Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz: Johann Gustav Droysens Aristophanes-Übersetzung (1835/38) 9783110258172, 9783110258158

Aristophanes’ comedies were translated into German late, not least on account of their obscene humor and allusions to co

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German Pages 290 [292] Year 2014

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
1. Übersetzen und historische Hermeneutik: Historische und methodische Voraussetzungen
2. Aristophanes: Zu Rezeption und Übersetzbarkeit
3. Johann Gustav Droysen
4. Übersetzungsanalyse
5. Erfolg und Wirkung
6. Schluss: Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz
7. Anhang
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Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz: Johann Gustav Droysens Aristophanes-Übersetzung (1835/38)
 9783110258172, 9783110258158

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Josefine Kitzbichler Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz

Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 30

De Gruyter

J osefine Kitzbichler

Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz Johann Gustav Droysens Aristophanes-Übersetzung (1835/38)

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025815-8 e-ISBN 978-3-11-025817-2 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo "Transformationen der Antike": Karsten Asshauer - SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gättingen @ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung Die vorliegende Studie wurde im Oktober 2009 an der Philosophischen Fakultät 11 der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation eingereicht und für den Druck noch einmal überarbeitet und aktualisiert. Die Konzeption der gesamten Studie und Manuskripte zu einzelnen Teilen lagen bereits vor, als ich Mitarbeiterin im Projekt »Übersetzung der Antike« des Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike« wurde; der größere Teil der Niederschrift erfolgte dann parallel zu den Arbeiten des SFB-Projekts, mit denen vorliegende Studie naturgemäß mannigfache Berührungen aufweist. Insbesondere das erste Kapitel (Übersetzen und historische Hermeneutik) verdankt der im SFB vorgenommenen Aufarbeitung der Übersetzungstheorie seit 1800 vieles; es konnte kurz gehalten werden, weil für die hier behandelten Zusammenhänge auf die aus dem SFB-Projekt hervorgegangenen Publikationen verwiesen werden kann.! Wie jede Arbeit, die sich mit Übersetzungen befasst, so ist auch diese in einem Raum vielfältiger interdisziplinärer Schnittstellen angesiedelt, was die Markierung von Grenzen und die Benennung der Erkenntnisinteressen um so notwendiger erscheinen lässt. Die vorliegende Untersuchung ist in erster Linie als Beitrag zur Übersetzungsgeschichte nach dem Ende der Goethezeit konzipiert; ihren Kern bilden Kapitel3, in dem die Genese von Droysens Aristophanes-Übersetzung sowohl biographisch als auch theoretisch kontextualisiert wird, und Kapitel 4, das eine Analyse und Interpretation des Übersetzungstexts bietet. Dagegen können Spezialfragen zur Dramenübersetzung und zur Übersetzung von Komik hier nicht vertieft werden, und auch das große und bedeutende Feld der Aristophanesrezeption und -transformation in Literatur und Drama des Vormärz wird eher kursorisch behandelt (Kapitel 2.2). Noch einige praktische Hinweise: Zitate aus Droysens Übersetzungen werden nicht mit Seiten-, sondern mit Versangaben nachgewiesen und folgen, sofern nicht anders angegeben, den jeweiligen Erstdrucken von 1832 (Aischylos) bzw. 1835/ 1837/1838 (Aristophanes). Die Verszählung Droysens stimmt dabei fast immer mit der Zählung in der Aristophanes-Ausgabe von Dindorf (1830) überein, die Droysens wichtigste Textvorlage war und deshalb hier auch allen Zitaten aus dem griechischen Text zu Grunde gelegt wurde. Zitate aus anderen Aristophanes-Übersetzungen (vor allem aus denen von Johann Heinrich Voß und Ludwig Seeger) werden ebenfalls mit Versangabe, nicht mit Seitenzahl nachgewiesen. Primärliteratur wird zur besseren zeitlichen Orientierung in den Fußnoten stets mit der Jahreszahl des Erstdrucks angegeben, auch wenn aus Nachdrucken zitiert wird; die vollständigen biblio-

Vgl. vor allem Kitzbichler /Lubitz/Mindt (2009a) und (2009b).

VI

Vorbemerkung

graphischen Angaben können jeweils dem Literaturverzeichnis entnommen werden. Droysens Schriften werden in den Fußnoten ohne Verfasserangabe, nur mit Titel und Jahreszahl nachgewiesen und können ebenfalls über das Literaturverzeichnis erschlossen werden. Droysens Übersetzungen werden zitiert als: Aischylos (1832) bzw. Aristophanes (1835/37/38). Andere erwähnte oder zitierte Übersetzungen sind im Literaturverzeichnis unter dem Namen des Übersetzers zu finden. Bei Darstellung der Metrik werden die in der griechischen Verslehre üblichen Zeichen auch für deutsche Verse angewendet: Betonte Silben werden durch »-« wiedergegeben (anstatt beispielsweise durch »x«), unbetonte in der Regel durch »~« (anstatt durch »x«; echte Kürzen), manchmal aber auch durch »-«, wenn es sich nämlich um in der Senkung des Verses stehende »lange« Silben handelt (in der Terminologie von Voß: »tieftonige Längen«; entspricht oft annähernd »x«). Angesichts der hochkomplexen Verhältnisse, die bei deutscher Nachbildung antiker Verse herrschen, führt diese Vereinheitlichung zwangsläufig zu starker Vereinfachung, was indessen im Interesse der besseren Lesbarkeit in Kauf genommen wird. Schließlich bleibt mir noch die angenehme Pflicht, allen zu danken, die Anteil am Entstehen der vorliegenden Untersuchung hatten. Mein herzlicher Dank gilt an erster Stelle den Betreuern, Prof. Dr. Ernst Osterkamp und Prof. Dr. Wolfgang Rösler, nicht zuletzt für ihre große Geduld bei der Begleitung meiner Arbeit. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Ulrich Schmitzer, der zusammen mit Prof. Rösler die Projektleitung im SFB innehatte. Viele Anregungen verdanke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Prof. Osterkamp. Das gleiche gilt für die Kolleginnen und Kollegen im Projekt und im SFB; stellvertretend für die vielen anderen seien hier genannt: Enrica Fantino, Katja Lubitz und Dr. Nina Mindt, Dr. Roland Baumgarten und Dr. Thomas Poiss, sowie Christiane Hackel für zahlreiche »Droyseniana«. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den Gutachtern Prof. Dr. Friedmar Apel und Prof. Dr. Bernhard Zimmermann, sowie dem Verlag De Gruyter. Schließlich sei Sarah Scherf und Julia Serien für zuverlässige Hilfe bei der Herstellung von Druckmanuskript und Register und beim Lesen der Korrekturen gedankt.

Berlin, im Januar 2014 Josefine Kitzbichler

Inhalt Vorbemerkung ........................................................................................................... V 1.

1.1 1.2 2. 2.1 2.1.1 2.1.2

Übersetzen und historische Hermeneutik: Historische und methodische Voraussetzungen ......................................................................................................... 1 Übersetzen zwischen Voß und Wilamowitz ......................................................... 3 Zur Fragestellung .................................................................................................... 10

2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

Aristophanes: Zu Rezeption und Übersetzbarkeit ........................................... Paradigmen der Rezeption .................................................................................... »Nicht hinlänglich verbundene Theile«. Zur Form der Alten Komödie .... »Dass mit der Aristophanischen Art des Spottes Gesinnung nicht vereinbar sei«. Namentliche Verspottung, Aischrologie ........................................ »Schmutzige Dinge«. Die obszöne Sprache ..................................................... Aristophanes in der Goethezeit und im Vormärz .............................................. Literatur .................................................................................................................... Philologie .................................................................................................................. Übersetzung .............................................................................................................

13 19 19 23 27 32 33 39 43

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

Johann Gustav Droysen ......................................................................................... Biographische Kontexte ......................................................................................... Droysens andere Übersetzungen: Aischylos, Cicero ......................................... Die erste Fassung der Vögel .................................................................................... Der Hermokopiden-Aufsatz ................................................................................. DroysensAristophanes-Auffassung ...................................................................... Entstehung, Hilfsmittel, Druck ........................................................................... Theoretische Kontexte ........................................................................................... Die 1830er Jahre: Philologie, Philosophie, Geschichte, Poesie ...................... Zu Droysens Auffassung von Geschichte und Sprache .................................... Zu Droysens Übersetzungskonzept .....................................................................

53 56 56 60 66 69 77 83 84 89 98

4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3

Übersetzungs analyse ............................................................................................. Vergleichskategorien ............................................................................................. Strategien mimetischen Übersetzens ................................................................. Nichtmimetische und antikIassizistische Strategien ....................................... Übersetzen als historische Arbeit? .....................................................................

109 112 112 118 130

VIII

Inhalt

4.2 Textbeispiele .......................................................................................................... . 4.2.1 Die Vögel (1835) .................................................................................................. .. Beispiel 1: V. 1-26 (Dialog Rathefreund I Hoffegut) .................................... . Beispiel 2: V. 227-262 (Lied des Tereus) ........................................................ .. Beispiel 3: V. 1199-1237 (Dialog Rathefreund/Iris) .................................. .. 4.2.2 Die Wespen (1837) ............................................................................................... . Beispiel 4: V. 15-45 (Dialog Sosias/Xanthias) .............................................. . BeispielS: V. 488-507 (Hasskleons Rede) ...................................................... . 4.2.3 Die Frösche (1838) .............................................................................................. .. Beispiel 6: V. 323-353 (Einzugshymnos des Chors) .................................... .. Beispiel 7: V. 814-829 (Strophisches Chorlied) ............................................ . Beispiel 8: V. 1281-1322 (Wettstreit zwischen Aischylos und Euripides) .. ..

138 139 140 147 154 160 161 167

171

173 177 182

5. 5.1 5.2

ErfolgundWirkung ............................................................................................. 191 Aufnahme durch die Kritik ................................................................................. 191 Auflagen und Nachdrucke ................................................................................... 195

6.

Schluss: Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz ......................... 197

7. 7.1

Anhang .................................................................................................................... Synopse der Übersetzungs beispiele .................................................................... Beispiel 1: V. 1-26 (Dialog Rathefreund I Hoffegut) ..................................... Beispiel 2: V. 227-262 (Lied des Tereus) .......................................................... Beispiel 3: V. 1199-1237 (Dialog Rathefreund/Iris) .................................... Beispiel 4: V. 15-45 (Dialog Sosias/Xanthias) ............................................... BeispielS: V. 488-507 (Hasskleons Rede) ....................................................... Beispiel 6: V. 323-353 (Einzugshymnos des Chors) ...................................... Beispiel 7: V. 814-829 (Strophisches Chorlied) ............................................. Beispiel 8: V. 1281-1322 (Wettstreit zwischen Aischylos und Euripides) .... Literaturverzeichnis .............................................................................................. Droysens Aristophanes-Übersetzung: Auflagen und Nachdrucke ............... Schriften Droysens ................................................................................................ Aristophanes: Verwendete Textausgaben und Kommentare ......................... Aristophanes: Andere Übersetzungen ............................................................... Andere Literatur ................................................................................................... Personenregister .................................................................................................... Sachregister ............................................................................................................

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.3 7.4

203 203 204 210 214 222 228 232 236 240 246 246 247 252 253 257 274 279

1.

Übersetzen und historische Hermeneutik: Historische und methodische Voraussetzungen

Noch bevor Droysen mit der GeschichteAlexanders (1833) zuerst als Historiker an die Öffentlichkeit trat, legte er 1832 eine Übersetzung sämtlicher Tragödien und der Fragmente des Aischylos vor. Es folgten 1835/1837/1838 in drei Bänden die Komödien des Aristophanes. Beide Übersetzungen erfuhren schon zu Droysens Lebzeiten mehrere Neuauflagen und sind bis in die Gegenwart hinein bekannt und erfolgreich geblieben. l Allerdings haben sie dabei sehr verschiedene, ja konträre Bewertungen erfahren. Man kritisierte einerseits, dass Droysen sich zu weit vom griechischen Text entfernt habe, dass er »etwas zu sehr in das Moderne hinüber«2 streife, mehr »selbstthätiger Dichter«3 denn Übersetzer sei, man verdächtigte ihn gar, der griechischen Tragödie eine preußisch-wilhelminische» Uniform«4 verpasst zu haben. Andererseits stellte man ihn in die strenge Tradition der klassizistischen und romantischen Übersetzung, nannte ihn zusammen mit den »großen, gefeierten Namen eines Voß, Wolf, Solger, Thiersch«5 und sah seine Übersetzungen durch »philologische Orthodoxie«6 charakterisiert. Oder man glaubte schließlich, bei Droysen eine »sprachgewaltige

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Zu Neuauflagen und späteren Drucken der Aristophanes-übersetzung siehe unten S. 195 f. So der Philologe und Pädagoge Karl Friedrich Borberg 1842 über Droysens Aischylos-übersetzung, in: Borberg (l.Abt., Bd.l, 1842),445. Borberg war Herausgeber der Anthologie Hellas und Rom, in der auch Droysens übersetzung des Aristophanischen Plutos nachgedruckt wurde; siehe das Literaturverzeichnis, Kapitel 7.2.l. Dies schrieb der Jurist Herbert Pernice 1856 im Vorwort zu seiner zweisprachigen Ausgabe der Frösche über DroysensAristophanes; Pernice (1856), VI. Heiner Müller sprach 1991 im Zusammenhang seiner übersetzung von Aischylos' Persern, die auf der Grundlage einer Interlinearversion von Peter Witzmann entstanden war, von den »gängigen wilhelminischen [sc. übersetzungen] der Droysen und Wilamowitz und ihrer Nachfolge«, die den Autoren »die Uniform der Zeit« angezogen hätten; Müller (1991),14. - Natürlich war Droysen (1808-1884) kein »Wilhelminer«: Er war 40 Jahre älter als Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und starb vier Jahre vor dem Regierungsantritt Wilhelms H. Ludwig Seeger grenzte sich 1845, als er seine eigene Aristophanes-übersetzung vorlegte, spöttisch gegen die klassizistisch-romantische Tradition ab: »Aber dürfen wir es wagen, die großen, gefeierten Namen eines Voß, Wolf, Solger, Thiersch, Droysen u.s.w. zu verunglimpfen? haben sie nicht durch ihre allbekannten Uebertragungen sich ein unsterbliches Verdienst um das Verständniß der Alten erworben? - Sicher! Wer könnte das läugnen?«; Seeger (1845), 6. Zu Seeger vgl. auch unten S. 47 ff. Der Dramaturg und Publizist Klaus Völker würdigte 2002 Durs Grünbeins übersetzerische Arbeit, indem er Grünbein von Droysen abhob: »Und dennoch bemüht er [sc. Grünbein] keinerlei philologische Orthodoxie, kein Droysentum «; Text und Kritik: Durs Grünbein (2002), 45.

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Übersetzen und historische Hermeneutik

Mittlerstellung«7 zwischen neuhumanistischem und modernem Übersetzen zu erkennen. Diese Uneinigkeit, die unter Droysens Zeitgenossen und bei seinen späteren Lesern immer wieder begegnet, ist auffällig und wirft Fragen auf: Ist sie einfach das Resultat leichtfertiger Kritik? Hängt sie mit unterschiedlicher Instrumentalisierung von Droysens Namen zusammen? Verweist sie auf wirkliche Ungleichmäßigkeiten in den Übersetzungen, vielleicht auf ihre Zugehörigkeit zum, wie Nippel schrieb, »genialischen«8 Jugendwerk des späteren Historikers? Oder ist sie Folge übersetzungsgeschichtlicher Diskontinuitäten nach dem Ende der Goethezeit ? Diesen Fragen will die vorliegende Arbeit, die Droysens Aristophanes-Übersetzung im Zusammenhang der Geschichte des literarischen Übersetzens betrachtet, vor allem nachgehen. Daneben berücksichtigt sie auch rezeptionsgeschichtliche Aspekte und versucht, Droysens Stellung zu den deutschen »Aristophaniden«9 des Vormärz genauer zu konturieren, also zu jenen Schriftstellern, die im Zuge einer Politisierung der Literatur in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Komödien des Aristophanes als literarisches Modell neu entdeckten. Und schließlich will sie einen Beitrag zur Kenntnis des jungen Droysen, insbesondere zur Entfaltung seines Geschichtsdenkens in den dreißiger Jahren, leisten. Um den übersetzungsgeschichtlichen Rahmen zu verstehen, ist es zunächst nötig, auf die sich wandelnden Übersetzungskonzepte und die Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsproblem im Verlauf des 19. Jahrhunderts einzugehen.

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Der Musikkritiker Friedrich Hommel schrieb 1963 in Theater heute: »>StandardAristophanes und sein Zeitalter< an; vor 50 Jahren mußte ich es noch tun, um die Studenten gegen diesen schulmeisterlichen Tiefsinn immun zu machen.« Zit. n. Holtermann (2004), 110 (Anm.). - In ähnlicher Weise bezeugte Süss (1911), 141, die anhaltende Wirkung Hegels auf die Aristophanes-Interpretation: »Die geschichtsphilosophischen Kulissen Hegels stehen, wenn auch stark verblaßt, bis auf den heutigen Tag, wovon sich jeder überzeugen kann, der irgend ein Handbuch oder eine Einleitung zu dieser oder jener Komödie einsieht. « 120 Vgl. unten S. 90 (Anm.183) und passim. 121 Aristophanes (Bd.1, 1835), V.

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Aristophanes

der »Rekontextualisierbarkeit«122 der Texte in der Zielkultur. Als Schulautor spielte Aristophanes allein schon wegen seiner Obszönitäten im 19. Jahrhundert allenfalls eine marginale Rolle,123 als Bühnenautor wurde er überhaupt erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. 124 So zeichnen sich für die hier betrachtete Zeit im Wesentlichen zwei Möglichkeiten neuer Kontextualisierung ab: Die eine richtet sich eher auf die Sprachgestalt der Stücke, die andere eher auf das (politische) Wirkungspotenzial der Gattung. Dementsprechend versuchten einige Übersetzer, allen voran Voß, zu zeigen, dass das Prinzip mimetischer und metrischer Übersetzung, wie es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert anhand der Homerischen Epen und der Tragiker entwickelt worden war, sich auch auf Aristophanes übertragen ließ. Andere, wie Ludwig Seeger, wollten mit ihren Übersetzungen dazu beitragen, die Komödien als Bestandteil der und Modell für die deutsche Literatur und Dramatik zu gewinnen. Beide Ansätze mussten einander jedoch nicht unbedingt ausschließen, sondern konnten in unterschiedlichen Gewichtungen auch gemeinsam vorliegen. Aufs Ganze gesehen, standen die Aristophanes-Übersetzungen des 19. Jahrhunderts aber im Spannungsfeld zwischen Nachvollzug des antiken Texts einerseits und Wirkungsabsicht in der Gegenwart andererseits, zwischen philologischen und literarisch-politischen Interessen, neoklassizistischen und antiklassizistischen Intentionen. Die früheste deutsche Aristophanes-Übersetzung - die Wolken des Magister Isaak Fröreisen - wurde 1613 in Straßburg gedruckt, deutlich später als die ersten Übersetzungen lateinischer Komödien,125 aber nur wenige Jahre nach den ersten deutschen Sophokles- und Euripides-Ausgaben 126. Nach diesem singulär bleibenden Vorläufer begann die eigentliche Übersetzungsgeschichte dann sehr schleppend in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wobei zunächst einzig die in Johann Eustachius Goldhagens Griechischer und römischer Anthologie erschienenen Stücke (Plutos, Frieden und Wolken, 1767/68), die Frösche von Johann Georg Schlosser (1783) und die Wolken von Christian Gottfried Schütz (1784) eine größere Bekanntheit erlangten. 127

122 123 124 125

Wilss (1977), 55. Zu Aristophanes als Schulautor im 19.Jahrhundertvgl. Holtermann (2004), 306-312. Vgl. oben S. 22 (Anm. 31). Zuerst wohl: Ein schöne lüstige Comedia des Poeten Plauti, Aulularia genant, Durch Joachimum Greff von Zwickaw Deudsch gemacht und inn reim verfosset (Magdeburg 1538) und Andria. Des Terentii Comoedia deudsch gemacht, und in Reime verfasset. Durch Henricus Ham (Magdeburg 1535). 126 Die ersten übersetzungen sind wohl die von Wolfhart Spangenberg: Alcestis. Eine Tragoedia, Darinnen ein Exempel Trewhertziger Liebe zwischen rechten Ehleuten vorgebildet wird [. ..}, Straßburg 1604; Hecuba. Ein klägliche Tragoedia des Fürtrif/lichen Griechischen Tragoedien Schreibers Euripidis, Straßburg 1605; Ajax Lorarius. Ein Heydnische Tragoedia von dem griechischen Poeten Sophocle, Straßburg 1608. - Diese Übersetzungen waren, wie die Wolken des Magister Fröreisen, für Aufftihrungen im Straßburger Akademischen Theater angefertigt worden; dort war es üblich, griechische Stücke in lateinischen Fassungen aufzuführen und für den Teil des Publikums, der nicht über ausreichende Lateinkenntnisse verfügte, deutsche Texte zum Nachlesen anzubieten. 127 Vollständige bibliographische Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. - Zum Beginn der Geschichte der Aristophanes-übersetzung und insbesondere zur Übersetzung von Johann Justus Herwigvgl. Lubitz (2009).

Aristophanes in der Goethezeit und im Vormärz

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Als eigentliche Pionierleistung müssen (ähnlich wie im Fall Shakespeares) die Übersetzungen Wielands gelten, auch wenn sie später von anderen Fassungen verdrängt wurden und weitgehend in Vergessenheit gerieten. In welchem Maß Wielands Arbeiten tatsächlich Pionierarbeiten darstellten, verdeutlicht ein Brief Schillers aus dem Jahr 1794, in dem dieser seine Vorbehalte gegen Übersetzbarkeit des Aristophanes und den Bedarf an deutschen Ausgaben zum Ausdruck brachte: Hr. wieland arbeitet gegenwärtig an einer Übersetzung des Aristophanes, und ich glaube, der erste Band wird schon in dieser Messe erscheinen. Und doch ist Aristophanes bei weitem weniger übersetzbar und weniger bey dem Publicum empfohlen, als die tragischen Dichter, die also gewiß noch 2mal mehr als Aristophanes eine Verdeutschung verdienen. 128

Wieland übertrug zuerst die Achamer (1794), die zu dieser Zeit noch überhaupt nicht auf Deutsch vorlagen. Er charakterisierte seine Arbeit im Titel als »Versuch einer metrischen Übersetzung«: Zum ersten Mal seit den Knittelversen in Fröreisens Wolken wurden hier die Dialoge nicht in Prosa wiedergegeben. Allerdings bildete Wieland auch nicht die Metren der Vorlage nach, sondern übersetzte die griechischen Trimeter in deutsche Blankverse. (Später sorgte er als Mitherausgeber des Neuen Attischen Museums dafür, dass die erste im eigentlichen Sinn versgetreue Aristophanes-Übersetzung, die Frösche des Tübinger Philologen Karl Philipp Conz, zum Druck kamen). Es folgten die Ritter (1798, ebenfalls bis dahin noch nie übersetzt), diesmal mit dem Titelzusatz »oder die Demagogen«, bei denen Wieland dezidiert politisches Verständnis erkennen ließ, und schließlich die beiden damals bekanntesten Stücke: die Wolken (1798) und die Vögel (1806). Diese Übersetzungen gehören dem Spätwerk Wielands an; sie profitierten auch vom Ruf Wielands als Übersetzer des Shakespeare (1762), Horaz (1781/86) und Lukian (1788/89). Was über Wielands Lukian gesagt worden ist, lässt sich auch auf seinen Aristophanes übertragen: Er erscheint als Mischwesen, als »Hippokentaur zwischen Antike und Moderne« 129. Einerseits stellte Wieland nämlich in zum Teil umfangreichen Anmerkungen Aristophanes in historisch-philologische Kontexte; andererseits verletzte er jedoch immer wieder die Integrität des Textes und kürzte oder erweiterte, um modernen Lesererwartungen gerecht werden zu können ein Verfahren, das in den 1790er Jahren eigentlich nicht mehr statthaft war. BO Merkwürdig ist, dass die romantischen Autoren Aristophanes zwar als Muster des Komischen schätzten, ihn aber nicht übersetzten; bei einigen mögen fehlende Sprachkenntnisse Grund dafür gewesen sein. Stattdessen traten zunächst die Philologen vom Fach mit Übersetzungen hervor, wobei die Stücke mit literaturgeschichtlich interes128 Schiller an Cotta, 14.4.1794; zit. n. Cölln (2008),422. - Wieland selbst nannte Aristophanes einmal den »unübersetzlichsten aller griechischen Schriftsteller«; Wieland (1793),421. 129 Baumbach (2008), 88. 130 Nur ein Beispiel: In einer Anmerkung zu Acharner V.9S (5.1 S) schreibt Wieland: »Hier fehlen in der Übersetzung ein Paar Verse, die eine mauvaise plaisanterie über die Unschicklichkeit enthalten, womit der Schauspieler, der den Pseudartabas vorstellte, das große Kyklopenauge, wodurch Aristofanes sein vorbesagtes Hofamt auf eine possierliche Art bezeichnete, um die Stirn gebunden hatte. Die weggelassenen drey Verse (die ich mit einem, der dem Aristofanes nicht angehört, zu ersetzen die Freyheit genommen habe) sind schwerlich so deutsch zu machen, daß sie dem Leser ein klares Bild darstellen. «

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Aristophanes

santen Sujets - die Wolken und die Frösche - im Mittelpunkt standen. Der schon erwähnte Carl Philipp Conz, Jugendfreund Schillers und Professor an der Tübinger Universität, veröffentlichte metrische Übersetzungen des plutos und der Frösche (1807/08). Der spätere Korrespondenzpartner Droysens Friedrich Gottlob Welcker, damals Professor in Gießen, übersetzte die Wolken und die Frösche (1810/12) nach strengen metrischen Grundsätzen, was sicher auch seiner Nähe zu Wilhelm von Humboldt geschuldet war, mit dem Welcker (als Hauslehrer der Kinder Humboldts in Rom) in engem Kontakt stand. l3l Die Wolken sind jedenfalls »dem großen Kenner der Griechen Freiherrn Wilhelm von Humboldt« gewidmet. Als fleißig und gelehrt, aber auch als unbeholfen und manieriert hat man diese strikte Nachbildung bezeichnet. Voß befand sie später für »treu, machmal farblos, aber nie geistlos«132. Den ursprünglich gehegten Plan einer deutschen Gesamtausgabe gab W elcker allerdings wieder auf. An Droysen schrieb er rückblickend: »Das Verdienst wenigstens bleibt mir, die Vossische Übersetzung hervorgerufen zu haben; ich sollte zu dieser die Anmerkungen schreiben, ließ mich aber davon. Oder hat vielleicht Wolf auch jenes Verdienst? Es ist gar wohl möglich.« 133 Friedrich August Wolf seinerseits spottete über die Übersetzung seines jüngeren Kollegen: Welcker, »der sich mit diesem Übersetzerwagstück abgegeben, scheint zu Ihrer Voße Fahne zu gehören; nur daß diese schwerere Verse fabrizieren« .134 Wolf selbst veröffentlichte 1811 - anonym - eine zweisprachige Ausgabe der Wolken und im folgenden Jahr, ebenfalls anonym, eine zweisprachige Ausgabe der Acharner, die allerdings nach Vers 324 mit dem Hinweis abbricht: Nun steckt, wenn euch's gelüstet, die Nas' ins Griechische: Sonst metscht es der Heidelberger Knab' euch treulich dollps

Mit dem »Heidelberger Knab'« war niemand anderes gemeint als eben Voß, dessen Sohn Heinrich zuvor Wolfs Wolken in einer Rezension schlechtgemacht hatte l36 • Wolfs Auffassung vom Übersetzen unterschied sich in der Tat deutlich von Voß, obwohl auch er im Versmaß des Originals übersetzte. In der Einleitung zu den Wolken schrieb er, dass man »die Weise der Römer loben« müsse, die, obgleich zuweilen an den griechischen Ausdruck sich anschmiegend, immer so viel Freiheit erhielten, um in ihren Dollmetschungen eine neue Classe von Originalen darzustellen. Und ähnliche Forderungen macht an uns besonders jede leichtere Gattung der Rede, vor allen die Komödie: sie verlangt eine gewisse Untreue, wodurch eben die echte Treue erst zu erreichen ist. 137

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Zu Welckers übersetzungvgl. Werner (1994). H. Voß (1812a), 171. An Droysen, 26.12.1835; Briefoechsel (Bd.1, 1929),82. Wolf an August Boeckh, 24.3.1810; Reiter (Bd.2, 1935), 101. Wolf, Acharner (1812), 47. Vgl. H. Voß (1812a). Wolf, Wolken (1811), XXIV.

Aristophanes in der Goethezeit und im Vormärz

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Droysen hat »Wolf's herrliche Uebertragung« und sein »eigenthÜlnlich nachdichtendes Talent« 138 später sehr geschätzt. Auf die Übersetzungen von W elcker und Wolf folgte nun tatsächlich die Voß' sehe, die aber offenbar nicht durch Welcker, sondern durch Wolf angeregt worden war. Jedenfalls berichtete Karl Ludwig Knebel 1813 in einem Brief an Goethe, dass Voß mit einer eigenen Aristophanes-Ausgabe »die Wolfische Uebersezung bekriegen« 139 wollte. Voß' Übersetzung erschien 1821; zum ersten Mal lagen nun alle elf erhaltenen Komödien des Aristophanes auf Deutsch vor. Die zweite Gesamtübersetzung wat die von Droysen. Ihr folgten daun binnen drei Jahrzehnten noch fünf Gesamtausgaben: Zwischen 1843 und 1846 veröffentlichte Hieronymus Müller (1785-1861), ein Gymnasialprofessor aus Naumburg, eine versgetreue, schulmeisterlich rechtschaffene Übersetzung in drei Bänden, die eine Widmung an Friedrich Wilhelm IV. trug, sicherlich in Reaktion auf die vom preußischen König angeregte Antigone-Aufführung in Potsdam 1841, die damals großes Aufsehen erregte. 140 Fast zeitgleich erschien die Übersetzung von Ludwig Seeger (1810-1864), der ebenfalls am Gymnasium unterrichtete, außerdem Universitätsdozent wat und als politischer Emigrant aus Schwaben nach Bern gegangen wat. Seeger wat ein erklärter Gegner des, wie er es nannte, »Uebersetzerrothwelsch« 141 von Voß und übertrug sehr erfolgreich in ein geschmeidiges, dabei oft dem Griechischen erstaunlich nahekommendes Deutsch. Im Jahr 1855 kam dann in der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Muster-Übersetzungen das erste von elf Bändchen einer Übersetzung heraus, die von dem Leipziger Philologen Johaunes Minckwitz (1812-1885) begonnen und später von Minckwitz' Schüler Ignaz Emanuel Wessely (1841-1900) fortgesetzt wurde. Minckwitz hatte zuvor mit Übersetzungen der griechischen Tragiker große Anerkennung gefunden; er verstand seine Arbeit in erster Linie als Beitrag zur deutschen Poesie und Sprache im Sinn des von ihm bewunderten August GrafPlaten. 142 Schließlich legte 1861/62 noch Johaun Jakob Christian Donner (1799-1875) einen deutschen Aristophanes vor. Donner, von Haus aus auch Schulmaun, hatte nach dem enormen Erfolg seiner Sophokles-Übersetzung (1839) den Schuldienst quittiert und das Übersetzen zur Profession gemacht. Bei Aristophanes

138 Aristophanes (Bd.3, 1838),21. 139 Knebel an Goethe, 5.2.1813; in: Guhrauer (1851), 77. - Den Hinweis verdanke ich Martin Dönike. 140 Ziel der Antigone-Inszenierung im Potsdamer Theater im Neuen Palais war es, der antiken Auffiihrungspraxis unter den gegebenen Bedingungen möglichst nahe zu kommen. Deshalb wurde August Boeckh als philologischer Fachberater gewonnen; die Chöre kamen in einer Vertonung durch Mendelssohn auf die Bühne. V gl. dazu zuletzt Boetius (2005). - Auch andere übersetzer widmeten in dieser Zeit ihre Arbeiten dem preußischen König, etwa die 1843-1845 erschienene Sophoklesübersetzung von Fritz Franze. - Müller trat auch mit anderen Übersetzungen hervor, insbesondere mit deutschen Ausgaben von Cervantes (1825/27) und Platon (1850ff.). 141 Seeger (1845), 4. 142 Minckwitz war Nachlassverwalter und erster Biograph des Grafen Platen. Er übersetzte außerdem u. a. die griechischen Tragiker, Pindar und Homer und legte mehrere Arbeiten zur deutschen Prosodie und Metrik vor. - Zu Minckwitz' Besprechung des Droysen'schen Aristophanes siehe unten S. 193.

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Aristophanes

zeigt er sich, wie in allen seinen Übersetzungen, als Epigone des Voß'schen Klassizismus, was ihm später von Wilamowitz das Prädikat »Hobelbank« 143 eintrug. Zu diesen deutschen Gesamtausgaben kamen Übersetzungen einzelner Stücke, darunter die der Vögel von Friedrich Rückert (entstanden 1832)144, einige zweisprachige Ausgaben, etwa die Frösche des Göttinger Juristen Herbert Pernice (1856) oder die Acharner und die Ritter des Berliner Historikers Woldemar Ribbeck (1864, 1867). Der Tübinger Philologe earl Moritz Rapp (von dem auch eine eigene »aristophanische« Komödie, Der Wolkenzug, bekannt ist l4S ) legte sogar eine schwäbische Version der Acharner vor (1836). Mit Zeitverschiebung machte sich also die »aristophanische Ära« auch in der Übersetzungsstatistik bemerkbar. 146 Nur zwei der genannten Übersetzungen sollen hier indessen genauer vorgestellt werden, die von Voß und die von Seeger. Sie werden in der Analyse der Übersetzung Droysens als Vergleichstexte dienen. Johann Heinrich Voß hatte, wie oben dargelegt, mit seinem deutschen Homer von 1793 Übersetzungsgeschichte geschrieben. Mit großem Sprachvermögen und immenser Beharrlichkeit setzte er anschließend seine übersetzerische Arbeit fort und übertrug dabei die einmal gewonnenen Grundsätze auf andere Autoren, darunter Vergil, Ovid und Horaz ebenso wie Shakespeare. Dies brachte ihm von vielen Seiten den Vorwurf ein, als sein eigener Epigone das Übersetzen als Fließbandarbeit zu betreiben, erst recht, als seine Söhne Heinrich und Abraham zu Mitarbeitern wurden. Friedrich August Wolf soll gespottet haben, dass es in der Familie Voß »Haus-Ordnung« gewesen sei, »alljährlich einen Griechen oder Römer einzuschlachten« .147 Betrachtet man Voß' Aristophanes-Übersetzung, dann sind diese Vorwürfe nicht ohne Berechtigung. Natürlich bildete Voß die griechischen Metren getreu nach und war in allen Belangen um mimetische Genauigkeit bemüht, ließ dabei aber beispielsweise das in den Komödien so wichtige Spiel mit verschiedenen Sprachregistern weitgehend unbeachtet. Die Stücke sind im Buch nach der Aufführungschronologie angeordnet; die Anmerkungen wurden von Heinrich Voß beigesteuert und sollten, nach eigener Auskunft, »in gedrängtem Auszug das Unentbehrlichste zur nächsten Verständigung« beifügen. 148 In einer Vorbemerkung kündigte Heinrich Voß an, einen ausführlichen Kommentar und Einleitungen zu den Einzelstücken folgen zu lassen, ein Vorhaben, das 143 Wilamowitz (1891), 8. - Donner übersetzte außerdem Euripides, Aischylos, Homer, Pindar, Terenz, Plautus U.a. 144 Zu Rückert vgl. auch S. 36. 145 Wolkenzug. Comödie, Stuttgart: Cotta, 1836. 146 Werner (1975), 475, konstatiert, dass Aristophanes damit der in dieser Zeit am häufigsten übersetzte antike Schriftsteller ist: »Meines Wissens gibt es keinen griechischen oder römischen Dichter vergleichbaren Umfangs und vergleichbaren Schwierigkeitsgrades, von dem in knapp einem halben Jahrhundert, und gerade in diesen vier Jahrzehnten, annähernd so viele deutsche Gesamtübertragungen gemacht worden sind.« Dies ist schwer überprüfbar; vermutlich wurden im 19. Jahrhundert von den griechischen Tragikern genauso viele, wenn nicht mehr Übersetzungen veröffentlicht. 147 Körte (Bd.2, 1833),88: »Es war zur Voss'ischen Haus-Ordnung geworden, alljährlich einen Griechen oder Römer einzuschlachten, wie WOLF sich ausdrückte, und es gehörte zum Geiste des Voss'ischen Hauses, das Übersetzen als ein wohlerworbenes Monopol zu betrachten; fur Werke in neueren Sprachen mussten auch die Söhne scharf mit an die Arbeit treten.« 148 Voß,Aristtifanes (Bd.l, 1821), ohne Pag. [Vorbemerkung].

Aristophanes in der Goethezeit und im Vormärz

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unausgeführt blieb, was der Übersetzung den Anschein des Unfertigen gibt. Und doch kommt noch in der matten Selbstimitation Voß' metrisches Können und seine hohe Sprachkunst zur Geltung; deshalb vor allem sprach Graf Platen, für den die Sprachform höchsten Wert hatte, von der »herrlichen Vossischen Uebersetzung«149. Droysen wiederum fertigte seine Übersetzung in Abgrenzung gegen den »essigsauren Voß«l50 an, verwendete die Voß'sche Ausgabe aber gleichwohl als Arbeitshilfe und ihre Anmerkungen als Informationsquelle. Auch Ludwig Seegers Arbeit war gegen Voß gerichtet. Seeger wollte Atistophanes ausdrücklich als politischen Autor für deutsche Leser zugänglich machen und damit nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Demokratisierung klassischer Bildung leisten; mühelose Verständlichkeit und direkte Wirksamkeit waten das Ziel seiner Übersetzung. Seeger, zwei Jahre jünger als Droysen, Absolvent des Tübinger Stifts, hatte 1836 Schwaben verlassen, um nach Bern zu gehen. Er veröffentlichte Gedichte in Georg Herweghs Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz (1843) und in Arnold Ruges Sammlung Die politischen Lyriker unserer Zeit (1847) und gab zusammen mit Büchners Mitstreiter August Becker (dem »roten Becker«) eine Sammlung Politisch-sociale Gedichte von Heinz und Kunz (1844) heraus. Als Übersetzer trat Seeger zuerst mit einer dreibändigen Ausgabe Lieder von Pierre-Jean de Beranger (1839/41) hervor; später veröffentlichte er eine Übersetzung Victor Hugos (1860/62). Andere Vorhaben, Übersetzungen von Thomas Moore, Ariost, Platon, Sophokles oder Pindar, blieben unvollendet oder wurden nicht veröffentlicht. 151 Bekannt geblieben ist er bis heute vor allem durch den Atistophanes. Seeger hat ihm eine Epistel an einen Freund als Vorwort vorangeschickt, die ein bedeutendes Zeugnis dafür darstellt, wie man in der Zeit des Vormärz versuchte, den Übersetzungsbegriff gegen die mimetischen und hermeneutischen Konzepte der Goethezeit neu zu bestimmen. Antike Schriftsteller müssten, so Seeger, auch weiterhin einen wichtigen Teil moderner Bildung datstellen, aber sie dürften weder als deren Maß betrachtet noch als »exclusives Wissen« 152 behandelt werden. Vielmehr seien sie neu auf ihre Gegenwattstauglichkeit und ihre politische Substanz hin zu prüfen: Der hellenische Geist hat seine Mission in Deutschland noch nicht erfüllt, Dichter, die so durch und durch politisch sind, wie die griechischen, ein Aeschylos, der nicht blos Perser schreibt, sondern auch gegen die Perser (bei Marathon und Salamis) ficht, ein Aristophanes, der wie dieser von ihm hochverehrte Heros sich aufs thätigste an den inneren und äußeren Geschicken seines Vaterlandes oft mit eigner Lebensgefahr betheiligt, solche Männer des begeisterten Worts und der begeisterten That müssen unsern Bücher- und

149 Platen, Tagebucheintragvom 3.9.1822; in: Platen (Bd.2, 1900),548. 150 An F. G. Welcker, 1.9.1834; Briqwechsel(Bd.l, 1929),67. - Vgl. auch unten S. 60 und 81. 151 Gedruckt wurde einzig die Sophokleische Elektra (der ursprünglich eine Gesamtübersetzung Sophokles' folgen sollte), eine Pindarische Ode sowie einige Anakreontische Stücke, alles in Kar! Borbergs Sammlung Hellas und Rom (1842). - Zu Seeger vgl. Kitzbichler /Lubitz/Mindt (2009a), 80-86. Eine umfangreiche Quellen- und Literatur!iste findet sich unter http://www.rcs-krueger.de/seeger.htm. 152 Seeger (1845), 2.

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Aristophanes

Stubenmenschen vorgeführt, ihre Werke müssen dem deutschen Volk in seiner Sprache ans Herz gelegt werden, damit es wenigstens - noch erröthe. 153

Das Übersetzungskonzept, dass diesem politischen und demokratischen Literaturverständnis entsprach, fasste Seeger in den Leitsatz: Wir müssen, das ist jetzt die Aufgabe, vor allen Dingen deutsch und poetisch übersetzen. Die Treue versteht sich hieb ei von selbst, wenn auch diese nicht eine buchstäbliche sein darf, wobei das summ um jus, das man den Alten angedeihen läßt, zur summa injuria wird, mit treuer Liebe müssen wir übersetzen, damit man uns traduttori nicht länger traditori nenne. l54

Dass Seeger deswegen nicht ohne philologische Ansprüche arbeitete, zeigt sich an der auch in den griechischen Ausgaben üblichen chronologischen Anordnung der Stücke, hauptsächlich aber an den ausführlichen Einleitungen zu den Einzelstücken und dem sehr umfassenden Zeilenkommentar. Die Übersetzung selbst verwendet in den Dialogen fünfhebige Jamben und verfährt in den Chören teils metrisch, teils freirhythmisch, ISS nimmt den deutschen Sprachgebrauch zum Maß und zeichnet sich durch flüssige und bewegliche Diktion und große Geschlossenheit aus. Sie erscheint als eigenständiger, auch ohne Erläuterungen lesbarer Text, was noch dadurch verstärkt wird, dass Seegers Kommentar nicht (wie bei Voß oder Droysen) in Form von Fuß-, sondern von Endnoten gedruckt ist. Nachdem ein politisiertes, eigenen Interessen adaptiertes Atistophanes-Verständnis in den dreißiger und vierziger Jahren schon die deutschen Atistophanes-Nachahmungen hervorgebracht hatte, von denen oben die Rede war, war Seeger also nun derjenige, der eine adäquate, auf Wirkung und Verständlichkeit gerichtete Übersetzung schuf. Voß hatte mit seinem deutschen Homer sehr nachhaltig die Übersetzungssprache geprägt, eine Sprache, die je nach Perspektive als fremd, klassisch, gestelzt, steif, verstaubt wahrgenommen wurde, die aber in jedem Fall erkennen ließ, dass es sich um übersetztes Griechisch (oder Lateinisch) handelte. Voß' Atistophanes ist ein spätes, weitgehend erfolgloses Beispiel dieser klassizistischen Übersetzungssprache, Seegers Atistophanes besetzt die äußerste Gegenposition dazu. Es war kein Zufall, dass eines der wichtigsten Dokumente der Übersetzungsdiskussion nach dem Ende der Goethezeit - Seegers Epistel an einen Freund - im Zusammenhang einer AristophanesÜbersetzung entstanden ist: Wer im Vormärz antike Schriftsteller übersetzen wollte, musste der Antike jeden Anschein des Klassizistischen nehmen, auch durch eine nichtvossische Sprache. Ebensowenig war es Zufall, dass die beiden bis heute erfolgreichsten deutschen Aristophanes-Übersetzungen, die von Droysen und die von Seeger, in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden: Beide sind auf je verschiedene Weise als Produkte der »aristophanischen Ära« in der deutschen Literatur 153 Seeger (1845), 18f. 154 A.a.O.,7. 155 Dazu Seeger (1845),17: »Und die Chöre? Diese werden metrisch getreu nachgebildet, so weit sie kritisch festgestellt, und unsrem Ohre zugänglich sind. Sonst, freier Rhythmus, dem Gang der Gedanken und Empfindungen vollkommen entsprechend. Hier entscheidet nur das Ohr, der poetische Takt, keine Willkühr, keine maaßlose metrische Tändelei!«

Aristophanes in der Goethezeit und im Vormärz

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anzusehen. Wenn es eine Zeit gab, in der Aristophanes - dem stets wiederholten Unübersetzbarkeits-Topos zum Trotz - »übersetzbar« wurde, dann wohl am ehesten in den 1830er und 1840er Jahren. Die immensen Probleme, die Aristophanes' Komödien dem Übersetzer bieten, waren damit allerdings keineswegs gelöst. Die besonderen Anforderungen der Komödienübersetzung hatte schon Schleiermacher in seiner Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens angedeutet. Schleiermacher hatte aus der außerordentlichen Zeitgebundenheit von Komödien und Witzen abgeleitet, dass es hier noch mehr als sonst nötig sei, den »Leser zum Autor« zu bewegen und das Fremde der Vorlage in der Übersetzung sichtbar zu machen: Die ganze Darstellung [sc. der Komödie ] lebt in den Sitten der Zeit und des Volkes, die sich wiederum vorzüglich in der Sprache lebendig spiegeln. Leichtigkeit und Natürlichkeit in der Anmuth sind ihre erste Tugend; und eben deshalb sind hier die Schwierigkeiten der Uebersetzung nach der eben betrachteten Methode [sc. die den Autor zum Leser bewegt] ganz ungemein. Denn jede Annäherung an eine fremde Sprache thut jenen Tugenden des Vortrages Schaden. Will nun aber gar die Uebersetzung einen Schauspieldichter reden lassen, als hätte er ursprünglich in ihrer Sprache gedichtet: so kann sie ihn ja vieles gar nicht vorbringen lassen, weil es in diesem Volk nicht einheimisch ist und also auch in der Sprache kein Zeichen hat. Der Uebersetzer muß also hier entweder ganz wegschneiden, und so die Kraft und die Form des Ganzen zerstören, oder er muß anderes an die Stelle setzen. Auf diesem Gebiet also führt die Formel vollständig befolgt offenbar auf bloße Nachbildung oder auf ein noch widerlicher auffallendes und verwirrendes Gemisch von Uebersetzung und Nachbildung, welches den Leser wie einen Ball zwischen seiner und der fremden Welt, zwischen des Verfassers und des Uebersetzers Erfindung und Witz, unbarmherzig hin und her wirft, wovon er keinen reinen Genuß haben kann, zuletzt aber Schwindel und Ermattung gewiß genug davonträgt.156

Wolfgang Schadewaldt auf der anderen Seite, der im 20. Jahrhundert mit seinen Tragödien- und Homer-Übersetzungen eigentlich die Tradition Schleiermachers und der übersetzerischen Mimesis aufgriff und fortschrieb, hielt dieses Prinzip im Fall der Komödien des Aristophanes für verfehlt: In der Komödie sei, so Schadewaldt, das »unmittelbar Faßliche und Einschlagende« wichtiger als die Dokumentation des fremden Wortlauts: Doch verlangt in diesem Rahmen die Komödie, dem Wesen der Wirkung des Komischen entsprechend, die anders als die Tragödie, Verfremdungen meiden und auf das unmittelbar Faßliche und Einschlagende dringen muß, fur die Vergegenwärtigung auf der modernen Bühne notwendige Verdeutlichungen wie auch Opfer. 157

Schleiermacher selbst hat nie Komödien übersetzt (und die Komödienübersetzungen seiner Zeit waren für die stille Lektüre, nicht für die Bühne bestimmt), so dass seine Argumentation letztlich abstrakt blieb, während Schadewaldts AristophanesÜbersetzungen Auftragsarbeiten waren und den Bedingungen der Bühne gerecht werden mussten. 156 Schleiermacher (1813), 90. 157 Schadewaldt (1970),538. - Zu Schadewaldts Methode des »dokumentarischen« Ühersetzens vgl. Kitzbichler / Lubitz/ Mindt (2009a), 276-297.

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Aristophanes

Wenn in den folgenden Kapiteln Droysens Urteil über Aristophanes und seine Übersetzung betrachtet werden, dann muss dies einerseits im Horizont der Aristophanes-Rezeption in Romantik und Vormärz geschehen, andererseits im Horizont der Übersetzungsgeschichte zwischen Voß und Seeger, die nicht nur zeitlich, sondern auch durch ihre konträren - bei Voß eher auf den Autor, bei Seeger explizit auf den Leser orientierten - Übersetzungskonzepte als Bezugsrahmen fungieren können.

3.

Johann Gustav Droysen

Das folgende Kapitel befasst sich mit dem Übersetzer. 1 Es stellt zunächst die Entstehung der Übersetzung im Kontext biographischer Bedingungen dar, um anschließend Droysens Übersetzungsauffassung vor dem Hintergrund seiner historisch-hermeneutischen Theoriebildung zu untersuchen und zu fragen, ob und in welcher Weise die Verbindung zwischen Übersetzungsbegriff und Hermeneutik, die für die Übersetzungstheorien um und nach 1800 fundamental war, auch im Fall von Droysen, d.h. nach dem Ende der Goethezeit noch wirksam ist. Johann Gustav Droysen (1808-1886), Pfarrerssohn aus dem pommerschen Treptow an der Rega, studierte an der Berliner Universität u. a. bei August Boeckh und bei Hege!. Er hatte historische Professuren in Kiel (1840-1851),Jena (1851-1859) unddie längste Zeit - in Berlin (1859-1886) inne. In der Kieler Zeit engagierte er sich in der Schleswig-Holstein-Frage gegen Dänemark; 1848 saß er als Abgeordneter für Holstein im Paulskirchenparlament und schloss sich dem rechten Zentrum, der sogenannten »Casino-Partei«, an. Als junger Mann hat er für Felix Mendelssohn Bartholdy, mit dem ihn lange Jahre eine enge Freundschaft verband, Liedtexte verfasst. Neben Aristophanes' Komödien übersetzte er auch die Tragödien des Aischylos und (was weniger bekannt ist) Ciceros Definibus bonorum et malorum. Bekannt geworden und geblieben ist Droysen aber als Historiker, wobei seine Rezeption innerhalb und außerhalb der Historikerzunft im Lauf der Zeit immer wieder von Umwertungen und Paradigmenwechseln geprägt war. Schon bald nach Beendigung des Studiums trat er mit der Geschichte Alexanders des Großen (1833) hervor, die er später mit der Geschichte der Nachfolger Alexanders (1836) und der Geschichte der Bildung des hellenistischen Staatensystems (1843) zur Geschichte des Hellenismus zusammenfasste. Nach zunächst ausgesprochen kritischer Aufnahme rückte ihn diese Arbeit bald unter die herausragenden Historiographen seiner Zeit und bewahrt bis heute ihre Brisanz durch die (mit Jürgen Busche) »explosive Mischung«2 aus hegelsch geprägter, teleologischer Weltgeschichte einerseits und empirischer Altertumsforschung nach der Schule Boeckhs auf der anderen Seite. Das Kieler Jahrzehnt schuf dann die Bedingungen für den politischen und den preußischen Droysen. Als bedeutender Wortführer gegen die dänische Politik und als Vertreter der Herzogtümer in der Frankfurter Nationalversammlung und Mitglied im Verfassungsausschuss griff er aktiv in die Geschehnisse ein. Zugleich verschob sich sein historisches Arbeitsfeld auf die Neuzeit: Mit der umfangreichen Biographie des preußischen Generalfeldmarschalls

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Für allgemeine Literatur zu Droysen und zu Droysens Übersetzungen siehe oben S. 11 f. (Anm.48). Bibliographische Angaben zu den zitierten Schriften Droysens finden sich im Anhang, Kapitel 7.2.2. Busche (1984), 588. - Zu Droysens Hellenismus-Konzept siehe unten S. 92 (mit Anm. 193).

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Johann Gustav Droysen

Johann David Ludwig GrafYorck von Wartenburg (1851 ff.) erzielte er seinen größten buchhändlerischen Erfolg; bis 1913 erlebte das Buch elf Auflagen. Als opus magnum war die Geschichte der preußischen Politik (1855ff.) gedacht, die eine historische Begründung für die kleindeutsch-preußische Lösung der deutschen Frage geben wollte. In der Verbindung aus extensivem Quellenstudium und unverhohlener Parteinahme ist dieses Werk durchaus exemplarisch für Droysens Arbeitsweise; zugleich hat es - hauptsächlich wegen seiner ausschließlichen Beschränkung auf die preußische Perspektive von Beginn an heftige Kritik ausgelöst. 3 Die Polarisierungskraft, die das Stichwort »Preußen« immer besaß, bestimmte in der Folgezeit häufig die Rezeption Droysens. Galt er in der kaiserzeiclichen Geschichtswissenschaft als herausragende Referenzgröße, so wurde er im 20. Jahrhundert, zumal in der sozialgeschichclich orientierten Forschung, als Vertreter des preußischen Obrigkeitsstaats geächtet. 4 Dass sein erzpreußisches Ansehen auch das Urteil über seine Übersetzungen gefärbt hat, zeigt sich bei Heiner Müller, der Droysen einmal unterstellte, Aischylos eine wilhelminische »Uniform« angezogen zu haben. 5 Wenn allerdings seit einiger Zeit ein verstärktes Interesse an Droysen zu beobachten ist, dann gilt die Aufmerksamkeit oft weniger dem Historiographen Preußens oder des Hellenismus, als vielmehr dem Geschichtsmethodiker und -theoretiker. 6 Seit 1857 hielt Droysen regelmäßig Vorlesungen, in denen er den Studenten eine konsistente Systematik historischer Forschung, eine Wissenschaftslehre darlegte. In den Vorlesungsverzeichnissen wurden diese Veranstaltungen in der Regel unter dem Titel »Enzyklopädie und Methodologie« angekündigt, womit Droysen sich in die Tradition propädeutischer Fach-Enzyklopädien stellte? Eingebürgert hat sich aber die Bezeichnung »Historik«, nach dem Grundriß der Historik, einer vorlesungsbegleitenden Broschüre, die Droysen zuerst 1858 (als Manuskript) drucken ließ. Ob Droysens »Historik« tatsächlich (wie Stefan Jordan formulierte) als »Referenztext« gelten kann, »an dem sich Geschichtstheorie des späteren 19. Jahrhunderts orientierte«8, ist insofern 3

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Zur Geschichte der preußischen Politik vgl. Nippel (2008), 295-307 und Walther, in: Rebenichl Wiemer (2012), 293-336. - Nippel nannte das Buch rundweg eine »wissenschaftliche Totgeburt«; a.a.O., 295. Vgl. u.a. Schuppe (1998), Ilff. Vgl. oben S. 1 (Anm.4). Vgl. etwa die Arbeiten von White (1990), Barrelmeyer (1997), Schuppe (1998), Caianiello (1999), Jordan (1999a), Bauer (2001), Hackel (2006). Auch der Sammelband von Ries (2010a) legt den Schwerpunkt auf die Historik, vgl. darin die Beiträge von Paetrow, Walther, Ries, Hühn. Vgl. dazu Blanke/Fleischer/Rüsen (1983) sowie Hackel (2006), 12-20. - Einen überblick über alle Vorlesungen und Publikationen Droysens im Zusammenhang der Historik gibt Blanke (2012). Jordan (1999a), 29. - Überarbeitete Fassungen des Grundrisses der Historik erschienen zu Droysens Lebzeiten noch dreimal im Druck (1868, 1875, 1882). Die erste vollständige, in der Textgestalt aber unzuverlässige Ausgabe der Vorlesung wurde 1937 von Droysens Enkel Rudolf Hübner vorgelegt. 1977 erschien der von Peter Leyh bearbeitete erste Band der historisch-kritischen Ausgabe mit einer Rekonstruktion der Vorlesung von 1857 sowie der frühesten und der spätesten Fassung des Grundrisses. Der zweite Band wurde 2007 von Horst Walter Blanke herausgegeben und enthält verschiedene Texte aus dem Umkreis der Historik. Der dritte Band, der u.a. die Historik letzter Hand enthalten soll, ist in Vorbereitung. - Nippel (2009), 173, äußert die Vermutung, dass die meisten vor 1937 er-

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zweifelhaft, als der vollständige Vorlesungstext erst seit 1937 gedruckt zugänglich ist und die knappen Stichworte der Vorlesungs-Broschüre Droysens Positionen kaum ansatzweise deutlich machen können. Die herausragende Bedeutung der Vorlesung als eines Dokuments des Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert wird durch diesen Umstand allerdings nicht gemindert. Die Übersetzungen standen dagegen immer im Schatten der historischen Arbeiten. Das hat seine Berechtigung und stimmt mit Droysens eigener Sicht überein. Dennoch: Dass auf dem Droysen-Porträt, das Eduard Bendemann postum (1885) im Auftrag des Kultusministeriums anfertigte, neben der Geschichte Alexanders, der Historik, der Geschichte der Preußischen Politik (als Manuskript) und dem Leben des Feldmarschalls Grafen York von TVt:zrtenburg die Aristophanes- und Aischylos-Übersetzung im Repositorium stehen, ist Indiz für deren großen Erfolg. 9 Und betrachtet man, wie Droysen etwa in den Erläuterungen zu seiner Aischylos-Übersetzung über Kunst, Geschichte und Religion nachdachte, oder wie er im Zusammenhang der Aristophanes-Übersetzung folgenreiche Neubewertungen der griechischen Geschichte und ihrer Protagonisten vornahm, dann wird deutlich, dass die Übersetzungen auch für die Entfaltung seines historischen Denkens Bedeutung hatten. Sie gehören den ausgehenden zwanziger und vor allem den dreißiger Jahren zu, der Zeit der ersten Berufsjahre als Gymnasiallehrer und Extraordinarius an der Berliner Universität. Es ist kaum möglich, Droysens Werdegang als Historiker zu erfassen, ohne den Blick auf diese biographisch entscheidende und intellektuell prägende Übergangszeit zwischen dem Studium und dem Ruf auf die Kieler Professur zu richten.

9

folgten Verweise auf Droysens Historik sich nicht auf den eigentlichen »Grundriss« beziehen, sondern auf eine Rezension Droysens zu H. T. Buckles History of Civilization in England (2Bde., 1857/1861), die unter dem Titel Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft in der Vorlesungs-Broschüre als Beilage gedruckt worden war. Zu Bendemanns Porträt vgl. Schnicke (2010), 29-40 (mit Reproduktion); außerdem Hackel (2008), 74f. (mit Reproduktion), und Marotzki (2010),184. Das Porträt befindet sich heute in der Nationalgalerie. Staatliche Museen zu Berlin.

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3.1 3.1.1

Biographische Kontexte

Droysens andere Übersetzungen: Aischylos, Cicero

Aristophanes war nicht Droysens erste Übersetzung. Schon 1832 erschien im kleinen Berliner Verlag Finke eine Aischylos-Übersetzung, die neben den Tragödien auch die überlieferten Fragmente umfasst und deren Entstehung bis in Droysens Studentenzeit zurückreicht. Nur wenige Jahre zuvor hatte Heinrich Voß (der Sohn des HomerÜbersetzers) eine Gesamtübersetzung des Tragikers vorgelegt (1826), was nahelegt, dass Droysens Arbeit auch als Herausforderung gegen Voß gedacht war. Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man sieht, dass auch Droysens Aristophanes die zweite deutsche Gesamtübersetzung nach einer Voß'schen Ausgabe - in diesem Fall einer Übersetzung des Vaters - war. 10 Droysens Aischylos-Verständnis war einem religiösen Kunstverständnis verpflichtet, das nicht zuletzt aus seiner im Elternhaus empfangenen tiefen religiösen Prägung herrührte. Zu der Zeit, als Droysen mit Aischylos beschäftigt war, veröffentlichte er auch einen kleinen Aufsatz mit dem Titel Von der Oper, Frucht seiner Freundschaft mit Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Aufgabe des Künstlers, heißt es dort, sei ein ernstes, frommes Geschäft. Die höchsten Interessen des Lebens allein sind würdig, der Inhalt seines Schaffens zu sein, oder vielmehr sein Leben hat weiter keinen Inhalt, als worin die Würde des Menschen beruht, das Göttliche. Darum war die Kunst der Alten Gottesdienst; darum auch darf unsere Kunst nur da sich Bnden lassen, wo die schlechte Alltäglichkeit des besondern Lebens nicht mehr gilt, sondern der Mensch sich entwickelt zu der ihm bestimmten Bedeutung. lI

Damit korrespondiert, was Droysen in einem Zeitungsartikel zur Aufführung der wiederentdeckten Bach'schen Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn in der Berliner Sing-Akademie im Jahr 1829 schrieb. Hier feiert Droysen Bachs Passion als Ereignis, das der Wiederentdeckung gotischer Baukunst durch Goethe gleichzusetzen ist. Und erneut betrachtet er die musikalische Aufführung als eine Form von Gottesdienst und knüpft daran Hoffnungen auf religiöse und politische Erneuerung der Gegenwart: [... ] denn nicht die Musik einer verschollenen, unserem Bewusstsein entfremdeten Zeit, noch eines Glaubens, über den wir in Wahrheit weit hinaus sind, nicht die Musik eines katholischen Domes, die sich mit Weihrauchdampf und unverstandnem Gebet mischt, auf dass sich in ihr das ganz zerschlagene und zerknirschte Gemüth betäube oder aufgebe, vielmehr die Musik des freien, evangelischen Glaubens der Gottvertrauenden, sich selbst erkennenden Andacht ist es, die uns wieder gegeben wird. [... ] Es ist die Kunst heute fast verarmt, ihr Inhalt fade Zufälligkeit, sie selbst nur leere, schmückende Form, zu anderm Schmuck zweckloser Thees oder langweiliger Soupers auch ein Ziergefäss; man könnte es fortlassen und Thee und Austern würden doch schmecken. - Bach hat die Leidengeschich-

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Zum übersetzen als »Familiengeschäft« im Hause Voßvgl. auch oben S. 48. Von der Oper (1828), 26.

Biographische Kontexte

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te [sie] Christi nach dem Evangelisten Matthäus komponirt für seine evangelische Gemeinde zu Leipzig, dass sie sein sollte als Gottesdienst. 12

Dass Droysen hier mit Blick auf seine eigene Zeit ein Programm sowohl künstlerischer als auch religiöser und politischer Erneuerung im Zeichen protestantischen Preußentums entwirft, ist evident. Kunst sollte für eine versammelte Gemeinde Göttliches darstellen, ja selbst Gottesdienst sein. Ebendies fand Droysen in der erhabenen, archaisch-gewaltigen Tragödie des Aischylos vorgebildet, die er - im Unterschied zu moderner Kunst - als eine gleichermaßen politische, »sittliche« und religiöse Ausdrucksform sah. In Droysens Erläuterungen zur Aischylos-Übersetzung heißt es demgemäß: Es würde zu weit führen, den großen Unterschied der alten und der heutigen Bühne nachweisen zu wollen; jedenfalls ist es von entscheidender Bedeutung, daß das antike Drama, aus Dionysischen Festen hervorgegangen, zu aller Zeit diesen Charakter der Heiligkeit und der Festfeier beibehalten hat, daß es für das gesammte Volk bestimmt ist, und in seiner Volksthümlichkeit die allgemeinen Interessen unmittelbar in seinen Bereich ziehn darf, daß der Dichter kraft seines heiligen, fast priesterlichen Berufes orakelgleich von dem Höchsten und Heiligsten zu dem Volke spricht, wie es ihn die Erfahrung seines Lebens gelehrt und die Begeisterung des Gottes gegeben, daß endlich des Volkes Schauen und Hören wie Andacht und Gebet ist, weit entfernt von der widerlichen Affektion der Kunstkennerei und kritischer Gleichgültigkeit. 13

Die ursprüngliche Einheit von Religion, Kunst und öffentlichen Angelegenheiten, die Droysen in der Aischyleischen Tragödie verkörpert sah, sprach ihn in dieser Zeit sehr unmittelbar und nachdrücklich an. 14 Mit seiner Übersetzung wollte Droysen letztlich Ähnliches leisten wie Mendelssohn mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion: Er wollte der »faden ZufaIligkeit« moderner Literatur die Erhabenheit und Frömmigkeit der Aischyleischen Tragödie entgegensetzen und betrachtete Aischylos deshalb in erster Linie als Gegenstand der Kunst, nicht der Philologie. An den Altertumsforscher Friedrich Gottlieb Welcker schrieb er in diesem Sinn, er hoffe »mehr den Dichter als den griechischen Autor für unsere Literatur zu erwerben« 15. Und doch verwendete Droysen auch auf die Darstellung des »griechischen Autors«, der historischen Kontexte und der Bedingungen des Athener Theaters viel 12

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Ueber die Passions-Musik vonJohann Sebastian Bach (1829), 98. - Droysens Aufsatz dürfte auf die Initiative von Adolf Bernhard Marx, dem Herausgeber der Allgemeinen Musikalischen Zeitung, zurückgegangen sein. Marx war damals ein wichtiger Befc:irderer der Bach-Begeisterung in Berlin und unternahm im Vorfeld der Passions-Aufführung »etwas, das man heute eine Pressekampagne nennen würde«; Geck (1967), 25. In seinen Erinnerungen griff A. B. Marx übrigens den Vergleich der Bach'schen Passion mit gotischer Baukunst wieder auf; vgl. Geck, a. a. 0.,21. Aischylos (Bd.l, 1832), 180. Trzeciok (1959), 16, sprach in seiner Dissertationsschrift über Droysens Aischylos-Übersetzung gar von einem »Aischyloserlebnis«. An Welcker, 1.3.1831; Briefwechsel (Bd.l, 1929), 24. - Droysen wendete sich in diesem Brief unbekannter Weise an den damals in Bonn lehrenden Welcker, um Rat und Unterstützung für die Aischylos-Übersetzung zu erbitten. Der Brief bildet den Anfang einer langjährigen und umfangreichen Korrespondenz, die gerade auch im Hinblick auf die Aristophanes-Übersetzung eine wichtige Informationsquelle darstellt.

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Mühe. Er gehörte zu den ersten, die die zeitgeschichtlich-politische Dimension der Aischyleischen Tragödie explizit untersucht haben,16 und er versuchte, im Anschluss an Genellis Arbeit Das Theater zu Athen ihre szenische Realisierung nachzuvollziehenP Überdies ergänzte er in seiner Übersetzung nicht nur kleinere Lücken im überlieferten Text, etwa den Anfang der Choephoren,18 sondern rekonstruierte mit forschern Selbstvertrauen auch den Inhalt vollständig verlorener Stücke, wobei er sich auf die damals von Welcker wiederentdeckte trilogische Struktur der Aischyleischen Tragödie berief 19 Zwangsläufig zog dies die Kritik von Seiten der Philologie - auch Welckers - nach sich. Auf Welckers Vermahnung antwortete Droysen, dass er es für besser halte, »in falschem Lichte als in gar keinem und gar nicht zu sehen«20, eine Auffassung, in der sich schon die auf Interpretation und Konstruktion gerichtete Hermeneutik andeutet, die später im Zentrum von Droysens Historik stehen sollte. Droysens Aischylos-Übersetzung ist also von der doppelten Intention auf das unmittelbar wirkende Kunstwerk und auf seine historisch-philologische Rekonstruktion bestimmt. Dies führte ihn zu dem eigentümlichen Plan einer imaginären Inszenierung der Tragödien in der deutschen Ausgabe, wodurch das Erlebnis der Dichtung und das Verständnis ihrer historischen Gestalt zusammengeführt werden sollte. Droysen schilderte sein Vorhaben folgendermaßen: [... ] ein Elegeion von etwa zweihundert Zeilen macht eine Art Einleitung mit einigem antiken Duft und dithyrambischer Festlust, namentlich wird die Heiligkeit des dionysischen Festes dem Leser anschaulich gemacht: man sieht mit der Zeit, wie sich das Theatron füllt,

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Vgl. Trzeciok (1959), 13. - Interpretationen und Untersuchungen Aischyleischer Tragödien hatten sich zuvor hauptsächlich mit ästhetischen, philosophischen oder mythologischen Fragen (beispielsweise Fragen zur Rolle des Chors, zur Bedeutung des Schicksals oder dem Verhältnis zum Homerischen Epos) und mit den äußeren Bühnenbedingungen befasst; vgl. z.B. die Vorrede Humboldts zu seiner Agamemnon-Übersetzung (1816), die Abhandlung Ueber die Idee des Schicksals in den Tragoedien des Aeschylus von Blümner (1814) oder Welckers Abhandlung über die Prometheus-Trilogie (1824, siehe unten Anm.19). A. W. Schlegel hatte zwar auch »politische Zwecke« ftir die Aischyleische Tragödie geltend gemacht, aber nur als untergeordnetes Element: »Bei'm Aeschylus aber ist viel mehr die [sc. politischelAbsicht der Poesie dienstbar, als diese jener. Er steigt nicht zu einer beschränkten Wirklichkeit hinab, sondern erhebt sie in eine höhere Sphäre, und knüpft sie an die erhabensten Vorstellungen an.« A. W. Schlegel (1809/1811), Bd.l, 104. In biographischem Zusammenhang wurde allerdings Aischylos' Teilnahme an den Schlachten von Marathon und Salamis und überhaupt die aktive Teilhabe an der Zeitgeschichte stets besonders herausgestellt. Zu Genelli vgl. oben S. 41. - An Welcker schrieb Droysen: »Von Genelli angeregt, hatte ich mir nach Vitruv usw. und neueren Beobachtungen so genau als möglich das Modell eines Theaters gebaut, und von dieser unmittelbaren Anschauung ausgehend die Darstellung der Orestea Szene ftir Szene begleitet. Überraschende Resultate haben mir die Mühe gelohnt.« Brief vom 2.5.1831; BriefWechsel (Bd.l, 1929),31. - Ein Aufsatz der Vf. über Droysens Versuch szenischer Rekonstruktion und Imagination ist in Vorbereitung und erscheint demnächst im Tagungsband zur Tagung Die andere Antike (Humboldt-Universität zu Berlin, 26.-28.1.2012). Solche Ergänzungen sind übrigens nach wie vor üblich, vgl. beispielsweise die zuletzt 2011 aufgelegte Aischylos-übersetzung von Oskar Werner (Düsseldorf: Artemis & Winkler, Sammlung T usculum). Vgl. Welcker, Die Aeschylische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos. Nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt, Darmstadt 1824. An Welcker, 7.10.1831; Briefwechsel (Bd.l, 1929),42.

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wo die Orchestra lustriert wird, der Herold den Chor des Äschylus aufruft; hier nun folgt die Übersetzung unmittelbar und ohne Unterbrechung bis zum Chor der Geleiterinnen. Nach dem Ganzen folgen dann unter dem Titel Didaskalien einige Orientierungen über die Politik der Orestie, über Äschylus' Leben und Art, über das Theater usw., so daß also mein Leser, wenn er das Buch lieset, durch das Elegeion zur Genüge in einen gewissen antiken Rhythmus und Anschauungsart versetzt ohne gelehrte Umstände die Trilogie selbst konsumiert und nachträglich das Ganze, indem er die Didaskalien lieset, noch einmal durchkostet und mit neuen Reichtümern sich ausschmücken kann. 21

Das »Elegeion«, das man sich formal vielleicht an die Elegien der deutschen Klassik, besonders an Schiller angelehnt vorstellen kann, fehlte schließlich in der Buchausgabe, die mit Verzögerung erst nach langwierigen Verlagsverhandlungen zustande kam. 22 Der erste Band wird stattdessen durch eine Vorrede eröffnet, in der Droysen seine Übersetzungsgrundsätze darlegt und eine erste Orientierung über Aischylos gibt. Es folgt, in Übereinstimmung mit dem Plan, die Übersetzung der Orestie als der einzigen erhaltenen Trilogie, die durch keinerlei Erläuterungen unterbrochen wird. Daran schließt Droysen unter dem Haupttitel »Didaskalien« drei Abhandlungen an: zum politischhistorischen Hintergrund, zur griechischen Theaterpraxis im Allgemeinen und zur szenischen Realisierung der Orestie im Speziellen.23 Den Schluss bildet ein sehr kurz gehaltener Zeilenkommentar. Der zweite Band verfährt ähnlich: Auch hier wird die Anordnung durch den Zusammenhang der (angenommenen) Trilogien bestimmt, wobei Droysen die verlorenen Stücke durch eigene Inhalts-Rekonstruktionen ersetzt. Es folgen die Fragmente (deren Kontexte Droysen ebenfalls zu rekonstruieren versucht) und, wie im ersten Band, »Didaskalien« und ein Zeilenkommentar. Die Übersetzung selbst lehnt sich - hier beziehe ich mich auf die Untersuchung von Trzeciok24 im Allgemeinen sehr eng an die griechische Vorlage an und ist gleichzeitig bestrebt, harte Fügungen des griechischen Texts zu glätten und Syntax und Metrik flüssiger zu gestalten. Die Neigung zu Sprachpathos, gelegentliche modernisierende und »christianisierende« Veränderungen gegenüber der Vorlage und vor allem die Liebe zu musikalischer Sprachbehandlung, zu Alliterationen, Assonanzen und Parallelkonstruktionen begegnen wieder in der Aristophanes-Übersetzung. Drei Jahre nach der ehrgeizigen, als großer Wurf intendierten AischylosÜbersetzung erschien der erste Band von Droysens Aristophanes. Weitere fünf Jahre später (1840) wurde innerhalb einer Ausgabe, an der mehrere Übersetzer beteiligt waren, eine Übersetzung von Ciceros Büchern De finibus bonorum et malorum (VOm höchsten Gut und höchsten Übel) aus der Feder Droysens gedruckt. Diese Übersetzung, 21 22

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An Albert Heydemann, 18./19.11.1829; Briefwechsel (Bd.1, 1929), 14f. Am 31.7.1831 schrieb Droysen seinem Freund Wilhelm Arendt: »[MJit Vieweg in Braunschweig bin ich durch seine Nachlässigkeit im Druck so übel gestellt, daß vielleicht mein ganzes äschyleisches Werk, das schon zwei Jahre liegt, wieder rückgängig wird.« Briefwechsel (Bd. 1, 1929), 37. Die Titel der Abhandlungen lauten: Politische Stellung des Aischylos; Zeit, Ort, Art tragischer Auffohrung in Athen und Darstellung der Orestea. - Als »Didaskaliai« wurden im Altertum eigentlich Listen bezeichnet, in denen lediglich bestimmte Daten über Theaterauffiihrungen (Autor, Titel, Jahr der AufHihrung usw.) gesammelt wurden. Vgl. Trzeciok (1959), insbesondere 103ff.

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die bezeichnender Weise in Droysens Werkverzeichnissen oft fehlt,25 entstand aus einer ganz anderen Motivation als seine Aischylos-Übersetzung. In einem eigenhändig angelegten Schriftenverzeichnis notierte Droysen rückblickend: »Im Sommer 1838 wurde für die Sammlung von Klotz Cicero über das Höchste Gut übersetzt. Bloß fürs Geld. «26 Für den vermögenslosen Droysen spielte der finanzielle Aspekt keine unwichtige Rolle. Auch für die Aristophanes-Übersetzung ist diese Seite in Rechnung zu stellen, wenngleich entsprechende Zeugnisse und Dokumente nach meiner Kenntnis nicht erhalten sindP

3.1.2

Die erste Fassung der Vögel

Wenige Monate vor dem Erscheinen des ersten Aristophanes-Bandes druckte das Rheinische Museum for Philologie Droysens historisch-philologische Abhandlung Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden. Abweichend von der im Rheinischen Museum üblichen Praxis gab Droysen in diesem Aufsatz Quellenzitate nicht auf Griechisch, sondern auf Deutsch wieder. In einem Brief an Welcker, der Mitherausgeber des Museum war, äußerte Droysen sich zur verwendeten Übersetzung: Was aber werden Sie sagen, daß ich aus den Aristophanischen Vögeln in einer Übersetzung zitiert habe, die nicht publici juris ist? Es war ein Scherz, daß ich vor Jahr und Tag meinem Freunde Felix Mendelssohn, der gern den alten Spötter kennenlernen wollte, die Vögel übersetzte; weil es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, folgte ich ganz meiner Laune und Ansicht über die mögliche Treue und erlaubte Untreue; meinem künstlerischen Freunde zu gefallen, sah ich auf nichts emsiger, als der Übersetzung die künstlerisch schöne Form, die unendlich holdselige Leichtigkeit und poetische Farbigkeit des Originals zu erhalten. [... ] Haben Sie Nachsicht, wie sonst schon so oft; lassen Sie mir den kleinen Scherz, denn so mag es nur gelten, durchgehen; ich konnte mich nicht überwinden, den essigsauren Voß abzuschreiben. 28

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In der Sammelausgabe von Droysens Kleinen Schriften zur Alten Geschichte (1893) wird die CiceroÜbersetzung im Schriftenverzeichnis genannt; in der Sekundärliteratur zu Droysen von Hintze (1904) bis hin zu Nippel (2008) bleibt sie fast überall unerwähnt. Blanke (2008), 174. - Schon während seines Studiums hatte Droysen ein auffällig geringes Interesse an lateinischer Literatur und Geschichte gezeigt; vgl. Droysens Studienbuch, das sich erhalten hat und bei Astholz (1933), 209f., und erneut - mit Abbildung- bei Hacke! (2008), 20f., gedruckt zu fmden ist. Demnach hat Droysen im Lauf seines Studiums nur zwei Vorlesungen zu lateinischer Literatur gehört, eine über Tacitus bei Boeck:h, die andere über Properz bei Lachmann. Bei dem letztgenannten hörte er überdies »Lateinischen Styl«. Offenbar haben sich rur die Aristophanes-Ühersetzung keinerlei Verlagsverträge, Verlagskorrespondenzen o.Ä. erhalten. Der Verlag von Moritz Veit, bei dem die Aristophanes-Ühersetzung erschien, wechselte später mehrfach den Besitzer, bis er 1919 von Walter de Gruyter übernommen wurde; vgl. das Repertorium von Briefen aus dem Verlagsarchiv de Gruyter von Neuendorff (1999). Einige Dokumente zur dritten und vierten Auflage der Aischylos-Ühersetzung finden sich im CottaArchiv, Deutsches Literaturarchiv (Marbach a.N.). An Welcker, l. 9.1834; Britfillechsel (Bd.1, 1929),67.

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Auch in der Vorrede zum ersten Band der Übersetzung erwähnt Droysen diese »inoffizielle« Fassung und charakterisiert sie noch etwas genauer. Dort heißt es: [... ] die Vögel, an denen ich mich zuerst versuchte, bearbeitete ich in solcher Weise, daß jede Anspielung aufAthenäische Personen, auf Griechische Verse, auf damalige Zustände, mit Entsprechendem aus unserem Gesichtskreise vertauscht wurde, wie denn Göthe schon den Anfang dieses Stückes in ähnlicher Art umgewandelt hatte. Es war das gegen Ende des Jahres 1830; die damaligen Zeitverhältnisse gaben mir eine entsprechende Tendenz aus der Gegenwart; aus dem Medischen Hahn machte sich wie von selbst der Gallische Hahn, der statt der Tiara die rothe Mütze trägt, und noch heute der Höfe Tyrann ist, u. s. W. 29

Für die Buchausgabe ließ Droysen, wie er im Folgenden erläutert, eine dergestalt freie Transponierung der Komödie aus griechischen in deutsche Verhältnisse nicht mehr gelten. Und doch war die erste Übersetzung der Vögel mehr als nur ein Scherz unter Freunden: Sie zeigt, dass aktualisierende Aristophanes-Lektüre nach Art der »deutschen Aristophaniden « Droysen keineswegs fremd war, dass für seine Übersetzung neben anderen Motiven - durchaus auch eine politische Wirkungsabsicht geltend zu machen ist. Es wird sich einerseits erweisen, dass Droysen diese Absicht auch in der Druckfassung nie ganz aufgab, andererseits, dass die erste Version der Vögel dort als Textschicht noch greifbar ist. Nicht ohne Grund widmete Droysen den ersten Band Felix Mendelssohn und dem ebenfalls zum Mendelssohn-Freundeskreis gehörenden Albert Heydemann 30 • Um Ziel und Verfahren der ersten Fassung der Vögel und damit zugleich einen wichtigen Impuls für die Entstehung der gesamten Übersetzung nachvollziehbar zu machen, soll im Folgenden ihr Entstehungskontext, Droysens Freundschaft zu Felix Mendelssohn Bartholdy und das gesellige Leben im Haus Mendelssohn näher betrachtet werden. Als Droysen sich zum Sommersemester 1826 an der Berliner Universität einschrieb, hatte er nicht viel mehr in der Tasche als ein mäßig gutes Abiturzeugnis 31 und ein kleines Stipendium, für das Freunde seines schon 1816 gestorbenen Vaters aufkamen. Nach dem Bericht von Droysens Sohn Gustav vermittelte August Boeckh, Lehrer und Mentor Droysens an der Universität, eine Stelle als Hauslehrer bei Felix Mendelssohn Bartholdy. Belegbar ist Droysens Hauslehrertätigkeit allerdings nicht. 32 In jedem Fall entstand zwischen dem Musiker, der zu dieser Zeit bereits als Berühmtheit gefeiert wurde und den Konzertreisen durch halb Europa geführt hatten, und dem um wenige Monate älteren Philologie-Studenten damals eine Freundschaft, die bis zu Mendelssohns Tod im Jahr 1847 Bestand hatte. Der Briefwechsel zwischen beiden zeigt, worauf

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31 32

Aristophanes (Bd.l, 1835), VIII. Albert Heydemann (1808-1877), ein Kommilitone Droysens, war später Lehrer und Schuldirektor in Berlin, Posen und Stettin. Ausgerechnet in Geschichte, außerdem im Hebräischen fehlte es am »vorgeschriebenen Maß«, weshalb Droysen nur »bedingte Reife« zuerkannt werden konnte; vgl. übermann (1977), 72ff. Vgl. dazu Hacke! (2008),31 (Anm.l). Hacke! verweist auf die Erinnerungen Eduard Devrients (1869), nach denen Droysen zu den Universitätsfreunden Mendelssohns zählte. - Vgl. zur Freundschaft zwischen Mendelssohn und Droysen Gustav Droysen (1902) sowie den Briefwechsel zwischen beiden, den earl Wehmer 1959 unter dem Tite! Ein tiefgegründet Herz herausgab.

62

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ihre Affinität gründete: »schwärmend und schwelgend«33 war, in der Formulierung Droysens, ihre Freundschaft und ihre Begeisterung für Musik und Poesie, zugleich getragen von starker preußisch-protestantischer Religiosität. Neben musikalischer Begeisterungsfähigkeit brachte Droysen auch hinreichend Talent und Kenntnisse mit, um die jeweiligen Vorhaben Mendelssohns gesprächsweise und manchmal im gemeinsamen Musizieren zu unterstützen; immerhin hatte der Musikunterricht am Stettiner Gymnasium, als Droysen dort Schüler war, in den Händen des bekannten Balladenkomponisten Carl Loewe gelegen. 34 Als Mendelssohn im Vorlauf der Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion Teile daraus zunächst mit einem kleinen, aus dem Freundeskreis rekrutierten Chor einstudierte, zählte vermutlich auch Droysen zu den Sängern. 35 Daneben knüpften sich auch an die Pläne zu einer großen Oper, die Mendelssohn damals hegte, immer wieder lebhafte Diskussionen; noch Jahre später, als Mendelssohn nicht mehr in Berlin lebte, bildeten mögliche Opern-Sujets einen wichtigen Gegenstand der Korrespondenz. Die Freundschaft öffnete Droysen auch den Zutritt zum Haus Mendelssohn, das mit großen und kleinen Geselligkeiten damals einen über Berlin hinausreichenden Ruf genoß.36 Wenige Jahre zuvor hatte die Familie das »Reckesche Palais« in der Leipziger Straße (den späteren Sitz des preußischen Herrenhauses) bezogen. Hier traf sich die gebildete Gesellschaft Berlins, darunter Musiker ebenso wie Literaten, Gelehrte und Diplomaten, zu regelmäßigen Sonntagsmusiken und zwanglos unter der Woche. Der Hausherr Abraham Mendelssohn Bartholdy und seine Frau Lea prägten eine Atmosphäre, in der Wohlstand sich mit lebhafter Begeisterung für Musik und Literatur, liberale Offenheit mit familiärer Herzlichkeit verband. Droysen, der aus den bescheidenen Verhältnissen eines kleinstädtischen Pfarrhauses kam, lernte eine ihm bis dahin unbekannte Welt kennen. Hier konnte er Alexander von Humboldt, dem alten Carl Friedrich Zelter, Schadow, Rahel Varnhagen oder Henriette Herz begegnen. Er traf Heinrich Heine, der ihn (jedenfalls Gustav Droysens Bericht zufolge) einige Zeit mit seiner »besonderen Huld begnadete«, ihn »sein Alexanderchen« nannte und »in der Stehelischen Konditorei in das Arkanum seines dichterischen Schaffens«37 einweihte. 33

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36 37

»Er ist einer von den Menschen, denen ich immer etwas zu Liebe thun möchte, nicht um ihnen zu gefallen, sondern um mir zu genügen. Was waren das für schöne, kühle Sommernächte, wenn wir schwärmend und schwelgend heim gingen; wie groß und edel und feierlich lag dann das Leben vor uns, wie ungemessen und unerschöpflich fühlten wir unsere Kraft, unsere Gedanken!« Droysen an Heydemann, 14.8. 1841; Briqweehsel(Bd. 1, 1929), 196f. earl Loewe (1796-1866) war seit 1820 Organist in Stettin und unterrichtete zugleich am Stettiner Mariengymnasium, wo Droysen zwischen 1820 und 1826 Schüler war. Dies berichtet jedenfalls Gustav Droysen (1902), 118ff. In den Erinnerungen von Devrient (1869), 41ff., ist Droysen nicht namentlich erwähnt. Geck (1967), 25f., nennt als namentlich bekannte Mitsänger »die Schleiermacher-Schüler Julius Schubring und Ernst Friedrich Albert Baur, de [n] Maler und Kunsthistoriker Franz Kugler sowie möglicherweise auch de[n] Historiker Gustav [sie] Droysen«. Vgl. Wilhelmy (1989),146-150. Gustav Droysen (1910), 60. - Dass Gustav Droysens Bericht vielleicht übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigen die Erwähnung Heines in einem Brief von Droysen an seine Schwestern vom 11.7.1829 (Briqweehsel [Bd.l, 1929],4), sowie ein Brief Heines an Droysen vom

Biographische Kontexte

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Auch Droysens Universitätslehrer Boeckh und Eduard Gans gehörten zum Gästekreis. Neben dem großen Rahmen des offenen Hauses gab es auch kleine, intimere Kreise. Vor allem ist das sogenannte »Rad« zu nennen, ein Freundeskreis der jungen Generation, dem neben Droysen und Mendelssohn u. a. Mendelssohns Geschwister Rebecka, Fanny und Paul, der schon erwähnte Albert Heydemann mit seiner Schwester Minna sowie der Maler Wilhelm Hensel angehörten. 38 Das Haus Mendelssohn war für Droysen in gewisser Weise wohl auch Familienersatz und ließ ihn erstmals in Berlin Fuß fassen. Zugleich baute er hier seine literarischen Neigungen, die er schon in der Stettiner Gymnasialzeit ausgeprägt hatte, aus und wurde zum Familien- und Hausdichter - bzw. zum »Leib-, Magen- und Herzdichter«39, wie Felix Mendelssohn einmal schrieb. Neben der Aischylos-Übersetzung und den oben zitierten Aufsätzen über die Oper und über Bachs Matthäus-Passion entstand damals auch eine Reihe spätromantisch-biedermeierlicher Gedichte. Für Felix Mendelssohn schrieb Droysen Liedtexte und entwarf Libretti. Zu familiären Anlässen steuerte er Festspiele bei. Ein Festspiel, das zu Ehren des in Berlin weilenden russischen Kaiserpaars verfasst wurde, kam - mit der Musik von Adolph Bernhard Marx, der ebenfalls zum Kreis um Mendelssohn gehörte - sogar im Königstädtischen Theater zur Aufführung. 40 Erhalten ist von diesen literarischen Versuchen Droysens nur wenig: Einige Gedichte sind bis heute durch die Vertonungen Mendelssohns bekannt geblieben,41 anderes wurde in der von A. B. Marx redigierten Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung gedruckt42 oder ist familiär überliefert43. Dieser Atmosphäre liberaler Geselligkeit und schwärmerischer Freundschaft also gehört auch die erste Übersetzung der Aristophanischen Vögel an. Die Angaben, die Droysen später zum Entstehungsdatum machte, können allerdings nicht stimmen: Die Übersetzung kann weder, wie Droysen in seinem Schriftenverzeichnis angibt, »gegen

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6.9.1829, mit dem Heine sein Buch der Lieder übersandte (Briefwechsel [Bd.l, 1929], 9f.: auch in: Heine, Briefe 1815-1831, Säkularausgabe Bd.20, Berlin I Paris 1970, 363]). Zum »Rad« vgl. Hacke! (2008), 26-29. Den Namen erklärte Droysen in einem Brief an seine Schwestern damit, dass »ungeheuer darin geklatscht wurde und die Damen unserer Bekanntschaft noch weit klatschhafter wieder durchklatschten, was wir geklatscht hatten und wovon sie mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit fast jeden Augenblick unterrichtet waren«: Briefwechsel (Bd.l, 1929),4. Felix Mendelssohn Bartholdy an Fanny Mendelssohn Bartholdy und Wilhe1m Hensel, 11. 8.1829, in: Mende!ssohn, Sämtliche Briefe (Bd. 1),2008, 373. Vgl. Gustav Droysen (1910),63. Vgl. Mende!ssohn, ZwölfLieder mit Begleitung des Pianoforte, op.9, Berlin [1830]. Von Droysen sind die Texte zu Nr.3 (wartend), Nr.4 (Im Frühling), Nr.7 (Sehnsucht), Nr.9 (Ferne) und Nr. 11 (Entsagung). Die drei letztgenannten sind nicht namentlich gezeichnet. Gustav Droysen hat außerdem Nr.l (Frage) und Nr. 6 (Scheidend) seinem Vater zugeschrieben. Beide Texte sind unter dem Pseudonym »Voß« gedruckt und werden heute Mendelssohn selbst zugeschrieben. Hier wurden veröffentlicht: Die Neue Zeit (am 9.1.1827), Künstlerleben (am 14.5.1828: wieder abgedruckt bei übermann [1977], 114) und Die bösen Tage (am 19.9.1829). Das Gedicht Sancta Veronica (zum 15. Geburtstag von Droysens Schwester Mathilde) und ein Sonett zum Geburtstag seiner Braut sind auszugsweise gedruckt bei Gustav Droysen (1910), 36 und 116.

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Ende des Jahres 1830«44, noch, wie im Vorwort zur Buchausgabe steht, im Jahr 1831 45 geschrieben worden sein, da Mendelssohn zwischen Mai 1830 und Juni 1832 nicht in Berlin war. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie in die zweite Hälfte des Jahres 1832 gehört, als die Freunde nach Mendelssohns Italien-Reise einander erneut regelmäßig sahen. Wie dem auch sei: Die große Anziehungskraft, die Aristophanes' Name in der zeitgenössischen Literatur hatte, ist im Haus Mendelssohn kaum unbeachtet geblieben. Dass Mendelssohn (wie es in dem zitierten Brief an Welcker heißt) »den alten Spötter kennenlernen wollte«, lag nahe; den ersten Impuls zur Übersetzung erhielt Droysen hier. Er wählte die märchenhaft-phantastischen, für ihre reiche Sprachkunst berühmten Vögel und übersetzte, wie er Welcker gegenüber erklärte, unbekümmert »über die mögliche Treue und erlaubte Untreue« nur mit Blick auf das Vergnügen Mendelssohns und der anderen Freunde. Es wäre aufschlussreich, wenn man diese erste Fassung der Vögel mit der späteren Buchfassung vergleichen könnte. Droysens Sohn berichtet, dass er das Manuskript in seiner Jugend noch gesehen habe. 46 Heute ist es offenbar verloren. Versuche, sich dennoch eine Vorstellung von der Textgestalt zu verschaffen, führen zu widersprüchlichen Resultaten. Auf der einen Seite stehen die oben zitierten Zeugnisse Droysens, die den Eindruck einer eigenständigen, von der späteren Übersetzung grundlegend verschiedenen Fassung vermitteln: »Ich gab diesen Weg gänzlich auf«47, heißt es in der Buchvorrede. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die im Rheinischen Museum enthaltenen Textzitate, die ja nach Droysens Angabe der »Mendelssohn-Fassung« entnommen sind, mit dem Text der Buchausgabe vergleicht. Immerhin 80 Verse werden im HermokopidenAufsatz zitiert, indirekte Zitate und bloß paraphrasierende Passagen nicht mitgezählt. Lässt man Orthographie und Zeichensetzung unberücksichtigt, dann weisen aber nur 29 Verse Abweichungen gegenüber der Buchfassung auf. Meist handelt es sich um minimale grammatische, lautliche oder metrische Differenzen. Einige Varianten scheinen einfach aus einer großzügigen Zitierpraxis oder aus Abschreib- oder Druckfehlern (vor allem im Hermokopiden-Aufsatz) zu resultieren. So ist die Wendung JIOn des Mittags glühnder Stille 48 in der Aufsatzfassung fehlerhaft, während es in der Buchfassung richtig lautet (V. 1095f., Hervorhebungvon der Vf.): Wenn im Kornfeld heimlich zirpend Heimchen seinen bangen Ruf Vor des Mittags glüh'nder Stille wie im Wahnsinn jammernd ruft.

Generell scheint die Aufsatzfassung metrisch flüssiger und glatter gestaltet gewesen zu sein als die Buchfassung. Sie verzichtet beispielsweise in den deutschen Jamben auf »freie Füllungen« (Y. 1133f.): 44 45 46 47 48

In dem 1859 zusammengestellten Verzeichnis heißt es: »Schon 1831 wenn ich mich recht entsinne, hatte ich die Vögel in einer theilweise erhaltenen freien Uebertragung versucht. « Blanke (2008),173. Aristophanes (Bd.1, 1835), VIII. Gustav Droysen (1902), 200. In Gustav Droysens Biographie seines Vaters bleibt das Manuskript unerwähnt. Aristophanes (Bd.1, 1835), IX. Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.2, 1836),49.

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Aufsatzfassung: Die Vögel, niemand anders, kein Aegyptischer Handlanger, Steinmetz, Zimmermeister half dabei. 49 Buchfassung: Die Vögel, niemand anders; kein Aegyptischer Handlanger, kein Steinmetz noch Zimmrer half dabei.

Manchmal lehnt sich die Buchfassung enger an die griechischen Sprachformen an. Das zusammengesetzte griechische Verb e-rrriAocp6povv (» trug Lehm herbei«) übersetzte Droysen beispielsweise im Aufsatz als Uler machte den Lehm an?50, im Buch als Uler trug den Lehm heran? (V. 1142). Andere Abweichungen lassen vermuten, dass die Buchfassung gegenüber der Aufsatzfassung zu einer Anhebung des Stils tendierte: Aufsatzfassung: der goldengelockte Apoll51 Buchfassung: der goldenumlockte Apoll (V. 219) Aufsatzfassung: weiße Myrte 52 Buchfassung: weiße Myrrhen (V. 1100)

Die ungenügende Textgrundlage lässt nut sehr vorsichtige Schlüsse zu. Immerhin weisen die genannten Tendenzen in ähnliche Richtung wie Droysens Aussage gegenüber Welcker, dass er nämlich in der für Mendelssohn bestimmten Übersetzung nur seiner »Laune und Ansicht über die mögliche Treue und erlaubte Untreue« gefolgt sei. Die Buchausgabe scheint im Vergleich zur früheren Fassung eine größere Nähe zu Voß' Übersetzungssprache aufzuweisen, bis hin zur Adaption Voß'scher Kompositabildung, wie sie in dem Adjektiv goldenumlockt (gegenüber goldengelockt) erkennbar ist. 53 Allerdings sind die Abweichungen in den im Aufsatz zitierten Versen so gering, dass man nur von zwei Varianten derselben Übersetzung, nicht aber von zwei völlig verschiedenen Übersetzungen sprechen kann. Dieser Befund lässt zwei Schlüsse zu: Entweder ist die Annahme zweier grundlegend verschiedener Versionen, die Droysen suggeriert, falsch, oder Droysens Zitate im Hermokopiden-Aufsatz stellen bereits eine Überarbeitung gegenüber der »Mendelssohn-Fassung« dar. Die letztgenannte Möglichkeit ist aus Gründen der Entstehungschronologie wenig wahrscheinlich: Das Manuskript des Hermokopiden-Aufsatzes lag bereits im September 1834 fertig vor, während der früheste Hinweis auf die Vorbereitung des ersten Aristophanes-Bandes vom Mai 1835 datiert. 54 Manches deutet also darauf hin, dass Droysen die für Mendelssohn angefertigte Übersetzung mit relativ wenigen Änderungen auch der Buchausgabe zu Grunde legte. Die Analyse des Übersetzungstextes wird eine Wandlung der Droysen'schen Übersetzungsstrategien im Fort49 50 51 52 53

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Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.2, 1836),49. A.a.O.,50. A.a.O.,47. A.a.O.,49. Zu verweisen ist etwa auf die in der Voß'schen Horner-Übersetzung geprägten Epitheta wie »die hellurnschienten Achaier«, »der helmumflatterte Hektor«, »der schwarzumwölkte Kronion«. Vgl. auch die Beschreibung der Voß' sehen Sprache bei Ludwig Seeger, oben S. 4 f. Am 1. 9.1834 übersandte Droysen das Aufsatz-Manuskript an Welcker, arn 22.5.1835 berichtete er erstmals über die geplante Gesamtübersetzung des Aristophanes, ebenfalls in einem Brief an Welcker; vgl. Briefwechsel (Bd.1, 1929),66 bzw. 74.

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gang des Textes zeigen, die darauf schließen lässt, dass Droysen anfangs vom Vorsatz einer grundlegenden Überarbeitung geleitet wurde und dann in wachsendem Maß die »Mendelssohn-Fassung« unverändert übernahm. 55

3.1.3

Der Hermokopiden-Aufsatz

Die für Mendelssohn und die anderen Freunde verfasste Übersetzung kann also als eine Vorstufe zu Droysens Aristophanes-Übersetzung gelten. Einen weiteren Anlass, sich mit dem Komiker zu befassen, gab die schon genaunte Abhandlung Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden (1835/36). Beide Male standen die Vögel im Mittelpunkt - allerdings aus unterschiedlicher Perspektive. Schon während Droysens Philologie studium waren seine historischen Neigungen zutage getreten. 56 In den ersten Berliner Berufsjahren verfolgte er mit Stellungen als Gymnasiallehrer und als Extraordinarius an der UniversitätS? eigentlich eine herkömmliche philologische Laufbahn, machte aber von Beginn an auch die Geschichte zu seinem Arbeitsfeld. In einem Bewerbungsschreiben an Kultusminister Altenstein wies er eigens darauf hin, dass die Alte Geschichte gegenüber der Philologie in Berlin unterrepräsentiert sei: Die Geschichte des Altertums, glaube ich, ist bisher in unserer Fakultät nicht auf hinreichende Weise repräsentiert. Der Standpunkt der Altertumswissenschaften und das Bedürfnis der studierenden Jugend scheint mir eine Reihe von Vorlesungen zu fordern, in denen das Altertum einerseits nicht philologisch, sondern nach seinen geschichtlichen Beziehungen betrachtet, andererseits aber nach gewissen Hauptrichtungen als in sich geschlossene Entwicklung systematisch dargestellt würde. 58

Tatsächlich wurde Droysen 1835 zum außerordentlichen Professor (ohne Gehalt) für Klassische Philologie und Alte Geschichte an der Berliner Universität berufen; seine Lehrveranstaltungen spiegeln seine Interessen deutlich wieder: Er las über Alexander und Alte Geographie, über die attischen Redner und wiederholt über griechische Tragödie und Komödie. 59 Sein wichtigstes historisches Arbeitsfeld war zunächst das 3. und 2. vorchristliche Jahrhundert, also die Zeit Alexanders des Großen und des Hellenismus. Schon 1831 55 56

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Siehe unten S. 154ff. Vor allem in seinen letzten Semestern hörte Droysen Vorlesungen zur Geschichte, zur Historischen Geographie und zur Philosophie der Geschichte. Sein Studienbuch belegt fur das Wintersemester 1827/28 die Teilnahme an Boeckhs Vorlesung Griechische Alterthümer, an Stuhrs Philosophie der Geschichte sowie an der Alten Geographie bei earl Ritter. Im Sommersemester 1828 hörte er bei Ritter Ethnographie und Geographie von Asien und noch einmal Alte Geographie, außerdem bei Gans Neueste Geschichte in Bezug auf das Staatsrecht. In seinem letzten Hochschulsemester, dem Wintersemester 1828/29, saß er in Hegels Philosophie der Geschichte und in Wilkens Geschichte des Mittelalters; vgl. Astholz (1933), 209f. Vgl. unten S. 77. An Kultusminister Altenstein, 18.10.1834; BriefWechsel (Bd.l, 1929), 68 f. Vgl. Hackel (2008), 115f., wo alle Lehrveranstaltungen Droysens aufgelistet sind.

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begann er mit den Vorarbeiten zu einer historischen Darstellung dieser Zeit, die er mit dem bekannten Diktum einmal die »moderne Zeit des Altertums«60 nannte. 1833 erschien die Geschichte Alexanders, 1836/43 folgten die beiden Hellenismus-Bände. Daneben wendete er sich aber bald auch den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts zu: der Krisenzeit, in der das klassische Athen sein Ende fand, der Zeit des Aristophanes. Als Resultat dieser Arbeit kündigte er Anfang 1834 eine Arbeit für das Rheinische Museum an, die zunächst nur den attischen Redner Andokides zum Gegenstand haben sollte. Andokides gehörte zu den Angeklagten in den Prozessen gegen die Hermenfrevler von 415 v. Chr.; die Reden, die von ihm überliefert sind, geben Zeugnis über die Ereignisse dieses Jahres. Nachdem Droysen jedoch begann, auch die anderen Quellen darunter Thukydides, Plutarch, Diodor und eben Aristophanes - in seine Arbeit einzubeziehen, wuchs sich die Abhandlung schließlich zu einer umfassenden Bestandsaufnahme aus, die die Verstümmelung der Hermenstatuen und die anschließenden Prozesse chronologisch und im Zusammenhang der sizilischen Expedition (der Flotte, die Athen ausrüstete, um seinen sizilischen Bundesgenossen gegen Angriffe durch Syrakus zu Hilfe zu kommen) so genau wie möglich zu rekonstruieren versuchte. Im September 1834 schrieb Droysen an Welcker: »Der längst angemeldete Andocides freilich mit gar anderem Titel und Charakter, als ich mir sonst gedacht hatte, ist soeben beendet, und Sie waren so gütig, ihm einen Platz im Rheinischen Museum zu versprechen.«61 Den Ausgangspunkt für Droysens Argumentation bildet Johann Wilhelm Süverns damals gut rezipierte Akademieschrift Ueber Aristophanes Vögel (1827).62 Süvern nimmt an, dass die Komödien des Aristophanes verschlüsselte Darstellungen der Zeitgeschichte seien, und interpretiert die Vögel als eine Allegorie auf die Sizilienflotte. Der Chor der Vögel stehe, so Süvern, für die Athener, die Götter für die Spartaner, und mit dem Städtebauprojekt sei eben die von der Volksversammlung beschlossene Militäraktion in Sizilien gemeint, deren Unsinnigkeit und Gefährlichkeit Aristophanes aufzuzeigen versucht habe. Damit gehörte Süvern zu denjenigen, die damals die Frage nach dem politischen Realitätsgehalt in Aristophanes' Komödien zum Gegenstand ihrer Forschung machten. Dieser Deutung der Komödie als einer simplen Allegorie, einer chiffrierten und entschlüsselbaren politischen Botschaft widerspricht Droysen nachdrücklich und zeigt

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Privatvorrede (1843), 313. An Welcker, 1.9.1834; Briefwechsel (Bd.1, 1929),66. Johann Wilhe1m Süvern (1775-1829) hatte u.a. bei Friedrich August Wolf in Halle studiert und war als Schulreformer und Mitarbeiter Wilhe1m von Humboldts in der Unterrichtsabteilung des preußischen Innenministeriums bekannt. Nach Übernahme des Ministeriums durch Altenstein (1817) zog er sich jedoch aus dieser Position zurück und fand danach Zeit für altertumswissenschaftliche Studien. Zwei weitere Arbeiten über Aristophanes liegen von ihm vor: Über Aristophanes Wolken (1826) und Über Aristophanes Drama benannt das Alter, nebst Zusätzen zu der Abhandlung über die Wolken (1827). Als junger Mann ist Süvern übrigens auch mit Tragödien-Übersetzungen (Aischylos' Sieben gegen Theben, 1797, und Sophokles' Trachinerinnen, 1802) hervorgetreten. Die Schrift über die Vögel erschien 1835 auch in englischer Übersetzung in London unter dem Titel Essay on »The Birds« 0/Aristophanes.

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dabei die gleiche Lust an der Provokation und das gleiche Selbstbewusstsein, das die historischen Arbeiten des jungen Droysen auch sonst kennzeichnet. Anstatt den Text nach darin verschlüsselten historischen facta zu durchsuchen, will er zunächst die literatur- und theaterpolitischen Verhältnisse klären. Er stellt die Frage, ob möglicherweise politische Gründe den Ausschlag dafür gaben, dass Aristophanes mit den Vögeln nicht den ersten Preis im Komödienwettbewerb erhielt, und warum Aristophanes keinen der Athener, die in die Hermenfrevlerprozesse involviert waren, mit Namen nannte. Die Rekonstruktion der Ereignisse von 415 v. ehr. dient Droysen also in erster Linie dazu, das Verhältnis der Vögel zur Zeitgeschichte besser bestimmen zu können, wobei seine Perspektive der von Süvern genau entgegengesetzt ist: Nach seiner Auffassung ist historische Wirklichkeit in der Komödie nicht als Eins-zu-Eins-Abbildung, sondern in allgemeinerer, ästhetisch sublimierter Weise greifbar. Drei Punkte sind dabei für Droysens Aristophanes-Auffassung und für sein übersetzerisches Interesse von Bedeutung. Erstens: Droysen nimmt im HermokopidenAufsatz eine kategorische Neubewertung des Aristophanes vor. Er betrachtet ihn nicht mehr - wie Kanngießer, Süvern und andere - als Aufklärer, der den Athenern lachend die Wahrheit gesagt habe, sondern als Autor, der sich gleichermaßen durch höchste poetische Meisterschaft wie durch eine durchweg fragwürdige Moral ausgezeichnet habe. Die im Hermokopiden-Aufsatz verwendete Formulierung, Aristophanes' Komödien seien das »überwilde Zerrbild«63 der Fehler seiner Zeit, wird in der Vorrede zur Übersetzung der Vögel wieder begegnen. Zweitens: Auch die Geschichte Athens unterzieht Droysen einer neuen Deutung. Er stellt die Jahre um die sizilische Expedition herum nicht als Zeit der Dekadenz, sondern (mit Hegel'scher Dialektik) sogar als politische Klimax dar, er sieht als »Mittagshöhe [sc. des politischen Lebens der Athener J nicht Perikles, sondern Alcibiades, den Eroberungszug nach Sicilien, die auf das Aeußerste gesteigerte und in sich selbst zum andern Extrem umschlagende Demokratie«64. Drittens: Schließlich verwendet Droysen diesen Aufsatz implizit auch zur Demonstration seiner historischen Methode. Er zeigt, dass literarische Texte durchaus als geschichtliche Quellen dienen können, aber nicht durch eine naive Suche nach Fakten (wie sie im Fall von Aristophanes bei Süvern und anderen besonders merkwürdige Blüten hervorgebracht hatte), sondern durch Deutung des Kunstwerks als eines Ausdrucks der Ideen seiner Zeit; hier deutet sich sicherlich schon die Ideenlehre der Historik an. Damit gewinnt Droysen die Komödien als genuinen Forschungsgegenstand für den Historiker; damit zeigt er auch, wie der im Bewerbungsschreiben an das Ministerium enthaltene Seitenhieb gegen die Philologie (er wolle das Altertum »nicht philologisch, sondern nach seinen geschichtlichen Beziehungen« betrachten) zu verstehen ist. Während also die erste Übersetzung der Vögel für Mendelssohn die Komödie als Dichtung in das biedermeierliche Berlin der Zeit um 1830 versetzten sollte, lag das Ziel des Hermokopiden-Aufsatzes darin, das gleiche Stück in seinen historischen Kontext zu stellen, es aus der Geschichte heraus zu deuten und aus seiner Deutung wiederum 63

DesAristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.l, 1835), 181.

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A.a.O. (T.2, 1836),62.

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historische Erkenntnisse zu gewinnen. Der Aufsatz gehört zeitlich in das unmittelbare Vorfeld der Buchausgabe der Übersetzung. Er stellt in gewisser Weise deren gelehrtes Pendant dar, was sich unmittelbar zeigt, wenn man ihn neben die Vorrede zur Übersetzung der Vögel legt, die gewissermaßen als stark gekürzte, für ein Laienpublikum bearbeitete Alternativfassung gelesen werden kann. Einige Passagen aus dem Aufsatz besonders zur Auffassung der Alten Komödie und zur Situation und Stimmungslage in Athen - hat Droysen wörtlich in die Übersetzungs-Vorrede übernommen. 65

3.1.4 Droysens Aristophanes-Auffassung

Im Mai 1835 schrieb Droysen an Welcker: Ich habe mich von meinen Freunden und Zuhörern endlich beschwatzen lassen, von Aristophanes den Frieden und die Vögel, die ich seit längerer Zeit übersetzt hatte, drucken zu lassen. Sie wissen von früheren Zeiten noch, wie das Übersetzen des Aristophanes schwierig ist. 66 Dass Droysen von den Freunden zur Übersetzung angestiftet wurde, ist vorstellbar, aber ohne eigenes genuines Interesse hätte er die, wie er mit Anspielung aufWelckers Aristophanes-Übersetzungen schreibt, »schwierige« Arbeit sicher nicht auf sich genommen. Welcher Art war dieses Interesse? Zwei Punkte sind anhand der Vögel-Übersetzung für Felix Mendelssohn und des Hermokopiden-Aufsatzes schon deutlich geworden: Zum einen schätzte Droysen das Kunstvermögen des Aristophanes, seine, wie er es ausdrückte, »holdselige Leichtigkeit und poetische Farbigkeit«67; zum anderen nutzte er die Komödien als historischen Quellentext. Zieht man weitere Zeugnisse - insbesondere Droysens Einleitungen zu den einzelnen Komödien - heran, dann ergibt sich, dass Droysens Urteil in einigen Aspekten entschieden innovativ war, dabei aber nicht ohne innere Widersprüche blieb. Eine ästhetische Würdigung gelang Droysen nur, indem er die Poesie der Komödien von der Gesinnung des Autors trennte. Die Historie wiederum geriet in Droysens Darstellung häufig in ein oszillierendes Wechselverhältnis mit der Gegenwart, den Verhältnissen des Vormärz. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Wie oben (in Kapitel 2.1) gezeigt, galt die Gesinnung des Aristophanes sowohl wegen seiner Diffamierung des Sokrates als auch wegen seiner Obszönitäten in der Neuzeit von jeher als zweifelhaft. Droysen indessen machte zwischen beidem, dem namentlichen Spott der Komödien und ihrer obszönen Sprache, einen deutlichen Unterschied. Am Obszönen nahm er wenig Anstoß, im Gegenteil: Es zeigte ihm die

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Der Herausgeber von Droysens Kleinen Schriften zur alten Geschichte (2.Bd., 1894) fügte unter dem Hermokopiden-Aufsatz die Notiz ein: »Einige Abschnitte dieser Abhandlung sind in die Einleitung zu des Verf. übersetzung der Vögel des Aristophanes aufgenommen worden.« - Zu den übernommenen Teilen gehören auch die unten S. 72 (Anm. 82) und 76f. (Anm. 107) angeführten Zitate. An Welcker, 22.5.1835; Briefwechsel (Bd.l, 1929),74. - Zu Welckers Übersetzungen des Aristophanes siehe oben S. 46. An Welcker, l.9.1834; vgl. oben S. 60 (Anm. 28).

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»feste und gesunde Leibhaftigkeit«68 der Griechen an und taugte damit nicht zuletzt auch als Argument gegen klassizistische Idealisierungen. Sein eigenes Vergnügen am obszönen Witz des Aristophanes wird in den Einleitungen und in den Stellenkommentaren daher auch keineswegs bemäntelt. In der Vorrede zum ersten Aristophanes-Band gab er in diesem Sinn eine Generalerklärung zu den »schmutzigen Dingen« und äußerte sich zur herrschenden Praxis, obszöne Stellen unübersetzt zu lassen: [D]er Athenäer liebt es, von schmutzigen Dingen reden zu hören, ja sie selbst leibhaftig zu sehen [... ]. Nach unserer Weise ist dies ekelhaft und schnöde; und doch sind das in Aristophanes Dichterkranz die Blumen, die der Athenäer am liebsten roch. Was soll da ein ehrlicher Uebersetzer thun? Der beste Ausweg wäre, so üble Dinge gar nicht zu übersetzen! Nun gut, so werde ich die Menschen in solche theilen, die hierauf »ja«, und die hierauf »nein« antworten; ich selbst gehöre zu den letzteren, und da ich natürlich nur für diejenigen schreibe, die es eben so meinen, so bin ich der Mühe überhoben, zu beweisen, man könne Aristophanes doch übersetzen. 69

Wenn Droysen Vorbehalte gegen Aristophanes hatte, dann also nicht wegen der Unanständigkeit seiner Witze. (Dies ändert freilich nichts an den geltenden Sprachtabus und an den Defiziten des deutschen obszönen Wortschatzes und behebt noch nicht die Schwierigkeiten beim Übersetzen?O) Anders verhält es sich mit Droysens Sicht auf die derben persönlichen Angriffe, die in den Komödien gegen Sokrates, Kleon und andere vorgebracht werden. Hier widerspricht Droysen der herrschenden Auffassung, nach der Aristophanes Missstände des Gemeinwesens angeprangert habe. Vielmehr erkennt er in der Darstellung des Sokrates in den Wolken die »crassesten Uebertreibungen und Lügen«7!: Statt berechtigter Kritik an der Sokratischen Lehre habe Aristophanes nur harmlose persönliche Eigenschaften diffamiert. Über den Auftritt des Kleon in den Rittern heißt es, dass selten »irgend ein öffentlicher Charakter mit malitiöserer Kunst entstellt worden« 72 sei, auch wenn der Mut des Aristophanes, Kleon auf dem Höhepunkt der Macht zu attackieren, Respekt verdiene?3 Droysen versteht den persönlichen Spott der Alten Komödie nicht als berechtigte politische Satire, sondern als unbegründeten Konservatismus, als Opposition gegen alles Bestehende und Beschwörung einer »guten alten Zeit«, die es in Wahrheit nie gegeben habe: [M]an vergißt, daß jene »gute alte Zeit« wie sie Aristophanes schildert, ohne sie noch mit erlebt zu haben, eine Fiction ist, in der er, mehr poetisch als der Wahrheit gemäß, nichts als Tugend und Glückseligkeit zu sehen glaubt. Will man dergleichen Fantasien Gesinnung nennen, so sind wenigstens die Mittel, die zu deren Verfechtung verwandt sind, gesinnungslos und gar nicht in der hochgepriesenen edleren Weise der »guten alten Zeit«. Es ist vielmehr in dem Sinn der Idioten, gegen die Wissenschaften die Trivialitäten von N utz68 69 70 71

n

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DesAristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.2, 1836), 56. Aristophanes (Bd.l, 1835), VII. V gl. oben S. 27 ff. und unten S. 126 ff. Aristophanes (Bd.3, 1838), 12 (Einleitung zu den Wolken). Aristophanes (Bd.2, 1837), 306 (Einleitung zu den Rittern). A.a.O.,307.

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losigkeit, Vergeblichkeit, Müßiggängerei geltend zu machen; es ist im Sinne der argwöhnischen Dummheit, Abschaffung althergebrachter Mißstände, etwa eines confusen Kalenders, als Gefährdung heiligster Rechte zu verschreien; es ist in dem Sinne niedrigster Gemeinheit, was man nicht begreift, mit Hohn zu besudeln und fremde Ansicht durch Herabwürdigung ihrer Vertreter zu bekämpfen. Freilich die Lacher und den Pöbel mag solches Thun für sich haben! 74

Den letzten Satz dieser Philippika in der Einleitung zu den Wolken strich Droysen in den späteren Auflagen der Übersetzung; ihm war wohl bewusst, dass der persönliche Spott Gattungsmerkmal der Alten Komödie und nicht Ausdruck der niederen Beweggründe des Autors war. Man dürfe, so heißt es weiter, nicht Gesinnung erwarten, wo nur die Kunst zählt: Ohne Ansprüche auf Eigenschaften zu machen, die für die Kunst indifferent sind, hat sie [sc. die Komödie] ihre ganze Energie und das Maß ihres Werthes in der unvergleichlich hohen künstlerischen Vollendung, mit der sie ausgestattet ist. [... ] Ist die Form der vollkommene Organismus des Inhaltes, ist beides zu einer in sich beschlossenen Idealwelt vereinigt und durchdrungen, so ist das Kunstwerk vollendet.7 5

Wenn man sich erinnert, dass Droysen Aischylos deshalb bewunderte, weil dieser in seiner Dichtung wie ein Priester nur vom »Höchsten und Heiligsten«76 zum Volk gesprochen habe, dann versteht man, dass die Trennung von Aristophanes' Kunst und seiner Gesinnung einen sehr ambivalenten Rettungsversuch darstellte. Aber auch das ästhetische Urteil Droysens blieb ambivalent. Das klassische Ideal, die hegelianische Forderung nach Einheit der Idee im Kunstwerk vermochte er nicht überall mit der Dramaturgie der Komödien, ihrer Zweiteilung und lockeren Szenenreihung zu vereinbaren. An der Komposition des Frieden kritisierte er, dass die Handlung in »zwei von einander unabhängige, nur in der Folge des Geschehens zusammengehörende Motive« 77 zerfällt, die Wolken erschienen ihm »gleichsam nicht durchorganisiert von der künstlerischen Idee«78, die Wespen schätzte er dagegen, gerade weil er dort die verschiedenen Elemente der Handlung »zu einem höchst lebensvollen und künstlerisch geschlossenen Ganzen« 79 vereinigt fand. Dabei ging es Droysen natürlich nicht um ein äußeres, »aristotelisches« Einheitspostulat. Die freie Behandlung von Zeit, Raum und Handlung in der Komödie betrachtete er geradezu als Ausdruck ihrer künstlerischen »Idealität«: »Zeit und Raum haben der alten Kunst nie viel Sorge gemacht, über solche Regulative möglichster Wahrscheinlichkeit liebt sie es mit jener summarischen Idealität zu täuschen, auf die einzugehen nur der nachrechnende Verstand, der unpoetische, sich sträubt.«80

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Aristophanes (Bd.3, 1838), 13 (Einleitung zu den Wolken). A.a.0.,14. Aischylos (Bd.l, 1832), 180. Aristophanes (Bd.l, 1835), 9f. (Einleitung zu Plutos). Aristophanes (Bd.3, 1838), 17 (Einleitung zu den Wolken). Aristophanes (Bd.2, 1837),21 (Einleitung zu den Wespen). A. a. 0., 172 (Einleitung zu den Acharnern).

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Letztlich blieb die Frage der - idealen oder dramaturgischen - Einheit für Droysen aber nachgeordnet. Wichtiger waren ihm die phantastischen Erfindungen und das »dreiste und blitzgleich umherfahrende Spiel des Witzes«81: Darin sah er die eigentliche Kunst des Aristophanes, dessen Komödien eben nicht nur Allegorien der Realität darstellten, sondern die Wirklichkeit mit Mitteln der Phantasie, des Märchens, des Traums sublimierten: Nun ist aber gerade das das Wesen der alten Komödie, daß ihre phantastische welt sich mitten in die Alttäglichkeit [sie] hineinstellt, und aller Enden das Hier und heut seine leibhaftigen Angesichter nebst Arm und Bein, und gewisse andere Dinge noch herdurchsteckt; diese gehören dann mit hinein und werden so ordentlich mythisch anzusehen, und wieder der Mythos, in den sie hineintappen, wird gerade so täppisch alltäglich wie sie. 82

Mit dieser Auffassung stand Droysen der Aristophanes-Rezeption der Romantik nahe, die die Komödien nicht als satirisches Theater, sondern als phantastische Possenspiele betrachtete. Seine Vorlieben unter den Stücken bestätigen dies. Am höchsten schätzte er die Vögel, »leicht die schönste unter den erhaltenen Komödien«83. An den Fröschen, »nach den >Vögeln< das vollendetste Werk des Aristophanes«84, hob er vor allem das phantastische Sujet der Unterweltsfahrt hervor, eine Sache, »die in gleicher Vollendung vielleicht nicht zum zweiten Male in der poetischen Kunst vorkommt«85 - die »Aristophaniden« des Vormärz lasen die Frösche dagegen in erster Linie als Literatursatire. Die Wespen rechnete Droysen »sowohl in ästhetischer wie in geschichtlicher Hinsicht zu den interessantesten und schwierigsten Stücken des Aristophanes«86. Die Thesmophoriazusen und Ekklesiazusen schätzte er ausschließlich als poetisch-formale Spiele, die entweder - im Fall der Thesmophoriazusen - sich »in dem festbegränzten Kreise« 87 literarischer Parodie bewegten, oder aber - im Fall der Ekklesiazusen - »an dem trivialsten Inhalt ihre reizendsten und vollkommensten Formen«88 verschwendeten. Die "Wolken (vielleicht das Lieblingsstück der »Aristophaniden«) zeugten fur Droysen von der» ganzen Sprudelfülle von Genialität, Anmuth und Bitterkeit, die den

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Aristophanes (Bd.l, 1835), 127 (Einleitung zu Plutos). A. a. 0., 262 (Einleitung zu den Vögeln); vgl. auch Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.2, 1836),54. DesAristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.l, 1835), 161. Aristophanes (Bd. 3, 1838), 393 (Einleitung zu den Fröschen). A. a. 0., 405 f. (Einleitung zu den Fröschen). - Vögel und Frösche waren, ebenso wie die Wolken, auch wiederholt Gegenstand seiner Lehrveranstaltungen. Droysen las in den dreißiger Jahren regelmäßig über Aristophanes, so im Sommersemester 1834 über Griechische Komödie (publiee) sowie über die Vögel und die Frösche (privatim); im Sommersemester 1835 über die Wolken und die Frösche (privatim); im Sommersemester 1836 eine Einleitung in die Griechische Komödie (publice) sowie über» Vögel oder Frösche« (privatim); im Wintersemester 1837/38 über die Vögel und die Ritter (privatim); im Sommersemester 1839 über die Attische Komödie (publice) und noch einmal über die Vögel und die Frösche (privatim). Die Hörerzahlen belegen, dass sich diese Veranstaltungen besonders großer Beliebtheit erfreuten; vgl. Hackel (2008), 115 f. Aristophanes (Bd.2, 1837), 6 (Einleitung zu den Wespen). Aristophanes (Bd. 3, 1838), 232 (Einleitung zu den Thesmophoriazusen). A. a. 0., 315 f. (Einleitung zu den Ekklesiazusen).

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großen Komiker auszeichnet«89 und wurden letztlich durch die Dominanz der satirischen Absicht diskreditiert: »[D Jas ganze Stück wird dadurch auf eine sehr handgreifliche Moral hingegipfelt, eine Moral die desto unangenehmer wirkt, da sie ohne poetische Gerechtigkeit ist«90. Die geringste Anerkennung fand schließlich jene Komödie, die bis ins 18. Jahrhundert allen anderen vorgezogen worden war, Plutos, und zwar gerade weil sie »die am wenigsten schlüpfrige, die faßlichste, die nüchternste«91 sei. Droysen hat also die vorherrschende Vorstellung von Aristophanes als einem redlichen Patrioten vehement zurückgewiesen und »in Aristophanes mehr den Schalk als den Tugendprediger«92 gesehen. Die Ambivalenz seines poetischen Urteils und vor allem die Interferenzen, die er zwischen der »Moral« des Komikers und der Ästhetik der Komödien wirken sah, machten es ihm offenbar nicht immer leicht, sich mit seiner Arbeit zu identifizieren; als er zum Jahresende 1837 den zweiten Band an Felix Mendelssohn nach Leipzig schickte, schrieb er im Begleitbrief: So stelle, wenn Du magst, das übersetzte Wesen zu dem Vorgänger; ich komme mir dabei vor wie unter einer Maske: wer es nicht genau weiß, erkennt den darunter nicht; oder wie einer, der mit einer Menagerie sich zeigt: nicht den, der die Mühe hat, sondern die wunderlichen Tiere beschaut man staunend, es sei denn, daß der van Aken sich neben den Löwen in den Käflg setzt, und dann - was ist es mehr, als daß er nicht gefressen worden. 93

Anders sah es mit der historischen Betrachtung der Komödien aus. Schon in seinem Bewerbungsschreiben an das Kultusministerium hatte Droysen darauf hingewiesen, dass Aristophanes »von dem historischen Standpunkte aus leicht die ausgiebigste Seite abzugewinnen«94 sei. Tatsächlich war nicht nur im Hermokopiden-Aufsatz, sondern auch in der Übersetzung Droysens Perspektive unverkennbar die des Historikers. In seinen Einleitungen zu den einzelnen Stücken nimmt die Darstellung der historischen Kontexte, in denen jeweils die Aufführung stattgefunden hatte, den größten Raum ein. Am deutlichsten zeigt sich dies bei den Vögeln, wo Droysen in der 32-seitigen Einleitung auf ungefähr 23 Seiten die Geschehnisse der sizilischen Expedition und des Hermenfrevels darstellt, und bei den Rittern, wo ungefähr 24 von 34 Seiten der Athenischen Verfassung und dem Werdegang und der Bedeutung des Kleon gewidmet sind. Bei den TVespen, den Acharnern und dem Frieden sind die Relationen nur unwesentlich anders. Kann dort aber die Kenntnis der Geschichte noch als unerlässliche Voraussetzung für das Verständnis der Komödien betrachtet werden, so bleibt der Geschichtsexkurs in der Vorrede zur Lysistrate, die von Droysen explizit unpolitisch gedeutet wird, seltsam beziehungslos. Im Anschluss an eine Skizze der militärischen

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Aristophanes (Bd.3, 1838), 3 (Einleitung zu den Wolken). A.a.O., 15. Aristophanes (Bd.l, 1835), 124 (Einleitung zum Plutos). »Schon sonst haben sich deren etliche [sc. Philologen] an mir geärgert, wenn ich nicht patriotisch blind mit Demosthenes haßte und in Aristophanes mehr den Schalk als den Tugendprediger sah.« Privatvorrede (1843), 302. An Mendelssohn, 31.12.1837; Briefoechsel (Bd.l, 1929), 128f. - Van Aken war ein Menageriebesitzer. An das Kultusministerium, 18.10.1834; Briefoechsel (Bd.l, 1929),69.

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Bedrängnis Athens und des oligarchischen Verfassungsumsturzes von 411 heißt hier lapidar: Es ist sehr merkwürdig, daß der Dichter in so argen Zeiten mit solchen Dingen seine Zuschauer amüsirt hat; der tolle Plan der Weiber, durch Verweigerung der ehelichen Pflicht den Frieden zu erzwingen, und der Jubel, als endlich die Versöhnung zu Stande gebracht ist, mag das gute Volk für einen Augenblick die N oth der Zeit haben vergessen lassen. 95

Die historische Darstellung gewinnt also in den Einleitungen eine Eigenständigkeit gegenüber der Übersetzung, die für Droysen bezeichnend ist. Betrachtet man dazu, wie die einzelnen Vorreden aneinander anknüpfen und aufeinander verweisen, so dass sich aus ihnen fast eine geschlossene historische Darstellung der Zeit kompilieren ließe, dann wird deutlich, dass sein historisches Interesse an Aristophanes dem poetischen mindestens gleichgestellt war. Dabei tritt er mit Verve als ein der communis opinio widersprechender Provokateur auf. Dies betrifft vor allem seine radikale Neudeutung zweier historischer Protagonisten. Kleon und Alkibiades, beide in der Wolle gefärbte Machtpolitiker, waren damals, jeder auf seine Art, zeitweise zu großem Einfluss in der Athenischen Politik gelangt. In der Geschichtsschreibung seit Thukydides bis hin zur Zeit Droysens hatten sie - insbesondere Kleon, der nach einer Überlieferung in Reaktion auf die Angriffe des Aristophanes gegen seine Person die Freiheit der Komödie einzuschränken versucht hatte 96 - durchweg einen schlechten Ruf. So liest man beispielsweise in der 1828 erschienenen vierbändigen Hellenischen Alterthumskunde des Leipziger Historikers Wilhelm Wachsmuth über Kleon und seine Darstellung in der Komödie: Je mehr dieser [sc. Kleon] seiner Schlechtigkeit sich bewußt war, um so minder duldsam war er; doch mußte er [... ] die schmählichsten Geißelhiebe der komischen Muse dulden, seine hündische Unverschämtheit, sein sykophantisches Kläffen und Bellen, seine Bestechlichkeit, werden dem Volksgelächter preisgegeben und diesem selbst zugleich ein Bild seines dämischen Wesens, einem solchen Wicht sich hinzugeben, vorgehalten. 97

Droysen stimmte der Einschätzung von Kleons und Alkibiades' persönlichem Charakter mehr oder weniger zu; ihre historischen Leistungen aber bewertete er grundlegend anders. Welcker gegenüber erläuterte er seine Auffassung so: Sie wissen schon, daß ich Verehrer der Bewegung und des Vorwärts bin; Cäsar, nicht Cato, Alexander und nicht Demosthenes ist meine Passion. Alle Tugend und Moralität und Privattrefflichkeit gebe ich gern den Männern der Hemmung hin, die Gedanken der Zeit aber sind nicht bei ihnen. Weder Cato noch Demosthenes begreifen mehr die Zeit, die Entwicklung, den unaufhaltsamen Fortschritt, und der Historiker, meine ich, hat die Pflicht, diese Gedanken einer Zeit als den Gesichtspunkt zu wählen, um von dort aus das andere alles, denn es gipfelt sich dorthin, zu überschauen. So bin ich für Athen der entschiedenste Demokrat. Groß ist Kleon, der, die Erfolge zu sichern, bei Tausende hinrichten

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Aristophanes (Bd.3, 1838), 138. V gl. dazu Atkinson (1992). Wachsmuth (1. T., 2.Abt., 1828), 168f. - Hinweise zum Kleon-Bild in der Geschichtsschreibung vor Droysen sowie weitere Informationen verdanke Robert Heinrich, der mir eine ungedruckte Seminararbeit zu Droysens Einleitung zu den Aristophanischen Rittern (2008) zur Verfügung stellte.

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läßt, eine blutige Energie; größer ist Alcibiades: die vor der Zeit geknickte Blüte, in Wahrheit ein Vorläufer des Alexander. Ich kenne alle seine argen Fehler, seine Herrschsucht, seinen Stolz, seine schrankenlose Sucht des Genusses: quand meme, er ist das Höchste, was die Demokratie Athens bringen konnte. 98

Kleon und Alkibiades hatten also - ebenso wie Alexander oder Caesar - unabhängig von persönlicher Integrität die Geschichte auf ihrer Seite und waren, so der HegelSchwer Droysen, als Agenten der Geschichte und (mit Hegels Formulierung) »Geschäftsführer eines Zwecks«99 zu rehabilitieren. Was die Auffassung des Einzelnen und seiner Bedeutung für die Geschichte angeht, korrespondiert die Umdeutung Kleons und Alkibiades' unmittelbar mit Droysens Alexander-Darstellung. loo Dass Welcker die Rehabilitierung insbesondere Kleons nicht teilen würde, hatte Droysen in seinem Brief schon vorweggenommen. Generell fiel die Reaktion zunächst ausgesprochen skeptisch aus. Erst mit George Grotes (auch ins Deutsche übersetzter) History 0/ Greece fand das neue Kleon-Bild allmählich Zustimmung,lOI wie Droysen selbst, als er die Übersetzung für die zweite Auflage (1869) vorbereitete, in einer Fußnote bemerkte: Galten die Ansichten, die ich damals äusserte, den vertrauteren Freunden des Hellenischen Alterthums für äusserst ketzerisch, so hat sich seitdem und namentlich seit Grote in seiner History of Greece sich in ähnlicher Weise geäussert, auch die Ansicht der deutschen Philologen merklich verändert. 102

Neben der Tatsache, dass Kleon und Alkibiades eine Rehabilitation erfuhren, sind auch die Worte, mit denen dies geschah, für Droysens Geschichtsdenken in den dreißiger Jahren kennzeichnend. Droysens Bekenntnis, ein »Verehrer der Bewegung und des Vorwärts« zu sein, zeigt mit seiner leidenschaftlichen Parteinahme den Gestus einer Streitschrift. Eine Parallelstelle findet sich in der Vorrede zu den Vögeln: Dort heißt es, dass Alkibiades »an der Spitze der Bewegungsparthei«I03 gestanden habe. »Bewegungspartei« (oder »Bewegungsmänner«) nannte man in den 1830er Jahren auch bestimmte Vertreter des Frühliberalismus. lo4 Droysen setzt hier gezielt Signale, die passend oder nicht - moderne Verhältnisse evozieren konnten. 98 An Welcker, 1.9.1834; Britfoechsel (Bd.1, 1929), 66f. 99 Hegel (1830/31),165. 100 Droysens frühe, »idealistische« Biographik ist (im Unterschied zu den späteren, politisch motivierten Biographien) generell von einem solchen »Ausblenden des Privatmenschen« gekennzeichnet; vgl. dazu Schnicke (2010, Zitat S.120). Zur Darstellung Alexanders vgl. außerdem u.a. Wiemer (2012), 116ff. 101 George Grote, A History ifGreece, 12Bde., London 1846-1856 (deutsch: Geschichte Griechenlands, 7Bde., Leipzig 1850-1859). 102 Aristophanes (Bd.1, 2.Aufl., 1871),81. - Nippel (2008), 320 (Anm.66), weist daraufhin, dass schon ein Rezensent von Grotes History ofGreece in der Edinburgh Review 1851 die Pionierrolle Droysens erkannte. 103 Aristophanes (Bd.1, 1835),235. 104 Damals entbrannte in Deutschland eine Debatte um »echten« und »falschen« Liberalismus, in der auch das Begriffspaar »Bewegungspartei« vs. »Stillstandspartei« geprägt wurde; vgl. etwa den Artikel »Bewegungs-Partei« von earl von Rotteck im Staats-Lexicon von Rotteck/Welcker: »Mit dem Namen Bewegungspartei oder Bewegungsmänner bezeichnet man in der großen Spaltung, welche

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Johann Gustav Droysen

Droysen erkannte also bei Aristophanes jene restaurativen Tendenzen, die schon Heine nicht verborgen geblieben waren. Die Komödie sei »ihrer Natur nach die Opposition gegen Alles, was besteht und gilt«lOs, und weil sie »überall gegen das Neue und Vorherrschende feindselig« 106 sei, musste sie auch Kleon und Alkibiades, Sokrates und Euripides angreifen. Eine politische Wirkungsabsicht, wie von den deutschen »Aristophaniden« behauptet, war damit aus Droysens Sicht nicht verbunden. Vielmehr sah Droysen in der Alten Komödie, die ihre Invektiven gegen die um sich greifende Verderbtheit richtete, sich dabei aber gleichermaßen verderbter Mittel bediente, die angemessene Kunstform einer Zeit, in der die Entwicklungen zur Klimax, zum Umschlag ins andere Extrem drängten. Eben hier wird Droysens Darstellung nun immer wieder zu einem Vexierbild, das zwischen Geschichte und Gegenwart changiert. Signalworte (wie das der »Bewegungspartei «) lassen in der historischen Darstellung mögliche moderne Analogien durchscheinen, das historische Bild kaun jederzeit in ein Zeitbild des Vormärz umschlagen. Wenn Droysen im Hermokopiden-Aufsatz und (in fast identischer Formulierung) in der Einleitung zu den Vögeln Aristophanes mit Heinrich Heine vergleicht, dann werden die Unterschiede zwischen beiden Seiten verwischt. Droysens Ambivalenz zwischen Bewunderung und Abstoßung, geschichtsdialektischer Interpretation und moralischem Urteil ist in diesem Vergleich auf den Punkt gebracht: Es ist ein schlimmes Ding, von dieser Art des cynischen Spottes Gesinnung zu erwarten, auf deren Kosten der Spott selbst nur möglich ist; es wäre eine morose, abständige und langweilige Komik, die eigentlich nur Moral zu predigen im Sinne hätte, und die Moral selbst wäre doppelt schlimm daran, solche Priester zu finden, die da an dem Beispiele und der Lust des Lasters die Tugend lehren möchten. Aber ist dagegen nicht das ausdrückliche Zeugniß des Aristophanes selbst? sagt er nicht wiederholentlich, wie er es ernst meint? Gewiß sagt er das, aber ändert die Sache damit nicht. Wie schön sind nicht die Phrasen, die etwa H. Heine macht, wie wunderbar und begeisternd spricht er nicht von allem Heiligen und Großen, um es in dem nächsten Augenblick in den Koth zu treten. In Zeiten gesteigerter Civilisation, wenn das Scheidewasser der Aufklärung alles Leben angefressen, wenn man sich über Sitte und Vorurtheil, über alles Ueberlieferte und Substantielle hinwegraisonnirt hat, wenn in der Fäulniß der sittlichen und religiösen Zustände das wurmhaft wimmelnde Einzelleben immer beweglicher und bunter durch einander arbeitet, dann sind in der Poesie Erscheinungen wie die alte Komödie möglich und an der Zeit. Und in solchem Leben, solcher furchtbaren Verwirklichung der Freiheit steht Aristophanes; sein

heut zu Tage durch alle europäischen. d. h. der europäischen Civilisation angehörigen Völker geht. diejenigen. die nach Fortschritten - zumal nach andauernden Fortschritten - im Staats- (oder auch im kirchlichen) Leben begehren und daher diejenigen Verbesserungen oder Entwickelungen. deren sie die gesellschaftlichen Einrichtungen für bedürftig oder empfanglich achten. ohne Zeitverlust verwirklicht wissen wollen.« Rotteck/Welcker (Bd.2. 1835).558-565. hier 558. - Vgl. dazu u.a. auch Leonhard (2001). bes. 431-441 und 447. 105 Aristophanes (Bd.2. 1837).304. 106 Aristophanes (Bd.3. 1838).402.

Biographische Kontexte

77

schmerzlich tolles Lachen und die tiefe Melancholie seines großen Zeitgenossen Euripides sind Ausdruck derselben geistigen Zerrissenheit, derselben Verzweiflung. lo7

3.1.5

Entstehung, Hilfsmittel, Druck

Als Droysen im Mai 1835 berichtete, er habe sich endlich »beschwatzen« lassen, die Komödien, die er »seit längerer Zeit übersetzt hatte« 108, drucken zu lassen, erwähnte er neben den Vögeln, von deren erster Fassung schon die Rede war, auch den Frieden, über dessen Entstehung sonst nichts bekannt ist. Selbst wenn es stimmt, dass für zwei Komödien zu dieser Zeit schon fertige Übersetzungen vorlagen, die nur noch durchgesehen werden mussten, bleibt es bemerkenswert, dass Droysen neben dem großen Arbeitspensum, das er in dieser Zeit zu bewältigen hatte, noch Freiraum für die Übersetzung fand. Dies gilt für den ersten Band ebenso wie für die noch folgenden beiden Bände. Nach dem Abschluss seines Studiums im Jahr 1829 trat Droysen zunächst eine Stellung als Lehrer ad interim am Friedrichs-Werderschen Gymnasium an, von wo er bald an das Gymnasium zum Grauen Kloster wechselte. 109 Mit dem Sommersemester 1833 begann er zusätzlich, Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität zu halten. Im Mai 1835, also in der Zeit, als er am ersten Aristophanes-Band arbeitete, erhielt er ebenda eine Berufung als Außerordentlicher ProfessorYo Da es sich aber um ein unbezahltes Extraordinariat handelte, war Droysen gezwungen, die Lehrerstelle auch weiter zu behalten. In einem Schreiben an Kultusminister Altenstein berichtete er, dass er alles in allem »regelmäßig zwischen 30 und 36 Stunden wöchentlich«lll an Universität und Gymnasium zu unterrichten habe. Parallel zu den regelmäßigen Unterrichtspflichten war Droysen in seinem ersten Berliner Jahrzehnt mit einer Vielzahl unterschiedlicher - philologischer, historischer, aber auch journalistischer - Projekte befasst. So entstanden im Umfeld der Hellenismus-Geschichte verschiedene kleinere Publikationen. ll2 Unterschiedliche Zeitschriften führten Droysens Namen im Mitarbeiterverzeichnis. Neben altertumswissenschaftlichen Periodika wie dem von Welcker herausgegebenen Rheinischen Museum, das den Hermokopiden-Aufsatz druckte, müssen vor allem die Jahrbücher for wissen107 Aristophanes (Bd.1, 1835), 264. - Vgl. Des Aristophanes Vögel und die Hermokopiden (T.2, 1836), 55 f. - Vgl. auch Droysens Strategien der Analogiebildung zwischen Geschichte und Gegenwart in der Geschichte Alexanders und der Hellenismus-Geschichte; dazu Wiemer (2012), 113ff. und Bichler (2012),227ff. 108 An Welcker, 22. 5.1835; vgl. oben S. 69. 109 Droysen unterrichtete Deutsch, Französisch, Geographie, Geschichte, Latein und Griechisch; vgl. Hacke! (2008),109-112. 110 An Welcker, 5.5.1835: »Mir ist nun alte Geschichte und Philologie mit übertragen [... ] auf Aristophanes, auf alte Geographie, auf attische Geschichte habe ich zunächst zu denken; von vielen Seiten her werde ich um Archäologie angegangen«; BriefWechsel (Bd. 1, 1929), 73. 111 An Kultusminister Altenstein 8.7.1836; BriefWechsel (Bd.1, 1929),91. 112 Vgl. das Verzeichnis der Schriften Droysens im Anhang, Kapite!7.2.2.

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Johann Gustav Droysen

schaftliche Kritik genannt werden, die als Rezensionsorgan 1826 im Haus Hegels gegründet worden waren. 1838 ging Droysen (wie andere Autoren der Berliner Jahrbücher) zu den neugegründeten Hallischen Jahrbüchern}Ur deutsche Wissenschaft und Kunst über, was insofern bemerkenswert ist, als Droysen sich damit in die Gesellschaft der Junghegelianer um Bruno Bauer begab, während er gleichzeitig in seinen Briefen regelmäßig Distanz zum Hegelianismus behauptete. Enzyklopädische Bestrebungen äußern sich in Droysens Beteiligung an mehreren großen Buch- und Zeitschriftenprojekten. Gemeinsam mit dem Verleger Moritz Veit (in dessen Verlag auch die Aristophanes-Übersetzung erschien) verfolgte Droysen eine Zeit lang den Plan, ein philologisches Repertorium herauszugeben, das Überblick über die schnell wachsende Menge der Fachliteratur ermöglichen sollte. ll3 Ebenfalls mit Veit plante Droysen die Herausgabe eines »deutschen Corpus scenic. Gr.«114, also einer deutschen Gesamtausgabe der griechischen Dramatiker. Den Grundstock dazu sollten Droysens eigene Übersetzungen bilden; Welcker und der Verleger Westermann wurden nach möglichen Übersetzern für Sophokles und Euripides befragt. Dieses Vorhaben scheiterte offenbar an kaufmännischen Bedenken Veits. llS Mit seinem anderen Verleger, Friedrich Perthes, besprach Droysen den Plan einer »umfassende[nJ Geschichte des Altertums«116, die auf ungefähr 30 Bände angelegt wurde und die ebenfalls bei Perthes erscheinende monumentale Allgemeine Staatengeschichte (1829 von Arnold Heeren und Friedrich August Ukert gegründet) ergänzen sollte. Auch von der Herausgabe einer historischen Zeitschrift ist einmal die Rede. ll7 Neben diesen vielfältigen Vorhaben mussten die literarischen Ambitionen, die in Droysens Studentenzeit wichtig gewesen waren, immer mehr zurückstehen. »Pegasus ist ein träger Gaul bei mir geworden, und andere machen es ihm zur Zeit geschickter« 118, schrieb er an Mendelssohn. Dennoch fand auch dieses Interesse noch bis in die Kieler Zeit hinein Fortsetzung.ll 9 So waren die 1830er Jahre für Droysen durch die Suche nach immer neuen Arbeitsfeldern und Aufgaben bestimmt. Die Aristophanes-Übersetzung kann also nicht - wie Wilhelm von Humboldts Übersetzungsproben aus Lysistrate und Ekklesiazusen - als Frucht der Muße betrachtet werden, noch ist sie - wie Humboldts Agamemnon - aus mühevollem Ringen mit der Sprache entstanden. Aber auch von professioneller Routine - wie bei den Übersetzungen JohannJakob Donners - kaun nicht die Rede sein. Vielmehr war die Übersetzung ein Projekt unter vielen und ist in kür-

113 Vgl. die Briefe an Welcker. 31.12.1836; Briefoechsel (Bd.1. 1929). 116; und an Perthes. 8.2.1837. Briefwechsel (Bd.1. 1929). 120. 114 Von Welcker. 13.3.1838; Briefoechsel(Bd.1. 1929). 135. 115 Vgl. Gustav Droysen (1910). 175. 116 Der Plan wurde das ganze Jahr 1836 hindurch intensiv verhandelt; vgl. u.a. die Briefe von Perthes. 16.6.1836; Briefoechsel (Bd.1. 1929). 85f.. und an Perthes. 29.6.1836. Briefoechsel (Bd.1. 1929). 86-88. 117 Vgl. den Briefvon Heinrich Leo. 17.11.1836; Briefoechsel (Bd.1. 1929). 109. 118 An Mendelssohn. 28.10.1836; Briefoechsel(Bd.1. 1929). 101. 119 Vgl. unten S. 88.

Biographische Kontexte

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zester Frist, oft unter Zeitdruck und mit pragmatischem Blick auf das Ergebnis entstanden. Im Mai 1835 berichtete Droysen zum ersten Mal, dass er die AristophanesÜbersetzung zum Druck fertigmachen wolle; am 2. November desselben Jahres konnte er den ersten Band (mit den Vögeln, dem Frieden und Plutos) an Welcker senden. Die Übersetzung der für den zweiten Band vorgesehenen Komödien CfVespen, Acharner, Ritter) wurde zugunsten der Arbeit an der Hellenismus-Geschichte bis Ende 1836 beiseite gelegt. Im Dezember 1836 berichtete Droysen, dass er »in neuer Aristophanischer Arbeit« 120 begriffen sei. In den folgenden Monaten wurde - nicht ohne Drängen des Verlegers 121 - das Manuskript fertiggestellt; der Brief, der dem für Welcker bestimmten Exemplar beigegeben war, ist auf den 24.6.1837 datiert. 122 Der dritte und umfangreichste Band brachte die restlichen fünf Komödien CWolken, Lysistrate, Thesmophoriazusen, Ekklesiazusen, Frösche). Ursprünglich sollte auch er nur drei Stücke enthalten; die beiden anderen sollten zusammen mit den Fragmenten und einer Biographie des Aristophanes einen vierten Band füllen. 123 Nachdem Droysen von diesem Plan Abstand genommen hatte, ist der letzte Band wohl im Wesentlichen in den Sommermonaten 1838 (in der vorlesungsfreien Zeit) entstanden. Im Schriftenverzeichnis notierte Droysen: Der dritte Theil des Aristophanes erschien 1838, nicht ohne den fröhlichen Uebermuth errungener Virtuosität. Die Thesmophoriazusen wurden am 7. Juni begonnen, am 19. Juni vollendet, die Frösche gleich in Reinschrift vom 28. Juni bis 18. Juli fertig. 124

Bei der Anordnung der Stücke folgte Droysen nicht - wie Voß und Ludwig Seeger dies taten - einer chronologischen Ordnung, sondern wurde durch »subjective Gründe«125 bestimmt. Nach eigener Auskunft enthielt der erste Band den Plutos, »um gleich Anfangs die ermüdendste Arbeit abzumachen«, den Frieden, »weil sich hier mindere Schwierigkeiten darboten«, und die bereits in der Schublade liegenden Vögel, »damit sogleich Aristophanes ganze wunderherrliche Kunst repräsentirt würde«126. Die Auswahl der fVespen, Achamer und Ritter für den zweiten Band kommentierte Droysen nicht. Jedoch fällt auf, dass es sich hier um die für das Studium des Althistorikers besonders ergiebigen frühen Komödien handelt. Der dritte Band brachte schließlich alle übrigen Stücke. Als Arbeitsgrundlagen und Hilfmittel erwähnt Droysen die folgenden Editionen, Erläuterungen und Übersetzungen: 120 An EduardMeier 8.12.1836; Briqwechsel(Bd.1, 1929), 114. 121 Gegenüber Perthes entschuldigt Droysen Briefschulden damit, dass »mein lieber Veit gern von der Aristophanes-Übersetzung den zweiten Teil drucken [sc. wollte], den ich mit dem Schluß des Jahres noch im Manuskript beenden mußte«. Briefvom 8.2.1837; Briqwechsel (Bd.1, 1929), 117. 122 In seinem Schriftenverzeichnis notierte Droysen rückblickend: »Es waren die Wespen am 30. Nov. 1836, dann die Acharner, endlich die Wespen [recte: Ritter] 15. Febr. 37 fertig geworden.« In: Blanke (2008), 173. 123 Vgl. Aristophanes (Bd.1, 1835), XVIf. 124 In: Blanke (2008),173. 125 Aristophanes (Bd.1, 1835), XVII. 126 Ebd.

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Johann Gustav Droysen

1. Aristophanis comoediae, ed. Wilhelm Dindorf (2 Bde., 1830). Diese Ausgabe war Droysens wichtigste Textgrundlage und wird in vorliegender Arbeit (sofern nicht anders angegeben) für die Übersetzungsanalyse verwendet: Ich habe im Allgemeinen den trefflichen Dindorfischen Text zum Grunde gelegt, von dem ich selten abgewichen bin, seltener die Abweichungen in den Noten bezeichnet habe; auch sind am Rande die Zahlen nach jener Ausgabe bezeichnet, nur im Frieden ist das durch ein Versehen in der Correctur unterblieben. 127

Die Verszählung Dindorfs stimmt - eben mit Ausnahme des Frieden - fast überall mit der bei Droysen überein. Dagegen weisen die anderen Ausgaben Dindorfs, darunter die separaten Editionen der Vögel (1822) und der Frösche (1824), eine Reihe von Abweichungen auf. Die Oxford-Ausgabe erschien zeitgleich mit Droysens Übersetzung, zu spät also, um als Arbeitsgrundlage in Frage zu kommen. 2. Aristophanis Comoediae cum scholiis et varietate lectionis, ed. Immanuel Bekker (S Bde., 1829): Von neueren Interpreten benutzte ich besonders, was die weitläuftigen Sammlungen in der Beckerschen Edition an die Hand gaben. l28

3. Aristophanis Nubes cum scholiis, ed. Gottfried Hermann (1799). Droysen zitiert in seiner Übersetzungs-Vorrede aus dieser »musterhaften Edition der Wolken« 129. 4. Aristophanis Plutus, ed. Bernhard Thiersch (1830): [F]ür den Plutos gewann ich manches Neue aus der Ausgabe von Herrn B. Thiersch. 130

S. Aristophanis comoedia Plutus, ed. Tiberius Hemsterhuis (1744).131 6. Johann Wilhelm Süvern, Ueber Aristophanes Vögel (1827); Ernst Ludwig von Leutsch, Beyträge zur Erklärung des Aristophanes (1834); Heinrich Theodor Rötscher, Aristophanes und sein Zeitalter (1827): Ueber die» Vögel« ist allerdings von dem trefflichen Süvern, und nach ihm von Herrn von Leutsch sehr scharfsinnig gehandelt worden, doch konnte ich mich nicht mit ihren Ansichten einverstanden erklären; und auch was Herr Rötscher Tiefgedachtes über Aristophanes überhaupt und über die» Vögel« insbesondere entwickelt hat, schien mir mehr das weltgeschichtliche Verhältniß des Dichters, als seinen persönlichen und dichterischen Charakter anzugehen. 132

7. Franz Ritter, DeAristophanis pluto (1828).133 8. August Boeckh, Vom Unterschied der attischen Lenäen, Anthesterien und ländlichen Dionysien (1819).B4 127 Aristophanes (Bd.l, 1835), XVII. - Für die vollständigen bibliographischen Angaben siehe jeweils das Literaturverzeichnis im Anhang. 128 Aristophanes (Bd.l, 1835), XVIII. 129 Aristophanes (Bd.3, 1838), 17. 130 Aristophanes (Bd.l, 1835), XVIII. 131 Vgl. Aristophanes (Bd.l, 1835), 120. 132 A.a.O.,XIX. 133 Vgl. a.a.O., 120. 134 Vgl.Aristophanes(Bd.2, 1837),4f.

Biographische Kontexte

9.

10.

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Süvern, Ueber Aristophanis Wolken (1826).135 Außerdem nennt Droysen einige Übersetzungen, die er für seine Arbeit be-

nutzte: Von sonstigen Uebersetzungen hatte ich außer denen im Attischen Museum die Borheckische des »Friedens« und die in der That sehr verdienstliche Gesammtübersetzung des ehrwürdigen Voß zur Hand; es schien mir unanstößig und gerecht, was ich Gutes hier oder dort fand, aufzunehmen. 136

Gemeint sind die Übersetzungen der Ritter, Wolken und Vögel von Christoph Martin Wieland (1798/1806), die Übersetzung des Frieden von August Christian Borheck (1807) und die dreibändige Ausgabe von Voß (1821), die Droysen auch ausgiebig für seine Anmerkungen nutzte. Weiterhin hebt er ausdrücklich die Wolken-Übersetzung von Friedrich August Wolf (1811) hervor: Wir bekennen, daß uns durch Wolfs herrliche Uebertragung die Arbeit nicht erleichtert sondern erschwert worden ist. 137

Dass Droysen schließlich auch die Übersetzungen Welckers (1810/12) kannte, zeigt ein ausführliches Zitat aus Welckers Nachwort zu den Fröschen. 138 Soweit zur Arbeitsbibliothek des Übersetzers. Ob für Droysen, der zu dieser Zeit stets in Geldsorgen war, auch finanzielle Gründe das Arbeitstempo beförderten, lassen die vorliegenden Dokumente nicht erkennen. Jedenfalls erschien die AristophanesÜbersetzung im Berliner Verlag Veit & Co., der erst 1834 von Moritz Veit (18081863)139 gegründet worden war und dessen rasch wachsendes Programm Medizin und Naturwissenschaften ebenso umfasste wie Judaica, Geschichte oder jüngere deutsche Literatur. Eduard Gans, August Boeckh, Theodor Mundt, Friedrich Carl von Savigny oder Achim von Arnim gehörten nach der Gründung zu den ersten Autoren; Übersetzungen antiker Schriftsteller blieben dagegen im Verlagskatalog die Ausnahme. 140 Es liegt nahe, dass persönliche Bekanntschaft zwischen Droysen und Veit zur Zusammenarbeit geführt hatte: Sie waren gleichaltrig und hatten zur selben Zeit an der Berliner Universität studiert; sie teilten das Interesse an Geschichte und Philosophie und trafen sich vermutlich in den Vorlesungen Hegels, dessen Anhänger damals beide waren. Ludwig Geiger zufolge entwickelte sich zwischen Veit und Droysen »ein herzliches Freundschaftsverhältniß«141. Später verlegte Veit auch Droysens Geschichte der preußischen Politik (1855-1886), die erste Buchhandelsversion des Grundriss der Historik (1868) und die Yorck-Biographie (zuerst 1851). 135 Vfl. Aristophanes (Bd. 3. 1838).20. 136 Aristophanes (Bd.l. 1835). XVIIf. - Droysens Formulierung ist undeutlich: Zuvor war nicht. wie man wegen der Wendung »von sonstigen Uebersetzungen« annehmen könnte. von übersetzungen. sondern von der Dindorf'schen Textedition die Rede. 137 Aristophanes (Bd.3. 1838).21. 138 A.a.O .• 402f. 139 Zu Veit siehe den ADB-Artikel von Geiger (1895). 140 Außer Droysens Aristophanes verlegte Veit auch die Antigone-Übersetzung von August Boeckh (1842) und eine Plautus-übersetzungvon Karl Eduard Geppert (1845). 141 Geiger (1895). 539.

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Johann Gustav Droysen

Jedem der drei Bände stellte Droysen eine Widmung voran. Die Widmung des ersten Bandes lautete: »Meinen Freunden Felix Mendelssohn Battholdy und Albert Gustav Heydemann«. Heydemann (1808-1877) war ein Kommilitone Droysens, gehörte zum Freundeskreis um Mendelssohn und kannte mit einiger Wahrscheinlichkeit auch schon die erste Vögel-Übersetzung. 142 Der zweite Band trug die Widmung: »Seinem Freunde Adolph Schöll«. Schöll (1805-1882), ein vielseitiger Philologe und Literaturhistoriker, der später als Direktor der Kunstsammlung und Bibliothek in Weimar namhaft wurde, lebte seit 1832 in Berlin und wat mit Droysen vielleicht als Gast im Haus Benoni Friedländers (des Großvaters von Droysens Frau Matie) bekannt geworden. l43 Schöll verfasste 1834 mit Droysen zusammen Besprechungen zur Berliner Kunstausstellung und diskutierte mit ihm Fragen der griechischen Tragödie;l44 auch ein Aufsatz über Aristophanes' Frösche (gedruckt 1884) liegt von ihm vor. l45 Der dritte Band schließlich war» Meinem lieben Freunde Eduatd Bendemann« gewidmet. Auch Bendemann (1811-1889), ein Maler, gehörte zum Freundeskreis um Mendelssohn. Er wat Schüler Schadows und hatte in den 1830er Jahren großen Erfolg mit Datstellungen alttestamentatischer Szenen. Später gehörte er als Historienmaler der »Düsseldorfer Schule« an. l46 Mit diesen Widmungen stellt Droysen seine Übersetzung also in den Rahmen seiner musischen Freundeszirkel und der Geselligkeitskultur und Bildungsbegeisterung des biedermeierlichen Berlin, anstatt sie beispielsweise seinem Lehrer Boeckh oder seinem älteren Kollegen Welcker zu widmen. Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass Droysen mit der Veröffentlichung von Übersetzungen gegen das ungeschriebene Zunftgesetz verstieß, nach dem Philologen nicht übersetzen sollten. l47

142 Zu Heydemann vgl. den ADB-Artikel von Bülow (1880). 143 Vgl. Gustav Droysen (1910), 113. - Zu Schöl! vgl. den ADB-Artikel von Rudolf Schöl! (1891); zu den Friedländers und zu Droysens Verbindungen zu dieser bedeutenden liberal-jüdischen Familie vgl. Hackel/Wannack (2009), 143ff. 144 Vgl. den Brief an Welcker, 31.12.1836: »Ein interessantes Büchelchen wird hoffentlich bald von meinem Freunde Schöl! erscheinen: er findet eine sehr weitgehende politische Bezüglichkeit in der Orestea; ich habe lange vielfach mit ihm konferiert, und meine Bemerkungen über die etwas spätere Perikleische Zeit haben sich mit den seinigen gegenseitig vielfach ergänzt.« BriifWechsel (Bd.l, 1929), 116. 145 Siehe das Literaturverzeichnis im Anhang. 146 Von Bendemann stammt eines der bekanntesten Droysen-Porträts, vgl. oben S. 55. Vgl. auch Krey (2003) und Marotzki (2010), bes. S. 184. - In Bendemanns Besitz befand sich übrigens auch ein Exemplar von Droysens Aischylos-Ühersetzung (LAuflage, 1832). Das Buch mit eigenhändigem Namenszug und mit einem Exlibris Bendemanns hat sich erhalten und ist in meinem Besitz. 147 August Boeckh beispielsweise warnte seine Studenten regelmäßig vor dem Übersetzen: »Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein. Da somit das Uebersetzen von der eigentlichen philologischen Arbeit abzieht, würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen.« Boeckh (1886), 161.

Theoretische Kontexte

3.2

83

Theoretische Kontexte

Im Folgenden soll versucht werden, Droysens Übersetzungsauffassung vor dem Hintergrund seiner Geschichtsmethodik und Hermeneutik zu lesen. Blickt man von den theoretischen Entwürfen der Jahre um 1800 auf Droysen, dann erscheint eine solche Fragestellung selbstverständlich, stand doch Übersetzungstheorie bei den Frühromantikern, bei Schleiermacher oder bei Humboldt immer in einem sehr weiten theoretischen Horizont. 148 Bei Droysen versteht sich dieses Verfahren indessen nicht von selbst: Seine Darlegungen können sich weder durch ihre theoretische Tiefe noch im Blick auf ihre Anbindung an übergeordnete Diskurse mit den klassizistischromantischen Theorieentwürfen messen; man kann sogar fragen, ob ihnen der Status einer Theorie - jedenfalls im strengen Sinn eines ausdifferenzierten, systematischen und in sich geschlossenen Sets an Aussagen - überhaupt zukommt. Wenn man also eine derartige theoretische Kontextualisierung vornimmt, läuft man Gefahr, Droysens Äußerungen zu überfordern. Dieses Risiko muss indessen eingegangen werden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Wal man die Transformationen, die Kontinuitäten und Brüche erkennen, die zum Ende der Goethezeit in der Übersetzungstheorie stattfanden, dann muss man - und sei es nur heuristisch - an den Epigonen dieselben Fragen stellen dürfen, die auch an die Vorgänger gestellt wurden, allen voran die Frage nach den Interferenzen von Geschichtsdenken und Übersetzung. Dass Droysen durch seinen Werdegang und sein Profil als Historiker für einen Vergleich mit Schleiermacher oder Humboldt besonders prädestiniert ist, gehörte ja zu den Prämissen vorliegender Arbeit. Zweitens: Gerade das Nachdenken über die Übersetzungsproblematik hat sich seit jeher öfter in Aphorismen, Metaphern und Denkbildern vollzogen als in ausgearbeiteten Theorien. Wollte man sich nur auf letztere beschränken, dann wäre das Textcorpus in der Tat sehr schmal. Bei theoriegeschichtlichen Untersuchungen kommt man daher nicht umhin, auch prototheoretische Formen und Theoriefragmente zu berücksichtigen. Übrigens lässt sich selbst dort, wo lediglich topische Formeln und vorgeprägte Versatzstücke aufgegriffen und tradiert wurden, an den Konjunkturen und Rezessionen der Topoi, an ihren Variationen und Transformationen noch der jeweilige Stand des Übersetzungsdiskurses untersuchen. Eine eigentliche Übersetzungstheorie hat Droysen also nicht verfasst; von einem klar konturierten Übersetzungskonzept kann aber durchaus gesprochen werden. Wie bei den meisten Übersetzern, so ist auch hier die Reflexion zunächst aus der praktischen Erfahrung des Übersetzens selbst erwachsen. Allerdings hat Droysen prinzipielle Theoriebereitschaft erkennen lassen. 1838 wollte Arnold Ruge, der Herausgeber der Hallischen Jahrbücher, ihn als Rezensenten für die Euripides-Übersetzung von Johannes Minckwitz gewinnen. Droysen antwortete:

148 Vgl. oben S. Sff.

84

Johann Gustav Droysen [FJorderten Sie mich auf, über die Kunst des Übersetzens, über das Übersetzen aus den Klassischen Sprachen oder dergleichen zu schreiben, so könnten Sie mich bereit finden; was aber soll ein Referat über so Vereinzeltes [... ] .149

Dass Droysen die Bitte Ruges ausschlug, lag vermutlich auch daran, dass er der Fehde, die Minckwitz gegen ihn führte, keine Nahrung geben wollte. ISO Eine gesonderte Darlegung seiner Auffassung vom Übersetzen lag dagegen offenbar durchaus in seinem Interesse. Da der Beitrag nicht realisiert wurde, kann man nur vermuten, dass Droysen die Gelegenheit nutzen wollte, um seine von neoklassizistischen Positionen (etwa von Minckwitz) abweichenden Grundsätze in größerem theoretischen Rahmen zu begründen, als dies in den Vorreden seiner Übersetzungen geschehen war. Auch diese Theoriebereitschaft berechtigt also dazu, Droysens Übersetzungsbegriff zu untersuchen. Bevor dies geschieht, ist zunächst noch etwas zur intellektuellen und akademischen Selbstpositionierung Droysens und zu seinen Arbeitsfeldern in den 1830er Jahren sowie zu den für die Übersetzung relevanten Aspekten seines Geschichtsdenkens zu sagen.

3.2.1

Die 1830er Jahre: Philologie, Philosophie, Geschichte, Poesie

Die Aristophanes-Übersetzung gehört dem Jahrzehnt zwischen Abschluss des Philologie-Studiums (1829) und Berufung nach Kiel (1840) an. Für Droysen war dies nicht nur eine Zeit rastloser Aktivitäten auf verschiedensten Feldern, sondern vor allem auch eine Zeit des Übergangs, der intellektuellen Orientierung und beruflichen Entscheidung. Zwischen Lehrerberuf und Universitätslaufbahn, Philologie und Geschichte, historischer Empirie und spekulativer Philosophie suchte er seinen Weg, und auch seine dichterischen Ambitionen begleiteten ihn noch bis in die 1840er Jahre hinein. Mit den ersten beiden Bänden der Hellenismus-Geschichte begründete er seine Reputation als Historiker; diese Arbeiten wurden zugleich zum Ausgangspunkt für Droysens methodisch-theoretische Begründung der Geschichtswissenschaft. Als Droysen Berlin verließ, wandte er sich endgültig von der Philologie ab und wurde Historiker. In Droysens Biographie erscheint dieses Jahrzehnt als eine transitorische Zeit; transitorische Momente kennzeichnen sowohl die frühen theoretischen Ansätze als auch die Auffassung vom Übersetzen. Um dies zu verstehen, sollen zunächst die unterschiedlichen Optionen, zwischen denen Droysen sich damals bewegte - Philologie, Philosophie, Geschichte und (in der Sprache der Zeit) Poesie - näher betrachtet werden. 149 An Ruge, 3.4.1838; Briqwechsel(Bd.l, 1929), 136. 150 In dem Brief an Ruge schreibt Droysen auch, dass Minckwitz ihm »die Ehre erzeigt« habe, ihn in einem Spottgedicht »über die deutsche Poesie oder dergleichen neben dem trefflichen Westermann usw. weidlich durchzuhecheln«; Briqwechsel (Bd.l, 1929), 136. - Auch in Rezensionen von Minckwitz ist dessen Feindschaft gegen Droysen greifbar, vgl. z. B. Minckwitz (I846). Minckwitz trat mit mehreren Übersetzungen griechischer Tragödien und Komödien hervor, die streng dem griechischen Metrum folgten und sich zugleich an der Sprache August Graf Platens orientierten; vgl. Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a), 106f.

Theoretische Kontexte

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Droysens eigentliches Studienfach war die Philologie gewesen, wobei er sich auf gräzistische Kollegien konzentrierte und das Lateinische nahezu unbeachtet ließ.lSl Die Philologie versprach ihm eine sichere Perspektive als »Schulmann«, und tatsächlich trat Droysen unmittelbar nach dem Examen in den Schuldienst. Gleichzeitig hoffte er auf eine akademische Karriere und wurde darin von August Boeckh bestärkt, seinem wichtigsten Förderer und Mentor, dessen Einsatz wohl auch die Extraordinariats-Stelle an der Berliner Universität mit zu verdanken war. Mindestens ebenso wichtig wie diese Mentorschaft war, dass Boeckhs Auffassung der Philologie als einer über reine Textrestitution und -interpretation hinausgehenden, umfassenden und hermeneutisch begründeten Altertumswissenschaft Droysens eigenen Neigungen entgegenkam. Denn die Philologenschelte, die sich als ständiges Motiv durch Droysens Schriften und Briefe jener Zeit hindurchzieht, galt der mit dem Namen Gottfried Hermann verbundenen Textphilologie und ihrem, wie Droysen es einmal nannte, »grobe [n] Leipziger Geschütz«ls2 - hier zeigt Droysen sich ganz als Schüler von Hermanns Erzfeind Boeckh. Über die Arbeiten zu Aristophanes von Hermanns Schwiegersohn Franz Fritzsche urteilte Droysen in einem Brief an Welcker: Und würde bei alledem nur wirklich etwas für das Verständnis des Aristophanes gefördert; aber da klebt sich das an die Einzelheiten, mäkelt links und rechts und kommt doch nicht in den rechten Mittelpunkt des Verstehens. 153

Und wenn Droysen gegenüber der Philologie gern den Gestus des Häretikers annahm und Witze darüber machte, dass die Philologen ihn für seine Ansichten »als Hexe verbrennen«ls4 würden, dann war dies fast immer auf die »philologischen Kleinmeister« ISS der Leipziger Schule, auf ihre Verweigerungshaltung gegen hermeneutische Methodendiskussion und nicht zuletzt auf ihr nach wie vor idealisierendes Griechenbild gemünzt. Dagegen war die Arbeit August Boeckhs hermeneutisch fundiert und auf den Zusammenhang der Epoche und die Ideen, die sich darin manifestieren, gerichtet. 151 Vgl. oben S. 60 (Anm. 26). 152 BriifWechsel (Bd.l, 1929),60. - Zum Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh, der in die Wissenschaftsgeschichte (in eher irreführender Weise) als Methodenstreit um Sach- oder Wortphilologie einging, vgl. zuletzt Poiss (2010); Poiss macht (neben den auf beiden Seiten wirkenden persönlichen Eitelkeiten) zwei Fundamentaldifferenzen geltend: die divergierenden Ansichten über die Stellung der Sprache im System der Philologie, vor allem aber (was mit dem ersten Punkt im Zusammenhang steht) die im Fall Hermanns fehlende, im Fall des Schleiermacher-Schülers Boeckh gegebene hermeneutische Methode, das Wissen um die Zirkularität des Verstehens. 153 An Welcker, 31.12.1836; BriifWechsel (Bd.l, 1929), 116. - Franz Volkmar Fritzschelehrte seit 1828 an der Rostocker Universität und veröffentlichte eine ganze Reihe von Arbeiten zu den Komödien und Fragmenten Aristophanes'. Fritzsche hatte in Leipzig studiert und war mit Gottfried Hermanns Tochter WilheImine verheiratet. 154 An Heydemann, 6.2.1844: »Ad vocem, ich habe Dir doch meine seltsame Privatvorrede zum Hellenismus geschickt? >Was sagst Du nu, Fleesch