, umtreibt, rastlos weiter eilen macht, dort Ruhe, Vollendung, ewige Gegenwart ist.«
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
Verwendung des Terminus explizit und emphatisch an die von Aristoteles in der Physik entwickelte Begriffskonzeption anknüpfen wollte oder ob die zu beobachtende Nähe dem Zufall oder einer Rezeption der Logischen Untersuchungen Trendelenburgs geschuldet ist, lässt sich heute nicht mehr entscheiden. Festzuhalten sind dennoch die folgenden Beobachtungen und Übereinstimmungen: Erstens ist zu konstatieren, dass Droysen den Begriff »Bewegung« eigentlich gar nicht bräuchte, weil er ihn synonym mit anderen Termini, wie z. B. »Entwicklung«, »Werden«, »Wachsen« und »Fortschreiten« verwendet. So spricht er in der ersten Vorlesungsfassung z. B. davon, daß wir so nachweisen, in welcher Richtung die Ideen fortschreitend geworden sind, daß wir so wenigstens die Richtung ihrer Bewegung, ihrer Entwicklung, ihres begrifflichen Werdens sicherstellen,
oder er formuliert: Die sittliche Welt in ihrem Werden und Wachsen, in ihrer Bewegung betrachten, heisst sie geschichtlich betrachten. Sie geschichtlich betrachten heißt also voraussetzen oder anerkennen, daß alles, was im Bereich der sittlichen Welt ist, geworden ist und nicht aufhört, sich werdend und wachsend zu bewegen.
Oder er schreibt: die Erscheinungen wechseln, weil die Wahrheit nie ganz in ihnen ausgestaltet ist; in der Bewegung, im Fortschreiten haben die Endlichkeiten ihre Analogie des Vollkommenseins.25
Im statistischen Vergleich gesehen, verwendet Droysen das Wort »Bewegung« etwas häufiger als die quasi von ihm äquivalent gebrauchten Termini »Werden«, »Wachsen«, »Fortschreiten« und »Entwicklung«. Die Prominenz des Bewegungs-Begriffes spricht dafür, dass seine Wortwahl nicht dem Zufall geschuldet, sondern bewusst erfolgt ist. Zweitens rekurriert Droysen hinsichtlich des Bewegungsbegriffes, ebenso wie Aristoteles, auf die Form-Materie-Unterscheidung, wie aus der folgenden Passage hervorgeht, die aus dem Aufsatz über Natur und Geschichte von 1866 stammt und die dann später in leicht abgeänderter Form auch Eingang in die Historik-Vorlesung gefunden hat. Droysen erläutert hier seine Auffassung von Natur- und Geschichtswissenschaft als zweier verschiedener Perspektiven auf die Welt. Seiner Meinung nach fasst der Geist in den Erscheinungen der Natur »das Stetige, das an dem sich die Bewegung vollzieht, das im Wechsel Gleiche, auf: die Regel, das Gesetz, den Stoff«.26 Betrachtet der Geist hingegen die Geschichte, dann bemerkt er »dass sich da in der Bewegung immer neue Formen gestalten, so […] dass das Stoffliche, an dem sie erscheinen, als ein secundäres Moment erscheint«.27 Dem Gedanken, den Droysen hier ent_____________ 25 26
27
Historik (L), 202, 287 und 5; Hervorhebungen von mir, C.H. Vgl. aber z. B. auch Historik (L), 307, wo es heißt: »mit dem Fortschreiten der geschichtlichen, d. h. sittlichen Bewegung«. Grundriss (1882), 474 f.; Hervorhebungen von mir, C.H. Vgl. ferner Historik (H), 11: In den Erscheinungen der Natur »fassen wir nur das Stetige, Stoffliche, an dem sich die Bewegung vollzieht«. Grundriss (1882), 475; Hervorhebungen von mir, C.H. Vgl. hierzu ferner Historik (H), 11 f.: Hinsichtlich der geschichtlichen Erscheinungen »sehen wir, daß in der Bewegung nicht immer wieder zu
Droysens Charakterisierung der Geschichte als Bewegung
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wickelt, liegt unübersehbar Aristotelesʼ Analyse der Bewegung zu Grunde. Das Interessante ist aber, dass er das Konzept der aristotelischen Stoff-Form-Unterscheidung aufgreift, um es letzten Endes für seine Zwecke argumentativ zu nutzen, nämlich um den unterschiedlichen Fokus von Natur- und Geschichtswissenschaft stark zu machen. Der Historiker interessiert sich laut Droysen in erster Linie für die sich wandelnden Formen, der Naturwissenschaftler hingegen für das Gleichbleibende, also für den Stoff. Wohin diese Argumentation Droysen führt, wird im nächsten Kapitel zur Sprache kommen. In der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes findet sich der oben zitierte Gedanke interessanterweise noch nicht. Droysen formuliert ihn erstmals in dem genannten Aufsatz von 1866. Dieser Befund korrespondiert mit der Tatsache, dass Droysen auch die Gliederung der Systematik erst im Nachhinein anhand des aristotelischen Viererschemas neu justiert hat. In diesem neuen, auf Aristoteles aufbauenden Gliederungsentwurf sind Stoff und Form, neben der Bewegungsursache und dem Zweck, zwei der vier Hinsichten, unter denen der Historiker laut Droysen die (Bewegung der) Geschichte zu analysieren hat. Drittens beschreibt Droysen Raum und Zeit als zwei wesentliche Dimensionen von Bewegung: Denn Alles ist in Bewegung. Das Selbstgefühl unsres Lebens […] giebt uns den Begriff der Bewegung und seiner Momente Raum und Zeit. […] Wir wissen freilich, dass in der Bewegung Raum und Zeit immer vereint sind, dass die Zeit gleichsam den trägen Raum in immer neuer Bewegung zu überwinden, die Bewegung immer wieder aus der Ungeduld der Zeit in die Ruhe des Seins zurückzusinken und sich auszubreiten strebt.28
Die Feststellung, dass alle Bewegung an einem konkreten Ort und zu einer bestimmten Zeit stattfindet und sich demzufolge nur mit Hilfe dieser beiden Begriffe beschreiben lässt,29 hatte Aristoteles veranlasst, sich in der Physik auch mit diesen beiden Konzepten auseinanderzusetzen.30 Trendelenburg hat dann in seinen Logischen Untersuchungen explizit an Aristotelesʼ Analyse der Bewegung in der Physik angeknüpft und ganz pointiert herausgearbeitet, dass »Raum und Zeit für das Bewusstsein erst durch die Bewegung erzeugt«31 werden:
_____________ 28
29 30 31
den gleichen Formen zurückgekehrt wird, sondern sich immer neue und entwickeltere Formen gestalten, so neue, daß das Stoffliche, an dem sie erscheinen, wie zu einem sekundären Moment wird«. Grundriss (1882), 474. Hildegard Astholz (1933), 45–47, geht in ihrer Untersuchung nicht vom Begriff der Bewegung, sondern von dem der Zeit aus und setzt daher Droysens und Aristotelesʼ Auffassung von der Zeit zueinander ins Verhältnis und gelangt zu dem Schluss (ebd. 47): »Man erkennt deutlich, dass Droysen die Zeit genau so bestimmt wie Aristoteles, mag er nun durch eigene Lektüre des Aristoteles dazu geführt sein oder durch die Tradition, die in der Philosophie und Historie unbewußt wirkte oder durch beides.« Indem sie hier auf die Bedeutung der Tradition hinweist, formuliert sie einen wichtigen Gedanken. Vgl. Phys. III 1, 200b20 ff. Vgl. Phys. IV 1–5 (Analyse des Ortes) und Phys. IV 10–14 (Analyse des Phänomens der Zeit). Trendelenburg (1870), Bd. 1, 156.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte Wo Raum und Zeit gedacht werden sollen, werden sie durch die Bewegung gedacht. In der Bewegung sind Raum und Zeit unauflöslich verwachsen, und für die Vorstellung scheiden sich erst aus der Bewegung, als aus dem gemeinsamen Ursprung, Raum und Zeit heraus.32
Nun liest sich Droysens oben zitierte Passage so, als ob er Trendelenburgs Ausführungen gekannt hätte. Was allerdings dagegen spricht, ist, dass er an anderer Stelle Raum und Zeit als »apriorische Anschauungen«33 im Sinne Kants einführt, Trendelenburg aber die kantische Auffassung von Raum und Zeit als subjektiver Formen der Anschauung34 zugunsten der aristotelischen verworfen hat. (Möglich wäre aber auch, dass Droysen das gar nicht zur Kenntnis genommen oder sich nicht daran gestört hat.) Viertens ist für Droysen Kontinuität ein wesentliches Charakteristikum von Geschichte.35 Auch hier besteht insofern ein Bezug zu Aristoteles, als dieser Kontinuität als ein eigentümliches Merkmal von Bewegung herausgearbeitet36 und der Untersuchung des Phänomens der Kontinuität beziehungsweise des Kontinuums ein ganzes Buch37 der Physik gewidmet hat. Am Beispiel einer Linie erläutert Aristoteles, dass ein Kontinuum unendlich teilbar sein muss und es daher nicht aus unteilbaren Elementen zusammengesetzt sein kann. Soll eine Linie ein Kontinuum bilden, kann sie nicht aus unteilbaren Punkten, sondern nur aus jeweils unendlich teilbaren Teilstrecken bestehen.38
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34
35 36 37 38
Trendelenburg (1870), Bd. 1, 215. Den Namen Kants erwähnt Droysen nur in der von Horst Walter Blanke für die Publikation vorbereiteten letzten Fassung, in der Einleitung § 3: »Wenn wir sagen, daß die Geschichte die zeitlichen, die Natur die räumlichen Dinge umfaßt, sind das nicht völlig vage Bezeichnungen? Sind sie nicht logisch falsch? Ist es möglich zu sagen, daß es Dinge der Zeit nach gebe, die nicht im Raum wären, Dinge dem Raum nach[,] die nicht in d[er] Zeit wären? Wir müssen erkennen, nicht an den Dingen objectiv ist entweder die eine oder andere Bestimmung, sondern wir fassen sie nur nach der einen oder anderen auf und zusammen. Wie wir menschl[icher] Weise nicht anders uns zu der Unendlichkeit der Erscheinungen verhalten, uns ihrer Meister machen können, als indem wir sie nach der logischen Natur unseres Geistes zerlegen, sie nach gewissen Kategorien zusamm[en]fass[en] und in solcher Ordnung sie denken, so sind es in diesen beiden Bezeichnungen Natur u[nd] Geschichte die allgemeinsten Kategorien, die[,] wie Kant sie nennt, apriorischen Anschauungen von Raum und Zeit, nach denen wir uns die Summe aller Erscheinungen zerlegen und ordnen.« Horst Walter Blanke hat mir freundlicherweise Einsicht in seine bisher noch nicht publizierte Edition gewährt. Laut Kant beruhen die Begriffe von Raum und Zeit nicht auf der empirischen Erfahrung, sondern sie bilden im Gegenteil überhaupt erst deren Voraussetzung. Vgl. Kant (1787), 38: »Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. […] Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« Das Gleiche trifft für die Zeit zu, auch diese »ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden« und zugleich ist sie »eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt« (ebd. 46). Vgl. hierzu Kapitel 4.5.2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. z. B. Phys. III 1, 200b16 f.; IV 11, 219a12 ff.; V 4, 228a20. Phys. VI. Vgl. Phys. VI 1, 231a21 ff.
Exkurs: Unstimmigkeiten
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4.3 Exkurs: Unstimmigkeiten In einem ebenfalls sehr naheliegenden Punkt folgt Droysen Aristoteles erstaunlicherweise nicht. Dieser hat Bewegung auch mit Hilfe der Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit definiert,39 indem er sie als den Übergang einer Sache vom Modus der Möglichkeit in den seiner Wirklichkeit, also als Realisierung oder Aktualisierung einer zuvor nur bestehenden Möglichkeit, beschrieben hat. Hegel knüpft im Gegensatz zu Droysen genau hier an und nutzt das aristotelische Modell, um Entwicklung zu denken: Entwicklung ist eine bekannte Vorstellung. Es ist aber das Eigentümliche der Philosophie, das zu untersuchen, was man sonst für bekannt hält. […] Um zu fassen, was Entwickeln ist, müssen zweierlei – sozusagen – Zustände unterschieden werden. Der eine ist das, was als Anlage, Vermögen, das Ansichsein, wie ich es nenne (potentia, δύναμις), bekannt ist. Die zweite Bestimmung ist das Fürsichsein, die Wirklichkeit (actus, ἐνέργεια).40
Dass Droysen das aristotelische Konzept der beiden Seinsmodi dennoch nicht gänzlich fremd gewesen ist, zeigt die folgende im Vorlesungsmanuskript zu findende Formulierung. Droysen spricht an dieser Stelle von der Rolle des Menschen als des Arbeiters der Geschichte und bemerkt hinsichtlich dieser: Namentlich fällt ihm jene Rolle zu, die wir nach Aristoteles als die σύνθεσις [Zusammensetzung, C.H.]41 bezeichnen müßten, das Zusammenbringen des Gedankens und des Stoffes, der δύναμις und ἐνέργεια.42
Nun ist zwar bei Aristoteles, wie oben dargelegt, die Form-Materie-Distinktion eng mit der Unterscheidung der zwei Seinsweisen verknüpft, insofern die Materie allein zunächst immer unbestimmt und daher nur der Möglichkeit nach (δύναμις) etwas ist und es des Hinzukommens des Moments der Form bedarf, um etwas in den Modus der Wirklichkeit (ἐνέργεια) zu überführen, so dass nachvollziehbar ist, weshalb Droysen die beiden Begriffe hier anbringt. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass er leicht danebengegriffen hat. Zur Bezeichnung des Stoffes hat er an anderer Stelle den Begriff τὸ ὑποκείμενον43 eingeführt und zur Bezeichnung der Form τὸ τί ἦν εἶναι44. Dieses Danebengreifen Droysens bei seiner Wortwahl lenkt den Blick auf Hegel, denn dieser hat in seiner Vorlesung über Aristoteles die Korrelation der Momente Stoff und Form mit den beiden Seinsmodi von Möglichkeit und Wirklichkeit deutlich ausgesprochen:
_____________ 39 40 41 42 43 44
Vgl. Phys. III. Hegel (1986), Bd. 18, 39. Zu Aristotelesʼ Gebrauch dieses Begriffs vgl. Corcilius (2005), 562 ff. Historik (L), 388. Historik (L), 29, 385. Historik (L), 29, 385; Grundriss (1857/58), § 49, 408; Grundriss (1882), 464.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte Dies sind die zwei Hauptbestimmungen des Aristoteles. Die δυναμις ist also dasjenige was auch wieder als Materie erscheint, und die ἐνεργεια ist dagegen die Form, die Thätigkeit.45
Vielleicht haben Formulierungen dieser Art Droysens Verwechslung Vorschub geleistet (auch wenn sie Jahrzehnte zurücklagen, als Droysen seine Vorlesung erarbeitet hat).46 Und wenn dem so wäre, wäre es ein Hinweis darauf, dass Droysens AristotelesKenntnisse vor allem auf Hegels Vorlesung zurückgehen. Was die Prominenz des Bewegungsbegriffs in der Historik betrifft, so lenkt diese allerdings den Blick in erster Linie auf Trendelenburg, auch wenn Droysen diesen nie erwähnt. Nun gibt es zwar bei Droysen diese wiederholte Rede von »verwirklichen« und »Verwirklichung«,47 aufgrund derer man zunächst meint, dass er das aristotelische Modell zu Grunde legt. Das ist aber nicht der Fall. Das lässt sich am besten anhand von Droysens Verwendung des Ideenbegriffs zeigen. Daher soll in einem nächsten Schritt geklärt werden, was er unter »Idee« versteht. Droysens Inkonsequenz im Umgang mit diesem Begriff ist zu unübersehbar,48 als dass man sie ignorieren könnte. Meines Erachtens lassen sich mindestens fünf verschiedene Bedeutungen, in denen Droysen den Begriff gebraucht, unterscheiden: Erstens gebraucht er den Begriff zum Teil umgangssprachlich im Sinne von Vorstellung, Gedanke, Plan. Zweitens bezeichnet er die sittlichen Mächte als Ideen (so dass die Ideen in diesem Kontext als ein kategoriales Schema, eine systematisierende Theorie gedacht sind). Drittens gebraucht er den Begriff an einigen Stellen so, dass man meint, er würde das platonische Begriffsverständnis zu Grunde legen. Das legen Äußerungen wie die folgenden nahe: Die Ideen (des Heiligen, Schönen, Wahren, der Macht, des Rechts usw.) »suchen und finden ihren Ausdruck, und jeder gefundene Ausdruck ist ein Versuch, diese Idee zur Erscheinung zu bringen, die seiende Welt in ihr zu erfassen«,49 oder auch: _____________ 45 46
47 48
49
Hegel (2016), Bd. 30.1, 344. Vgl. ferner Hegel (1986), Bd. 19, 154: »Die Materie ist nur eine Möglichkeit, die Form gibt ihr die Wirklichkeit […].« Allerdings hat er sich nach dem Erscheinen der ersten beiden von Michelet herausgegebenen Bände von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie im Jahre 1833 nochmals damit befasst. Davon zeugt ein unveröffentlicht gebliebener Rezensionsessay, der im Droysen-Nachlass in Halle überliefert ist (ULB Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), Abt. Sondersammlungen: Familiennachlass Droysen, Yi 32 A 10). Historik (H), 5, 201, 206, 239, 266, 288, 309, 425. Was schon allein auf der ersten Seite des Abschnitts über die Interpretation der Ideen deutlich zu Tage tritt, wo es sinnfälligerweise heißt: »Wir dürfen uns darüber hinwegsetzen, ob wir das Wort Idee in demselben Sinn brauchen wie etwa Plato oder Hegel. Aber es ist notwendig, klar zu sagen, was wir damit bezeichnen.« Darauf folgt die unten zitierte Passage: »Es gibt kein Verhältnis« etc., in der er ja eher ein platonisches Verständnis artikuliert. Im darauffolgenden Absatz liest man dann aber mit Erstaunen, dass die Idee »nach Aristotelesʼ Ausdruck die höchste von den vier Ursachen« sei. Vgl. Historik (L), 201. In der späten Fassung lauten die einleitenden Sätze dann: »Wir dürfen uns darüber hinwegsetzen, ob wir das Wort Idee in dem heute üblichen Sinne brauchen. Wenigstens Aristoteles braucht das Wort ἰδέα für die verschiedenen Gestaltungen und Formen (εἴδη) innerhalb ihrer Gesamtheit. Was wir damit meinen, ist folgendes.« Darauf folgt dann die (alte) Formulierung: »Es gibt kein Verhältnis […].« Vgl. Historik (H), 180. Historik (L), 17.
Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (II)
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Es gibt kein Verhältnis menschlichen Seins und Tuns, das nicht Ausdruck und Erscheinungsform eines Gedachten, Allgemeinen, einer Idee wäre; denn eben darin ist es menschlich, daß es auf etwas zurückweist, das sich in ihm verwirklicht, und darum die Wahrheit der Erscheinung ist. Jede Ehe ist die mehr oder minder glückliche Verwirklichung der Idee der Ehe, und die Ehegatten haben sehr wohl das Bewußtsein von dem Ideal, das ihr Verhalten zueinander verwirklichen sollte.50
Viertens verwendet er den Begriff aber auch im aristotelischen Sinne der Formursache und spricht dann synonym mit Idee von »Gedanke« oder »Gedankenkomplex«. Fünftens meint Droysen, wenn er von Idee spricht, aber zumeist den hinter allem stehenden Plan (logos) oder Zweck (im aristotelischen Sinne der causa finalis).51 Nun spielt der Begriff bei Droysen meines Erachtens deshalb eine so große Rolle, weil er das Konzept Humboldts übernimmt, der bekanntlich geäußert hat, dass das »Geschäft des Geschichtschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung« die »Darstellung des Strebens einer Idee, Daseyn in der Wirklichkeit zu gewinnen«52 sei. Diese Formulierung Humboldts birgt eine unübersehbare Offenheit in sich hinsichtlich dessen, was hier unter Idee zu verstehen ist. Droysen versteht die Ideen nun, wie aufgezeigt, wechselweise im platonischen Sinne von transzendenten Urbildern, im aristotelischen Sinne der Formursache und in den meisten Fällen als Zweckursache. Da er, wenn er von »verwirklichen« oder »Verwirklichung« spricht, meistens vom Verwirklichen einer oder mehrerer Ideen spricht und er letztere an diesen Stellen in einem platonischen Sinne auffasst, argumentiert er hier also von einem platonischen Standpunkt aus und kann somit an diesen Stellen nicht die aristotelische Konzeption der Verwirklichung einer Möglichkeit im Sinn gehabt haben, auch wenn seine Wortwahl das nahelegt.53
4.4 Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (II): Aristotelesʼ Bestimmung der Seele als Formursache und als vollendete Wirklichkeit (ἐντελέχεια) des Körpers In seiner Schrift Über die Seele (De anima) entwirft Aristoteles eine Theorie des Lebendigen. Sein Interesse gilt hier dem Problem, welches die charakteristischen Merkmale des Lebendigen sind. Die Seele ist laut Aristoteles das Prinzip, das einen _____________ 50
51 52 53
Historik (L), 201. Allein schon diese Passage zeigt sehr gut, dass es Droysen mit den Theorieversatzstücken, die er unterwegs aufgreift, nicht sonderlich genau nimmt. Hier wird ihm die platonische Idee unversehens zum Ideal – und einige Absätze später ist sie gar »nach Aristotelesʼ Ausdruck die höchste von den vier Ursachen oder ἀρχαί, τὸ τοῦ ἕνεκα, auch wohl der λόγος, ἡ πρῶτη ἀρχή, ἡ ἀρετή«. Darauf, dass Droysen hier, obwohl er Aristoteles namentlich nennt, eigentlich eine platonische Vorstellung artikuliert, wurde schon im ersten Kapitel hingewiesen. Ebd. Humboldt (1960), 605. Vgl. Historik (H), 5, 201, 206, 266, 309, 425. Es trifft die Sache also nicht ganz, wenn Hühn (2010), 151, schreibt: »Droysen orientiert sich nicht am Platonischen Ideenbegriff, sondern […] am Aristotelischen Konzept des to ti ên einai.« Denn wie wir gesehen haben, orientiert er sich an beiden.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
Körper, der die Möglichkeit dazu hat, zu einem lebendigen Körper macht. Er bestimmt somit die Seele als Prinzip des Lebendigen (sowohl der Pflanzen, der Tiere als auch des Menschen). Das, was Aristoteles unter »Seele« versteht, hat also weder etwas damit zu tun, was man in der europäischen Tradition landläufig unter »Seele versteht, noch mit dem, was wir heute unter »Psyche« verstehen. Im Gegensatz dazu ist »Aristotelesʼ Begriff der Seele […] an der objektiv-wissenschaftlichen Erklärung der Phänomene des Lebendigen orientiert«.54 Der Titel der Schrift ist also insofern irreführend, als in De anima keine psychologischen Themen im heutigen Sinne behandelt werden. Den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet zum einen Platons Leib-SeeleDualismus und zum anderen der monistische Materialismus der Vorsokratiker. Mit beiden setzt er sich auseinander und entwickelt daraus seine eigene Position, die eine Art Vermittlung zwischen dem platonischen Dualismus und einer rein stofflichen Auffassung von der Seele darstellt. Denn ebenso wie Platon unterscheidet Aristoteles zwischen Körper und Seele, nur dass diese in seinen Augen nicht voneinander zu trennen sind. So wie bei einer Statue das Material und die Form nicht voneinander zu trennen sind. Der Körper ist der Stoff und die Seele die Form des Lebewesens. Erst Körper und Seele zusammen machen das Lebewesen aus und können daher nicht getrennt voneinander existieren.55 Aristoteles bestimmt die Seele aber nicht nur als die Form, sondern zugleich als die vollendete Wirklichkeit (entelecheia) eines natürlichen Körpers, der dem Vermögen (dynamis) nach Leben hat. Der Körper ist die Materie und somit die Möglichkeit, die Seele hingegen ist Form und Wirklichkeit des Körpers. Es sind also die beiden oben erläuterten Unterscheidungen von Form und Materie und die von Wirklichkeit und Möglichkeit, die dem aristotelischen Verständnis der Seele zu Grunde liegen.56 Da die Seele das Prinzip des Lebendigen ist, verfügen zwangsläufig alle lebendigen Wesen (also sowohl Pflanzen und Tiere als auch der Mensch) über eine Seele. Ferner bestimmt Aristoteles die Seele hinsichtlich der Vier-Ursachen-Lehre in dreierlei Weise als Ursache: Sie ist Form-, Zweck- und Bewegungsursache. Die Materialursache hingegen liegt beim Körper.57 Im Fortgang der Untersuchung unterscheidet Aristoteles vier charakteristische Merkmale des Lebendigen beziehungsweise vier Seelentätigkeiten: die Ernährung (zu der er auch die Fortpflanzung rechnet), die Sinneswahrnehmung, das Denken und die Bewegung. Denn wir nennen etwas lebendig, so seine Argumentation, wenn etwas über mindestens eine der vier genannten Lebensfunktionen verfügt.58 Den Pflanzen kommt ausschließlich das Ernährungsvermögen zu,59 den Tieren darüber hinaus auch das Wahrnehmungs- und Bewegungsvermögen. Allein der Mensch verfügt über alle _____________ 54 55 56 57 58 59
Vgl. zum Folgenden Corcilius (2011), Zitat ebd. 96. Vgl. De an. II 1, 412a6–21. Vgl. ebd. Vgl. De an. II 4, 415b8–12. Vgl. De an. II 2, 413a21 ff. Vgl. De an. II 2, 413a34 f.
Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte (II)
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vier genannten Seelenvermögen, die Aristoteles im Folgenden einer genaueren Analyse unterzieht. Nach dem Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen problematisiert Aristoteles die Sinneswahrnehmung.60 Im fünften Kapitel des zweiten Buches, in dem sich auch die von Droysen entlehnte präpositionale Wendung ἐπίδοσις εἰς αὑτό findet, widmet er sich zunächst der Behandlung der Sinneswahrnehmung im Allgemeinen, bevor er dann in den nächsten Kapiteln die einzelnen Sinne der Reihe nach problematisiert. Hinsichtlich der Sinneswahrnehmung insgesamt ist laut Aristoteles zwischen dem Modus der Möglichkeit und dem der Wirklichkeit zu unterscheiden, denn Wahrnehmung existiert zunächst nur der Möglichkeit nach und aktualisiert sich erst unter bestimmten Umständen, so dass jegliche Wahrnehmung immer die Verwirklichung oder Vollendung (entelecheia) einer Möglichkeit (dynamis) darstellt. Am Beispiel des Wissens führt Aristoteles in diesem Kapitel ferner die Binnendifferenzierung von erster und zweiter Möglichkeit (dynamis) beziehungsweise erster und zweiter Wirklichkeit oder Vollendung (entelecheia) ein.61 Gemäß dieser Unterscheidung ist der Mensch im Allgemeinen potentiell ein Wissender, da er generell dazu befähigt ist, Wissen zu erwerben. Der Mensch im Allgemeinen befindet sich also hinsichtlich des Lernens im Modus der ersten Möglichkeit. Ferner ist ein konkreter Mensch sowohl potentiell als auch tatsächlich ein Wissender, wenn er bereits ein bestimmtes Wissen, wie z. B. das, wie man Häuser baut, erworben hat. Der über dieses Wissen verfügende Mensch befindet sich nach der von Aristoteles eingeführten Unterscheidung im Modus der zweiten Möglichkeit beziehungsweise der ersten Wirklichkeit. Wenn dieser Mensch dann sein Wissen »verwirklicht«, d. h. aktualisiert, indem er tatsächlich ein Haus baut, so befindet er sich im Moment des Bauens im Modus der zweiten Wirklichkeit.62 Im Fortgang der weiteren Argumentation fällt dann die von Droysen aufgegriffene Formulierung ἐπίδοσις εἰς αὑτό, die im gesamten Corpus Aristotelicum nur dieses eine Mal vorkommt:63 Und auch das Erleiden [also die Wahrnehmung, C.H.] ist nichts Einfaches, vielmehr ist es zum einen eine Art von Zerstörung durch das Entgegengesetzte und zum anderen eher ein Bewahren des dem Vermögen nach Seienden durch das der Vollendung nach Seiende und dessen, was ihm auf solche Weise gleich ist, wie ein Vermögen sich zur Vollendung verhält. Denn indem es betrachtet, entsteht das, was das Wissen hat, was entweder keine Veränderung ist – denn der Fortschritt geht hin zu ihm selbst und in eine Vollendung [εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις καὶ εἰς ἐντελέχειαν, C.H.] –, oder es ist eine andere Gattung von Veränderung.
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Vgl. De an. II 5, 416b32– III 2, 427a5. Vgl. De an. II 5, 417a21–b2. Hinsichtlich der eben erläuterten Unterscheidung hat Aristoteles an anderer Stelle die Seele auch als die erste Wirklichkeit des Körpers bezeichnet (De an. II 1, 412a22–28). Das ist wie folgt zu verstehen: Wenn z. B. ein Lebewesen über Augen verfügt und eine Seele hat, dann ist es zum Sehen befähigt, auch dann, wenn es gerade nichts sieht, weil es z. B. schläft. In diesem Moment befindet es sich im Modus der ersten Wirklichkeit. Das Aufwachen, Augenaufschlagen und das aktuale Sehen seiner Umgebung entspräche dann dem Übergang in den Modus der zweiten Wirklichkeit. De an. II 5, 417b6 f.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte Deswegen trifft es nicht zu, zu sagen, dass das Denkende, wenn es denkt, sich verändert, so wie auch nicht der Hausbauer, wenn er ein Haus baut. Das also, was beim Denkenden und Erkennenden aus dem dem Vermögen nach Seienden in die Vollendung überführt, ist nicht Unterricht, sondern sollte mit Recht eine andere Bezeichnung erhalten. Wer aber als dem Vermögen nach seiender lernt und Wissen erwirbt, und zwar von dem, der es der Wirklichkeit nach ist und die Fähigkeit hat zu unterrichten, von dem soll entweder gar nicht gesagt werden, dass er erleidet [wie bereits gesagt wurde], oder es gibt zwei Weisen der Veränderung, nämlich einerseits den Umschlag in die privativen Zustände, andererseits den hin zum Haben und der Natur.64
Die von Droysen bei Aristoteles entlehnte Formel ἐπίδοσις εἰς αὑτό ist also Teil eines in Klammern stehenden Einschubs (εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις καὶ εἰς ἐντελέχειαν), der von Klaus Corcilius übersetzt wird mit »denn der Fortschritt geht hin zu ihm selbst und in eine Vollendung«65. Das Substantiv ἐπίδοσις bedeutet so viel wie Steigerung, Wachstum, Zuwachs, Ausdehnung, Zugabe oder Zunahme. Bei εἰς handelt es sich um eine Präposition, die eine Richtung oder Bewegung auf etwas hin anzeigt. Das Reflexivpronomen αὑτό (seiner, ihrer, selbst, sich) steht in Abhängigkeit von der Präposition εἰς im Akkusativ, ebenso wie ἐντελέχειαν (vollendete Wirklichkeit). Bei γὰρ handelt es sich um eine kausale Konjunktion (weil, da) und ἡ ist der zu ἐπίδοσις gehörende bestimmte Artikel.
4.5 Droysens Auffassung von der Geschichte als einer kontinuierlichen Steigerung zu sich selbst (ἐπίδοσις εἰς αὑτό) Die in De anima zu findende präpositionale Wendung εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις καὶ εἰς ἐντελέχειαν meint also so viel wie Steigerung zu sich selbst und zur Vollendung hin. Sie spielt bei Aristoteles, der sie nur dieses eine Mal verwendet, eine marginale Rolle. Bei Droysen hingegen wird sie zu einem terminus technicus, mit dem er den historischen Prozess als eine kontinuierlich fortschreitende Entwicklung, die einer ihr innewohnenden und sie bestimmenden Zweckmäßigkeit folgt, charakterisiert. Zwei Dinge fallen auf: Erstens, dass Droysen die aristotelische Wendung nicht vollständig übernimmt, da er die Worte καὶ εἰς ἐντελέχειαν weglässt, so dass sich die (später zu beantwortende) Frage stellt, ob er das εἰς ἐντελέχειαν dennoch bei jeder Verwendung mitgedacht hat. Zweitens fällt auf, dass die Wendung bei Droysen nie allein steht, weil er sie entweder mit erläuternden Begriffen flankiert oder weil er sie selbst (als in Klammern stehenden Zusatz) zur Spezifizierung anderer Begriffe nutzt. Anhand der sie flankierenden Termini ist leicht zu erschließen, wie Droysen die Formel verstanden hat und sie demzufolge verstanden wissen wollte, nämlich als »Zuwachs zu
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De an. II 5, 417b2–15. Hier zitiert nach der Übersetzung von Klaus Corcilius (2017), 103. Die Hervorhebung der hier zur Diskussion stehenden Passage stammt von mir, C.H. Theiler übersetzt die Passage mit: »denn zum Eigenen entwickelt es sich und zur Erfüllung«.
Geschichte als kontinuierliche Steigerung zu sich selbst
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sich selbst«, »Steigerung« beziehungsweise »fortschreitende Steigerung«, als »fortschreitende Bewegung« oder »sich steigernde« und »kontinuierliche Bewegung«, als »Fortschreiten«, »Fortschritt«, »rastlose Entwicklung« oder »sich in sich selbst steigernde Kontinuität«.66 In der Einleitung der Hübner-Edition, also in der letzten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes, ist die Wendung ἐπίδοσις εἰς αὑτό ein ganz zentraler, wenn nicht der zentralste Begriff und wird von Droysen nahezu formelhaft benutzt. Auf knapp 30 Seiten fällt der Begriff achtmal in griechischer Sprache,67 hinzu kommt die Verwendung der deutschen Übersetzung »Steigern« oder »Steigerung«. So findet sich auf Seite 29 der Einleitung das Wort »Steigern« in verschiedenen Formen und als Komposita gleich sechsmal. In der frühesten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes hatte Droysen die Formel noch nicht verwendet, sie taucht aber sehr zeitnah schon im ersten Manuskriptdruck des Grundrisses der Historik (1858) genau einmal auf und ebenso auch in allen folgenden Grundrissen.68 Weitere Nennungen finden sich im Aufsatz Natur und Geschichte (1866),69 der Vorlesungsnachschrift von Harry Bresslau von 186870 und im von Peter Leyh edierten Vorlesungsmanuskript; dort stammt die früheste Erwähnung von 1875.71 Auch wenn die Wendung in der frühen Vorlesungsfassung und in der sogenannten Privatvorrede von 1843 (noch) nicht vorkommt, so artikuliert Droysen in beiden doch bereits seine Vorstellung von der Geschichte als einer kontinuierlichen (Höher-)entwicklung. Es stellen sich daher zwei Fragen: Erstens, was will Droysen mit der aristotelischen Begrifflichkeit zum Ausdruck bringen, und zweitens, welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht ihre Einführung? Hinsichtlich der ersten Frage lässt sich festhalten, dass Droysen die Formel einmal dazu nutzt, um die Geschichte von der Natur (und somit jegliche historische Entwicklung von natürlichen Wachstumsprozessen) abzugrenzen. Ferner dient sie ihm dazu, die Geschichte als ein Kontinuum, als Höherentwicklung und als einen teleologischen Prozess zu charakterisieren.
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Historik (H), 9 (»Zuwachs zu sich selbst«); Bresslau (2007), 204 (»Steigerung«); Grundriss (1882), 421 (»fortschreitende Steigerung«); Bresslau (2007), 201 (»fortschreitende Bewegung«); Historik (H), 268 (»sich steigernde und kontinuierliche Bewegung«); Historik (H), 29 (»Fortschreiten«); Historik (L), 163, sowie Historik (H), 152 (»Fortschritt«); Historik (L), 255, sowie Historik (H), 304 (»rastlose Entwicklung«); Natur und Geschichte, Historik (L), 475, ähnlich Historik (H), 12 (»sich in sich selbst steigernde Kontinuität«). Vgl. Historik (H), 9, 10, 12, 14, 20, 24, 27, 29. Darüber hinaus fällt die Wendung noch auf den Seiten 152, 193 und 304. Grundriss (1858), § 11, 10; Grundriss (1862), § 11, 5; Grundriss (1868), § 2 f., 7; Grundriss (1875), § 2 f., 7; Grundriss (1882), § 2, 421. Grundriss (1882), 475. Bresslau (2007), 201 und 204. Historik (L), 163, 252, 255.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
4.5.1 Der Unterschied von Natur und Geschichte Die Unterscheidung zwischen Natur und Geschichte als zwei verschiedene Erkenntnisweisen leitet Droysen zunächst in Rekurs auf die beiden von Kant unterschiedenen »apriorischen Anschauungen«72 Raum und Zeit her, indem er unterstellt, dass der menschliche Geist manche Dinge mehr nach ihrer räumlichen, andere hingegen mehr nach ihrer zeitlichen Seite hin auffasse, je nachdem, welcher Aspekt für den Betrachter überwiege.73 Im Fortgang seiner weiteren Argumentation greift er dann auf die aristotelische Form-Materie-Unterscheidung zurück, indem er die Natur mit dem Stoff gleichsetzt und die Geschichte mit der Form. Das ergibt dann einmal die Gleichsetzung von Natur, Raum und Stoff und zum anderen die von Geschichte, Zeit und Form. (Indem Droysen hier also die Zeit zur Form und den Raum zum Stoff macht, blendet er zwei gänzlich verschiedene Konzepte – die aristotelische Unterscheidung von Stoff und Form und Kants Auffassung von Raum und Zeit als reiner Anschauungsformen – ineinander.) In der Natur, so Droysen weiter, trete das Moment der Zeit in den Hintergrund, denn die Erscheinungen der Natur sind solche, die sich im Wesentlichen wiederholen, in denen sich also die unendliche Reihe Zeit zerlegt in gleiche sich wiederholende Kreise (Perioden), so dass eine solche Gestaltung als ›nicht der Zahl nach eins, aber der Art nach eins‹ erscheint.74
Der zeitliche Verlauf in der Natur erscheint dem Betrachter als zyklisch, weil hier »immer wieder zu den gleichen Formen zurückgekehrt wird«.75 Auch Tiere und Pflanzen verändern sich, aber in der nur periodischen Wiederkehr ihres Wechsels haben sie uns keine Geschichte. Wir unterscheiden die einzelnen wohl, aber ihre Unterschiede zeigen uns keine Folgereihe sich in sich selbst steigernder Formungen. Wir fassen sie dem Raum, dem Stoff, dem im Wechsel Gleichen, dem in der Vielheit sich wiederholenden Einerlei nach auf.76
Mit anderen Worten, in der Natur entstehen laut Droysen keine (qualitativ) neuen Formen, somit sind natürliche Wachstumsprozesse immer nur rein quantitativer Natur. Dagegen ist die Vielheit der individuellen Menschen »nicht wie die der Pflanzen, der Tiere eine bloß quantitative«, sondern eine qualitative.77 Denn in der Geschichte _____________ 72 73 74
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Den Namen Kants erwähnt Droysen nur in der von Horst Walter Blanke für die Publikation vorbereiteten letzten Fassung. Vgl. Anm. 33 oben in Kapitel 4.2. Vgl. Historik (H), 11 f., oder auch Grundriss (1882), 473. Grundriss (1882), 474, und fast wortwörtlich Historik (H), 11. Die hier von Droysen zitierte Passage stammt aus De an. II 4, 415b8. Auf die gesamte Stelle aus De an. II 4, 425a29 ff. bezieht er sich wiederholt. Vgl. dazu unten Anm. 79 in diesem Kapitel. Historik (H), 11. Mit dem gleichen Argument, dass Naturprozesse immer zyklisch verlaufen, hatte sie schon Hegel (1986), Bd. 18, 51, von der Entwicklung des Geistes abgegrenzt: »Die Natur ist, wie sie ist, und ihre Veränderungen sind deswegen nur Wiederholungen, ihre Bewegung nur ein Kreislauf.« Grundriss (1882), 476. Historik (L) 24. Droysens Argumentation geht auch hier nicht ganz auf, denn genaugenommen ist es weniger das Zurücktreten des zeitlichen Moments, das das Charakteristische der Natur ausmacht, sondern eher die scheinbar gleichbleibende, da sich wiederholende Form, die dazu führt, dass die Zeit an Bedeutung verliert.
Geschichte als kontinuierliche Steigerung zu sich selbst
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ist das ständige Entstehen ganz neuer Formen zu beobachten, die nicht nur zeitlich aufeinander folgen, sondern zugleich aufeinander aufbauen. Jede vorausgegangene Form stellt die Voraussetzung für die nächstfolgende dar und jede Gegenwart ist quasi das Ergebnis der ihr vorausgegangen Vergangenheit und ihrerseits wieder die Voraussetzung für die auf sie folgende und auf ihr aufbauende Zukunft: In der Geschichte sehen wir, daß in der Bewegung nicht immer wieder zu den gleichen Formen zurückgekehrt wird, sondern sich immer neue und entwickeltere Formen gestalten, so neue, dass das Stoffliche, an dem sie erscheinen, wie zu einem sekundären Moment wird. Wir sehen hier ein stetes Werden neuer individueller Bildungen. Jede neue nicht bloß eine andere als die frühere, sondern aus früheren hervorgehend und von ihnen bedingt, so daß sie die früheren voraussetzt und ideell in sich hat, sie weiterführend und in der Weiterführung schon auf die noch weitere Gestaltung, die ihr folgend wird, hinweisend. Es ist eine Kontinuität, in der jedes Frühere sich erweitert und ergänzt durch das Spätere (ἐπίδοσις εἰς αὑτό), eine Kontinuität, in der die ganze Reihe durchlebter Gestaltungen sich zu fortschreitenden Ergebnissen summiert und jede der durchlebten Gestaltungen als ein Moment der werdenden Summe erscheint. In diesem rastlosen Nacheinander, in dieser sich in sich steigernden Kontinuität gewinnt die allgemeine Anschauung Zeit ihren diskreten Inhalt, den einer unendlichen Folgenreihe fortschreitenden Werdens. Die Gesamtheit der sich uns so darstellenden Erscheinungen des Werdens und Fortschreitens fassen wir auf als Geschichte.78
Der Vollständigkeit halber ist hier ferner zu erwähnen, dass Droysen neben ἐπίδοσις εἰς αὑτό noch eine zweite Stelle aus De anima ins Spiel bringt,79 um daran anknüpfend den qualitativen Unterschied zwischen »der geschichtlichen und der natürlichen Welt genauer zu präzisieren«80. Es handelt sich um eine Passage aus dem vierten Kapitel des zweiten Buches von De anima. Aristoteles behandelt hier die basalste, allen lebendigen Wesen gleichermaßen zukommende Seelentätigkeit, die Ernährung, die für ihn auch die Fortpflanzung mit einschließt. Dabei charakterisiert er die Reproduktion der Lebewesen als deren Weise, am Ewigen und Göttlichen teilzuhaben: Denn für alle lebendigen Wesen […] ist es die natürlichste ihrer Leistungen, ein anderes hervorzubringen, das so ist wie es selbst […], damit sie am Ewigen und Göttlichen teilhaben, soweit es ihnen möglich ist. Denn alle (lebendigen Wesen) streben nach jenem Göttlichen […].81
Allerdings ist ihnen diese Teilnahme am Immerwährenden und Göttlichen nicht als einzelnen Lebewesen möglich, sondern nur als Art insgesamt. Denn nur indem sich das Einzelwesen fortpflanzt, erhält es seine Art und hat auf diese Weise am Göttlichen und Ewigen teil: Da nun (die lebendigen Wesen) nicht in der Lage sind, mit dem Ewigen und Göttlichen in kontinuierlicher Gemeinschaft zu sein, weil nichts Vergängliches vermag, als der Zahl nach
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Historik (H), 11 f.; Hervorhebungen von mir, C.H. Diesen Aspekt hat auch schon Astholz (1933, 36– 39) gesehen und problematisiert. De an. II 4, 415a26 ff. Und zwar an in: Historik (L), 16, 18, 20 f., 62, 397; Historik (H), 9 f.; Grundriss (1857/58), § 73, 411; Grundriss (1858), § 5, 8 und § 73, 26; Grundriss (1862), § 5,3 und § 73, 15; Grundriss (1868) und (1875), jeweils § 87, 37; Grundriss (1882), § 82, 444 und 474. Historik (L), 16. De an. II 4, 415a26 ff. (Hier in der Übersetzung von Klaus Corcilius.)
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Droysens Charakterisierung der Geschichte eines und dasselbe fortzubestehen, geht ein jedes soweit mit ihm eine Gemeinschaft ein, wie es dazu in der Lage ist […]. Und nicht es selbst besteht fort, sondern eines so wie es selbst, zwar nicht der Zahl nach eines, aber der Art nach eines.82
Der übergeordnete Argumentationszusammenhang bei Droysen, in dem er sich auf diesen Gedankengang aus De anima bezieht, ist die Erörterung der Frage, ob die Geschichtswissenschaft einer eigenen wissenschaftlichen Methode bedürfe.83 Um das zu begründen, verweist er auf die Doppelnatur des Menschen, dessen Wesen sich eben nicht – wie bei Tier und Pflanze – in seinem animalischen Dasein erschöpft, da dieser zugleich über »die Kraft des Geistes«84 verfügt. Deshalb erhält der Mensch, so Droysen, die eigene Art nicht bloß über seine kreatürliche Reproduktion, sondern zugleich (und vor allem) durch seine Teilhabe am geschichtlichen Prozess: »Auch der Mensch hat seine kreatürliche Seite, aber dieser sein naturhistorischer Gattungsbegriff füllt nicht sein Wesen aus wie bei Tier und Pflanze.«85 Denn aufgrund seiner »mitgeborene[n] Geistesnatur«86 hat der Mensch an dem Immer und an dem Göttlichen noch in anderer Art teil, als daß er nur tierisch ein οἷον αὐτό [wie es selbst, C.H.]87 zurückließe. Ihm ist es gegeben, sein αὐτότατον88, den Abdruck und die Spiegelung seines eigensten Lebens und Seins zurückzulassen.89
Mittels seiner formgebenden Kraft macht der Mensch »die Stoffe zu Trägern und Dienern dessen, wodurch er an dem ἀεὶ und dem θεῖον teilhat«.90 (Und diese von Menschenhand geformten Materialien sind es, mit denen es der Historiker dann zu tun hat und die, will er sie zum Sprechen bringen, sehr wohl einer eigenen Methode bedürfen.) Deshalb könnte man sagen, der Gattungsbegriff des Menschen nach seiner nicht bloß animalischen Natur ist die Geschichte, ist das Mitleben und Mitschaffen in dieser großen Kontinuität, dieser gemeinsamen und fortschreitenden Arbeit der Menschheit.91
Im Grundriss formuliert er dann aphoristisch verkürzt: Was den Thieren, den Pflanzen ihr Gattungsbegriff, – denn die Gattung ist, ἵνα ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχωσιν [damit sie am Ewigen und Göttlichen teilhaben, C.H.] –, das ist den Menschen die Geschichte.92
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Ebd. 415b3–7. Historik (L), 15–21; Historik (H); 9–11. Historik (L), 17. Ebd. 16. Ebd. 18. De an. II 4, 415b7. Bei diesem Wort handelt es sich um eine Hybridbildung, die man an dieser Stelle übersetzen kann mit: Ureigenstes. Historik (L), 16. Ebd. 20. Ebd. 17. Grundriss (1882), § 82, 444. Ähnlich auch in Grundriss (1858), § 73, 26; Grundriss (1862), § 73, 15; Grundriss (1868) und (1875), jeweils § 87, 37. Droysen zitiert hier De an. II 4, 415a29.
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In seiner Rezension der Historik-Edition von Rudolf Hübner geht auch Peter Rassow auf die eben erläuterte Argumentation Droysens ein. Es ist allerdings nicht ganz korrekt, wenn er schreibt: D. geht aus von Aristoteles’ Gegenüberstellung von Natur, innerhalb deren Tier und Pflanze nur in ihren Gattungen Dauer haben, und Menschheit, in der jedes Einzelwesen dadurch, daß es der Gattung etwas hinzubringt, Dauer hat.
Denn die Gegenüberstellung von Natur und Kultur findet sich bei Aristoteles noch nicht. Das sind Droysens Überlegungen, mit denen er an das von Aristoteles Ausgeführte anknüpft. Zutreffend hingegen ist Rassows daran anschließende Bemerkung: Diese ἐπίδοσις εἰς αὑτό ist das Wesen der Menschenwelt, d. h. der sittlichen Welt, insofern sie in dieser – von der Naturwelt spezifisch unterschiedenen – Art am göttlichen Wesen Teil hat. Von hier aus wird die in Droysens Zeit besonders brennende Frage nach dem Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft aufgegriffen.93
4.5.2 Kontinuität als ein Charakteristikum jeglicher historischen Entwicklung Geschichte ist also kein bloßes »Nacheinander«, keine bloße Abfolge unzusammenhängender Ereignisse, sondern sie ist eine »sich in sich steigernde[…] Kontinuität«94. Kontinuität meint hier nichts anderes, als dass die Geschichte einen ununterbrochenen und unauflöslichen Zusammenhang und somit eine Einheit darstellt, dass es nur die eine Geschichte (im Sinne des Kollektivsingulars) gibt und dass der oben beschriebene Wirkungszusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht: Die geschichtliche Betrachtungsweise ist unersättlich, das Gewordensein der Gegenwart tief und tiefer hinab zu verfolgen und so das Fortschreiten, das Sichsteigern, die ἐπίδοσις εἰς αὑτό zu konstatieren, die wir als das Charakteristische der menschlichen, d. h. der sittlichen Welt gefunden haben. Wie oberflächlich wären wir, wenn wir nur die Gegenwart und ihre Geschäfte kennten! Diese Gegenwart, wie sie denn ist, und so jede frühere, hat sich erst in der Kontinuität eines langen Werdens entwickelt, sich fort und fort steigernd, erweiternd, höher emporbauend.95
Im Gegensatz zu N. Herold – der konstatiert: Mit dem Begriff der h[istorischen] K[ontinuität] ist die Frage nach der Möglichkeit der Voraussetzungen eines Zusammenhanges von Geschichte gestellt. Seine Verwendung
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Rassow (1940), 133 f. Rassows Bemerkung bezieht sich auf Droysens Argumentation in Historik (H), 9 f. Historik (H), 12. Und nochmals kurz darauf (ebd.): »Soweit wir menschlicherweise sehen und beobachten können, hat nur die Menschenwelt diese Signatur der fortschreitenden Entwicklung[,] der sich in sich steigernden Kontinuität[, der ἐπίδοσις εἰς αὑτό].« Alle Einfügungen in eckigen Klammern stammen aus der Rekonstruktion der letzten Fassung von Horst Walter Blanke, der mir Einsicht in seine bisher noch nicht erschienene Edition gewährt hat. Historik (H), 29.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte kennzeichnet eine historische Situation, in welcher der Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart fraglich geworden ist.96 –
sehe ich es allerdings genau umgekehrt, nämlich dass die Prominenz des Kontinuitätsbegriffes bei Droysen eine Situation kennzeichnet, in welcher die Konsequenzen des zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestehenden Zusammenhanges vollends ins Bewusstsein getreten sind, so dass ich die Verwendung des Begriffes in einem engen Zusammenhang mit der Historisierung des Denkens stehen sehe. 4.5.3 Geschichte als (Höher-)»Entwicklung« der Menschheit im epigenetischen Sinn Wie bereits dargelegt, charakterisiert Droysen die Geschichte als kontinuierliche Steigerung, Fortschreiten und (Höher-)Entwicklung. Obwohl Droysen auch den Entwicklungsbegriff auf die Geschichte anwendet,97 spürt man zugleich sein Zögern, es zu tun. Worin diese Ambivalenz begründet sein könnte, soll im Folgenden überlegt werden. Der Entwicklungsbegriff98 stammt aus der Biologie und war ursprünglich ein Programmwort der Präformisten, die von der Vorstellung ausgingen, dass das Individuum von Anbeginn an vollkommen ausdifferenziert, allerdings zunächst en miniature in der Keimzelle ruht. Später wurde der Begriff auch von den Vertretern der Theorie der Epigenese verwendet,99 nach welcher der Keim selbst noch wenig ausdifferenziert ist und sich erst nach und nach zum endgültigen Individuum ausbildet, wobei auch die Umwelt einen Einflussfaktor darstellt. Diese Ansicht, dass sich bei der Entwicklung eines Organismus neue, nicht schon im Ei oder im Samen vorgebildete Strukturen herausbilden, findet sich erstmals bei Aristoteles. Die Präformationslehre hingegen wurde in der Antike von Anaxagoras vertreten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Entwicklungsbegriff von der Biologie auch auf andere Sachverhalte (historische, anthropologische, psychologische etc.) übertragen. So hat Kant den Begriff in seinem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 erstmals auf historische Sachverhalte angewandt.100 Die Herkunft des Begriffes aus der Biologie ist höchstwahrscheinlich die Erklärung für die auch bei Droysen zu findenden organischen Metaphern, wenn er von historischer Entwicklung spricht, wie z. B. in der folgenden Passage: »das Leben der
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Herold (1976), Sp. 1038. Ähnlich liest man es auch bei Schwietring (2005), 148 f. Vgl. z. B. Historik (L), 255: »Das Wesen der sittlichen Welt ist die rastlose Entwicklung, die ἐπίδοσις εἰς αὑτό, und die Bildung […] ist ohne stetes Weiterschreiten und Fortschreiten sinnlos.« Diese Passage stammt von 1875. 98 Vgl. zum Folgenden die Überblicksdarstellung von Wieland (2004), 199–228, und den Beitrag Epigenesis and Preformationism von Jane Maienschein im Archiv der Stanford Encyclopedia of Philosophy (https://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/epigenesis/, zuletzt aufgerufen am 8.1.2018.) 99 Und zwar erstmals von Caspar Friedrich Wolff in seiner Theoria generationis, Halle 1759. 100 Kant (1784), 33–50.
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Menschheit faltet sich wie eine immer reicher erblühende Blume allmählich auf, und vieles ist noch in der Knospe verschlossen, was einst erblüht sein wird«.101 Trotz seines Zurückgreifens auf biologische Metaphern steht Droysen dem Entwicklungsbegriff ambivalent gegenüber und zögert, ihn auf historische Prozesse anzuwenden: Diese Kontinuität [der fortschreitenden geschichtlichen Arbeit, C.H.] ist nicht Entwicklung, denn da wäre die ganze Folgenreihe schon keimhaft in den ersten Anfängen präformiert, sondern mit der Arbeit erst wachsen die Kräfte, und mit jeder gelösten neuen Aufgabe gewinnen wir dem Sein in der Natur […] neue Bereiche ab102.
Droysens Ambivalenz gegenüber dem Entwicklungsbegriff gründet offensichtlich darin, dass jener für ihn nach wie vor eine präformistische Konnotation hatte, die Bewegung der Geschichte demgegenüber aber frei (»Der Lebenspuls der geschichtlichen Bewegung ist die Freiheit.«103) und daher nicht präformiert ist: Das römische Staatswesen beginnt so klein im Verhältnis zu seiner dereinstigen Größe, daß man sagen könnte, man sieht der Eichel nicht an, welch ein mächtiger Baum daraus erwachsen wird. […] Eine so begonnene Technik [der Schiffsbaukunst, C.H.] gewinnt erst in allseitigem Fortschreiten der materiellen Mittel […] ihre höhere Gestaltung. Ein so begonnenes Staatswesen entwickelt werdend […] erst die Momente, in denen uns sein eigentümliches Wesen zu bestehen scheint. Der Gedanke des römischen Staates wird erst in immer neuen Metamorphosen, so sehr, daß erst das vollendete Wachstum alle seine Momente zeigt, die in dieser anfänglichen Anlage in der Tat nicht präformiert waren.104
_____________ 101 Historik (L), 286. Das trifft übrigens auch auf Trendelenburg zu, der in den Logischen Untersuchungen wiederholt auf biologische Metaphern zurückgreift, insbesondere in seiner Erörterung des Zwecks, in der er eng an Aristoteles anknüpft. Vgl. Trendelenburg (1840), Bd. II, 1–71. Vgl. ebd. insbesondere 14 f. und 22, wo Trendelenburg auch das Beispiel des Samens anführt. 102 Historik (H), 29; Hervorhebungen von mir, C.H. 103 Grundriss (1882), § 75, 442. 104 Historik (H), 293; Hervorhebung von mir, C.H. Vgl. ferner Historik (H), 151: »Denn wollte man gelten lassen, daß unsere Wissenschaft das, was ist, aus dem was war, zu erklären, d. h. in der Form von Schlüssen abzuleiten habe, so würde sie anerkennen, daß in dem Früheren alle Bedingungen für das Spätere vorhanden seien […] sie würde das eigenste Wesen der geschichtlichen, d. h. der sittlichen Welt ausschließen, die Freiheit des Willens, die Verantwortlichkeit der Handelnden«. Bereits in der frühen Fassung des Vorlesungsmanuskriptes, in Historik (L), 162 f., führt er den Gedanken an, dass die Geschichtswissenschaft, wenn sie meint, »daß man das, was ist, aus dem, was war […] erklären« könne, »das eigentümliche Wesen der geschichtlichen, d. h. sittlichen Welt, die freie sittliche Tat und das Recht eines jeden, ein neuer Anfang und eine Totalität in sich zu sein, ausschließen« und »zu einem langweiligen Analogen der Ewigkeit der Materie in der geschichtlichen Welt« würde. »Denn alles Künftige müßte da schon in dem Vergangenen vorgeformt liegen, und es bedürfte nur des SichAuftuns und -Auslegens der Dinge, um das Folgende mit Notwendigkeit aus dem Früheren sich entwickeln zu lassen; ein Mechanismus, wie ihn nicht einmal die Pflanze lebt, die in ihrem Keim wahrliche nicht mikroskopisch enthalten ist. Diese einfache Betrachtung genügt, um die falsche Doktrin der Naturwüchsigkeit und der sog. organischen Entwicklung ein für allemal aus der Geschichte zu weisen. {Was als naturwüchsig gerühmt zu werden pflegt, ist immerhin ein Faktor, eine der Bedingungen in dem geschichtlichen Leben, aber, wenn ich so sagen darf, die am wenigsten geschichtliche, das bloß kreatürliche Substrat; und die nur organische Entwicklung würde, wenn man Ernst mit ihr machen wollte, den Fortschritt, die ἐπίδοσις εἰς αὑτό, ausschließen.} Die Bedeutung des Notwendigen in der Geschichte liegt anderswo.« Die geschweiften Klammern kennzeichnen einen
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
4.5.4 Geschichte als teleologischer Prozess Auch wenn jegliche historische Entwicklung nicht präformiert ist, so denkt Droysen sie dennoch (ebenso wie Hegel und Trendelenburg) einer immanenten Teleologie folgend: Die sittliche Welt, rastlos von vielen Zwecken und schließlich von dem Zweck der Zwecke bewegt, ist eine rastlos wachsende, sich weiterzeugende (ἐπίδοσις εἰς αὑτό Arist. de an. II. 5.7.).105
Die Bewegung der Geschichte hat ein Ziel. Zumeist spricht Droysen vom »Zweck der Zwecke«,106 wenn er vom Ziel der Geschichte spricht: Indem die geschichtliche Betrachtung in der Bewegung der Dinge ihre Richtung verfolgt, Zweck auf Zweck sich erfüllen sieht, ahnt sie, daß in dem Zweck der Zwecke sich die Bewegung schließt, daß sie dort Ruhe, Vollendung, ewige Gegenwart ist.107
Der Zweck der Zwecke ist zwar empirisch nicht zu erforschen,108 muss aber hypostasiert werden, um die Geschichte als sinnhaft auszuweisen109 und um ihre Erkenntnis zu ermöglichen.110 Es ist unschwer aus Droysens Ausführungen herauszulesen, dass sich die Rede vom »Zweck der Zwecke« oder vom »höchsten Zweck« auf (den christlichen) Gott bezieht,111 weshalb man in seinen Augen »die Geschichte eine _____________ 105
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späteren Einschub, der von 1881 stammt. Vgl. die »Nachweise zu den Einschüben in das Vorlesungsmanuskript von 1857« in Historik (L), 489–493. Grundriss (1858), § 11, 10; identisch in: Grundriss (1862) § 11, 5. Vgl. ferner Hühn (2010), 145, der ebenfalls zu dem Schluss gelangt: »Die präpositionale Wendung eis hauto macht deutlich, dass Droysen teleologisch denkt«. Historik (L), 30, 3;1 Grundriss (1857/58), §43, 407; Grundriss (1882), §15, 424; § 46, 435; § 76, 442; § 81, 443; §84, 444. Grundriss (1857/58), §43, 407. Die Formulierung findet sich ganz ähnlich auch in Grundriss (1882), § 46, 435. Vgl. Historik (L), 30; Grundriss (1882), § 81, 443; Historik (H), 270. Vgl. Grundriss (1857/58), § 46, 407: »So […] schafft die Menschheit […] die sittliche Welt. Ihr Werk würde gleich den Gebirgen von Infusorienschalen sein ohne das stetige Fortschreiten, ohne Geschichte. Ihr Arbeiten würde wie Dünensand unfruchtbar sein ohne das Bewußtsein der Kontinuität, ohne Geschichte. Ihre Kontinuität würde eine sich nur wiederholende Kreisbewegung sein ohne die Gewißheit der Zwecke und des höchsten Zweckes, ohne die Theodizee der Geschichte. Dieser höchste Zweck ist zugleich der Anfang und Ursprung: λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος.« Das griechische Zitat stammt aus De part. an. 639b12 f. Die Formulierung Droysens findet sich so ähnlich auch in allen anderen Grundrissen. Auf dieses Zitat wird weiter unten noch zurückzukommen sein. Vgl. Historik (L), 32 und 255. Vgl. z. B. Historik (L), 30: »Nicht das letzte Geheimnis erschließt unsere Methode, wenn auch einen Weg dazu, wenn auch den Eingang zum Tempel. Nicht die absolute Totalität, den Zweck der Zwecke, erfassen wir, aber in einer ihrer Äußerungen, in der uns verständlichsten, verstehen wir sie. Aus der Geschichte lernen wir Gott verstehen und nur in Gott können wir die Geschichte verstehen. Deus est principium, medium et finis ... caetera, quae dicuntur esse, theophaniae sunt. Scot.Er.« Vgl. ferner Historik (L), 32, 35, 314, 443, 444. Diesen Aspekt, dass Droysen, wenn er vom »Zweck der Zwecke« spricht, Gott oder die göttliche Vorsehung meint, hat bereits Hildegard Astholz (1933), 180–185, herausgearbeitet. Vgl. zum »theologischen Fundament« von Droysens Geschichtstheorie aber auch den Aufsatz von Fleischer (2009).
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Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes nennen«112 kann und die Geschichtswissenschaft einer »Gotteserkenntnis«113 nahekommt. Und so verwundert es auch nicht, dass der Grundriss ursprünglich mit einem Zitat aus dem Neuen Testament schloss, und zwar einem Zitat aus dem Johannesprolog. Es ist auch in der letzten Fassung des Grundrisses enthalten, nur hat es jetzt, durch die Umstellung der Gliederung, etwas an Prominenz verloren, da es nicht mehr (wie bisher) das Schlusswort bildet: Die Geschichte ist das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbstgewißheit. Sie ist nicht ›das Licht und die Wahrheit‹, aber ein Suchen danach, eine Predigt darauf, eine Weihe dazu: dem Johannes gleich: οὐκ ἦν τὸ φῶς, ἀλλ’ ὅτι μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ φωτός.114
Droysen bleibt seiner christlichen Weltanschauung Zeit seines Lebens treu.115 Daher ist bei ihm jegliche christlich gefärbte Argumentation nicht metaphorisch gemeint, sondern als solche zu verstehen und ernst zu nehmen (und zwar auch dann, wenn seine Formulierungen möglicherweise die christliche Theologie nicht ganz korrekt wiedergeben116). Zumal er seine christlich gefärbte historische Weltanschauung nicht nur in seiner Geschichtstheorie, sondern eins zu eins auch in seinen historischen Werken expliziert.117 Unstimmigkeiten Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass es neben den Passagen, in denen Droysen den Zweck der Zwecke eindeutig mit Gott identifiziert, auch einige Stellen gibt, an denen er den Zweck der Zwecke mit dem Guten,118 mit der Freiheit oder mit dem _____________ 112 Historik (L), 35. Vgl. aber auch Grundriss (1857/58), § 43, 407, und Grundriss (1882), § 46, 435. 113 Grundriss (1882), § 83, 444. 114 Grundriss (1882), § 86, 444. In der Übersetzung Martin Luthers lautet das Zitat aus dem Novum Testamentum Graece (Joh. 1, 8): »Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.« 115 Vgl. z. B. Historik (H), 220 f.: »Man hat wohl gesagt, das Werk der Schöpfung […] sei vollbracht […]. Aber das Verstehen und Denken dieser Schöpfung […] ist eine weitere Schöpfung, […] der ersten nicht feind. Denn Gottes Schöpfung hat da nur eine andere, höhere Gestalt genommen, Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, daß er formend weiterschaffe.« Das Pendant zu dieser Stelle findet man in Historik (L), 371. Vgl. ferner Astholz (1933), 180–187, die verschiedene diesbezügliche briefliche Äußerungen Droysens anführt. 116 Astholz (1933), 187, meint, dass Droysen teilweise heidnische Positionen vertrete. 117 Um sich davon zu überzeugen, muss man nur das einleitende Kapitel (Uebersicht) zu seinen Vorlesungen über die Freiheitskriege lesen. Vgl. insbesondere die folgenden Aussagen von Droysen (1846), Bd. 1, 5 und 17: »Unser Glaube giebt uns den Trost, daß eine Gotteshand uns trägt, daß sie die Geschicke leitet, große wie kleine.« Die Wissenschaft der Geschichte »sieht und findet in jenem wüsten Wellengang eine Richtung, ein Ziel, einen Plan; sie lehrt uns Gottes Wege begreifen und bewundern; sie lehrt uns in deren Verständnis erlauschen, was uns des Weiteren zu erhoffen und zu erstreben obliegt«. Auch hier artikuliert Droysen seine Auffassung, dass sich der historischen Forschung »in dem Gewordenen selbst und in dem Wege, wie es geworden […] die ewige Vernunft jenes Werdens offenbart, das zu begreifen Trost und Erhebung, das mitwirkend weiterzuführen des thätigen Mannes höchster Beruf ist. Und in diesem Sinn das Werden unserer Gegenwart verstehen zu lernen, das ist die Aufgabe unserer Betrachtungen.« 118 Vgl. z. B. Grundriss (1858), 25: »Die höchste Freiheit ist: dem höchsten Guten leben, dem Zweck der Zwecke, zu dem hin die Bewegung aller Bewegungen – und ihre Wissenschaft ist die Geschichte – gerichtet ist.«
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
λόγος gleichsetzt. So formuliert Droysen in der frühen Fassung seines Manuskriptes in Paragraph 18 der Systematik, der die Überschrift trägt Was ist Geschichtlich?, folgende Ansicht: Wenn es eine Geschichte geben soll […], welche mit Recht die Geschichte genannt werden kann, so ist es diejenige, in der sich jenes generelle Ich in seinem Werden zeigt. Es ist das Werden und die Geschichte des Menschgeistes […] nach der Einheit der formenden Kraft, nach der Idee der Freiheit. Denn die Idee der Freiheit ist dem Menschen, was dem Staat die Idee der Macht, der Kunst die Idee des Schönen […]. Die Freiheit ist die Idee, ist der Zweckbegriff des Menschen und der Menschheit; ihr Dasein ist, diese Idee in rastlosem Fortschreiten zu erarbeiten und arbeitend zu erkennen und erkennend zu vertiefen.119
Dass Droysen an diesen Stellen die Freiheit als den »Zweckbegriff des Menschen« setzt, kann man zweifellos als einen Nachklang des bei Hegel Gehörten interpretieren.120 Hat Hegel doch in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte letztere als »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit«121 definiert. Damit ist gemeint, dass der Mensch sich im Verlauf der Geschichte immer mehr als das erkennt, was er eigentlich ist, nämlich als frei, und dass er, indem er das erkennt, zur zunehmenden Realisierung von Freiheit (und somit von Sittlichkeit) in der Geschichte beiträgt. Im Verlauf seiner Vorlesung unternimmt es Hegel dann, seine These empirisch zu belegen. Da Droysen in den beiden hier angeführten Belegstellen die Auffassung seines Lehrers reformuliert, schlussfolgert Christoph Johannes Bauer: »Die dem Fortschritt zugrunde liegende Idee ist bei Droysen wie bei Hegel die Idee der Freiheit.«122 Das ist zwar richtig, ist aber nur die eine Seite der Medaille, denn Gott ist und bleibt sowohl der Anfang als auch das Ziel der Geschichte. Die Freiheit ist weniger das Ziel, als vielmehr ein Charakteristikum des Menschen, und die zunehmende Verwirklichung von Freiheit ist ein Charakteristikum der menschlichen Geschichte,123 bei der es sich um eine »Rückleitung der Schöpfung zu Gott«124 handelt. Sehr gut auf den Punkt gebracht findet man diese Auffassung von Geschichte – wie sie auch Droysen vertreten, aber selbst nie so klar und deutlich artikuliert hat – in einem Werk des ebenfalls von Hegel beeinflussten katholischen Theologen Franz Anton Staudenmeier (1800– 1856): Geschichte an sich und in ihrem innersten Wesen ist das mit Bewußtsein und Freiheit unter der Leitung des göttlichen Willens sich entwickelnde Leben der Menschheit. Die Geschichte hat somit zwei Factoren, die menschliche sich selbst bewußte Freiheit und den heiligen über der Welt stehenden und diese lenkenden Willen der Gottheit. Der Wille der Gottheit aber, wie er sich in allen Offenbarungen ausspricht, ist Wiedervereinigung des
_____________ 119 Historik (L), 368. Vgl. auch Historik (L), 385: »Und in der Geschichte der Zweck ist, daß das Ich der Menschheit, die Idee der Freiheit werde und sich erfasse.« 120 Soweit stimme ich mit Bauer (2001), 127, überein. 121 Hegel (1995), Bd. 18, 153. 122 Bauer (2001), 127. 123 Vgl. Historik (H), 243 f. 124 Grundriss (1857/58), § 74, 411.
Geschichte als kontinuierliche Steigerung zu sich selbst
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abgefallenen Geschlechtes mit ihm, und diese Wiedervereinigung ist die Verklärung der Menschheit.125
Das entspricht genau der Position, die auch Droysen vertreten hat. Nun zu Droysens Identifizierung des höchsten Zwecks mit dem λόγος.126 Schaut man genau hin, so entpuppt sich Droysens Rede vom λόγος als dem »Zweckbegriff der Menschheit« einerseits als tautologisch, da er die Begriffe λόγος und Zweck zum Teil synonym gebraucht.127 Andererseits gebraucht er den Begriff als ein Synonym für Gott sowie das Göttliche im Menschen.128 Und daraus, wie Droysen an diesen Stellen argumentiert, ergibt sich, welchen Logos-Begriff er hier und überhaupt in der Historik zu Grunde legt, nämlich den des Johannesprologs129 (mit der Übersetzung dessen ersten Verses Faust sich bekanntlich abmüht): ’Εν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.130 In der Übersetzung Luthers lautet der Vers: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.«131 _____________ 125 Staudenmaier (1834), 2. Staudenmaier fährt übrigens an dieser Stelle fort: »Nur so gefaßt komme der Geschichte eine höhere Idee und durch diese eine geistige Einheit zu. Und nun erst ist auch eine geistige Betrachtung der Weltgeschichte möglich, die ohne den übersinnlichen Standpunkt und ohne das religiöse Princip ein ewig ungelöstes Räthsel bleibt.« Auch das dürfte Droysen ebenso gesehen haben. 126 So z. B. wenn Droysen formuliert, dass der λόγος die Bewegung der Geschichte bestimmt oder, dass »der λόγος […] der Zweckbegriff der Menschheit« ist. Historik (L), 385 und 389. 127 Vgl. Historik (L), 201: »Sie [eigentlich spricht er hier von der Idee, meint aber den Zweck, wie anhand des Kontextes zu erschließen ist, C.H.] ist nach Aristotelesʼ Ausdruck die höchste von den vier Ursachen oder ἀρχαί, τὸ τοῦ ἕνεκα, auch wohl der λόγος, ἡ πρῶτη ἀρχή, ἡ ἀρετή.« Und vgl. Historik (L), 319: »[…] erst Aristoteles hat den Zweckbegriff vollständig entwickelt, ihn als τέλος, λόγος, τὸ οὗ ἕνεκα usw. erörtert.« 128 Vgl. z. B. Historik (H), 220: Die gemeinsame Arbeit des Menschengeschlechts »ist die Unendlichkeit im Endlichen, das Unsterbliche im Sterblichen, der ewige Zweck, der λόγος, der Gott im Menschen, im Geben und Empfangen eine stete Schöpfung«. Vgl. ferner ebd. 221: »[…] Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, daß er formend weiterschaffe. Und der Mensch schafft weiter durch den λόγος in ihm […]. Diese schöpferische Kraft des Menschen ist in dem λόγος […].« oder auch ebd. 233: »Gott ist die Wahrheit, die Wahrheit von allem, aber Gott ist unendlich mehr als nur die Wahrheit […]. Und so gewiß des Menschen sittliches Dasein nicht bloß der Wahrheit dienen mag, […] so gewiß ist in der Gottheit noch unendlich mehr als nur der λόγος, wenn auch der λόγος zum Träger der Offenbarung und zur Erlösung bestimmt gewesen ist vom Anfang der Tage.« 129 Joh. 1,1–18. Zu einer ähnlichen Einschätzung aufgrund diverser Äußerungen Droysens im Grundriss (1857/58), 410 f., gelangt Ravagli (2009), 417: »Wie unschwer zu erkennen ist, gründet Droysens Auffassung von der Geschichte in der christlichen Logoslehre: die Menschheit ist von Gott ausgegangen, um zu ihm zurückzukehren, von ihm durchdrungen, findet sie in der geschichtlichen Bewegung zu sich selbst und damit zu ihm. In diesem Sinne ist die Geschichte eine Theophanie, die Geschichtsschreibung Theognosie.« 130 Joh. 1, 1; hier zitiert nach Novum Testamentum Graece (NA 28), online einsehbar unter: http:// www.bibelwissenschaft.de/, zuletzt aufgerufen am 8.3.2018. In den Grundrissen zitiert Droysen zwar nicht diese, aber eine kurz darauf folgende Stelle (Joh. 1, 8). Vgl. oben Anm. 114 in diesem Kapitel. 131 Joh. 1, 1; hier zitiert nach Lutherbibel 1984, online einsehbar unter: http://www.bibelwissenschaft.de/, zuletzt aufgerufen am 8.3.2018. Droysen zitiert übrigens Teile dieses Verses in seiner sogenannten Privatvorrede und identifiziert den λόγος dort mit Christus. Vgl. Droysen (1843), 372.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
Und weil Droysen den λόγος-Begriff im Sinne der auf den Johannesprolog zurückgehenden christlichen Logoslehre verstanden hat, konnte er wie folgt argumentieren: So […] schafft die Menschheit […] die sittliche Welt. Ihr Werk würde gleich den Gebirgen von Infusorienschalen sein ohne das stetige Fortschreiten, ohne Geschichte. Ihr Arbeiten würde wie Dünensand unfruchtbar sein ohne das Bewußtsein der Kontinuität, ohne Geschichte. Ihre Kontinuität würde eine sich nur wiederholende Kreisbewegung sein ohne die Gewißheit der Zwecke und des höchsten Zweckes, ohne die Theodizee der Geschichte. Dieser höchste Zweck ist zugleich der Anfang und Ursprung: λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος [dieser ist der λόγος, der λόγος ist aber der Ausgangspunkt].132
Eine Argumentation, die, wenn man sie kritisch unter die Lupe nimmt, gar nicht zusammenpasst, da er zuerst von einem christlichen Standpunkt aus argumentiert, dann aber zur Untermauerung seines christlichen Standpunktes das Aristoteles-Zitat anfügt, das aus einem ganz anderen Kontext stammt (nämlich der Erörterung der Frage, ob der causa agens oder der causa finalis der Vorrang zukomme) und das hier deshalb ohne jeglichen argumentativen Wert ist. In den Grundrissen von 1858, 1868 und 1875 hat er den letzten Satz sogar noch erweitert zu: Dieser höchste Zweck ist zugleich ihr Anfang und ihr Ursprung: φαίνεται δὲ πρώτη ἀρχὴ ἣν λέγομεν ἕνεκά τινος. λόγος γὰρ οὗτος. ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος [Offenbar ist die erste (Ursache) die, die wir das ›warum von etwas‹ nennen. Denn diese ist der λόγος, der λόγος ist aber der Ausgangspunkt.] Arist. de part. an. I.1.133
Wahrscheinlich hat Droysen mit λόγος das Wort Gottes, den göttlichen Geist oder Gott assoziiert, so dass für ihn seine Argumentation einen Sinn ergeben hat. Interessanterweise streicht er den Satz mit dem Aristoteles-Zitat im letzten Grundriss von 1882, so dass Paragraph 48 dort mit den Worten »Theodizee der Geschichte« endet und seine Argumentation somit in sich stimmiger ist.
_____________ 132 Grundriss (1857/58), § 46, 407. Die hier und im Folgenden von mir in eckigen Klammern eingefügten Übersetzungen lehnen sich an die Übersetzung von W. Kullmann von De partibus animalium an. Ich habe absichtlich das Wort λόγος jeweils unübersetzt gelassen, damit der ganze Bedeutungsgehalt des Begriffes mitschwingt. 133 Grundriss (1858), § 46, 21; Grundriss (1868) und (1875) jeweils § 53, 28. In den Grundrissen von 1862 und dem allerletzten von 1882 ist diese Passage allerdings nicht enthalten. Das Aristoteles-Zitat stammt aus De part. an. I 1, 639b14 f.
Resümee
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4.6 Resümee Wie aufgezeigt nutzt Droysen die Wendung ἐπίδοσις εἰς αὑτό, um die Geschichte als »eine sich in sich steigernde Kontinuität« zu charakterisieren. Darüber hinaus ist sichtbar geworden, dass in Droysens Augen die Geschichte nichts anderes als die Fortsetzung der Schöpfung Gottes beziehungsweise genauer »die Rückleitung der Schöpfung zu Gott« ist, welche durch »die Arbeit des Menschengeschlechts« bewirkt wird. So dass es jetzt möglich ist, die oben aufgeworfene Frage, ob Droysen das εἰς ἐντελέχειαν dennoch immer mitgedacht hat, obwohl er die aristotelische Formel εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις καὶ εἰς ἐντελέχειαν zu ἐπίδοσις εἰς αὑτό verkürzt hat, mit Nein zu beantworten: Er hat es nicht mitgedacht. Dafür spricht auch, dass Droysen das Wort Entelechie kein einziges Mal verwendet und es nur wenige Stellen gibt, an denen man aufgrund seiner Wortwahl unterstellen kann,134 dass er die Begriffe und somit das aristotelische Konzept der ἐντελέχεια (Vollendung, vollendete Wirklichkeit) oder ἐνέργεια (Wirklichkeit, Verwirklichung) im Sinn gehabt haben könnte.135 Die Geschichte ist eine ἐπίδοσις εἰς αὑτό, eine Steigerung zu sich selbst und zwar in dem Sinne, dass ihr Anfang und ihr Ende quasi (in Gott, und zwar im Gott der christlichen Tradition) zusammenfallen.136 Das ist die Denkfigur, die Droysen mit dieser Formel verbindet. Und das ist der zusätzliche Erkenntnisgewinn, den die Einführung der Wendung erlauben sollte. Das alles hat nun aber mit Aristoteles eher wenig, um nicht zu sagen gar nichts, zu tun. Astholzʼ Interpretation, dass Droysen den Ausdruck ἐπίδοσις εἰς αὑτό gegenüber dem der Entelechie bevorzuge, weil er »darin besser das ausgedrückt findet, was ihm wichtig« sei, nämlich weil dieser mehr als die ihm verwandten Begriffe ἐντελέχεια oder ἐνέργεια das Prozessuale betone und weil er »das Hinzukommen, das Sich-Bereichern, die Steigerung« betone, welche für Droysen die »wesentliche[n] Momente der Ge_____________ 134 Wie Norkus (1994), 44, das tut mit Blick auf Historik (H), 243: »Ich habe bisher das Wort Freiheit absichtlich wenig oder nicht gebraucht. Nicht als wenn ich nicht wüßte und anerkennte, daß die Freiheit wie das Samenkorn so die Frucht der Sittlichkeit, der Geschichte ist. Aber erst hier kann sie zu ihrer vollen Energie kommen.« und 260: »Allerdings ist nicht von Anfang her, nicht zu allen Zeiten die Staatsidee in dieser Energie, in dieser Organisation enthalten […].« Alle Hervorhebungen von mir, C.H. 135 Vgl. (neben den bereits in Anm. 117 genannten Passagen) Historik (H), 150: »Aber erst in diesem mächtigen Wachstum wurde der Keim zum Baum, in dem Baum erst gewann das Samenkorn seine Wirklichkeit, seine volle Wahrheit.« Vgl. ferner ebd. 269 f.: »Und wenn wir annehmen, daß diese Bewegung der sittlichen Welt zu immer weiterer Vervollkommnung führt […].« Und siehe auch ebd. 293: »Der Gedanke des römischen Staates wird erst in immer neuen Metamorphosen, so sehr, daß erst das vollendete Wachstum alle seine Momente zeigt, die in dieser anfänglichen Anlage in der Tat nicht präformiert waren.« Alle Hervorhebungen von mir, C.H. Es sind interessanterweise zum größten Teil Passagen mit organischer Metaphorik. 136 Das legen folgende Äußerungen Droysens nahe: »Dieser höchste Zweck ist zugleich der Anfang und Ursprung: λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος.« Vgl. Grundriss (1857/58), § 46, 407. Und obgleich Droysen hier De part. an. 639b12 f. zitiert, so hat er dabei dennoch wahrscheinlich eher Joh. 1, 1 im Sinn. Ferner zitiert Droysen zustimmend Johannes Scottus Eriugena: »Deus est principium, medium et finis«. Vgl. Historik (L), 30.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
schichte« seien, trifft die Sache also nur zum Teil.137 Die Interpretation von Hühn hingegen geht, wie aus meinen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, an der Sache vorbei: Droysen will […] keine inhaltliche Bestimmung des geschichtlichen Endzweckes vorgeben, sondern diese teleologische Bewegung des Geistes zunächst einmal formal charakterisieren. Dafür steht die zentrale spekulative Formel der epidosis eis hauto.138
Denn Droysen gibt, wie wir gesehen haben, sehr wohl einen geschichtlichen Endzweck an: »Deus est principium, medium et finis«139 formuliert er mit Johannes Scottus Eriugena klar und unmissverständlich! Das bedeutet aber zugleich, dass Anfang und Ende der Geschichte zusammenfallen: »Dieser höchste Zweck ist zugleich der Anfang und Ursprung: λόγος γὰρ οὗτος, ἀρχὴ δὲ ὁ λόγος.«140 Woraus allerdings, wenn man das zu Ende denkt, in letzter Konsequenz folgt, dass Droysen ein zyklisches Geschichtsmodell zu Grunde legt. Ich habe den aristotelischen Kontext der Formel ἐπίδοσις εἰς αὑτό oben deshalb so ausführlich vorgestellt, um zu verdeutlichen, dass Droysen die Worte vollkommen dekontextualisiert verwendet und dass es daher eher unwahrscheinlich ist, dass er sie einer eigenen Lektüre von De anima entnommen hat, zumal die Passage bei Aristoteles keine hervorgehobene Rolle spielt. Droysen verwendet die Formel erstmals 1858 und von da an gehört sie zu seinem festen begrifflichen Repertoire und dient zur Bezeichnung seines bereits bestehenden Verständnisses von der Geschichte als einer »stets sich steigernde[n] Hervorbringung des Allgemeinen«141 beziehungsweise »der großen Arbeit des Geschlechtes, ›der Rückleitung der Schöpfung zu Gott‹, wie ein altes mystisches Wort es nennt«142. Wenn Droysen die Wendung nicht De anima selbst entnommen hat, wo hat er sie dann entlehnt? Am wahrscheinlichsten scheint es mir zu sein, dass er sie einer Lektüre der Logischen Untersuchungen verdankt. Im Rahmen von Trendelenburgs umfangreicher Erörterung des Zweckbegriffs (also der causa finalis), die darauf hinausläuft, dessen logische und metaphysische Notwendigkeit und dessen Priorität gegenüber der wirkenden Ursache nachzuweisen, kann man lesen: Der Zweck (die Ursache) ist die bleibende und inwohnende Seele des Organs (der aus dem Zweck hervorgegangenen Wirkung). Erst in Bezug auf den bildenden Zweck kann man sagen, was in dem Vorgang der sich entäußernden wirkenden Ursache nur den Schein der
_____________ 137 Vgl. Astholz (1933), 30 ff.; Zitate ebd. 34 und 57. 138 Hühn (2010), 145. 139 Droysen zitiert diesen Satz an folgenden Stellen: Historik (L), 30; Grundriss (1857/58), § 9, 9; Grundriss (1868) und Grundriss (1875) jeweils § 12, 11. Er stammt aus Johannes Scottus Eriugena, De divisione naturae, Buch I, Kapitel XI, 451 D. Dort heißt es über Gott: »Est igitur principium et medium et finis […].« 140 Grundriss (1857/58), § 46, 407. 141 Droysen (2007), Bd. 2.1, 177 (Einleitung in die Vorlesungen über Neuere Geschichte von 1842). 142 Droysen (1843), 376. Dieser Gedanke findet sich auch in der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskripts und in der ersten Version des Grundrisses wieder. Vgl. Historik (L), 294; Grundriss (1857/58), § 74, 411.
Resümee
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Wahrheit hat, daß die Ursache in der Wirkung bei sich selbst bleibe, oder, wie es ausgedrückt wird, sich in dem Andern mit sich selbst zusammenschließe.
Hier folgt dann eine erläuternde Fußnote: So sagt Hegel treffend von der durch den Zweck bestimmten Thätigkeit des organischen Lebens, Phaenomenologie S. 199: ›sie ist an ihr selbst in sich zurückgehende, nicht durch irgendein Fremdes in sich zurückgelenkte Thätigkeit.‹ In demselben Sinne nennt schon Aristoteles diese Thätigkeit im Gegensatz gegen eine entfremdende Veränderung einen Fortschritt der eigenen Natur zu sich selbst (ἐπίδοσις εἰς αὑτό. Aristoteles über die Seele II.5).143
Es fällt auf, dass Trendelenburg die Aussage des Aristoteles (εἰς αὑτὸ γὰρ ἡ ἐπίδοσις) zu eben der griffigen Formel zusammenzieht, wie auch Droysen sie dann später verwendet. Ferner besteht eine unübersehbare inhaltliche Übereinstimmung des hier formulierten mit Droysens Auffassung von der Geschichte, weshalb er die Formel als für seine Zwecke passend empfunden haben muss. Vor allem wenn man Trendelenburgs Argumentation weiter liest: Das Reich der blinden Kräfte (das Gebiet der wirkenden Ursache) steht auf den ersten Blick dem Gedanken des Zweckes als ein unheimlich Fremdes und Aeußerliches gegenüber; aber wie der Zweck gar nicht Zweck wäre, wenn er nicht in der Erscheinung als Herr und Meister Dasein suchte und fände: so ist es die Verklärung der wirkenden Ursache, daß sie aus dem blinden Ungestüm in den Dienst des Gedankens trifft und dadurch eine Bestimmung des Geistes empfängt. Daher wäre es eine falsche Selbstständigkeit, wollten die Dinge etwas ohne den Zweck sein.144
Hier zeigt sich einmal mehr die große Nähe der von Trendelenburg und Droysen vertretenen Positionen. Diese Übereinstimmung betrifft auch die Rolle, die beide Gott zuweisen. Denn auch für Trendelenburg ist das Unbedingte (der die Welt bestimmende Zweck) nichts anderes als der (christliche) Gott,145 der zugleich als Erkenntnisgarant der Wissenschaft fungiert: Das Wissen des menschlichen Geistes, wie weit es auch vordringe, ist doch für jeden Einzelnen Stückwerk; […] immer ist der Gedanke Gottes die Ergänzung dieses Stückwerks.146
Droysen formuliert in großer sprachlicher Nähe zu Trendelenburg: Der Geist hat erkannt, […] stückweise verstehend ergänzt er das stückweis Erfaßte zu einer Totalität, und aus dieser versteht er sich und das Viele. Auch die Summe seines Erkennens fordert eine solche Ergänzung, in der ihm das Ganze als Einheit erscheint; und er nennt dies das Absolute; der Gedanke Gottes ist in jedem System die Ergänzung des endlichen Erkennens.147
_____________ 143 Trendelenburg (1840), Bd. 2, 37. Wenn, dann muss Droysen die erste Auflage von 1840 rezipiert haben, denn die zweite Auflage ist erst 1862 erschienen. Droysen verwendet den Begriff aber nachweislich seit 1858. 144 Trendelenburg (1840), Bd. 2, 37 f. 145 Vgl. Trendelenburgs Ausführungen im 20. Kapitel der Logischen Untersuchungen, das den Titel trägt: Das Unbedingte und die Idee. Vgl. Trendelenburg (1840), 337–362. 146 Trendelenburg (1840), 352. 147 Historik (L), 32.
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Droysens Charakterisierung der Geschichte
Die Untersuchung hat sehr weit ab von Aristoteles geführt. Dennoch lässt sich bereits jetzt festhalten, dass hinsichtlich von Droysens Geschichtstheorie von Neoaristotelismus keine Rede sein kann.
5. Droysens Konzeption von Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) der im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse Das folgende Kapitel schlägt einen weiten Bogen, indem es versucht, drei zentralen Begriffen (Mimesis, Apodeixis und Topik), die Droysen im Kontext seiner Problematisierung der Geschichtsschreibung verwendet, auf die Spur zu kommen. Laut der Studie von Hans-Jürgen Pandel verweisen alle drei Termini auf Aristoteles. Das gilt es zu überprüfen. Das bedeutet, dass im Laufe des Kapitels ein ausführlicherer Blick auf drei aristotelische Werke geworfen werden muss: die Poetik, die Analytica posteriora und die Topik. Zunächst soll aber Droysens Konzeption von Geschichtsschreibung vorgestellt werden, um vor dieser Folie zu prüfen, inwieweit Droysen, wie von Pandel behauptet, Geschichtsschreibung als Mimesis konzipiert. Daran anschließend soll geklärt werden, ob Droysen mit seiner Verwendung der Begriffe Apodeixis und Topik tatsächlich an Aristoteles anknüpft, wie Pandel ausführt. Ganz zum Schluss folgen dann noch ein paar Bemerkungen zu Droysens Verhältnis zur Rhetorik, so dass in diesem Kapitel noch ein viertes aristotelisches Werk zur Sprache kommen wird: die Rhetorik. Es ist nicht zu übersehen, dass Droysen es ganz offensichtlich vermeidet, den Begriff Geschicht(s)schreibung zu verwenden. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist das Herantragen ästhetisch-poetischer Forderungen an die »Geschichtschreibung«, wie es z. B. in den Grundzügen der Historik von 1837 von Georg Gottfried Gervinus geschieht. Mit diesen hat sich Gervinus in einen zeitgenössischen Diskurs eingeschrieben, in dem die Frage verhandelt wurde, inwieweit Geschichtsschreibung Kunst oder Wissenschaft oder beides gleichermaßen ist. Ein Diskurs, in dem Schiller, der in seiner Person die Rollen des Dichters und des Historikers vereint hat, eine wichtige Station darstellt, aber auch Wilhelm von Humboldts durch Schiller ausgelöstes Nachdenken Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers,1 welches wiederum nicht ohne Einfluss auf Gervinus und Droysen geblieben ist. Aber auch Wachsmuth und Ranke haben sich an dieser Diskussion beteiligt.2 Droysen seinerseits bezieht hinsichtlich der Frage nach _____________ 1 2
Zu »Schillers Neubegründung der Geschichtsschreibung« und zur Konstellation Schiller und Humboldt vgl. Süßmann (2000), 75–112 und 82 f. Wachsmuth unterteilt seinen Entwurf einer Theorie der Geschichte von 1820 in zwei Teile: in die »Theorie der Geschichtswissenschaft« (ebd. 2) und in die »Theorie der historischen Kunst« (ebd. 76). Letztgenannte setzt sich wiederum zusammen aus historischer Forschung und historischer Darstellung, deren Verhältnis zueinander Wachsmuth wie folgt beschreibt (ebd. 119): »Die historische Forschung mittelt die Stoffe aus, welche zur Bereitung eines historischen Kunstwerkes gebraucht werden sollen; ihr Gepräge muß Wahrheit seyn; mangelt diese, so kann der Künstler dieselben nicht
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
dem Kunstcharakter der Geschichtsschreibung eine dezidiert vom Mainstream abweichende Stellung, indem er den Wissenschaftscharakter der Geschichte betont, welcher es seiner Meinung nach ausschließe, dass sie gleichzeitig eine künstlerische Seite haben kann. Daher hat in seinen Augen die Geschichtsschreibung auch nicht ästhetischen Prämissen zu folgen, sondern die für sie wesentlichen Gesichtspunkte aus dem Wesen, dem Begriff und der Methode der Geschichtswissenschaft abzuleiten.3 Ein weiterer Grund für Droysens Distanzierung vom Begriff der Geschichtsschreibung liegt vermutlich darin, dass dieser suggeriert, dass sich das Tun des Historikers ausschließlich auf das Schreiben historischer Werke bezieht, wodurch der Aspekt der Forschung vollkommen marginalisiert wird. Liest man z. B. die Grundzüge der Historik von Gervinus, so irritiert dessen Fokussierung auf das Problem der »Geschichtschreibung« und das vollkommene Ausblenden des Moments der Forschung aus heutiger Perspektive sehr. Denn eine ganz wichtige Frage ist doch, wie der Historiker zu seinen Erkenntnissen gelangt, die er in einem darauffolgenden Schritt dann schriftlich (oder mündlich) darlegt. Dass »immer die Geschichtforschung der Geschichtschreibung vorausgeht«, erwähnt Gervinus zwar in einem Nebensatz, problematisiert diese »Geschichtforschung« aber mit keinem Wort.4 Und man gewinnt bei der Lektüre der Grundzüge der Historik den Eindruck, dass ihm die Geschichtsforschung gar nicht als ein sich dem Historiker immer stellendes Problem bewusst gewesen ist. Ganz anders Droysen. Dieser sieht genau, wie eng Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung miteinander verschränkt sind.5 Daher entwirft er eine Theorie der historischen Erkenntnis, welche das Moment der Forschung und das der Geschichtsschreibung gleichermaßen integriert.6 Droysen untergliedert den historischen Forschungs- und Erkenntnisprozess bekanntlich idealtypisch in vier Teilschritte (Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung), die sich wechselseitig bedingen. Geschichtsschreibung, also die Darstellung der im Forschungsprozess gewonnenen Ergebnisse, ist nur ein Teil der historischen Methode, wenn auch ein unverzichtbarer. _____________
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verarbeiten. Die Darstellung des Stoffes, oder historische Kunst im engeren Sinne des Wortes, ist eine, von der Forschung ganz verschiedene und auf sie folgende Thätigkeit.« Vgl. ferner Ranke (1975), 72: »Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: Bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu. Als Wissenschaft ist sie der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt.« Unter der Flut an Literatur zu Rankes Geschichtsschreibung siehe vor allem Fulda (1996), 267–410; Süßmann (2000), 199–256, und zuletzt Müller (2008), 45–143. Historik (L), 217. Gervinus (1837), 84. Was aber ansatzweise auch schon Wachsmuth (1820) und Rehm (1830) reflektieren. Diese Konzeption ermöglichte es, dass Droysen – in einer über hundert Jahre später geführten Debatte über das Verhältnis von Theorie und Erzählung in der Geschichte (so der Titel eines Sammelbandes, der einen Einblick in die damalige Diskussion gewährt) – wiederholt von verschiedenen Autoren als Gewährsmann oder als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen herangezogen werden konnte; vgl. Kocka/Nipperdey (1979).
Droysens Konzeption von Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
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Denn sie bildet laut Droysen den idealtypischen Abschluss des historischen Erkenntnisprozesses. Der Begriff der »Geschichtschreibung« steht also für eine einseitige und zugleich veraltete Konzeption von Geschichte (im Sinne der Darstellung vergangenen Geschehens), die sich noch nicht als eine sich auf Forschung gründende Geschichtswissenschaft verstanden hat, sondern sich als ein Zwitterwesen zwischen Wissenschaft und Kunst positioniert und als solches die Kriterien für die Darstellung ästhetischen Richtlinien unterstellt. Das ist der Grund, weshalb sich Droysen vehement von der von Gervinus vertretenen Auffassung distanziert: »Ich wüßte nicht, was uns ferner liegen müßte, als in der Historik, wie Gervinus getan, eine Theorie der künstlerischen Behandlung der Geschichte, eine Untersuchung über den Kunstcharakter der Geschichtschreibung zu geben.«7 Bresslau hat sich notiert: »Gervinus, Grundriß der Historik 1837, hat das Wort Historik aufgebracht. Er wollte ein ähnliches Werk dem Historiker geben, wie Aristoteles dem Dichter in seiner Poetik. Das ist ganz verkehrt. Aber das Wort Historik können wir acceptieren.« Eine Seite später folgt dann das Verdikt: »ein durch und durch unwißenschaftliches Buch«.8 Droysen grenzt sich aber nicht nur ganz dezidiert von Gervinus ab – was allerdings nicht den Blick darauf verstellen darf, dass Gervinus insgesamt ein ganz wichtiger Stichwortgeber für Droysen gewesen ist, weshalb Droysens Geschichtstheorie ohne seine Gervinus-Rezeption anders aussähe – sondern Droysen mustert gleichzeitig auch den Begriff der »Geschichtschreibung« aus und führt stattdessen, unter Rückgriff auf Herodot, den Begriff der Apodeixis, den er mit Darstellung übersetzt, als terminus technicus ein. Herodot eröffnet bekanntlich das erste Buch seiner Historien mit dem Satz: Ἡροδότου Ἁλικαρνησσέος ἱστορίης ἀπόδεξις ἥδε […].9 Dies kann man in Anlehnung an die Übersetzung von Christine Ley-Hutton wiedergeben mit: »Dies ist die Darstellung/Darlegung der Erkundung/Forschung des Herodotos von Halikarnassos.« Und auf Herodots Verwendung des Begriffs bezieht sich Droysen sowohl in allen Fassungen seines Vorlesungsmanuskripts als auch in den verschiedenen Versionen des Grundrisses. In Letzteren ist zu lesen: Da der Geist nur dessen, was er sich gegenständlich macht, gewiss und mächtig ist, es nur hat so weit er es gestaltet, so fordert das in der Forschung Gewonnene eine entsprechende Darstellung (ἱστορίης ἀπόδειξις Herod.).10
Bresslau hat sich im Sommersemester 1868 notiert: _____________ 7
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So lautet der die Topik einleitende Satz in: Historik (H), 273. Die Parallelstellen dazu finden sich in Historik (L), 44; Grundriss (1857/58), § 12, 399; Grundriss (1858), § 12, 11; Grundriss (1862), § 5, 12; Grundriss (1868), § 16, 12; Grundriss (1875), § 16, 12; Grundriss (1882), § 16, 425. Bresslau (2007), 204 und 205. Herodot, Historien 1. Pr. Bei Herodot findet man die ionische Form des Begriffes ἀπόδεξις. Droysen verwendet allerdings durchgängig die gängigere attische Form ἀπόδειξις, obwohl er sich auf Herodot bezieht. Vgl. Historik (L), 57 f., 66; Historik (H), 35; Grundriss (1857/58), 405 und Grundriss (1882), 445. Grundriss (1868), § 44, 22.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) Dies gewonnene Verständnis fordert seinen Ausdruck, und wir brauchen also in unserer Methodik einen Abschnitt der Darstellung, von der ἱστορίης ἀπόδειξις, wie Herodot das treffend ausdrückt.11
In den Grundrissen verwendet Droysen abgesehen von dem Herodot-Zitat nur den Begriff Darstellung. In den Vorlesungsmanuskripten verwendet er die Begriffe Darstellung und Apodeixis (oder ἀπόδειξις) als Synonyme und wählt in der frühen Version seines Vorlesungsmanuskriptes sogar den Begriff »Apodeixis« als Überschrift für das Kapitel über die Darstellung. Dass Droysen den Begriff der ἀπόδειξις den Historien entlehnt hat, ist offensichtlich, da er ihn jedes Mal mit dem Hinweis auf Herodot einführt.12 Ebenso eindeutig ist, wie er ihn verstanden haben möchte: als Darstellung beziehungsweise Darlegung.13 Es sei nur noch angemerkt, dass der Terminus »Darstellung« sich aber eventuell auch durch Humboldts prominente Verwendung angeboten hat. Hatte dieser doch formuliert: »Das Geschäft des Geschichtschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Daseyn in der Wirklichkeit zu gewinnen.«14 Das fand Droysens Zustimmung.15 Droysen unterscheidet vier Hauptformen der Apodeixis und somit vier Möglichkeiten, die im historischen Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse zu kommunizieren: die untersuchende, die erzählende,16 die didaktische und die diskussive Darstellung, die im Folgenden kurz charakterisiert werden sollen. Die untersuchende Darstellung gibt ein idealisiertes Abbild des Forschungsprozesses. Sie wird sich uns immer dann aufdrängen, wenn die Unzulänglichkeit oder Dunkelheit des historischen Materials, das uns vorliegt, [es, C.H.] uns unmöglich macht, in der schlichten Aneinanderreihung der erforschten Einzelheiten den Zusammenhang und die Bedeutung dessen, was wir erforschen wollen, hervorspringen, die Vorstellung und den Gedanken, um die es uns zu tun war, durch einfache Evidenz sich selbst rechtfertigen zu lassen.17
D. h. immer dann, wenn es aufgrund der Dürftigkeit des überlieferten Materials nicht möglich ist, das Geschehene lückenlos und folgerichtig zu erzählen, kommt die unter_____________ 11 12
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Bresslau (2007), 206. In diesem Sinne äußert sich auch Helmut Hühn (2010), 134, Anm. 11: »Droysen schließt hier an die Historien des Herodot an, nicht an den terminologischen Aristotelischen Begriff der apodeixis, der auf Ursachenkenntnis und Notwendigkeit zielt.« Eine andere Ansicht vertritt hingegen Hans-Jürgen Pandel (1990), 6, der behauptet, dass Droysen beide Teile des Doppelbegriffs ἱστορίης ἀπόδειξις auf Aristoteles zurückführe, worauf weiter unten noch ausführlich eingegangen wird. Im Vorlesungsmanuskript von 1857 formuliert er: »Das ist die ἱστορίης ἀπόδειξις, wie Herodot sein Werk gleich in der ersten Zeile bezeichnet, eine Bezeichnung, die doch mehr enthält als unser Wort Darstellung.«; Historik (L), 57; Hervorhebung von mir, C.H. Später übersetzt er den Begriff mit Darlegung: »[...] ἀπόδειξις […]. Dies ist der Ausdruck den Herodot gleich am Anfang seines Werkes braucht: ἱστορίης ἀπόδειξις, die Darlegung seiner Forschung.«; Historik (H), 35. Humboldt (1960), 605; Hervorhebung von mir, C.H. Historik (L), 217. Vgl. hierzu auch oben Kapitel 2.5 zu den vier Formen der erzählenden Darstellung. Historik (H), 277.
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suchende Darstellung zur Anwendung. Aus diesem Grund ist es in Droysens Augen »wahrhaft lächerlich, griechische Geschichte vor den Perserkriegen, wie Grote […] erzählen zu wollen«, weil dadurch eine Vollständigkeit vorgetäuscht würde, die gar nicht vorhanden ist. Ferner will diese Form der Darstellung »nicht wie die erzählende anschaulich sein« und »die Phantasie beschäftigen«, sondern sie will »überzeugen« und »den Verstand befriedigen«, weshalb sie »eine größere Sammlung und Schärfe der Gedanken« erfordert.18 Als »ein für diese Form musterhaftes Werk« betrachtet Droysen z. B. Boeckhs »Metrologie« oder Karl Otfried Müllers »Dorier«.19 Stehen dem Historiker hingegen genügend aussagekräftige Quellen zur Verfügung, um ein historisches Geschehen lückenlos in seiner chronologischen Reihenfolge rekonstruieren zu können, so bietet sich die erzählende Darstellung an. Diese versucht, ein Abbild des historischen Geschehens zu geben: »Die erzählende Darstellung stellt das Erforschte als einen Sachverlauf in der Mimesis seines Werdens dar«.20 Dabei hat sie immer das Werden eines Gedankens oder Gedankenkomplexes (wie ihn zuvor die Interpretation der Ideen aufgewiesen hat) darzustellen, wobei sie in dem darzustellenden Gedanken »einen festen Standpunkt der Betrachtung hat«.21 Das findet Droysen »vortrefflich in Sybels Darstellung der Französischen Revolution durchgeführt« und ebenso in Gervinusʼ Literaturgeschichte.22 Die didaktische oder »lehrende« Darstellung resultiert aus Droysens spezifischer Auffassung von der »didaktischen Bedeutung« der Geschichtswissenschaft.23 Ihr Anliegen ist es, der Gegenwart mittels historischer Aufklärung über ihr Gewordensein und über ihre Verortung im weltgeschichtlichen Zusammenhang ein tieferes Verständnis ihrer selbst zu vermitteln.24 Indem die Geschichte das leistet, schafft sie die Voraussetzungen dafür, »sich der Weiterführung des Gewordenen mit Bewußtsein zu unterziehen«.25 Zur didaktischen Darstellung zählt Droysen u. a. alle weltgeschicht_____________ 18 19
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Historik (L), 224. Historik (L), 228 f. Gemeint sind Boeckh (1838) und K. O. Müller (1824). Boeckhs Werk trägt sinnfälligerweise das Wort »Untersuchungen« im Titel. Und in dessen Vorwort heißt es (ebd. IV): »Für den Handgebrauch werden manche metrologische Tafeln vermissen […]; solche Tafeln passen jedoch mehr für eine systematische Darstellung des Gangbaren, als für ein untersuchendes Werk, worin dem Zwecke der Forschung gemäß vieles Bekannte ausgelassen ist, und viele Maße, Gewichte und Münzen vorkommen, nach welchen in den vorhandenen Quellen selten gerechnet wird.« Dennoch treffen nicht alle von Droysen für die untersuchende Darstellung angeführten Charakteristika auf Boeckhs Metrologische Untersuchungen zu. Richtig ist, dass es sich um keine erzählende, sondern eine systematische Darstellung handelt. Aber diese Form der Darstellung ist in diesem Falle nicht einem Mangel an Quellen geschuldet, sondern sie folgt schlichtweg dem Muster althergebrachter klassisch-antiquarischer Darstellungen. Grundriss (1882), § 91, 446. Historik (L), 234. Vgl. Historik (L), 235. Gemeint sind die ersten beiden (1853 und 1854 erschienenen) Bände von Sybel sowie von Gervinus (1835–1842). Für die von Droysen unterschiedenen Unterformen der erzählenden Darstellung, siehe Kapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit. Historik (H), 275 und 306. Historik (H), 309. Historik (H), 306.
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lichen Darstellungen. Ihre »richtige Form« sieht er aber in erster Linie im »historische[n] Unterricht der Jugend«.26 Während die erzählende Darstellung das Werden eines Gedankens oder Gedankenkomplexes beschreibt und sie dabei immer einen festen Betrachtungsstandpunkt einnimmt, der entweder innerhalb des Horizontes einer Persönlichkeit, oder in der Eigenartigkeit einer im Werden sich bestimmenden geschichtlichen Gestaltung (Staat), oder in dem Gedanken, der sich aus ungeheueren Konflikten zur Wirklichkeit hindurcharbeitet,
liegt,27 stellt im Unterschied dazu die belehrende (didaktische) Darstellung den einzelnen Gedanken oder Gedankenkomplex in seinem Bezug auf das umfassendere Ganze, dessen Teil er ist, dar: Bei ihr ist nicht der einzelne Gedanke und sein Bereich zu befassen, [sondern hier ist entscheidend,] daß die Totalität dargelegt, daß der einzelne Gedanke als wesentlich auf das Ganze bezüglich und als dessen integrierender Teil gefaßt werde.28
Mit Totalität oder dem umfassenderen Ganzen ist der weltgeschichtliche Zusammenhang gemeint, zu dem hier das Einzelne in Bezug gesetzt werden soll. Daher bezeichnet Droysen die lehrende Darstellungsform auch als die »weltgeschichtliche (didaktische)«29 Darstellung. »Muster« solcher »weltgeschichtlicher Darstellung[en]« haben in Droysens Augen »Herder, Johannes von Müller, Leo oder Ranke« gegeben.30 Der Standpunkt der didaktischen Darstellung liegt nun »nicht mehr in der Ebene der dargestellten Wirklichkeiten«, sondern: Hier ist der Standpunkt der Betrachtung ein solcher, daß er ein übermenschlicher sein würde, wenn er das in vollem Maß sein könnte, was er will. Aber die Geschicke der Menschheit in ihrer wahren Totalität zu schauen vermag nur die Gottheit.31
Dem Menschen ist die Einnahme eines solchen absoluten Standpunktes nicht möglich, er erreicht im besten Falle »den relativ höchsten« und zwar dann, wenn er sich ihn »durch den Gedanken Gottes zur Totalität ergänzt«.32 Droysen charakterisiert daher die Geschichtswissenschaft als _____________ 26 27
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Historik (H), 307; Grundriss (1882), § 92, 448. Vgl. Historik (L), 254. Irritierenderweise spricht Droysen im Kapitel über die Erzählung nicht mehr von Ideen, sondern stattdessen synonym für Idee von einem »Gedanken oder Gedankenkomplex, den der Erzähler darlegen will«; vgl. Historik (L), 230 und 232. Vgl. ferner Historik (L), 390 f., wo er auch von »Gedanke« und »Gedanken« spricht. Historik (L), 254. Der Einschub in eckigen Klammern stammt von Peter Leyh, dem Herausgeber der Historik. Vgl. hierzu auch die Formulierung in der Nachschrift von Bresslau (2007), 232: »Die erzählende Form befriedigt aber nicht alle Ansprüche. Sie stellt nur einen einzelnen Gedanken dar, wir haben aber das Bedürfnis die ganze Fülle von Gedanken darzustellen. Dazu dient die didactische Darstellung«. Und ebd. 233: »In der Erzählung war ein Gedanke maßgebend: hier ist die ganze Fülle der Gedanken in ihrer Totalität.« Historik (L), 234. Historik (H), 307. Historik (L), 254. Ebd. 255.
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ein stetes Finden aus Gott. Denn mit der Erkenntnis des Absoluten, mit dem Gottesbegriff, wie er denn jetzt erkannt ist, ergänzen wir die endliche Erkenntnis der Gegenwart zur Totalität, aus der wir in das Dunkel hinter uns hineinschauen und es schauend erhellen […] Und eben weil das unsere Wissenschaft tut und immer wieder tut, darum ist sie didaktisch.33
Geschichte hat eine didaktische Wirkung. Sie (be)lehrt. Das tut sie aber nicht dadurch, weil sich in ihr »Muster zur Nachahmung« oder »Regeln zur Wiederanwendung« finden, sondern der »Gewinn«, den das Studium der (Welt-)Geschichte bringt, ist »die durchgemachte geistige Übung. Und diese geistig durchgemachte Übung ist Bildung«.34 Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beziehungsweise das Studium der Weltgeschichte bildet, und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch und emotional, denn Bildung macht den Menschen nicht nur klüger, sondern auch besser.35 Die bildende Funktion, welche die Geschichtswissenschaft hat, erfüllt am besten die didaktische Darstellung. Ihr Anliegen ist es, der Gegenwart mittels historischer Aufklärung über ihr Gewordensein und über ihre Verortung im weltgeschichtlichen Zusammenhang ein tieferes Verständnis ihrer selbst zu vermitteln.36 Indem die Geschichte das leistet, schafft sie die Voraussetzungen dafür, »sich der Weiterführung des Gewordenen mit Bewußtsein zu unterziehen«.37 Während die didaktische Darstellung dabei stehen bleibt, den Ist-Zustand der jeweiligen Gegenwart vor dem Hintergrund ihres Gewordenseins zu verstehen und dementsprechend darzulegen, geht die diskussive oder erörternde Darstellung noch einen Schritt weiter, indem sie die »Weiterführung des Gewordenen« in den Blick nimmt. Denn das »Wesen der diskussiven Darstellung [ist], daß sie aus der vollen Erkenntnis des Gewordenen ihr Urteil über dessen Weiterführung schöpft und so die weiterführende Bewegung der geschichtlichen Arbeit begleitet« und »aus dem bisher Gewordenen und dem Zusammenhang des Werdens den nächstweiteren Schritt« bestimmt.38 Die »erörternde Darstellung« hat also aus der bisherigen geschichtlichen Entwicklung den weiteren Kurs zu abzuleiten, d. h. sie hat mittels historischer Argumente aufzuzeigen und zu begründen, welchen Weg man künftig einschlagen sollte (und zwar sowohl in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kirchlicher, wissenschaftlicher und künstlerischer als auch in technischer Hinsicht).39 Sie soll demjenigen, »der die Verantwortlichkeit des rechten Entschlusses, der entscheidenden Tat hat«, das nötige Wissen an die Hand geben, damit er die richtige Entscheidung treffen kann, da er sonst leicht »eine Zukunft, die schon im Werden war, mit einem falschen Ent_____________ 33 34 35 36 37 38 39
Ebd. Mit dieser im christlichen Weltbild verankerten Weltanschauung steht Droysen nicht allein, man denke etwa an Heinrich Ritter, Trendelenburg oder Gervinus. Ebd. 251; ähnlich Historik (H), 300 und 301. Historik (L), 252; ähnlich Historik (H), 304: »Das Wesen der Bildung ist auch nicht erschöpft mit den bloßen intellektuellen Ergebnissen, welche die Menschen klüger, aber nicht besser machen.« Historik (H), 309. Historik (H), 306. Historik (H), 315 und 313. Grundriss (1857/58), § 41, 406; siehe ferner Historik (L), 315.
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schluß lähmen, ja in der Geburt töten« könnte.40 Genau aus diesem Grund sieht Droysen auch im historischen und nicht im juristischen Studium »die Grundlage für die politische und administrative Ausbildung«.41 Worum es Droysen bei dieser Darstellungsform, die er auch als »historische Diskussion«42 bezeichnet, eigentlich geht, ist eine Diskussion möglicher Handlungsoptionen anhand historischer Argumente. Hat Droysen bei der didaktischen Darstellung vor allem den historischen Unterricht an Schule und Universität im Blick, zielt die diskussive Darstellung direkt auf die politische Publizistik.43 Welche Form der Darstellung ein Historiker nun im jeweiligen Falle für geeignet hält, hängt laut Droysen von den die Forschung leitenden Motiven ab und ergibt sich keinesfalls aus den erforschten und nun darzustellenden Gegebenheiten: »Die Formen der Darstellung bestimmen sich nicht nach den erforschten Vergangenheiten, sondern nach den Motiven der Forschung oder des Forschers.«44 Der die Forschung leitende Zweck ist hier das Entscheidungskriterium für oder gegen eine der vier von ihm unterschiedenen historiographischen Gattungen.45 Das stimmt allerdings nur fast, denn die untersuchende Darstellung fällt ganz offensichtlich aus diesem Schema heraus, da sich die Entscheidung für oder gegen ihre Anwendung gar nicht aus den Motiven des Forschers ergibt, sondern – laut Droysens eigenen Worten – durch die Quellensituation bedingt ist: Wo die Unzulänglichkeit oder Dunkelheit des Materials zu künstlichen Combinationen, zu Hypothesen und so weiter nötig[t], ist diese Form der [untersuchenden, C.H.] Darstellung anzuwenden.46
Aber auch die restlichen drei Darstellungsformen unterscheiden sich nicht bloß anhand der Motive der Forschung. So unterscheidet sich die Erzählung von didaktischer und diskussiver Darstellung dadurch, dass sie erstens nur das Werden eines Gedankens oder Gedankenkomplexes darstellt, zweitens ihr Standpunkt immer innerhalb dieses Gedankens liegt und sie drittens nicht unbedingt einen Gegenwartsbezug herstellen muss.47 Bei der didaktischen Darstellung bildet im Gegensatz dazu die Gegenwart den Ausgangspunkt des Forschungsinteresses. Sie untersucht die Vergangenheit immer unter dem Gesichtspunkt, in welchem Bezug sie zur Gegenwart steht.48 Sie versucht darüber hinaus immer die Totalität der Ideen darzustellen, deren Entwicklung dazu geführt hat, dass die Gegenwart so geworden ist, wie wir sie vorfinden. Das geht aber _____________ 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Beide Zitate Historik (L), 310. Grundriss (1857/58), § 41, 406 und Grundriss (1858), § 41, 20. Historik (L), 265. Vgl. Bresslau (2007), 233 und 230. Grundriss (1857/58), § 37, 405. Vgl. Historik (L), 221 und 280 f. Bresslau (2007), 230, hat notiert: »Absolut die beste ist keine dieser 4 Formen; welche anzuwenden ist, richtet sich nach den Umständen.« Bresslau (2007), 230, sowie ähnlich Historik (L), 234. Historik (H), 306. Ebd.
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nicht mehr von einem »in der Ebene der dargestellten Wirklichkeiten« liegenden Standpunkt aus,49 sondern erforderte eigentlich die Einnahme einer absoluten göttlichen Perspektive, die dem Menschen aber verwehrt ist. Um dieser dennoch möglichst nahe zu kommen, muss der Mensch sich seinen Blick »durch den Gedanken Gottes zur Totaliät« ergänzen.50 Neu gegenüber den beiden zuerst aufgeführten historiographischen Gattungen ist, dass Droysen der lehrenden Darstellung eine konkrete Aufgabe zuschreibt: Sie dient der (historischen) Bildung. Also greift das von Droysen als Unterscheidungsmerkmal der vier Darstellungsformen eingeführte Kriterium des vom Historiker verfolgten Zwecks eigentlich erst hier. Und die von Droysen als letzte Form eingeführte diskussive Darstellung unterscheidet sich von der didaktischen dann tatsächlich nur noch in der Art der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse. Denn sie »ist gleichsam die praktische Anwendung dessen, was wir in der didaktischen Darstellung gewonnen hatten«.51 Das bedeutet, dass alles zuvor über den Charakter der didaktischen Darstellung Erläuterte (ihr notwendiger Gegenwartsbezug, ihr absoluter Standpunkt und ihr in den Blick Nehmen der Totalität von Ideen, welche die Gegenwart bedingen), auch auf die diskussive Darstellung zutrifft. Ihr Unterschied zu jener ist dann nur noch, dass sie – indem sie (auf der Grundlage von historischen Argumenten) zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten diskutiert – eine andere gesellschaftliche Aufgabe als diese erfüllt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Droysen literarische Aspekte – wie Sprachstil, Lexis oder die Anordnung des Stoffes in literarischer Hinsicht – überhaupt nicht interessieren, weshalb er sie nicht problematisiert und sich die von ihm konzipierten Darstellungsformen auch nicht anhand literarischer Kriterien voneinander unterscheiden lassen.52 Es ist aber auch nicht der Gegenstand beziehungsweise die »Thematik«, welche Droysen, wie es bei Theodor Schieder der Fall ist, zu seiner Unterscheidung der verschiedenen Darstellungsformen führt,53 sondern Droysens Schema basiert auf den oben genannten Unterscheidungskriterien. Leider sind diese, wie herausgearbeitet wurde, uneinheitlich, so dass Droysens Typologie in sich unstimmig ist und aus systematischen Gesichtspunkten nicht wirklich
_____________ 49 50 51 52
53
Historik (L), 254. Ebd. 255. Ebd. 270. Daher ist es im Grunde genommen richtig, wenn Werner Schiffer (1980), 2, feststellt, dass man, »bei allen vier von Droysen spezifizierten Typen der historiographischen Darstellung die Form der Erzählung als deren immanente Strukturform« ausmachen könne, da sich die vier Darstellungsformen tatsächlich nicht durch ihre literarische Form unterscheiden. Die von Droysen angeführten Unterscheidungskriterien sind anderer Natur. Schieder (1968), 138. Die fünf von Schieder unterschiedenen »Themengruppen« (139), welche ihn zur Unterscheidung von fünf Darstellungsformen der Geschichtswissenschaft führen, sind die Universal- oder Weltgeschichte (139 ff.), die Epochenmonographie (141 ff.), die nationalgeschichtliche Monographie (143–146), die Biographie (146 ff.) und die problemgeschichtliche Monographie (148 f.).
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
zu überzeugen vermag.54 Droysen behauptet zwar, dass sich die Entscheidung für eine und gegen die anderen Darstellungsformen aus der Motivation des Forschers ergäbe und suggeriert somit ein einheitliches Einteilungskriterium, was sich aber bei genauerem Hinsehen als nicht unbedingt zutreffend erwiesen hat: Die Kriterien, anhand derer Droysen die einzelnen Gattungen unterscheidet, gehören verschiedenen kategorialen Ebenen an: So ergibt sich die Entscheidung für oder gegen die untersuchende oder erzählende Darstellung aus der Überlieferungssituation. Die erzählende Darstellung wiederum unterscheidet sich von didaktischer und diskussiver Darstellung in drei vollkommen andersgearteten Hinsichten: dem Gegenwartsbezug, dem Standpunkt des Historikers und der Komplexität der Darstellung. Didaktische und diskussive Darstellung hingegen unterscheiden sich untereinander nur hinsichtlich ihres Zweckes.55
5.1 Droysens Konzeption von Sprache und Kunst sowie von untersuchender und erzählender Darstellung als Mimesis (μίμησις) 5.1.1 Mimesis als zentraler Begriff in der Dichtungstheorie des Aristoteles Mimesis ist ein zentraler Begriff der Dichtungstheorie des Aristoteles und meint so viel wie Nachahmung, Nachbildung oder Darstellung.56 Am Anfang der Poetik stellt Aristoteles folgende programmatische Fragen: Welche Gattungen lassen sich hinsichtlich der Dichtkunst unterscheiden, welche Wirkungen rufen diese beim Zuschauer hervor und wie muss eine gute Dichtung beschaffen sein? Seine Antwort auf die erste Frage _____________ 54
55
56
Jörn Rüsen (1982), 198, bemerkt daher zu Recht: Die für Droysens Typologie »maßgebenden, typenbildenen Kriterien werden von ihm nicht systematisch genau expliziert«. Die Unstimmigkeit von Droysens Schema führt dazu, dass viele Interpreten in der didaktischen und der diskussiven Darstellung nur »Nebenformen« der untersuchenden und erzählenden Darstellung sehen, wie z. B. Schieder (1968), 137. Einige Interpreten versuchen also den Unstimmigkeiten dadurch zu begegnen, dass sie die letzten beiden Formen einfach auf die ersten beiden reduzieren. Zu anderen Einschätzungen, die ich aufgrund des oben dargelegten Sachverhaltes nicht teile, gelangen Werner Schiffer und Jörn Rüsen, die trotz aller Widersprüche dennoch versuchen, ein einheitliches Schema auszumachen. Schiffer (1980), 106, schreibt: »Demnach gilt für alle Formen von Droysens Typologie, daß ein vorgegebener appellativer Zweck die zu verwendenden Formprinzipien bestimmt.« Rüsen (1982), 200, denkt in dieser Richtung weiter und gelangt zu dem Schluss, dass es sich bei Droysens Schema der historischen Darstellungsformen um eine funktionslogisch orientierte Typologie handle. (Wie oben dargelegt, trifft das in meinen Augen nur für die didaktische und die diskussive Darstellung zu.) Er charakterisiert dementsprechend die vier von Droysen unterschiedenen Formen wie folgt: »Je nachdem, welche Seite des historischen Bewußtseins« seines Publikums ein Historiker ansprechen möchte, entscheidet er sich »für eine bestimmte Darstellungsform; geht es ihm um die methodische Rationalität im historischen Denken seines Publikums, wählt er die Form der untersuchenden Darstellung, will er die ästhetische Rezeptivität vornehmlich ansprechen, die Form der erzählenden Darstellung, bei der theoretischen Reflexivität die Form der didaktischen Darstellung, bei der praktischen Aktivität schließlich die Form der diskursiven[!] Darstellung«. Hervorhebungen im Original. Es muss natürlich diskussiv anstelle von diskursiv heißen. Zum aristotelischen Mimesis-Begriff vgl. insbesondere Rapp (2005), 362–364, Halliwell (2002) und Küpper (2009).
Sprache, Kunst, untersuchende und erzählende Darstellung
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lautet, dass hinsichtlich der Dichtkunst fünf Gattungen voneinander zu unterscheiden sind: Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung sowie Flöten- und Zitherspiel. Und diese »alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen«.57 Aristoteles definiert Dichtung also als μίμησις, und zwar als Nachahmung oder Nachbildung menschlicher Handlungen.58 Die fünf genannten poetischen Gattungen unterscheiden sich laut Aristoteles in drei Hinsichten voneinander.59 Erstens durch die Mittel, mit deren Hilfe sie die Nachahmung bewerkstelligen. Diese sind Rhythmus, Sprache und Melodie. Zweitens unterscheiden sie sich durch die von ihnen jeweils nachgeahmten Gegenstände. Das können einmal Menschen sein, die besser sind als wir selbst (wie bei Tragödie und Epos), zum anderen Menschen, die schlechter sind (wie bei der Komödie), oder drittens solche, die ebenso sind wie wir. Und drittens unterscheiden sich die verschiedenen Dichtungsformen aufgrund der Art und Weise der Nachahmung. Diese kann in berichtender beziehungsweise erzählender Form (wie beim Epos) oder in dramatisierender Form (wie bei Tragödie und Komödie) erfolgen. In dem uns überlieferten Teil der Poetik nimmt nach fünf einleitenden Kapiteln die Behandlung der Tragödie den meisten Raum ein und nur am Ende folgen drei dem Epos gewidmete Kapitel, bevor dann die Poetik mit einem Vergleich von Tragödie und Epos schließt. Die Tragödie steht somit gewissermaßen im Mittelpunkt der uns überlieferten Teile der Schrift. Wie aus Aristotelesʼ Erläuterungen dazu, wie die Handlungsstruktur der Tragödie beschaffen sein muss, zu ersehen ist, geht es in dieser nicht um die Nachahmung konkreter, also wirklicher Handlungen, die immer singulären Charakter haben, sondern um die Darstellung idealtypischer Konstellationen.60 Um diesen Aspekt hervorzuheben, zieht Aristoteles im vielzitierten 9. Kapitel der Poetik die Geschichtsschreibung zum Vergleich heran, deren Schilderungen sich, im Unterschied zur Dichtkunst, immer auf reale, also auf singuläre Ereignisse beziehen, weshalb ihre Aussagen eben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können und Geschichtsschreibung demzufolge nicht zur Dichtung zählt.61 Ferner wird die Definition von Dichtung (als Mimesis menschlicher Handlungen) hier noch einmal dahingehend spezifiziert, dass die dargestellten Handlungen das Kriterium des Möglichen und Allgemeingültigen erfüllen müssen, so dass Dichtung somit als Darstellung möglicher und allgemeingültiger menschlicher Handlungen definiert wird, was sie in die Lage versetzt, exemplarische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. _____________ 57 58 59 60 61
Poet. 1, 1447a8–17. Vgl. Poet. 2, 1448a1 ff.; 6, 1449b24 ff. und 1450a17. Vgl. zum Folgenden Poet. 1, 1447a17 bis Poet. 3, 1448b3. Vgl. Aristoteles Ausführungen in Poet. 9, 1451a36 ff. Manfred Fuhrmann kommentiert Aristotelesʼ Rückgriff auf die Geschichtsschreibung in Poet. 9 wie folgt: So wie Aristoteles in Poet. 1 das naturwissenschaftliche Lehrgedicht aus der Dichtkunst ausgeschlossen hatte – da in diesem keine menschlichen Handlungen dargestellt werden – so schließe er jetzt die Geschichtsschreibung aufgrund des Fehlens »des Merkmals ›möglich und allgemein‹« aus; Fuhrmann (1994), 113, Anm. 2.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Insgesamt zieht Aristoteles in der Poetik die Geschichtsschreibung zweimal als Vergleichsfolie heran, einmal in Poet. 9 und nochmals in Poet. 23.62 In Poet. 9 führt er sie an, um das Kriterium der Allgemeingültigkeit der Dichtung herauszuheben. In Poet. 23 vergleicht er Epos und Geschichtsschreibung hinsichtlich der von ihm für die Dichtkunst geforderten Einheit der Handlung, worauf später noch einmal zurückzukommen sein wird. 5.1.2 Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs In der Historik-Vorlesung und den Grundrissen verwendet Droysen den MimesisBegriff in zwei verschiedenen Kontexten. Einmal bezeichnet Droysen Sprache und Kunst und zum anderen untersuchende und erzählende Darstellung als Mimesis. Zunächst zu Droysens Auffassung von Sprache und Kunst als Mimesis. Diese expliziert er im zweiten Teil seiner Vorlesung, der Systematik (in welcher er den Gegenstandsbereich des Historikers behandelt), und zwar im Kontext seiner Problematisierung der »idealen Gemeinsamkeiten«, zu denen er neben Sprache und Kunst noch das Wahre (die Wissenschaften) und das Heilige (die Religionen) zählt.63 So schreibt er im Abschnitt über Das Sprechen und die Sprache, dass die Sprache »eine freie Mimesis der Wirklichkeiten« sei.64 Er betrachtet die Sprache also als Nachahmung der Wirklichkeit und zwar genauer als eine Übersetzung (μίμησις) empfangener Sinneseindrücke in Laute: Vielmehr ist es eine feinere μίμησις, die hier eintritt, eine solche, deren Wesentliches ist, aus einem Sinn in den andern zu übersetzen. […] In analoger Weise wird jede Sensation, jeder empfangene Eindruck zu Lautkomplexen übersetzt, d. h. eine μίμησις gemacht.65
Sprache bildet also laut Droysen Wirklichkeit ab, indem sie empfangene Sinneseindrücke in Laute übersetzt.66 _____________ 62 63 64 65 66
Poet. 23, 1459a20 ff. Vgl. Historik (L), 315–324; Historik (H), 219–241; vgl. ferner die entsprechenden Paragraphen in den diversen Grundrissen. Historik (L), 320; Historik (H), 225. Historik (L), 215; Historik (H), 222; Hervorhebungen von mir, C.H. In Droysens Äußerungen über die Sprache hallt entfernt die Eingangspassage von Aristoteles De interpretatione wider. Zwar ist in dieser nicht von Mimesis die Rede, aber Aristoteles beschreibt hier das Verhältnis von Welt, seelischer Vorstellung und darauf basierenden Lauten (Sprache) als ein doppeltes Abbildungsverhältnis: »Es sind also die stimmlichen Laute Zeichen der seelischen Vorstellungen, und die Schrift wiederum ist Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erste Stelle angezeigt wird, die seelischen Vorstellungen, das ist bei allen Menschen gleich, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind« (De int. 1, 16a3–8; hier zitiert nach Welsch (2012), 85. Für eine aktuelle und differenzierte (Re-)Interpretation der Aristoteles-Passage vgl. Flatscher (2005), insbesondere 110–123. Wahrscheinlicher ist aber, dass Droysen hier schlicht zeitgenössisches Gedankengut (Herder, K. P. Moritz, W. v. Humboldt, Hegel) reformuliert. Das wäre zu überprüfen – was hier aber nicht geschehen kann.
Sprache, Kunst, untersuchende und erzählende Darstellung
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Auf Droysens Ausführungen über die Sprache folgt seine Problematisierung des Schönen und der Künste. Hier stellt er gleich zu Beginn fest: Schon Aristoteles macht in betreff der Poesie die Bemerkung, daß sie auf dem Begriff der μίμησις beruhe. Es gilt das von aller Kunst in analoger Weise wie von der Sprache. […] Alle Kunst will einen empfundenen idealen Inhalt in möglichst entsprechender Weise zur Anschauung bringen, und ihre Darstellung ist die μίμησις dessen, was sie ausdrücken will.67
An dieser Passage lässt sich sehr gut zeigen, dass Droysen sich hier zwar mittels des μίμησις-Begriffes auf Aristoteles bezieht, dass aber der von ihm im Folgenden referierte Gedankengang gar kein aristotelisches Gedankengut ist. Kunst ist im Verständnis Droysens wie die Sprache ebenfalls Mimesis. Gegenstand der künstlerischen Mimesis sind aber nicht reine Sinneseindrücke wie bei der Sprache, sondern Empfindungen. Diese werden zugleich nachgeahmt und ausgedrückt: »Der gotische Dom ist die Mimesis, der nachahmende Ausdruck des tiefempfundenen Zwecks, den dieser Bau hat.« Und im Tanz ist die körperliche Bewegung der nachahmende Ausdruck dessen, was die Seele so angeregt empfindet. […] Man sieht, auch die Kunst ist ein Sprechen der Menschen, aber ein Sprechen nicht von Gedanken, sondern von Empfindungen; ein Übersetzen der empfangenen Erregung nicht für das denkende, sondern das empfindende Ich des andern und der andern; ein Ausdrücken dessen, was die Seele bewegt, in dem das zu seinem Recht kommt, was nicht in den rationalen Formen von Denkvorstellungen und Kategorien zu befassen ist.68
Kunst ist also für Droysen zugleich Nachahmung und Ausdruck von Empfindungen, beziehungsweise deren Übersetzen in ganz verschiedene Medien. Mit dieser Auffassung von Kunst reformuliert Droysen allerdings romantisches und kein aristotelisches Gedankengut. Darüber hinaus konzipiert Droysen sowohl die untersuchende als auch die erzählende Darstellung als Mimesis. Hier fragt sich natürlich, was ahmen die untersuchende und die erzählende Darstellung jeweils nach? Die untersuchende Darstellung liefert laut Droysen eine »Mimesis der Untersuchung«,69 sie imitiert also quasi den Forschungsprozess. Dabei ist sie aber kein »Referat oder Protocoll von dem Verlauf der gemachten Untersuchung, sondern sie verfährt« so, als sei das in der wirklichen Untersuchung bereits Gefundene erst noch zu finden oder zu suchen. »Sie ist eine Mimesis dieses Suchens oder Findens«.70 Allerdings rekonstruiert die untersuchende Darstellung den Forschungsprozess in bereinigter und somit begradigter Form – denn alle im Forschungsprozess unternommenen _____________ 67 68
69 70
Siehe hier ebenfalls Historik (L), 321, und Historik (H), 226. Historik (H), 227, und fast identisch Historik (L), 321 f.; Hervorhebungen von mir, C.H. Und ganz ähnlich formuliert es Droysen in der letzten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes im HeuristikKapitel, im Abschnitt über die Quellen, wo er eine Abgrenzung zwischen künstlerischer Mimesis und der der Geschichtsschreibung vornimmt: »Je mehr künstlerisch frei solche Darstellung, desto loser wird in ihr der Zusammenhang mit dem Tatsächlichen, bis sie endlich in der Musik, dem Tanz, der Architektur zu einer μίμησις nicht mehr des Tatsächlichen, sondern der davon erzeugten Empfindung wird.«; Historik (H), 61. Historik (L), 220 und 225. Grundriss (1868), § 45, 23; Bresslau (2007), 230.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Schritte, die sich am Ende als nicht zielführend erwiesen haben, sollen laut Droysen keinen Eingang in die Darstellung finden: »Die vielen Abwege und erfolglosen Mühen der wirklichen Untersuchung nimmt diese Darstellung nicht auf.«71 Es ist also genau genommen ein »idealisiertes« Abbild des Forschungsprozesses72 beziehungsweise eine Rekonstruktion des Forschungsprozesses in idealisierter Form, welche die untersuchende Darstellung anstrebt. Die erzählende Darstellung hingegen ahmt das historische Geschehen im Sachverlauf seines Werdens nach und liefert somit ein Abbild des Verlaufs einer historischen Entwicklung: Die Erzählung »giebt eine μίμησις des Werdens der Dinge«, d. h. sie »stellt das Erforschte in der μίμησις seines Werdens dar«.73 Aber sie rekonstruiert das vergangene Geschehen in seinem Werden nicht eins zu eins, in photographischer Treue, sondern in ihrem Fokus steht der zuvor durch die Interpretation der Ideen in einem Tatbestand aufgefundene »Gedanke[...] oder Gedankenkomplex«.74 Dieser bildet den Ariadne-Faden der historischen Erzählung. Und diesen hat sie in ihrem Werden und Wirklichwerden darzustellen: Nicht der reale Verlauf dessen, was wir darstellen wollen, ist unmittelbar in der Darstellung, sondern ein geistiges Gegenbild desselben, bedingt und gesammelt in dem Gedanken, den uns unsere Forschung ergeben hat.75
Die historische Erzählung will also keine unmittelbare Wiederholung des äußeren Verlaufs der Dinge […] sein, sondern eine μίμησις, eine subjektive Form, die auf ganz andere Weise als durch die Kontinuität der tatsächlichen Dinge, nämlich durch den Gedanken, d. h. durch die historische Wahrheit der Dinge zusammengehalten wird, eine künstlerische Form, die das äußerliche Nacheinander der Dinge allerdings technisch auch verwendet, aber vertieft um die Bedeutsamkeit eines Zusammenhanges, den die Erkenntnis als die Wahrheit der Dinge aufweist und den sie aus der endlosen Mannigfaltigkeit von Bezügen, in denen die Dinge äußerlich verlaufen, gleichsam herauswickelt.76
In der letzten Fassung seines Vorlesungsmanuskripts formuliert Droysen den Gedankengang dann wie folgt: Die erzählende Darstellung will nicht ein Bild, eine Photographie dessen, was einst gewesen ist geben, [und] noch weniger ein Magazin aller überlieferten Einzelheiten und Notizen sein, sondern unserer Auffassung bedeutender Geschehnisse von diesem Stand-
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Bresslau (2007), 230; ähnlich Historik (L), 225 und Historik (H), 278. Historik (L), 225. Zitate aus: Bresslau (2007), 230; Grundriss (1857/58), § 39, 405. Vgl. ferner Bresslau (2007), 200: »Mag es immer die Form der historischen Darstellung sein in genetischer Erzählung das Nacheinander der Dinge nach[zu]ahmen: die historische Forschung, die Empirie geht den entgegengesetzten Weg, sie geht von der Gegenwart aus.« Und vgl. ebd. 225: »Allerdings die geschichtliche Darstellung wird so erzählen, daß sie die Dinge entstehen läßt, aber dies Nacheinander versuchen wir nur nachahmend darzustellen.«; alle Hervorhebungen von mir, C.H. Historik (L), 230. Historik (L), 238. Ebd. 232.
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punkt, von diesem Gesichtspunkt aus. Denn nur so, Einen[!] Gedanken verfolgend, ist sie imstande, erzählend eine μίμησις des Werdens zu geben.77
5.1.3 Anmerkungen zu Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs Nun hat Droysen den μίμησις-Begriff zwar unübersehbar der Dichtungstheorie des Aristoteles entnommen, wie aus der oben zitierten Passage aus der Historik hervorgeht,78 seine Verwendung desselben hat allerdings mit der bei Aristoteles wenig gemeinsam, da er den Begriff nicht entsprechend des aristotelischen Begriffsverständnisses gebraucht. Und das, was Droysen in den Abschnitten über Sprache und Kunst referiert, ist kein aristotelisches Gedankengut. Sprache zählt bei Aristoteles neben Rhythmus und Melodie zu den Mitteln, mittels derer Mimesis bewirkt wird,79 aber sie selbst fasst Aristoteles nicht als Mimesis auf. Ebenso zählt er weder, wie Droysen das tut, Sinneseindrücke noch Empfindungen, den Forschungsprozess (wie bei der untersuchenden Darstellung) oder die Entwicklung eines durch die Interpretation der Ideen aufgewiesenen Gedankens oder Gedankenkomplexes (wie bei der historischen Erzählung) zu den nachzuahmenden und darzustellenden Gegenständen. Gegenstand der dichterischen Nachahmung sind laut Aristoteles immer menschliche Handlungen beziehungsweise handelnde Menschen. Schaut man kritisch hin, geht es Droysen bei der untersuchenden und erzählenden Darstellung eigentlich auch gar nicht um imitatio, sondern um Rekonstruktion. Das lässt sich sogar begrifflich festmachen: »Die erzählende Darstellung stellt das Erforschte in der μίμησις seines Werdens dar; sie rekonstruiert es zu einem genetischen Bilde.«80 Im Vorlesungsmanuskript formuliert Droysen: Das Künstlerische der erzählenden Darstellung besteht darin, daß wir erzählend die Resultate unserer Forschung in einer Form geben, die gleichsam mimetisch das Nacheinander des Werdens vorführt, daß wir also das ex post Rekonstruierte […] von seinem Anfang her sich entwickelnd zeigen.
Und Bresslau hat notiert: »Das Künstlerische in der Darstellung besteht […] darin, daß wir die Resultate unserer Forschung in der Form geben, die das genetisch sich Entwickeln mimetisch reconstruiert.«81 Dabei hätte sich Droysen sowie jede Theorie der Geschichtsschreibung in gewisser Weise tatsächlich auf die aristotelische Mimesis-Konzeption beziehen können. Denn _____________ 77 78 79 80 81
Historik (H), 285. Vgl. Historik (L), 321, und Historik (H), 226. Vgl. Poet. 1, 1447a21 ff. Grundriss (1857/58), § 39, 405; Hervorhebung von mir, C.H. Historik (L), 231, sowie Bresslau (2007), 231. Vgl. ferner Historik (L), 41, wo Droysen die Geschichtswissenschaft als »das rückwärts gewandte Verstehen des Seienden als eines Gewordenen, ein Gegenbild desselben, das sich uns aus der Rekonstruktion seines Gewordenseins erzeugt« beschreibt; oder Historik (L), 159, wo Droysen es als das Wesen der Erzählung bestimmt, dass sie das Geschehene als einen Verlauf darstellt und hervorhebt, dass es aber klar sei, »daß wir so das Nacheinander, zu dem wir forschend das Gewordene rekonstruieren, nur nachzuahmen versuchen«; oder auch Historik (L), 57 und 231.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Aristotelesʼ Charakterisierung der Geschichtsschreibung in Poet. 9 scheint zu implizieren, dass er auch die Geschichtsschreibung als Mimesis konzipiert, aber eben als Mimesis realer und singulärer Handlungen. Hier hätte man also anknüpfen können, wenn man nicht nur den Begriff, sondern ein Stück weit auch die aristotelische Konzeption hätte übernehmen wollen, und hätte Geschichtsschreibung als Mimesis wirklich geschehener menschlicher Handlungen konzipieren können. Was auch gar nicht so fern gelegen hätte, da im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung ebenfalls der handelnde Mensch steht beziehungsweise »die Handlungen der menschlichen Freiheit«.82 Der eben entwickelte Gedanke lässt sich auch noch dahingehend weiter denken, dass man im Hinblick auf die drei von Aristoteles eingeführten Charakteristika, hinsichtlich derer sich die verschiedenen poetischen Gattungen unterscheiden83 – Mittel, Gegenstand, Art und Weise der Darstellung –, formulieren könnte, dass sich Dichtung und Geschichtsschreibung des gleichen Mittels der Nachahmung, nämlich der Sprache, bedienen. Die von ihnen fokussierten Gegenstände sind allerdings unterschiedlicher Natur, da Dichtung und die dichterische Mimesis immer auf die Nachahmung exemplarischer, d. h. wahrscheinlicher und allgemeingültiger Konstellationen abzielen, währenddessen der Gegenstand der Geschichtsschreibung die singuläre Wirklichkeit ist. Was die Art und Weise der Darstellung betrifft, so teilt die Geschichtsschreibung diese mit dem Epos, denn beide bedienen sich einer narrativen (berichtenden) Form und nicht wie Tragödie oder Komödie einer dramatisierenden. In diese Richtung hat Droysen aber nicht gedacht. Daher greift er nur die aristotelische Begrifflichkeit, nicht aber die damit verbundene Konzeption auf. Die Frage, die sich deshalb stellt, ist die, warum Droysen den Mimesis-Begriff überhaupt einführt, zumal sich (mir) nicht erschließt, welchen erkenntnistheoretischen Mehrwert die Verwendung des Begriffs generiert. Fakt ist einzig und allein, dass es Droysen allein durch den Gebrauch der Begrifflichkeit gelingt, einen ganz bestimmten – wenn auch sehr vagen – Assoziationshorizont herzustellen, der sehr viel Raum zur Ausdeutung lässt. Handelt es sich bei Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs also schlichtweg um ein produktives Missverständnis? Oder knüpft er mit seinem Begriffsverständnis an einen ihm zeitgenössischen, uns aber heute nicht mehr geläufigen Diskurs an? Diesen Fragen soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
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Wachsmuth (1820), 7. Allerdings bezieht sich Wachsmuth überhaupt nicht auf die Poetik. Die von ihm zu Beginn (ebd. 5) eingeführte Unterscheidung zwischen den »Erscheinungen der Natur« und den »Handlungen der menschlichen Freiheit« geht meines Erachtens auf Kant zurück. Vgl. Poet. 1, 1447a17, bis Poet. 3, 1448b3; vgl. dazu auch Kap. 5.1.1 der vorliegenden Arbeit.
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5.1.4 Versuch einer Kontextualisierung von Droysens Verwendung des Mimesis-Begriffs »Es scheint nicht überflüssig zu sein, genau anzuzeigen, was wir uns bei diesen Worten denken, welche wir öfters brauchen werden. Denn wenn man sich gleich auch derselben schon lange in Schriften bedient, wenn sie gleich durch theoretische Schriften bestimmt zu sein scheinen so braucht denn doch jeder sie meistens in einem eignen Sinne und denkt sich mehr oder weniger dabei, je schärfer oder schwächer er den Begriff gefaßt hat, der dadurch ausgedrückt werden soll.«84
Droysens Rückgriff auf die Poetik ist, ebenso wie der unsere, kein unvermittelter, sondern er ist vorgeprägt durch die ihm vorgängige, bereits mehr als zweitausend Jahre währende Rezeptionsgeschichte. Das betrifft auch Droysens Aufgreifen des MimesisBegriffs, der zu diesem Zeitpunkt schon einige Bedeutungsverschiebungen erfahren hatte. Christof Rapp bemerkt dazu: Die Geschichte des mimêsis-Begriffs ist deshalb so schwer zu schreiben, weil sich unter diesem Ausdruck (und seiner lateinischen Übersetzung imitatio) zwar einerseits die Auseinandersetzung mit dem relativ spezifischen Begriff bei Aristoteles, andererseits aber auch die Reflexion über viele Arten von künstlerischer Repräsentation und das Verhältnis der poetischen Repräsentanten zu der dargestellten Wirklichkeit vollzieht. Außerdem werden in der Rezeption des aristotelischen mimêsis-Begriffs munter platonische, aristotelische und horazische Momente miteinander kombiniert.85
Rapp unterscheidet in der Folge systematisierend sechs verschiedene Transformationen des aristotelischen Mimesis-Begriffs, die mit der Bedeutung des Begriffs bei Aristoteles nur noch wenig zu tun haben: (1) Mimesis als Nachahmung eines literarischen Vorbildes. (2) In der Renaissance werden dann mit der imitatio die Begriffe des Fiktiven und des Kreativen assoziiert, so dass (3) in der Folge dessen der Gegensatz von wahr und falsch und somit die Frage nach der Wahrheit dichterischer Mimesis in den Blick rückt, welche bei Aristoteles keinerlei Rolle gespielt hatte. (4) In der frühen Neuzeit tritt außerdem die Nachahmung verschiedener Charaktere oder verschiedener Charaktertypen in den Mittelpunkt. (5) Schließlich wird der Begriff der Nachahmung fest mit der Formel von der Nachahmung der Natur (imitatio naturae) verknüpft, so dass grundsätzlich alles und jedes Gegenstand der dichterischen Nachahmung sein kann,
(6) was letzten Endes zur »Auflösung des spezifisch-aristotelischen mimêsis-Begriffs in einen allgemeinen und blassen Begriff von ›Repräsentation‹« führt.86 Denn – so Andreas Kablitz – die _____________ 84 85 86
Goethe (1789), 30. Rapp (2011), insbesondere 460–462, Zitat 460. Ebd. 461.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) in der Frühneuzeit unternommene Umdeutung der Nachahmung von Handlungsverläufen in die Nachahmung der Natur, und das heißt der ganzen Natur, bringt das Aristotelische Konzept […] um seine Grundlage, indem jede Beschränkung der Objekte der Mimesis aufgegeben wird. Diese Preisgabe jeglicher Spezifikation bedeutet vor allem den Verzicht auf eine logische Strukturierung der Mimesis. Denn mit der Universalisierung ihrer Gegenstände zur imitatio naturae im Verbund mit der Umdeutung von Nachahmung in Repräsentation rückt wiederum die Abbildungsrelation als solche in den Blick, während die Aristotelische Bindung der Mimesis an die Logik von Ereignisketten gerade Nachahmung als Binnenstrukturierung und damit als Ordnungsgewinn definiert.87
Im Folgenden soll es darum gehen, das Spektrum der Verwendungen des Nachahmungsbegriffs, die Droysen entweder nachweislich oder sehr wahrscheinlich bekannt gewesen sind, auszuleuchten und Droysen in diesem Kontext zu verorten. Die zu diesem Zweck heranzuziehenden Texte stammen aus verschiedenen, sich natürlich auch teilweise überschneidenden Diskussionszusammenhängen: dem (kunst-)philosophischen, dem geschichtstheoretischen und dem altphilologischen Diskurs. Kunstphilosophischer Diskurs In der Kunsttheorie ist der Mimesis-Begriff im Anschluss an Aristoteles immer präsent gewesen, wenn auch in verschiedenen Ausformungen. Stephen Halliwell gelangt daher im Ergebnis seiner Studie zu der Einschätzung: »Mimesis, in all its variations, has quite simply proved to be the most longlasting, widely held and intellectually accommodating of all theories of art in the West.«88 In der Renaissancezeit kam es, wie bereits oben angesprochen, zu einer Umdeutung des Nachahmungsbegriffes weg von der Nachahmung von Handlungsverläufen hin zu einer Nachahmung der Natur, und zwar der ganzen Natur, wodurch Dichtung beziehungsweise Kunst dann nicht mehr auf die Nachahmung von Handlungen beschränkt war. Daraus resultierte eine neue Auffassung von Kunst als Nachahmung der Natur, welche bis in die Dichtungstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts hinein als maßgebliches kunsttheoretisches Paradigma Bestand hatte. Bis dann im ausgehenden 18. Jahrhundert im Kontext der Genieästhetik auch dieses zunehmend kritisch zurückgewiesen wurde.89 So auch von Hegel – was im Grunde genommen für die fortdauernde Wirkungsmächtigkeit des MimesisParadigmas spricht – und zwar in der Ästhetik-Vorlesung, die er in Berlin insgesamt viermal (1820/21, 1823, 1826 und 1828/29) gehalten hat und deren letzte Fassung Droysen in seinem letzten Studiensemester im Winter 1828/29 gehört hat und die der Nachwelt zuerst durch die Editionen des Hegel-Schülers Heinrich Gustav Hotho zugänglich gemacht worden sind.90 Während Hegel in seiner Darstellung der aristotelischen Philosophie im Rahmen seiner Geschichte der Philosophie die Poetik mit keinem _____________ 87 88 89 90
Kablitz (2009), 223. Halliwell (2002), 5 f. Eusterschulte et al. (2001), insbesondere Sp. 1236, 1278 und 1287. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 10: Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Heinrich Gustav Hotho (in drei Teilbänden) 1835–1838.
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Wort erwähnt,91 bildet sie einen der Bezugspunkte seines Nachdenkens über die Kunst in seiner Ästhetik-Vorlesung. In dieser entwickelt Hegel seinen Begriff von der Kunst – als eines Mediums der Vermittlung beziehungsweise Versöhnung der sinnlichen (triebgesteuerten) und der geistigen (Freiheit und selbstbestimmtes Handeln ermöglichenden) Natur des Menschen – indem er zunächst verschiedene gängige Auffassungen darüber, was der Zweck von Kunst sei, als unzulänglich präsentiert und sie dann im Verlauf der weiteren Argumentation verwirft. Das ist einmal die Auffassung, dass die Aufgabe der Kunst in der Nachahmung der Natur bestünde, die er als die »geläufigste Vorstellung« vom »Zweck der Kunst«92 einführt, ferner, dass es die Aufgabe der Kunst sei, das Gemüt zu erregen, sowie dass es der »höhere substantielle Zweck« der Kunst sei, »die Wildheit der Begierden zu mildern« und darüber hinaus die Leidenschaften zu reinigen, zu belehren und moralische Besserung zu bewerkstelligen.93 Hegel verwirft »das Prinzip der Nachahmung der Natur« mit einer dreifachen Begründung: »Dies Wiederholen kann […] als eine überflüssige Bemühung angesehen werden«, weil es erstens keinen Sinn macht, etwas zu wiederholen, was es schon gibt; zweitens, weil die Nachahmung immer hinter der Natur zurückbleibt, weshalb es den Kunstprodukten an »wirklicher Lebendigkeit« mangle und drittens, weil die Freude des Menschen »etwas der Natur Ähnliches hervorzubringen« immer nur beschränkt sein kann, da es »dem Menschen besser an[steht, C.H.], Freude an dem zu haben, was er aus sich selber hervorbringt«.94 Aus der Argumentation Hegels wird ersichtlich, dass der von ihm verworfene Nachahmungsbegriff nichts mehr mit dem aristotelischen gemein hat. Kablitz bemerkt daher, dass Hegels Kritik durchaus schlüssig die Konsequenzen jener Verwandlung und Verfremdung zum Tragen bringt, denen die Aristotelische Poetik im Prozess ihrer neuzeitlichen Rezeption anheimgefallen ist.95
Die von Hegel artikulierte Position ließe sich mit einer ganzen Reihe sehr ähnlicher Äußerungen von verschiedenen ihm zeitgenössischen Autoren flankieren,96 was hier aber unterbleiben kann, da Droysen sie höchstwahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen hat. Es ist hier nur darauf hinzuweisen, weil daraus ersichtlich wird, dass das nach wie vor vorherrschende Verständnis von Nachahmung das von Nachahmung als einer imitatio naturae war, auch wenn das Paradigma von der Kunst als einer imitatio naturae mittlerweile vehement abgelehnt wurde. Übrigens auch von Heinrich _____________ 91
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Das gleiche trifft übrigens auf Heinrich Ritters umfangreiche Darstellung von Leben und Werk des Aristoteles in seiner Philosophiegeschichte zu, wo die Poetik ebenfalls ungenannt bleibt; vgl. Ritter (1831), 3–395. Der Grund dafür liegt vielleicht darin, dass »die Frage, welchen Platz im System des Philosophen [Aristoteles, C.H.] die Kunstlehre finden solle« bisher noch nicht endgültig geklärt ist. »Man kann sagen, dass sie wie in den Systemen neuerer Denker ziemlich frei stehe […].« Bernhardy (1845), Bd. 2, 17. Hegel (1976), Bd. 1, 51. Ebd. 57–64. Ebd. 51 ff. Kablitz (2009), 230. Vgl. z. B. Moritz (1788), Goethe (1789) und (1827) sowie Schelling (1809), insbesondere 345–356.
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Gustav Hotho, dessen Vorlesung über die Geschichte der Systeme der Ästhetik seit Kant Droysen zwei Semester vor Hegels Ästhetik im Wintersemester 1827/28 gehört hatte.97 Geschichtstheoretischer Diskurs Hinsichtlich der dem geschichtstheoretischen Diskurs zuzuordnenden Stimmen ist zunächst Wilhelm von Humboldt zu erwähnen, da dieser ebenfalls die Auffassung von Nachahmung als einer imitatio naturae reformuliert – allerdings noch rein affirmativ: »Die historische Darstellung ist, wie die künstlerische, Nachahmung der Natur.« So heißt es in der Aufgabe des Geschichtschreibers, einem Text, den Droysen nachweislich rezipiert hat, da er sich verschiedentlich auf ihn bezieht.98 Zu den von Droysen rezipierten Texten gehören ferner die bereits erwähnten Grundzüge der Historik von Georg Gottfried Gervinus (1805–1871). Gervinusʼ nicht sehr umfangreiche, aus 40 Paragraphen bestehende Schrift verrät eine – im Vergleich zu Droysen – intensive und aufmerksame Lektüre der aristotelischen Poetik, da diese seinen argumentativen Bezugspunkt bildet und er seine Historik als deren Pendant versteht. Denn die Historik soll genau das für die Geschichtsschreibung leisten, was die Poetik für die Dichtung leistet.99 Daher finden sich in Gervinusʼ Historik nicht nur viele indirekte (also von ihm nicht gekennzeichnete) Bezugnahmen auf die Poetik, sondern auch manche Äußerungen, die sich näher an die in der Poetik nachzulesenden Positionen anlehnen, als es bei Droysen der Fall ist, wie z. B. wenn Gervinus formuliert, dass die Geschichtsschreibung »mit der Poesie das Darstellen menschlicher Handlungen gemein hat«.100 Diese Formulierung zeigt, dass er wahrgenommen hat, dass laut der Poetik die Dichtung (Kunst) auf die Darstellung (Nachahmung) menschlicher Handlungen abzielt. Eine andere Passage zeigt aber, dass auch Gervinus die Poetik nicht unbeeinflusst von ihrer Rezeptionsgeschichte studiert hat. Und zwar, wenn er schreibt, dass wir den Dichter bewundern, dem es gelingt, die Menschen in höchster Naturtreue zu schildern und doch so, daß nie die Natur das Gleiche aufzuweisen hat, dem es also gelingt, seine freie poetische Schöpfung zugleich auf dem Grunde der Wirklichkeit aufzubauen, und mit Wahrheit das Ideale zu verbinden.101
Denn diese Passage liest sich wie der Versuch, die zu seiner Zeit nach wie vor gängige Auffassung von künstlerischer Nachahmung als einer imitatio naturae mit dem, was bei Aristoteles in der Poetik nachzulesen ist, nämlich, dass der Dichter nicht mitzuteilen habe, »was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, _____________ 97
Vgl. Droysens Abgangszeugnis, abgedruckt in Hackel (2008), 20 f. Für die von Hotho vertretene Position vgl. die kürzlich edierte Nachschrift seiner Vorlesung vom Sommersemester 1833; Hotho (2004), 68 und 142. 98 Vgl. Humboldt (1960), 591, und Historik (L), 217. 99 Einen zweiten wesentlichen Bezugspunkt für Gervinus bildet übrigens Humboldts Schrift Über die Aufgabe des Geschichtschreibers. Was nicht verwunderlich ist, da Humboldt mit seiner Problematisierung des Unterschieds zwischen Dichter und Geschichtsschreiber Gervinusʼ Thema des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Dichtung berührt. 100 Gervinus (1837), 12 f. 101 Ebd. 17.
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d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche«, in Einklang zu bringen.102 Man beachte aber, dass Gervinus die Begriffe »Mimesis« oder »Nachahmung« nirgends verwendet. Stattdessen äußert er, dass der Historiker die Menschheit »abbilden«103 solle, und spricht an oben zitierter Stelle von einer Schilderung »in höchster Naturtreue«, was beides wenig mit dem aristotelischen MimesisKonzept zu tun hat. Altphilologischer Diskurs Im Folgenden sollen exemplarisch noch fünf Bezugnahmen auf die aristotelische Mimesis-Konzeption, wie sie im damaligen altphilologischen Diskurs zu finden sind, vorgestellt werden. In der Encyklopädie von August Boeckh kann man nachlesen – und vielleicht hat es Droysen, als er die besagte Vorlesung im Sommersemester 1827 besucht hat, auch genauso aus Boeckhs Mund gehört, was sich aber heute nicht mehr feststellen lässt –, dass die »wahre μίμησις« darin bestünde, dass sich in der dramatischen Handlung »eine nothwendige und ewige Idee abspiegelt« und die dramatische Handlung somit zum Symbol für eben diese Idee wird. Im Zusammenhang lautet die besagte Passage: Damit diese [die Einheit der dramatischen Darstellung, C.H.] poetisch ist, muss in ihr dasjenige enthalten sein, was das Wesen aller Poesie ist: die sinnliche irdische Handlung muss das Symbol sein, worin sich eine nothwendige und ewige Idee abspiegelt. Dies ist die wahre μίμησις, wodurch die Poesie als Ausdruck des Allgemeinen nach Aristoteles (Poetik Cap. 9) den Vorrang vor der empirischen Geschichte hat, welche das Einzelne vorführt: ohne eine innere Idee ist das Drama kein wahres Kunstwerk, sondern nur eine Zusammenfügung empirischer Einzelheiten […]. Das Wesen der dramatischen Poesie ist also die symbolische Darstellung einer Idee unter der Form einer in sich geschlossenen lebendig fortschreitenden und entwickelten Handlung.104
Boeckh bringt hier also, anscheinend ohne sich dessen bewusst zu sein, (halb-)platonisches Gedankengut in seine Argumentation ein, wenn er davon spricht, dass in der dramatischen Handlung eine »ewige Idee abgespiegelt« wird. Denn laut Platons Ideenlehre, die Aristoteles bekanntlich verworfen hat, handelt es sich bei der uns umgebenden Wirklichkeit um eine bloße Nachahmung der ewigen und unveränderlichen Ideen und bei der die irdische Wirklichkeit nachahmenden Kunst dann nur mehr um eine Nachahmung zweiter Stufe. Aus diesem nachgeordneten ontologischen Status resultiert dann auch Platons Geringschätzung der Kunst.105 Aber auch wenn Boeckh hier die Ideen ins Spiel bringt, bedeutet das nicht, dass er daran anschließend im platonischen Sinne weiter argumentieren würde, sondern er kombiniert stattdessen Gedankengut, das er im Gedächtnis parat und somit zur Hand hatte, ohne nach dessen Provenienz zu fragen und ohne noch einmal nachzuschauen und sich rückzuver_____________ 102 Poet. 9, 1451a37 ff. Was aber nicht funktioniert, da beide Konzeptionen – das aristotelische MimesisVerständnis und das von der Nachahmung als einer imitatio naturae – nicht miteinander harmonisierbar sind. 103 Gervinus (1837), 89. 104 Boeckh (1877), 633. 105 Vgl. Platon, Politeia X, 595a–602e. Vgl. Höffe (2009), 16 f.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
sichern, was eigentlich in den Quellen steht. Boeckhs Vorgehensweise ist daher ein gutes Beispiel dafür, wie »in der Rezeption des aristotelischen mimêsis-Begriffs munter platonische, aristotelische und horazische Momente miteinander kombiniert« worden sind.106 Eine ähnlich eklektizistische Position findet man im zweiten Band von Gottfried Bernhardys Grundriss der Griechischen Litteratur von 1845: Wie Platon sei auch Aristoteles vom Begriff einer dichterischen μίμησις aus[gegangen, C.H.], die jedoch statt aller trügerischer Nachahmung [bei Platon, C.H.] eine objektive Bildnerei der Naturwahrheit sein sollte: demgemäß hatte der Künstler zur höchsten Aufgabe die Objektivität.107
Diese Bemerkung geht nun allerdings weit an der aristotelischen Konzeption vorbei. Das kann aber möglicherweise auch der Sekundärliteratur geschuldet sein, auf die sich Bernhardy bezieht. Dazu gehört die noch in lateinischer Sprache verfasste, 56 Druckseiten umfassende, 1836 erschienene Dissertation von Wilhelm Abeken, die sich mit dem Mimesis-Begriff bei Platon und Aristoteles beschäftigt. »Die verschiedene Geltung, welche dieser Begriff bei Plato und Aristoteles hat, ist darin sehr richtig aufgefasst«, meint ein anderer Rezipient dieser Schrift und paraphrasiert Abekens Darlegungen zum aristotelischen Mimesis-Begriff wie folgt: Im Gegensatz zu Platon erkenne Aristoteles in den Werken der Kunst den immanenten Ausdruck der ewigen Ideen, und darum ist es ihm eine würdige Aufgabe, die in ihr objectivierten Gesetze aufzusuchen. Wenn er daher die Dichtung eine μίμησις nennt, so beschränkt er sich nicht blos auf die Nachahmung der Natur oder der menschlichen Verhältnisse, sondern er gesteht ihr neben diesem ein freies und ideales Schaffen zu.108
Hier, wie bei den anderen zuletzt angeführten Interpretationen fällt auf, wie stark Aristoteles bei diesen durch eine platonische Brille gelesen wird und wie versucht wird, seine Position mit der Platons in Einklang zu bringen. Zu der von Bernhardy, aber ebenso von Walz, genannten Literatur gehört auch die zweibändige Geschichte der Theorie der Kunst bey den Alten von Eduard Müller (1804– 1875) – einem jüngeren Bruder von Karl Otfried Müller, der ebenfalls Philologe, aber im Unterschied zu seinem Bruder als Gymnasiallehrer tätig gewesen ist –, die allem Anschein nach in Fachkreisen sehr wohlwollend aufgenommen worden ist.109 Im zweiten Band, der mit einer 181-seitigen Darstellung der »Kunsttheorie« des Aristoteles einsetzt, begegnet einem eine aus heutigem Blickwinkel ebenfalls sehr eigenwillige Schilderung des aristotelischen Mimesis-Verständnisses.110 Müller sieht in Aristoteles _____________ 106 Rapp (2011), 460. 107 Bernhardy (1845), 11. Den ersten Band von Bernhardys Grundriss, der 1836 erschienen war, hatte Droysen 1838 rezensiert. 108 Walz (1840), 829. 109 Vgl. z. B. Bernhardy (1845), 11, wo von einer»sorgfältige[n]« Darstellung die Rede ist, sowie Walz (1840), 835. 110 Müller (1837), 1–181. Müller, der um exakte Quellennachweise bemüht ist, zitiert Aristoteles nach der Akademie-Ausgabe.
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den »Begründer einer selbstständigen Kunsttheorie«.111 Und seine Untersuchung derselben führt ihn zu der Ansicht, dass »wir denn also im Allgemeinen einen doppelten Gebrauch des Wortes Nachahmung in Bezug auf die Kunst bei Aristoteles zu unterscheiden haben«, weil Aristoteles »der Poesie in der Handlung einen eigenthümlichen Gegenstand für die Nachahmung anweise«, die Musik hingegen »Gemüthsstimmungen und Gemüthsbewegungen« nachahme, woraus Müller den Schluss zieht, dass laut Aristoteles »alle nachahmenden Künste […] mehr oder minder treu und lebendig Gemüthszustände und Handlungen nach[ahmen]«.112 Die Eigentümlichkeit von Müllers Darstellung resultiert daraus, dass er ganz offensichtlich versucht, ästhetische Konzepte seiner eigenen Zeit, wie das von der schönen Kunst, der Phantasie, des Genies, die größtenteils erst im 18. Jahrhundert entstanden sind, mit den von Aristoteles in der Poetik entwickelten Gedanken in Einklang zu bringen, und meint, diese auch schon bei Aristoteles ausfindig machen zu können.113 Anklänge an die von Eduard Müller vertretene Auffassung finden sich übrigens auch in Boeckhs Encyklopädie. Dieser spricht zwar nicht davon, dass Dichtung Empfindungen nachahme, aber wiederholt davon, dass sie Empfindungen ausdrücke.114 So heißt es bei Boeckh, dass »die lyrische Poesie vorwiegend Ausdruck der Empfindung ist«,115 dass im Epos die Empfindung allerdings zurücktrete116 und dass im Drama, bei dem es sich um »eine innige Verschmelzung des Epos und der Lyrik«117 handle, Handlung und Empfindung letztendlich eine untrennbare Einheit bildeten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der oben vorgestellten Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sehr unspezifischer Mimesis-Begriff zu finden ist, der nichts mehr mit dem aristotelischen Begriffsverständnis gemein hat und somit die von Rapp und Kablitz konstatierte »Auflösung des spezifisch-aristotelischen mimêsis-Begriffs in einen allgemeinen und blassen Begriff von ›Repräsentation‹« ganz verschiedener Inhalte118 bei allen hier herangezogenen Autoren zu finden ist. Droysen steht also mit seiner dekontextualisierenden Indienstnahme des Begriffs nicht allein. Die ursprüngliche Herkunft des Mimesis-Begriffes wurde zwar noch erinnert, aber man hat sich in den meisten Fällen nicht die Mühe gemacht, das von der Tradition übernommene Begriffsverständnis anhand der Quellen zu überprüfen. Die genaue Untersuchung hat ferner ergeben, dass die von Hans-Jürgen Pandel vertretenen Auffassungen in verschiedenen Hinsichten zu korrigieren sind. Erstens trifft es, wie gezeigt wurde, nur bedingt zu, dass Droysen und die Geschichtswissen_____________ 111 Ebd. IX. 112 Zitate ebd. 20, 15, 10 und 23. 113 Vgl. ebd. 29 ff. (Phantasie), 35 (Genie) etc. sowie z. B. 107: »Schönheit ist das Gesetz der Kunst, alle nachahmenden Künste wollen zugleich schöne Künste sein«. 114 Vgl. Boeckh (1877), 278, 282, 511, 616, 623, 632 f., 643. 115 Ebd. 511. 116 Ebd. 616. 117 Ebd. 632. 118 Rapp (2011), 461.
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schaft des 19. Jahrhunderts an »die Aristotelische Mimesis«119 anknüpfen. Zweitens konzipiert Droysen nicht die Geschichtsschreibung insgesamt als Mimesis, sondern nur die untersuchende und die erzählende Darstellung. Wobei sich herausgestellt hat, dass Droysen den Begriff im Prinzip als leere Hülle nimmt, die er mit eigenen Inhalten füllt, und zwar hinsichtlich Sprache, Kunst und untersuchender und erzählender Darstellung jedes Mal anders – was dementsprechend auch differenziert betrachtet werden muss und nicht so, wie Pandel das tut, in eins gesetzt werden kann. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass es Droysen, wenn er die untersuchende und erzählende Darstellung als Mimesis charakterisiert, eigentlich weniger um Nachahmung als vielmehr um Rekonstruktion geht. Das diesem Kapitel von mir vorangestellte Goethe-Zitat ist daher auch in dem Sinne zu lesen, dass man sich nicht durch die Verwendung bestimmter Begriffe blenden lassen darf, sondern immer genau hinsehen muss, welche Transformationen ein Begriff schon durchlaufen hat und welche Inhalte der jeweilige Autor damit transportiert. 5.1.5 Exkurs: Droysens Rezeption der aristotelischen Poetik In der Historik-Vorlesung findet man neben Droysens Verwendung des MimesisBegriffs nur noch eine weitere Bezugnahme auf die Poetik, und zwar auf die vielzitierte Stelle aus dem neunten Kapitel, in dem Aristoteles der Dichtung zuerkennt, ernsthafter und philosophischer zu sein als die Geschichtsschreibung, da die dichterische Darstellung auf das Allgemeine gerichtet sei, wohingegen die Geschichtsschreibung immer nur das Besondere mitteile.120 Auf besagte Passage bezieht sich Droysen einmal in der Einleitung121 und dann nochmals im Kapitel über die didaktische Darstellung, wo er sie als autoritative Verstärkung für seine Argumentation gegen diejenigen nutzt, welche der Meinung sind, dass die Geschichte Muster der Nachahmung aufzustellen habe, was bekanntlich seiner Auffassung von der Aufgabe der Geschichtsschreibung zuwiderläuft. Daher bemerkt er, dass man diese Muster besser in der Poesie suchen solle, da diese laut Aristoteles »philosophischer und idealischer als die Geschichte« sei.122 Er stellt somit die vielzitierte Stelle in einen neuen Argumentationskontext und dreht den Spieß dabei quasi herum. Aufgrund der Tatsache, dass es nur diese beiden Aspekte (der Mimesis-Begriff und Aristotelesʼ Priorisierung der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung) sind, auf die sich Droysen in der Historik-Vorlesung und den Grundrissen bezieht, stellt sich die Frage, ob es für deren Aufgreifen überhaupt einer eigenen Poetik-Lektüre Droysens _____________ 119 Pandel (1990), 25. Vgl. ferner 11–27 und insbesondere 18: »Wenn Droysen bei seinen Untersuchungen zum Problem der Darstellung von Geschichte vom Mimesisbegriff ausgeht, […] bezieht [er, C.H.] sich bewußt in einer ganz spezifischen Weise auf den aristotelischen Begriff der Mimesis«. 120 Poet. 9, 1451a37 ff.; vgl. z. B. Boeckh (1877), 633, und Müller (1837), 48 f. 121 Historik (L), 46, sowie die entsprechende Stelle in Historik (H), 17. 122 Historik (L), 251, sowie die entsprechende Stelle in Historik (H), 300.
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bedurft hat; zumal beide Aspekte im Laufe der mittlerweile zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Poetik längst zu Allgemeinplätzen geworden waren.123 Will man etwas über Droysens Poetik-Rezeption herausfinden, muss man also weitere seiner Schriften heranziehen und auf Indizien für eine solche untersuchen. Am meisten zu vermuten sind Bezüge auf die Poetik in den Texten, welche im Umfeld seiner Aischylos- und seiner Aristophanes-Übersetzungen entstanden sind. Eine daher (vor allem mittels der Suchfunktion von Google Books und Internet Archive) durchgeführte Sichtung der jeweils zu Droysens Lebzeiten erschienenen Auflagen seiner Aischylos- und seiner Aristophanes-Übersetzung,124 der Kleinen Schriften zur Alten Geschichte sowie der Texte im Umkreis der Historik (hier half das Register bei der Suche) hat ergeben, dass sich Droysen in den folgenden Texten (wenn auch meist nur sehr punktuell) auf die Poetik bezieht: Und zwar in seinem Aufsatz Von der Oper, in den von ihm verfassten Einleitungen, die er seinen Übersetzungen der Tragödien des Aischylos voran- beziehungsweise nachgestellt hat, und in zwei Aufsätzen125 aus den 1840er Jahren, die im Kontext seiner Überarbeitung der Aischylos-Übersetzung entstanden und die in den Kleinen Schriften zur Alten Geschichte wieder abgedruckt126 worden sind. Mittels dieser Suche konnten wahrscheinlich nicht alle Stellen, aber auf jeden Fall die Tendenz von Droysens Poetik-Rezeption erfasst werden, was in diesem Falle ausreichend ist, um sich ein ungefähres Bild davon machen zu können, auf welche Passagen er sich in welcher Weise bezieht. In seinem Aufsatz Von der Oper (1828), den er als 19-jähriger Student verfasst hat und der wahrscheinlich Überlegungen aus mit Felix Mendelssohn Bartholdy geführten Gesprächen weiterdenkt, nimmt Droysen in frappierender Weise einige Ansichten Richard Wagners vorweg.127 In der kleinen, in zwei Teilen erschienenen kunst- und kulturkritischen Schrift diagnostiziert Droysen einen Verfall der Oper, als dessen Hauptursache er – neben schlechten Libretti und dem willkürlichen und gleichgülti_____________ 123 Für eine Überblicksdarstellung zur Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Poetik vgl. auch Schmitt (2010), 121–148. 124 Die Aischylos-Übersetzung ist zu Droysens Lebzeiten in vier, von Droysen jeweils überarbeiteten, Auflagen erschienen (1832, 18422, 18683 und 18844), die Aristophanes-Übersetzung in drei, jeweils überarbeiteten, Auflagen und zwar 1835–1838 (3 Bde.), die folgenden beiden Auflagen von 1869 und 1881 umfassen jeweils nur 2 Bde., zusätzlich erschien 1871 eine »wohlfeile Ausgabe« der 2. Auflage; vgl. hierzu Kitzbichler (2014), 246. 125 Droysen (1841) und (1844). 126 KSAG Bd. 2, 75–104 und 118–145. 127 Der Aufsatz erschien in der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung, die von Adolf Bernhard Marx (1799–1866) wöchentlich herausgegeben wurde und die es zwischen 1824–1830 immerhin auf sieben Jahrgänge brachte. Droysen hatte den Berliner Komponisten und Musikschriftsteller durch Felix Mendelssohn Bartholdy kennengelernt. Von Droysens Zusammenarbeit mit Marx zeugen außer den von Droysen in der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung veröffentlichten Gedichten und Aufsätzen und einer Notiz in seinem »Katalog meiner Arbeiten« (Blanke [2008], 170) auch die im Berliner Droysen-Nachlass überlieferten Briefe von Marx an Droysen (Vgl. Briefverzeichnis, das auf den Seiten des Droysen-Archivs online einsehbar ist: http://www.droysen-archiv.hu-berlin.de, zuletzt aufgerufen am 13.2.2018). Zu Droysen und Wagner vgl. Forchert (1990) und Landfester (2012), 55– 57.
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gen Umgang mancher Komponisten mit den Textvorlagen – die »Vereinzelung«,128 d. h. die Verselbständigung der die Oper konstituierenden Künste ausmacht. Als Antidot empfiehlt er eine sich am Vorbild der »Ineinanderbildung aller Künste« – wie sie in der griechischen Tragödie zu finden sei – orientierende »Wiedervereinigung« eben dieser Künste.129 Im Fortgang seiner Argumentation betont er insbesondere die Zusammengehörigkeit von Poesie und Musik und das daraus resultierende Bedürfnis nach deren Wiedervereinigung. Er räumt allerdings auch ein, dass eine »Vereinigung von Musik und Poesie« nicht überall nötig sei, da die Helden mancher Trauerspiele »nichts von der Nothwendigkeit der tragischen Katastrophe in sich« trügen. Droysens Formulierung von »der Nothwendigkeit der tragischen Katastrophe« beziehungsweise der »innere[n] Nothwendigkeit«, welche erst das Tragische ausmache, und welche beim »Zuschauer Furcht und Mitleid erregen soll«130 zielt zum einen, auch wenn Aristotelesʼ Name hier nicht fällt, auf dessen Definition der Tragödie in Poet. 6., wo es heißt, dass die Tragödie die Nachahmung (Mimesis) einer guten, in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe sei, die sich der dramatischen Form sowie einer anziehend geformten Sprache (die über Melodie und Rhythmus verfüge) bediene, und dass sie Furcht und Mitleid hervorrufe und dadurch eine Reinigung (Katharsis) von eben diesen Affekten bewirke.131 Zum anderen zielt sie aber auch auf Aristotelesʼ Ausführungen in Poet. 6–15 darüber, wie die Handlungsstruktur einer Tragödie und deren Charaktere idealerweise gestaltet werden sollten, um bei den Rezipienten die beabsichtigte Wirkung, nämlich die Emotionen Furcht und Mitleid, auszulösen. Hinsichtlich der Wirkungsmacht der Tragödie sieht Aristoteles komplexe Handlungen im Vorteil.132 Also solche Handlungen, die über die Strukturmomente eines plötzlichen Umschlags vom Glück ins Unglück (Peripetie) und einen damit einhergehenden Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis (Wiedererkennung) verfügen.133 In Poet. 11 nennt Aristoteles neben Peripetie und Wiedererkennung als ein drittes Strukturmoment der Handlung noch schweres Leid (πάθος), auf das er allerdings in seinen weiteren Ausführungen nicht wieder zurückkommt. Fuhrmann bemerkt hierzu im Kommentar: »Der Ausdruck πάθος bedeutet hier so viel wie ›Katastrophe‹.«134 Es wäre also denkbar, dass Droysens Formulierung von »der Nothwendigkeit der tragischen Katastrophe« genau darauf abzielt. Im Verlauf der weiteren Argumentation kommt Droysen an späterer Stelle nochmals auf die Wirkung, welche Aristoteles der Tragödie zuschreibt, zu sprechen, indem er behauptet, dass im Gegensatz zu den handelnden Protagonisten der Tragödie, wel_____________ 128 Droysen (1828), 19. Der Aufsatz ist zwar in Droysen (2007), Bd. 1, 18–23, wiederabgedruckt, allerdings leider in gekürzter Form, weshalb er hier nach der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung zitiert wird. 129 Ebd. 130 Siehe für alle vorangegangen Zitate: Droysen (1828), 20. 131 Vgl. Poet. 6, 1449b20–31. Zum Katharsis-Begriff siehe Poet. 6, 1449b28, zu Furcht und Mitleid vgl. Poet. 6, 1449b27; 9, 1452a3; 11, 1452a37 ff.; 14, 1453b10–13. 132 Poet. 13, 1452b27–35. 133 Vgl. hierzu Poet. 11 und 13. 134 Fuhrmann (1994), 116, Anm. 9.
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che kein »Bewusstsein über sich und ihre Stellung im Kampfe der Tragödie« hätten, der Zuschauer sehr wohl über ein »klares Bewusstsein über die Tragödie« verfügen müsse – weil nur so »des Aristoteles Reinigung der Leidenschaften, die durch die Tragödie bewirkt werden soll, möglich« sei. Dieser Gedankengang ist allerdings nur in Teilen aristotelisch, denn das von Droysen eingeführte Unterscheidungsmerkmal zwischen den Zuschauern und den Protagonisten einer Tragödie (in Form des vorhandenen oder nicht vorhandenen Bewusstseins) ist in der Poetik nicht zu finden und auch nicht aus den dortigen Ausführungen zu destillieren; ebensowenig wie der von Droysen hergestellte Konnex zwischen dem Bewusstsein der Tragödie als Voraussetzung für die durch die Tragödie zu bewirkende Reinigung. Einzig die Bemerkung, dass durch die Tragödie eine Reinigung der Leidenschaften bewirkt werden solle, basiert auf Aristoteles, indem sie den abschließenden Teil der oben zitierten Tragödiendefinition reformuliert. Droysens sich an das bisher Gesagte anschließender Gedankengang hat dann gleich gar nichts mehr mit Aristoteles zu tun. Denn er fährt fort, dass das Bewusstsein über die Tragödie nur »durch die Musik […] erreicht« würde.135 (Nur in der Musik fände das Tragische seinen adäquaten Ausdruck, hatte er bereits zwei Seiten zuvor geschrieben.) Wenn Droysen dann aus diesem Grunde die Musik als »die Seele der Tragödie«136 bezeichnet, fühlt man sich allerdings insofern an Aristoteles erinnert, als dieser in Poet. 6 unter den sechs von ihm unterschiedenen qualitativen Teilen der Tragödie (Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik) die Handlung (den Mythos) als die Seele der Tragödie identifiziert,137 da dieser hinsichtlich der bei den Rezipienten hervorzurufenden Wirkung (d. h. die Emotionen Furcht und Mitleid auszulösen) die größte Bedeutung zukommt. Und erst an zweiter Stelle ist in dieser Hinsicht laut Aristoteles die Gestaltung der einzelnen Charaktere von Bedeutung. Die eben problematisierten Passagen aus Droysens Opern-Aufsatz sind sehr aufschlussreich, da sich an ihnen gut zeigen lässt, wie Droysen in den meisten Fällen mit fremden Gedankengut umgeht: Er nimmt, was ihm für die eigene Argumentation sinnvoll erscheint, ohne kenntlich zu machen, wo er es entnommen hat, und blendet es mit eigenen oder auch weiteren fremden Gedanken. Und – das erscheint mir besonders wichtig – er schaut meist überhaupt nicht genau hin, was ein Begriff oder ein Satz im originalen Kontext eigentlich bedeutet hat. Einem ganz anderen Genre als der Opern-Aufsatz – bei dem es sich um eine Art kunst- und kulturkritischen Essay handelt, der aus einer tief religiösen (christlichprotestantischen) Grundhaltung heraus gegen eine Auffassung von Kunst als bloßem Zeitvertreib anschreibt und als Gegenentwurf die Kunst als (christlichen) Gottesdienst propagiert und zwar mittels eines Rückgriffes auf die (heidnische) antike griechische Tragödie138 – gehören die im Folgenden heranzuziehenden Texte an. Zu diesen zählen die von Droysen verfassten Erläuterungen, die er seiner Übersetzung der _____________ 135 136 137 138
Droysen (1828), 26 und ähnlich schon 20. Ebd. Poet. 6, 1450a39 f. Was so neu nicht ist, sondern sich eng an die Kunstauffassung der Romantik anschließt.
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Tragödien und Fragmente des Aischylos (ca. 525–456 v. Chr.) unter der Überschrift Didaskalien angefügt hat, um dem Leser den historischen Kontext von Aischylosʼ Wirken und den Entstehungskontext der einzelnen Stücke zu erschließen.139 Den einzelnen von ihm übersetzten Komödien des Aristophanes (ca. 445–386 v. Chr.) hat Droysen auch jeweils erläuternde Einleitungen vorangestellt, die aber für die hier verfolgte Fragestellung der Poetik-Rezeption Droysens nicht relevant sind, da sich in ihnen keine Aristoteles-Bezüge finden – was nicht erstaunlich ist, da Aristoteles in den uns überlieferten Teilen der Poetik die Gattung der Komödie bekanntlich nicht problematisiert. Noch einem anderen Genre als die Didaskalien zur Aischylos-Übersetzung, die sich an ein bildungsbürgerliches Lesepublikum richten und daher fast ohne Fußnoten auskommen, gehören die beiden an ein wissenschaftliches Fachpublikum adressierten Aufsätze aus den 1840er Jahren an, mit denen sich Droysen in den zeitgenössischen altphilologischen Diskurs über Detailfragen zum antiken griechischen Theater einschaltet. Eine Gemeinsamkeit zwischen den Didaskalien und den beiden Aufsätzen besteht allerdings, nämlich darin, dass sich Droysen in ihnen als Altphilologe und Altertumswissenschaftler auf Aristoteles bezieht, d. h. dass er die Poetik hier als historische Quelle und eben nicht als Theoriegut heranzieht. (Ebenso wie er für seine Alexander-Darstellung und die Hellenismus-Geschichte neben anderen auch die aristotelische Politik als historische Quelle heranzieht.) Es sind aber letztendlich nur drei verschiedene Stellen aus Poet. 4 (wo Aristoteles eine Art historischen Überblick über die Entwicklung der verschiedenen poetischen Gattungen und insbesondere der Tragödie gibt),140 die zudem im damaligen philologischen Diskurs Allgemeingut gewesen sind, und eine aus Poet. 18, auf die Droysen sich bezieht. _____________ 139 Mit »Didaskalien« waren zum einen die für die Aufführung ihrer Werke bestimmten Regieanweisungen altgriechischer Dramatiker überschrieben. Zum anderen können damit antike Listen, die Auskunft über die aufgeführten Dramen (mit Angaben zu Titel, Dichter, Schauspieler sowie Zeit und Ort der Aufführung) geben, gemeint sein. An Droysens Aufgreifen dieses Begriffes zeigt sich wieder einmal mehr seine Vorliebe für eine aus der griechischen Antike stammende Terminologie. Ebenso, wie Droysen seine Übersetzungen für jede neue Auflage überarbeitet hat, hat er auch die von ihm verfassten einleitenden Texte umgearbeitet, d. h. konkret, dass er sie für die späteren Auflagen hauptsächlich gekürzt hat. Trzeciok (1959), 140, äußert sich zur Überarbeitung der Didaskalien in den späteren Auflagen nur kurz: »Die erläuternden Texte werden erheblich verkürzt; die vorwiegend spekulativen und ausmalenden Partien, wie die geschichtsphilosophischen Gedankengänge und die Szenenbeschreibung der Orestie, werden fortgelassen. In der 4. Auflage bleiben schließlich nur noch einige sachliche literaturhistorische und politische Erläuterungen stehen.« 140 In den »Didaskalien« schreibt Droysen – ohne Nennung eines Werktitels, geschweige denn einer genauen Stellenangabe: »nach dem Zeugniß des Aristoteles [Poet. 4, 1449a18, C.H.] und anderer Schriftsteller hat Sophokles erst den dritten Schauspieler […] erfunden«; vgl. Droysen (1832), Bd. 2, 307, und Droysen (18422), 565. Auf fast die gleiche Passage (Poet. 4, 1449a16 f.) bezieht er sich auch in einem Aufsatz von 1841, einmal mit dem Hinweis auf »Arist. poet. 4« (KSAG Bd. 2, 81) und einmal ohne jeglichen Hinweis: »Er [Aischylos, C.H.] erfand, heißt es [in Poet. 4, 1449a16 f., C.H.], den zweiten Schauspieler.« (KSAG Bd. 2, 93). In einem Aufsatz von 1844 (KSAG Bd. 2, 127) zitiert er Aristoteles, Poet. 4, 1449a14 f. im griechischen Original – wieder ohne Nennung des Werktitels und der genauen Stelle. Was in diesem Falle erstaunt, da es sich um einen wissenschaftlichen Aufsatz handelt. Vgl. ferner Droysen (18422), 505, sowie Droysen (18683), 485: »So, glaube ich, ist dieser Tragödie eine andere, die die Zerstörung Ilions enthielt und vielleicht Phrygierinnen hieß, vorherge-
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Um das Bild abzurunden, sollen noch die wenigen Erwähnungen weiterer aristotelischer Werke, die in den Übersetzungseinleitungen und den beiden Aufsätzen zu finden sind, genannt werden: Das ist ein indirekter Hinweis auf die Nikomachische Ethik, ferner ein Verweis auf die Politik des Aristoteles,141 einer auf die Problemata physica XIX 31,142 und einer auf »Aristot. apud Themist. XXVI, p. 382 ed. Dind.«143 Die beiden letztgenannten Stellen sind in der regen zeitgenössischen Fach-Diskussion über das antike griechische Theater und die griechische Tragödie ebenfalls Allgemeingut gewesen.144 Eine weitere Bezugnahme Droysens auf die Poetik soll zum Schluss noch etwas ausführlicher analysiert werden, da Droysen die Poetik hier wieder, wie schon im Opernaufsatz, als Theoriegut heranzieht. Es handelt sich um einen, nur in der ersten Auflage der Aischylos-Übersetzung zu findenden, knapp dreiseitigen Text, in dem sich Droysen unter Nennung von Autor und Werk, aber ohne Kapitelangabe auf Aristotelesʼ Argumentation in Poet. 23 bezieht.145 Bei Droysens, seiner Übersetzung der Perser-Trilogie angefügtem, Text handelt es sich um eine Art Verteidigungsrede zugunsten des Aischylos und dessen Entscheidung, in seiner Tragödie einen historischen Stoff – den Sieg der Griechen über die Perser in der Seeschlacht von Salamis im Jahre 480 v. Chr. – zu dramatisieren. In seinen gegen die Kritiker des Aischylos gerichteten Ausführungen unterstellt Droysen, dass Aristotelesʼ Argumentation in Poet. 23 kritisch auf Die Perser des Aischylos anspielen würde, denn die Kritiker des Stückes, so Droysen, scheinen in der Tat eine große Autorität für sich zu haben, indem es so gut als ausgemacht ist, daß Aristoteles in seiner Poetik, wenn er im Gegensatz der einen und vollkommenen Handlung, die Anfang, Mitte und Ende hat, Compositionen, die mit der Geschichte übereinstimmend nur in der Zeit eine zufällige Einheit haben, als tadelnswerth verwirft, und als Beispiel die
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gangen, die durch ein zuverlässiges Zeugnis des Aristoteles feststeht.« Wahrscheinlich hatte Droysen hier Poet. 18, 1456a15 f. im Sinn. Vgl. Droysen (1841), wieder abgedruckt in KSAG Bd. 2, 96. Droysen verweist in Klammern auf Pol. V 1. Welche Stelle er genau im Blick hat, erschließt sich mir nach einer Lektüre dieses Kapitels der Politik nicht wirklich, es sei denn sein Verweis zielt auf die bloße Erwähnung des Pausanias in Pol. V 1, 1301b20 f. Problem. phys. XIX 31: »Warum waren die Zeitgenossen des Phrynichos in stärkerem Maße (als die späteren Tragödiendichter) Komponisten? Doch wohl weil damals die Lieder in den Tragödien einen viel größeren Raum einnahmen als die Sprechverse.« Im Aufsatz von 1841 (KSAG, Bd. 2, 79) findet sich der Verweis mit Autoren-, Werk- und Stellenangabe, in den Übersetzungseinleitungen hingegen nur mit Nennung des Autorennamens. Vgl. Droysen (18422), 551. Vgl. Droysen (18422), 555; Droysen (18683), 524, sowie Droysen (18844), 447: »Daß Aischylos wegen Profanation vor Gericht gewesen, bezeugt Aristoteles«. Wahrscheinlich meint Droysen hier Aristotelesʼ Äußerung in EN III 2, 1111a10. Zu den anderen Stellen vgl. Droysen (1841), in KSAG, Bd. 2, 88, und ohne Quellenangabe in Droysen (18422), 537. Droysens Angabe bezieht sich auf Dindorf (1832). Zu Thespis vgl. Welcker (1826), 268 f.; Genelli (1818) und Schöll (1839). Droysen (1832), Bd. 2, 53–55.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) Schlacht von Salamis und am Himera, die zu gleicher Zeit vorgefallen seien, anführt, daß er da gerade auf die vorliegende Aischyleische Trilogie anspielt.146
Das ist aus Poet. 23 nun allerdings nicht unbedingt so herauszulesen. Denn dort vergleicht Aristoteles die Geschichtsschreibung – nicht wie in Poet. 9 mit der Tragödie – sondern diesmal mit dem Epos. Wie schon in Poet. 9 so dient ihm auch hier die Geschichtsschreibung als Negativfolie. Hier, um zu verdeutlichen, wie das Epos, das sich ebenso wie die Tragödie »auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen« soll,147 nicht aufgebaut sein sollte: Die Zusammensetzung der Epen darf nämlich nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem mehr rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus ergäbe. Und beinahe die Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor.148
Der letzte Satz zeigt an, dass Aristoteles hier konkrete Epen im Sinn hat, die er kritisiert. Er nennt aber keine Namen. Wollte man die hier geäußerte Kritik auch auf die Gattung der Tragödie beziehen, so träfe sie allerdings »Die Perser« des Aischylos gar nicht, da die Handlung des Stückes die Forderung nach Einheit und Geschlossenheit sehr wohl erfüllt. Außerdem sagt Aristoteles nicht, dass sich die Dichtung nicht eines historischen Stoffes bedienen dürfe, sondern nur, dass sie sich bei dessen Darstellung nicht der Art und Weise der Geschichtsschreibung bedienen darf. Wahrscheinlich hat das Droysen später selbst so gesehen und daraufhin die hier problematisierte Passage in allen folgenden Auflagen gestrichen. Da Droysens argumentatives Vorgehen sich im Nachhinein als typisch für seine generelle Art und Weise der Argumentation erweisen wird, soll es im Folgenden noch einmal unter die Lupe genommen werden. Droysen verteidigt Aischylos gegenüber seinen Kritikern – indem er zunächst die Gültigkeit der Aussagen ihres stimmgewaltigsten Gewährsmannes (Aristoteles) hinterfragt (wobei er diese einem bis weit ins 18. Jahrhundert vorherrschenden Rezeptionsstrang folgend als Regelästhetik interpretiert), um sie daraufhin mit der Kantischen Genieästhetik und deren Konzeption des »frei schaffenden Genies, das sich selbst Gesetz ist«, zu konfrontieren und auf diese Weise außer Geltung zu setzen (ohne Kant in irgendeiner Weise namentlich zu erwähnen): Wir gestehen ehrlich, jenen Philosophen [Aristoteles, C.H.] in allem andern zu bewundern, zugleich ihn aber für zu bestimmt seiner Zeit und deren empirischen Rationalismus
_____________ 146 Droysen (1832), Bd. 2, 53. 147 Poet. 23, 1459a18–20. 148 Poet. 23, 1459a21 ff.
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angehörig zu halten, als daß seine Aesthetik für mehr als ein System ziemlich äußerlicher Beobachtungen oft mittelmäßiger Musterstücke gelten dürfte. Jenes aristotelische Recipe des Drama, das der französischen Poesie […] so passend und erwünscht sein mußte, ist unumstößlich für mittelmäßige Dichter und Kritiker; es lehrt sie, daß Verwicklungen und Wiedererkennungen das herrlichste […] sei, freilich ein Postulat ohne Rücksicht und Erkenntniß des frei schaffenden Genies, das sich selbst Gesetz ist.149
Schaut man sich Droysens Argumentationsstruktur an, so sieht man, dass er Aischylos gegenüber einer – wie Droysen mit der Tradition meint – von Aristoteles herrührenden Kritik mittels der von Kant entworfenen Konzeption des Genies, das sich selbst die Regeln vorgibt,150 verteidigt – ohne allerdings Kant namentlich zu erwähnen. Fazit: Die Analyse hat gezeigt, dass sich Droysen direkt oder indirekt auf verschiedene Passagen aus der Poetik bezieht, was auf eine Lektüre des Gesamttextes schließen lässt. Da Droysens Interpretation verschiedentlich Flüchtigkeitsfehler aufweist, ist allerdings zu vermuten, dass er den Text keinem tiefergehenden Studium unterzogen hat. Leider gibt es keine Hinweise darauf, welche Textausgabe oder gegebenenfalls welche Übersetzung Droysen vorliegen hatte.
5.2 Von der Apodeixis zur Topik Bekanntlich gliedert Droysen den historischen Erkenntnisprozess in die vier Teilschritte von Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung (Apodeixis), die er jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt. Diese vier Kapitel bilden bis 1875 unter der Überschrift Methodik den ersten Hauptteil von Droysens Vorlesung (und zwar sowohl in dem von Peter Leyh edierten ersten Vorlesungsmanuskript von 1857 als auch in allen Ausgaben des Grundrisses der Historik bis einschließlich der zweiten Buchhandelsauflage von 1875). Auf die Darstellung der historischen Methode folgt dann als zweiter Hauptteil die Systematik, in welcher Droysen den Gegenstandsbereich des Historikers problematisiert. Diese Gliederung der Historik in zwei übergeordnete Hauptteile gibt Droysen nach 1875 auf, indem er auf Methodik und Systematik einen dritten Hauptteil folgen lässt: Die Topik. Das hat zur Folge, dass die allerletzte Fassung des Grundrisses der Historik von 1882 eine andere Gestalt hat als alle bisherigen Grundrisse. Diese neue Gliederung liegt auch der von Rudolf Hübner edierten letzten Fassung von Droysens Vorlesungsmanuskript zu Grunde. Nun handelt es sich bei der Topik um nichts anderes als das bisherige Kapitel über die Darstellung, das bis dato seinen Platz hinter Heuristik, Kritik und Interpretation an letzter Stelle innerhalb der Methodenlehre gehabt hat. Wogegen aus logischen Gesichtspunkten nichts einzuwenden gewesen ist, da Droysen die Darstellung (als Kommunikation der im Forschungsprozess gewonnenen historischen Erkenntnisse) als Teil der historischen Methode konzipiert hat. Dieses Apodeixis-Kapitel gliedert _____________ 149 Droysen (1832), Bd. 2, 53 f. 150 Vgl. hierzu den Paragraphen 46 der Kritik der Urteilskraft, der überschrieben ist: »Schöne Kunst ist Kunst des Genies«; Kant (1790), 181. Siehe ferner Schmitt (2010), 135–138 und 141.
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Droysen aber zwischen 1875 und 1882 aus der Methodik aus und platziert es unter der Überschrift Topik als neu hinzugekommenen dritten Hauptteil hinter Methodik und Systematik am Ende seiner Vorlesung und somit auch am Ende des Grundrisses der Historik. Durch den Neudruck der letzten Auflage des Grundrisses durch Erich Rothacker im Jahre 1925 und dadurch, dass Hübner seiner Edition der Historik die letzte Fassung der Vorlesung zu Grunde gelegt hat, war lange Zeit, d. h. bis zur Edition von Peter Leyh, die Ansicht vorherrschend, dass es sich bei der Topik schon immer um einen separaten Hauptteil gehandelt habe. Was aber, wie wir mittlerweile wissen, nicht der Fall ist. Bevor der Frage nachgegangen werden soll, welche Überlegungen Droysen motiviert haben könnten, diese Änderung vorzunehmen, erscheint es sinnvoll, etwas zu den heute nicht mehr unbedingt geläufigen Begriffen »Apodeixis« und »Topik« zu sagen. Auf einen ersten Blick scheinen beide Begriffe auf Aristoteles zu verweisen. Ziel dieses Kapitels ist es daher, zunächst zu klären, inwieweit das tatsächlich der Fall ist. Dass Droysen den Begriff der Apodeixis unzweifelhaft von Herodot entlehnt hat, wurde bereits aufgezeigt. Dennoch soll in der Folge noch einmal Hans-Jürgen Pandels Interpretation, dass bei Droysens Verwendung des Begriffs nicht nur Herodot, sondern in erster Linie das aristotelische Begriffsverständnis mitschwinge, vorgestellt werden. Denn Pandels Vermutung ist, wie zu zeigen sein wird, gar nicht so abwegig, auch wenn sie sich am Ende als unzutreffend herausstellen wird. Würde man Pandels Lesart folgen, so hieße das, dass beide Begriffe (Apodeixis und Topik) auf die logischen Schriften des Aristoteles verweisen. Denn Apodeixis ist ein zentraler Begriff in den Analytica posteriora, der Schrift, die gemeinhin als Wissenschaftslehre des Aristoteles gilt. Topik wiederum ist der Titel eines selbständigen Werkes. Beide Schriften (Analytica posteriora und Topik) sind Teil des aristotelischen Organon. Da Droysen auch auf diesen Begriff rekurriert, zuerst ein paar Worte zu diesem. 5.2.1 Das aristotelische Organon Der griechische Begriff ὄργανον bedeutet gemeinhin »Werkzeug«. Unter diesem Titel hat Andronikus von Rhodos bei seiner Neuordnung der aristotelischen Schriften um 30 v. Chr. die folgenden sechs Werke zusammengefasst: die Kategorien, De interpretatione, Erste und Zweite Analytik, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen – und hat sie an den Anfang seiner Edition des Corpus Aristotelicum gestellt. Die Verwendung durch Andronikus von Rhodos hat dem Organon-Begriff zweifellos zu einer gewissen Popularität als Buchtitel verholfen. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte Francis Bacon sein, der eines seiner Werke, in dem er sich abgrenzend auf Aristoteles bezieht, programmatisch Novum Organon betitelt hat. An diese Tradition knüpft nun Droysen seinerseits an, wenn er von der Historik als einem Organon für die Geschichtswissenschaft spricht. Schon in der ersten Version des Grundrisses bezeich-
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net Droysen die Historik als »Organon der Geschichte«.151 Ab 1868 formuliert er dann: Die Historik »muß sich die Aufgabe stellen, ein Organon des historischen Denkens und Forschens zu sein«.152 Dass er dabei tatsächlich das aristotelische Organon im Blick gehabt hat, ergibt sich aus der Vorlesungsmitschrift von Harry Bresslau, der sich im Sommer 1868 notiert hat: Wir haben zunächst die Methodik der Historie zu untersuchen, dann zu betrachten wo und in welcher Art diese Methodik anwendbar sei. Gerade so hat es Aristoteles in seinem Organon gemacht – und eine Art Organon der Geschichtswißenschaft muß die Historik [geben]. Sie muß eine wißenschaftliche Rechtfertigung unseres Studiums sein.153
Dass Droysen bei seiner Verwendung des Begriffs nicht nur Aristoteles, sondern auch Bacon im Blick gehabt hat, geht daraus hervor, mit welchen Worten er Thomas Buckles Anspruch, mit seiner History of Civilisation zur Grundlegung der Geschichte als Wissenschaft beigetragen zu haben, hinterfragt: »Oder wäre das geleistet zu haben Buckles Verdienst? [...] Wäre er der Bacon der Geschichtswissenschaften und sein Werk das Organon, das uns geschichtlich denken lehrte?«154 Daraus ergibt sich auch, in welchem Sinne Droysen in Wilhelm von Humboldt »ein[en] Bacon für die Geschichtswissenschaften«155 sieht. Humboldts Schriften Über die Aufgabe und die Einleitung in die Kawi-Sprache haben für Droysen den Charakter eines Organon für die Geschichtswissenschaft. Droysens erste Kenntnisse über die sechs Schriften des aristotelischen Organon dürften aus Hegels und Ritters Vorlesungen stammen. Dann hat aber auch sein Freund Albert Heydemann 1834 eine Übersetzung der Kategorien, also der ersten der sechs Schriften des Organon, vorgelegt. In dieser Schrift lotet Aristoteles aus, in wie vielen Hinsichten man etwas von einer Sache (dem Seienden) aussagen kann (katêgorein) und kommt dabei auf zehn verschiedene Möglichkeiten beziehungsweise auf zehn übergeordnete Aussageklassen (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeitpunkt, Lage, Haben, Wirken und Leiden).156 Auf die Kategorien folgt an zweiter Stelle mit De interpretatione »eine Untersuchung von Aussagesätzen unter grammatischen, logischen und semantischen Gesichtspunkten«.157 Die darauf folgenden Analytica priora behandeln die formale Seite des logischen Schließens. Sie enthalten also eine Theorie des logisch gültigen Schlusses (syllogismos).158 Durch sie gilt Aristoteles als Begründer der Logik. Die restlichen drei Schriften widmen sich dann der Reihe nach den insgesamt drei Arten von logischen Schlüssen (Deduktionen), die Aristoteles _____________ 151 Grundriss (1857/58), 399, ähnlich Grundriss (1858), 11, Grundriss (1862), 5 (jeweils in § 12), sowie Historik (L), 44: »Ich würde am liebsten sagen, die Historik soll das Organon für unsere Wissenschaft sein«. 152 Grundriss (1868) und Grundriss (1875), jeweils § 16, 12, sowie Grundriss (1882), 425. 153 Bresslau (2007), 204. 154 Grundriss (1882), 454. 155 Grundriss (1868), 6. 156 Vgl. Cat. 4, 1b25–27. Vgl. hierzu ferner oben Kapitel 2.6. 157 Malink, Organon (2011), 66. 158 Der von Aristoteles verwendete Begriff συλλογισμός wird im Deutschen zumeist mit Deduktion wiedergegeben.
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unterscheidet: die Analytica posteriora den apodeiktischen Schlüssen, die Topik den dialektischen und die Sophistischen Widerlegungen den eristischen Syllogismen (also den Trugschlüssen). 5.2.2 Apodeixis Vor Aristotelesʼ Neuprägung des Begriffs der ἀπόδειξις konnte dieser allgemein jede Art von Darstellung, Hinweis oder Nachweis meinen.159 Und in diesem Sinne spricht, wie bereits gesagt, auch Herodot von der ἱστορίης ἀπόδεξις (Darstellung/Darlegung der Erkundung/Forschung). Durch Aristotelesʼ Verwendung des Begriffs wird ἀπόδειξις dann zu einem terminus technicus für eine spezielle Art des logischen Schließens, nämlich für apodeiktische Schlüsse, die auch als Demonstrationen bezeichnet werden. Was er darunter versteht, expliziert Aristoteles ausführlich in seiner Schrift Analytica posteriora, deren Lektüre gemeinhin als besonders schwierig gilt. Apodeiktische Schlüsse Die Apodeixis (Demonstration) unterscheidet sich von den dialektischen und eristischen Schlüssen in erster Linie durch die ihr zu Grunde liegenden Prämissen. Die Prinzipien (ἀρχαί) beziehungsweise Prämissen (προτάσεις) einer Demonstration, also eines apodeiktischen Schlusses müssen »wahr, ursprünglich (πρῶτον), unvermittelt und im Verhältnis zur Konklusion (dem zu erklärenden Satz) bekannter, vorrangig und ursächlich sein«.160 Im Gegensatz dazu liegen einer dialektischen Deduktion (allgemein) anerkannte Meinungen und einer eristischen Deduktion (Trugschluss) nur scheinbar akzeptierte Aussagen als Prämissen zu Grunde.161 Allein apodeiktische Schlüsse führen zu wahrem und sicherem, also wissenschaftlichem Wissen (epistêmê). Epistêmê ist sowohl die Bezeichnung für das durch Demonstration abgesicherte Wissen als auch für die darauf aufbauende Wissenschaft. Die apodeixis ist somit die »Methode«, der Weg, der zur epistêmê als einer speziellen Form des Wissens führt. Weshalb man die Demonstration (apodeixis) auch als wissenschaftlichen Beweis bezeichnet und von den Analytica posteriora als der Wissenschaftslehre des Aristoteles spricht. Pandels These, dass Droysen zwar Herodots Begriff der ἱστορίης ἀπόδειξις aufnehme, »diese Formel aber wörtlicher und reflektierter [nehme, C.H.] als es die Geschichtswissenschaft zu seiner Zeit getan« habe162 und »beide Teile dieses Doppelbegriffs auf Aristoteles zurück« führe und Droysen daher Apodeixis nicht im Sinne Herodots als Darstellung, sondern im aristotelischen Sinne als ein »Schlußverfah_____________ 159 160 161 162
Vgl. Rapp, apodeixis (2002), 51 f. An. post. I 2, 71b 20–22; hier zitiert nach Wagner/Rapp (2004), 270. Vgl. Top. I 1, 100a25 ff. und 100b23–25. Das schließt Pandel aus Droysens Äußerung, dass die Bezeichnung Apodeixis »doch mehr enthält, als unser Wort Darstellung«; Pandel (1990), 62, mit Bezug auf Historik (L), 57.
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ren«163 verstünde, hat (auch wenn sie nicht zutreffend ist) einiges für sich. Denn aufgrund der Tatsache, dass Droysen die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre in seine Geschichtstheorie implementiert, wäre es naheliegend gewesen, dass er auch den Begriff der Apodeixis im aristotelischen Sinne verstanden hätte – und zwar, weil Aristoteles die Kenntnis der Ursachen (für eine gewusste Sache) als ein wesentliches Kriterium für Wissen ausmacht. Wirkliches Wissen von einer Sache haben wir nach Aristoteles erst dann, wenn wir ihre Ursachen oder Prinzipien (αἰτίαι, ἀρχαί) kennen164 und unser Wissen mittels einer Demonstration (apodeixis) »begründen« können. Daher betont Aristoteles in den Analytica posteriora mehrfach, dass nur begründetes Wissen wirkliches Wissen ist.165 Eine Problematik, der sich Aristoteles wiederholt zugewendet hat, ist die Frage nach der Generierung von Wissen: Wie erwerben wir unser Wissen über die Welt, in der wir leben? Die wirkliche Brisanz der aristotelischen Überlegungen hinsichtlich dieser Fragestellung ergibt sich erst, wenn man sich Platons Position vergegenwärtigt, welcher der Meinung war, dass alles Wissen auf den eingeborenen Ideen beruhe, und der somit nicht fragen musste, wie man Wissen erwirbt. Laut Platon kann es wahres Wissen nur von den Ideen geben, da diese unveränderlich und ewig sind. Dieses Wissen ist nur durch eine Schau der Ideen, durch Denken, nicht aber durch Wahrnehmung (αἴσθησις) zugänglich. Denn Wahrnehmung trügt. In Aristotelesʼ Augen hingegen ist Wissen der Wahrnehmung nicht entgegengesetzt. Ein erstes Wissen basiert immer auf Wahrnehmung und Erfahrung. Aristoteles folgt Platon allerdings insofern, dass Wissen immer auf das Allgemeine bezogen ist, aber dieses existiert seiner Ansicht nach nicht unabhängig von den (wahrnehmbaren) Einzeldingen, sondern ist nur in diesen zu finden. Eine wichtige Einsicht von Aristoteles ist, dass Wissen nicht gleich Wissen ist, dass es verschiedene Arten von Wissen gibt, die aber alle ihre Berechtigung haben. Aus dieser Einsicht heraus entwirft er ein Modell von aufeinander aufbauenden epistemischen Stufen: Am Anfang steht seiner Meinung nach immer die Sinneswahrnehmung (αἴσθησις), welche ihrerseits das Entstehen von Erinnerung (μνήμη) ermöglicht, auf der aufbauend sich wiederum Erfahrung (ἐμπειρία) generieren kann. Die Erfahrung, welche dann schon ein Wissen vom Allgemeinen beinhaltet, ermöglicht Kunst (τέχνη), welche sich auf das Werden und Wissen beziehungsweise Wissenschaft (ἐπιστήμη), welche sich auf das Sein richtet.166 Aristoteles entwirft somit eine epistemische Stufenleiter, die ihren Ausgang nimmt von der bloßen, aber gleichzeitig notwendigen Kenntnis des Einzelnen, welche Sinneswahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung gewähren, und die auf ein Wissen des Allgemeinen abzielt. Verschiedene aristotelische Schriften sind Ausdruck seines Bemühens um diese Klassifizierung des Wissens. So widmet er _____________ 163 Pandel (1990), 62. Vgl. hierzu insbesondere Pandels Ausführungen unter »3.1.3. Apodeiktische Darlegung« (ebd. 78–81). Nur teilt Pandel leider nirgends mit, wo Droysen den Bezug zu Aristoteles herstellt. 164 Met. II 2, 994b29 f. Vgl. zum Folgenden auch Kap. 2.1 der vorliegenden Arbeit. 165 An. post. I 2, 71b9–16 und 31 f.; II 11, 94a20–23. 166 Vgl. An. post. II 19, 100a3–11, wobei es sich um eine Parallelstelle zu Met. I 1 handelt.
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sich in den Analytica posteriora ausschließlich der epistêmê. Das zentrale Thema der Analytica posteriora ist also das begründete Wissen sowie die Formen und Methoden der Begründung von Wissen.167 Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung bilden die Grundlage für jegliches (spätere) Wissen im Sinne von epistêmê.168 Aber sie führen nicht unmittelbar zu Wissen. Wir wissen nicht durch Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung. Erst die Operation der Apodeixis (Demonstration) führt zu Wissen beziehungsweise Wissenschaft (epistêmê). Denn sie »transformiert die Kenntnis des Daß in ein Wissen des Weshalb«.169 Das Wissen der epistêmê ist dadurch charakterisiert, dass es immer wahr und allgemein ist und notwendiger Weise zutrifft.170 Wissenschaft beschäftigt sich demzufolge mit Dingen, »die nicht anders sein können«, als sie sind, »die also notwendiger Weise so sind wie sie sind«.171 Da die aristotelische Frage nach der Generierung menschlichen Wissens im Grunde genommen den Kontext bildet, in dem auch Droysens Geschichtstheorie zu verorten ist – geht es Droysen doch letztendlich um die Klärung der Frage, wie der Historiker zu seinem Wissen über die Vergangenheit gelangt – so wäre es tatsächlich naheliegend gewesen, wenn Droysen über die Implementierung der Vier-UrsachenLehre hinaus auch an die in den Analytica posteriora entworfene Wissenschaftstheorie angeknüpft hätte. Das Verstehen des Historikers wäre dann sozusagen die Induktion, welche (wenn man einer Formulierung von Aristoteles im Schlusskapitel der Analytica posteriora folgt)172 die Prämissen beziehungsweise Prinzipien (ἀρχαί) freilegt und die Darstellung (also die Geschichtsschreibung) entspräche der apodeixis, welche aus den vorliegenden Prämissen ihre (deduktiven) Schlüsse zieht. So sieht es zumindest HansJürgen Pandel, der meint, dass Droysen unter Apodeixis mehr als bloße Darstellung, nämlich eine bestimmte Form des Syllogismus verstünde, so dass dann: Das in der Interpretation verstandene Wissen […] in der Apodeixis die Stelle der Prämissen ein[nimmt, C.H.]. Apodeiktisches Wissen entsteht deshalb durch den Schluß aus den Prämissen.173
Pandels Argumentation, die im ersten Moment stimmig und überzeugend klingt, hat nur leider einen Haken, nämlich dass Droysen den Begriff der Apodeixis nirgendwo auf Aristoteles, sondern immer nur auf Herodot zurückführt, wie oben nachgewiesen wurde. Es ist natürlich dennoch möglich, dass Droysen den Begriff (unbewussterweise) gewählt hat, eben weil er (für Aristoteles-Kenner) zusätzlich auch noch die aristotelische Bedeutung transportiert. Das halte ich aber für wenig wahrscheinlich, da Droysen _____________ 167 168 169 170 171 172
Detel (1993), 2. Halbband, 54. An. post. II 19, 100a10–11. Detel (1993), 1. Halbband, 320. An. post. II 19, 100b14 f. Detel (1993), 1. Halbband, 141. Vgl. An. post. II 19, 100b3–5: »Es ist also klar, daß uns die ursprünglichen Dinge [damit sind die Prämissen gemeint, C.H.] notwendig durch Induktion bekannt werden«. Da Aristoteles aber gleich darauf den nous einführt und diesem zuschreibt, die Prämissen zu erfassen, ist es in der Forschung umstritten, wie man eigentlich zur Kenntnis der Prämissen gelangt, ob durch Induktion oder den nous. Vgl. Bronstein (2011), 194. 173 Vgl. Pandel (1990), 62–81, insbesondere 78–81, Zitat 79.
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keine Hinweise in dieser Richtung gibt. Zudem gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Droysen die Analytica posteriora in irgendeiner Form rezipiert hat. Weitere gegen Pandels Interpretation sprechende Argumente Gegen Pandels Interpretation sind aber auch noch die folgenden Argumente und Überlegungen ins Feld zu führen: Erstens belegt Pandel seine Behauptung, dass Droysen beide Teile des Doppelbegriffs der ἱστορίης ἀπόδειξις auf Aristoteles zurückführe und demzufolge die »Geschichtsschreibung als Schlußverfahren«174 konzipiere, nicht. Er kann sie genau besehen auch gar nicht belegen, weil Droysen das nämlich nirgends tut. Zudem kann man gar nicht »beide Teile dieses Doppelbegriffs« auf Aristoteles zurückführen; wenn, dann ginge das höchstens mit dem Begriff der ἀπόδειξις. Der einzige Beleg, auf den sich Pandels gesamte These stützt, ist Droysens Äußerung, dass Herodots Bezeichnung ἱστορίης ἀπόδειξις »doch mehr enthält, als unser Wort Darstellung«175, die Pandel im Sinne eines Verweises auf das aristotelische Begriffsverständnis interpretiert. Was aber in meinen Augen unsinnig ist. Denn wenn Droysen davon spricht, dass Herodots Bezeichnung mehr enthalte als unser Wort Darstellung, meint er damit, dass sie zugleich deren Gegenstand mit angibt: Je nachdem, wie man die Stelle übersetzt, lautet sie »Darstellung/Darlegung der Erkundung/Forschung«. Berücksichtigt man darüber hinaus den argumentativen Zusammenhang, in dem der Satz fällt, so ergibt sich zudem folgendes Bild: Der Kontext von Droysens Äußerung ist die Einführung der einzelnen Schritte der historischen Methode,176 zu denen auch die Darstellung gehört, die aber, was Droysen hervorhebt, immer auf die anderen methodischen Teilschritte, also auf Heuristik, Interpretation und Kritik angewiesen ist, weil sie nur das darzustellen vermag, was richtiges Fragen, Interpretieren und Kritisieren zu Tage gefördert haben. Die Bezeichnung ἱστορίης ἀπόδειξις sowie die von Droysen gewählte Überschrift »Apodeixis« impliziert also, dass Heuristik, Kritik und Interpretation stattgefunden haben. Und genau deshalb umfasst die Formulierung ἱστορίης ἀπόδειξις mehr als das deutsche Wort Darstellung.177 Zweitens stützt Pandel seine These unter anderem auf die Behauptung, dass Droysen mit seiner Verwendung der Begriffe Induktion und Deduktion ganz eng an das aristotelische Begriffsverständnis anknüpfen würde (wenn auch vermittelt durch die _____________ 174 175 176 177
Historik (L), 57; Pandel (1990), 62. Vgl. Pandel (1990), 62. Historik (L), 57 f. Eine Parallelstelle zu Historik (L), 57 f., findet sich bei Bresslau (2007), 206, der Droysens Gedankengang in kondensierter Form wiedergibt, so dass besser ersichtlich wird, worauf Droysen hinaus will, nämlich die vier Teilschritte der historischen Methode als jeden für sich notwendig und aufeinander bezogen darzulegen: »Dieses gewonnene Verständnis fordert seinen Ausdruck, und wir brauchen also in unserer Methode einen Abschnitt der Darstellung, von der ἱστορίης ἀπόδειξις, wie Herodot das treffend ausdrückt. Aus der Natur dieser Darstellung ergiebt sich aber noch ein weiteres. Sie giebt etwas, was in dem vorliegenden Material nicht mehr vorhanden ist, so nicht vorhanden ist. Die ἀπόδειξις erfordert also mehr als Kritik und Interpretation. Die Forschung ist nicht ein zufälliges Finden: sie sucht etwas. Man muß die Dinge richtig fragen, dann antworten sie. Die ἀπόδειξις zeigt nur auf, was man zu suchen verstanden hat und somit brauchen wir in unserer Methodik noch ein Glied, die Heuristik.«
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Logik Hegels).178 Diese Ansicht teile ich nicht. Richtig ist natürlich, dass beide Begriffe letztendlich auf Aristoteles zurückzuführen sind, da er sie geprägt hat, indem er sie als termini technici in seinen logischen Schriften eingeführt hat. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass im Laufe von 2000 Jahren Philosophiegeschichte eine ungeheure Bedeutungsverschiebung stattgefunden hat,179 und Induktion und Deduktion dabei u. a. auch als entgegengesetzte Beweisverfahren […] in der Wissenschaftsgeschichte zu Grundverfahren entgegengesetzter Wissenschaftstraditionen geworden [sind, C.H.], nämlich des Empirismus und des Rationalismus.180
Ferner sind beide Begriffe – in der Bedeutung des Schließens von einzelnen Fällen auf das Allgemeine (Induktion) und umgekehrt eines Schließens ausgehend vom Allgemeinen auf den Einzelfall (Deduktion) – auch in die (gehobene) Umgangssprache infiltriert. Diese Bedeutung entspricht aber nicht dem aristotelischen Begriffsverständnis, wenn auch unverkennbar ist, dass das moderne Verständnis bei ihm schon angelegt ist. Bei Aristoteles fungiert Deduktion (syllogismos) zunächst als Oberbegriff für alle von ihm in der Ersten Analytik unterschiedenen rein formalen Schlussfiguren und darüber hinaus für die vier von ihm unterschiedenen qualitativ verschiedenen Typen von Deduktionen (apodeiktische, dialektische, eristische und Fehlschlüsse).181 Gleich im ersten Kapitel des ersten Buches der Topik findet sich folgende Definition: Eine Deduktion [συλλογισμός]182 ist also ein Argument, in welchem sich, wenn etwas gesetzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt. Ein Beweis [ἀπόδειξις] liegt dann vor, wenn die Deduktion aus wahren und ersten (Sätzen) gebildet wird, oder aus solchen, deren Kenntnis ursprünglich auf bestimmte wahre und erste (Sätze) zurückgeht. Dialektisch ist dagegen die Deduktion, die aus anerkannten Meinungen deduziert. […] Eristisch aber ist eine Deduktion, die aus Meinungen deduziert, die nur scheinbar, aber nicht wirklich anerkannt sind, oder diejenige, die aus anerkannten Meinungen nur scheinbar deduziert.
Hinzu kommen noch die Fehlschlüsse, die aus Annahmen entstehen, »die zwar der Wissenschaft eigentümlich, aber nicht wahr sind«.183 Und den von ihn unterschiedenen Typen von Deduktionen widmet Aristoteles sich in verschiedenen Schriften. Die allgemeine Form, die allen Syllogismen gemeinsam ist, untersucht er, wie gesagt, in der Ersten Analytik. In der Zweiten Analytik problematisiert er die Apodeixis (Demonstration), in der Topik die dialektischen Schlüsse und in den Sophistischen Widerlegungen die eristischen. Es gibt also nicht nur eine Form der Deduktion bei Aristoteles, sondern mehrere. Wenn man die Meinung vertritt, dass Droysen in seinem Begriffsverständnis _____________ 178 Vgl. Pandel (1990), 66–71 sowie 78–81, aber vor allem 67: »Droysens Begriff der Induktion ist zunächst der Aristotelische Begriff der ἐπαγωγή.« 179 Vgl. hierzu die Überblicksdarstellungen von Veit (1998), Ružička et al. (1976) und Thom (1998). 180 Veit (1998), Sp. 354. 181 Eine gut lesbare, instruktive Einführung in die Problematik gibt Malink (2011), 343–348. 182 Der erste Teil der Definition bestimmt den Syllogismos (also die Deduktion) im Allgemeinen, bevor dann im Folgenden die einzelnen Unterarten aufgeführt werden. Alle Hervorhebungen und Hinzufügungen in eckigen Klammern stammen von mir, C.H. 183 Top. I 1, 100a25–101a17.
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an Aristoteles anknüpfen würde, müsste man also mitteilen, an welchen Typ von Deduktion. Dem Syllogismos gegenüber steht die Induktion (ἐπαγωγή); diese definiert Aristoteles in der Topik als einen »Aufstieg vom Einzelnen zum Allgemeinen«184 und somit als eine Art Gegenbewegung zu diesem. Hier ist das heutige Begriffsverständnis also dem aristotelischen sehr nahe. Und da Aristoteles die Induktion an verschiedenen Stellen ganz explizit der Deduktion oder auch der Demonstration gegenüber beziehungsweise an die Seite stellt,185 erklärt sich auch die in der Rezeption erfolgte aufeinander bezogene Gegenüberstellung beider Begriffe. Ferner ordnet Aristoteles die Induktion explizit der Wahrnehmung als epistemische Handlung zu, da nämlich »eine Induktion durchzuführen ohne Wahrnehmung zu haben unmöglich ist«.186 Inwieweit Droysen sich des ursprünglichen Ortes und der ursprünglichen Bedeutung beider Begriffe bewusst gewesen ist oder nicht, lässt sich heute nicht mehr klären. In seinen schriftlichen Äußerungen findet sich zumindest kein Hinweis darauf, dass ihm das aristotelische Begriffsverständnis vertraut gewesen wäre. In Analogie zu seinen anderen Rückgriffen auf aristotelisches Theoriegut wäre ferner zu vermuten, dass, wenn er einen Bezug hätte herstellen wollen, er das höchstwahrscheinlich getan hätte, indem er die griechische Begrifflichkeit (συλλογισμός, ἐπαγωγή) verwendet hätte. Fakt ist nur, dass Droysen eindeutig an das ihm zeitgenössische (umgangssprachliche) Begriffsverständnis anknüpft und unter Induktion das Schließen vom Einzelnen auf das Allgemeine und unter Deduktion das Schließen vom gegebenen Allgemeinen auf den darunter fallenden Einzelfall versteht, wenn er nicht gar beide Begriffe im übertragenen Sinne versteht, wie in der folgenden Formulierung, die aus seiner Einleitung in die Vorlesungen über Alte Geschichte von 1846 stammt, wo er schreibt: Die Tatsache, dass sich die Darstellung einer genetisch entwickelnden Form bediene, sei nur »eine Bequemlichkeit des Vortrags; in der Form der Deduction stellt man das durch Induction annähernd Gefundene dar«.187 In den Anfangsjahren der Ausformung seiner Geschichtstheorie ordnet Droysen der Geschichtswissenschaft ausschließlich die Induktion als Vorgehensweise zu: »Denn allerdings kommt auch die Geschichte nur auf dem Wege der Induction zu ihren Resultaten. Sie ist so gut wie die Naturwiss[enschaft] empirisch«.188 _____________ 184 Top. I 1 2, 105a13–16. Diese Definition der Induktion »ist die vielleicht deutlichste im Werk des Aristoteles«; Wagner/Rapp (2004), 287. Vgl. ferner An. post. I 1, 71a8 f.: »Sie beweisen das Allgemeine dadurch, dass das Einzelne klar ist.« Siehe auch Rhet. I 2, 1356b13–15: »Einmal ist auf der Grundlage von Vielem und Ähnlichem zu beweisen, dass sich etwas so verhält, hier eine Induktion […].« Siehe hierzu auch Liske (2005), 195–197. 185 Vgl. z. B. An. post. I 1, 71a1–71b8, und I 18, 81a40–b2. 186 An. post. I 18, 81b5 f., sowie II 19, 100b3–5: »Es ist also klar, daß uns die ursprünglichen Dinge [damit sind die Prämissen gemeint, C.H.] notwendig durch Induktion bekannt werden; in der Tat nämlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande.« 187 Droysen (2007), Bd. 1, 144–167, Zitat 148. 188 Aus der Einleitung in die Vorlesungen über Alte Geschichte (1857), in: Droysen (2007), Bd. 2, 352–372, Zitat 360.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis) Wir haben in unserer empirischen Weise nicht das Recht zu apriorisch begrifflichen Deduktionen, sondern wir müssen auf dem weiten Umwege des Beobachtens und Verstehens zu unseren Resultaten zu kommen suchen.189
Aus diesem Grunde summiert die historische Methode […] durch Induktion aus dem Einzelnen, was ihr zur Beobachtung vorliegt, ein Allgemeines, aber dieses Allgemeine ist nicht ein Gesetz; auch sie sucht analytisch aus den vorliegenden Erscheinungen deren Wesen.190
Dazu passend beschreibt Droysen die methodische Operation des Verstehens als »ein Denken aus dem Besonderen, ein Zurückschließen auf das im Besonderen ausgedrückte Allgemeine, auf das in dem Morphologischen ausgeprägte Geistige«. Und weil es sich beim Verstehen sozusagen um eine Induktion handelt, verwendet Droysen das Wort Induktion einmal auch als Synonym für die methodische Operation der Interpretation und einmal für die historische Methode als Ganzes.191 In der Buckle-Rezension entwirft Droysen dann ein etwas anderes Szenario, denn dort schreibt er: Wir haben schon früher bemerkt, daß, wenn es eine Wissenschaft der Geschichte geben soll, diese ihre eigene Erkenntnisart, ihren eigenen Erkenntnisbereich haben muß; wenn anderweitig die Induktion oder die Deduktion vortreffliche Resultate ergeben hat, so kann das nicht die Folge haben, daß die Wissenschaft der Geschichte sich entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und glücklicher Weise gibt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich zur Deduktion ebenso irrational verhalten, wie zur Induktion, die mit der Induktion und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduktion und die Synthese fordern, um in der alternativen Betätigung beider nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd und in gewisser Weise erfaßt zu werden, die nicht entwickelt, nicht erklärt, sondern verstanden werden wollen.192
Und in der Folge heißt es dann ab 1868 in den drei letzten Auflagen des Grundrisses der Historik (in denen Droysen neben zwei anderen Texten auch die Buckle-Rezension abdrucken ließ): »Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion.«193 Dabei ist zu beachten, dass Droysen diesen Satz folgender Passage, die auch schon in den vorherigen Auflagen des Grundrisses zu finden gewesen ist, als Abschluss hinzufügt: Die einzelne Äußerung wird verstanden als eine Äußerung des Innern im Rückschluß auf dies Innere; dies Innere wird verstanden in dem Beispiel dieser Äußerung, als eine zentrale Kraft, die, in sich eins und gleich, wie in jeder ihrer peripherischen Wirkungen und Äußerungen, so in dieser sich darstellt. Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem Einzelnen. Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie
_____________ 189 Historik (L), 12. Das hier im Zusammenhang mit Deduktion von Droysen gebrauchte Wort »apriorisch« ist wie ein Wegweiser, der auf Kant als Stichwortgeber weist. 190 Historik (L), 21. 191 Vgl. z. B. Historik (L), 27: »Jetzt wird klar sein, welches Geschäft wir der historischen Induktion zu vindizieren haben«, und Historik (L), 30: »Die Induktion unserer Wissenschaft führt nicht zu Gesetzen […] sondern zu geistigen Kräften und Tätigkeiten«. 192 Grundriss (1882), 461. 193 Grundriss (1882), 423.
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der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung, und die einzelne Äußerung aus dessen Totalität. Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induktion wie Deduktion.194
Liest man besagten (letzten) Satz im Zusammenhang mit der Passage davor, so erschließt sich, dass die Sache, um die es Droysen hier geht, der hermeneutische Zirkel ist, den er hier unter anderem auch mit den Begriffen Induktion und Deduktion umschreibt. Das hat nun aber gar nichts mit dem aristotelischen Konzept von Induktion und Deduktion zu tun. Ferner hat Pandel übersehen, dass seine Interpretation, wenn sie denn zuträfe, erst ab 1863 greifen würde, weil Droysen davor die historische Methode immer nur mit der Induktion identifiziert hat. Außerdem fällt diese für Aristoteles nicht unter die Syllogismen, weshalb man in Hinblick auf Aristoteles nicht, wie Pandel es tut, von »Induktionsschluß«195 sprechen kann. Gegen Pandels Interpretation, dass Droysen die »Geschichtsschreibung als Schlußverfahren«196 konzipiere, spricht darüber hinaus, dass Droysen nirgends eine Verbindung zwischen Apodeixis im Sinne von Demonstration und Deduktion herstellt, d. h., dass er nirgends reflektiert, dass es sich bei der Demonstration letzten Endes um einen Typ von Deduktion handelt. 5.2.3 Topik Das Ziel dieses Kapitels ist die Klärung folgender Fragen: Warum hat Droysen den Begriff der Topik als Überschrift für den dritten Hauptteil der Historik gewählt? Knüpft er mit seiner Begriffswahl an Aristoteles an? Und falls nicht, welche Tradition oder welches Werk könnte seine Titelwahl inspiriert haben? Und warum hat Droysen die oben geschilderte Änderung der Gliederung vorgenommen? Leider begründet Droysen seine Wahl der Überschrift für den dritten Hauptteil nirgends. Hinzu kommt, dass er den Topik-Begriff auch nur wenige Male, nämlich ausschließlich als Überschrift oder an Stellen, an denen er die Überschrift zitiert, verwendet – somit allerdings an zentraler und unübersehbarer Stelle. Da Droysen verschiedentlich auf Aristoteles zurückgreift, stellt sich auch hier die Frage, ob er bei seiner Titelwahl dessen Topik-Schrift im Sinn gehabt haben könnte. Inwieweit Droysen tatsächlich »offensichtlich auf die Aristotelische ›Topik‹ zurückgreift«,197 wie Hans-Jürgen Pandel meint, soll daher zuerst geprüft werden.
_____________ 194 Grundriss (1882), § 10, 423. Für die Parallelstellen vgl. die anderen Grundrisse, wie z. B. den Grundriss (1857/58), § 8, 398. 195 Pandel (1990), 68. 196 Pandel (1990), 62. Folgt man diesem Bild, so wäre das, was Heuristik, Kritik und Interpretation zu Tage fördern, die Prämissen, aus denen dann die Darstellung (Apodeixis) ihre deduktiven Schlüsse zieht. Dass das von Droysen nicht so gemeint ist und es daher nicht zutrifft, sollte klargeworden sein. 197 Pandel (1990), 86.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Die aristotelische Topik-Schrift Gegenstand der Analytica posteriora sind die apodeiktischen Deduktionen, Gegenstand der Topik die dialektischen. Als dialektisch bezeichnet Aristoteles die Deduktionen, deren Prämissen den Status anerkannter Meinungen (endoxa) haben.198 Anerkannte Meinungen sind diejenigen, die entweder von allen oder den meisten oder den Fachleuten und von diesen entweder von allen oder den meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden.199
Der Titel der Schrift leitet sich ab von τόπος (wörtlich »Ort, Platz«). Dieser Begriff war vor Aristoteles vor allem in der Rhetorik verbreitet und bezeichnete dort fertige formelhafte Versatzstücke, »die ohne Rücksicht auf die individuelle Besonderheit des Einzelfalles angewendet werden« und so in die eigene Rede eingeflochten werden konnten, um zum Beispiel Lob oder Tadel auszudrücken oder Mitleid zu erregen.200 Dass diese Formeln als topoi (Örter) bezeichnet wurden, ist wahrscheinlich auf eine antike Mnemotechnik zurückzuführen, bei der man die auswendig zu lernenden Dinge mit bestimmten Orten assoziierte, um sie später anhand eines gedanklichen Abschreitens dieser Orte wieder erinnern zu können.201 In der Topik formt Aristoteles den von ihm vorgefundenen materialen ToposBegriff der Rhetorik »zu einem formalen Instrument für die Konstruktion unterschiedlicher Argumente um«.202 D. h. bei ihm ist ein Topos kein fertig ausformuliertes Versatzstück mehr, sondern ein formales (Argumentations-)Muster oder Schema, das sozusagen eine Art »Anleitung zur Konstruktion dialektischer Argumente eines bestimmten Typs«203 darstellt, und zugleich, wie einige Autoren hervorheben, »der (strategisch günstig gelegene) Ort, von dem aus im dialektischen Übungsgespräch der Angriff auf die gegnerische Position zu führen ist«, weshalb sie den aristotelischen Topik-Begriff vor allem auf diese bildliche Vorstellung zurückführen.204 Die aus insgesamt acht Büchern bestehende Topik enthält in den Büchern II–VII eine Sammlung von mehreren hundert verschiedenen solcher Anleitungen und Schemata (topoi), »mit deren Hilfe ein gültiger Schluss zu einer jeweils angestrebten Konklusion konstruiert werden kann«.205 Diese topoi, deren Aufzählung den überwiegenden Teil des Werkes ausmacht, finden ihre Anwendung in der dialektischen Argumentation. Diese beschreibt Aristoteles in der Topik als eine kontroverse Disputation zweier Kontrahenten, die einander ent_____________ 198 Vgl. Top. I 1, 100a30: »Dialektisch ist dagegen die Deduktion, die aus anerkannten Meinungen deduziert.« 199 Top. I 1, 100b21 ff. 200 Vgl. Wagner/Rapp (2004), 30, und Rapp, topos [dial.] (2002), 450 ff.; Merklin (2001), 11. 201 Ebd. und Rapp, topos (2005), 605 ff. 202 Rapp, topos [dial.] (2002), 450 f. 203 Wagner/Rapp (2004), 29. Vgl. ferner Rapp (2002), Aristoteles, Werke 4.2, 270–281; sowie Rapp (2000), insbesondere 22–24. 204 Primavesi (1998), Sp. 1264. Auch Wagner (2011), 355, macht diesen Aspekt mit Verweis auf Top. VIII 1, 155b4 f. sehr stark. 205 Primavesi (1998), Sp. 1264.
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gegengesetzte Auffassungen vertreten und die beide die Richtigkeit ihrer Position zu erweisen suchen. Das Setting eines solchen Streitgesprächs ist dabei genau festgelegt, denn einer der beiden Disputanten hat verbindlich die Rolle des Angreifers (Fragenden) und der andere die des Verteidigers (Antwortenden) zu übernehmen. Dazu darf der Angreifer ausschließlich Fragen stellen, die der Verteidiger mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantworten kann. Der Antwortende hingegen muss alle Fragen entweder bejahen oder verneinen und darf nur unter bestimmten, genau definierten Bedingungen Nachfragen stellen […]. Die so gesammelten Zugeständnisse versucht der Angreifer als Prämissen eines Schlusses zu verwenden, dessen Konklusion die Ausgangsthese des Antwortenden widerlegt. Sofern es dem Angreifer gelingt, das Ganze als schlüssiges deduktives Argument zu konstruieren, muss auch der Verteidiger dieser Konklusion zustimmen, da sie aus den von ihm selbst zugestandenen Voraussetzungen folgt.206
Die Topik zielt also auf eine Optimierung der Argumentationspraxis, indem sie aufzeigt, wie man die passenden Prämissen (bei denen es sich immer um anerkannte Meinungen handeln muss) auffindet, um seine eigene Position zu stützen und die des Gegners zu widerlegen; und wie man dabei logisch korrekt vorgeht. Die Topik stellt somit eine Art Anleitung dar, argumentativ überzeugen zu können, ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln.207 Da es sich bei der von Aristoteles entwickelten Methode um eine formale Argumentationsanleitung handelt, nämlich zu prüfen, ob der jeweilige Syllogismus, also die jeweilige dialektische Deduktion, formal korrekt gebildet wurde, ist diese universell bei der Prüfung von Aussagen zu jedem beliebigen Thema der verschiedensten Wissensgebiete einsetzbar. Aristoteles selbst spricht seiner Abhandlung einen vierfachen Nutzen zu. Sie sei nützlich für die Übung (also für die im akademischen Rahmen durchgeführten Übungsgespräche), für die Auseinandersetzung mit der Menge, für die philosophischen Wissenschaften (bei der Unterscheidung des Wahren und Falschen) und für die Einzelwissenschaften (beim Auffinden von deren Prinzipien).208 Überlegungen zu Droysens Titelwahl (I) Der Blick auf Gegenstand, Programm und Aufbau der aristotelischen Topik zeigt, dass Droysen bei seiner Titelwahl ganz offensichtlich nicht die aristotelische Schrift Topik im Sinn gehabt haben kann, da er an keiner Stelle daran anknüpft. Und das ist auch der schlichte Grund dafür, dass er hinsichtlich seiner Begriffsverwendung nirgends einen Bezug zu Aristoteles herstellt. Gegenstand von Droysens Topik ist die Geschichtsschreibung und diese ist ebenso wie eine Rede im klassischen Sinn eine Form der Einwegkommunikation und hat nichts mit dem in der aristotelischen Topik_____________ 206 Wagner/Rapp (2004), 17. 207 Vgl. hierzu den Eingangssatz der Schrift (Top. I 1, 100a18–21): »Die Abhandlung beabsichtigt, ein Verfahren zu finden, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen.« Und siehe ferner Höffe (1999), 59 f., sowie Welsch (2012), 95. 208 Top. I 2, 101a25–101b4. Vgl. auch den Kommentar zu dieser Stelle in Wagner/Rapp (2004), 272– 274.
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Schrift beschriebenen dialogischen, auf Frage und Antwort basierenden Verfahren zu tun. Der Blick auf die aristotelische Topik-Schrift zeigt aber auch, dass es sich bei den in der Zweiten Analytik beschriebenen apodeiktischen Deduktionen und den in der Topik beschriebenen dialektischen Deduktionen um zwei vollkommen verschiedene Verfahren handelt. Daher würde es keinen Sinn ergeben, wenn Droysen, wie Pandel behauptet, hinsichtlich seiner Verwendung beider Begriffe (Apodeixis und Topik) an das aristotelische Verständnis anknüpfen würde, da Droysen sie als Bezeichnung für ein und dieselbe Sache, nämlich seine Theorie der Geschichtsschreibung, verwendet. Wenn überhaupt, dann könnte Droysen sinnvollerweise nur mit einem der beiden Begriffe an Aristoteles anknüpfen. Wie sich aber herausgestellt hat, bezieht Droysen sich weder mit seiner Verwendung des Begriffs der Apodeixis noch mit der des TopikBegriffs auf Aristoteles. Dass Droysen das Wort Apodeixis Herodot entlehnt hat, wurde bereits dargelegt, so dass sich jetzt nur noch die Frage stellt, wer hinsichtlich des »eigenartigen Titel[s] ›Topik‹«209 sein Stichwortgeber gewesen sein könnte. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage erfordert es, einen Blick auf die Tradition der eng mit der Rhetorik-Tradition verwobenen Kulturtechnik der Topik zu werfen. Zu Begriff und Geschichte der Kulturtechnik der Topik Eine grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass sich der Topik-Begriff aufgrund seiner Mehrdeutigkeit einer definitorischen Fixierung entzieht. Thomas Schirren bemerkt daher in der Einleitung zu dem von ihm mit herausgegebenen Sammelband Topik und Rhetorik: Es ist bemerkenswert, daß beinahe jeder der hier publizierten Beiträge sich der Frage stellt, was Topik eigentlich ist. Darin zeigt sich nicht nur wissenschaftliche Redlichkeit, es wird auch ein grundsätzliches Problem offenbar, das freilich durch eine entsprechende grundlegende terminologische Studie eingegrenzt werden könnte.210
Die Amphibolie des Topik-Begriffs resultiert daraus, dass er im Laufe der Geschichte wiederholt zur Bezeichnung neuer Inhalte herangezogen worden ist, so dass immer wieder Fokus-Verschiebungen und somit Anpassungen des alten Konzepts an jeweils neue Zwecke stattgefunden haben. In Umkehrung der bekannten Redewendung vom Weinschlauch könnte man auch sagen: Es wurde wiederholt frischer Wein in einen alten, aber wohlbewährten Schlauch gefüllt. Aufgrund der Äquivokationen des Begriffs ist ein einigermaßen angemessenes Verständnis der sich dahinter verbergenden Sache, also dessen, was damit gemeint ist, nur auf historischem Wege zu erlangen, indem man die Begriffsgeschichte nachzeichnet. Das soll im Folgenden skizzenhaft geschehen, allerdings nur bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da die darauffolgenden Wandlungen für die hier untersuchte Fragestellung irrelevant sind. _____________ 209 Vgl. Schieder (1968), 137: »In dem letzten großen Abschnitt seiner Historik, der den eigenartigen Titel ›Topik‹, das heißt Anordnung, Darbietung des Stoffes, trägt […].« 210 Schirren (2000), XIII.
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Wie bereits gesagt, leitet sich der Begriff Topik von dem griechischen Wort τόπος (Ort) her. In einer rhetorisch-technischen Bedeutung begegnet uns der topos-Begriff zuerst bei dem antiken griechischen Rhetor Isokrates (436–338 v. Chr.). Dieser verstand unter den Topoi offensichtlich schon nicht mehr, wie noch sein Vorgänger Gorgias (ca. 480–380 v. Chr.), bereits ausgearbeitete, auswendig zu lernende und jederzeit wieder verwendbare Redeteile, sondern etwas abstrakter »Mittel, die den Redner instandsetzen, bestimmte Äußerungen zu machen«.211 Für Sammlungen solcher Versatzstücke, Argumente oder Argumentationsmuster (Topoi), die dem Redner bei der Ausarbeitung seiner Rede dienen sollen, bürgerte sich dann die Bezeichnung Topik ein. Der Ursprung der Topik ist also in der antiken τέχνη ῥητορική (Redekunst) zu suchen. Dort hatte sie ihren systematischen Ort, und zwar in der inventio, also im ersten der fünf traditionell unterschiedenen Arbeitsschritte (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio) bei der Verfertigung einer Rede. »Und so verwundert es nicht, daß sich die Topoikataloge üblicherweise im systematischen Lehrbuch im Abschnitt des ersten officiums finden«212 – bestand ihre Funktion doch darin, den Rhetor bei der Findung passender Gedanken und tragender Formulierungen für seine Argumentation zu unterstützen. Aristoteles hat den Topik-Begriff aus der Rhetorik-Tradition übernommen. Letztgenannte bildet aber nur einen Teil des historischen Kontextes, dem die aristotelische Topik-Schrift entstammt. Einen weiteren Entstehungsanlass der Schrift bilden wahrscheinlich die Disputationsübungen, wie sie in der platonischen Akademie üblich gewesen sind. Hinter beiden Momenten (der Rhetorik und den Disputationsübungen) steht allerdings gleichermaßen die zentrale Rolle, die der öffentlichen Rede im gesellschaftlichen Leben im antiken Athen zugekommen ist. Im ersten Satz der TopikSchrift formuliert Aristoteles sein Anliegen wie folgt: Die Abhandlung beabsichtigt, ein Verfahren zu finden, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen.213
So ist zwar auch die aristotelische Topik-Schrift aus der Rhetorik heraus entstanden, etabliert aber mit ihrem Fokus auf die widerspruchsfreie Argumentation mittels dialektischer Deduktionen ein anderes Projekt als bis dato übliche Topoi-Kataloge. Dadurch hat der Topik-Begriff eine neue Konnotation erhalten und beginnt sich spätestens hier aufzuspalten und eine schillernde Mehrdeutigkeit anzunehmen. Zumal Aristoteles zugleich Autor einer Rhetorik ist, die ebenfalls eine Auflistung von Topoi enthält.214 Durch die Topik-Schrift des Aristoteles wurde die Topik in der Folge zum einen als Lehre von den Wahrscheinlichkeitsschlüssen (also als Lehre der dialektischen Deduktionen) als Teil der Logik tradiert und bildete als solche lange Zeit einen we_____________ 211 212 213 214
Sprute (2000), 7. Schirren (2000), XIV. Top. I 1, 100a18–21. Vgl. Rapp (2002), Aristoteles, Werke 4.2, 281–300.
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sentlichen Bestandteil von Logik-Kompendien.215 Zum anderen fungierten Topoikataloge aber nach wie vor als ein wichtiges Hilfsmittel für die Rhetorik.216 Aber auch hier kam es bald zu weiteren Spezialisierungen, indem sich in den auf die Rhetorik angewiesenen Wissensgebieten erste fachspezifische Topiken herausbildeten. Die erste uns bekannte speziell juristische Topik stammt von Cicero, bei dieser handelt es sich um eine Sammlung solcher Topoi, die vor Gericht anwendbar sind. Für Cicero ist ein Topos ein Ort, an dem ein Argument für eine spezifische Begründungsaufgabe abgerufen werden kann.217 Somit sind uns aus der Antike zwei Schriften unter dem Titel Topik überliefert, die Topik des Aristoteles und die von Cicero, die aber beide ganz verschiedene Ziele verfolgen und somit verschiedene Projekte etablieren, obwohl Cicero explizit vorgibt, sich auf Aristotelesʼ gleichnamiges Werk zu beziehen. Juristische »Topoikataloge gehörten zur griechischen und römischen Rechtskultur«.218 Und diese Tradition der antiken Topik war zugleich von konstitutivem Einfluss auf die mittelalterliche Jurisprudenz. Später, im 16. und frühen 17. Jahrhundert, war die Topik neben der Logik wohl die älteste und wichtigste Disziplin der juristischen Methodenlehre. Ihre antiken Grundlagen bei Aristoteles, Cicero und Boethius galten in der frühen Neuzeit unverändert als verbindlich. Für die Juristen spielte die Topik vor allem als Argumentationstheorie eine Rolle: Sie gibt an bestimmten ›Örtern‹ (loci, Topoi) Regeln, Maximen, die man als Prämissen in juristische Argumentationen einbauen kann, wenn das Gesetz oder andere Rechtsquellen wie Natur- oder Gewohnheitsrecht bei wörtlicher Anwendung nicht weiterhelfen. Von solchen ›Örtern‹ sind heute eigentlich nur noch der Analogieschluß (locus ›a simili‹), der Gegenschluß (›e contrario‹) und die Schlüsse ›a maiore ad minus‹ und ›a minore ad maius‹ bekannt; im 16. und 17. Jahrhundert enthielt aber jede (juristische) Logik ein Vielfaches davon. Neben ihrer Funktion als Argumentationstheorie prägte die Topik auch sonst in einem heute unvorstellbaren Ausmaß das wissenschaftliche Denken des Mittelalters und der frühen Neuzeit.219
Durch die autoritätsfeindliche Frühaufklärung und die aufstrebende naturwissenschaftliche Methode gerieten Topoikataloge dann allerdings in Verruf und verschwanden im 18. Jahrhundert ganz aus der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre,220 da die genannten Entwicklungen dazu geführt haben, dass ganz andere Begründungen des Rechts zum Tragen gekommen sind. _____________ 215 Vgl. zu dieser Traditionslinie, auf die ich im Folgenden nicht weiter eingehen werde, die Beiträge von Primavesi (1998), Kann (1998) und Goldmann (1998), insbesondere den Abschnitt »II. Mittelalter« von Kann. 216 Für einen Abriss zur Topik in der rhetorischen Tradition Ostheeren et al. (2009) und Wagner (2009). 217 Vgl. Cicero, Topica 7 f.: »Wie also das Auffinden von Dingen, die im verborgenen liegen, dann leicht ist, wenn die Stelle (locus) gezeigt und bezeichnet ist, so müssen wir, wenn wir irgendein Argument aufspüren wollen, erst einmal die ›Stellen‹ (loci) kennen; so nämlich sind diese – man könnte sagen ›Sitze‹ (sedes) – von Aristoteles genannt worden, aus denen man die Argumente hervorholt. Deshalb ist es erlaubt, ›Stelle‹ (locus) als ›Sitz eines Arguments‹ (argumentum) zu definieren, ›Argument‹ aber als ein ›Mittel, das einer strittigen Sache Glaubwürdigkeit verschafft‹.« 218 Ranieri (2009), Sp. 703. 219 Schröder (1998), 10. 220 Vgl. Ranieri (2009), Sp. 704, und Schröder (1998), 11.
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Auch die Tradition der Topik im Allgemeinen wurde von verschiedenen Autoren des 17. Jahrhunderts dahingehend kritisiert, dass sie lediglich dazu diene, »vorhandenes Wissen mnemotechnisch verfügbar zu machen, um es in der Disputation argumentativ einzusetzen«, dass sie aber nicht zur Entdeckung neuer Tatsachen und somit zu keiner echten Erweiterung der Erkenntnis führe.221 Zudem seien die Ausgangs- und Zielpunkte derartiger Argumentationen epistemisch von zweifelhafter Qualität. Somit führten die Aufklärung, aber wahrscheinlich ebenso die darauffolgende Historisierung des Denkens dazu, dass die Kulturtechnik der Topik, die ehemals in Form von »locicommunis-Heften, Phraseologien, Exempel- und Zitatensammlungen, Indices gelehrter Bücher und Romane« der Memorial- und Amplifikationstechnik gedient hat, in die Kritik geriet und somit an Bedeutung verlor und größtenteils in Vergessenheit geriet.222 Die Tradition der theologischen Spezialtopik Einzig in der Theologie wurde die Tradition der Topik bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fortgeführt. Dieser Befund wird zum einen durch eine Recherche in Bibliothekskatalogen nach im 19. Jahrhundert erschienenen Büchern, die den Begriff Topik im Titel tragen, bestätigt – da es sich bei den dadurch zu Tage geförderten Titeln entweder um theologische Topiken oder um sich auf die aristotelische Topik beziehende Literatur handelt. In die gleiche Richtung weist ein Blick in zeitgenössische Lexika. So liest man z. B. in Herders Conversations-Lexikon von 1857 im Artikel Topik nach einem Verweis auf Aristoteles und die Rhetorik: Im engern Sinne versteht man unter T[opik] die Topologie oder topische Theologie, nämlich die systematische Aufstellung der Hauptgrundsätze, nach welchen diejenigen biblischen Beweisstellen ausgewählt und behandelt werden sollen, aus denen sich der christliche Lehrbegriff ermitteln läßt. – Topische Methode, das Verfahren des Predigers, den Bibeltext kurz zu erklären u. aus demselben eine allgemeine Wahrheit auszuwählen oder abzuleiten, die alsdann das Thema der Predigt abgibt.223
_____________ 221 Vgl. Wagner (2009), Sp. 620. 222 Krause (2001), 344. Wie aus Hegels Äußerungen über die topisch-mnemonischen Schriften von Giordano Bruno hervorgeht, war Hegel noch sehr wohl mit der mittelalterlichen Topik-Tradition vertraut, sah in ihr aber ein vergangenes Phänomen. Vgl. Hegel (1986), Bd. 20, 31–33. 223 Artikel Topik, in: Herders Conversations-Lexikon, Freiburg im Breisgau 1857, Bd. 5, 497 (http://www.zeno.org/nid/20003545032, zuletzt aufgerufen am 15.2.2018). Das Brockhaus Conversations-Lexikon (Bd. 6, Amsterdam 1809, 199; http://www.zeno.org/nid/2000077684X, zuletzt aufgerufen am 15.2.2018) versteht unter »Topik« allein den »Theil der Logik, welcher lehrt, wie man wahrscheinliche Schlüsse machen soll«. In Ersch/Gruber (1818–1889) gibt es keinen Eintrag zum Lemma Topik, da das Nachschlagewerk nur bis zum Buchstaben »P« gediehen ist. Geht man zeitlich weiter zurück und zieht den Zedler zu Rate, so wird dort die Topik als Teil der Logik eingeführt und auf die aristotelische Topik-Schrift und die sich daran anschließende Tradition der wahrscheinlichen beziehungsweise dialektischen Schlüsse verwiesen. Darauf folgt dann, mit einigen kritischen Bemerkungen versehen, der Hinweis, dass »die Topic ehemahls die Rhetores abgehandelt« haben, worauf dann ganz zum Schluss die von Johann Andreas Fabricius (1696–1769) in seinem Werk Philosophische Oratorie. Das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit (Leipzig 1724)
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Als einzige Spezialtopik findet hier also nur mehr die theologische Topik Erwähnung.224 Die Tradition der theologischen Spezialtopik reicht bis in die Scholastik zurück.225 Die »als fachspezifische Erweiterung der tradierten klassischen Topik konzipierten« loci theologici, die als »allgemeine Gesichtspunkte christlicher Erkenntnisund Methodenlehre« fungierten,226 hatten ihren systematischen Ort im Kontext der Exegese des Bibeltextes und in der Homiletik. Sie sollten dem Prediger bei seiner Aufgabe, die im biblischen Wort verborgene göttliche Wahrheit zu verkünden, von Nutzen sein, indem sie ihm bei der Suche einschlägiger Argumente unterstützten. So ähnlich ist es auch im Vorwort zur posthum veröffentlichten Christlichen Topik von Heinrich Leonhard Heubner über deren Anliegen nachzulesen: Wie nämlich die Topik der Alten, der materiale Theil der Rhetorik, dem Redner die Quellen nachwies, aus denen er seinen Stoff zu entlehnen hatte, so sollte eine christliche Topik den Stoff oder das Material der christlichen Predigt darstellen.227
Auch der evangelische Theologe Franz Karl Ludwig Steinmeyer (1811–1900) sieht es als die wesentliche Aufgabe der Topik an, zum Stoff der Predigt zu führen.228 Meine Vermutung ist nun, dass Steinmeyer Droysens Stichwortgeber gewesen ist. Denn aus einer brieflichen Äußerung Droysens geht hervor, dass er mit Steinmeyer, der nach vorherigen Stationen als Universitätsdozent in Breslau und in Bonn von 1858 bis 1895 Professor für praktische Theologie des Neuen Testaments und zugleich Universitätsprediger in Berlin gewesen ist,229 befreundet war.230 In seiner Topik knüpft Steinmeyer nicht nur explizit an die Schriften des reformierten Theologen Andreas Hyperius (1511–1564) an, sondern auch an die antike Rhetorik-Tradition (Aristoteles, Cicero, _____________ 224
225 226 227 228 229
230
vertretene Postion referiert und auf dessen Topik-Entwurf (der sich auf S. 139 f. im genannten Werk befindet) verwiesen wird; vgl. Art. Topic, Topica, in: Zedler, Bd. 44, Leipzig/Halle 1745, Sp. 1273 f. Das gleiche trifft für den Eintrag zu Topik in Piererʼs Universal-Lexikon (Bd. 17, Altenburg 1863, 687) zu; vgl. http://www.zeno.org/nid/20011119705, zuletzt aufgerufen am 15.2.2018. Dort heißt es etwas weniger ausführlich als in Herders Conversations-Lexikon: »3) Lehre von den biblischen Beweisstellen; daher Topika, Schriften, worin Beweisstellen gesammelt sind«. Kalivoda/Ostheeren (2009), Sp. 698. Zur Geschichte der theologischen Topik vgl. ferner Kalivoda (2000) und Kann (1998), Sp. 1276 f. sowie Goldmann (1998), Sp. 1279 f. und Sp. 1284. Kalivoda/Ostheeren (2009), Sp. 697. Heubner (1863), III. Vgl. Steinmeyer (1874), 92 f., 95 ff. und 138. Vgl. den Eintrag zu Steinmeyer im Portal der Wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin: http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/16751/, zuletzt aufgerufen am 13.2.2018. Zu Steinmeyer gibt es weder in der Allgemeinen Deutschen Biographie noch in der Neuen Deutschen Biographie einen Artikel. In einem an seine Tochter Marie (verheiratete Hübner) adressierten Brief vom 19.7.1882 spricht Droysen von seinem »stets klagenden theologischen Freund Professor Steinmeyer« (BW II, 953). Ein Briefwechsel zwischen Droysen und Steinmeyer ist meiner Kenntnis nach nicht überliefert. Steinmeyers Sohn, der nachmalige Germanist Emil Elias von (seit 1909) Steinmeyer (1848–1922) hat im Sommersemester 1869 Droysens Vorlesungs über Alte Geschichte gehört. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass seine Vorlesungsmitschrift überliefert ist. Vgl. das Verzeichnis der Vorlesungsmitschriften, das auf den Seiten des Droysen-Archivs online einsehbar ist: http://www.droysenarchiv.hu-berlin.de, zuletzt aufgerufen am 13.2.2018.
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Quintilian), da es sich in seinen Augen bei der christlichen Predigt um eine Rede handelt, die demzufolge auch eine rhetorische Seite hat. Laut Steinmeyer kommt der Topik »eine zwiefache Pflicht« zu: Sie hat zu lehren, »wie der Predigtstoff überhaupt zu erwerben sey« und sie hat die »Gesichtspunkte« zu erschließen, »aus welchen der Einblick in eine bestimmte Wahrheit möglich wird«.231 Seine Argumentation läuft darauf hinaus, »die Rechte der Topik zu reclamiren«232 und ihre Bedeutung für das Predigtwesen herauszustellen. Wobei es der »Wissenschaft der Topik« nicht darum gehe, die »homiletische Kunstlehre« und somit die Rhetorik zu verdrängen oder zu ersetzen, sondern darum, letztgenannte fester zu begründen, da nach seinem Dafürhalten »die Topik […] die Basis [bildet, C.H.], auf welche die Kunstlehre sich fest und sicher erbauen kann«.233 In expliziter Anknüpfung an die antike Trichotomie der Redegattungen – schon Aristoteles hat in seiner auf die öffentliche Rede ausgerichteten Rhetorik drei Redegenera (die politische Beratungsrede, die Gerichtsrede und die Lob- und Tadel verteilende Festrede) unterschieden234 – unterscheidet auch Steinmeyer drei Predigtgattungen:235 die didaktische, die protreptische und die mystische Predigt. Er gewinnt allerdings seine Dreiteilung dadurch, dass er die Predigtgattungen an die traditionell unterschiedenen Redezwecke des docere, movere und delectare zurückbindet. Und somit einen kreativen Kurzschluss zwischen den Redegattungen (genera causarum) und den drei Stilebenen (genera dicendi) herstellt – indem er die von der Rhetoriktradition den drei verschiedenen Stilebenen (also dem genus humile, genus medium und genus grande) zugeordneten Funktionen, die jeder Rede gleichermaßen zukommen (docere, movere, delectare) und die daher nicht gattungsspezifisch sind, jetzt einzelnen Gattungen zuordnet. So zielt in Steinmeyers Entwurf die didaktische Predigt auf die Lehre (docere), die protreptische auf Handlungsanweisung und Mahnung (movere) und die mystische Predigt auf Erbauung und Glaubensgeheimnis (delectare).236 Die Topik bedarf dieser Dreiteilung als ihrer Basis, weil: »Die Rathschläge, die sie zum Zwecke der Stoffesfindung ertheilt, […] durchaus durch das Genus bedingt [sind, C.H.], welchem die Einzelpredigt zugehört.«237 Die drei Predigtgattungen bilden dann den Gegenstand der »speciellen Topik«.
_____________ 231 Steinmeyer (1874), 38. 232 Ebd. 224. 233 Ebd. 225. Vgl. auch ebd. 240: »Weiter erstreckte sich die gegenwärtige Absicht nicht, als auf den ganz allgemeinen Beweis, dass die Wissenschaft der Topik, davon entfernt, die Kunstlehre gewaltsam zu verdrängen, vielmehr den Zweck verfolgt und die Mittel besitzt, deren festeren Aufbau zu begründen.« 234 Rhet. I 3, 1358a35–1358b8. 235 Steinmeyer (1874), 64 ff. 236 Ebd., insbesondere 72–79. Vgl. ferner Kalivoda (2000), 363. 237 Steinmeyer (1874), 88 und 86.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Überlegungen zu Droysens Titelwahl (II) Die begriffsgeschichtliche Skizze sollte dazu dienen, die Amphibolie des TopikBegriffs zu verdeutlichen. Eine Amphibolie, die, so mein Eindruck, vielen Autoren nicht (oder zumindest nicht in ihrer Gänze) bewusst war oder ist,238 was wesentlich zu ihrer Fortschreibung und Potenzierung beigetragen hat. In meinen Augen sind Begriff und Sache nur begriffsgeschichtlich einzuholen239 und jede Verwendung des Begriffs sollte mit einer Erläuterung der damit bezeichneten Sache verbunden sein. Da Droysen seine Verwendung des Begriffs nirgends erläutert,240 bleibt nach wie vor die Frage, was er unter Topik verstanden hat. Für den Fall, dass er mit seiner Titelwahl an die bis in die antike zurückreichende Tradition der Topik anknüpfen wollte, könnte man seine Topik als einen Katalog von vier oder – wenn man an die Stelle der erzählenden Darstellung deren vier Unterformen einsetzt – sieben Darstellungsschemata interpretieren. Da Droysen die insgesamt sieben von ihm unterschiedenen Darstellungsformen nicht als literarische Gattungen, sondern als Argumentationsmuster auffasst, könnte man seine Topik ferner als eine Argumentationsanleitung auffassen. Die Topik Droysens leistete dann nicht, wie die traditionelle Topik, das Auffinden der für ein Problem passenden Argumente, sondern das Auffinden des jeweils passenden Typs von Geschichtsschreibung für das jeweilige Thema und den jeweils beabsichtigten (Wirkungs-)Zweck. Darüber hinaus fungierte sie in gewissem Sinne auch als eine Beispielsammlung, da Droysen in seine Darstellung generell sehr viele Beispiele mit eingebunden hat. Das sind in meinen Augen die Argumente, mit denen sich Droysens Begriffswahl sachlich begründen ließe. Ob er das ebenso gesehen hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Meine Vermutung ist allerdings, dass Droysens Titelwahl weniger diesen sachlichen Gründen als vor allem Steinmeyers Topik im Dienste der Predigt geschuldet ist. Obwohl Droysens Topik auf den ersten Blick nichts mit der homiletischen Topik Steinmeyers gemein hat, sehe ich in dieser dennoch mögliche Anknüpfungspunkte für Droysen gegeben und halte es daher für sehr wahrscheinlich, dass er durch diese zur _____________ 238 Zu diesen zählt z. B. Schiffer, dessen Überlegungen zum Format der Topik bei Droysen schlichtweg irreführend sind, da er den Begriff »Topos« dem heute gängigen Verständnis entsprechend mit »Gesichtspunkt« übersetzt und somit Droysens Topik laut seiner Interpretation Gesichtspunkte bereitstellt. Vgl. Schiffer (1980), 94 ff. Zu diesen zählt aber auch Rüsen, der hinsichtlich von Droysens Verwendung des Topik-Begriffs auf die wenig erhellenden Erläuterungen Schiffers verweist. Vgl. Rüsen (1982), 200, Anm. 17. 239 Aus diesem Grund überzeugt mich der Versuch von Kalivoda (2007), eine »Typologie der Topik« zu entwerfen, nicht. 240 Das ist der einzige Punkt, an dem ich Schanze (2000) zustimmen kann. Ansonsten ist seine Auseinandersetzung mit Droysens Topik-Begriff oberflächlich und verworren, weshalb sie nichts zu dessen Verständnis beiträgt und hier daher auch nicht weiter thematisiert zu werden braucht. Der kurze, Droysen betreffende Abschnitt bei Wagner (2009), Sp. 622, ist ebenfalls wenig hilfreich, ebenso wie die Ausführungen von Hebekus (2003), 31–42 und 87–115. Dieser schreibt »der Topik eine erweiterte kulturelle Funktion« zu (ebd. 31), womit er meines Erachtens einen Topik-Begriff etabliert, der mit dem Droysens nichts gemein hat. Hebekus übersieht, dass seine Interpretation (insbesondere 96) nur dann zuträfe, wenn Droysen den mit Systematik überschriebenen Teil der Historik als Topik verstanden und so benannt hätte.
Von der Apodeixis zur Topik
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Umbenennung seiner Theorie der Darstellung motiviert worden ist. Dafür spricht auch, dass der zeitliche Ablauf plausibel wäre. Steinmeyers Topik erschien 1874 und Droysen führt den Begriff irgendwann nach dem Erscheinen der zweiten Buchhandelsauflage des Grundrisses (1875) ein.241 Zu den möglichen Anknüpfungspunkten, die ich sehe, gehört erstens, dass Steinmeyer die drei von ihm unterschiedenen Predigtgattungen unter dem Oberbegriff der Topik problematisiert. Es wäre daher denkbar, dass das Droysen veranlasst hat, auch die vier von ihm unterschiedenen Formen der Geschichtsschreibungen unter dieser Überschrift zu thematisieren. Zweitens besteht dadurch, dass Steinmeyer die drei von ihm unterschiedenen Predigtgenera an die klassischen Redeziele, also an den Zweck, zurückbindet, eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Droysen und Steinmeyer. Denn auch Droysen gewinnt seine Unterscheidung der vier verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung ebenfalls vor allem mittels des Kriteriums des Zweckes. Und ein Genre bei Steinmeyer (die didaktische Predigt) gibt es auch bei Droysen – in Form der didaktischen Darstellung. Drittens halte ich für wichtig, dass Steinmeyer die Topik als Wissenschaft versteht. Die von Droysen zuvor verwendeten Begriffe »Apodeixis« oder »Darstellung« sind im Grunde genommen kein Titel für eine Lehre, geschweige denn eine Wissenschaft, Topik hingegen schon. Denn Topik ist im Gegensatz zu Apodeixis ein Begriff, der eine »Lehre von« oder »Theorie von« mit umfasst – ebenso wie auch die anderen von Droysen gewählten Begriffe: Heuristik, Kritik und Interpretation und nicht zuletzt Methodik und Systematik. Da der Historik-Begriff schon als Titel für die Gesamtdarstellung der historischen Theorie und Methode vergeben war, konnte Droysen ihn nicht für seine Theorie der historischen Darstellung wählen (wie das Gervinus getan hatte) und Begriffe wie Poetik oder Rhetorik kamen aufgrund ihrer Assoziation mit dem Verfassen nichtwissenschaftlicher Texte ebenfalls nicht in Frage. Da kam ihm der Topik-Begriff, der sich wunderbar in die Reihung von Methodik, Systematik, Topik fügt, gerade recht. Meines Erachtens ist Droysens Titelwahl in erster Linie zuletzt explizierten Gründen geschuldet. Will man kritisch sein, könnte man noch anmerken, dass Droysen auch bei diesem Begriff nicht so ganz genau hingeschaut hat, da er übersehen hat, dass er nicht gänzlich für die von ihm intendierten Zwecke passt. Geht es der Topik doch um das Auffinden des Stoffes (weshalb sie ihren traditionellen Ort in der Inventio/Heuristik hatte) – diesen Stoff hat aber der Historiker bereist aufbereitet (mittels Heuristik, Kritik und Interpretation) vorliegen, so dass er ihn gar nicht mehr aufzufinden braucht.
_____________ 241 Das Vorwort des Grundrisses von 1875 ist auf den 18. März 1875 datiert, das Vorwort des Grundrisses von 1882 auf den 18. Juli 1881. Droysen hat seine Vorlesung in dieser Zeit in den Sommersemestern 1875, 1876, 1878, 1879, 1881 und im Wintersemester 1882/83 gehalten; vgl. das Vorwort von Peter Leyh in: Historik (L), IX, Anm. 2. Horst Walter Blanke sieht aufgrund seiner Kenntnis der überlieferten Vorlesungsmanuskripte Droysens im Jahr 1878 einen größeren konzeptionellen Einschnitt vorliegen (freundliche Mitteilung per E-Mail vom 24.5.2015).
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Mögliche Gründe für die von Droysen vorgenommene Änderung der Gliederung Im Vorwort zur dritten Auflage des Grundrisses bemerkt Droysen ganz lapidar: »In diesem neuen Abdruck des Grundrisses ist in der Disposition einiges, wie es sich in wiederholten Vorträgen als zweckmäßiger erwiesen hat, geändert.«242 Paragraph 18: »Die Historik umfaßt die Methodik des historischen Forschens, die Systematik des historisch Erforschbaren« hat er jetzt um den Zusatz erweitert: »die Topik der Darlegungen des historisch Erforschten«.243 Da er die letzte Auflage des Grundrisses generell sehr stark umgearbeitet und erweitert hat, verwundert es nicht, wenn auch der Teil über die Darstellung diverse Überarbeitungen und Ergänzungen aufweist. Meine These ist, dass Droysen die Apodeixis unter der neuen Überschrift Topik – und zwar ohne dass er grundlegende inhaltliche Änderungen vorgenommen hat – aus didaktischen Gründen ans Ende gerückt hat. Droysen braucht erst die Explikation der Systematik, um darauf aufbauend seine Theorie der verschiedenen historischen Darstellungsformen erläutern zu können, da er, wie oben herausgearbeitet, die vier von ihm unterschiedenen Erzähltypen nicht nur zu den vier Teiloperationen der Interpretation, sondern auch zu den vier Hinsichten der Systematik in Beziehung setzt. Die Ausführungen der Systematik bilden so gesehen die Voraussetzung für die Erläuterungen der Topik. Hinzu kommt noch, was nicht übersehen werden darf, dass – durch die Umstellung – die Systematik jetzt direkt an das Kapitel über die Interpretation der Ideen anschließt,244 wodurch Droysens Darstellung inhaltlich mehr Stringenz gewinnt. Darüber hinaus ist die Apodeixis in Droysens Augen nicht nur ein Teilschritt, sondern zugleich das Ziel der historischen Methode, da die Darstellung der im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse den idealtypischen Abschluss des historischen Erkenntnisprozesses bildet. Aufgrund der Umstellung des Kapitels über die Darstellung an den Schluss der Historik, endet diese nun mit der historischen Diskussion, also mit der Problematisierung des Nutzens und der Aufgabe der Geschichtswissenschaft, nämlich kund zu tun, wo es in Zukunft eigentlich langgehen sollte. Droysen stellt die Topik ans Ende, weil es ihm um die praktische Wirksamkeit der Geschichtswissenschaft, und zwar vor allem als »politische Propädeutik« geht. Das ist sein Ziel, darauf will er hinaus. Also schließt er seine Vorlesung mit einem Plädoyer für den unabdingbaren Nutzen der Geschichtswissenschaft, damit die Studenten wissen, wozu sie Geschichte studieren: Wir haben durch die Erörterung der diskussiven Darstellung den Punkt gefunden, wo unsere Wissenschaft das volle Gewicht praktischer Bedeutsamkeit erhält; […] weil unsere methodische Betrachtung erst damit ihren Kreis vollendet, daß sie, aus der Gegenwart
_____________ 242 Grundriss (1882), 416. 243 Grundriss (1882), § 18, 425; Hervorhebungen im Original. 244 Diesen Aspekt macht Saupe (2009), 131, – in Entgegnung auf Rüsen – hinsichtlich Droysens Änderung der Disposition stark: »Erstens gewinnt der Aufbau von Droysens Historik durch die Neuordnung an Klarheit, indem die ›Systematik‹ – die sich dem konzeptionellen Überbau einer zu interpretierenden Geschichte widmet – nun direkt an das Kapitel über die ›Interpretation der Ideen‹ anschließen kann. Zweitens nimmt Droysen keineswegs Formulierungen zurück, die darauf hinweisen, dass erst die Darstellung des kritisch Festgestellten und nach systematischen Gesichtspunkten Interpretierten den methodischen Abschluss der historischen Erkenntnisleistung bildet.«
Droysen und die Tradition der Rhetorik
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rückwärts arbeitend, das Erarbeitete in die Gegenwart und in deren Mitleben und Mitschaffen zurückführt.245
Und das ist auch der Grund, weshalb Droysen seine Geschichtstheorie für so wichtig erachtet hat, aufgrund der praktischen Bedeutsamkeit, die sie in seinen Augen hatte.
5.3 Droysen und die Tradition der Rhetorik Droysens Auffassung von der Ausrichtung der Geschichtswissenschaft auf Politik und Ethik rückt die Geschichtsschreibung in die Nähe der aristotelischen Konzeption der Rhetorik. Zielte diese doch vor allem auf das öffentliche politische Leben der antiken Polis als ihrem hauptsächlichen Wirkungsfeld. Das ist aber nicht der einzige Aspekt, der Droysens Konzeption von Geschichtsschreibung in die Nähe der klassischen Auffassung und Konzeption der ars rhetorica rückt. Einen weiteren Berührungspunkt von Droysens Theorie mit der Rhetorik kann man in der Parallelität, die zwischen Droysens vier methodischen Schritten von Heuristik, Kritik, Interpretation und Darstellung und den fünf Produktionsstadien einer Rede besteht, sehen.246 An erster Stelle steht die inventio, dieser entspricht bei Droysen die »Heuristik«, hier geht es darum, den passenden Stoff zu finden. Darauf bedarf es der sinnvollen Anordnung dieses Stoffes (dispositio), welche in der Geschichte durch »Kritik« und »Interpretation« gewährleistet wird. Dann erfolgt die sprachliche Gestaltung (elocutio) und bei einer mündlich vorzutragenden Rede das Auswendiglernen (memoria) und der öffentliche Vortrag (pronuntiatio). Diesen drei Schritten entspricht in der historischen Methode das Moment der »Darstellung«. Am meisten springt bei diesem Vergleich die scheinbare Entsprechung von inventio und Heuristik ins Auge.247 Dabei darf man aber nicht übersehen, dass beide voneinander verschiedene Aufgaben haben, so dass man die oben konstatierte Parallelität auch nicht überbewerten darf, zumal sie der Sache geschuldet ist, denn sowohl ein Redner als auch ein Historiker schreiben letztendlich einen Text. Daher verwundert es nicht, wenn sich beider Vorgehensweisen ähneln. Ich glaube nicht, dass sich Droysen dieser Parallelität bewusst gewesen ist, geschweige denn, dass er sie intendiert hat, da er an keiner Stelle darauf Bezug nimmt. Ebenso halte ich es für wenig sinnvoll, die Ähnlichkeiten, die zwischen Droysens Typologie der vier historischen Darstellungsformen und den drei in der Rhetoriktradi_____________ 245 Historik (L), 280. 246 Darauf hat als erster Dietrich Harth hingewiesen. Vgl. Harth (1990), 18: Die von Droysen »vorgeschlagenen Strukturprinzipien der historischen Wissenschaft rekapitulieren nichts anderes als die transformierten Grundbegriffe der ars rhetorica. So folgt denn der methodologische Grundriß der ›Historik‹ mit den Gliederungspunkten 1. Heuristik – 2. Kritik – 3. Interpretation – 4. Darstellung jenem bekannten rhetorischen Muster: Inventio – Dispositio – Elocutio, dem die klassischen Redelehren, aber auch die Regelpoetiken seit dem Humanismus mehr oder weniger stark verpflichtet waren.« 247 Das lateinische Verb invenire und das griechische Verb εὑρίσκειν sind bedeutungsgleich und mit »(er)finden« oder »entdecken« zu übersetzen.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
tion unterschiedenen Redegattungen bestehen, überzubewerten.248 Auch sie sind zwar auf den ersten Blick augenfällig, werden aber beim zweiten – nun auch die Details wahrnehmenden – Blick wieder relativiert, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Wie in allen Rhetorik-Einführungen nachlesbar,249 kam es durch Aristoteles zu einer Kanonisierung von drei Redegattungen (genera causarum): der Gerichtsrede (genus iudiciale), der politischen Beratungsrede (genus deliberativum) und der Festrede (genus demonstrativum). Aristoteles begründet die Unterscheidung von drei Genera damit, dass es verschiedene Zuhörer gebe und dass jeder Gattung ein anderes Ziel gesetzt sei. Ferner ordnet er jeder Redegattung eine andere zeitliche Dimension zu: der Gerichtsrede (welche Recht und Unrecht thematisiert und deren Aufgabe Anklage und Verteidigung sind) die Vergangenheit, der Festrede (welche Ehrenhaftigkeit und Schande thematisiert und die Lob und Tadel verteilt) die Gegenwart und der Beratungsrede (welche Nutzen und Schaden thematisiert und zu deren Aufgabe das Zuund Abraten gehört) die Zukunft.250 Nun fallen mit Blick auf Droysen folgende Dinge auf: einmal, dass sowohl Aristoteles als auch Droysen den mit einer Rede oder Darstellungsart jeweils verfolgten Zweck als ein Kriterium für die Unterscheidung verschiedener Gattungen heranziehen. Vergleicht man darüber hinaus die vier von Droysen unterschiedenen Darstellungstypen mit den drei in der Nachfolge von Aristoteles tradierten Redegattungen, so sind die zwischen Droysens »historischer Diskussion« und der politischen Beratungsrede bestehenden Ähnlichkeiten nicht zu leugnen, da beide eine (be-)ratende Funktion haben und auf zukünftiges Handeln abzielen. Zwischen diesen beiden Genera besteht also tatsächlich eine relativ große Entsprechung. Das In-Beziehung-Setzen der anderen drei Darstellungsformen zu den restlichen beiden Redegattungen vermag indessen nicht so ganz zu überzeugen. Wollte man weitere Zuordnungen vornehmen, so wäre meines Erachtens die didaktische Darstellung am ehesten zur Gerichtsrede in Beziehung zu setzen – aufgrund von beider Bezug zur Vergangenheit und der beiden zukommenden urteilenden Hinsicht. Aber die Ehre und Schande thematisierende und Lob und Tadel verteilende Festrede, in deren Fokus die Gegenwart steht, ist weder der Erzählung noch der untersuchenden Darstellung sinnvoll zuzuordnen. Daher kann ich die von Dietrich Harth vorgenommene Zuordnung der vier von Droysen unterschiedenen Darstellungsformen zu den genera causarum nicht nachvollziehen.251 Zumal er im Gegensatz zur Tradition vier genera causarum kennt (und dazu auch noch fälschlicherweise von genera dicendi spricht – derer es, nebenbei bemerkt, eigentlich aber auch nur drei gibt). Denn Harth fügt den drei von der Rhetoriktradition unterschiedenen Genera noch ein viertes Genus hinzu, das »genus docile« (leider _____________ 248 Wie es Harth (1990), 18 f., und in dessen Nachfolge Hebekus (2003), 93, Alexandrova (2009), 32 f., und Saupe (2009), 133 f., tun. 249 Vgl. Göttert (1994), 17: »Die Unterscheidung der drei Redegattungen Gerichtsrede, Beratungsrede, Lobrede geht auf früheste Überlegungen zurück und fand durch Aristoteles ihre Kanonisierung, auch wenn damit Alternativen nicht ausgeschlossen waren.« Vgl. aber auch Engels (1996) und Lausberg (2008), 52–61, 85–138. 250 Vgl. Rhet. I 3, 1358a35–1358b28. 251 Vgl. Harth (1990), 18 f.
Droysen und die Tradition der Rhetorik
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ohne Herkunftsnachweis), und gelangt so zu folgender Zuordnung: Die »untersuchende Darstellung« entspricht seiner Meinung nach dem genus iudiciale, die »erörternde Darstellung« (also die historische Diskussion) dem genus deliberativum, die »didaktische Darstellung« dem neu ersonnenen »genus docile« und die »erzählende Darstellung« dem genus demonstrativum.252 Neben den drei bisher angesprochenen Punkten hat Droysen jedoch auch durch sein Heranziehen des Topik-Begriffs das Gebiet der Rhetorik betreten, wobei in der klassischen Rhetorik die Topik natürlich der Heuristik zugeordnet worden ist und sie nicht, wie bei Droysen, am Ende des (historischen) Erkenntnisprozesses steht. Droysens historische Theorie weist also mehrere Berührungspunkte mit rhetorischen Lehrinhalten auf, und das, obwohl Droysen die Rhetorik vehement ablehnt, weil sie für ihn in das Gebiet der Kunst fällt und er daher auch die von ihm diagnostizierte Rhetorisierung der Geschichtsschreibung (beginnend bei Isokrates) als eine Fehlentwicklung bewertet.253 Mit dieser abschätzigen Bewertung der Rhetorik steht Droysen im 19. Jahrhundert allerdings nicht allein. Kann man doch schon bei Kant nachlesen, dass die Redekunst nichts anderes sei als »die Kunst, zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen«.254 Droysen reformuliert also mit seiner Ablehnung der Rhetorik ein seinerzeit gängiges Vorurteil. Wie ist nun die oben beschriebene Ambivalenz Droysens gegenüber der Rhetorik zu erklären? Meine Vermutung ist, dass Droysen die oben konstatierten Ähnlichkeiten gar nicht bewusst gewesen sind. Den Grund dafür sehe ich darin, dass er aufgrund seiner Auffassung von der Rhetorik als einer bloßen »Kunstübung« beziehungsweise einer »Theorie der künstlerischen Behandlung der Geschichte«255 diese derart abgelehnt hat, dass er sie keines Blickes gewürdigt und sich daher auch nicht mit ihr auseinandergesetzt hat. Dadurch, dass er rhetorische Ansätze aus der Geschichtsschreibung dezidiert ausschließt, fehlte ihm jegliche Motivation, die aristotelische Rhetorik zu rezipieren. Hätte er es dennoch getan, dann hätte er allerdings sein einseitiges und negatives Bild von der Rhetorik korrigieren müssen, da Aristoteles die Aufgabe der Rhetorik eben gerade nicht im kunstvollen Ausschmücken des Gesagtem oder der Manipulation der Zuhörer sah, sondern – ganz im Gegenteil – die Rhetorik als eine an die philosophische Argumentationskunst anknüpfende, auf Wahrheit und _____________ 252 Hebekus (2003), 93, Alexandrova (2009), 32 f., und Saupe (2009), 133 f., haben nicht nur Harths Zuordnung vollkommen unkritisch übernommen, sondern erstaunlicherweise auch das vom ihm hinzuerfundene vierte Genus. 253 Vgl. Historik (L), 46 und 217, sowie Grundriss (1882), 480. Droysens Anknüpfen an die rhetorische Tradition wird auch von Saupe betont, der nachzuweisen versucht, »dass Droysen sowohl in seiner Methodik als auch in seiner Typologie der historiographischen Darstellungsformen die rhetorische Tradition der [...] Gerichtsrede […] erneuert und damit fortsetzt« und dass es »bei Droysen [...] zu einer Reaktualisierung der Rhetorik vor dem Hintergrund neuer kriminalistischer, detektorischer Erzählweisen« kommt. Vgl. Saupe (2009), 132 ff.; Zitate 132, Anm. 24 und 134. 254 Kant (1790), § 53, 215–217, Zitat 216. Pandel wiederum hat die Nähe von Droysens Entwurf zur Rhetorik-Tradition übersehen, weil er Droysens kritische Sichtweise auf die Rhetorik ungeprüft übernommen und sich dadurch den Blick für die dennoch zu beobachtenden Ähnlichkeiten verstellt hat. Vgl. Pandel (1990), 62–66 und 87. 255 Historik (L), 46; Grundriss (1882), 480.
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Droysens Konzeption der Geschichtsschreibung als Darstellung (Apodeixis)
Gerechtigkeit ausgerichtete universale τέχνη konzipiert hat, deren Aufgabe vor allem darin besteht, »an jeder Sache das vorhandene Überzeugende zu sehen«.256 Aristoteles hat die Rhetorik als Pendant zu der von ihm in der Topik beschriebenen dialektischen Argumentation entworfen.257 Letztere basiert auf einem dialogischen Setting, da es hier zwei Gesprächspartner sind, die darum ringen, dem jeweils von ihnen vertretenen Argument zum Sieg zu verhelfen. Gegenstand der Rhetorik hingegen ist die monologische Rede, aber ihr Anliegen ist das gleiche, nämlich mit dem besseren Argument zu überzeugen. Wenn Droysen also an Aristoteles hätte anknüpfen wollen, so wäre es viel naheliegender gewesen, an die Rhetorik als an die Topik anzuknüpfen, da es sich bei der Geschichtsschreibung ebenso wie bei einer Rede im Prinzip auch um eine gebundene Rede handelt. Dieser Blick auf die aristotelische Rhetorik zeigt, dass sich Droysen hier eine Chance vergeben hat, indem er ein zeitgenössisches Vorurteil unhinterfragt fortgeschrieben und dadurch den Anspruch der aristotelischen Rhetorik nicht zur Kenntnis genommen hat.
_____________ 256 Vgl. Rhet. I 1, 1355a20–1355b26; Zitat: 1355b10 ff. Zu dem der aristotelischen Rhetorik zu Grunde liegenden philosophischen Anspruch siehe vor allem den ausgesprochen instruktiven Aufsatz von Rapp (1999). 257 Vgl. den Eingangssatz der Rhetorik (Rhet. I 1, 1354a1).
Epilog »Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.«1
Droysen hat, indem er wiederholt auf Aristoteles verweist oder ihn zitiert, unübersehbare Wegweiser aufgestellt, die auf den ersten Blick eine intensive Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie suggerieren. Ich habe anfangs, ebenso wie meine Vorgänger, diese Ausschilderung ernst genommen und bin ihr unter Anleitung der Forschungsliteratur gefolgt. Nach und nach stellte sich dabei allerdings heraus – so die erste wesentliche Einsicht der hier unternommenen Untersuchung – dass auf das von Droysen errichtete Leitsystem kein Verlass ist, weil die Wege in den allermeisten Fällen schon nach wenigen Schritten abbrechen. Dieser Erkenntnisprozess mit all seinen Brüchen spiegelt sich auch in der vorliegenden Arbeit wider. Es trifft zu, dass Droysen eine Fülle von Begriffen (wie z. B. Analysis, Apodeixis, Induktion, Katharsis, Mimesis, Organon, Synthesis und Topik) verwendet, die auf Aristoteles zu verweisen scheinen, es aber – wie sich herausgestellt hat – in den meisten Fällen doch nicht tun. Ein wichtigstes Ergebnis der hier vorliegenden Untersuchung ist die Erkenntnis, dass es sich bei den von Droysen hergestellten Aristoteles-Bezügen (entgegen der Meinung früherer Studien) zum größten Teil um Pseudobezüge handelt. Daher kann mit Blick auf Droysens Geschichtstheorie von Neoaristotelismus keine Rede sein. Ebenso wenig trifft die Schlussfolgerung von Hildegard Astholz zu, die meint, aus Droysens Rückgriffen auf Aristoteles ersehen zu können, »wie wichtig ihm überhaupt die Erkenntnisse des Aristoteles gewesen sein müssen«.2 Es hat sich vielmehr gezeigt, dass Droysens deutlich durch seine christliche Weltanschauung geprägte Geschichtstheorie eher an die neuplatonische Tradition anknüpft, was ihre antiken Wurzeln betrifft. Das ist in gewisser Weise folgerichtig, da sich auch das Christentum insgesamt daran anschließt. Wollte man Droysens Theorie unbedingt mit einem Label versehen, so müsste auf diesem stehen: neuplatonischchristlich-hegelianisch mit vielen weiteren Einsprengseln aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte. Denn die Historik weist Droysen als einen sehr belesenen und kreativen Eklektiker aus, der überall das, was ihm für seine Belange passend zu sein schien, aufgegriffen und in seine Überlegungen integriert hat. Allerdings hat Droysen, wie sich herausgestellt hat, die tatsächliche Passgenauigkeit fremder Gedanken nicht immer genau geprüft, ebenso wie er beim Zitieren und bei der Angabe _____________ 1 2
Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, Nr. 151, hier zitiert nach Stracks/Eicheldinger (2011), 37. Astholz (1933), 58, Anm. 28.
202
Epilog
der Quellennachweise meist keine große Sorgfalt hat walten lassen. Ob man diese Mängel nun als »Flüchtigkeiten«,3 die Droysens großem Arbeitspensum und -tempo geschuldet gewesen sind, betrachtet oder sie als Folge genialer Nachlässigkeit ansieht oder die damaligen Arbeitsbedingungen dafür verantwortlich macht, tut heute nichts mehr zur Sache. Fakt ist, dass es auch damals anders ging. Denn im Vergleich zu Droysen ist die Art und Weise, in der z. B. Wilhelm Wachsmuth in seinem Entwurf einer Theorie der Geschichte die von ihm herangezogene Literatur nachweist, vorbildlich.4 Droysen hingegen hat offensichtlich meistens aus dem Kopf zitiert und das Zitierte dann auch für den Druck nicht überprüft. Anders sind die vielen aufgedeckten Irrtümer, Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten nicht zu erklären. Droysens Umgang mit fremdem Theorie- und Gedankengut unterschiedlichster Provenienz hat sich also an vielen Stellen als oberflächlich, inkonsequent und wenig sorgfältig erwiesen. Ins Positive gewendet, wäre er als frei und kreativ zu charakterisieren. Und das trifft ja auch zu, denn die von Droysen entworfene Theorie ist trotz ihres eklektischen Charakters durchaus schöpferisch und originär, wenn sie auch aus den genannten Gründen nicht immer in sich stimmig und widerspruchsfrei ist. Rekapitulation der Ergebnisse der einzelnen Kapitel Den substantiellsten Rückgriff auf Aristoteles in Droysens Geschichtstheorie stellt seine dreifache Transformation der Vier-Ursachen-Lehre dar. Nachzutragen bleiben an dieser Stelle nur noch die folgenden differenzierenden Anmerkungen: Am überzeugendsten ist, wie sich herausgestellt hat, seine »Übersetzung«5 (in der Terminologie des SFB 644) der vier Ursachen in die vier Hinsichten der Systematik. Das ist zugleich der Kontext, in dem er den Aristoteles-Bezug am deutlichsten herausstellt, und zwar, chronologisch betrachtet, zum ersten Mal im letzten Paragraphen der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes.6 Daraufhin hat er dann den dortigen Ausführungen entsprechend in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses die Gliederung der Systematik geändert.7 Von da an spiegelt sich bereits in der Begrifflichkeit der Gliederung der Systematik deren Bezug zur Vier-Ursachen-Lehre wider. Zwei weitere Hinweise gibt Droysen dann erstmals in diesem und in fast allen darauffolgenden Grundrissen, indem er eine Passage aus De partibus animalium zitiert8 und indem er seiner Erläuterung der Formen der geschichtlichen Arbeit die aristotelische Wendung τὸ τί ἦν εἶναι in Klammern hinzufügt.9 Aus heute nicht mehr nachvollzieh_____________ 3 4
5 6 7 8 9
Nippel (2010), 81. So entsteht der eigenartige Widerspruch, dass viele der von Wachsmuth vertretenen Ansichten antiquierter sind als die Droysens, aber seine Literaturnachweise ihn viel moderner erscheinen lassen als diesen. Bergemann et al. (2012), 53. Siehe hierzu unten Anm. 25. Historik (L), 285. Grundriss (1857/58), 408 ff. Vgl. hierzu Anm. 41 in Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu Anm. 74 in Kapitel 2.4 der vorliegenden Arbeit.
Epilog
203
baren Gründen hat er allerdings die beiden griechischen Zitate in der letzten Auflage des Grundrisses gestrichen. Dafür weist er dann aber in der späten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes ganz explizit auf Aristoteles hin, indem er notiert: »Wir können füglich die alte aristotelische Vierteilung zugrunde legen, die wenigstens den Vorzug hat, praktisch die möglichen Momente zu erschöpfen.«10 Darüber hinaus rekurriert er in seiner 1863 in der Historischen Zeitschrift erschienen Rezension von Buckles History of Civilisation in England, die dann ab 1868 auch den drei Buchhandelsauflagen des Grundrisses beigegeben war, ebenfalls – wenn allerdings wieder nur in Andeutungen – auf die Vier-Ursachen-Lehre.11 Hinsichtlich der vier Teiloperationen der Interpretation stellt Droysen den Bezug zur Vier-Ursachen-Lehre nur an zwei Stellen her, einmal in der ersten Fassung des Vorlesungsmanuskriptes und einmal in der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses. In allen darauffolgenden Grundrissen hat er allerdings den Verweis auf Aristoteles getilgt. Am wenigsten offensichtlich und überzeugend ist Droysens Rückführung der vier Formen der erzählenden Darstellung auf die vier Ursachen. Sie geht aus den Grundrissen nicht hervor. Droysen stellt den Zusammenhang zwischen den vier Formen der erzählenden Darstellung und den vier Ursachen nur an einer einzigen Stelle und eher indirekt in der späten Fassung des Vorlesungsmanuskripts her.12 Hier ist es meines Erachtens offensichtlich, dass er den Zusammenhang erst im Nachhinein hergestellt hat. Droysens Rückgriffe auf die aristotelische Politik muss man als Pseudobezüge qualifizieren. Er verweist zwar, indem er Passagen aus der Politik zitiert, auf Aristoteles. Knüpft aber inhaltlich an diesen Stellen gar nicht an Aristoteles, sondern an Hegel an. Ähnlich verhält es sich bei Droysens Qualifizierung der Geschichte als Bewegung und als ἐπίδοσις εἰς αὑτό. Bezüglich des Bewegungsbegriffs lässt sich nicht endgültig klären, ob er diesen tatsächlich von Aristoteles übernommen hat – da es sowohl Argumente gibt, die dafür, als auch andere, die dagegen sprechen. Was die präpositionale Wendung aus De anima betrifft, hat sich herausgestellt, dass Droysen mit dieser ebenfalls kein aristotelisches Gedankengut transportiert, da er sie nutzt, um die Geschichte als »eine sich in sich steigernde Kontinuität« bzw. eine Steigerung zu sich selbst zu charakterisieren und zum Ausdruck zu bringen, dass der Anfang und das Ende der Geschichte in Gott (und zwar in dem des Christentums) zusammenfallen.13 Das ist die Denkfigur, die Droysen mit dieser Formel zu untermauern versucht. Dieser Gedanke hat aber mit dem bei Aristoteles Verhandelten gar nichts zu tun. Hinzu kommt, dass das Aristoteles-Zitat ohne jegliche argumentative Relevanz und somit reine Zierde ist.
_____________ 10 11 12 13
Historik (H), 193. Vgl. Grundriss (1882), 463 ff. Vgl. Historik (H), 288. Vgl. hierzu Anm. 136 in Kapitel 4.6 der vorliegenden Arbeit.
204
Epilog
Hinsichtlich des zweiten Zitats aus De anima, das Droysen heranzieht,14 ist festzuhalten, dass er auch hier über das hinausgeht, was Aristoteles an dieser Stelle im Sinn hatte, allerdings, indem er den aristotelischen Gedankengang diesmal tatsächlich aufnimmt. Denn Aristotelesʼ Argumentation läuft darauf hinaus, dass jedes individuelle Lebewesen, indem es ein anderes seiner Art erzeugt und somit die Art erhält, am Ewigen und Göttlichen teilhat, obwohl es sterblich ist. Das Einzelwesen hat nur eine begrenzte Lebensdauer, nicht aber die Art bzw. die Gattung. Über seine Zugehörigkeit zu seiner jeweiligen Gattung wiederum hat auch der Einzelne am Ewigen teil. Aristoteles ging es hier ausschließlich um die natürliche Reproduktion. Da sich, so Droysen, das Dasein des Menschen aufgrund seiner »mitgeborene[n] Geistesnatur«15 nicht in seiner animalischen Natur erschöpft, erhält der Mensch seine Gattung nicht nur mittels der natürlichen Reproduktion, sondern auch und vor allem, indem er Formgebungen seines Geistes hinterlässt. Daher avanciert bei Droysen die Geschichte zum spezifischen und eigentlichen Gattungsbegriff des Menschen. Erst durch die Geschichte hat der individuelle Mensch am Ewigen und Göttlichen teil und nicht bereits, indem er Nachkommen zeugt. In Bezug auf Droysens Aufgreifen des Mimesis-Begriffs konnte gezeigt werden, dass er den Begriff zwar der aristotelischen Poetik entnommen hat, ihn aber nicht dem aristotelischen Verständnis entsprechend gebraucht. Anhand von »Probebohrungen« in Droysens Umfeld ist ferner sichtbar geworden, dass in der gesamten untersuchten Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein sehr unspezifischer MimesisBegriff zu finden ist, der nichts mehr mit dem aristotelischen Begriffsverständnis gemein hat. Die ursprüngliche Herkunft des Begriffs aus der Poetik des Aristoteles wurde zwar, wie sich gezeigt hat, noch erinnert, aber fast niemand hat sich die Mühe gemacht, das von der Tradition übernommene Begriffsverständnis anhand der Quellen zu prüfen. Droysen steht also mit seiner dekontextualisierenden Indienstnahme des Begriffs nicht allein. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es größtenteils die gleichen (wenigen) Begriffe und Passagen aus dem Corpus Aristotelicum sind, die Droysen wiederholt ins Feld führt. Und auf die eingangs gestellte Frage, inwieweit die von Droysen herangezogenen aristotelischen Begriffe und Theorieelemente konstitutiv für seine Begründung der Geschichtswissenschaft sind, kann nun geantwortet werden, dass allein seine Transformation der aristotelische Vier-Ursachen-Lehre (allerdings auch nur hinsichtlich der vier Teiloperationen der Interpretation und der vier Hinsichten der Systematik) als konstitutiv angesehen werden kann, da sich alle anderen Bezugnahmen als Pseudoquellenbezüge entpuppt haben.
_____________ 14 15
De an. II 4, 415a26 ff. Vgl. hierzu die Ausführungen am Ende von Kapitel 4.5.1 und die Nachweise in Anm. 79 ebd. Historik (L), 18.
Epilog
205
Hegels Bedeutung für Droysen und seine Vermittlerrolle Auch im Rahmen der hier unternommenen Untersuchungen – vor allem in denen des dritten Kapitels zu Droysens Politik-Rezeption – hat sich die ungeheure Bedeutung Hegels für Droysens Geschichtstheorie bestätigt. Diese ist in vielen Punkten deutlich von Hegel inspiriert. Das zeigt sich hinsichtlich der von Droysen verwendeten Begrifflichkeit, der damit verbundenen Konzepte, aber auch in den von ihm ausgesprochenen Wertungen und in seiner Aristoteles-Rezeption. Hegel ist der Autor, der in Droysens Geschichtstheorie implizit am präsentesten ist,16 obwohl er nur selten explizit genannt wird. An dieser Stelle wird eine große Unstimmigkeit offenbar, die zugleich den Wert der im Anhang der vorliegenden Arbeit wiedergegebenen statistischen Erhebungen erheblich relativiert, da sie ein falsches Bild entstehen lassen. Denn entgegen ihrer Aussage ist in der Historik hegelsches Gedankengut viel präsenter als aristotelisches. Hier zeigt sich dann allerdings eine interessante Parallele zu Hegels Umgang mit Aristoteles, da Hegel mit diesem ebenso umgeht wie Droysen mit seinem Lehrer. Denn auch Hegel macht oft nicht kenntlich, wenn er sich gerade auf Aristoteles bezieht. Ferrarin bemerkt dazu, über die möglichen Ursachen reflektierend: It is even more conjectural, if not otiose, to speculate on why Hegel sometimes openly admits sharing a common ground with Aristotle, while sometimes he does not mention him at all, despite the apparent Aristotelian origin of some of his theses or the similarity between their perspectives in contradistinction to the modern tradition which Hegel criticizes. […] Obviously, this does not happen with Aristotle only. It is Hegel’s customary practice to discuss theories and concepts of thinkers he does not mention, often because they were familiar to his audience and he deemed an explicit reference unnecessary.17
Meines Erachtens trifft die zuletzt geäußerte Überlegung nicht beziehungsweise nur zum Teil zu.18 Denn erfahrungsgemäß ist es doch so, dass man das für am wenigsten erklärungsbedürftig ansieht, was einem selbst am selbstverständlichsten ist.
_____________ 16 17 18
Wobei Droysen Hegels Philosophie insgesamt christlich interpretiert und sie in seiner Übernahme derselben ins Christliche transponiert. Ferrarin (2001), 394. In mancher Hinsicht mag es so sein, in anderer aber nicht. Denn natürlich ist es richtig, dass man über das, was man als bekannt voraussetzen kann, keine Worte zu verlieren braucht. Aber erfahrungsgemäß ist es doch so, dass man die Einsichten am ausführlichsten erläutert, die einem selbst noch neu und nicht vollständig selbstverständlich sind; dass man hingegen das, was man schon lange vollständig in das eigene Denken integriert hat, nicht mehr für erklärungswürdig ansieht und deshalb nicht weiter darauf eingeht. Ferner glaube ich nicht, dass Hegels Hörer über eine so intime Kenntnis der aristotelischen Philosophie verfügt haben, dass Hegel die Verweise auf Aristoteles aus diesen Gründen unterlassen konnte. Auch mit Blick auf Droysen stellt sich die berechtigte Frage, welche Hegel-Kenntnisse er bei seinen Lesern (der Geschichte Alexanders des Großen von 1833) oder seinen Hörern der HistorikVorlesung ab 1857 tatsächlich voraussetzen konnte. Ferner besteht auch immer die Möglichkeit, dass Bezüge verschwiegen werden, weil man eine bestimmte Theorie als nicht (mehr) opportun betrachtet. Was aber in den beiden genannten Fällen m. E. nicht zutrifft.
206
Epilog
Zu Droysens Aristoteles-Kenntnissen, seinem Umgang mit dem aristotelischen Gedankengut und der Funktion seines Rückgriffs auf Aristoteles Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass Droysens Aristoteles-Rezeption eine indirekte, vor allem durch Hegel19 und Trendelenburg vermittelte ist. Meines Erachtens verdankt Droysen seine Aristoteles-Kenntnisse vor allem seinem Studium bei Hegel, Heinrich Ritter und Boeckh sowie einer stark zu vermutenden TrendelenburgLektüre. Droysen hat allem Anschein nach, wenn überhaupt, Aristoteles nur punktuell (nach)gelesen, da er fast ausschließlich die gleichen Zitate wie Hegel oder Trendelenburg anführt. Ich habe keine Indizien dafür gefunden, dass Droysen ganze Werke aus dem Corpus Aristotelicum rezipiert hätte (was ihn von seinem Kollegen Heinrich Leo unterscheidet). Droysen hatte allerdings gegenüber all denen, die nur über eine Übersetzung Zugang zu den aristotelischen Schriften haben, den Vorteil, die aristotelischen Texte im griechischen Original lesen zu können. Droysen zitiert – wenn auch meist nur einzelne wenige Begriffe oder Halbsätze – aus folgenden Werken des Corpus Aristotelicum: aus De anima, De partibus animalium, entweder aus der Metaphysik oder der Physik, der Politik und der Poetik. Und er bezieht sich möglicherweise auf De interpretatione. Für den Althistoriker Droysen fungiert Aristoteles aber natürlich auch als historische Quelle. So zieht er für seine Geschichte Alexanders des Großen auch drei aristotelische Werke als Quellen heran, die Politik, die Oikonomika und die Meteorologica. Er bezieht sich aber weder auf die Analytica posteriora, die Topik, die Rhetorik noch auf die ethischen Schriften. Wie aus den wenigen Quellennachweisen, die Droysen gibt, hervorgeht, zitiert er Aristoteles nicht nach der Bekker-Ausgabe. Da Droysen kein Philosoph gewesen ist, findet man bei ihm keine philosophischargumentative Auseinandersetzung mit aristotelischen Positionen. Er reflektiert und begründet auch nicht, warum und mit welchem Ziel er bestimmte Begriffe und Konzepte von Aristoteles übernimmt. Aber indem er sie verwendet, nimmt er eine Aktualisierung vor. Sein Umgang mit dem aristotelischen Gedankengut lässt sich am treffendsten als rhapsodisch20 und assoziativ charakterisieren. _____________ 19
20
Das gleiche trifft höchstwahrscheinlich auch auf die Vermittlung neuplatonischen Gedankengutes zu, da Hegel nicht nur den Zugang zu Aristoteles neu geöffnet hat, sondern auch den zum Neuplatonismus, wie Halfwassen (1999) herausgearbeitet hat. Josefine Kitzbichler wies mich aufgrund dieses von mir gewählten Begriffes im Nachhinein auf die folgende Passage (Droysen [1832], Bd. 1, II f.) hin, die aus der Vorrede zu Droysens AischylosÜbersetzung stammt und die sich auf die Erläuterungen (Didaskalien, vgl. hierzu oben Anm. 139 in Kapitel 5.1.5) bezieht, die Droysen seinen Übersetzungen beigegeben hatte: »Die rhapsodische Form, die den Didaskalien gegeben ist, gewährte vor der größeren Lebendigkeit und Anschaulichkeit, welche etwa durch eine in sich geschlossene Schilderung gewonnen wäre, den bedeutenden Vortheil, von immer anderen und anderen Punkten eines weiten, trümmerreichen Umkreises stets zu dem gleichen Mittelpunkte zurückführen, und, ohne durch den Schein eines lückenlosen Zusammenhanges die Weite der Uebersicht zu verkürzen, doch im Allgemeinen die Umrisse andeuten zu können, die der aufmerksame Blick unwillkührlich ergänzt und gleichsam belebt.« Auch wenn diese Bemerkung Droysens aus einem ganz anderen Kontext und einer anderen Zeit als die Historik stammt, so teilt sie
Epilog
207
Inwieweit seine Geschichtstheorie in ihrer speziellen Ausgestaltung durch aristotelisches Gedankengut inspiriert worden ist oder ob Droysen die Aristoteles-Bezüge erst im Nachhinein hergestellt hat, als ihm die Ähnlichkeiten aufgefallen sind, lässt sich heute nicht mehr klären.21 Es sieht so aus, als ob er sie in den meisten Fällen erst im Nachhinein hergestellt hat. Vergleicht man die verschiedenen Auflagen des Grundrisses der Historik miteinander, so fällt auf, dass Droysen den Grundriss zwar immer wieder überarbeitet hat, dass aber insgesamt eine große inhaltliche Konstanz seiner Aussagen zu beobachten ist. Das trifft auch für die Aristoteles-Bezüge zu. Auch wenn mal der eine und ein anderes Mal ein anderer entfällt, so lässt sich dennoch keine generelle Tendenz dahingehend feststellen, ob die Bezugnahmen auf Aristoteles insgesamt gesehen ab- oder zunehmen. Deshalb haben sich aus dem Vergleich der verschiedenen Fassungen des Grundrisses und der Historik-Vorlesungen auch keine neuen Erkenntnisse über die Chronologie von Droysens Aristoteles-Rezeption und die Genese seiner Theorie ergeben. Die große generelle Konstanz von Droysens Ansichten resultiert wahrscheinlich daraus, dass seine christliche Weltanschauung, die das Fundament seiner Theorie bildet, gleich bleibt. Droysen behandelt Aristoteles durchweg wie einen gleichberechtigten, nach wie vor aktuellen Gesprächspartner, dessen Historizität aber dennoch gewusst wird. Nach seinem Dafürhalten trat mit Aristoteles zum ersten Mal der »moderne Geist« in die Welt. Aristoteles ist für ihn zugleich der Anfangspunkt und ein herausragender Vertreter der (bis in seine Zeit andauernden) Entwicklung dieses modernen Geistes.22 Droysens Verweise auf Aristoteles haben eindeutig die Funktion einer autoritativen Absicherung und Legitimation des Gesagten. Sie dienen dazu, seiner Geschichtstheorie mehr Gewicht zu verleihen. Dabei ist es egal, ob der Rekurs auf Aristoteles von argumentativer Relevanz (weil er inhaltlich passend und sinnvoll ist) oder ohne dieselbe ist (und in diesem Falle dann nur einen rein ornamentalen Charakter hat). Denn in beiden Fällen kommen die Bezugnahmen auf Aristoteles der Anrufung einer Autorität gleich. Droysens Umgang mit dem aristotelischen Theoriegut ist, wie sich gezeigt hat, mehrschichtig und komplex. Mittels der Terminologie der am Berliner Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« (SFB 644) erarbeiteten »Transformationstheorie«23 (die 14 Transformationstypen unterscheidet) lässt er sich sowohl als Assimilation, Ignoranz, Montage/Assemblage, Übersetzung und Umdeu_____________ 21
22 23
dennoch etwas über seine generellen Beweggründe und seine Herangehensweise mit, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat. Einen ganz ähnlichen Befund erhebt übrigens Ferrarin (2001), 394, in Bezug auf Hegel: »The extent to which Aristotle may have influenced the formation of Hegel’s philosophical thought is far from clear. It is hard to distinguish between what has contributed to the development of Hegel’s thought on specific counts and what Hegel is pleased to find in Aristotle after having independently reached similar conclusions.« Historik (L), 72 und 222. Vgl. hierzu die Aufsätze von Böhme (2012) und Bergemann et al. (2012), Zitat ebd. 40.
208
Epilog
tung/Inversion kategorisieren. Von Assimilation24 und Übersetzung25 kann man hinsichtlich Droysens Transformation der Vier-Ursachen-Lehre sprechen; von Ignoranz26 in Bezug auf Droysens nicht Zur-Kenntnis-Nehmen der Quellen (denn was bei Aristoteles tatsächlich steht, hat Droysen nicht wirklich interessiert); von Montage/Assemblage27 angesichts seiner Rekombination der Politik-Zitate mit hegelschem Gedankengut und von Umdeutung/Inversion28 bezüglich seiner Verwendung des Zitats aus De anima (ἐπίδοσις εἰς αὑτό) und des Mimesis-Begriffs, da er hier Gedanken, die gar nicht aristotelisch sind, durch die Verwendung der auf Aristoteles zurückgehenden Begrifflichkeit dennoch als solche ausweist. Daher ist Droysens Argumentation an diesen Stellen eben nicht aristotelisch,29 sondern hat sich als pseudoaristotelisch erwiesen. Zu den Gründen für die Attraktivität der aristotelischen Philosophie im 19. Jahrhundert Wie auch die vorliegende Arbeit bestätigt hat, genoss die aristotelische Philosophie im 19. Jahrhundert hohe Anerkennung. Fragt man sich nach den Gründen der Attraktivität der aristotelischen Philosophie für das 19. Jahrhundert, so sind folgende allgemeine Aspekte ins Feld zu führen: Aristoteles wurde unter anderem als ein Denker, der sowohl einen empirischen Ansatz als auch einen systematischen Ordnungswillen in seinem Denken vereinte, wahrgenommen und geschätzt. Man sah in ihm zum einen den Systematiker, der versucht hat, Ordnungskriterien zu finden und die Dinge anhand dieser denn zu ordnen bzw. zuzuordnen, und zum anderen den Empiriker, für den jeder Erkenntnisprozess auf Beobachtung und Wahrnehmung basiert.30 Dieses _____________ 24
25 26 27
28 29 30
Die Assimilation ist eine »Transformation, die Elemente des Referenzbereichs in die Zusammenhänge der Aufnahmekultur integriert und sie miteinander verbindet.« Dabei findet eine Art Verschmelzung statt, »so dass ein assimiliertes Referenzobjekt schließlich nur noch als Anspielung oder, im Extremfall, gar nicht mehr erkennbar ist«; Bergemann et al. (2012), 48. Bei einer Übersetzung werden Elemente »aus einer Referenzkultur in eine Aufnahmekultur transponiert und damit unter veränderten Bedingungen rekombiniert«; ebd. 53. Bei der Ignoranz handelt es sich um eine »Transformation, die Tatsachen oder Sachverhalte nicht beachtet«; ebd. 51. Bei einer Montage/Assemblage werden »unterschiedliche Elemente aus dem Referenzbereich isoliert« übernommen und »zu Elementen anderer Bereiche aber auch miteinander in Beziehung« gesetzt; ebd. 51. Eine Umdeutung/Inversion ist eine »Transformation, die Elemente der Referenzkultur als solche erkennbar bleiben lässt, zugleich aber semantische Verschiebungen erzeugt«; ebd. 53. Was bisher übersehen worden ist. Vgl. z. B. Caianiello (2009), 114 ff. Vgl. z. B. Trendelenburg (1844), 452: »In philosophy we observe a twofold tendency which is seldom united in the same person; a tendency towards the infinite variety of individual things, to the inexhaustible mass of material; and the opposite tendency to the universal thougt which masters this varieta und pervades this mass. Seldom, if ever, have these two tendencies been so evenly balanced, and seldom have they so mutually co-operated with each other as in Aristotle. In this union consists his astonishing greatness.« Vgl. ferner Droysen (1833), 547: »Desto größer war die Umgestaltung, welche sich in den Wissenschaften kundzutun begann. Durch Aristoteles war jener großartige Empi-
Epilog
209
Interesse des Aristoteles an empirischer einzelwissenschaftlicher Forschung findet seine Entsprechung in der Aufwertung von Wahrnehmung und Erfahrung und dem Aufstieg der empirischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus hat sich das 19. Jahrhundert möglicherweise in der Herangehensweise des Aristoteles wiedergefunden. Beginnt dieser doch fast jedes seiner Werke damit, dass er die zum jeweiligen Thema von ihm bereits vorgefundenen Lehren, Anschauungen und Meinungen anführt und diskutiert. Dieses Vorgehen hat auf den ersten Blick große Ähnlichkeit mit der seit dem 19. Jahrhundert üblichen historischen Verortung des eigenen Werks in einem größeren Traditionszusammenhang vorhergehender Versuche.31 Bei Aristoteles war dieses Vorgehen allerdings in erster Linie von dem rein sachlichen (dogmatisch-kritischen) Interesse motiviert, die Tragfähigkeit der aufgefundenen Positionen zu prüfen, während die Gelehrten des 19. Jahrhunderts vor allem aus einem historisch-genealogischen Interesse heraus auf ihre Vorgänger zurückblickten. Ferner wurde Aristoteles als der Philologe unter den Philosophen gesehen und entsprach so dem im 19. Jahrhundert zu beobachtenden Trend der Philologisierung der Wissenschaften. Er konnte aber auch als spekulativer Denker in Anspruch genommen werden (z. B. von Hegel32 und Michelet). Auf jeden Fall galt er als Wissenschaftler par excellence. Trendelenburg fand in der aristotelischen Logik das Modell für eine Theorie der Wissenschaften, die es der (vor allem durch die sich erfolgreich etablierenden Naturwissenschaften in Bedrängnis geratenen) Philosophie ermöglichte, dennoch eine Stimme im Kanon der Disziplinen zu behalten. Droysen als Fallbeispiel für die Attraktivität der aristotelischen Philosophie im 19. Jahrhundert Droysens Aristoteles-Rezeption bestätigt die große Präsenz der aristotelischen Philosophie und die Bedeutung des Aristoteles als Referenzautor im 19. Jahrhundert. Dabei ist zu beachten, dass Aristoteles-Studien sowohl historisch-philologisch orientiert als auch um eine Aktualisierung bemüht gewesen sind. Es trifft daher nur zum Teil zu, wenn Flashar schreibt, »dass dem 19. Jahrhundert nach Hegel Aristoteles auf allen Gebieten zumeist nur noch als historische Größe gegenwärtig und von Interesse blieb«.33 In ihrer Pauschalität geht diese Einschätzung an der Realität vorbei, denn es _____________ 31 32 33
rismus ins Leben gerufen, dessen die Wissenschaft bedurfte, um des ungeheuren Vorrats von neuem Stoff, den Alexanders Züge jedem Zweige des menschlichen Erkennens eroberten, Herr zu werden.« Vgl. z. B. Boeckh (1877), 37–45; unter der Überschrift: »Bisherige Versuche«. Vgl. ferner Historik (L), 44–53; hier unter der Überschrift: »Frühere Versuche«. Vgl. z. B. Hegel (1986), Bd. 19, 132 f., 146 f. Vgl. Flashar (2004), 393: »Doch kann man generell auch für diese Sachgebiete [Poetik, Politik, Ethik, Ökonomik usw., C.H.] sagen, dass sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend mit den Kategorien des Aristoteles beschreibbar blieben. Mit der Französischen Revolution und vor allem der Philosophie Kants setzt noch einmal ein Traditionsbruch ein, so dass dem 19. Jahrhundert nach Hegel
210
Epilog
gab sehr wohl auch ein Bestreben um eine Aktualisierung der aristotelischen Philosophie, so dass die Hinwendung zu ihr nicht ausschließlich von einem historischen Interesse motiviert gewesen ist. So bezeugen z. B. die Elementa logices Trendelenburgs »Bemühen, aristotelische Positionen in die zeitgenössische philosophische Debatte einzubringen«, und in seiner Argumentation in den Logischen Untersuchungen stützte sich Trendelenburg dann derart auf die Elementa, »als würde er zeigen, dass er des Aristoteles Stimme seiner Zeit bzw. dass Aristoteles und Trendelenburg eins seien. Aristoteles war also wieder zeitgenössisch geworden«.34 Trendelenburg befragt Aristoteles als Dialogpartner im Kontext seines eigenen Philosophierens. Ähnliches trifft auf Gervinus zu, der sich in seinen Grundzügen der Historik an der Poetik des Aristoteles als maßgeblicher Schrift und Richtlinie orientiert. Auch die Aristoteles-Lektüre Heinrich Leos ist meines Erachtens – neben den anderen im ersten Kapitel aufgeführten Indizien – ein eindeutiger Beleg dafür, dass die aristotelische Philosophie en vogue war, da es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein Historiker aus bloßem Interesse heraus die Mühen einer Metaphyik-Lektüre auf sich nimmt. Ebenso hat Droysen auf Aristoteles zurückgegriffen, weil dieser eine hohe Anerkennung genoss. Meines Erachtens trifft das, was Ralph Marks und Alexander von Pechmann in Bezug auf Schelling schreiben, in gleichem Maße auf Droysen zu: [D]arüber hinaus besaß die aristotelische Philosophie [...] einen hohen Stellenwert, so daß der Rekurs auf sie einer großen Resonanz sicher sein konnte. In dieser Hinsicht ließe sich die Bezugnahme auf Aristoteles sogar als ein gelungener Schachzug verstehen, dem Projekt der negativen Philosophie eine Wirkung zu verschaffen, die ohne diesen Bezug wohl nicht hätte erwartet werden können.35
Allerdings war es im Falle Droysens nicht die negative Philosophie, sondern seine Geschichtstheorie, der er durch den Aristoteles-Bezug Aufmerksamkeit und Wirkung sichern wollte.36
_____________ 34 35 36
Aristoteles auf allen Gebieten zumeist nur noch als historische Größe gegenwärtig und von Interesse blieb.« Thouard (2009), 322 und 325. Marks/v. Pechmann (1991), 178. Und dass ihm seine Geschichtstheorie ausgesprochen wichtig gewesen ist, lässt sich aus zahlreichen Äußerungen schließen. Vgl. z. B. seine am 4. Juli 1867 in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Antrittsrede; BW II, 888–891, insbesondere 890 f.; aber auch seinen Brief an Alfred Dove Brief vom 16. Juli 1878; BW II, 930 ff., Zitat 930: »Vor allem danke ich Ihnen, daß Sie sich der Historik freundlich erinnern, die ich jetzt wieder einmal lese, und zwar mit dem größten Vergnügen und an der interessanten Aufgabe, die ich mir darin gestellt habe, weiterarbeitend.« Vgl. ferner seinen Brief an Eduard Bendemann vom 9. Juli 1883; BW II, 963 f., in dem Droysen bei Bendemann nachfragt, ob dieser schon den Grundriss der Historik besäße, weil er ihm diesen sonst schicken würde.
Anhang Statistische Erhebungen Die folgende Aufstellung gibt eine Übersicht über die von Droysen in der HistorikVorlesung am häufigsten genannten Namen. Die im Folgenden verwendeten Zahlen basieren auf der Addition der einzelnen Registereinträge der Historik-Editionen von Rudolf Hübner und Peter Leyh. In der Aufstellung wird unterschieden, wie häufig ein Name innerhalb des Vorlesungstextes (VL) genannt wird und wie häufig er in den jeweils bei Hübner und Leyh abgedruckten Grundrissen der Historik (G) erscheint – ohne hier noch einmal eine Binnendifferenzierung zwischen der Anzahl der Namensnennungen im Grundriss von 1882 und in den drei Beilagen vorzunehmen. Alle Namen, die innerhalb des Vorlesungstextes weniger als sechs Mal genannt werden, sind nicht in die Übersicht aufgenommen worden. Da man sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit auf die Registereinträge verlassen kann, beansprucht die folgende Aufstellung nur, einen ungefähren Anhaltspunkt zu liefern. Nur für Aristoteles habe ich die Registerangaben geprüft und die korrigierte Zahlenangabe in eckigen Klammern hinzugefügt. Das Register der LeyhEdition verzeichnet unter Aristoteles 23 Einträge. Eine Überprüfung hat aber ergeben, dass insgesamt acht Stellen nicht im Register aufgeführt sind und dass einer der Registereinträge ins Leere führt, so dass es sich also insgesamt um 31 Namensnennungen handelt.
212
Anhang
Auflistung der am häufigsten genannten Namen in alphabetischer Reihenfolge: Historik (H) Vorlesung Grundrisse Aischylos Alexander der Große Aristophanes Aristoteles Boeckh Cäsar Dante Demosthenes Friedrich der Große Gervinus Goethe Hegel Herodot Homer Humboldt, W. v. Kant Karl der Große Lessing Livius Luther Napoleon Niebuhr Platon Polybios Raffael Ranke Shakespeare Tacitus Thukydides
Historik (L) Vorlesung Grundriss Grundriss (1857/58) (1882)
5 26
2 2
15 17
– –
1 1
5 18 6 22 2 7 17
3 9 – 1 5 3 1
8 18 [23] 10 10 8 4 6
– 2 [5] – – 4 – –
1 3 – – – – 1
3 7 – 13 6 1 2 13 5 12 12 10 7 6 10 5 6 5 7 11
2 1 1 2 1 2 3 – 5 – 1 – 2 2 2 3 3 1 – 4
13 4 11 13 15 8 9 5 9 7 9 14 13 6 6 9 9 7 7 16
– – – – – 1 – – – 1 – – 1 – – – – – – –
2 1 1 – 1 2 1 – 3 – – – 2 2 3 2 1 1 – 3
213
Statistische Erhebungen
Auflistung nach der Häufigkeit der Nennung im Vorlesungstext Historik (H) Anzahl der Nennungen
Historische Persönlichkeiten
Autoren
1.
26
Alexander der Große
2.
22
Cäsar
3.
18
4.
17
Friedrich der Große
5.
13
Karl der Große
Herodot
6.
12
Luther
Livius
7.
11
8.
10
9.
7
Goethe / Niebuhr / Tacitus
10.
6
Boeckh / Platon / Ranke
Aristoteles
Thukydides Napoleon
Polybios
Historik (L) Anzahl der Nennungen
Historische Persönlichkeiten
Autoren und Bildende Künstler
1.
18 [23]
Aristoteles
2.
17
3.
16
Thukydides
4.
15
Aischylos / Homer
5.
14
6.
13
Gervinus / Herodot / Niebuhr
7.
11
Hegel
8.
10
Cäsar
Boeckh
9.
9
Luther
Lessing / Kant / Raffael / Ranke
10.
8
Aristophanes / Dante / W. v. Humboldt
11.
7
Livius / Shakespeare / Tacitus
Alexander der Große
Napoleon
214
Anhang
Schematische Darstellung der Gliederung der ersten Fassung der Systematik A. Die sittlichen Mächte natürliche Gemeinsamkeiten – Familie – Geschlecht und Stamm – Volk praktische Gemeinsamkeiten – Wirtschaft – Recht – Staat ideale Gemeinsamkeiten – Sprache – Kunst – Wissenschaft – Religion B. Der Mensch und die Menschheit § 17 Das Ich und die sittlichen Mächte § 18 Was ist geschichtlich? § 19 Die Epochen der Geschichte § 20 Das Bewegende und das Bewegte § 21 Kulturgeschichte § 22 Dialektik der Geschichte § 23 Die geschichtliche Arbeit und ihre Arbeiter
Gliederung der Systematik
215
Gliederung der Systematik ab dem Jahre 1858 I. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Stoffen1 das natürlich Gegebene a) die Natur b) der kreatürliche Mensch das geschichtlich Gewordene c) die gewordenen menschlichen Gestaltungen d) die menschlichen Zwecke II. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Formen natürliche Gemeinsamkeiten – Familie – [Nachbarschaft]2 – Geschlecht und Stamm – Volk ideale Gemeinsamkeiten – Sprache – Kunst – Wissenschaft – Religion – »Als dereinstige Vollendung: ›ein Hirt und eine Herde‹.«3 praktische Gemeinsamkeiten – [Sphäre der Gesellschaft]4 – Sphäre der Wohlfahrt (Wirtschaft) – Sphäre des Rechts – Sphäre der Macht (Staat) – »Als dereinstige Vollendung: der Tag des Herrn.«5 III. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Arbeitern IV. Die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken
_____________ 1
2 3 4 5
In der ersten handschriftlichen Fassung des Grundrisses von 1857/58 hatte Droysen beim Stoff nur zwei Unterpunkte unterschieden: a) »die Natur« und b) »die gewordenen menschlichen Gestaltungen«; vgl. Grundriss (1857/58), § 48, 408. Alle fünf nachfolgenden Grundrisse enthalten die oben wiedergegebene Gliederung. Diesen Punkt hat Droysen erst im Grundriss von 1868 eingeführt. Diesen Gliederungspunkt enthalten nur die ersten drei Grundrisse von 1857/58, 1858 und 1862. Diesen Aspekt hat Droysen ebenfalls erst 1868 eingeführt. Diesen Gliederungspunkt enthalten nur die ersten drei Grundrisse von 1857/58, 1858 und 1862.
216
Anhang
Siglen und Abkürzungen Siglen für die Werke Droysens: BW I / BW II
Hübner, Rudolf (Hg.), Johann Gustav Droysen Briefwechsel, 2 Bde., Berlin/Leipzig 1929 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 25 u. 26). Grundriss (1857/58) Droysen, Johann Gustav, »Grundriß der Historik. Die erste vollständige handschriftliche Fassung (1857 oder 1858)«, in: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 397–411. Grundriss (1858) Droysen, Johann Gustav, Grundriß der Historik, als Manuskript gedruckt, Jena 1858. Grundriss (1862) Droysen, Johann Gustav, Grundriß der Historik, als Manuskript gedruckt, Berlin 1862. Grundriss (1868) Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, Leipzig 1868. Grundriss (1875) Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, Leipzig 21875. Droysen, Johann Gustav, Grundriss der Historik, Leipzig 31882, Grundriss (1882) wieder abgedruckt in: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 415–488. Historik (H) Droysen, Johann Gustav, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, München (1937) 81977. Historik (L) Droysen, Johann Gustav, Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857) […], hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. KSAG Droysen, Johann Gustav, Kleine Schriften zur alten Geschichte, 2 Bde., hg. v. Emil Hübner, Leipzig 1893/1894.
Siglen und Abkürzungen
Für die Werke des Aristoteles werden folgende Abkürzungen verwendet: An. post Cat. De an. De int. De part. an. EN Met. Phys. Poet. Pol. Problem. phys. Rhet. Top.
Analytica posteriora Kategorien De anima De interpretatione De partibus animalium Nikomachische Ethik Metaphysik Physik Poetik Politik Problematica physica Rhetorik Topik
217
218
Anhang
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Personenregister
235
Personenregister Abeken, Wilhelm 166 Aischylos 13, 40, 44, 169 (m. Anm. 124), 172–175 (m. Anm. 140, 143), 206 (Anm. 20), 212 f. Alexander der Große 110 ff. (m. Anm. 27 f.), 172, 208 f. (Anm. 30), 212 f. Alexandrova, Donka 198 (Anm. 248), 199 (Anm. 252) Anaxagoras 46, 134 Andronikus von Rhodos 176 Aristophanes 44, 169 (m. Anm. 124), 172, 212 f. Aristoteles 1 et passim Astholz, Hildegard 10 f. (m. Anm. 40 f.), 87, 115 (Anm. 1), 121 (Anm. 28), 131 (Anm. 78), 136 f. (Anm. 111, 115 f.), 141 f., 201 Bachmann, Karl Friedrich 38 (Anm. 92) Bacon, Francis 18, 176 f. Bauer, Christoph Johannes 12 f., 115 (Anm. 1), 138 (m. Anm. 120) Baur, Ferdinand Christian 71 Beere, Jonathan 45 (Anm. 126), 116 f. (Anm. 6, 13) Beiser, Frederick 56, 66 Bekker, Immanuel 22–28 (m. Anm. 31, 33 f., 44), 35, 42 f., 51 ff., 59, 65, 206 Bendemann, Eduard 105, 210 (Anm. 36) Bergemann, Lutz 202 (Anm. 5), 207 f. (Anm. 23, 24) Berger, Johann Erich von 56 Bernhardy, Gottfried 41, 163 (Anm. 91), 166 (m. Anm. 107, 109) Beseler, Georg 69 Beseler, Hartwig 71 (Anm. 258) Beseler, Wilhelm Hartwig 69
Besier, Gerhard 69 f. (Anm. 254, 255) Bethmann Hollweg, Moritz August 69 Biese, Franz 36 ff. Blanke, Horst Walter 2 f., 5 ff. (Anm. 20 f.), 122 (Anm. 33), 130 (Anm. 72), 133 (Anm. 94), 169 (Anm. 127), 195 (Anm. 241) Boeckh, August 1, 18 (m. Anm. 10), 23 f., 26, 31, 41, 44–46 (m. Anm. 121 f.), 56–59 (m. Anm. 198), 67 (Anm. 242), 69 f., 88 (Anm. 46), 90, 109, 149 (m. Anm. 19), 165– 168 (m. Anm. 120), 206, 209 (Anm. 31), 212 f. Böhme, Hartmut 207 (Anm. 23) Boethius 190 Bonitz, Hermann 22, 26 ff. (m. Anm. 46 f.), 71, 72 (Anm. 266) Bopp, Franz 41 Brandis, Christian August 19, 22, 25 f. (m. Anm. 35, 38), 35, 51–56 (m. Anm. 187, 189), 58 f. (m. Anm. 203), 65 Brandt, Ahasver 80 (Anm.15) Bratuscheck, Ernst 28 (Anm. 47), 56–60 (Anm.194, 195 f., 199, 201, 203, 205–210) Brentano, Franz 12, 56, 67 Bresslau, Harry 5, 98 f. (Anm. 95), 100, 129 (m. Anm. 66), 147 f., 150 (Anm. 28), 152 (Anm. 43, 45 f.), 157 f. (Anm. 70 f., 73), 159, 177, 181 (Anm. 177) Bronstein, David 180 (Anm. 72) Buckle, Thomas Henry 6, 95 f., 177, 203 Bülow, Gottfried von 41 (Anm. 104), 42 (Anm. 109)
236 Buhle, Johann Gottlieb 18, 21 (m. Anm. 23, 25), 31–33 (m. Anm. 62, 65), 65 f. Bungarten, Hans 31 (Anm. 59) Bunsen, Karl 53 Buttmann, Philipp Karl 22 (Anm. 27), 24 (Anm. 33), 26 Cäsar 212 f. Caianiello, Silvia 13, 208 (Anm. 29) Casaubon, Isaac 20 (m. Anm. 18, 19), 27 Cicero 190 (m. Anm. 217), 192 Cohen, Hermann 56 Corcilius, Klaus 14 (Anm. 57), 18 (Anm. 4 ff.), 116 (Anm. 6), 123 (Anm. 41), 126 (Anm. 54), 128 (m. Anm. 64), 131 (Anm. 81) Cousin, Victor 37 (m. Anm. 84, 85) Dangel, Tobias 36 (Anm. 80) Dante Alighieri 96 (Anm. 84), 112, 212 f. Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand 66 Descartes, René 18 Detel, Wolfgang 77 (Anm. 4), 180 (Anm. 167, 169, 171) Diels, Hermann 34, 72 (m. Anm. 264, 266) Dilthey, Wilhelm 56, 70 Dindorf, Wilhelm 173 (Anm. 143) Dove, Alfred 10 (m. Anm. 40), 210 (Anm. 36) Droysen, Emma, geb. Michaelis 69 (m. Anm. 253) Droysen, Gustav 13 (Anm. 54) Droysen, Johann Gustav 1–15, 17 (m. Anm. 1), 30 f., 36 f. (m. Anm. 81), 40 f. (m. Anm. 103, 108), 43–47 (m. Anm. 115 f. , 119, 120, 137), 49 ff. (m. Anm. 161, 163), 56, 64, 68–71 (m. Anm. 252, 261), 75 et passim
Anhang
Düsing, Klaus 36 (Anm. 80) Duncker, Max 71 (Anm. 261) Du Val, Guillaume 20 f. (m. Anm. 19) Eberhard, Johann August 34 Eicheldinger, Martina 201 (Anm. 1) Engelmann, Wilhelm 19 (Anm. 14), 21 (Anm. 23) Engels, Friedrich 54 Engels, Johannes 198 (Anm. 249) Erasmus von Rotterdam 20 (m. Anm. 16) Erhard, Johann Benjamin 55 (m. Anm. 187) Eriugena, Johannes Scottus 141 (Anm. 136), 142 (m. Anm. 139) Ersch, Johann Samuel 191 (Anm. 223) Eucken, Rudolf 56, 67 f. Eusterschulte, Anne 162 (Anm. 89) Fabricius, Johann Andreas 191 (Anm. 223) Falcon, Andrea 77 (Anm.1) Ferrarin, Alfredo 35 f. (Anm. 75, 77, 78, 80, 82), 205, 207 (Anm. 21) Fichte, Johann Gottlieb 32, 45 f. (Anm. 127), 55 Fischbein, Wilhelm 70 (Anm. 255) Fischer, Katharina 118 (Anm. 17) Flashar, Hellmut 209 (m. Anm. 33) Flatscher, Matthias 156 (Anm. 66) Fleischer, Dirk 136 (Anm. 111) Forchert, Arno 169 (Anm. 127) Friedrich der Große 100, 212 f. Fülleborn, Georg Gustav 66 Fuhrmann, Manfred 155 (Anm. 61), 170 Fulda, Daniel 146 (Anm. 2) Gadamer, Hans-Georg 62 Garczyński, Stefan Florian 40 (Anm. 99)
Personenregister
Genelli, Hans Christian 173 (Anm. 144) Gerlach, Ernst Ludwig von 8 f., 14 (Anm. 56) Gervinus, Georg Gottfried 13, 145 ff., 149, 151 (Anm. 33), 164 (m. Anm. 99), 165, 195, 210, 212 f. Göschen, Johann Friedrich Ludwig 23 f. Goethe, Johann Wolfgang von 31, 161 (Anm. 84), 163 (Anm. 96), 168, 212 f. Göttert, Karl-Heinz 198 (Anm. 249) Goldmann, Stefan 190 (Anm. 215), 192 (Anm. 225) Gorgias 189 Grote, George 149 Gruber, Johann Gottfried 191 (Anm. 223) Gutenberg, Johannes 19 Gutschker, Thomas 75 (Anm. 276) Härung, Georg Wilhelm Heinrich 88 (Anm. 46) Halfwassen, Jens 36 (Anm. 80), 206 (Anm. 19) Halliwell, Stephen 154 (Anm. 56), 162 Hamberger, Georg Christoph 20 Hansen, Frank-Peter 63 (Anm. 230) Harnack, Adolf 22 f. (Anm. 29), 26 (Anm. 41), 71 (Anm. 259), 72 (Anm. 265) Harth, Dietrich 197 f. (m. Anm. 246, 248), 199 (Anm. 252) Hartmann, Nicolai 35 Hartung, Gerald 29 (Anm. 50, 51, 52, 53), 30, 37 (Anm. 86), 64, 67 (Anm. 241), 68 (Anm. 246), 73, 75 (Anm. 276) Hebekus, Uwe 194 (Anm. 240), 198 f. (Anm. 248, 252)
237
Hecquet-Devienne, Myriam 19 f. (Anm. 14, 15, 21) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 10, 12 f., 17 f. (Anm. 1), 20 ff. (Anm. 16, 18, 23), 30 (m. Anm. 57), 35–42 (m. Anm. 77, 81, 82, 83, 84, 92, 99), 46, 49, 56 ff., 62 f. (m. Anm. 227), 65 f., 73, 75, 83 (Anm. 24), 88 (Anm. 46), 94 (Anm. 72), 108 (Anm. 10), 109, 110–112 (m. Anm. 23, 25, 28), 115, 123, 124 (m. Anm. 45, 46, 48), 130 (Anm. 75), 136, 138, 143, 156 (Anm. 66), 162 ff., 177, 182, 191 (Anm. 222), 201, 203, 205 (m. Anm. 18), 206, 207 (m. Anm. 21), 208, 209 (m. Anm. 33), 212 f. Heidegger, Martin 68 Heinrici, Carl Friedrich Georg 54 (Anm. 184), 55 f. (Anm. 187, 190) Heinse, Johann Jakob Wilhelm 31 Hensel, Wilhelm 41 (Anm. 105) Herder, Johann Gottfried 31, 150, 156 (Anm. 66) Hermann, Gottfried 56, 59, 66 Herms, Eilert 34 (Anm. 72) Herodot 12 f., 40, 97, 147 f. (m. Anm. 9, 12 f.), 176, 178, 180 f. (m. Anm. 177), 188, 212 f. Herold, Norbert 133 Heubner, Heinrich Leonhard 192 Heydemann, Albert 36, 40–44 (m. Anm. 104–108, 115, 119), 71 (Anm. 261), 177 Heyne, Christian Gottlob 21, 58 (Anm. 200) Hobbes, Thomas 18 Höffe, Otfried 14 (Anm. 57), 54 (Anm. 182), 68 (Anm. 247), 116 f. (Anm. 11, 14, 16), 165 (Anm. 105), 187 (Anm. 207) Hoffmann, Max 44 (Anm.121)
238 Hoffmann, Samuel Friedrich Wilhelm 19 (Anm. 14), 20 (Anm. 19), 27 (Anm. 45), 74 (Anm. 274) Homer 13, 46, 212 f. Hotho, Heinrich Gustav 37 (Anm. 84), 162, 164 (m. Anm. 97) Hübner, Emil 6 Hübner, Marie, geb. Droysen 192 (Anm. 230) Hübner, Rudolf 1 ff., 91, 98, 100, 133, 175 f., 211 Hühn, Helmut 115 (Anm. 1), 125 (Anm. 53), 136 (Anm. 105), 142, 148 (Anm. 12) Humboldt, Wilhelm von 1, 10, 98 (m. Anm. 93), 125, 145 (m. Anm. 1), 148, 156 (Anm. 66), 164 (Anm. 98, 99), 177, 212 f. Hyperius, Andreas 192 Isokrates 189, 199 Jacobi, Friedrich Heinrich 32 Jaeschke, Walter 40 (Anm. 102) Jahn, Juliane, geb. Trendelenburg 69 (Anm. 253) Kablitz, Andreas 161, 163, 167 Käppel, Lutz 24 (Anm. 32) Kalivoda, Gregor 192 (Anm. 225 f.), 193 f. (Anm. 236, 239) Kann, Christoph 190 (Anm. 215), 192 (Anm. 225) Kant, Immanuel 18 (m. Anm. 10), 31–33, 38, 48 f., 55, 58 (Anm. 200), 60, 62, 73, 122 (m. Anm. 33 f.), 130 (m. Anm. 72), 134, 160 (Anm. 82), 174 f. (m. Anm. 150), 184 (Anm. 189), 199, 209 (Anm. 33), 212 ff. Karl der Große 212 f. Kern, Walter 36 (Anm. 80) Kierkegaard, Søren 43
Anhang
Kitzbichler, Josefine 40 (Anm. 103), 74 (Anm. 274), 169 (Anm. 124), 206 (Anm. 20) Kloeden, Wolfdietrich 47 (Anm. 134) Koch, Anton-Friedrich 118 (Anm. 19) Kocka, Jürgen 146 (Anm. 6) Köhnke, Klaus Christian 56 (Anm. 193), 61 (Anm. 221), 64 (Anm. 236) König, Georg Ludwig 58 (Anm. 200) Köppe, Manuela 20 (Anm. 16, 18), 21 (Anm. 23) Kränsel, Reinhard 67 (Anm. 243) Kraus, Otto 8 (Anm. 28, 29), 9 (Anm. 33 ff.), 14 (Anm. 56) Krause, Peter D. 191 (Anm. 222) Küpper, Joachim 154 (Anm. 56) Kukkonen, Taneli 17 (Anm. 3 f.), 18 (Anm. 5 f.) Kullmann, Wolfgang 87 (Anm. 41), 140 (Anm. 132) Lachmann, Karl 25, 26 (Anm. 40), 41, 53 Landfester, Manfred 196 (Anm. 127) Lausberg, Heinrich 198 (Anm. 249) Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 35 Leinkauf, Thomas 29 (Anm. 53), 54 (Anm. 181) Lemcke, Hugo 41 (Anm. 104, 106), 42 (Anm. 109) Leo, Heinrich 8 f., 13, 14 (Anm. 56), 36 (m. Anm. 83), 150, 206, 210 Lessing, Gotthold Ephraim 31, 65 f., 212 f. Leyh, Peter 2 ff., 7, 11, 81, 91, 98, 129, 150 (Anm. 28), 175 f., 195 (Anm. 241), 211 Ley-Hutton, Christine 147
Personenregister
Liske, Michael-Thomas 117 (Anm. 15), 183 (Anm. 184) Livius 212 f. Locke, John 38 Long, George 64 f. Lucke, Markus 46 (Anm. 133) Luther, Martin 9 (Anm. 32), 112, 137 (Anm. 114), 139, 212 f. Maimon, Salomon 43 (Anm. 112) Malink, Marko 177 (Anm. 157), 182 (Anm. 181) Manutius, Aldus 19 Marks, Ralph 29 (Anm. 53), 38 (Anm. 92), 53 (Anm. 177), 54 (Anm. 178), 210 Marx, Adolf Bernhard 169 (Anm. 127) Marx, Karl 54 Meckenstock, Günter 20 (Anm. 18), 21 (Anm. 23) Meineke, Johann Albert Friedrich August 26 (Anm. 40) Meisner, Heinrich 25 (Anm. 34, 37) Mendelssohn Bartholdy, Felix 41, 169 (m. Anm. 127) Merklin, Harald 186 (Anm. 200) Michaelis, Adolf 69 (Anm. 253), 71 (Anm. 258) Michaelis, Julie, geb. Jahn 69 (Anm. 253) Michaelis, Minna, geb. Trendelenburg 69 (Anm. 253) Michelet, Karl Ludwig 36–39 (m. Anm. 84, 88, 89), 88 (Anm. 46), 124 (Anm. 46), 209 Moritz, Karl Philipp 156 (Anm. 66), 163 (Anm. 96) Motschmann, Uta 24 (Anm. 33) Müller, Eduard 166 ff. (m. Anm. 110, 120) Müller, Johannes von 150 Müller, Karl Otfried 149, 166 Müller, Philipp 146 (Anm. 2)
239
Nagler, Karl Ferdinand von 58 Napoleon Bonaparte 100, 212 f. Niebuhr, Georg Barthold 13, 23, 25, 58, 65, 212 f. Nippel, Wilfried 3, 4 (Anm. 9), 6 (m. Anm. 20, 22), 202 (Anm. 3) Nipperdey, Thomas 146 (Anm. 6) Nitzsch, Gregor Wilhelm 68 (Anm. 252) Norkus, Zenonas 11 (Anm. 42), 12 f., 82 (Anm. 20), 103, 141 (Anm. 143) Nun, Katalin 43 (Anm. 114) Oehler, Klaus 43 (Anm. 112) Olshausen, Justus 69 Ostheeren, Klaus 190 (Anm. 216), 192 (Anm. 225, 226) Pandel, Hans-Jürgen 1 (Anm. 2), 8 (Anm. 28), 11 ff., 82 (Anm. 20), 85 (m. Anm. 32 ff.), 103 (Anm. 108), 145, 148 (Anm. 12), 167 f., 176, 178–182, 185, 188, 199 (Anm. 254) Paulsen, Friedrich 56, 67 Pechmann, Alexander von 29 (Anm. 53), 38 (Anm. 92), 53 (Anm. 177), 54 (Anm. 178), 210 Perthes, Friedrich 46 Petersen, Christian 58 (m. Anm. 201), 69 Petersen, Peter 18 (m. Anm. 10), 21 (Anm. 22, 24), 29, 30 (m. Anm. 57), 32 (Anm. 61) Pflaum, Christian 5 (m. Anm. 17), 11 Philippe, Marie-Dominique 19 (Anm. 14) Phrynichos 173 (Anm. 142) Platon 10, 18, 20, 22, 24, 31 f., 33 (Anm. 70), 34, 44 f., 49 ff., 52 (Anm. 168), 54, 55 f. (Anm. 190), 57 f., 60, 70 (Anm. 255), 73, 75,
240
Anhang
83 (Anm. 24), 84 (Anm. 26), 88 (m. Anm. 46), 91 (Anm. 62), 124 (m. Anm. 48), 125 f., 161, 165 f., 179, 189, 212 f. Polybios 212 f. Pozzo, Ricardo 29 (Anm. 53) Prantl, Carl 19, 47 (Anm. 134), 56, 67 Preller, Ludwig 47 Primavesi, Oliver 186 (Anm. 204 f.), 190 (Anm. 215) Quintilian
193
Raffael 212 f. Ramus, Petrus 33 Ranieri, Filippo 190 (Anm. 218, 220) Ranke, Leopold (von) 51, 59, 145, 146 (Anm. 2), 150, 212 f. Rapp, Christof 14 (Anm. 57), 18 (Anm. 4 ff.), 116 (Anm. 6), 154 (Anm. 56), 161, 166 (Anm. 106), 167, 178 (Anm. 159 f.), 183 (Anm. 184), 186 (Anm. 200– 203), 187 (Anm. 206, 208), 189 (Anm. 214), 200 (Anm. 256) Rassow, Peter 11 (Anm. 43), 115 (Anm. 1), 133 (m. Anm. 93) Ravagli, Lorenzo 129 (Anm. 129) Ravaisson, Félix 37 Rehm, Friedrich 90 (m. Anm. 54), 146 (Anm. 5) Reimer, Georg Andreas 22, 28 Reinhold, Karl Leonhard 56 Reiz, Friedrich Wolfgang 66 Rhode, Gisela 74 (Anm. 174) Ritter, Carl 1 Ritter, Heinrich 1, 33, 41, 46, 47 (m. Anm. 137 f.), 48 (m. Anm. 146), 49, 50 (m. Anm. 159), 51 ff., 61, 70 (Anm. 257), 74 (Anm. 275), 151 (Anm. 33), 163 (Anm. 91), 177, 206
Rose, Valentin 22, 26 Rothacker, Erich 6, 176 Rousseau, Jean-Jacques 48 Rüsen, Jörn 154 (Anm. 54 f.), 194 (Anm. 238), 196 (Anm. 244) Ružička, Rudolf 182 (Anm. 179) Saupe, Achim 196 (Anm. 244), 198 (Anm. 248), 199 (Anm. 252 f.) Schanze, Helmut 194 (Anm. 240) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 29 (Anm. 53), 32, 38 (Anm. 92), 52, 53 (m. Anm. 177), 54 (m. Anm. 178), 64, 163 (Anm. 96), 210 Schieder, Theodor 153 (m. Anm. 53), 154 (Anm. 54), 188 (Anm. 209) Schiffer, Werner 153 (Anm. 52), 154 (Anm. 55), 194 (Anm. 238) Schiller, Friedrich 145 (m. Anm. 1) Schirren, Thomas 188, 189 (Anm. 212) Schlegel, Friedrich 201 (Anm. 1) Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 10, 18 (m. Anm. 10), 20 (m. Anm. 18), 21 (Anm. 23), 22 ff. (m. Anm. 33), 25 (m. Anm. 34, 38), 26, 31, 33, 34 (m. Anm. 72), 35, 38, 40, 44, 46, 47, 53, 54, 56, 57, 65, 75 Schmitt, Arbogast 169 (Anm. 123), 175 (Anm. 150) Schnädelbach, Herbert 56 (Anm. 192) Schneider, Johann Gottlob 65, 66 Schneider, Ulrich Johannes 19 (Anm. 13), 37 (Anm. 88), 51 (Anm. 165), 59 (Anm. 208), 72 ff. (m. Anm. 272) Schöll, Adolf 173 (Anm. 144) Schoeps, Hans-Joachim 36 (Anm. 83) Scholz, Gunter 47 (Anm. 134)
Personenregister
Schröder, Jan 190 (Anm. 219 f.) Schröder, Wilt Aden 19 (Anm. 15), 23 (Anm. 31), 25 (Anm. 35 f.), 26 (Anm. 41), 27 (Anm. 43), 72 (Anm. 264) Schütrumpf, Eckart 110 (Anm. 19, 21, 24) Schwietring, Thomas 134 (Anm. 96) Seifert, Sabine 57 (Anm. 197 f.), 58 Shakespeare, William 212 f. Siep, Ludwig 36 (Anm. 80) Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 46 Spalding, Georg Ludwig 66 Spinoza, Baruch de 74 (Anm. 272), 112 Sprute, Jürgen 189 (Anm. 211) Stahr, Adolf 18, 29 (Anm. 49), 42, 43 (Anm. 113) Staudenmeier, Franz Anton 138, 139 (Anm. 125) Steinmeyer, Emil Elias (von) 192 (Anm. 230) Steinmeyer, Franz Karl Ludwig 192–195 Stewart, Jon Bartley 43 (Anm. 114) Stracks, Friedrich 201 (Anm. 1) Streckfuß, Karl 96 (Anm. 84) Studemund, Wilhelm Friedrich Adolf 42 (Anm. 109) Süßmann, Johannes 145 (Anm. 1), 146 (Anm. 2) Süvern, Johann Wilhelm 26 Sybel, Heinrich von 149 (m. Anm. 22) Tacitus 44, 212 f. Theiler, Willy 72 (Anm. 263), 128 (Anm. 65) Thespis 173 (Anm. 144) Thom, Paul 182 (Anm. 179) Thouard, Denis 18 (Anm. 11), 29 (m. Anm. 52 f.), 30 (m. Anm. 54),
241
34 (Anm. 73), 56 (Anm. 191), 210 (Anm. 34) Thukydides 13, 212 ff. Torstrik, Adolf 72 (m. Anm. 263) Trendelenburg, Friedrich Adolf 12, 18 (Anm. 10), 19, 27, 28 (Anm. 47), 29 (Anm. 53), 30, 50–54, 56–72 (m. Anm. 198, 263), 75, 81 (Anm. 19), 116, 119–122, 124, 135 (Anm. 101), 136, 142 f., 151 (Anm. 33), 206, 208 (Anm. 30), 209 f. Trendelenburg, Friedrich Wilhelm 69 (Anm. 253) Trzeciok, Peter 172 (Anm. 139) Twesten, August Detlev 53–56 Usener, Hermann 22, 26 Vahlen, Johannes 71 Vater, Johann Severin 66 Veit, Walter F. 182 (Anm. 178, 180) Wachsmuth, Wilhelm 31, 90 (Anm. 54), 145 (m. Anm. 2), 146 (Anm. 5), 160 (Anm. 82), 202 (m. Anm. 4) Wagner, Friedrich Wilhelm 20 (Anm. 20), 21 (Anm. 24) Wagner, Hans 77 (Anm. 3) Wagner, Richard 169 (m. Anm. 127) Wagner, Tim 178 (Anm. 160), 183 (Anm. 184), 186 (Anm. 200, 203, 204), 187 (Anm. 206, 208), 190 (Anm. 216), 191 (Anm. 221), 194 (Anm. 240) Walz, Christian 166 Wandel, Georg 42 (Anm. 109) Wannack, Katja 8 (Anm. 28), 9 (Anm. 36), 11 (Anm. 43) Weber, Max 26 Weidemann, Hermann 79 (Anm. 11)
242 Weise, Carl Hermann 27 f. Welcker, Friedrich Gottlieb 173 (Anm. 144) Wellmann, Eduard 47 (Anm. 136) Welsch, Wolfgang 14 (Anm. 57), 17 (Anm. 2), 104 (Anm. 115), 156 (Anm. 66), 187 (Anm. 207) White, Hayden 11 (m. Anm. 42) Wieland, Wolfgang 134 (Anm. 98) Wilken, Friedrich 26 (Anm. 40) Wolf, Friedrich August 24, 31, 66 Wolff, Caspar Friedrich 134 (Anm. 99) Zell, Karl 39, 42 f., 65 f. Zeller, Eduard 33, 39, 47, 50, 52, 71 (m. Anm. 260, 261), 72
Anhang