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German Pages 72 [74] Year 1935
UNTERSUCHUNGEN ZU DEN DIALOG S C H R I F T E N SENECAS VON
DR. E R I C H K Ö S T E R M A N N PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT KIEL
SONDERAUSGABE AUS DEN SITZUNOSBERICHTEN DER PREUSSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHIL.-HIST. KLASS.E. 1934. XXII
BERLIN VERLAG DER A K A D E M I E
1934 DER
WISSENSCHAFTEN
IN K O M M I S S I O N B E I W A L T E R D E O R U Y T E R (PREIS JÜM 4.—)
U.CO.
(Vorgelegt von Hrn. Norden.)
I. Problemstellung und methodologische Vorbemerkungen. Die vorliegende Abhandlung1 stellt in ihrem Kernstück den Versuch dar, den Ablauf der inneren Entwicklung Senecas zu verfolgen. Ich hatte mir nicht vorstellen können, daß sich der Seneca des Exils und der greise Staatsmann trotz aller schweren Erlebnisse, die dazwischenlagen, in ihren Anschauungen sollten völlig zur Deckung bringen lassen. Vielmehr glaubte ich in seinen Schriften eine Anzahl Anhaltspunkte zu erkennen, die den Gedanken einer in der Zwischenzeit erfolgten inneren Umwandlung nahelegten. War die bisherige Betrachtungsweise unter Verzicht auf die Idee einer fortschreitenden Entwicklung Senecas vorwiegend statisch eingestellt, so habe ich an ihre Stelle eine mehr dynamische, also historische, setzen wollen. Um auf diesem Wege voranzukommen, bedurfte es einer veränderten Fragestellung und Methode. Es galt zunächst einmal gleichsam eine Bestandsaufnahme der Gedanken vorzunehmen, die uns in seinen Schriften entgegentreten, auf die dabei allenthalben auftauchenden Widersprüche hinzuweisen und nach ihren Ursachen zu fragen. Sie zu erklären, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder nehmen wir an, daß Seneca seinen jeweilig wechselnden Vorlagen in der Darstellung weitgehend gefolgt ist, mit deren Inhalt er sich nicht überall zu identifizieren brauchte. Oder aber wir bringen jene Unstimmigkeiten in Verbindung mit der sich wandelnden Geisteshaltung Senecas. Im ersteren Falle dienten die Dialoge der Aufgabe, eine bestimmte, mehr oder weniger scharf umrissene Lehrmeinung zur Darstellung zu bringen, ohne daß sich aus ihnen Rückschlüsse auf die philosophische Uberzeugung Senecas machen ließen. Es läge alsdann der Vergleich mit Ciceros philosophischen Schriften nahe, bei denen sich auch nur unter großem Vorbehalt ausfindig machen läßt, was denn nun eigentlich Ciceros eigener Auffassung und Anschauung entspricht. Dieser 1
Bei der Abfassung erfreute ich mich des steten Interesses der HH. E. Norden, F. Jacoby und R. Härder, denen ich für manche wertvolle Anregung auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. (1*)
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Deutung steht jedoch für Seneca entgegen die ungewöhnliche innere Anteilnahme, die alle seine Schriften zum Ausdruck bringen. Mag dieser erste Eindruck als nur subjektiv gesichert anfechtbar erscheinen, so erhält die Sache ein anderes Gesicht durch die Tatsache, daß sich für eine Anzahl Schriften ganz strikt der Nachweis führen läßt, daß ein Zusammenhang von weittragender Bedeutung zwischen Senecas wahrer Uberzeugung und den von ihm verkündeten philosophischen Grundsätzen besteht. Darüber hinaus zeigt es sich, daß zumindest einige der Schriften durch bestimmte, in Senecas Leben tief einschneidende Ereignisse hervorgerufen sind, daß ihr Inhalt unverkennbar auf jene Ereignisse zurückweist und ihnen demzufolge eine klare, für Seneca bezeichnende Tendenz innewohnt. Unter diesen Schriften ist in erster Reihe der Dialog De vita beata zu nennen, wo die Zusammenhänge schon früh erkannt sind. Es ist heute wohl allgemein geteilte Auffassung 1 , daß der Dialog eine Verteidigungsschrift ist, die in der Hauptsache dem Zwecke dient, die gegen Seneca im Jahre $8 während des Suilliusprozesses in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe zu entkräften2. Der Nachweis wird erbracht durch den Vergleich von De vita beata cap. 17ff. mit Tacitus ann. 13, 42f., wo die historischen Tatsachen des Prozesses vorgelegt sind. Unter diesen Umständen ist es wichtig, zu beobachten, daß Seneca sich bemüht hat, den Charakter einer Lehrschrift festzuhalten, und daß er das Persönliche nur in verschleierter Form hervortreten läßt. Der Dialog bildet für den unbefangenen Beschauer eine sachlich in sich geschlossene Einheit, und das ungewöhnliche Interesse, das Seneca für die von ihm behandelte Materie bekundete, bleibt für den Fernerstehenden verborgen. Von den Zeitgenossen freilich, die die Dinge aus eigenem Miterleben kannten, wird niemand gezweifelt haben, in welche Richtung Senecas Worte zielten. Dieser Dialog ist also für uns gleichsam der Schlüssel zum Verständnis der schriftstellerischen Erzeugnisse Senecas. Denn wenn wir auch nicht ohne weiteres berechtigt sind, die hier vorgefundenen Verhältnisse auf alle übrigen Dialoge vorbehaltlos zu übertragen, so spricht doch die Wahrscheinlichkeit dafür, daß auch sonst ähnliche Voraussetzungen zugrundeliegen. Wir erkennen also, wenn wir die Folgerungen aus dem ziehen, was sich aus der Problemstellung des Dialoges De vita beata ergab, erstens, daß Seneca an dem, was er zu sagen hatte, zuinnerst selbst beteiligt war, daß ferner die Wirklichkeit seines Lebens und die Tendenz 1 Diese Auffassung ist mit besonderer Schärfe von Alfred Gercke zum Ausdruck gebracht, vgl. Seneca-Studien) L p z . 1895 (Sonderabdruck aus dem 22. Supplementbande der Jahrb. f. klass. Phil.) S . 3 0 1 : »Es ergibt sich hieraus, daß der Dialog eine Streitschrift ist, veranlaßt durch ein bestimmtes Ereignis, nicht wie die Dialoge Piatons im Dienste der Forschung, sondern lediglich für die Macht und das Ansehen des Verfassers abgezweckt«. 2 aliter loqueris, aliter vivis sagen die Gegner cap. X V I I I 1 (vgl. X V I I r), und gegen diese Unterstellung setzt sich Seneca mit aller Entschiedenheit zur Wehr. Es kam ihm also darauf an, zu zeigen, daß sich der Lehrgehalt seiner Schriften und die Maximen seines Handelns deckten.
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seiner Schriften in deutlicher Wechselwirkung standen, daß er endlich, wohl auch aus künstlerischen Erwägungen, bestrebt war, die Anspielungen auf ein persönliches Erlebnis nur so weit — in unauffälliger Weise — hervortreten zu lassen, daß sie der den Ereignissen Näherstehende als solche erkannte. Von hier aus gesehen, vermögen wir mit einer größeren Sicherheit an die Beantwortung der eingangs gestellten Frage heranzutreten, wie die Tatsache der in Senecas Schriften zutage tretenden sachlichen Unstimmigkeiten zu erklären sei. Aus dem Gesagten ist ersichtlich, daß von den beiden Möglichkeiten, die wir besitzen, um jene Widersprüche zu deuten, die zweite den Vorrang verdient, während der ersteren allenfalls eine sekundäre Bedeutung zukommt. Wir dürfen also schließen, daß der Gegensatz, der sich in der Behandlung ein und desselben Problems in verschiedenen Dialogen kundgibt, durch einen Wandel in der inneren Einstellung Senecas bedingt ist. Unter diesen Umständen stellt sich uns die Aufgabe, durch eindringende Interpretation der Dialoge den Geisteszustand Senecas zu erschließen, der ihn beherrschte, als er die einzelnen Schriften niederschrieb. Um diesem Ziele nahezukommen, genügte es natürlich nicht, die Schriften nacheinander jede für sich einer gesonderten Behandlung zu unterwerfen. Vielmehr erwies es sich als notwendig, zu jedem Satz, ja zu jedem Wort alles, was wir sonst noch von Seneca besitzen, vergleichend heranzuziehen, um eine breitere und verläßlichere Grundlage zu gewinnen. Als methodisches Hilfsmittel diente eine Art F e i n s t r u k t u r a n a l y s e , die sich unter Betonung gerade der abweichenden Momente bemühte, in die sonst vielfach betonte Homogenität der Schriften Senecas Ordnung hineinzubringen. Dazu war es auf der anderen Seite auch erforderlich, über den Charakter der so häufigen Wiederholungen, Anklänge und Ubereinstimmungen, die neben jenen Gedanken abweichenden Inhalts einhergehen, ein klares Bild zu gewinnen, sie zu sichten und sorgsam zu scheiden, je nachdem sie durch das gleiche sachliche Substrat oder durch einen einmaligen Zustand im Leben Senecas, soweit sich das nachweisen läßt, bedingt sind. Durch diese Vorarbeiten waren die Voraussetzungen geschaffen, um über die C h r o n o l o g i e der einzelnen Schriften mit größerer Bestimmtheit etwas auszusagen. Hatte man sich bisher1 damit begnügt, den zeitlichen Ansatz der Dialoge auf Grund mehr äußerer Indizien festzulegen, so ging mein Bemühen dahin, unter voller Berücksichtigung jener Gesichtspunkte durch Verfolgung der Fäden, die sich zwischen den einzelnen Dialogen herüberspinnen, und andererseits durch Herausarbeitung des Gegensatzes zu anderen Schriften 1 Vgl. A . Gercke a. a. Ö. S . 2 8 2 — 3 2 7 und K . Münscher, Senecas Werke. Untersuchungen zur Abfassungszeit und Echtheit, Philol. Suppl. X V I , Heft 1, Lpz. 1922. Auch Münschers Literaturbericht (Burs. J. 1922, I I S. 109—214), der übrigens als das Muster eines solchen gelten kann, mag hier herangezogen werden.
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die Ergebnisse auf eine neue Grundlage zu stellen. Hand in Hand mit der zeitlichen Fixierung wurde versucht, den Charakter der einzelnen Schriften zu bestimmen, sie in innerlich verwandten Gruppen zusammenzufassen und aus ihnen die jeweilig vorherrschende Geistesverfassung Senecas zu erschließen. Mein Hauptaugenmerk galt dabei einer Gruppe von Dialogen, die sich in den ersten Jahren des Exils einordnen lassen und unter sich sehr viel Gemeinsames aufzuweisen haben. Ich habe glaubhaft zu machen versucht, daß das Bild, das uns Seneca zu jener Zeit bietet, erheblich von dem späteren abweicht, denn jene Dialoge stehen vielfach in einer Kampfstellung zu denen, die in einem späteren Zeitpunkt entstanden sind. Auch die Sprache und der Stil 1 Senecas sind naturgemäß in den Kreis der Betrachtungen einzubeziehen. Erinnert man sich, zu welch fruchtbaren Ergebnissen die stilstatistische Methode für Plato geführt hat und wie sich ebenso im Schaffen Ciceros mit Sicherheit verschiedene Epochen seines Stils herausschälen lassen, so ist man geneigt, ein gleiches auch für Seneca zu erwarten. Man könnte demzufolge auch bei Seneca versuchen, von der sprachlichen Seite her das chronologische Problem aufzurollen. Leider sind hier jedoch die Erfolgsaussichten, wenigstens soweit ich zu urteilen vermag, enger umgrenzt. Der Stil Senecas hegt von Anfang an in seiner Eigenart fertig vor, wir können im ganzen nur geringfügige Schwankungen feststellen2. Seneca hat diese Eigentümlichkeit, den einmal angenommenen Stil beharrlich festzuhalten, mit anderen Autoren der silbernen Latinität gemein, es sei nur an Tacitus erinnert, bei dem sich für die historischen Schriften kaum eine Änderimg des Stils feststellen läßt. Doch liegen die Verhältnisse bei Seneca immerhin so, daß sich in Einzelfällen, wenn man die Ziele nicht allzu weit steckt, auch mit sprachlichen Argumenten etwas erreichen läßt. Eine besondere Bedeutung kommt endlich dem Quellenproblem zu. Um die geistige Situation und Problematik Senecas voll begreifen zu können, wäre es vonnöten, für jeden einzelnen der Dialoge über die Vorlagen genaue Auskunft zu erteilen. Von einem solchen Ziel sind wir jedoch beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch weit entfernt. Wenn wir von den Schriftenreihen De ira und De beneficiis absehen, zu denen wir eindringende Quellenuntersuchungen besitzen3, so liegt eigentlich noch alles im argen, wenigstens soweit die Dialogschriften in Betracht kommen. Das ist zum guten Teil bedingt 1 Vgl. Ed.Norden, Antike Kunstprosa I S . 306—313. A . Bourgery, Sénèque Prosateur, Paris 1922 (mit sehr wertvollen Zusammenstellungen). A.Nottola, L a prosa di Seneca il filosofo, Bergamo 1904. L . Castiglioni, Studi intorno a Seneca prosatore e filosofo, Riv. di filol. 1924. s Vgl. Bourgery a. a. O. S . 9 2 : »Ce qui frappe tout d'abord dans la prose de Sénèque, c'est son unité, on pourrait presque dire son uniformité.« 3 Vgl. P. Rabbow, Antike Schriften über Seelenheilung und Seelenleitung auf ihre Quellen untersucht. I. Die Therapie des Zornes, Lpz. 1 9 1 4 (in den Ergebnissen nicht überall überzeugend, aber durch die Schärfe der methodischen Zergliederung seine Vorgänger weit hinter sich lassend). M , Sonntag, L . A n n . Senecae De beneficiis libri explanantur. Diss. Lpz. 1 9 1 3 .
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durch die besonderen Schwierigkeiten, die sich einer solchen Analyse bei Seneca entgegenstellen. Man muß erst einen deutlichen Begriff von der Manier Senecas, die Dinge rhetorisch aufzuputzen, gewonnen haben, ehe man es wagen kann, eine Scheidung zwischen eigenem und fremden Gut bei ihm vorzunehmen. Es kommt hinzu, daß Senecas Dialektik sich an der Oberfläche bewegt und selten die eigentlichen Kontroversen mit aller Schärfe erfaßt, so daß es der von ihm entwickelten Philosophie, die sich im wesentlichen auf die Aufstellung weniger allgemeiner Wahrheiten beschränkt, an spezifischen Merkmalen mangelt. Das hat zur Folge, daß wir mit einer differential-diagnostischen Methode nur in Ausnahmefällen zum Ziel gelangen können. Dennoch glaube ich, daß sich in einigen Punkten über das bisher schon Erkannte hinauskommen läßt. Für die vorliegenden Untersuchungen erwies es sich als zweckmäßig, die Analyse vornehmlich auf der Behandlung der sogenannten D i a l o g s c h r i f t e n fußen zu lassen, da diese sich mit Sicherheit über die ganze für uns faßbare Zeitspanne in Senecas Leben verteilen und überdies vielfach zu dem gleichen Thema in stark wechselnder, öfters gegensätzlicher Weise Stellung nehmen. Verwertet sind ferner naturgemäß der Inhalt der Epistolae Morales und die moralphilosophischen Auseinandersetzungen in den Vorworten und Exkursen der Naturales Quaestiones. Nicht herangezogen dagegen sind die Tragödien, da die bisherigen Versuche, sie zeitlich einzuordnen1, als verfehlt zu betrachten sind und nach Lage der Dinge meines Erachtens die Aussicht auf einen entscheidenden Fortschritt vorerst nicht besteht. II. Der Dialog De Providentia als Exponent der geistigen Haltung Senecas in der ersten Zeit des Exils. i. Das chronologische Problem.
Nach der bisher fast allgemein geteilten2 Auffassung ist der Dialog De Providentia dem letzten Lebensabschnitt Senecas, etwa dem Hochsommer 64 oder dem Anfang des Jahres 65, zuzuweisen. Diese Ansicht ist am folgerichtigsten von K. Münscher entwickelt3, dessen wichtigste Beweisgründe ich im Wortlaut anführe: »Ein Vorläufer der Moralis philosophia ist a u c h . . . Dialog I ad 1 Vgl. K . Münscher a . a . O . S . 8 4 f f . A u c h die Ansätze O . H e r z o g s (Rh. M u s . 7 7 , 1928, S. 5 1 — 1 0 4 ) haben mich größtenteils nicht zu überzeugen vermocht. a M i t alleiniger Ausnahme, soweit ich sehe, von R . Waltz, vgl. L a vie politique de Sénéque, Paris 1909, S. 7 : »mon opinion appuyé sur une minutieuse étude des textes est, que le D e Providentia et le D e constantia sapientis sont des premiers mois de l'exil de Sénéque«. Waltz hat es jedoch verabsäumt, sein Material vorzulegen; die Argumente, die er S. i o i f f . vorbringt, besitzen für sich allein keinerlei Beweiskraft. 3 a . a . O . S . 7 j f . V g l . auch Burs. J. 1922, I I S. I 4 7 f .
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durch die besonderen Schwierigkeiten, die sich einer solchen Analyse bei Seneca entgegenstellen. Man muß erst einen deutlichen Begriff von der Manier Senecas, die Dinge rhetorisch aufzuputzen, gewonnen haben, ehe man es wagen kann, eine Scheidung zwischen eigenem und fremden Gut bei ihm vorzunehmen. Es kommt hinzu, daß Senecas Dialektik sich an der Oberfläche bewegt und selten die eigentlichen Kontroversen mit aller Schärfe erfaßt, so daß es der von ihm entwickelten Philosophie, die sich im wesentlichen auf die Aufstellung weniger allgemeiner Wahrheiten beschränkt, an spezifischen Merkmalen mangelt. Das hat zur Folge, daß wir mit einer differential-diagnostischen Methode nur in Ausnahmefällen zum Ziel gelangen können. Dennoch glaube ich, daß sich in einigen Punkten über das bisher schon Erkannte hinauskommen läßt. Für die vorliegenden Untersuchungen erwies es sich als zweckmäßig, die Analyse vornehmlich auf der Behandlung der sogenannten D i a l o g s c h r i f t e n fußen zu lassen, da diese sich mit Sicherheit über die ganze für uns faßbare Zeitspanne in Senecas Leben verteilen und überdies vielfach zu dem gleichen Thema in stark wechselnder, öfters gegensätzlicher Weise Stellung nehmen. Verwertet sind ferner naturgemäß der Inhalt der Epistolae Morales und die moralphilosophischen Auseinandersetzungen in den Vorworten und Exkursen der Naturales Quaestiones. Nicht herangezogen dagegen sind die Tragödien, da die bisherigen Versuche, sie zeitlich einzuordnen1, als verfehlt zu betrachten sind und nach Lage der Dinge meines Erachtens die Aussicht auf einen entscheidenden Fortschritt vorerst nicht besteht. II. Der Dialog De Providentia als Exponent der geistigen Haltung Senecas in der ersten Zeit des Exils. i. Das chronologische Problem.
Nach der bisher fast allgemein geteilten2 Auffassung ist der Dialog De Providentia dem letzten Lebensabschnitt Senecas, etwa dem Hochsommer 64 oder dem Anfang des Jahres 65, zuzuweisen. Diese Ansicht ist am folgerichtigsten von K. Münscher entwickelt3, dessen wichtigste Beweisgründe ich im Wortlaut anführe: »Ein Vorläufer der Moralis philosophia ist a u c h . . . Dialog I ad 1 Vgl. K . Münscher a . a . O . S . 8 4 f f . A u c h die Ansätze O . H e r z o g s (Rh. M u s . 7 7 , 1928, S. 5 1 — 1 0 4 ) haben mich größtenteils nicht zu überzeugen vermocht. a M i t alleiniger Ausnahme, soweit ich sehe, von R . Waltz, vgl. L a vie politique de Sénéque, Paris 1909, S. 7 : »mon opinion appuyé sur une minutieuse étude des textes est, que le D e Providentia et le D e constantia sapientis sont des premiers mois de l'exil de Sénéque«. Waltz hat es jedoch verabsäumt, sein Material vorzulegen; die Argumente, die er S. i o i f f . vorbringt, besitzen für sich allein keinerlei Beweiskraft. 3 a . a . O . S . 7 j f . V g l . auch Burs. J. 1922, I I S. I 4 7 f .
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Lucilium 'quare aliqua incommoda bonis viris accidant cum Providentia sit sive de Providentiadessen Inhalt durch den langen Titel richtig angegeben wird. Auch zu dieser Schrift ist angeblich eine Anfrage des Lucilius der Anlaß, obwohl 'hoc commodius in contextu operis redderetur (Ii).... a toto particülam revelli placef; er bezeichnet dies opus nicht näher, und das ist für eine Sonderschrift seltsam genug und wenig passend, aber es kann nur an die moralis philosophiae libri gedacht werden. Gercke ist sich dessen nicht sicher, aber die Gleichheit des Ausdrucks hier in De Providentia und Epist. 106, 2 ('veniebat in contextum operis mei'), wo die moralis philosophia genannt wird, schließt doch jeden Zweifel aus, daß auch hier in De Providentia dasselbe Werk gemeint ist. Also entstammt auch die Schrift De Providentia jenen Jahren 63/64, wahrscheinlich, wie die Briefe 106 und folgende, dem Jahre 64. Und noch genauer und sicherer läßt sich die Abfassung von De Providentia festlegen, weil Lucilius seine Frage 'quid ita3 si Providentia mundus regeretur, multa bonis viris mala acciderent' (De prov. 1 1 ) gestellt hat auf Grund einer Äußerving Senecas selbst in Epist. 74,10 quicunque beatus esse constituet, unum esse bonum putet, quod honestum est. nam si ullum aliud esse existimat, primum male de Providentia iudicata quia multa incommoda iustis viris accidunt'. Der Brief ist etwa Ende Mai 64 geschrieben, De Providentia also bald danach, im Sommer 64, als Antwort auf die Anfrage des Lucilius, die jener Brief veranlaßt hatte.« Mit diesen Worten hat Münscher seine Stellungnahme zum chronologischen Problem der Schrift De Providentia eindeutig und entschieden umrissen. Er bewegt sich auf demselben Boden wie vor ihm Gercke 1 . Dieser hatte noch ein weiteres Argument hinzugefügt: »In Aussicht gestellt hat Seneca dem Lucilius ein Werk ähnlichen Inhalts Naturales Quaestiones II 46 'at quare Iupiter aut ferienda transit aut innoxia ferit ?' in maiorem me quaestionem vocas, cui suus dies, suus locus dandus est. Die Schrift De Providentia ist nur ein Auszug (vgl. De benef. V I I 1 , 5 ff.) und Vorläufer dieses Werkes . . . Z u beachten sind auch einige Berührungspunkte mit Briefen aus dem Sommer 64: De prov. V I 6 ~ Epist. 5 3 , 1 1 und De prov. III, 5 ~ Epist. 24, 5.« Der letzte Punkt der Beweisführung ist sogleich zurückzuweisen. Vereinzelte Berührungen solcher Art, wie sie Gercke herausgehoben hat, lassen sich zwischen den Epistolae morales und sämtlichen Dialogen ausfindig machen. Sie zeigen nur, daß der betreffende Gedanke bzw. die betreffende Stoffgruppe nach oft langer Zeit von neuem in dem geistigen Blickfeld Senecas aufgetaucht sind. Wie steht es mit der Beweiskraft der übrigen Argumente? Geben wir zunächst zu, daß unter dem contextus operis (De prov. 1 1 ) die moralis philosophiae libri zu verstehen seien, so müßten wir uns mit der eigenartigen Tatsache abfinden, daß Seneca Probleme, die dort ihren natürlichen Platz hatten, 1
a, a.O. S. 32of.
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nicht nur in dem Briefe, wo man es bei der notwendig summarischen Betrachtungsweise noch begreifen kann, sondern überdies in einer voll entwickelten Sonderschrift vorweggenommen habe. Nun aber vergleiche man, wie ungern selbst in dem Briefe (Epist. 106, i—2) Seneca sich entschließt, dem Wunsch des Lucilius nachzukommen: Tardius rescribo ad epistulas tuas, non quia districtus occupationibus sum . . . quid ergo fuit, quare non protinus rescriberem ? 1d de quo quaerebas, veniebat in contextum operis mei. scis enim me moralem pkilosophiam velle complecti et omnes ad eam pertinentis quaetiones explicare. itaque dubitavi utrum differrem te, dorne suus isti rei veniet locus, an ius tibi extra ordinem dicerem: humanius visum est tarn longe venientem non detinere. Doch wir geraten, wenn wir jene Deutung beibehalten, noch von einer anderen Seite her in Schwierigkeiten hinein. O. Binder1 und mit ihm Münscher lassen Lucilius seine Frage vorlegen auf Grund der Worte Senecas in Epistel 74,10. Besteht die Beziehung zu Recht, so können wir den Dialog zeitlich nicht allzu weit von der Epistel entfernen. Dafür wäre die Voraussetzung, daß Seneca zu jener Zeit, als er den Brief schrieb, in der Tat mit der Ausarbeitung der moralis philosophiae libri beschäftigt war. Nun scheint es aber, als ob sich der Zeitpunkt, in dem sich Seneca der neuen Materie zugewandt hat, mit hinreichender Sicherheit bestimmen lasse. Wir gewinnen nämlich ganz den Eindruck, als ob das Werk annähernd gleichzeitig mit Epistel 89 oder bald danach in Angriff genommen sei, denn diese bringt gleichsam zum Auftakt Programm und Dispositionsschema der moralis philosophia: cum tripertita sit philosophia, moralem eius partem primum ineipiamus disponere. quam in tria rursus dividi placuit, ut prima esset inspectio suum cuique distribuens et aestimans quanto quidque dignum sit, maxime utilis... secunda de impetu, de actionibus tertia (Epist. 89,14; vgl. die vorangehenden Abschnitte § 9—13). Dazu paßt aufs beste, daß die moralis philosophiae libri in den Briefen 106,2,108,1 und 109,17 erwähnt werden, dort waren also die Arbeiten in vollem Gange2. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß es schwerlich angebt, den Dialog De Providentia einerseits mit der Epistel 74, andererseits mit der moralphilosophischen Schrift zu verbinden. Denn, so dürfen wir folgern, als Seneca an der Epistel 74 schrieb und in den Wochen danach, lag ihm der Gedanke an die moralis philosophia noch fern, und umgekehrt, als er diesen Stoff zur Bearbeitung vorgenommen hatte, war jener Brief mit seiner Umwelt schon fast wieder der Vergessenheit anheimgefallen. Demzufolge hat man sich für die eine oder für die andere 1
Die Abfassungszeit von Senecas Briefen, Diss. Tübingen 1905, S . 25 Anm. Alle vier Briefe gehören der letzten Briefgruppe an, die nach allem, was sich erkennen läßt, durch einen deutlichen, auch zeitlichen Einschnitt, der durch die Briefe 87 und 88 bezeichnet wird (vgl. Gercke a. a. O. S. 322 f.), von der vorhergehenden geschieden ist. Es ist bezeichnend, daß der Name der moralis philosophia zum erstenmal Epistel 88, 24 fällt. Das Vorkommen des Ausdruckes (sprachlich eine Neuschöpfung Ciceros, vgl. De fato 1) ist übrigens bei Seneca auf diese späten Episteln beschränkt. 2
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Annahme zu entscheiden, ohne sie miteinander zu verquicken. Da jedoch die erstere auch von Münschers Standpunkt aus wohl von vornherein ausscheidet, bleibt, wenn man von allen anderen vorderhand absieht, nur die zweite als annehmbar und einzig diskutierbar zurück. Indessen, es besteht keine Veranlassung, und hier handelt es sich um Grundsätzliches, Münschers Auslegung beizupflichten. Als contextus operis bezeichnet Seneca auch die Naturales Quaestiones (nat. 6 , 1 , 3 quorum ut causas excutiamus, et propositi operis contextus exiget...). Der Ausdruck ist demnach 1 auch bei Seneca an sich völlig unbestimmt und ganz allgemein gehalten. Unter diesen Umständen müssen wir die De-prov.-Stelle ( 1 1 ) selbst zum Sprechen bringen: hoc commodius in contextu operis redderetur, cum praeesse universis providentiam probaremus et interesse nobis deum2. Der sachliche Gehalt und damit der Titel jener Sonderschrift, den Münscher vermißt, ist also, wie jeder unbefangene Beurteiler zugeben wird, in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit umgrenzt durch die Aussage des cum- Satzes. Mit anderen Worten, die von Seneca behandelten Probleme sind nur ein Teilausschnitt3 einer Schrift De Providentia4. Im übrigen verpflichten die Worte Senecas in keiner Weise zu dem Schluß, daß er die Schrift nur als Vorläufer eines umfangreicheren Werkes, etwa der moralis philosophiae libri, betrachtet habe. Nicht einmal eine Absicht Senecas, sich mit den Fragen, die er in dem Dialog angeschnitten hatte, nochmals innerhalb eines weiter gespannten Rahmens zu befassen, ist aus der Stelle herauszulesen. Erweist sich somit die Argumentation Münschers als nicht durchschlagend, so läßt sich auf der anderen Seite zeigen, daß der Dialog I seinem gedanklichen Inhalt nach schwerlich in die Situation des Jahres 64 hineinpaßt. Zwei Momente sind es vornehmlich, die diese gegensätzliche Einstellung erkennen lassen, nämlich einmal Senecas Stellungnahme zu der Idee einer assidua cum incommodis rixa, andererseits sein inneres Verhältnis zum Reichtum. In den Worten De prov. II 6 non fert ullum ictum inlaesa felicitas: at ubi adsiduafuit cum incommodis suis rixa, callum per iniuriam duxit nec ulli malo cedit ist ein Grundgedanke des Dialoges angeschlagen (vgl. besonders IV 12): Vgl. Val. M a x . 5, 4, 7. T a c . hist. 2, 8. A u g . civ. dei 1 7 , 1 5 tit. cum besitzt hier, wie öfters, explikativen Charakter: »Diese Frage würde passender im Z u sammenhang eines Werkes behandelt werden, dessen Aufgabe für uns darin bestünde, nachzuweisen, daß im Weltall die Vorsehung herrsche und Gott sich unserer annehme.« Jedoch Lucilius zweifelt nicht an der Vorsehung selbst, und so kann Seneca sich darauf beschränken, jenes Einzelproblem, indem er es aus seinem allgemeinen Zusammenhange herauslöst, für sich zu betrachten. 3 In diese Richtung deutet auch der längere Titel des Dialoges 'Quare aliqua incommoda bonis 1
3
viris accidant, cum Providentia
sit'.
Über die Anlage einer solchen Schrift sind wir unterrichtet u. a. durch Ciceros Bücher D e natura deorum I I und I I I , die von der Vorsehung handeln. Hier ordnet sich in der T a t die von Seneca erörterte Frage als ein Teilproblem organisch ein. I I I 7 9 — 9 3 kommt ein Gegner des Glaubens an die Vorsehung zu Wort: nam si curent (sc. dei), bette bonis sit, male malis, quod 4
nunc abest.
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'Stete Mühe und Anstrengung läßt auch die härtesten Unbilden ertragen, stetes Unglück wappnet den Menschen, der sich tapfer zur Wehr gesetzt hat, und macht ihn unempfindlich gegen weitere Schicksalsschläge.' Dieser Gedanke erfährt eine weitere Zuspitzung. Es genügt dem vir fortis nicht, den Kampf mit dem Ungemach, wenn er an ihn herantritt, siegreich zu bestehen, sondern er sieht, wie Seneca mit innerer Zustimmung und Uberzeugung verkündet 1 , seine Lebensaufgabe darin, ihn aus freien Stücken aufzusuchen: avida est periculi virtus .. . ipsis, inquam, deus consulit, quos esse quam honestissimos cupit, quotiens Ulis materiam praebet aliquid animóse fortiterque faciendi, ad quam rem opus est aliqua verum difficultate (De prov. IV 4—5). Dieser von Seneca mit stärkstem Nachdruck formulierten Auffassung tritt in den sicheren Schriften der Spätzeit eine gemäßigtere gegenüber: quid est praecipuum in rebus humanis? animus contra calamitates fortis et contumax3 luxuriae non adversus tantum sed infestus3nec avidus periculi nec fugax (nat. quaest. Illpraef. 132.) Die Stimmung, wie sie hier und in anderen Schriften3 aus dem Anfang der 60er Jahre augenfällig zum Ausdruck kommt, das bei aller Betonung tätigen Wirkens stärkere Ruhebedürfnis hat ihn, soweit wir urteilen können, wie es bei seinem zunehmenden Alter nur natürlich war, nicht mehr verlassen: dissentio ab his, qui in fluctus medios eunt et tumultuosam probantes vitam cotidie cum difficultatibus rerum magno animo conluctantur. sapiens feret ista, non eliget et malet in pace esse quam in pugna (Epist. 28,7) und . . . quantum possumus, evitemus incommoda quoque, non tantum pericula (Epist. 14, 3). Zumindest können wir aus den zahlreichen Schriften der Spätzeit nirgends das Gegenteil beweisen4. Wohl aber findet sich aus weit früherer Zeit, wie ich weiterhin nachweisen werde, eine ganz bestimmte Gruppe von Schriften, innerhalb deren in gleicher Weise wie in De Providentia jene schroffere und härtere Auffassung eine überragende Rolle spielt. 1 Der Ansicht, daß Seneca hier etwas ausspreche, was ihm persönlich ganz besonders am Herzen lag, wird sich schwerlich jemand entziehen können, der den Dialog auf sich einwirken läßt. Zum Grundsätzlichen vergleiche man im übrigen die methodologischen Vorbemerkungen in cap. I. 2 Siehe ferner die dialektischen Auseinandersetzungen Epist. 85,24—29, vor allem § 26 und 28, endlich Epist. 22, 7. 3 Vor allem im Dialog De tranquillitate animi. Den entscheidenden Umschwung bringt De vita beata X X V 8: . . . malo has (virtutes) in ttsu mihi esse, quae exercendae tranquillius sunt, quam eas, quarum experimentum sanguis et sudor est. In der Tat hatte Seneca nach all den bitteren Lebenserfahrungen auch vollauf Grund, sich vorsichtiger und zürückhaltender auszudrücken. Die Leidenszeit auf Korsika hatte ihn gelehrt, daß er dem dauernden, stetig sich erneuernden Ansturm eines widrigen Geschickes nicht gewachsen war, daß mit der Zeit seine Widerstandsfähigkeit sich erschöpfte. So gelangte er zu der späten Einsicht (De vita beata X I X 3): negatis quemquam praestare, quae loquitur . . . quid mirum, cum loquantur fortia, ingentia, omnes humanas tempestates evadentia ? (vgl. S. 745). 1 Wohl hören wir von einer adsidua exercitatio, intentio animi, cogitatio, meditatio u. dgl. (vgl. Epist. 16,1. 69, 5. 75, 15. 82, 8. 84, ix. 90, 46. 107,4 u. a.), damit ist aber — wenn nicht überhaupt nur eine bestimmte Geisteshaltung — die ernste, zielstrebige und unermüdliche Arbeit an sich selbst gemeint, Gedanken, die auf ein ganz anderes Gebiet hinüberführen.
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Noch von einer anderen Richtung her läßt sich der Nachweis führen, daß sich Senecas Grundhaltung, wie sie uns im Dialog De Providentia entgegentritt, wesentlich von jener unterscheidet, die uns aus den Spätschriften kenntlich ist. Diese zweite Ansatzmöglichkeit betrifft, wie ich bereits sagte, Senecas Einstellung zum Reichtum. Es handelt sich um das Problem, ob jemand, der von großen Reichtümern umgeben ist, trotzdem in sich die innere Gewähr besitzen könne, daß er dem Druck der Armut nicht erliegen werde, falls diese über ihn hereinbreche, oder ob eine solche Widerstandsfähigkeit erst durch wirkliche Erprobung erwiesen werden müsse. Senecas Stellungnahme in De Providentia ist gekennzeichnet durch den folgenden Satz, den ich mit den anschließenden Partien1 zusammen anführe, da ich in meinen späteren Ausfuhrungen darauf zurückgreifen werde: unde possum scire, quantum adversus paupertatem tibi animi sit, si divitiis diffluis? unde possum scire, quantum adversus ignominiam et infamiam odiumque populäre constantiae habeas, si inter plausus senescis, si te inexpugnabilis et inclinatione quadam mentium pronus favor sequitur? unde scio quam aequo animo laturus sis orbitatem, si quoscumque sustulisti vides? audivi te, cum alios consolareris: tunc conspexissem, si te ipse consolatus esses, si te ipse dolere vetuisses (De prov. IV 5). Diesen Sätzen kommt, wie ich aufzuweisen mich bemühen werde, für die Erkenntnis der dem Dialog innewohnenden Tendenz eine erhebliche Bedeutung zu. Wir greifen zunächst das erste der drei Momente, von denen die Rede ist, gesondert heraus, fassen also den Satz ins Auge, der auf das oben gekennzeichnete Problem Bezug nimmt: 'Wie kann man wissen, mit wieviel Mut Du der Armut entgegentreten wirst, wenn Du von Reichtümern gleichsam berstest?' Wenn wir diese Worte dem Verständnis voll erschließen wollen, müssen wir die Voraussetzungen prüfen, unter denen sie Seneca niedergeschrieben hat2. Halten wir die Fiktion einer in erster Linie für die Allgemeinheit bestimmten Moralschrift aufrecht, so nimmt sich der Satz im Munde eines Mannes, der sich — im Jahre 64 — des ungestörten Genusses riesiger Besitztümer erfreute, seltsam genug aus, wirkt fast wie eine Herausforderung. Wollte sich aber Seneca damit, um auch dieser Vermutung Raum zu geben, über seine eigene Lage hinweghelfen, so ist er sinnlos. Tod und auch Folterqualen konnten ihm vom Hasse Neros drohen, eine Güterentziehung für sich allein war nach den Vor1 Sie sind im Zusammenhange des Dialogs dazu bestimmt, die Beweisunterlage für den weiter oben von mir behandelten Satz avida est periculi virtus zu schaffen, und werden eingeleitet durch die allgemeine Sentenz gubernatorem in tempestate, in acie militem intelligas (vgl. cap. III 1 d. Abh. S. 714). 2 Der Einwand, Seneca exemplifiziere nur und man dürfe ihm seine Worte nicht zu genau vorrechnen, verkennt die eigentümliche Art seines Schaffens und ist daher hinfällig. Senecas Hasser und Neider, an denen es ihm nicht fehlte, waren eifrig bemüht, die Abweichungen seiner Lebenshaltung von seiner Lehre nachzurechnen und ihm vorzuwerfen. Das hat zur Folge gehabt, daß Seneca zumindest seit den Tagen des Suilliusprozesses auf das peinlichste bedacht war, in seinen Schriften nur das auszusprechen, was er, ohne anzustoßen, vertreten konnte.
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gangen, die auf Burrus' Tod im Jahre 62 folgten und Senecas Rücktritt von den Staatsgeschäften mit seinem Angebot der Güterrückgabe einleiteten, schwerlich mehr zu erwarten. Daß der angeführte Satz in die Situation des Jahres 64 nicht hineinpaßt, läßt sich auch erhärten durch Vergleich mit Briefen, die ein verwandtes Thema behandeln. Für einen solchen Vergleich eignet sich am besten die 20. Epistel. Seneca hat, wie so oft, das Ideal der Armut und Mäßigkeit verkündet. Doch er ist sich dessen bewußt, daß ein solches Lob in seinem Munde angesichts seiner glänzenden äußeren Verhältnisse nicht ohne weiteres überzeugend anmutet, und er läßt sich daher von Epikur 1 den scheinbar sehr begründeten Einwand machen (Epist. 20, 9): 'magnificentior, mihi crede, sermo tuus in grabato videbitur et in panno. non enim dicentur tantum illa, sed probabuntur. Seneca erwidert: ego certe äliter audio, quae dicit Demetrius noster ... 'quid ergo? non licet divitias in sinu positas contemnere?' quidni liceat? et ille ingentis animi est, qui illas circumfusas sibi.. . ridet suasque audit magis quam sentit. Es folgt der entscheidende Einwurf: 'nescio' inquis 'quomodo paupertatem iste laturus sit, si in illam inciderif. Leider ist der Text im folgenden verderbt, aber der Sinn der Stelle ist erkennbar. Seneca beantwortet den Einwurf mit einer Gegenfrage und verschiebt damit die Diskussion auf ein anderes Gebiet, wo jenes Bedenken sich als gegenstandslos erweist: nec ego, Epicure, \arigulus si2 iste pauper contempturus sit divitias, si in illas inciderit: itaque in utroque mens aestimanda est inspiciendumque, an ille paupertati indulgeat, an hic divitiis non indülgeat: alioquin leve argumentum est bonae voluntatis grabatus aut pannus, nisi apparuit aliquem illa non necessitate pati, sed malle. Epikur wird also völlig klar und schlüssig widerlegt und jenes Argument als impassend beiseitegeschoben. Fassen wir zusammen, so ergibt sich, daß sich für Seneca entsprechend seiner, wie wir vorerst ganz allgemein formulieren wollen, veränderten eigenen Lebenslage das Schwergewicht der Entscheidung verschoben hat. Seit den Entfernt verwandt ist Frg. 207 Usener. Der geforderte Sinn ist: »Und ich, Epikur, vermag nicht zu sagen, ob jener Arme den Reichtum verachten wird, wenn er ihm eines Tages zufällt.« Überliefert ist in p L epicuri angulus si iste. Die bisherigen Emendationsversuche stimmen darin überein, daß sie aus angulus die Fragepartikel an loslösen und aus gulus unter Heranziehimg des nachfolgenden si einpassendes Adjektiv herstellen: an vetus iste Madvig, an tuus iste P. Thomas, an pullatus iste Hense, endlich an gulosus iste Buecheler. Daneben gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, die ich im folgenden zur Diskussion stellen möchte. Mein Verbesserungsvorschlag lautet: nec ego, Epicure, (in} angulo si iste pauper usw. Der angulus zur Charakterisierung des pauper ist durchaus angebracht, vgl. Sen. contr. II 1, 17 non ignoro ego quorum inopia per otium in angulis divitiarum convictos , Sen. dial. XII 6, 4 multa tibi non licent, quae humillimis et in angulo iacentibus licent, epist. 74, 28 u. a. Der besondere Reiz des Wortes liegt ferner darin, daß es oft im geringschätzigen Sinne gegen die Epikureer verwendet wird, vgl. Cic. rep. I 2 quas res isti in angulis personant (Vorbild ist Plat. Gorg. 485D iv Ycoviq, s. auch Cic. de orat. 1, 57 u. a.). Auf der anderen Seite ist fragendes si bei den Autoren der silbernen Latinität von Vitruv abgesehen zwar ziemlich selten, aber das ist kein imbedingter Gegenbeweis, denn vereinzelt läßt sich ein solcher Gebrauch auch bei Columella (8, 15, 4) und vielleicht auch bei Tacitus nachweisen (vgl. Schmalz-Hofmann, Lat. Syntax S . 6 9 7 2 - 4 ) . 1
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Angriffen, denen er in der Zeit des Suilliusprozesses ausgesetzt war, mußte es ihm darauf ankommen (vgl. De vita beata XXI ff.), sich wie den anderen zu beweisen, daß im Grunde ein gesundes Maßhalten1 gegenüber den Anreizen und Verlockungen des Reichtums ethisch ungleich höher zu bewerten sei als ein meist doch recht unfreiwilliges Sichfugen in eine aufgezwungene paupertas. So verstehen wir es, daß er den Einwurf Epikurs, der seiner eigenen F r a g e stellung in D e Providentia e n t s p r i c h t , als unwesentlich zu entkräften versucht. Demnach müssen wir folgern, daß der Brief und der Dialog schwerlich in demselben Lebensabschnitt Senecas geschrieben sein können. Man kann auch nicht argumentieren, um dieser Folgerung auszuweichen, das Beweisziel in De Providentia sei ein anderes als in der Epistel2. Denn Seneca konnte keinesfalls etwas daran Hegen, jenen Gesichtspunkt, wo auch immer und in welchem Zusammenhang, ungebührlich in den Vordergrund treten zu lassen. Sehen wir zu, was uns die De prov.-Stelle IV 5, die wir in den Mittelpunkt der Interpretation gestellt hatten, weiterhin zu sagen hat: »Wie weiß man, wieviel Standhaftigkeit Du der ignominia gegenüber aufbringen wirst, si inter plausus seriescis ?«. Hier genügt es, nur im Vorübergehen zu erinnern an die Vorhaltungen seiner Gegner, gegen die sich Seneca in der Schrift De vita beata zur Wehr setzt ( X X I 1 ) : ... et exilium vanum nomen putat et ait: 'quid enim est mali mutare regiones?' et tarnen, si licet, senescit in patria? Es bleibt endlich
als letzter der casus adversi die orbitas. Auch hier begnüge ich mich zunächst, die Worte audivi te, cum alios consolareris: tunc conspexissem, si te ipse consolatus
esses herauszuheben und auf ihren Inhalt aufmerksam zu machen, ohne mich auf eine vorerst doch nur unzulängliche und notwendig subjektiv bedingte Deutung einzulassen3. Jetzt aber vergegenwärtigen wir uns noch einmal die drei Momente, die hier aufs engste verkoppelt nebeneinander auftreten, nämlich paupertas, ignominia und orbitas, rufen uns ferner den Titel des Dialoges ins Gedächtnis zurück 'Quare aliqua incommoda
bonis viris accidant, cum Providentia sit' und machen
einen Sprung in die C o n s o l a t i o ad Helviam. Das Kernproblem dieser Schrift bestand für Seneca darin: wie konnte er dem Begriff des exilium seinen Schrecken nehmen, wie vermochte er der Mutter die beruhigende Gewißheit beizubringen, daß die verhängnisvolle Lage, in die er durch seine Verbannung versetzt war, keine zu schwere Belastung für ihn bedeute? Dementsprechend nehmen die so gearteten Erörterungen einen erheblichen Raum innerhalb des 1 Vgl. z. B. Epist. 5, 6 magnus ille est, qui fictilibus sie utitur quemadmodum argento, nec ille minor est, qui sic argento utitur quemadmodum fictilibus. infirmi animi est pati non posse divitias. 2 Daß es das ist, lag eben vorzugsweise darin gegründet, daß sich Senecas Gesinnung geändert hatte. 3 Vgl. S. 714.
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Ganzen ein. Sie beginnen entscheidend mit dem cap. V I : . . . videamus quidsit exilium: nempe loci commutatio ... harte commutationem loci sequuntur incommoda: paupertas, ignominia, contemptus. adversus ista postea confligam; interim primum illud intueri volo, quid acerbi adferat loci commutatio. Es werden in den anschließenden Abschnitten diese scheinbaren mala Punkt für Punkt auf ihre wahre Bedeutung zurückgeführt und entschlossen widerlegt. Doch es bleibt noch ein schwer zu bekämpfender Einwand (XIII i): 'quid artificióse ista diducis, quae singula sustineri possunt, collata non possunt? commutatio loci toleräbilis est, si tantum locum mutes. paupertas toleräbilis est, si ignominia absit, quae vel sola opprimere ánimos solet\ Also: »einzeln genommen mögen jene incommoda ja erträglich sein, was aber wird geschehen, wenn sich alle, wie es der Fall ist, vereinigen, um die Festigkeit Deines Charakters zu erschüttern ?« Seneca weiß auch hierauf eine Antwort zu erteilen: si contra unam quamlibet partem fortunae satis tibi roboris est, idem adversus omnis erit. cum semel animum virtus induravit, undique involnerabilem praestat. Von hier aus gewinnen wir das Verständnis für einen eigenartigen Abschnitt in der Dialogschrift D e c o n s t a n t i a s a p i e n t i s VIII 3: si máximum illud..., in quo imperium suum fortuna consumit, aequo placidoque animo aeeipimus et seimus mortem malum non esse, ob hoc ne iniuriam quidem, multo facilius alia tolerabimus, damna et dolores, ignominias, locorum commutationes, orbitates, discidia, quae sapientem, etiam si universa circumveniant, non mergunt, nedum ut ad singulorum impulsus maereat. Es ist ersichtlich, daß uns diese Sätze 1 , denen sich sonst in den übrigen Schriften Senecas nichts Ähnliches an die Seite setzen läßt, in überraschender Weise in die Consolatio ad Helviam zurückversetzen, enthalten sie doch in nuce die ganze Zurüstung der Beweisführung — obschon diese hier in umgekehrter Richtung vorgeht und sich noch mehr gleichsam auf den Stelzen des Heroismus bewegt — , die dort der Trostschrift ihr inneres Gepräge verleiht. Es kommt hinzu, daß auch der Ausdruck commutatio loci, den Seneca allem Anschein nach Varro entnommen hatte (Helv. VIII i) 2 , überhaupt nur in diesen beiden Schriften angetroffen wird 3 , später aber aus dem Sprachschatz Senecas wieder verschwunden ist4, ohne weitere Spuren zu hinterlassen. Diese Beobachtungen sind vielleicht geeignet, die 1 Es handelt sich dabei um einen griechischen Gedanken, der aus der ÄvTaKoXou&ia tcöv äpCTcov folgt. M i t dieser Erkenntnis allein ist aber nicht viel geholfen. Wichtiger ist vielmehr der N a c h weis, welche Bedeutung der Gedanke für Seneca gewonnen hat. Ich möchte vermuten, daß wir es bei der oben ausgeschriebenen D e const. sap.-Stelle in ähnlicher Weise mit einer Reminiszenz aus der Consolatio ad Helviam zu tun haben, wie Seneca nach Rabbows Nachweis (vgl. S.702) an zahlreichen anderen Stellen des I I . Dialoges auf D e ira I I zurückgegriffen hat. 2
Vgl. cap. I I I 2 d. A b h . S. 728 A n m . 6.
E r ist auch sonst sehr selten. D e r Thesaurus Vol. I I I p. 1986, 80—82 bringt als weitere Belege nur noch Frontin. strat. 2, 2, i r und Firm. math. 3, 7, 22. 4 A n seine Stelle tritt das gewöhnlichere mutatio loci: schon in der Cons. ad Helv. X 1, dann in den Episteln 2, 1. 28, 4. 104, 18. 3
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These Münschers weiter zu stützen, der schon aus anderen Gründen die Schrift in die erste Zeit der Verbannung gerückt hatte1. Blicken wir zurück, so sind es in allen drei Dialogen die gleichen Faktoren2 als Ausdruck einer unglücklichen Lebenslage, die Seneca von allen Seiten umdrängten und bestürmten, gegen die er sich mit Aufwand aller Willenskraft zur Wehr setzte. Gemessen an den üppigen Lebensmöglichkeiten in Rom war alles eitel E l e n d und Misere, was ihn auf Korsika umgab. Die frische S c h m a c h der Verbannung lastete nach all den großen Erfolgen, die ihm vorher beschieden waren, den Triumphen, die er hatte feiern dürfen, doppelt schwer auf ihm. G e t r e n n t war er von allem, was ihm lieb und wert gewesen war. Auch persönliches Leid und T r a u e r waren ihm widerfahren, auch in dieser Hinsicht hatte ihm das Schicksal nichts erspart, denn nur wenige Wochen, bevor er Rom verlassen mußte, hatte er den einen seiner Söhne sterben sehen (Helv. II $)3. So spricht in der Tat vieles dafür, daß der Dialog De Providentia aus dem letzten Lebensabschnitt Senecas in die stürmischste Zeit seiner Mannesjahre zu setzen sei. Gewiß ist richtig, daß er gerade in jenem Augenblick, als er — zu Beginn des Exils — sich entschlossen über alle Widrigkeiten hinwegzusetzen versuchte und noch hoffen konnte ihrer Herr zu werden, mit so bei allem Ernst selbstgewissem Stolz und voll so mutiger Zuversicht noch schreiben durfte, wie er es in jenen drei Dialogen getan hat4. Wir sind in der Lage, diesen Ansatz, der sich uns durch die Analyse der einen Stelle aufgedrängt hatte, durch eine Reihe anderer Argumente auf eine festere Grundlage stellen zu können. Wieder ist es die Consolatio ad Helviam, die uns bei diesem Unterfangen gute Dienste leistet. Wie es bei einer d u r c h die g l e i c h e n L e b e n s v e r h ä l t n i s s e b e d i n g t e n g l e i c h a r t i g e n 1 Vgl. a.a.O. S.ioff. H.Dessau, der in den drei Serenus-DialogenErinnerungsschriften Senecas zu Ehren des toten Freundes vor sich zu haben glaubte, hat sich allerdings durch den Einspruch Münschers nicht beirren lassen, sondern seine eigenartige These neuerdings wiederholt (vgl. Herrn. 53, 1918 S. i88ff. Rom. Kaiserzeit II 1, 1926 S. 242). 2 Auch im Dialog De ira III, der, wie Münscher richtig vermutet (a.a.O. S. i8f.), ebenfalls der Zeit des Exils angehört, treten sie uns entgegen. Ich zitiere Münscher, dessen Gedankengängen ich mich anschließe: »Wir wissen durch Seneca selbst (Cons. ad Polyb. X I I I 2), daß des Kaisers Claudius persönliche Bitten Seneca das Leben erhalten, das Todesurteil des Senats in Verbannung umgewandelt hatten, und Seneca hat dem Kaiser später dafür überschwenglich gedankt. Zur Zeit von De ira III dankte er anders: niemand braucht zornmütig einem andern nach dem Leben zu trachten, heißt es im Schlußkapitel (43), und auf den Einwand (§ 4): 'ttolo' inquis 'utique occidere, sed exilio, sed ignominia, sed damno afficere' entgegnet Seneca bitter genug: magis ignosco ei qui vulnus inimici quam qui pusulam concupiscit; hic enitn non tantum mali animi est, sed pusilli: von Dankgefühl dem Kaiser gegenüber für das geschenkte Leben ist hier nichts zu spüren; Verbannung zu verhängen statt Tod, das ist kleinlich, meint Seneca «. 3 Der tiefere Sinn von De prov. IV 5 wäre alsdann der, daß Seneca sich über seine eigenen Leiden hinwegzutrösten versucht durch die Erkenntnis, daß jene ihm Gelegenheit geben, seine Standhaftigkeit und seinen inneren Wert zu erweisen. 1 Es ist bezeichnend, daß ihm etwa in der Schrift De constantia sapientis cap. VII »der stoische Weise kein unwirkliches Ideal ist, während er sein Vorkommen in der Wirklichkeit De tranquillitate animi VII 5 leugnet« (vgl. O. Hense Seneca und Athenodorus, Progr. Freiburg 1893 S. 13).
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T e n d e n z beider Schriften zu erwarten ist, findet sich eine große Anzahl sehr weitgehender gedanklicher Ubereinstimmungen, die z. T. singulären Charakter besitzen. Ich lasse einige der bezeichnendsten unter ihnen folgen. Weitere Beispiele werden sich jedem Leser, der einmal darauf hingewiesen ist, unschwer aufdrängen, so daß es sich erübrigt, sie in ihrer Gesamtheit anzuführen. »Ein tapferer Mann, der mit dem Schicksal im Kampf liegt und ihm standhaft Trotz bietet, ist ein Schauspiel, das selbst die Gottheit auf den Schauplatz ruft«: ecce spectaculum1 dignum ad quod respiciat intentus operi suo dens, ecce par deo dignum, vir fortis cum fortuna mala compositus (De prov. II 9. vgl. 7) und vorher: si aliquando impetum capiunt, spectant di magnos viros conluctantes cum aliqua calamitate. Nicht minder gilt unter Menschen unser aller anteilvolle Anerkennimg denen, die sich eines schweren Geschickes zu erwehren wissen: qui vero adversus saevissimos casus se extollit et ea mala, quibus alii opprimuntur, evertit, ipsas miserias infularum loco habet, quando ita adfecti sumus, ut nihil aeque magnam apud nos admirationem occupet quam homo fortiter miser (Helv. X I I I 6). Zwei Gestalten treten als Hauptakteure in beiden Schriften auf, der eine, durch Elend und Unglück niedergedrückt, aber vom Schicksal ungebeugt, und ihm gegenüber die wahre persona infelix, die sich durch Ausschweifung und Völlerei selbst zugrunde richtet: fleant itaque diutius et gemant, quorum delicatas mentes enervavit longa felicitas, et ad levissimarum iniuriarum motus conlabuntur (vgl. De prov. II 6): at quorum omnes anni per calamitates transierunt, gravissima quoque forti et inmobili constantia perferant. unum habet adsidua2 infelicitas bonum, quod quos Semper vexat novissime indurat (Helv. II 3). Hier also entnervte Verweichlichung, die bei jedem Stoß zusammenbricht, dort die durch tausend Kalamitäten gestählte, stets allen Möglichkeiten gegenüber gewappnete virtus. fugite delicias,fugite enervantemfelicitatem, qua animi permadescunt. . . ruft Seneca De prov. IV 9 aus. Und auf der anderen Seite: verberat nos et lacerat fortuna: patiamur . . . solidissima pars corporis est quam frequens usus agitavit. praebendi fortunae sumus, ut contra illam ab ipsa duremur (vgl. auch De const. sap. V 4) . . . contemptum periculorum adsiduitas periclitandi dabit (De prov. IV12). Der Gedanke entwickelt aus sich heraus einen sehr glücklichen Vergleich: quemadmodum tirones breviter saucii tarnen vociferantur... at v et er ani,quamvis confossi, patienter ac sine gemitu velut aliena corpora exsanari patiuntur (Helv. II 1). Der Vergleich 3 kehrt, nur wenig umgemodelt, De prov. IV 7 wieder: ad suspicionem volneris tiro pallescit, audacter veteranus cruorem suum spectat. Für alle siegreich bestandenen Mühsalen erwartet den vir fortis als Lohn, den Göttern nahe zu rücken und sich ihnen gleich zu fühlen 4 : non tantum negarem miserum me, sed omnium fortunatissimum et in vicinum deo perductum praedicarem (Helv. V 2) und ideoque nec exulare umquam potest, Uber et dis cognatus et omni mundo omnique aevo par (Helv. XI 7. vgl. De prov. I 5—6. De const. sap. VIII 2). Noch einmal fällt ein grelles Schlaglicht auf die im übersatten Behagen materieller Genüsse verkommende Gesellschaft 5 : felicior esset, si in ventrem suum longinqui litoris pisces et peregrina aucupia congereret ? si conchyliis superi atque inferi maris pigritiam 1
Das Gleichnis hat Minucius Felix im 'Octavius' cap. XXXVII 1 übernommen. S. a. Gell. 32 Siehe oben S. 691 f. zu De prov. 116. 3 Es findet sich in dieser Zuspitzung und inhaltlichen Formulierung bei Seneca nur an den beiden angeführten Stellen (die stoische Vorlage ist übrigens auch Cic. Tusc. II 38 kenntlich). Ganz entfernt verwandt ist einzig, soweit ich sehe, Epist. 107, 4. Gerade aber hier fallen die Unterschiede immittelbar ins Auge: id agendum est, ne quid nobis inopinatum sit. et quia omnia novitate graviora sunt, hoc cogitatio adsidua praestabit, ut nulli sis malo tiro. 4 Diesen Gedanken, der im übrigen an nicht wenigen Stellen der übrigen Dialogschriften und Briefe wiederkehrt, führe ich mit an, um zu zeigen, wie weitgehend sich gerade jene beiden Schriften zur Deckung bringen lassen. 6 Vgl. zu den beiden folgenden Stellen Fr. Husner, Leib und Seele in der Sprache Senecas. Philol. Suppl. XVII 3, 1924 S. 124. XII
5,
Sitzungsber. phil.-hist. KI. 1934.
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stomachi nausiantis erigeret... ? (De prov. I I I 6) und non est necesse omne perscrutari profundum nec strage animalium ventrem onerare nec conchylia ultimi maris ex ignoto litore eruere . . . quod dissolutus delictis stomachus vix admittat, ab ultimo portatur Oceano (Helv. X 2 ) . Es soll nicht verschwiegen werden, daß Ähnliches auch Epist. 89,22—23 zu lesen ist, und sicherlich gehörte dergleichen zum eisernen Bestand derjenigen Literatur, die sich gegen die luxuria ereiferte. Aber jenes Zusammengehen bekommt doch ein anderes Gesicht und größeres Gewicht, wenn wir sehen, daß es sich auch auf die angrenzenden Abschnitte im weitesten Umfange erstreckt. Wie man denn überhaupt den Eindruck gewinnt, daß in vielfacher Hinsicht der Dialog I nur einen Auszug der Consolatio ad Helviam (vor allem der c a p . V — X I I I ) darstellt.
Wir schließen ab, so verlockend es erscheinen könnte, diesen Ubereinstimmungen bis in ihre Einzelheiten nachzugehen, deren mechanische Nebeneinanderreihung aber einer Kritik, die sich an Einzeldinge hielte, die beste Angriffsfläche bieten würde. Worauf es hier allein ankommt, ist zu zeigen, daß zwischen den beiden genannten Dialogen eine g r ö ß e r e V e r w a n d t s c h a f t untereinander als zu anderen Schriften Senecas besteht1 und daß auf der anderen Seite die T e n d e n z der b e i d e n D i a l o g e v o n jener der s p ä t e r e n S c h r i f t e n v i e l f a c h sehr e r h e b l i c h a b w e i c h t . Denn in De Providentia nicht minder wie in der Consolatio ad Helviam, wie endlich in dem Dialog De constantia sapientis ist es der G e i s t der alten Stoa 2 , der das Ganze beseelt, während diese rigorose, einheitliche und konsequente ethische Auffassung in der späteren Zeit bei Seneca durch Aufnahme andersartiger Bestandteile in seine Philosophie eine erhebliche Abschwächung erfahren hat. Wir sind also vor die Entscheidung gestellt, entweder anzunehmen, indem wir die genannten Dialoge zeitlich nahe zusammenrücken, daß sich Seneca erst allmählich unter dem Eindruck persönlicher Lebensschicksale von jener starren Doktrin, die ihn, wie die genannten Dialoge zeigen, einmal völlig beherrschte, innerlich entfernt und losgelöst habe. In diesem Fall läge die Entwicklung Senecas auch in seinen Schriften klar zutage. Diese Annahme wird durch die von mir vorgeführten Argumente unterstützt. Oder aber, wir trennen die Schriften zeitlich voneinander, was zur Folge hat, daß das Bild Senecas alle Konturen verliert und völlig verwaschen wird. Wir würden ihn sich schwankend zwischen verschiedenen Lehrmeinungen hin und her bewegen sehen. Wägt man diese beiden Möglichkeiten gegeneinander ab, so wird man zugeben müssen, daß die erstere Deutung Senecas Persönlichkeit zweifellos gerechter wird. Wir kehren zu unserer Beweisführung zurück. Einen Blick wenigstens wollen wir auf die exempla werfen, mit denen normalerweise natürlich nicht viel anzufangen ist: inimicitiae potentium graves sunt: opponatur (Cato) simül Pompeio Caesari Crasso; grave est a deterioribus honore anteiri: Vatinio postferatur (De prov. I I I 14). Dieser Satz beansprucht deswegen unser besonderes Augenmerk, weil sein Inhalt den Ausgangspunkt für die Erörterungen des Dialoges II bildet: nuper cum incidisset 1 Mit alleiniger Ausnahme, wie schon mehrfach bemerkt wurde, des Dialoges D e constantia sapientis. Über das besondere Verhältnis von D e Providentia zum Dialog D e vita beata s. weiter unten. 2
Vgl. cap. I I 2 d. Abh. S. 706.
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mentio M. Catonis, indigne ferebas . . ., quod Catonem aetas sua parum intellexisset1, quod supraPompeios et Caesares surgentem infra Vatinios posuisset (De const. sap. I 3). Es ist festzustellen, daß diese sachliche Übereinstimmung trotz der häufigen sonstigen Erwähnungen Catos und des Vatinius ganz vereinzelt dasteht2. Gewiß ist ferner, daß jenes Problem Seneca gerade während seiner Verbannung eindringlich beschäftigen mußte (vgl. Helv. XIII 5). Hatte doch auch er sicherlich das Gefühl, daß er hinter geistig und moralisch minderwertigeren Nebenbuhlern vielleicht für immer habe zurücktreten müssen. In diesem Zusammenhange will ich nur noch erwähnen, daß auch abgesehen von jener Stelle mehr als eine Brücke vom I. zum II. Dialog hinüberfuhrt.
Es bleibt übrig, diejenigen Stellen der Schrift auf ihre Aussage zu prüfen, die geeignet erscheinen, die Lage, in der sich Seneca befand, unmittelbar zu beleuchten. Wir beginnen mit De prov. V I 2 3 : filios amittunt viri boni: quidni, cum aliquando et occidant? in exilium mittuntur: quidni, cum aliquando ipsi patriam non repetituri relinquant? Betrachten wir das letzte Stück für sich, so ist es das gleiche Argument, das in den Ausführungen der Consolatio ad Helviam einen so breiten Raum einnimmt (vgl. Helv. V I 2—VII, wo sich Seneca mit der loci commutatio auseinandersetzt: 'cavere patria intolerabile ests. besonders V I 6. V I I 4 nec omnibus eadem causa relinquendi quaerendique patriam fuit. V I I 7). Hinsichtlich des ersten Satzgliedes genügt es daran zu erinnern, daß Seneca, kurz bevor er in die Verbannung geschickt wurde, seinen Sohn verloren hatte. Der Philosoph sucht in cap. V I den Einwand des fingierten Dialogpartners 'Quare tarnen bonis viris patitur aliquid mali deus fieri?' durch den Nachweis zu entkräften, daß den vermeintlichen mala eine sehr viel geringere Bedeutung zukomme, als es zunächst den Anschein habe. Er erreicht seinen Zweck, indem er zeigt, daß das, was durch äußere Gewalt oder Schicksalsspruch über Menschen verhängt ist und was diese als ein schweres Ungemach empfinden, oftmals freiwillig von anderen selbst herbeigeführt wurde. In diesem Zusammenhang stoßen wir auf die obigen Sätze. Es wäre verständlich und entspräche der eigentümlich ichbezüglichen Art seines Schaffens, wenn Seneca in der Argumentation gerade dasjenige Unglück in den Vordergrund gestellt hätte, das ihn selbst betroffen hatte, um sich mit Vernunftgründen darüber hinwegzuhelfen. Auch der Inhalt dieser Stelle ließe sich also gut mit der von mir entwickelten These in Einklang bringen. In ganz der gleichen Richtimg läuft De prov. III 2 : 'pro ipsis est' inquis 'in exilium proici, in egestatem deduci3 liberos coniuges ecferre, ignominia affici, debilitari?'4. Der Einwurf steht an der Spitze der jetzt nach Abschluß der 1
intelligere hat hier die ungewöhnliche Bedeutung 'richtig einschätzen' (Bourgery übersetzt es mit 'apprécier', vgl. a . a . O . S.223). Es ist sehr bemerkenswert, daß das Wort in dieser Bedeutung auch De prov. IV 5 auftaucht. 2 In anderer Formulierung Helv. XIII 5. Nahekommt allenfalls auch Epist. 118, 4. 3 Vgl. R. Waltz a. a. O. S. 101, der die Stelle in ähnlicher Weise wie ich interpretiert und die gleichen Folgerungen gezogen hat. 1 Beiläufig erwähne ich, daß auch Senecas notorische mala valetudo unter den incommoda aufgeführt wird (De prov. IV 8). (2*)
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Praefatio eigentlich erst beginnenden Ausführungen, bildet den Ausgangspunkt der Erörterungen, die die Richtigkeit jener scheinbar paradoxen Behauptung erweisen sollen. Kommt meine Auffassung der Schrift der Wirklichkeit nahe, ist diese also in der Verbannung geschrieben, so mußte Seneca dem Freunde 1 , der ihn schmerzlich bedauerte und an der Weltgerechtigkeit zu zweifeln begann, zunächst seine Lage plastisch in ihrer ganzen Schwere ohne Beschönigung vor Augen führen, um sodann zum Gegenstoße auszuholen. Es ist das gleiche Prinzip, das ihn in den Consolationes ad Marciam und ad Helviam geleitet hat: Helv. II 1 — 2
Marc. I 5 (vgl. I I 1 )
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omnia proferam et rescindam quae iam obducta sunt. Nachdem Seneca ein solches Vorgehen in einer Consolatio zu rechtfertigen versucht hat, fährt er fort: omnis itaque luctus illi suos, omnia lugubria admovebo: hoc erit non molli via mederi, sed urere ac secare.
. .. antiqua mala in memoriam reduxi . . . alii itaque molliter agant et blandianturs ego confligere cum tuo maerore constitui.
ceteri sapientes molliter et blande, ut fere domestici et familiares medici aegris corporibus, non qua optimum et celerrimum est medentur, sed qua licet; stoici virilem ingressi viam.. .
In meinen bisherigen Ausführungen hatte ich verschiedentlich Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daß sich der Dialog D e Providentia in seinem Kernstück vielleicht als eine an die eigene Person gerichtete Trostschrift auffassen lasse. Legt man diese Annahme 2 auch an unserer Stelle zugrunde, so könnte man die Worte Senecas dahin interpretieren, daß er in ganz analoger Weise wie in jenen Consolationes alles, was ihn und den Freund in diesem Augenblick erschüttern mußte, noch einmal in Kürze zusammenrückt. Das würde bedeuten, daß sich aus dem Inhalt jenes Satzes Rückschlüsse auf Senecas Lebensschicksale ziehen lassen. Worauf es mir ankommt, erhellt sofort: war inzwischen auch die Gattin gestorben? Da sie in der Consolatio ad Helviam und De ira III 36, 3 3 noch erwähnt wird, würde uns die D e prov.Stelle also, wenn wir sie im obigen Sinne auslegen dürfen, einen Anhaltspunkt 1 Es steht übrigens nichts im Wege, Seneca den Dialog schon in jener frühen Zeit an Lucilius richten zu lassen, denn dieser war auch damals kein unbekannter Mann mehr, wie seine Freundschaft mit Valerius Asiaticus beweist. 2 Die, wie ich betone, natürlich einen hypothetischen Charakter besitzt. 3 Vgl. Münscher a. a. O . S. 19, A n m .
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für die relative Datierung der Schrift geben. Daß Senecas erste Gattin, die ihm höchstwahrscheinlich nach Korsika folgte, die Verbannung nicht überlebt hat, ist allgemein geteilte Auffassung. Geht es unter diesen Umständen zu weit, wenn wir die Stelle wörtlich nehmen und für unsere Zwecke verwerten ? Vielleicht gelangen wir jedoch von einer anderen Richtung her zu einem Ansatz, der es erlaubt, die Schrift weiter hinauszurücken und in die Zeit nach der Abfassung von D e ira III einen Vorstoß zu wagen. Unsere Untersuchungen hatten uns dahin geführt, die zeitlich frühe Festlegung von D e constantia sapientis, wie sie Münscher wollte, weiter zu sichern, sie für D e Providentia neu zu begründen. Da nach den Feststellungen Rabbows 1 D e ira III sich eng an De constantia sapientis anlehnt und diese Schrift geradezu voraussetzt, muß versucht werden, zumindest den Beweis zu erbringen, daß Dialog I nach Dialog II geschrieben ist. Mir scheint, daß hier Seneca selbst eine Handhabe geboten hat. Es läßt sich nämlich zeigen, wie ein Grundgedanke in dreifacher Brechung, von Fall zu Fall gesteigert und schließlich in sein Gegenteil verkehrt und umgebogen, sich uns darstellt. Er führt von D e ira II über D e constantia sapientis zur Schrift D e Providentia: De ira II 13, I — 2 nec est quod dicas (iram) excidi non posse: sanabilibus aegrotamus malis ipsaque nos in rectum genitos natura, si emendari velimus, iuvat: nec, ut quibusdam visum est, arduum in virtutes et asperum iter est: piano adeuntur. non vanae vobis auctor rei venio.facilis est ad vitam beatam via (s. u.) De const. sap. I 1 — 2 . . . Stoici virilem ingressi viam . . . curae habent, . . .ut nos . . . in illum editum verticem educant, qui adeo extra omnem teli iactum surrexit, ut supra fortunam emineat. 'at ardua, per quae vocamur, et confragosa sunt'. quid enim? piano aditur excelsum? sed ne tarn abrupta quidem sunt, quam quidam putant; prima tantum pars saxa rupesque habet et invii speciem . . . De prov. V 9 — 1 1 . . . Mi efficiatur vir cum cura dicendus, fortiore fato opus est. non erit Uli panum iter: sursum oportet ac deorsum eat, fluctuetur ac navigium in turbido regat. contra fortunam illi tenendus est cursus; multa accident dura, aspera, sed quae molliat et conplanet ipse . . . vide quam alte escendere debeat virtus2: scies illi non per secura vadendum. Es folgen Ovids Phaethonverse3 mit ihren s t e t e n S t e i g e r u n g e n bis z u m E n d e : per alta virtus it.
Nehmen wir endlich hinzu die resignierte Feststellving De vita beata X X 2: . . . quid mirum, si non escendunt in altum ardua adgressi? sed si vir es, suspicej etiam si decidunt, magna conantis. generosa res est respicientem non ad suas sed ad naturae suae vires conari alta temptare et mente maiora concipere, quam quae etiam ingenti animo adornatis effici possunt, die, wie ich glaube 4 , auf seine früheren hochgespannten Formulierungen zurückweist, so liegt ein Stück des Lebensweges Senecas anschaulich vor uns 5 : zunächst die Untera . a . O . S. 125ff. Vgl. Münscher a . a . O . S. 13fr. Vgl. De prov. I 6 bonos viros acceptosque dis laborare, sudare, per arduum escendere. 3 Siehe auch Pont. II 2 , 1 1 3 . Trist. IV 3, 74. Ars II 537. 4 Siehe weiter unten S.703f. 5 Der Ausweg, auf den man verfallen könnte, um jene Unstimmigkeiten ohne Beziehung auf Senecas Persönlichkeit zu erklären, nämlich anzunehmen, es handele sich um Schwankungen, die auf verschiedene sachliche Aspekte zurückgehen, vermag nicht zu befriedigen. Denn einmal deutet schon die stereotype Gleichförmigkeit des Ausdruckes bei gegensätzlichem Gedankeninhalte darauf hin, daß Seneca sich der Umkehr und des Gegensatzes bewußt war. Indem er an der sprach1
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Schätzung äußerer Schwierigkeiten, deren Gewicht er noch nicht am eigenen Leibe erfahren hatte, dann ihr folgend der heroische Anlauf, der ihn von Augenblick zu Augenblick seine Auffassung der virtus übersteigern ließ, bis dem leidenschaftlichen Hochgefühl eine weitere Vorwärtsentwicklung abgeschnitten war und nun der Zusammenbruch erfolgte1. Für unsere Zwecke aber von Bedeutung ist die Tatsache, daß in diese Entwicklung die Schrift De constantia sapientis, wenigstens soweit ich zu urteilen vermag, nur vor De Providentia einzuordnen ist, daß also letztere die Schlußphase, den nicht mehr überbietbaren Höhepunkt darstellt, wofür auch alle anderen Anzeichen in dieser Schrift zu sprechen scheinen. Ehe ich dies Kapitel zum Abschluß bringe, muß ich das Verhältnis der Dialoge De Providentia und D e vita beata zueinander, das ich mehrfach kurz berührte, noch etwas näher beleuchten. Ich hoffe, daß die nachfolgenden Abschnitte aus De vita beata2, die ich um ihrer außerordentlichen Bedeutung willen voll ausschreibe, dazu beitragen werden, noch vorhandene Bedenken gegenüber meiner These zu zerstreuen. Bevor sich Seneca seinen Gegnern in cap. XVII ff. zu offenem Kampfe stellte, hatte er seine Ausführungen, als ob nichts vorgefallen sei, in den alten Gleisen begonnen. Das aber, was wir hier lesen, deckt sich nun nicht etwa nur annähernd mit den Ausführungen in De Providentia, sondern ist streckenweise geradezu damit identisch3. Seneca konnte sich von seinen stolzen Worten nicht loslösen, um so grimmiger ist alsdann sein Zorn, mit dem er über seine Gegner herfiel, die ihn an die Wirklichkeit und sein eigenes unbestreitbares Versagen zu erinnern wagten: Square ergo tu fortius loqueris quam vivis?' (De vita beata X V I I i). Ich lasse die Sätze, auf die es vornehmlich ankommt, nachstehend folgen (cap. X V 4—7)*: quomodo hic (sc. qui virtutis et voluptatis societatem facit) potest deo parere et quicquid evenit bono animo exipere nec de fato queri (s. De prov. V 8. II 4) casuum suorum benignus interpres, si advoluptatum liehen Einkleidung festhielt und den Gedanken selbst in sein Gegenteil verkehrte, brachte er die Korrektur, die er vornahm, um so eindringlicher zur Wirkimg. Ferner ist es kaum vorstellbar, daß Seneca, der sich De ira II 13, 1 — 2 mit deutlicher Polemik gegen die gegenteilige Auffassimg (ut quibusdam visum est) wendet, ohne inneren Zwang und, ohne es selbst wahrzunehmen, in jene hinübergeglitten sei. 1 Später ist er zu einer der früheren angenäherten, aber ruhigeren und maßvolleren Auffassung zurückgekehrt (Epist. 84, 12—13): . . . huc potius te ad sapientiam derige tranquillissimasque res eius et simul amplissimas pete. quaecumque videntur eminere in rebus humanis . . . per diffidles . . . et arduos tramites adeuntur. confragosa in fastigium dignitatis via est: at si conscendere hunc verticem libet, cui se fortuna summisit, omnia quidem sub te, quae pro excelsissimis habentur, aspicies, sed tarnen venies ad summa per planum (vgl. auch Epist. 50, 9 initium ad virtutes eundi arduum). Diese stark abgeschwächte Formulierung zeigt neuerdings, wie fremdartig sich De Providentia neben den Epistolae morales ausnimmt. 2 Die Bekanntschaft mit dem Charakter dieser R e c h t f e r t i g u n g s s c h r i f t (vgl. cap. I d. Abh. S. 685) darf ich voraussetzen, für alles weitere verweise ich auf cap. IV 2. s Das Verhältnis des Dialoges De vita beata zu De Providentia ist ähnlich wie dasjenige zu De brevitate vitae, vgl. darüber und über die Gründe dieses Zusammengehens cap. IV 2. 1 Siehe auch II 4. III x, dazu De prov. VI 3—4.
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dolorumque punctiunculas concutitur? (De prov. II 6. Helv. II 3). sed ne patriae quidem bonus tutor aut vindex est nec amicorum propugnator, si ad voluptatem vergit. ilio ergo summun bonum escendat, utide nulla vi detrahitur, quo neque dolori neque spei nec timori est aditus . . . escendere autem sola virtus potest (De prov. I 6. V. 9ff.)- illius gradu clivus iste frangendus est; illa fortiter stabit et quicquid evenerit feret non patiens tantum, sed etiam volens (De prov. V 4—6), omnemque temporum difficultatem seiet legem esse naturae (De prov. V 5—7) et ut bonus miles feret vulnera (De prov. IV 7), enumerabit cicatrices et transverberatus telis moriens amabit eum, pro quo cadet, imperatorem; habebit illud in animo vetus praeeeptum: deum sequere (De prov. V 4ff.). quisquis autem queritur et plorat et gemit, imperata facere vi cogitur et invitus rapitur ad iussa nihilo minus: quae autem dementia est potius trahi quam sequi (De prov. V 4). tarn mehercules quam stultitia et ignorantia condicionis est suae dolere, qtiod deest aliquid tibi aut incidit durius, aeque mirari aut indigne ferre ea, quae tarn bonis accidunt quam malis (De prov. V 1—2), morbes dico, funera, debilitates et cetera ex transverso in vitam humanam ineurrentia. quicquid ex universi constitutione patiendum est (De prov. V 7), magno suseipiatur animo: ad hoc sacramentum adacti sumus, ferre mortalia nec perturbari iis, quae vitare non est nostrae potestatis. in regno nati sumus; deo parere libertas est (De prov. V 6). In ganz der gleichen Tonart, ebenfalls gleichlaufend zu den Gedankengängen in De Providentia, geht es fort in cap. X V I , bis X V I 3 nach dem Einwand 'quid ergo? virtus ad beate vivendum sufficit?, der die Wendung schon ankündigt, der entscheidende Umbruch erfolgt: sed ei, qui ad virtutem tendit,. .. opus est aliqua fortunae indülgentia und nun von Seneca die Verteidigungsstellung gegen die Angriffe seiner Gegner bezogen wird.
Ich fasse die bisherigen Betrachtungen zusammen. Es hat sich uns ergeben, daß ein Versuch, den Dialog De Providentia der Spätzeit zuzuweisen, zu schweren Widersprüchen führt und daher scheitern muß. Wir sahen ferner, daß der Dialog inmitten einer ganz bestimmten Schriftenreihe aus der ersten Zeit des Exils seinen fest umrissenen Platz einzunehmen scheint. Und endlich konnten wir beobachten, daß die Schrift De vita beata jenen Dialog geradezu voraussetzt und erst durch ihn dem Verständnis überhaupt erschlossen wird. 2. Quellenfragen.
Was wir bei der Behandlung des chronologischen Problems der Schrift unberücksichtigt lassen konnten, da es sich für die Beweisführung als bedeutungslos erwies, muß jetzt nachgeholt werden. Es überrascht ein wenig, daß die Verfechter der Ansicht, der Dialog sei ein Spätwerk, den Brief ganz außer acht gelassen haben, der auf die von ihnen so nachdrücklich zitierte Epistel 106 unmittelbar nachfolgt. Dieser Brief eröffnet nämlich den Zugang zu einem der wichtigsten Abschnitte des Dialoges und erschließt geradezu erst sein volles Verständnis. Handelte Epistel 106 über die Frage 'bonum an corpus sif (§ 3), so variiert Brief 107 von neuem das unerschöpfliche Thema des 'contemnere mortem et incommoda vitae' : Leben und Tod sind untrennbar eins mit dem andern verbunden, daher sine querella mortalitatis tributa pendamus (§ 6). Denn illud possumus, magnurn sumere animum et viro bono dignum, quo fortiter fortuita patiamur et naturae consentiamus (§ 7). Es folgen Gedanken, die uns nach De Providentia zurückversetzen, sich überdies auch im Ausdruck mit dem dort Vorgebrachten wesentlich decken: der durch das Leben geläuterte
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und gereifte vir bonus, der sich mit Gott und dem Fatum in Harmonie und Eintracht befindet und freudig seinem Schicksal zustimmt, wird verglichen mit einem Soldaten, der die Befehle seines Feldherrn ohne Murren und Vorbehalt pünktlich und gehorsam erfüllt. Nun ist aber das Neuartige in dem Briefe, wodurch er seine Bedeutung erhält, daß Seneca hier seine Quelle nennt (§ 10): ... sie adloquamur Iovem, cuius gubernaculo moles ista derigitur, quem Cleanthes noster versibus disertissimis adloquitur: duc 0 parens celsique dominator poli, quocumque placuit: nulla parendi mora est. adsum impiger. fac nolle, comitabor gemens malusque patiar, facere quod lieuit bono. dueunt volentem fata, nolentem trahunt. Diese Verse des Kleanthes, die Seneca übersetzt hat 1 , enthalten den Leitgedanken der großen Paraenese in cap. V des Dialoges De Providentia, auf die der Philosoph in seiner Gedankenführving entscheidendes Gewicht gelegt hat: boni viri laborant, impendunt, impenduntur et volentes quidem; non trahuntur a fortuna, sequuntur illam et aequant gradus. si scissent, antecessissent . . . nihil cogor, nihil patior invitus nec servio deo sed assentior, eo quidem magis, quod scio omnia certa et in aeternum dicta lege decurrere. f ata nos dueunt. . . (V 4—7) 2 . Nehmen wir hinzu die schon erwähnte Tatsache, daß auch die in den vorangehenden Abschnitten der Epistel 107 entwickelten Gedanken sich restlos diesem Bilde einfügen lassen, so haben wir für die Quellenanalyse des Dialoges an einer bedeutsamen Stelle einen wichtigen Ansatzpunkt gewonnen. Damit sind jedoch die sich bietenden Möglichkeiten noch keineswegs erschöpft, selbst wenn wir uns darauf beschränken, nur die allgemeinen Gesichtspunkte herauszuheben. Ich hatte im ersten Teil meiner Ausführungen erweislich zu machen versucht, daß der Dialog De Providentia als eine Art Consolatio aufzufassen sei. Hieran wird man festhalten, um einige weitere nicht unergiebige Nachrichten auszuwerten. Wenn wir bei Cicero lesen (Tusc. III 76): sunt qui unum officium consolantis putent, malurn illud omnino non esse, ut Cleanthi placet.. ., so besitzen wir damit ein unmißverständliches Zeugnis, daß Kleanthes diese Art des Argumentierens bevorzugt habe, die auf das non malurn esse ihr Hauptgewicht legte, ja es allein für ausschlaggebend hielt 3 . Über1
Die griechischen Originalverse sind bei Epictet Man. 53 erhalten: Äyou 8e vi' co ^cG Kai otj y' h Tre-rrpcoiaevH, oiroi tto-0-' u(j.Tv eip-i SiaTeTaypiei'o^ 005 ftyoiiai y ' äoKvos- fiv Si yiH -O-eXco, KCtKO£ Y£v6(iev05 oüSev httov
Daß auch der 5. Vers, den Seneca im Überschuß hat, im Geiste des Kleanthes gedacht ist, erscheint mir erwiesen durch den Vergleich mit dem Zeushymnus v. 7 aoi Sic -rras oSe Kocruog . . . -rrei-Q-ETai, m Kev ä y h Kai ¿koov urro aefo KpaTErrai. 2 Diese Überzeugung hat Seneca durch sein ganzes Leben begleitet, vgl. De vita beata X V 4—7. Thy. 365. Epist. 16, 5. 71, 16. 76, 9. 23. 90, 34. 96, 2. 3 Kleanthes hat diese Einstellung mit den übrigen älteren Stoikern gemein. Ich muß mich mit dem Nachweis begnügen, daß ganz allgemein die Ideen der a l t e n S t o a Seneca als Unterlagen bei der Abfassung des Dialoges gedient haben. Eine weitere spezifische Scheidung ist mit unseren Mitteln schwerlich zu ermöglichen.
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prüfen wir, wie es in dieser Richtung bei Seneca bestellt sei, so erfahren wir, daß er ganz den gleichen Weg beschritten hat. Bevor er in die eigentliche Beweisführung eintritt, teilt er, wie er es zu tun pflegte, in wenigen einfachen Sätzen mit, welche Absicht ihn im folgenden leite (De prov. III i): sed tarn praecedente oratione ostendam quam non sint quae videntur mala. Erst auf diese allgemein gehaltene Sentenz, die als umfassender Deckbegriff alles andere in sich enthält, folgen scharf umgrenzte Einzelheiten. Noch in einer weiteren wichtigen Beziehung tritt die Übereinstimmung mit der alten Stoa unmittelbar in die Erscheinimg. Cicero berichtet Tusc. III 77 in ablehnender und abfälliger Polemik: . . . Cleartthes quidem sapientem consolatur, qui consolatione non eget. nihil enim esse malum, quod turpe non sit, si lugenti persuaseris, non tu Uli luctum, sed stultitiam detraxeris. Ebendieser Gedanke aber bildet das krönende Schlußstück in Senecas Darlegungen (De prov. VI 1): 'quare tarnen bonis viris patitur aliquid mali deus fieri?' ille vero non patitur. omnia mala ab illis removit: scelera et flagitia et cogitationes improbas et avida consilia et libidinem caecam et alieno imminentem avaritiam . .. So fügt sich alles zu einem einheitlichen Bilde zusammen: Seneca schließt sich den Vertretern der a l t e n Stoa an, deren dem Alltäglichen abgewandte, auf einen religiösen Ton gestimmte, ins Heroische gesteigerte Betrachtungsweise, die als Richtschnur allen praktischen Verhaltens ein glänzendes Idealbild entwarf, ihm sympathisch sein mußte. Diese Auffassung findet eine weitere Stütze in dem, was sich bei einer Analyse des Einleitungskapitels ergibt: Seneca leitet aus der Betrachtung des gestirnten Himmels und des Weltalls zwei Argumente ab, die das Walten einer Vorsehung und das Eingreifen der göttlichen Allgewalt in die Geschehnisse des organischen Lebens auch dem ungläubigen Zweifler greifbar vor die Augen führen sollen. Das eine ist die ewig unveränderliche, nach festen Gesetzen sich vollziehende Bewegung des Firmamentes, das zweite führt — aus der negativen Einbettung herausgehoben — jene atmosphärischen und geologischen Erscheinungen an, welche die Menschen in Furcht und Schrecken zu versetzen pflegen. Diese beiden Punkte spielten auch in der gleichgerichteten Beweisführung des Kleanthes (vgl. Cic. deor. nat. II 13—15) und der übrigen älteren Stoiker neben der praesensio futurorum und der magnitudo commodorum, quae percipiuntur caeli temperatione, fecunditate terrarum aliarumque commoditatum complurium copia, die Seneca für seinen besonderen Fall nicht gebrauchen konnte, die entscheidende Rolle: tertiam {causam), quae terreret animos, f ulminibus, tempestatibus, nimbis, nivibus, grandinibus, vastitate, pestilentia . . . aut repentinis terrarum hiatibus . . . quartam causam esse eamque vel maximam aequabilitatem motus conversionem caeli, solis lunaeque siderumque omnium distinctionem, utilitatem, pulchritudinen, ordinem, quarum rerum aspectus1 ipse satis iudicaret non esse ea fortuita . . .
So wird sich zusammenfassend sagen lassen, daß aller erdenklichen Wahrscheinlichkeit nach Seneca in vollem Umfange Anlehnung an eine oder mehrere Schriften des Kleanthes2 oder eines anderen älteren Stoikers gesucht hat3. 3. Sprache und Stil.
Der Dialog De Providentia nimmt Vinter den Schriften Senecas in stilistischer Beziehung eine Sonderstellung ein, bezeichnet in gewisser Hinsicht einen Höhepunkt in seinem Schaffen. Alle jene Merkmale, die das Eigentümliche seines Stiles ausmachen, Auflösung der Periode, Zerstückelung der Sätze, 1 Dieser aspectus caeli gehörte zu jenen gern wiederholten Beschäftigungen, in denen Seneca während der Verbannung Trost und Beruhigung fand (vgl. Helv. V I I I 3—6. X X . Marc. X V I I I . Siehe ferner De otio V 3—8 und Epistel 110, 9). 2 Vgl. Plutarch, De comm. not. 31 p. 1066A Xpucmnros Kai KXeav-0-Hs ... kv to?s mpi -frecöv Kai Trpovoiag eipapvilvK^ re Kai ^uaeoo^ YP°MJlaorl • • • 3 Vgl. auch S. 708.
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antithetische Gliederung und Parallelismus der Satzteile, Streben nach Kürze und Kraft des Ausdruckes, treten uns in De Providentia in verstärkter Potenz entgegen1. Auch der Ton erscheint noch um ein Vielfaches lebhafter als in anderen Schriften. Das findet seinen Ausdruck in den sich förmlich jagenden Fragesätzen2, von denen Seneca nirgends anderswo einen auch nur annähernd gleich häufigen Gebrauch gemacht hat, den zahlreichen Apostrophierungen und Ubergängen in direkte Rede 3 , dem prunkvoll-pathetischen Aufbau der Gedanken4, der energischen Heraushebving und Formulierung der Sätze, die einen entscheidenden Gedankenfortschritt bringen 5 . Bedingt ist diese selbst für Seneca ungewöhnliche Lebhaftigkeit der Darstellung durch die Größe der sittlichen Idee, von der der Dialog getragen ist, die den Philosophen mit sich fortriß. Wir verstehen es, daß ein Thema, das so an seine innerste religiöse Uberzeugung rührte, ganz andere Saiten bei ihm zum Erklingen brachte als die Behandlung einer noch so wichtigen Spezialfrage. Läßt sich so der Grundcharakter der Schrift verhältnismäßig leicht umreißen, so bereitet es naturgemäß sehr viel größere Schwierigkeiten, ihr auf Grund stilistischer Indizien einen festen Platz im Gesamtwerk Senecas zuzuweisen. Die folgenden Ausführungen können nur als ein erster Versuch in dieser Richtung angesehen werden, ich bin mir bewußt, daß sich ein vollgültiger Beweis für meine Ansichten nicht erbringen läßt. Unterwerfen wir De Providentia und die übrigen Dialoge einer vergleichenden Zusammenschau, so erscheint so viel gesichert, daß die Schriften, die entstanden sind, als Seneca auf der Höhe seines Lebens stand, eine veränderte stilistische Grundhaltung besitzen6. De dementia 7 und De beneficiis8 nicht minder als De vita beata 1 Zu dem gleichen Ergebnis war bereits Bourgery gelangt, vgl. a. a. O. S.335: »La préférence de Sénéque pour la coordination et la iuxtaposition est trop connue pour qu'il soit nécessaire d'y insister. II n'est pas de proposition subordonnée qui ne soit chez lui susceptible de se transformer en principale. Bien qu'on en puisse trouver des exemples dans tous les ouvrages, le D e P r o v i d e n t i a e s t j semble-t-il, celui oü la phrase est le p l u s morcelée.« Hierin liegt auch der Grund, warum Norden seine Beispiele für den asianischen Stilcharakter der Schriften Senecas mit Vorliebe gerade aus De Providentia gewählt hat, vgl. Ant. Kunstprosa I S. 306fr. 2 Vgl. besonders III 5 — 7 . IV 5. V 5—6. Ferner II 2. III 8 — 1 0 . VI 2 — 3 u. a. 3 Am eindringlichsten IV 1—3. 5. 9. 11. 15. Zweimal kommt Jupiter zu Wort, nämlich II 10 und VI 3—9, ebenso Demetrius der Kyniker III 3 und V 5—6. III 3 spricht Fortuna, III 7 Rutilius, IV 4 ein murmillo, IV 8 milites, V 11 Phaethon. Von den Einwürfen des Interlocutors können wir dabei ganz absehen. 4 Besonders bemerkenswert sind die Catoepisode II 9 — 1 2 , die Exemplagruppe III 4 f f . mit ihren kunstvollen Responsionen, die glanzvolle Steigerung in cap. V mit dem Abschluß durch Ovids Phaethonverse, das Ende des Dialogs VI 7ff. mit seiner Verherrlichung des Selbstmordes. In dieser Hinsicht kommen De Providentia von den übrigen Dialogen, soweit ich sehe, nur die Consolatio ad Marciam und De ira I nahe. 6 Sie sind vielfach durch eine apodiktische Schärfe gekennzeichnet, z. B. II 4 marcet sine adversario virtus. II 6 nonfert ullum ictum inlaesa felicitas. IV 4 avida est periculi virtus. IV 6 calamitatis virtutis occasio est. V 4 labor optimos citat u. a. m. Mehrfach brechen sie mit unvermittelter Wucht aus dem stilistischen Zusammenhang hervor. 6 Auch hier kann ich wiederum auf Bourgery verweisen, dem ich manche wertvolle Erkenntnis verdanke, vgl. a. a. O. S. 149. 7 Vgl. Bourgery a . a . O . S. 148. 8 Vgl. Bourgery a . a . O . S. 118.
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und De tranquillitate animi zeichnen sich durch eine gewisse Nüchternheit und Trockenheit der dialektischen Methode gegenüber den vorangegangenen Schriften aus. In den genannten Dialogen finden wir auch Ansätze zu einer Periodenbildung1, in mancher Hinsicht eine Abkehr von dem zerhackten rhetorisch überladenen Pointenstil2. Die Briefe, die wiederum vielfach lebendiger gestaltet sind3, kann man nicht unmittelbar heranziehen, da sie einem anderen Genus angehören4, dem von vornherein eine größere Freiheit zugebilligt war. Verwandt liegen die Verhältnisse in einem anderen Spätwerk, nämlich den Naturales Quaestiones, wo Seneca versucht hat, die trockene Materie durch einen gehobenen Stil dem Leser mundgerechter zu machen5. Beschränken wir uns auf die eigentlichen Dialogwerke, so kommen in der stilistischen Gebarung die Schriften aus dem Anfang der 40er Jahre dem Dialog De Providentia am nächsten. Das gilt im besonderen Maße für die Consolatio ad Marciam. Mit dieser hat De Providentia gemein den gleichsam dichterisch beschwingten Ausdruck. Es ist kein Zufall, daß sich in diesen Schriften die Worte, die dem poetischen Sprachschatz entnommen sind, besonders häufen6. Eng damit in Beziehung steht eine weitere beiden Schriften gemeinsame Eigentümlichkeit. An den Stellen, wo die philosophischen Auseinandersetzungen einen besonderen Höhepunkt erreicht haben, wird die Prosa durch eingelegte Verse unterbrochen, die den Gedanken aufnehmen und fortführen 7 : De prov. V 10 durch Ovids Phaethonverse, Marc. X X I 5 durch Aen. X 472. Seneca hat sich damit eines Stilmittels bedient, das er sich unter dem Einfluß des Kleanthes angeeignet hatte, wie aus Epistel 1 0 8 , 1 0 hervorgeht8. Auch die rhetorischen Figuren der Descriptio und Enumeratio entfalten sich in den 1
In De Providentia kann man von einer Periodenbildung nur in Hinsicht auf das Einleitungskapitel sprechen, wie sich denn Seneca überhaupt in der Anlage der Praefationes größerer Zurückhaltung befleißigt hat (vgl. auch Bourgery a. a. O. S. 139). a Auf diese Schriften könnte man noch am ehesten die Stiltheorie zur Anwendung bringen, die Seneca in den Briefen entwickelt hat (vgl. Epist. 40. 59. 75. 100. 114). s Andere gehören zu dem Einfachsten und Schlichtesten, was er geschrieben hat. 4 Obwohl man auf die Ähnlichkeit verweisen könnte, die in mehrfacher Beziehung zwischen den 'Briefen' und den 'Dialogen' obwaltet, vgl. Gertz, Studia critica in L . Ann. Senecae dialogos, Kopenhagen 1874, S . 1 3 6 und R . Pichon, Journal des Savants, 1 9 1 2 S . 223. 6 Seneca stand mit diesem Bestreben auf dem Boden der antiken Tradition, die ja vielfach dort, wo der Inhalt dem von Haus aus entschieden widerstrebte, Stil und Ausdruck eine besondere Sorgfalt und Pflege angedeihen ließ. 6 Vgl. die Zusammenstellungen beiBourgery a. a. O. S . 2 2 3 — 2 4 3 , die sich natürlich noch vervollständigen lassen. Auch auf die Dissertation von H.Wirth, DeVergilii apud Senecam philosophum usu, Freiburg i. Br. 1900, sei verwiesen. 7 Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse auch De ira II 9, 2. Vereinzelte Verse finden sich zwar auch in späteren Schriften, z. B. in De vita beata, aber sie tragen hier einen mehr beiläufigen Charakter, dienen nicht wie dort dazu, gerade die wichtigsten und entscheidenden Gedanken unterstreichend herauszuheben. 8 'nam' ut dicebat Cleanthes, 'quemadmodum spiritus noster clariorem sonum reddit, cum illum tuba per longi canalis angustias tractum patentiore novissime exitu effud.it, sie sensus nostros clariores carminis arta necessitas efficit'. Vorher hatte Seneca hingewiesen auf die eindringliche Wirkung, die erzielt werde, cum salutaribus praeeeptis versus inseruntur.
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beiden Schriften besonders reich 1 , während Seneca in der Folgezeit sparsameren Gebrauch von ihnen gemacht, vielfach weitgehend auf sie verzichtet hat2. Ferner ist in De Providentia wie in der Consolatio die Darstellung rhythmisch stark bewegt, sind die Klauseln besonders sorgfältig beachtet worden, was schon vielfach betont worden ist3. Hervorzuheben ist endlich noch der Reichtum an Metaphern4 und die Kühnheit mancher sprachlicher Prägungen5. Dagegen scheinen die Neologismen stärker zurückzutreten6, die erst in den späteren Schriften eine ganz entscheidende Rolle zu spielen beginnen. Erwähnen will ich nur noch, daß in der Phraseologie der beiden Dialoge gleichermaßen einige sonst bei Seneca seltene Ausdrücke und Wortverbindungen auftauchen7. Aus dem Gesagten dürfte ersichtlich sein, daß De Providentia und die Consolatio ihrem Habitus nach eine große innere Verwandtschaft besitzen, daß sich beide gut in der gleichen Stilepoche Senecas, wenn man von einer solchen ohne größere Übertreibung reden darf, einordnen lassen. Tatsache scheint jedenfalls zu sein, daß auf die Schriften der Frühzeit, denen eine große innere Schwungkraft innewohnt, in den 50er Jahren eine Gruppe von Dialogen folgt, die wesentlich nüchterner gehalten sind, in denen deutlich ein Nachlassen jener Kraft zu spüren ist. So ergibt sich, daß auch stilistische Gesichtspunkte den chronologischen Ansatz als ratsam erscheinen lassen, den ich auf Grund inhaltlicher Argumente für De Providentia zu begründen versucht hatte. 1
In De Providentia kommen besonders die Abschnitte V I 7 ff. in Betracht. Vgl. Bourgery a. a. O. S . 108: »Sénèque avait une prédilection particulière pour ce genre de développement (se. la description): il en use jusqu'à satiété dans le De ira, il le prodigue encore dans la consolatio ad Marciam; il en sera plus sobre dans la suite. Seule l'énumération, où il montre les différentes manifestations de la sottise humaine (cf. De brev. vit. II 1—2), conservera jusqu'au bout ses faveurs.« 3 Vgl. Bourgery a. a. O S. 146. Für De Providentia seien noch einige besonders prägnante Beispiele rhythmisch bedingten Hyperbatons angeführt : 1 3 nova insularum in vasto exsilientium mari spatia. II 8 quae possint deorum in se vulturn convertere. I I I 1 quorum maior diis cura quam singulorum est. I I I 7 passim vagantis per urbem percussorum greges. I V 8 qui nocturnis hostes aggrediantur insidiis u. a. Fast aufdringlich durch seinen Rhythmus wirkt der Satz I I I 5 et ipse a se exigit erroris sui poenas. 1 Vgl. Bourgery a. a. O. S. 243fr. 5 Vgl. De prov. I I I 2 Socrates de morte disputavit usque ad ipsam (s.a. Fr.Steiner, Der moderne Stil des Philosophen Seneca, Progr. Rosenheim 1 9 1 3 , S. 19). I V 10 in vanas mentes imagines evocat (s. Bourgery a.a.O. S . 4 2 1 ) . I V 1 1 perseverent vulnera praebere vülneribus. I V 13 ad contemnendam patientiam malorum animus patientia pervenit. V I 5 non egere felicitate félicitas vestra est. V I 6 contemnite dolorem: aut solvetur aut solvet. V 4 der seltene Fall eines Asyndeton zwischen der aktiven und passiven Form ein und desselben Verbums: boni viri laborant, impendunt, impenduntur (vgl. De ira I 16, 3). Asyndeton zwischen zwei Worten oder Wortgruppen I I 4 boni consulant, in bonum vertant (vgl. De const. sap. X I I 3. Marc. II 5. I I I 3. X V I I I 8; s. auch K . Busche, Rh. Mus. 70, 1 9 1 5 S. 5ö9f.). Alliterationen treten vielfach sehr wirkungsvoll hervor, z. B. I V 14 maligne solum sterile sustentât und I I I 7 videant largum in foro Sanguinem et Supra Servilianum lacum (id enim proScriptionis Sullanae spoliarium est) Senatorum capita. 6 Vgl. Bourgery a. a. O. S. 249—286. ' Z . B. De prov. 1 2 ex disposito relucentium, vgl. Marc. X X V I 6 ex disposito lucet. De prov. II 6 callum duxit, vgl. Marc. V I I I 2. De prov. I I I 2 ossa legi, vgl. Marc. X X I I 3. De prov. I I I 3 recens a, vgl. Marc. 1 8 . De prov. I I I s a se exigit poenas, vgl. Marc. I I I 4. III 9 ineumbere c. dat., vgl. Marc. II 3 u. a. 2
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III. Aufbau und Tendenz der Consolationes1. i. Die Consolatio ad Marciam 2 .
D a t i e r u n g s ver such. Die Frage, wann die Consolatio ad Marciam entstanden sei, ist von den Forschern, die sich in neuerer Zeit mit diesem Problem befaßt haben, mit einer seltenen Einhelligkeit im gleichen Sinne beantwortet worden. Gercke 3 war es, der das entscheidende Argument in die Diskussion geworfen hatte: »Die Consolatio ad Marciam ist wohl die älteste der erhaltenen Schriften; sie ist nicht während des Exils verfaßt, wie Heidbreede (Bielefeld 1839) annahm, sondern in Rom wegen X V I 2 : ... in qua istud urbe, di boni, loquimur? in qua regem Romanis capitibus Lucretia et Brutus deiecerunt. . . . Das Ende des Jahres 40 würde also der früheste Termin sein, der späteste vor dem Exil ist Herbst 41. Da nichts auf die Regierung des Claudius h i n w e i s t , . . . mag der frühere Termin wahrscheinlich sein. Die Zeit nach dem Exil ist ausgeschlossen, wie es scheint . . . von dem kleinmütigen Bittsteller hätte Marcia die Ermahnungen zur Standhaftigkeit nicht mehr entgegennehmen können.« Dieser Stellungnahme Gerckes, die ich in ihren wesentlichsten Punkten wiedergegeben habe, haben sich Münscher 4 und Favez 5 angeschlossen. Daß die Schrift schwerlich nach der Consolatio ad Polybium verfaßt sein kann, wird zuzugeben sein. Es bleibt also nur die Frage zu erörtern, ob sie der Zeit unmittelbar vor der Verbannung angehört oder ob sie nicht allzu lange nach Eintritt jenesEreignisses, demzufolge e r s t a u f K o r s i k a entstanden ist. Prüfen wir daraufhin die Argumente Gerckes oder vielmehr das Argument, denn es ist in Wirklichkeit nur ein einziges, auf seine Stichhaltigkeit. Es scheint, daß es einer ernsthaften Kritik doch nicht standhält, so überzeugend es sich auf den ersten Blick gibt. Wir müssen fragen, ist die Auslegung der Worte in cap. X V I 2, auf die sich Gercke, Münscher und Favez so nachdrücklich berufen, erlaubt und zutreffend ? U m hierüber Auskunft erteilen zu können, ist es zuvor notwendig, den Charakter des 'Dialoges' klarzustellen, also zu prüfen, welcher Literaturform 1 A n einschlägiger Literatur vgl. A . Gercke, D e consolationibus, Berlin 1883. C . Buresch, Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum historia critica, Leipz. Stud. I X I, 1886. Die griechischen Trostbeschlüsse Rh. M u s . 49, 1894. P. Hartlich, D e exhortationum a Graecis Romanisque scriptarum historia et indole, Leipz. Stud. X , 1887. C . Martha, Les consolations dans l'antiquité (Études morales sur l'antiquité 3 e éd. S. 135—189), Paris 1896. J. Dartigue-Peyrou. Quae sit apud Senecam consolationum disciplina, vis ratioque, Paris 1897. 2 V g l . Fr. Schinnerer, Über Senecas Schrift an Marcia, Progr. Hof 1889. W . Kaiser, Beiträge zur Erläuterung von Senecas Trostschrift an Marcia, Progr. Berlin 1914. C h . Favez, L . Ann. Senecae Dial. V I ad Marciam de consolatione, Paris 1928. 3 a . a . O . S.284. 4 a.a.O. S.6f. 6 M i t geringfügigen Modifikationen, vgl. a. a. O . S. X I I .
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die Schrift entspricht. Nun kann es zwar keinem Zweifel unterliegen, daß die Consolationes ad Hei vi am und ad Polybium als reine Sendschreiben gedacht und ausgestaltet sind. In beiden Fällen sind die ursprünglichen Formen des 'Dialoges' so weit verkümmert, daß von einem solchen nicht gut mehr die Rede sein kann. Anders aber liegen die Verhältnisse in der Consolatio ad Marciam. Eine ganze Anzahl von Indizien spricht deutlich dafür, daß Seneca der Gedanke einer unmittelbaren Konfrontierung mit Marcia bei der Niederschrift der Consolatio vorschwebte. Das Ganze ist als eine Art Plaidoyer angelegt, das gleichsam aus Anlaß einer Gerichtsverhandlung gehalten wird, bei der Fortuna die Rolle der Angeklagten, Marcia die des Klägers und gleichzeitig diejenige des Richters übernommen haben1. Die Fiktion, daß sie beide, Marcia wie er, in einer solchen Gerichtssitzung gegenwärtig seien, ist von Seneca nachdrücklich aufrechterhalten worden. Das zeigt die Lebhaftigkeit der Einwände, die ganz und gar auf den besonderen Fall der Marcia zugeschnitten2 und aus ihrer Situation heraus gesprochen sind. Seneca sieht die Trauernde mit so plastischer Anschaulichkeit vor sich, daß er ihren Einwürfen mehrfach ( X V I 1 und X I X 3) mit den Worten zuvorkommt: scio quid dicas. Er liest ihr also gleichsam von den Lippen ab, was sie aussprechen will. Der Dialogcharakter findet auch darin seinen Ausdruck, daß Seneca sich immer wieder3 unter Nennung ihres Namens eindringlich an sie wendet. Das tritt um so auffälliger in die Erscheinung, da sich in den beiden anderen Consolationes in keinem einzigen Fall der gleiche Vorgang belegen läßt4. Auch der Satz I 5 haec magnitudo animi tui vetuit me ad sexum tuum respicere, vetuit ad voltum, quem tot amtorum continua tristitia ut semel obduxit, tenet ließe sich anführen, um die Ansicht glaubhaft zu machen, daß wir es mit einem wirklichen Dialog zu tun haben. Gerade daß er den Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Leidensmiene so betont als erschwerenden Faktor in Rechnung stellt, scheint doch zu beweisen, daß Seneca an eine gleichsam persönliche Gegenüberstellung dachte. Das dramatisch bewegte Gespräch, das er mit Marcia führt, soll ein Analogon bilden zu dem Auftreten des Philosophen Areus, das Seneca m cap. IV und V schildert. Legt man diese Auffassung der Schrift zugrunde, so lassen sich gerade auch jene Worte in cap. XVI 2 1
Vgl. I i . . . nec spem concepissem tarn iniquo tempore, tarn inimico iudice, tarn invidioso crimine, posse me efficere ut fortuttam tuam absolveres. Das wird wieder aufgenommen X V I 5 : tarn cum fortuna in gratiam, Marcia, reverteris, « . . . 2 Im Gegensatz zu den beiden anderen Trostschriften, wo die Gegenargumente einen viel allgemeineren Charakter besitzen und viel weniger lebendig vorgetragen werden, vgl. z. Bep. Helv. X I I I 1 responderi potest: 'quid artificiose ista diducis .. . ?' Die Zahl der in direkter Rede vorgebrachten Einwände ist überhaupt in der Consolatio ad Helviam auf das notwendigste Minimum beschränkt, in der Consolatio ad Polybium fehlen sie fast ganz. 3 Vgl. I i . V I 1 (zweimal). V I I I 2 . X 1. X V I 5. 8. X I X 3. X X 2. X X I I 1. 8. X X I I I 3. X X I V 2. X X V 2. 3. X X V I 1 . 7 . 4 Anderer Art ist natürlich die Namensnennung Cons. ad. Polyb. I I I 5 luget Polybius. Auch diese Stelle veranschaulicht im übrigen, daß wir es bei d i e s e r Consolatio mit einem 'Sendschreiben' zu tun haben.
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mit ihrem loquimur gut einordnen. Weit davon entfernt, den Aufenthaltsort Senecas kenntlich zu machen1, an dem er sich während der Niederschrift der Consolatio befand, lassen diese Sätze vielmehr nur den Dialogcharakter besonders deutlich hervortreten. Daß aber das fiktive Dialoggespräch in Rom stattfindet, wo die große Dame ihren Wohnsitz hatte, dürfte einigermaßen selbstverständlich sein. Somit ergibt sich, wenigstens soweit ich zu urteilen vermag, daß dem Argument Gerckes nicht die Beweiskraft zukommt, die man ihm beigelegt hat. Nachdem so, wie ich denke, entfernt ist, was zur Stützung des bisherigen frühen Ansatzes diente, können wir versuchen, zu einer neuen Lösimg zu gelangen. Gewiß ist richtig, wenn Gercke sagt, »daß Marcia von dem kleinmütigen Bittsteller nicht mehr Ermahnungen zur Standhaftigkeit hätte hinnehmen können«. Aber wäre es nicht möglich, die Consolatio als ein Erzeugnis der inneren Hochspannung, des heroischen Sichaufbäumens der ersten Monate oder Jahre des Exils zu betrachten ? Waren die Schriften, die wir bisher untersuchten, auf einen anderen Ton gestimmt? Konnte Seneca überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt mit größerer Autorität sprechen als zu jenem, wo es noch schien, daß er selbst sich seinem eigenen Unglück gewachsen fühlte? Und sollte nicht diese Schrift wie jene andere Consolatio an die Mutter dazu dienen, vor aller Welt von seiner Standhaftigkeit Zeugnis abzulegen2? Man wird versuchen, aus dem Dialog mehr zu erfahren. Es ist verschiedentlich beachtet worden, daß das Wort exilium an nicht weniger als vier verschiedenen Stellen fällt. Von diesen Stellen sind die wichtigsten IX 4, X X 2 und X X I I 3». Erinnert man sich des Abschnittes in De ira I 16, 2 f., wo die Verbannung als ein Mittel des Strafvollzuges erwähnt wird, das man Verbrechern gegenüber zur Anwendung bringen solle, so erscheint klar, daß in jenem Augenblick das Wort exilium für Seneca noch keinen drohenden Klang besaß 4 . Vergleicht man demgegenüber Marc. I X 4—5: . . . quis umquam res suas quasi perituras aspexit? quis umquam nostrum de exilio, de egestate, 1 Wenn sich also der wirkliche Wohnsitz Senecas, den er in diesem Augenblick innehatte, und der Dialogschauplatz nicht zur Deckung bringen lassen, so schließt das keineswegs aus, daß Seneca gelegentlich einmal durchblicken ließ, wie es in Wirklichkeit um ihn bestellt sei. Umgekehrt liegen die Verhältnisse in zwei anderen Schriften, die ebenfalls auf Korsika geschrieben, aber ihres Dialogcharakters entkleidet sind, nämlich in der Consolatio ad Helviam und in De brevitate vitae. Hier hat sich Seneca mehrfach in lebhaftester Schilderung nach Rom versetzt, ohne daß daraus Schlüsse auf seine Anwesenheit in Rom gezogen werden könnten, vgl. De brev. vit. V I I I 1 und X I I I 5 (dazu Münscher a.a.O. S.41) und Helv. V I 2 aspice agedum hatte frequentiam, cui vix urbis immensae tecta sufficiunt (zu diesem Gebrauch des Demonstrativpronomens vgl. auch Ed. Norden, Germ. Urgeschichte, Lpz. 1920, S. 181 Anm.). 2 Es ist beachtenswert, daß der Zeitpunkt, in dem Seneca die Consolatio abgefaßt hat, offensichtlich willkürlich gewählt ist: seit dem Tode des Sohnes der Marcia waren 3 Jahre verflossen. Er hätte an sich ebensogut zu einer früheren oder späteren Zeit schreiben können, wenn ihn nicht bestimmte, ihn selbst angehende Gründe veranlaßten, gerade diesen Augenblick zu wählen. 3 Ähnliche Erwägungen wie die von mir im folgenden vorgebrachten hat auch schon Favez in Rechnung gestellt, wenigstens als eine Möglichkeit, vgl. a. a. O. S. XII : »Ne serait-on pas tenté de voir dans la mention quatre fois repétée de l'exil, et cela dans un ouvrage qui ne traite pas ce sujet, une preuve de l'impression profonde fait sur Sénèque par son séjour en Corse, et considérer en particulier IX 4 et X X 2 comme des allusions à son propre exil?« 4 Vgl. Gercke a. a. O. S. 285, der die Stelle zur Datierung von De ira I herangezogen hat.
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de luctu1 cogitare ausus est? . . . 'non putavi futurum'. quicquam tu putas non futurum, quod scis posse fieri, quod multis vides evenisse? . . . ille amisit liberos: et tu amittere potes2; ille damnatus est: et tua innocentia sub ictu est , so will es scheinen, als ob wir hier in der ihm eigenen verkappten Form ein schmerzliches Selbstbekenntnis Senecas vor uns hätten. Das Motiv des 'necopinatum'3 verschwindet nicht aus den Schriften, die diesem Jahrzehnt seines Schaffens angehören, ja es hat seiner ganzen Philosophie hinfort den Stempel aufgedrückt, ein Beweis, wie nachdrücklich er sich mit ihm auseinandergesetzt hat oder, anders ausgedrückt, wie unerwartet ihn das Verhängnis getroffen hatte. Wollte er ferner mit den Worten ille damnatus est: et tua innocentia sub ictu est auf seine eigene Unschuld pochen? Eine willkommene Ergänzung dieser Stelle bietet cap. X X 1 — 3 : o ignaros malorum suorum, quibus non mors ut Optimum inventum naturae laudatur . . . haecexulibus in patriam Semper animum oculosque tendentibus ostendit nihil interesse, infra quos quis iaceat4. . . haec est . . . quae efficit, ut non concidam adversus minas casuum, ut servare animum salvom ac potentem sui possim: habeo quod appellem . . . licet uno gradu ad libertatem transire. Es ist leicht, in diese Worte 5 das Gefühl der Sehnsucht nach der Heimat hineinzulegen, das Seneca, wie auch sein Schreiben an die Mutter durchblicken läßt, so stark empfand, ohne im mindesten gewaltsam mit dem Sinn der Stelle umzugehen. Zudem, das Bild des Todes als Erlöser stand, wie ich glaube wahrscheinlich machen zu können, Seneca unablässig vor der Seele: es war der letzte Ausweg, der ihm sicher blieb 6 . Hier müssen wir nach verschiedenen Seiten hin die Fäden verknüpfen. Es ist bekannt, daß Seneca auch De ira III 15, 3—4 — also ebenfalls in einer Schrift, wo man es kaum erwartet, denn ein so langer Exkurs über den Selbstmord muß in einem Traktat über den Zorn zweifellos als ein Fremdkörper erscheinen — den Zusammenhang unterbricht, um den T o d als Befreier von allen Anfechtungen und Wirrsalen des Lebens zu verkünden und zu preisen 7 . Aber eben der gleiche Gedanke findet sich auch in De Providentia V I 7 — 9 wieder 8 und dort nimmt er ebenfalls einen hervorragenden, hier aber durch die Art der Beweisführung fester begründeten Platz ein. Unter diesen Umständen erscheint es mir bemerkenswert, daß bereits Münscher durch eigene Beobachtungen dahin geführt wurde, jenen Abschnitt in De ira III unmittelbar auf Seneca selbst zu beziehen 9 . 1 Es sind dieselben Momente, die, wie wir sahen, in der Beweisführung von D e Providentia (cap. IV 6), der Consolatio ad Helviam und der Dialoge De constantia sapientis und De ira III eine Rolle spielten. 2 Es ist zu beachten, daß auch Seneca seinen Sohn verloren hatte. 3 Es war in der Consolatio durch den frühen T o d des Metilius natürlich von vornherein gegeben. Aber Seneca benutzt es, so ließe sich argumentieren, um auf den eigenen Fall zu exemplifizieren. 4 Vgl. Helv. cap. V I I I , dessen äußerste Konsequenz der hier ausgesprochene Gedanke bedeutet. 5 Die im Rahmen einer Consolatio zunächst als unpassend erscheinen. Es ist bezeichnend, daß ein ähnlicher Gedanke in der Consolatio ad Helviam und in der Consolatio ad Polybium fehlt (Polyb. I X 9, wo di s félicitas in ipsa necessitate moriendi behandelt wird, ist von einer Verherrlichung des Selbstmordes mit keinem Wort die Rede). 6 Die Tatsache, daß Seneca in der ersten Person spricht, bekommt eine gewisse Bedeutung, da wir es, wie ich oben nachzuweisen versucht habe, mit einem wirklichen Dialog zu tun haben. 7 ostendemus in omni Servitute apertam libertati viam. Es folgt eine Aufzählung der verschiedenen Selbstmordmöglichkeiten. Der Schluß lautet: quaeris, quod sit ad libertatem iter: quaelibet in corpore tuo vena. 8 ... patet exitus videbitis, quam brevis ad libertatem et quam expedita ducat via Die Ausführungen werden abgeschlossen durch die Worte: in proximo mors est. non certum ad hos ictus destinavi locum: quacumque vis pervium est. — Stilistisch nahe verwandt ist übrigens der Abschnitt Sen. contr. V I I 1 (16), 9, der mit den Worten beginnt: multas rerum natura mortis via aperuit. Über das Verhältnis von Seneca dem Rhetor zum Philosophen Seneca vgl. besonders C. Preisendanz, Philol.67,1908, S. 68—112 und E.Rolland, De l'influence de Sénèque le père et des rhéteurs sur Sénèque le philosophe, Gand 1900. 9 a.a.O. S.20 (im Anschluß an die von mir S.697 A n m . 2 zitierten Sätze): »Der T o d schreckt ihn nicht: ist er doch der wahre Weg zur Freiheit (vgl. X V 4). Drum sagt Seneca ( X V I 2) : unum
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Und ich glaube, daß wir berechtigt zudehnen. In der Tat können wir übrigen Dialogen Sätze nachweisen, Ausführlichkeit behandeln. Immer einen solchen Ausweg, nämlich den
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sind, diesen Schluß auch auf die beiden anderen Dialoge auskaum irgendwo in den Briefen 1 Senecas, geschweige in den die dasselbe Thema mit dem gleichen Pathos und der gleichen stärker aber betont2 Seneca die ethische Verantwortung, die Tod von eigener Hand, nur für den äußersten Notfall zuläßt.
Noch eine weitere sehr wesentliche Ubereinstimmung zwischen der Consolatio ad Marciam und De Providentia läßt sich herausschälen: De prov. IV 4—5
Marc.V 5
avida est periodi virtus et quo tendati non quid passura sit cogitât. . . . . . ipsis . . . deus consulit . . . quotiens Ulis materiam praebet aliquid animose fortiterque faciendi, ad quam rem opus est aliqua rerum difficultate:gubernatore in tempestate3, audivi in acie militem intelligas . . . te cum alios consolareris: tunc conspexissem, si te ipse consolatus esses, si te ipse dolere vetuisses.
simul cogita non esse magnum rebus prosperis fortem gerere, ubi secundo cursu vita procediti ne gubernatoris quidem artem tranquillum mare et obsequens ventus ostendit: adver si aliquid incurrat oportet, quod animum probet, proinde ne summiseris te, immo contra fige stabilem gradum... (vgl. auch De prov. III 3)
Eine wie entscheidende Bedeutung die De prov.-Sätze für die Erkenntnis der dem Dialog innewohnenden Tendenz besitzen, hatte ich mehrfach in cap. II 1 zu betonen Gelegenheit. Hier aber zeigt es sich mit aller Deutlichkeit, daß die gleiche Tendenz auch in der Consolatio ad Marciam hervortritt4. Darüber hinaus sehen wir, daß sich Seneca in beiden Fällen des Vergleiches mit dem gubernator bedient hat, ein Vergleich, den wir sonst in seinen Schriften nicht antreffen. Auch hier also stoßen wir wiederum auf einen Beleg für die enge Verwandtschaft der beiden Dialoge, wie wir deren schon eine größere Anzahl hatten ausfindig machen können. Vielleicht erlaubt uns sogar der letzte Satz in De prov. IV 5, den ich durch den Druck herausgehoben habe: audivi te cum alios consolareris, noch einen Schritt weiterzugehen und zu schließen, daß beide Werke nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich zuest levamentum malorum ingentium, pati et necessitatibus suis obsequi. Drum schließt er, gewiß nicht absichtslos, sein Buch mit dem stolzen Trostworte (XLIII 5): detrimenta, iniurias, convicia, vellicationes contemnamus et magno animo brevia feramus incommoda: dum respicimus, quod aiunt, versamusque nos, iam mortalitas aderit.« 1 Vgl. Epist. 51,9. 9 1 , 2 1 . 104,33. H 7 j 23—24. Zu Seneca als 'Philosophen des Selbstmordes' vgl. L . Friedländer, Der Philosoph Seneca, 1900, S. 245. 2 Vgl. Epist. 24, 22—25. 3 0 , 1 2 . 1 5 . 58,32.36. 1x7,22—24 u. a. 3 Der Vergleich nur an diesen beiden Stellen; anders De benef. V I 25, 4; bemerkenswert die dialektische Auseinandersetzung Epist. 85, 30—36 an noceat gubernatori procella atque tempestas. 4 Der in der Consolatio ad Marciam V 5 entwickelte Gedanke kehrt in den beiden anderen Consolationes nicht wieder. Sitzungsber. phil.-hist. K l . 1934.
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sammengehören. Das te auf Seneca zu beziehen, würde darin seine Rechtfertigung finden, daß sich De Providentia, wie ich glaubhaft zu machen versucht habe, als eine Trostschrift auffassen läßt, die von Seneca an die eigene Adresse gerichtet ist. Indessen ist es unmöglich, in diesem Punkt zu einer Gewißheit zu gelangen. Ich muß mich vielmehr zusammenfassend mit der Feststellung begnügen, daß entgegen der bisher herrschenden Ansicht eine größere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Dialog sei erst nach dem Eintritt Senecas in die Verbannung entstanden. D i e A n l a g e der S c h r i f t . Wenn man die Consolationes einer vergleichenden Analyse unterzieht, so wird man sehr bald erkennen, daß Seneca in allen Fällen genau die gleichen Trostargumente verwendet hat. Nicht also Originalität der Gedanken oder Kühnheit der Gesichtspunkte verleihen den Trostschriften ihren inneren Wert, sondern einzig das künstlerische Vermögen Senecas und seine psychologische Einsicht, die ihn die einzelnen Argumente entsprechend der jeweiligen Situation des Empfängers in wechselndem Zusammenhange vorbringen ließ 1 . Die folgenden Darlegungen sollen dazu dienen, einmal das gemeinsame sachliche und gedankliche Substrat konsequenter, als das bisher geschehen ist, aufzudecken und andererseits den verschiedenen Gebrauch herauszustellen, den Seneca davon in den einzelnen Schriften gemacht hat. Als Ausgangspunkt habe ich die Consolatio ad Marciam gewählt, da diese das normale Consolatio-Schema, wie es scheint, am reinsten, jedenfalls am vollständigsten bewahrt hat. Als Seneca an die Niederschrift der Consolatio ad Marciam herantrat, hatte er die folgende Situation zu berücksichtigen. Marcia war durch den Tod ihres Sohnes im Innersten getroffen und schien außerstande, obwohl seitdem Jahre vergangen waren, ihrer Trauer Herr zu werden. Durch diese Tatsache war für Seneca die Art seines Vorgehens bestimmt. Wenn er mit seinen Bemühungen Erfolg haben wollte, so mußte er Marcia zunächst voller Nachdruck auf ihr früheres tapferes Verhalten verweisen. Daraus erwuchs ihm der Gedanke, durch den der Dialog eröffnet wird: nisi te, Marcia, scirem tarn longe ab infirmitate muliebris animi quam a ceteris vitiis recessisse et mores tuos velut aliquod antiquum exemplar2 adspici, non anderem obviam ire dolori... Es folgt die Schilde1 Vgl. J. Martha, Rev. des cours et conf. X V I I e année, i r e sér. p. 160: »ce qui fait le prix d'une Consolation, ce ne sont pas les choses, puisque ce sont des banalités cent fois répétées; la valeur de ce genre d'écrits consiste tout entière dans la forme, dans la personnalité du consolateur, dans la façon de renouveler la matière et de l'approprier à la personne consolée«. 2 Der Gedanke des beispielhaften Lebens und Wirkens ist einer der wesentlichsten Bestandteile der Philosophie Senecas (vgl. 2. B. De prov. VI 3). Auch in der Consolatio ad Polybium kehrt er wieder, und zwar dort, wo Seneca den Polybius auf die von ihm verfaßten Schriften verweist, in denen er plurima varietatis humanae incertorumque casuum behandelt habe: ne commiseris, ut quisquis exemplaris modo scripta tua mirabatur quaerat quomodo tarn grandia tamque solida tarn fra-
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rung der Charakterstärke, die sie bei dem tragischen Tode ihres Vaters an den Tag gelegt habe. Ganz anderer Art waren die Voraussetzungen, die der Consolatio ad Helviam zugrunde lagen. Die ganze Sorge der Mutter galt ihrem Sohne, von dem sie nicht wußte, wie er sein Ungemach aufnehmen und ertragen werde. Demzufolge bemüht sich Seneca, in langen Ausführungen zunächst diese Befürchtungen zu zerstreuen, ehe er sich mit dem cap. X I V ihr persönlich zuwendet. Zweierlei ist es, was sie in ihrer Lage innerlich bewegen könnte, selbst wenn sie die Gewißheit besäße, daß es ihrem Sohn wohl ergehe, nämlich einmal das Gefühl, ohne Schutz dazustehen, andererseits die Sehnsucht nach dem Sohne. Um gegen das letztere Argument aufzukommen, appelliert Seneca an ihre oft bewiesene Standhafügkeit, und so treffen wir cap. X V I i — 2 und 5 ganz die gleichen Gedankengänge und Formulierungen an wie in Marc. I iff. Die von Marcia bewiesene magnitudo animi gibt Seneca den Mut, sofort gleichsam zum Frontalangriff überzugehen (I 5): ... et vide, quam non subrepam tibi nec furtum facere adfectibus tuis cogitem: antiqua mala in memoriam reduxi, et vis scire hanc quoque plagam esse sanandam? ostendi tibi aeque magni volneris cicatricem1. alii itaque molliter agant et blandiantur, ego confligere cum tuo maerore constitui... Von dem gleichen Prinzip, nämlich auch die antiqua mala der Trauernden ins Gedächtnis zurückzurufen und ihr ganzes Unglück ungeschminkt und unbeschönigt zur Darstellung zu bringen, ehe er zum Gegenstoß einsetzte, hat er sich auch in der Consolatio ad Helviam leiten lassen2. Doch ist ein wichtiger Unterschied vorhanden, insofern als hier keine Schilderung der Standhafügkeit und Kraft, die Helvia im Erdulden des Leides bei früheren Gelegenheiten bekundet hatte, vorangeht, sondern, wie wir sahen, erst an einer späteren Stelle nachfolgt. Hatte Seneca in cap. I die Gründe auseinandergesetzt, durch die er sich veranlaßt fühlte, die Trostschrift an die Mutter aufzusetzen, so bedurfte er für cap. II eines überleitenden Gedankens, der ihm erlaubte, jenes oben erwähnte Prinzip zur Anwendung zu bringen. Das Ubergangsargument, das er gewählt hat, entbehrt nicht der Kühnheit und wirkt doch überzeugend: vide quantum de indulgentia tua promiserim mihi: potentiorem me futurum apud te non dubito quam dolorem tuum3 quo nihil est apud miseros potentius. itaque ne statim cum eo concurram3 adero prius illi et quibus excitetur ingeram; omnia proferam et rescindam, quae iam obgilis animus conceperit (Polyb. X I 6); ebenfalls auch V 4 und Helv. X V I I I 8. — Seneca erinnert Marcia cap. I 3 an die Verdienste, die sie sich um die Werke ihres Vaters erworben habe: optime meruisti de Romanis studiis . . . optime de posteris ad quos veniet incorrupta fides auctori suo magno imputata. Auch Polybius wird ein ähnliches Lob in cap. V I I I 2 erteilt im Rahmen eines Trostargumentes: Seneca will ihn ermutigen, sich auch weiterhin mit den litterae zu befassen, um bei dieser Beschäftigung Trost und Beruhigung zu finden. 1 Vgl. Helv. II 2 in corpore tarn cicatricoso und X V 4 per ipsas cicatrices percussa est. 2 Vgl. De const. sap. I 1 und meine Ausfuhrungen in cap. II 1 d. Abh. S. 701. Auch Hieronymus verfährt Epist. 39, 5, 1 — 2 in ganz der gleichen Weise. (3*)
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ducta est. Die Kühnheit des Gedankenganges hat aber des weiteren zur Folge, daß Seneca die Notwendigkeit empfindet, die ungewöhnliche Art seines Vorgehens hier im Gegensatze zur Consolatio ad Marciam gegenüber einem Einwand ausdrücklich zu begründen und zu verteidigen. Alle Versuche, Marcia zu bewegen, von ihrer Trauer endlich abzulassen, sind bisher vergeblich gewesen. Der Schmerz hat sich in ihr eingenistet, und es bereitet ihr gleichsam Freude, ihm nachzuhängen: quemadmodum omnia vitia penitus insidimi, nisi, dum surgunt, oppressa sunt, ita haec quoque tristia et misera et in se saevientia ipsa novissime acerbitate pascuntur et fit infelicis animi prava voluptas dolor (Marc. I 7). Auch in der Consolatio ad Polybium cap. IV 1 hat Seneca die amara libido dolendi bekämpft 1 . Es ist aber charakteristisch für die Anlage dieser Trostschrift und nicht minder für die Persönlichkeit des Empfängers, daß der Gedanke hier in einen ganz andersartigen Zusammenhang eingebettet ist. Das fatum, das über die Menschen herrscht, ist hart und unerbittlich, es läßt sich durch Tränen nicht erweichen2: proinde parcamus lacrimis nihil proficientibus; facilfus enim nos inferis dolor iste adiciet quam illos nobis reducit. Mit diesem Argument hätte Seneca bei Marcia, der nichts erwünschter als der Tod sein mußte, schwerlich etwas ausrichten können. Die Tonart, die Seneca in der Consolatio ad Polybium angeschlagen hat, ist nüchterner und wird mehr dem Charakter eines Mannes gerecht. Das geht auch aus der Art hervor, wie er nunmehr anschließend den oben gekennzeichneten Gedanken vorführt: qui {dolor) si nos torquet, non adiuvat, primo quoque tempore deponendus est et ab inanibus solaciis atque amara quadam libidine dolendi animus recipiendus est. Denn täte man es nicht, so würde die materiaflendiatque dolendi niemals ausgehen. Das Ganze läuft also in diesem Fall auf einen Appell an die gesunden Instinkte des Menschen hinaus. In der Consolatio ad Marciam hingegen erfolgt zunächst nur ein vorsichtiges Abtasten der Krankheitssymptome. Die Möglichkeiten einer Seelentherapie, die von dem schon hartnäckig gewordenen Zustand des Leidens auszugehen hat, werden abgewogen: cupissem itaque primis temporibus ad istam curationem accedere: leniore medicina fwisset oriens adhuc restringenda vis; vehementius contra inveterata pugnandum est, und es wird die Folgerung auf den vorliegenden Fall gezogen: non possum nunc per obsequium nec molliter adsequi tarn durum dolorem: frangendus est (Marc. I 8), womit die schon in § 5 (s. o.) angekündigte Schärfe des Vorgehens ihre eigentliche Begründung erfahren hat. In dem ganz anders gelagerten Fall der Helvia wußte sich Seneca auch des entgegengesetzten3 Argumentes zu bedienen: dolori tuo, dum recens saeviret, Ebenso Epist. 74, 34. 99, 25—26. Vgl. Marc. V I 1 und X 6. 3 Über die verschiedenen Ansichten, die hinsichtlich der Art des Vorgehens in der Antike bestanden, vgl. Favez a. a. O . S. 8 zu unserer Stelle. 1
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sciebam occurrendum non esse, ne illum ipsa solacia inritarent et accenderent expectabam itaque, dum ipse vires suas frangeret et ad sustinenda remedia mora mitigatus tangi se ac tractari pateretur. Das Schicksal des Verbannten erlaubte es der Mutter, nachdem sie den ersten Schlag überwunden hatte, wieder zu hoffen, daß eine Besserung seiner Lage eintreten werde, und so konnte mit Recht Seneca erwarten, daß sich ihr Schmerz mit der Zeit etwas lindern werde. So sehen wir, daß der Philosoph mit feinem psychologischen Takt das jeweilig passende Argument verwendet hat. An die Introductio schließt sich in Marc. cap. II nicht sofort die Vorführung der praecepta und eigentlichen Trostargumente an, wie es die Regel war, sondern es werden zwei besonders wirksame exempla1 vorweggenommen. Das hat nun nicht etwa seinen alleinigen Grund darin, wie Favez annimmt, daß nach Senecas Ansicht Marcia als Frau Vernunftgründen weniger zugänglich sei. Sondern es lag für ihn von vornherein nahe, gleich am Anfang auf das vorbildliche Verhalten jener Frau einzugehen, zu der Marcia in engen und freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatte, nämlich der Livia, und diesem als Folie die untröstliche Verzagtheit der Octavia gegenüberzustellen. Die Abweichung von dem gewöhnlichen Schema, also die Umkehr der Reihenfolge hat im übrigen Seneca, der sich des Vorganges nicht völlig bewußt blieb, zu der Inkonsequenz2 geführt, daß er nach den praecepta noch einmal (cap. XII 5 — X V I 5) eine ganze Exemplagruppe3 aufgenommen hat und daß hier wiederum die Namen der Livia und Octavia auftauchen. Die beiden Frauen4 werden charakterisiert (Marc. II 2): alterius feminae quae se tradidit ferendam dolori, alterius, quae .. . cito animum in sedem reposuit. Ähnlich werden in Helv. cap. X V I 5 die beiden entgegengesetzten Möglichkeiten des Verhaltens gekennzeichnet: ne feminae quidem te sinent intabescere volneri tuo, sed... necessario maerore cito defunctam iubebunt exurgere, von wo der Gedanke weiter nach Polyb.V2 übergesprungen ist: quid ... iuvat dolori intabescere, quem ... finiri frater tuus cupit? Octavia verhält sich allen Trostargumenten unzugänglich, weist jeden Zuspruch zurück, vergißt, daß ihr noch nahe Angehörige geblieben sind (Marc. II 5): ... ne ad fratrem quidem respiciens ... aures suas adversus omne solacium clausit ... adsidentibus liberis, nepotibus lugubrem vestem non deposuit5, non sine Zu der antiken praecepta-exempla-Theorie vgl. Favez a. a. O. S. XXVII. Vgl. Favez a. a. O. S. L H . 3 Cap. XIII Xenophon, Pulvillus, Aemilius Paullus (vgl. Polyb. X I V 5), die sich auch bei Hieronymus Epist. 6o, 5, 2—3 finden. Cap. X V fuñera Caesarum, die in den Ausführungen der Consolatio ad Polybium einen besonders breiten Platz einnehmen (s. vor allem cap. X V I 4), wie es sich aus der Stellung des Polybius ergab und wie es angesichts des persönlichen Interesses, das Seneca mit der Schrift verfolgte, verständlich war. Cap. X V I 3 Cornelia, die Mutter der Gracchen (vgl. Helv. X V I 6). 4 Vgl. Helv. X V I 2. 6 Vgl. Helv. X V I 2. 1
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contumelia omnium suorum, quibus salvis orba sibi videbatur1. An dieser Schilderung ist bemerkenswert, daß die in ihr berührten scheinbar individuellen Momente zu Gedanken in Beziehung stehen, die zu den ständigen Requisiten der Trostschriften gehörten. Das zeigt der Vergleich mit Helv. X V I I I 1 — 4 : volo interim solatia tibi tua ostendere, respice fratres meos, quibus salvis fas tibi non est accusare fortunam . .. adquiesce (in) alterius fili dignitate, alterius quiete, utriusque pietate2... ab his ad nepotes quoque respice: Marcum blandidissimum? puerum ... und ferner4 mit Polyb. X I I 1 , wo ebenfalls unter zum Teil wörtlicher Anlehnung die gleichen Punkte vorgeführt werden. Ein wie großes Gewicht Seneca gerade diesen Argumenten beimißt, die auf Octavia ihre Wirkung verfehlt haben, geht daraus hervor, daß er ihnen auch in den beiden letztgenannten Consolationes einen Platz an sehr betonter Stelle zugewiesen hat: in der Consolatio ad Helviam bilden sie den versöhnenden Abschluß, in der Consolatio ad Polybium tauchen sie als erstes auf, nachdem Seneca ab istis, quae torquent zu den solacia übergegangen ist. Hatte Octavia darauf verzichtet, sich die Erinnerung an den Sohn freundlicher zu gestalten, so hat Livia hingegen den entgegengesetzten Weg eingeschlagen (Marc. III 2): . . . non desiit ... Drusi sui celebrare nomen, ubique illum sibi privatim publiceque repraesentare, libentissime de illo loqui, de illo audire: cum memoria illius vixit. Daraus zieht Seneca die Konsequenz für Marcia (III 4): illum ipsum iuvenem3 dignissimum qui te quietam semper nominatus cogitatusque faciat, meliore pones loco, si matri suae, qualis vivus solebat, kilarisque et cum gaudio occurrit. Und eben dasselbe Vorgehen und Verhalten empfiehlt er dem Polybius cap. XVIII 7—8 5 , vor dessem geistigen Auge er hier noch einmal am Ende6 der Schrift das Bild des Bruders aufsteigen läßt. Nachdem Seneca sich in der Vorführung der exempla Genüge getan hat, geht er zu den praecepta über, die wirkungsvoll durch die Rede des Areus eingeleitet werden. Doch er verwahrt sich von vornherein dagegen, daß man ihm unterstelle, er wolle die Trauernde zu den fortiora praecepta führen und von ihr verlangen inhumano ferre humana modo (IV 1). Auch Helv. X V I 1 weist er eine solche inhumana duritia von sich7, und noch schärfere Worte findet er Polyb. X V I I I 3, wo er aus eigener leidvoller Erfahrung heraus die 1 2 3 4
Dieselben Vorwürfe kehren auch in der Rede des Areus wieder (vgl. cap. IV—V). Vgl. Marc. IV 2. Vgl. Marc. V 4 non convertis te . . . ad pueriles dulcesque blanditias. Vgl. auch Marc. X V I 8 und Epist. 63, 10.
5 Auch hier wiederum sei darauf verwiesen, daß sich zahlreiche Übereinstimmungen bis in Einzelheiten des Ausdruckes mit Marc. III 2 erkennen lassen. 8
accipe: 7
Mit einem verwandten Gedanken endet auch die Consolatio ad Helviam: quantum laetum et alacrem (XX 1). Vgl. auch De const. sap. X 4,
me cogites
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Verkünder jener Lehre, indem er sich selbst korrigiert, als durae magis quam fortis prudentiae viros bezeichnet1. Es ist sinnlos, sich gegen das harte und unerbittliche Schicksal aufzubäumen. Alle unsere Trauer und Tränenergüsse vermögen das Geschehene nicht rückgängig zu machen. Daher, so beschließt Seneca seine Ausführungen, mit denen er ganz wie in der Consolatio ad Polybium2 die eigentlichen praecepta eröffnet (VI i—2): desinat dolor qui perit. Der Hauptteil der Schrift, der mit cap. VII anhebt, ist so gestaltet, daß auf lebendig formulierte Einwände Senecas Gegenargumente nachfolgen. In den ersten Kapiteln tragen diese allgemeineren Charakter, die für jedermann Gültigkeit besitzen, von cap. X I I an haben sie die besondere Lage der Marcia zur Voraussetzung, endlich von cap. X I X an befassen sie sich mit dem Geschick des Metilius. Als erstes wird der Einwurf behandelt, das Gefühl der Sehnsucht sei natürlich und bedingt durch die Empfindung der Lücke, die durch den Tod gerissen sei. Seneca widerspricht dem nicht3, stellt aber die Forderung auf, auch im Schmerz Maß zu halten4. In den gleichen Bahnen bewegt sich die Gedankenführung auch in der Consolatio ad Helviam, nur daß Seneca sich hier zunächst der dringlicheren Aufgabe unterziehen muß, die Mutter über seine eigene Lage zu beruhigen, ehe er sich ihr in cap. X I V zuwenden kann und nun mit cap. X V die praecepta beginnen, die sich sogleich mit demselben Problem wie in Marc. cap. V I I beschäftigen und zu den gleichen Forderungen verdichten5. Die Maßlosigkeit des Schmerzes ist verursacht und hervorgerufen durch die unrichtige Einschätzung des Verlustes, der uns betroffen hat. Seneca bekämpft diese falsa opinio6 und verweist auf das Beispiel der Tiere, die sich rasch wieder beruhigen, wenn eins der ihrigen durch den Tod hingerafft ist. Unnatürlich also ist es luctibus frangi (Marc. VII 3). Das aber, was den Menschen aufreibt und unfähig macht, den Schmerz zu ertragen, ist die praesumpta opinio de non timendis terribilis (VII4). Auch in der Consolatio ad Helviam schickt Seneca seiner Beweisführimg, in der er die scheinbaren incommoda, die sich aus seiner Lage ergeben, als unwirksam abtut und zurückweist, die allgemein gehaltene 1 Zur späteren Stellungnahme 7 0 , 1 8 . 99, i f f . 15. 116, 2.
Senecas vgl. die Auseinandersetzungen Epist. 9, i f f .
6 3 , 1 ff.
2 Cap. I I — I V 1. N u r daß die Deklamationen sich hier entsprechend der weicheren Stimmung Senecas über einen viel größeren Raum erstrecken. I m übrigen vgl. auch Epist. 7 7 , 12. 3
Vgl. den Vorbehalt cap. I V 1 (s. o. S. 719).
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Schon vorbereitet durch I I I 4 est enitn quaedam et dolendi modestia.
In der Consolatio ad Polybium wird das desiderium-Motiv nicht ausdrücklich behandelt, es liegt den Ausführungen aber selbstredend unausgesprochen zugrunde (vgl. I I 1). D i e Mahnung zur Mäßigung wird zweimal ausgesprochen: cap. I V 2, nachdem Seneca gezeigt hat, daß es sinnlos sei, das Schicksal anzuklagen, und in den Schlußausführungen cap. X V I I I 6. • Vgl. Epist. 1 3 , 4 . 2 4 , 1 2 . 7 8 , 1 3 . 8 2 , 1 5 . 91, 19. Über den Gebrauch dieses Argumentes in der stoischen und kynischen Popularphilosophie s. Favez a. a. O . S. X X I X f . 5
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Sentenz voraus (Helv.Vö): in his, quae mala vocantur, nihil tarn terribile ac durum invenio quam opinio volgi minabatur. Was natürlich ist, erfährt durch die Zeit keine Einbuße. Der Schmerz hingegen vermag sich auf die Dauer nicht in der gleichen Stärke zu behaupten. Daher ist es einem Menschen angemessener, freiwillig, solange es noch von ihm abhängt, ein Ende zu machen 1 : finem luctus potius facere quam expectare. Zu der hier getroffenen Feststellung, daß der Schmerz sich mit der Zeit verliere, steht nur in einem scheinbaren Gegensatz Polyb. IV i : lacrimis nostris, nisi ratiofinemfecerit, fortuna nonfaciet. Seneca will sagen, Grund zur Trauer ist überall und stets vorhanden, so daß sich an dieser materiaflendider Schmerz immer wieder erneuern kann, wenn die Vernunft nicht stark genug ist, ihn beizeiten zu überwinden. Ein solches Argument in der Consolatio ad Marciam vorzubringen2, wäre übel angebracht gewesen, denn es hätte Marcia in ihrer Trauer eher noch bestärkt, indem es ihr die Trostlosigkeit des Lebens vor die Augen rückte. Wohl aber hatte es in der Trostschrift ad Polybium zu Recht seinen Platz, da es sich dort an die weniger empfindsame und mehr nüchterne Denkungsweise eines Mannes wandte. Daß wir uns unserem Unglück nicht gewachsen zeigen, so argumentiert Seneca (Marc. IX i) weiter, und unserer Trauer nicht Herr zu werden vermögen, liegt meist daran, daß uns das Schicksal unvorbereitet getroffen hat: nihil nobis mali, antequam eveniat, proponimus3. Und doch hätte uns der Bück in unsere Umwelt lehren können, daß niemand verschont bleibt: tot praeter domum nostram ducuntur exequiae: de morte non cogitamus. In der Consolatio ad Polybium, wo die Darstellung analog ist und sich im Ausdruck mit Marc. IX 1—2 deckt, wird das Motiv des necopinatum als letztes (cap. X I 1 ) unter den Momenten, die den Trauernden quälen, herangerückt. Der tiefere Grund für diese Änderung in der Anordnung liegt darin, daß die Erwähnimg jenes Motives Seneca die Gelegenheit gibt, Polybius an die Schriften zu erinnern, in denen er plurima varietatis kumanae incertorumque casuum behandelt habe (XI5). Die Haltung, die er dort eingenommen habe, verpflichte ihn, seinem eigenen Unglück mannhaft entgegenzutreten. So hat Seneca einen sehr wirkungsvollen Ubergang zu den solacia gefunden, denen er sich mit cap. X I I zuwendet. In der Consolatio ad Helviam endlich nimmt Seneca für sich in Anspruch (cap.V4), daß er sich durch die Ereignisse nicht habe überraschen lassen, wie er denn in diesem ganzen Einleitungskapitel bemüht ist, der Mutter vorerst ein1 V g l . D e i r a l l l 27,4—5. Epist.63,12. Siehe fernerCic.Att.XII10 undFavez a.a.O. S . X X X I I Anm. 5. 2 Tota flebilis vita est sagt zwar Seneca auch Marc. X 7, aber hier ist das Argument durch den Zusammenhang unschädlich gemacht (s. weiter unten). 3 Die Idee der praemeditatio futurorum malorum war nach Cic. Tusc. III 28—29 zuerst von der kyrenaischen Schule — vielleicht unter kynischem Einfluß — in die Argumentatio eingeführt worden.
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mal ein möglichst erfreuliches Bild von seinem Geisteszustände zu vermitteln. Wie die Menschen in der Regel unvorbereitet vom Unglück ereilt werden und sich daher nur schwer von dem Schlag zu erholen vermögen, so sind sie sich auch nicht klar darüber, daß alle die Güter, deren Besitz sie mit Freude und Stolz erfüllt, ihnen nur leihweise gleichsam auf Widerruf vom Schicksal überlassen sind (Marc. X i ff.). Es bedeutet eine Verkennung der Tatsachen, so betont Seneca, jenen bona adventicia irgendeine größere Bedeutung beizumessen: non est quod nos suspiciamus tamquam inter nostra positi1: mutua2 accepimus. usus fructusque noster est, cuius tempus ille arbiter muneris sui temperat. Daher müssen wir bereit sein, was nicht unser eigen ist, jederzeit ohne Murren und ohne Zaudern zurückzugeben: pessimi debitoris est creditori facere convicium. Auch in der Consolatio ad Polybium ist diesen Argumenten ein breiter Raum zugewiesen (X i ff.), und zwar sollen sie hier umgekehrt wie in der Consolatio ad Marciam den Boden vorbereiten, um es Seneca zu ermöglichen, anschließend um so wirksamer den Einwand des nec opinatum zu bekämpfen (cap. XI). Um die in diesem Fall wieder besonders weitgehende Ubereinstimmung der beiden Schriften auch im Ausdruck deutlicher hervortreten zu lassen, sollen einige der am meisten bezeichnenden unter diesen Sätzen im Wortlaut folgen: cogitantem non iniuriam tibi factam,... quod tarn diu tibipietate eius uti fruique3 licuerit (X i) . . . iniquus est, qui muneris sui arbitrium danti non reliquit (X 2) . . . si quis pecuniam creditam solvisse se moleste ferat, eam praesertim cuius usum gratuitum acceperit, nonne iniustus vir habeatur? (X 5). Unzuverlässig also ist der Besitz aller Güter. Was uns erfreut, woran wir unser Herz gehängt haben, kann uns in jedem Augenblick wieder genommen werden. Daher sollen wir die uns gebotenen Möglichkeiten voll ausnutzen, die Gegenwart von Menschen, die uns nahestehen, genießen, solange es erlaubt ist: festinandum est, instatur a tergo4 (Marc. X 4). Unangebracht und unzulässig aber erscheint es, darüber Klage zu führen, daß uns ein Sohn entrissen ist, denn der Tod war ihm vorbestimmt, als er in das Leben eintrat: si mortuum tibi filium doles, eius temporis quo natus est crimen est; mors enim illi denuntiata nascenti est5; in hanc legem datus est, hoc illum fatum ab utero statim prosequebatur (X 5). Auch dieser Gedanke kehrt Polyb. X I 2 , in den gleichen Zusam1 Vgl. Helv. V 1 leve momentum in adventiciis rebus est und V 5 illi qui munera eius (sc. fortunae) velut sua et perpetua amaverunt, qui se suspici propter ilia voluerunt iacent et maerent. Siehe auch Epist. 98, i. a Dieser Gedanke war der Diatribe geläufig, vgl. Bion bei Stob. Anthol. V S. 943 Hense. 3 Vgl. X 6 . Epist. 98, 11. Auch Polyb. XI 1 ist heranzuziehen: . . . mentis humanaepravitas insatiabilis rerum omnium, quae indignatur inde excidere, quo admissa est precario (vgl. De tranq. animi X I 1 ) . 4 Vgl. Polyb. IV 3 respicientes, quantum a tergo rerum tristium inmineat, 5 Vgl. De tranq. an. XI 6. Epist. 30, 10. 99, 8.
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menhang1 eingeordnet, wieder. In der Consolatio ad Marciam leitet er folgerichtig dazu über, die Macht des Schicksals zu schildern: in regnum fortunae ... durum atque invictum pervenimus ... corporibus nostris ... crudeliter abutetur (X 6). Daher ist es sinnlos, durch ein trauriges Geschick, das einem persönlich widerfahren ist, sich allzusehr beeindrucken zu lassen: tota flebilis vita est2 (X 7). Der Mensch ist ein zerbrechUches Wesen, das kaum dem geringsten Stoß standzuhalten vermag. Also soll man seiner Schwäche, die sich jederzeit in ein Nichts auflösen kann, eingedenk sein und den pythischen Spruch nosce te3 beherzigen (XI 3). Mit cap. X I enden die Darlegungen, soweit sie einen allgemein verbindlichen Charakter trugen. Im folgenden Kapitel beginnt Seneca sich mit der besonderen Lage der Marcia zu befassen. Die Ausfuhrungen zerfallen in zwei scharf voneinander geschiedene Hälften, deren Inhalt durch den Satz X I I 1 dolor tuus, si modo ulla illi ratio est, utrum sua spectet incommoda an eins qui decessit? programmatisch bestimmt ist. Ähnlich umreißt Seneca in der Consolatio ad Helviam cap. IV 1 die beiden Richtungen seines Vorgehens. Nur ist hier diese Ankündigung der gesamten Beweisführung vorangesandt, wie es der straffen Gliederung4 dieser Schrift, die ihr im Gegensatz zu den beiden anderen Consolationes eignet, entspricht. Denn es ist ersichtlich, daß sich unter jene beiden Gesichtspunkte alle Einzelheiten des Beweisganges zwanglos einordnen lassen. In der Consolatio ad Polybium hinwiederum hat jene Zweiteilung5 der Materie ihre Bedeutung als Dispositionsfaktor für die Anlage der Trostschrift fast völlig eingebüßt (IX 1). Nicht nur, daß die Stelle, an der jene beiden Seiten des Problemes beleuchtet werden, willkürlich gewählt ist — einen wirklich zwingenden Grund vermag man jedenfalls nicht zu erkennen6 — , sondern die anschließenden Ausführungen verlassen sehr bald wieder den Weg, der ihnen durch jene Einteilung vorgezeichnet war. Hatte die Formulierimg gelautet: 'utrumne meo nomine doleo an eins qui decessit?\ so wird zunächst die erste Seite des Problems mit einem Satz kurz beleuchtet. Alsdann wendet sich 1
Siehe die vorhergehenden Seiten.
Siehe Crantor bei Plutarch A d Apoll, p. 104c. In der Consolatio ad Polybium wird die A n klage gegen das fatum am Anfang der Schrift (cap. I I — I V ) in effektvoller Deklamation ausgebreitet (vgl. S. 720). Die pessimistische Feststellung, daß das ganze Leben ein supplicium sei, kehrt auch cap. I X 6 wieder. 2
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V g l . Plutarch A d Apoll, p. 116c.
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Vgl. Bourgery 1. c. p. 99.
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Vgl. auch Cic. epist. 4, 5, 2ff. Ambrosius D e exc. fratr. 2, 14.
A u f den Nachweis, daß es sinnlos sei, gegen das Schicksal anzumurren (cap. I I — I V ) , folgt V 1 — 3 die Feststellung, daß auch der Verstorbene wünschen wird, den Polybius seiner Trauer ledig zu sehen. Die Tatsache, daß ihm noch nahe Angehörige geblieben sind (V 4 — 5 ) , und seine hohe Stellung (cap. V I ) , ferner das Beispiel des Kaisers (cap. V I I ) zwingen ihn, seinen Schmerz zu beherrschen und zurückzudrängen. Als ein Mittel, seiner Gefühle Herr zu werden, erweist sich die Beschäftigung mit den litterae (cap. V I I I ) , und nun folgt unvermittelt der Übergang zu dem obigen Gedanken. 6
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Seneca sofort dem zweiten Punkt in längeren Erörterungen zu (IX 2—9). Nach Abschluß des Kapitels greift er cap. X wieder auf jenes 'meo nomine' zurück, ohne aber dieser Tatsache durch eine ausdrückliche Erwähnung Rechnung zu tragen. Dadurch wird der ganze Beweisgang in ein diffuses Licht gerückt, verliert alle Durchsichtigkeit und Bestimmtheit1. Auch der Gedankenaufbau der Consolatio ad Marciam zeichnet sich nicht überall durch logische Schärfe aus2, aber er ist psychologisch auf das glücklichste abgewogen. Hatte die Erinnerung an die beiden Tragödien im Kaiserhause, die sich vor ihren Augen abgespielt hatten, Marcia nachdenklich gestimmt, so sollte die Rede des Areus, die auch für sie galt, sie veranlassen, nunmehr den praecepta ein williges Ohr zu leihen. Die Argumente sind in ihrer Reihenfolge klug auf Wirkung berechnet, sie leiten allmählich vom Allgemeinen zum Besonderen über. In cap. X I I hat Seneca den Punkt erreicht, wo er hoffen konnte, nimmehr mit Vernunftgründen3 der Auffassung, die sie selbst von ihrer Lage hatte, erfolgreich entgegentreten zu können. Der Schmerz der Marcia nährt sich aus dem quälenden Gefühl, daß ihr der Sohn zu früh genommen sei und sein Tod sie der Möglichkeit beraubt habe, sich auch weiterhin seiner Gegenwart zu erfreuen. Dagegen argumentiert Seneca, daß es angebrachter sei: non de eo quod detractum est queri, sed de eo gratias agere quod contigit (XII 2). Und ebenso4 hält er dem Polybius vor Augen (X 6), es sei ungerechtfertigt aliquem moveri, quod sibi talis frater parum diu contigerit, non gaudere, quod tarnen contigerit. Nicht einmal das vermögen die Betroffenen einzuwenden, um ihr untröstliches Verhalten zu rechtfertigen, daß sie besonders vom Schicksal auserwählt seien. Denn überall, wohin man den Blick wendet, zeigt sich dasselbe Bild: circumfer per omnem notorum, ignotorum frequentiam oculos, occurrent tibi passi ubique maiora ... nullam ... rniseram nominabis domum, quae non inveniat in miseriore solacium (Marc. XII 4). In der Consolatio ad Polybium begegnet uns eben dasselbe Argument im cap. I, es muß dazu herhalten, die Auseinandersetzungen zu eröffnen, wobei die Trivialität seines Inhaltes besonders kraß in die Augen fällt. Und noch einmal taucht es in cap. X I V 2 auf, wo mit ihm ganz wie in der Consolatio ad Marciam die Exemplareihe5 beginnt. Auf die Beispiele6, die sich in wirkungsvoller Abstufung über Marc. cap. X I I 6 bis X V I 5 erstrecken, folgt X V I 6 die Conclusio: plena et infesta variis casibus vita est, a quibus nulli longa pax, vix indutiae sunt. Vier Kinder hat Marcia großgezogen. Sie darf also nicht klagen, daß sie eins davon hat hergeben müs1 2 3 4 6 6
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Für Vgl.
cap. I I I 3 d. A b h . die Aufzählung der inneren Widersprüche bei Favez a. a. O . S. 5off. X I I 1 si modo ulla Uli (sc. dolori) ratio est. D e tranq. an. X I 3. Plutarch A d uxor. p. 610 D — F . Ambrosius D e exc. fratr. I 3. deren Vorführung der Caesar selbst bemüht wird. S.718.
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sen, denn in einem dicht gedrängten Haufen trifft jedes Geschoß eher sein Ziel. Doch andere sind ihr geblieben: si male fers, magna onera, si bene, magna solacia (XVI 7), und damit werden die Argumente wieder aufgenommen, die, wie wir sahen1, schon am Eingang der Schrift eine Rolle spielten. Cap. X V I I und X V I I I enthalten Einlagen2, die sich nur schwer dem Rahmen des Werkes einfügen lassen, dennoch aber ihren Zweck, wie mir scheint, nicht verfehlen. Das Leben, so führt Seneca aus, birgt alle Möglichkeiten in sich. Niemand kann man bei der Geburt voraussagen, ob ihn Freude oder Glück, Trauer oder früher Tod erwarte. Wer es auf sich nimmt, Kindern das Leben zu geben, muß von vornherein mit sämtlichen Möglichkeiten rechnen. Seneca macht den Gedanken anschaulicher durch zwei weit ausgesponnene Vergleiche. Wenn jemand sich entschließe, nach Syrakus zu fahren, unterrichtet, was er an erfreulichen wie unangenehmen Dingen dort zu gewärtigen habe, so dürfe er nicht klagen, wenn letztere sich ihm an Ort und Stelle in den Vordergrund schöben (cap. XVII). Wenn ferner jemand, der von hoher Warte die Welt mit allen ihren Freuden und Leiden überblickt habe, dennoch bereit sei zu leben, so trüge er selbst die Verantwortung für alle möglichen Folgen, die ihm daraus erwüchsen (cap. XVIII). Seneca zieht die Folgerung, indem er zu dem Gedanken zurückkehrt, der ihm als Ausgangspunkt für die Vergleiche gedient hatte (XVIII 8): consulti sunt de nobis parentes nostri, qui, cum condicionem vitae nossent, in hanc nos sustulerunt. Die Absicht, die er mit den Exkursen verfolgte, erscheint klar: sie sollen den Geist der Trauernden in größere Höhen und lichtere Weiten fuhren, ihn aus seiner Verstocktheit lösen und damit aufnahmefähiger für Senecas Argumente machen. Durch jene Einlagen, deren Bedeutung ich zu würdigen versucht habe, ist die Ordnung empfindlich gestört worden, wie aus dem verworrenen Anfang 3 des cap. X I X hervorgeht. Der Anschluß an die vorausgegangenen Abschnitte wird erst durch den Satz X I X i movet et illud lugentem: 'non erit qui me defendat, qui a contemptu vindicef wiederhergestellt. Doch dieser Gesichtspunkt wird leichthin beiseitegeschoben. Seneca läßt Marcia antworten (XIX 3): 'non movent me detrimenta mea; etenim non est dignus solacio, qui filium sibi decessisse sicut mancipium4 moleste fert..Auch in der Consolatio ad Helviam verhallt jener Einwurf wirkungslos, auch hier weist Seneca den Gedanken, die Mutler trauere über den Verlust, weil sie eines persönlichen Vorteiles verlustig gegangen sei, mit Entrüstung zurück (XIV 3): numquam indulgentia ad utilitatem respexit und beeilt sich, zu dem desiderium-Motiv überzugehen. In der Consolatio ad Polybium endlich wird das Argument, daß der Trauernde eines 1 2 3 4
Vgl. S.719. Emblemata, wie sie Quintil. inst. 2, 4, 27 nennt. Vgl. Favez a. a. O. S. L. Vgl. Favez a.a.O. S . L I . Vgl. Polyb. X 4 (s. auch S.722) rerum natura illum . . . non manicipio dedit, sed commodavit.
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Schutzes bedürfe, nur gelegentlich gestreift, hier aber im positiven Sinne beantwortet (XII 3): non desinam totiens tibi offerre Caesarem... in hoc uno tibi satis praesidii, solacii est. Nach jener Fermate beginnt in der Consolatio ad Marciam cap. X I X 3 der letzte Abschnitt der Beweisführung 1 , der das Geschick des Metilius, das ihm nach seinem Tode zuteil geworden ist, zu seinem Gegenstand hat. Zwei Möglichkeiten werden nacheinander erwogen, nämlich erstens, daß der Verstorbene von allen irdischen Leiden befreit sei, nichts empfinde und fühle und sich im Zustande völliger Bewußtlosigkeit gleich wie in einem traumlosen Schlafe befinde 2 : cogita nullis defunctum malis adfici ... mors dolorum omnium exsolutio . . . quae nos in illam tranquillitatem, in qua antequam nasceremur iacuimus, reponit (XIX 5). Und andererseits wird dem Gedanken Folge gegeben, der Tod habe den Sohn verklärt und zu den Gefilden der Seligen entführt, von wo aus er auf das Schauspiel der Welt in vollkommener Glückseligkeit herabblicke: facillimum ad superos iter est animis cito ab humana conversatione dimissis ( X X I I I 1 ) . Der gleichen Zweiteilung hat sich Seneca auch in der Consolatio ad Polybium cap. IX 1—3 bedient. Während aber hier die beiden Möglichkeiten als solche scharf gegeneinander abgehoben werden 3 , sind die Grenzen in jener anderen Consolatio stark verwischt. Denn dort treten jene Möglichkeiten, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen, in Wirklichkeit nacheinander als Tatsächlichkeiten in die Erscheinung. Gerade aber diese logische Unschärfe erhöht die psychologische Wirkung der Trostschrift. In Verfolgung und Ausmalung der ersten Möglichkeit gelangt Seneca Marc. X X zu dem Schluß, daß der Tod weit davon entfernt, der Inbegriff aller Schrecken zu sein, in Wahrheit für die Menschen die letzte Zufluchtsstätte bedeute, die sie von allem Unglück, dem sie ausgesetzt seien, befreie. O ignaros malorum suorum, quibus non mors ut Optimum inventum naturae laudatur ruft er aus. Im Gegensatz zu Polyb. IX 4ff., wo der gleiche Gedanke angerührt ist, läuft dieser aber hier auf eine Verherrlichung des Selbstmordes hinaus, wofür ich in einem früheren Abschnitt meiner Ausführungen die Gründe ausfindig zu machen versucht habe4. Es bleibt noch ein Einwand 5 Marcias, den es unschädlich zu machen gilt: 'nimis tarnen cito periit et inmaturus' ( X X I 1 ) . Einige Jahre mehr oder weniger 1 In der Consolatio ad Helviam waren die Ausführungen, die sich mit dem Schicksal des Verbannten befaßten, naturgemäß vorausgegangen, da Seneca die Mutter zunächst von ihrer quälenden Ungewißheit und Sorge befreien mußte. 8 Vgl. Sali. Catil. 51. Plutarch Ad Apoll, p. iiiE—F. Ad uxor. p. 6 1 1 F u. a. Sen. Troad. 397f. Epist. 24, 18 (Epicurea cantilena). 30,6—7. 54,4. 65,24. 99,30. 3 Si nullus defunctis sensus superest . . . si est aliquis defunctis setisus (IX 3, vgl. V 2 ) . 1 Vgl. S. 7 i 3 f . 5 Seneca greift damit auf den zweiten Teil der Propositio cap. X I X 4 zurück: quid igitur te, Mar da, movet? utrum quod filius tuus decessit, an quod non diu vixit?
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sind bedeutungslos, antwortet Seneca: omnia humana brevia et caduca1 sunt et infiniti temporis nullam partem occupantia. Nicht einmal das ist sicher, so argumentiert er weiter, ob ein längeres Leben dem Verstorbenen zu Vorteil und Gewinn gereicht hätte. Wirklich und mit Grund erfreuen können wir uns nur der Vergangenheit, denn die Zukunft ist ungewiß: ideoque felicissimis optanda mors est, quia in tanta inconstantia turbaque rerum nihil nisi quod praeteriit certum est (XXII1). Dieses Trostargument — nämlich die recordatio praeteritorum temporum, die dem Trauernden nahegelegt wird — , das hier nur in verhältnismäßig bescheidenem Maße berücksichtigt wird, ist in der Folgezeit um so wichtiger für Seneca geworden. Schon in der Consolatio ad Polybium erfährt es eine starke Betonung (cap. X 2—3), und vor allem tritt es2 in dem Dialog De brevitate vitae hervor (cap. X 2—5): Seneca lebte mit seinen Gedanken, so ist man versucht zu folgern, je länger sich die Verbannung hinzog, um so mehr in den Erinnerungsbildern der Vergangenheit, denn die Zukunft mußte ihm tot erscheinen und die Gegenwart war bedeutungslos. Was ihrem Sohn auf Erden noch hätte widerfahren können, so setzt Seneca seine Ausführungen fort, möge Marcia ermessen aus dem tragischen Tode ihres Vaters, den der Haß Sejans zu Fall gebracht hatte (XXII4ff.). Jetzt aber sei es wohl um ihn bestellt, denn der Enge des irdischen Lebens entrückt genieße er himmlische Freuden: exire atque erumpere gestiunt (animi), aegre has angustias ferunt, vagi per ornne sublimes et ex alto adsueti humana despicere (XXIII 2). Dieser Gedanke3 wird in den folgenden Kapiteln in immer neuen Variationen abgehandelt: Marcias Sohn hatte in seinem irdischen Dasein die höchste Vollkommenheit erreicht4, also hat es das Schicksal gut mit ihm gemeint, als es ihn rechtzeitig abrief; nunmehr aber weilt er in jenen höheren Regionen, unbeschwert und aller Fesseln ledig: ipse quidem aeternus meliorisque nunc status est, despoliatus oneribus alienus et sibi relictus (XXIV 5). Die Schrift findet ihren krönenden Abschluß durch die Rede des Cremutius Cordus, der gleichsam von hoher Himmelsburg herab der Tochter Trost zuspricht (cap. XXVI). Das Leben ist nicht lebenswert, so argumentiert auch er, 1 Der Hinweis auf die Vergänglichkeit alles Irdischen, erläutert durch das Beispiel der septetn miracula, bildet den Ausgangspunkt der Consolatio ad Polybium. Vgl. auch Epist. 77, 20. 93, i f f . 99, 10. Favez a. a. O. S. X X X V I .
Vgl. ferner De benef. III 4, 1—2. Epist. 98,11. 99,4—5. Vgl. Polyb. IX 3 . . . animus fratris . . . ex diuturno carcere emissus . . . rerum naturae spectaculo fruitur et humana omnia ex superiore loco despicit, divina vero . . . propius intuetur. % . . . in eum emicuit locum . . . qui solutas vinculis animas beato reàpit sinu, et nunc libere illic vagatur. Auch Helv. XI 5—7, an einem Höhepunkt der Schrift, wird der Gedanke gestreift: animus . . . quandoque emissus fuerit, ad summa emicaturus und später corpusculum hoc, custodia et vinculum animi. S. ferner Epist. 65, 16—17. Über den Unsterblichkeitsglauben und das Verhältnis von Leib und Seele in Senecas Philosophie vgl. Favez a . a . O . S. X X X V I I ff. und Fr. Husner, Leib und Seele in der Sprache Senecas, Philol. Suppl. X V I I , 1923. 8 3
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Zu XXIII 3 quicquid
ad summum pervertii,
ab exitu prope
est vgl. De brev. vit. X V I I 4.
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wieviel wünschenswerter ist der Zustand, in dem sich die Seelen der Abgeschiedenen befinden. In reines Schauen versunken, harren sie der Weltenkatastrophe1, die auch sie mitsamt aller Materie verschlingen wird. So endet die Consolatio mit einem Ausbück von erhabener Größe. 2. Sallustiana in der Consolatio ad Helviam.
Praeterea cum omnia clarissimorum ingeniorum monimenta ad conpescendos moderandosque luctus composita evolverem, non inveniebam exemplum eins, qui consolatus suos esset, cum ipse ab Ulis comploraretur sagt Seneca Helv. 12. Nun wird man zwar seine Behauptung, er habe omnia monimenta aufgeschlagen und zu Rate gezogen, nach Lage der Dinge nicht allzu ernst nehmen dürfen2. Seneca hat sicherlich, wie wir das auch sonst allenthalben voraussetzen müssen, zu einem guten Teil mit Chrien und Kompendien gearbeitet3, denn diese waren ihm bei Entfaltung seiner Rhetorik am wenigsten hinderlich. Aber die Worte sind nach einer anderen Richtung hin von Bedeutung. Sie besagen ganz allgemein, daß Seneca sich mit Eifer nach passenden Vorbildern umgesehen hat, legen also den Gedanken nahe, daß er für diejenigen Abschnitte der Schrift, die aus dem übüchen Consolatio-Schema herausfallen, nämlich cap. V—XIII, anderswo Anlehnung gesucht habe4. Nun treten uns in den genannten Kapiteln zwei Autoren entgegen, nämlich Varro und M. Brutus: adversus ipsam commutationem locorum ... satis hoc remedii putat Varro, doctissimus Romanorum, quod, quocumque venimus, eadem rerum natura utendum est; M. Brutus satis hoc putat, quod licet in exilium euntibus virtutes suas secum ferre (Helv. VIII i). Derselbe Brutus taucht auch IXff. wieder auf, wo der gleiche Gedanke weiter ausgeführt wird, und hier wird auch die Schrift genannt, der Seneca das Zitat entnommen hat, nämlich De virtute. Was aber hat es mit dem Varrozitat auf sich? Giesecke denkt an einen Loghistoricus, wie mir scheint, mit Unrecht5. Was Seneca aus Varro entlehnt hat 6 , beschränkt sich auf den einen Satz7, der in seiner Umgebung ganz isoliert bleibt, obwohl sich Seneca selbst mit dem Gedanken ein volles Kapitel beschäftigt hat. Ich 1
Vgl. Polyb. I i — 2 . v . A r n i m , Stoic. vet. frg. I 107—109. I I 585—632. Wie es Alfred Giesecke getan hat, vgl. De philosophorum veterum quae ad exilium spectant sententiis, Lpz. 1 8 9 1 , S. 100. 3 Vgl. Epist. 3 9 , 1 commentarios, quos desideras, diligenter ordinatos et in angustum coactos ego vero conponam. sei vide, ne plus profutura sit ratio ordinaria quam haec, quae nunc vulgo breviarium dicitur, olim . . . surnmarium vocabatur. illa res discenti magis necessaria est, haec scienti. illa enim docet, haec admonet. 4 Giesecke hatte sich bei der resignierten Feststellung beruhigt: »ea quae ex aliquo fönte sumpsit ita stio ingenio debitis diluit, ut plane nihil de origine sententiarum eius statui possit«. 5 Wenigstens zweifle ich an direkter Übermittlung. • Dazu wird wohl auch der Ausdruck commutatio locorum (Helv. V I 1. 5. V I I 7. V I I I 1 . X I I I 1 ) gehören. ' V I I I 2 duo quae pulcherrima sunt, quocumque nos moverimus, sequentur: natura communis et proprio virtus faßt beide Zitate zusammen, ohne sachlich Neues zu bringen. 2
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möchte daher eher annehmen, daß er die sog. sententiae Varronianae1 in den Händen gehabt habe2, die alsdann bereits damals fertig gebildet und zu einem Ganzen vereinigt vorgelegen haben müßten. Trifft meine Deutung das Richtige, so würde man nun auch die interessanten Beziehungen verstehen, die sich zwischen jenen Sententiae und Seneca so vielfach sonst ergeben: Seneca hätte sie offenbar nicht nur an dieser einen Stelle herangezogen. Das Bemerkenswerteste an den vorgeführten Zitaten ist, daß wir es in beiden Fällen mit römischen Autoren zu tun haben. Das gibt uns Mut, in dieser Richtung weiter zu suchen. In cap. X stoßen wir unvermutet auf eine Invektive gegen die luxuria, ein Abschnitt, dem Giesecke ratlos gegenübersteht. Zunächst ist festzustellen, daß Seneca hier zum ersten Male für uns greifbar jenes Thema angeschlagen hat, zu dem er später so oft und gern zurückgekehrt ist. Wir würden uns also nicht wundern, wenn wir erkennen müßten, daß Seneca es noch nicht gewagt habe, gleichsam auf eigenen Füßen zu gehen, sondern sich durch eine fremde Krücke habe in Gang bringen lassen. Das Vorbild, an das er sich angelehnt hat, heißt in diesem Fall Sallust. So sehr man auf dem so häufig betretenen Tummelplatz der accusatio luxuriae zur Zurückhaltung neigen mag und sich mit Bedacht davor hüten wird, sich auf einen bestimmten Namen festzulegen, hier sind wir einmal in der Lage, eine genauere Angabe machen zu können. Es genügt eigentlich, einen einzigen Satz herauszugreifen, um sofort zumindest gefühlsmäßig auf Sallust zu schließen: scilicet maiores nostri, quorum virtus etiamnunc vitia nostra sustentat. . . (Helv. X 7). Diese erste Vermutung wird bestätigt durch die bekannten Sätze aus der Digression Catil. 53: ac mihi multa agitanti constabat paucorum civium egregiam virtutem cuncta patravisse, eoque factum uti divitias paupertas ... superaret. set postquam luxu atque desidia civitas corrupta est rursus res publica magnitudine sua imperatorum atque magistratuum vitia sustentabat (Catil. 53, 4—5). Seneca hat den Gedanken vereinfacht und zusammengezogen, aber es ist gewiß, daß seinem Ausspruch jene sallustianische Sentenz zugrunde hegt3. Doch braucht man sich nicht nach gelegentlichen Berührungen umzusehen, wie sie etwa noch zwischen Helv. X 5 und lug. 89, 7 bestehen. Der ganze Inhalt von cap. X (und teilweise auch von cap. IX und XI) ist vielmehr kaum etwas anderes als eine Paraphrase jenes großen Exkurses am Anfang der 'Catilinarischen Verschwörung' (cap. X—XIII), eine Tatsache, die sich auch in der Übernahme von sallustianischen Phrasen kundgibt. Das fällt um so stärker ins Gewicht, da Seneca sonst stets einen solchen Vorgang eher zu verschleiern sucht. 1 Zum Problem vergleiche P. Germann, Die sogenannten Sententiae Varronianae, Paderborn 1910, dazu die Rezension F. Härders, W. kl. Phil. 28, 1911, S.397; ferner C . Weymann, Rh. Mus. 70, 1915, S.154. 2 Das Zitat trägt, wie ersichtlich, sentenzenartigen Charakter. 3 Die kühne Wortverbindung vitia sustentare ist singulär, wie das Thesaurus-Material erweist.
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Es möge das Vergleichsmaterial folgen: Helv. X I in qua (sc. pauper tate) nihil mali esse, quisquis modo nondum pervenit in insaniam omnia subvertentis avaritiae atque luxuriae, intellegit. X 2—3 corporis exigua desideria sunt: frigus submoveri vult, alimentis famen ac sitim exstinguere; quicquid extra concupiscitur, vitiis, non usibus laboratur. non est necesse omne perscrutari profundum . . .di istos . . . perdant, quorum luxuria etc. . . . epulas toto orbe conquirunt (vgl. X 5).
Catil. X 4 namque avaritia fidem probitatem ceterasque artis bonas subvortit. X I I I 3 set lubido stupri garteae ceterique cultus non minor incesserat. . . vescendi causa terra marique omnia exquirere . . . non famem aut sitim neque frigus1 neque lassitudinem opperiri, set ea omnia luxu antecapere.
/"X 4 C. Caesar . . . omnium adiutus ingenio vix tarnen invenit, quomodo trium provinciarum tributum una cena fieret. X7 scilicet maiores nostri, quorum virtus etiamnunc vitia nostra sustentat (s.o.), infelices erant, . . . quorum teda nondum auro fulgebant, quorum tempia nondum gemmis nitebant: itaque tunc per fictiles deos religiose iurabatur.
X X 12 aus der Brandrede Catilinas : . . . tarnen summa libidine divitias suas vincere nequeunt2.] X I I 3 — 4 . . . operaepretiumest, cum domos atque villas cognoveris . . . visere tempia deorum, quae maiores nostri, religiosissimi mortales fecere . . . illi delubra deorum pietate, domos suas gloria decorabant . . .
Über die Bauwut 3 s. I X 2. X I 3—4 sed desiderai (exul) aureis fulgentem vasis supellectilem et antiquis nominibus artificum argentum nobile, aes paucorum insania pretiosum . . . et nationum omnium lapides: ista congerantur licet, numquam explebunt inexplebilem animum, non magis quam ullus humor sufficiet ad satiandum eum, cuius desiderium non ex inopia, sed ex aestu ardentium viscerum ovitur, non enim sitis illa, sed morbus est. nec hoc in pecunia tantum — necessariis rebus et exilia sufficiunt, supervacuis non regna. Vgl. X u cupididati nihil est satis, naturae satis est etiam parum.
X I I I 1 (vgl. X X Ii). X I 5 — 6 ibi primum insuevit exercitus . . .signa tabulas pietas vasa caelata mirari (vgl. X X 12. L H 5. lug. L X X X V 39). X I 3 avaritia pecuniae Studium habet,
quam nemo sapiens concupivit; eo quasi venenis
malis imbuta
virilem
effeminai,
corpus
Semper
satiabilis est, neque inopia minuitur.
animumque
infinita
copia
in-
neque
Die letzten Worte Senecas 4 scheinen überhaupt erst das Verständnis des sonst in seiner paradoxen Antithese unerklärlichen sallustianischen Ausdruckes zu ermöglichen. Den Abschluß dieser Sittenschilderung bildet ein Ausfall gegen den bekannten Lebemann Apicius, der als Verkünder des raffiniertesten Luxus und als Gourmet einen Namen hatte, dessen böses Beispiel sich auf die Zeitgenossen, besonders aber auf die Jugend, in ansteckender Weise übertrug. Irre ich nicht, so hat Seneca in ihm ein Gegenstück zu Catilina schaffen wollen, dessen dämonische Persönlichkeit als die leibhaftige Verkörperung aller Entartung hinter Sallusts düsterem Gemälde steht. Ganz ebenso tritt Apicius als Inbegriff aller lasterhaften Ausschweifung auf, und seine Verführungskünste unterscheiden sich in nichts von jenen Catilinas: Helv. X 10 cum immensis epulis gloriaretur, cum vitia sua ostenderet, cum civitatem in luxuriam suam converteret, cum iuventutem ad imitationem sui sollicitaret, etiam sine malis exemplis per se docilem.
1 2 3
Catil. X I V 4 quodsi quis in amicitiam eius inciderai, cotidiano usu atque inlecebris facile par similisque ceteris efficiebatur. set maxume adulescentium familiaritates adpetebat; eorum animi molles aetate et fluxi dolis haut difficulter capiebantur.
Vgl. Sen. epist. 4, 10 8, 5. 25, 4 u. a. Z u Catil. X X 4 vgl. Sen. epist. 20, 5. 109, 6. De ira III 34, 2. 4 Vgl. auch Epist. 2, 6. Vgl. De tranq. an. I I I 7.
Sitzungsber. phil.-hist. KI. 1934.
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Man wird hier nicht mit dem Einwand kommen wollen, daß das eine oder andere dessen, was ich vorgelegt habe, auch bei diesem oder jenem Satiriker anzutreffen sei oder einen zu allgemeinen Charakter besäße. Die Gesamtheit der Argumente ist entscheidend und die beweist in ihrer nahezu lückenlosen sachlichen Geschlossenheit und Ubereinstimmung1, daß Seneca Sallust gefolgt ist. Wir können uns die Auswirkungen Sallusts auf die römische Welt ja überhaupt nicht groß genug vorstellen, jeder Zögling der Rhetorenschulen wird sich dessen Sentenzen für sein Leben haben aneignen müssen. Daher ist es begreiflich, daß Seneca, der sich allem Anschein nach zu Sallust hingezogen fühlte, gerade ihn zu Rate gezogen hat. Natürlich hat er den Stoff in seiner Weise gestaltet, und so müssen wir uns überall erst durch eine üppig wuchernde Rhetorik einen Weg bahnen, ehe wir Sallusts klare Formeln wiederfinden. Wer sich weiteren Einblick in dies Abhängigkeitsverhältnis verschaffen will, möge den sehr reizvollen Vergleich zwischen den ersten Kapiteln von Senecas Schrift De brevitate vitae (11. 4. II 1. 2) und der Praefatio des Bellum Iugurthinum (11—3) durchführen. Er wird auch dort zu ganz dem gleichen Ergebnis gelangen2. Noch in einer Hinsicht ist das Zusammengehen Senecas mit Sallust, das ich aufzudecken versucht habe, bedeutungsvoll. Es scheint nämlich, als ob die Benutzung Sallusts Spuren auch in dem Dialog De Providentia hinterlassen hat, der sich, wie wir sahen3, innerhalb gewisser Grenzen als ein Nachzügler der Consolatio ad Helviam ansehen läßt: De prov. II 2 cuinon industrioso otium poena est? (vgl. Helv. X 2 quod ad me pertinet, intellego me non opes, sed occupationes perdidisse).
Catil. X 2 qui labores, pericula . . . facile toleraverant, eis otium divitiae, optando alias, oneri miseriaeque fuere.
Hier handelt es sich offenbar um eine Sentenz, die nicht gerade alltäglichen Charakter besitzt. Manches spricht vielmehr dafür, daß Seneca sie aus Sallust bezogen hat, der seiner damaligen Geistesverfassung so weit, wie irgend möglich, entgegenkam4. Das läßt sich an einer weiteren Stelle des I. Dialoges ganz eindeutig erhärten. Den Höhepunkt der Schrift bildet das V . cap., in dem sich Seneca zu warmer Begeisterung emporschwingt, seine Unterordnung unter das Weltgesetz bedingungslos bejaht. Hier können wir ihn nun einmal förmlich überführen: ut efficiatur vir cum cura5 dicendus, fortiore fato opus est (De prov. V 9). Der gleiche Ausdruck, der Seneca offenbar ans Herz gewachsen war, kehrt wieder De tranq. an. X I V 10: non raptim relinquetur magnus vir et cum cura dicendus: dabimus te (sc. Canum) in omnem memoriam, clarissimum caput, Caianae cladis magna portio. Die Auflösung endlich bringt De benef. IV 1, wiederum an stark betonter Stelle: ex omnibus, quae tractavimus, Aebuti Liberalis, potest videri nihil tarn necessarium aut magis, ut ait Sallustius, cum cura dicendum. S. auch Epist. 60, 4 = Catil. 1, 1. Natürlich muß man dabei in Rücksicht ziehen, daß der Gegenstand der querellae generis humani bei beiden ein verschiedener ist, nämlich bei Sallust die fragilitas hominum naturae, bei Seneca dagegen die brevitas vitae. 3 Vgl. cap. II 1 d. Abh. S. 695fr. 4 Z. B. in der Auffassung der virtus, vgl. Catil. V I I 3—5: igitur talibus viris non labor insolitus, non locus ullus asper aut arduus erat, non armatus hostis formidulosus: virtus omnia domuerat. 6 Vgl. lug. 54, 1 saucios cum cura reficit. 1
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Lactantius führt Divin. institut. V I I 1 5 , 1 4 — 1 6 ein längeres Fragment aus einer verlorenen Schrift Senecas an, die, wie es scheint, stark mit Erwägungen historischer Art durchsetzt war 1 : non inscite Seneca Romanae urbis tempora distribuit in aetates . . . Die anschließenden Erörterungen, die diesen Grundgedanken2 im einzelnen ausführen, können hier außer Betracht bleiben. Den Abschluß des Zitates bilden die Worte 3 : sublata Carthagine, quae diu aemula imperii fuit, manus suas in totum orbetn . . . porrexit, donec regibus cunctis et nationibus imperio subiugatis, cum iam bellorum materia deficeret, viribus suis male uteretur, quibus se ipsa confecit. . . 4 . Ihnen liegt zugrunde die berühmte Stelle Catil. X 1, die, wie es scheint, massenhaft in jener Zeit verwendet ist 6 , die weiter, und darauf kommt es mir an, den Ausgangspunkt für jene Digression über die avaritia-luxuria bildete. Daß das Laktanzfragment dem Philosophen Seneca, nicht etwa dem Rhetor Seneca oder Annaeus Florus zuzuweisen ist, wird man trotz allem, was dagegen vorgebracht ist 8 , mit Westerburg 7 aufrechterhalten können, eine Annahme, die durch die oben behandelten Beziehungen noch eine gewisse größere Wahrscheinlichkeit erhält.
Seneca führt in der Consolatio ad Helviam der Mutter vor Augen, wie wenig ein Verbannter Grund habe, mit dem Schicksal zu hadern. Uberall in der Welt herrsche Unruhe und Veränderung: wieviele Menschen verließen freiwillig ihre Heimat, um sich in der Fremde niederzulassen und dort ein neues Glück zu begründen. Lehrt nicht die Geschichte, daß ganze Völker ausgezogen sind, sich ein anderes Reich in weit entlegenen Gegenden zu errichten ? omnes autem istae populorum transportationes quid aliud quam publica exilia sunt? quid te tarn longo circuitu traho? quid interest enumerare Antenorem Patavi conditorem et Euandrum in ripa Tiberis regna Arcadum conlocantem? quid Diomedern aliosque, quos Troianum bellum victos simul victoresque per alienas terras dissipavit? ... res quidem non desiderat plurium enumerationem; unum tarnen adiciam, quod in oculos se ingerit: haec ipsa insula saepe iam cultores mutavit. ut antiquiora .. . transeam, Phocide relicta Graii, qui nunc Massiliam incolunt, prius in hac insula consederunt... transierunt deindeLigures ineam.. .deductae deinde sunt duae civium Romanorum coloniae, altera a Mario, altera a Sulla . . . (Helv. VII 5—9). Seneca hat es meisterhaft verstanden, seinem Werke einen Fremdkörper einzuverleiben. Schwerlich wird es einem unbefangenen Leser zum Bewußtsein kommen oder ihm auch nur der Verdacht aufsteigen, daß die ethnographischen und kulturhistorischen Nachrichten über Korsika m i t s a m t dem vorhergehenden Bericht über die Irrfahrten der trojanischen Helden aus derselben 1 Solche historischen Querschnitte, nach bestimmten Gesichtspunkten angelegt, liebte Seneca, vgl. z. B. De benef. V 16—17. 2 Der vielleicht aus Ciceros II. Buch De re publica herausgewachsen ist. 8 Brandt zweifelt, ob diese Worte noch dem Zitat angehören, vgl. dagegen H. Peter, Hist. Rom. Reil. II S. 91 und Haase, Sen. frg. 99. 4 Auch die Worte ita consenuit, tamquam sustentare se ipsa non valeret sind in diesen Kreis einzubeziehen, vgl. Catil. 53, 4—5. 6 Vgl. Vell. I 12, 6. II 1, 1. Mela I 34. Plin. nat. V 76. 6 Vgl. vor allem L . Spengel, Abh. bayr. Akad. d. Wiss. IX 2, 1861, S. 317fr. Unger, Philol. 43, 1887, S. 438. O.Jahn ed. Flori praef. S. X X X V I I I f. O.Roßbach, De Sen. phil. librorum recensione et emendatione 1888 S. 164f. 7 Vgl. Rh. Mus. 37, 1882, S. 47—49.
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Quelle ausgehoben sind. Und doch kommen wir schwerlich um die Anerkennung dieser Tatsache hinweg. Der Quellenautor hieße auch in diesem Fall Sallust. Wo aber kann dergleichen gestanden haben? Die Antwort kann nur lauten: im II. Buch der Historiae. Die Häupter der demokratischen Umsturzpartei und Führer der etruskischen Insurgentenhaufen hatten sich nach dem Scheitern ihrer Unternehmungen auf die Inseln geflüchtet, um von dort aus den Anschluß an die noch im Felde stehenden Heerhaufen in Spanien zu gewinnen. Die Abfahrt verzögerte sich, da Lepidus auf Sardinien krank daniederlag und mit dem Tode rang. Hier hat nun Sallust offenbar die Gelegenheit wahrgenommen, um einen ethnographischen Exkurs über Sardinien und Korsika einzulegen, und was uns da die leider sehr wenig zahlreichen Fragmente zu berichten wissen, ist in hohem Maße bemerkenswert: Hist. II 6 Dietsch ( = Serv. Aen. I 242) 1 nort sine causa Antenoris posuit exempla, cum multi evaserint Troianorum periculum: ut Capys, qui Campaniam tenuit, Helenas qui Macedoniam, ut alii, qui Sardiniam secundum Sallustium. Fast noch wichtiger ist ein zweites Servius-Scholion zu Aen. I 299: illo enim tempore invatum dendarum terrarum causa fuerat navigatio, ut Sallustius meminit, facili mutatione sedium. Aus diesen Serviuszeugnissen erhalten wir die Uberzeugung, daß Sallust jene mythischen Völkerverschiebungen der trojanischen Zeit in den Kreis seiner ethnographischen Betrachtungen über Sardinien und gewiß auch über Korsika einbezogen hat2. Was aber erfahren wir über Korsika ?: Prise. V I p. 264 nam' vetus veteris commune est trium generum. et' Ligus' quoque 'Liguris commune. Sallustius in Il.historiarum: 'set ipsiferunt taurum exgrege, quemprope Ii tora regebat, Corsa nomine Ligus mulier .. Um welchen Vorgang es sich handelt, erhellt aus Isid. orig. 14,6,41: Corsicae insulae exordium incolae Ligures dederunt, appellantes ex nomine ducis. nam quaedam Corsa nomine Ligur3 mulier, cum taurum ex grege, quem prope Ii tora regebat, transnatare solitum atque per intervalla corpore aueto remeare videret, cupiens scire incógnita sibi patula, taurum a ceteris digredientem usque ad insulam navigio prosecuta est. cuius regressu insulae fertilitatem cognoscentes Ligures ratibus ibi profecti sunt eamque nomine mulieris auctoris et ducis appellaverunt. Die gesperrt gedruckten Worte lassen sallustianischen Sprachgebrauch erkennen, so daß man auch diesen ganzen Abschnitt im wesentlichen Sallust wird zusprechen dürfen. Isidor wiederum bildet das verbindende Mittelstück zu Nachrichten, die bei Sohn III 3 erhalten sind4: Ínter quas (Ínsulas) Corsicam plurimi in dicendo latius circumvecti plenissima nar1
Vgl. Serv. Aen. I 6015 s. auch Maurenbrecher hist. I I 8—9.
Vgl. Kritz S. 128 zu Sali. hist. I I 10; Dietsch S. 32 zu hist. I I 6. Sicher hat sich dabei Sallust auch Catos Origines zum Vorbild genommen. 2
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Ligus vulg.
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Vgl. Solinus ed. Mommsen S. 45, 4.
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randi absolverunt diligentia, nikilque remissum, quod retractanti non sit supervacuum: ut exordium incolis Ligures dederint, ut oppida extructa sint, ut colonias ibi deduxerint Marius et Sulla, ut ipsam Ligustici sinus adluat. Wir schließen mit Kritz 1 : »cum verborum . . . consensus cum Isidoro ostendat utrumque haec ex Sallustio expressisse, etiam reliqua Solini ex eodem auctore desumpta videri possunt«. So läßt sich trotz der trostlosen Uberlieferung durch vergleichende Betrachtung die Abhängigkeit Senecas an allen wichtigen Punkten mit einer ziemlich großen Sicherheit herausarbeiten: zweifellos hat Seneca im Sallust nachgeschlagen, der sich vielleicht unter den wenigen Autoren befand, die er gleich mit nach Korsika genommen hat. Mit diesen erschwerenden Verhältnissen, unter denen seine literarische Tätigkeit zumindest in den ersten Monaten des Exils zu leiden hatte, müssen wir überhaupt ganz erheblich rechnen. Vielleicht liegt darin auch der Grund, warum er die einschlägige griechische Literatur2 so vernachlässigt hat3. Was er benutzt hat, war leicht zu beschaffen, konnte sich sogar in den Händen eines jeden beliebigen anderen auf die Insel verschlagenen Römers befinden. Die Not- und Zwangslage, der sich Seneca in dieser Beziehung während der ersten Zeit auf Korsika gegenübersah, scheint auch in der Verwendung der römischen Exempla ihren Niederschlag gefunden zu haben. Es läßt sich nämlich in der Consolatio ad Helviam als einziger, soweit ich sehe, der Schriften Senecas völlige Übereinstimmung der Paradigmen mit Valerius Maximus aufweisen: vgl. Helv. X I I 5—7, ein Kapitel, das in raffinierter Weise den Anschluß an die normale ConsolatioArgumentation eher verdeckt als herstellt, mit Val. Max. IV 4, 2. 6. 10—11 (paupertas der römischen Nationalhelden Menenius, Regulus, Scipio) 4 . In dem einen Fall, wo wir nachprüfen können, zeigt es sich, daß Livius 6 Primärquelle war. Aus geringfügigen gemeinsamen Abweichungen Senecas (XII 7) und Livius' von Valerius Maximus und umgekehrt der beiden anderen von Seneca mag man geneigt sein, auf eine gemeinsame Vorlage für Seneca und Valerius Maximus zu schließen, die Livius besser in seiner ursprünglichen Gestalt bewahrt hat. Indessen Namen sind hier belanglos, wichtig ist nur die Tatsache, daß Seneca die ganze Exempelgruppe 6 einer einzigen Quelle entnommen hat'. So verrät sich in der ganzen Consolatio eine gewisse erzwungene Einfachheit des kompositioneilen Schemas, die aber Seneca geschickt zu verschleiern und neugierigen Blicken zu entziehen gewußt hat.
3. Probleme der Consolatio ad Polybium.
Wenn man den Weg rückblickend überschaut, der Seneca von der Consolatio ad Helviam zur Consolatio ad Polybium geführt hat, so läßt sich etwa folgendes Bild seiner inneren Entwicklung aufzeichnen innerhalb der Zeitspanne, die a.a. O. S. 130. Vgl. Cic. Tusc. III 82. 3 Siehe Giesecke a. a. O. 4 Vgl. Sen. nat. I 17, 8—9. Apul. apol. 18. 5 II 33> 11. ' Man beachte auch noch die casa Romuli Helv. IX 3 und die fictiles dei X 7 (dazu Val. Max. IV 4, 11). 7 Vgl. auch A. Klotz, Exempla und Epitoma Livii, Herrn. 44, 1909, S . 2 o i f f . 1
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zwischen der Veröffentlichung jener beiden Schriften liegt: Nachdem ihn das Verhängnis getroffen hatte, hatte er sich aufgerafft zu männlichem Widerstand und ruhiger Gefaßtheit. Als Zeuge dieser Geistesverfassung tritt uns die Consolatio ad Helviam entgegen, die bald nach dem Eintritt in die Verbannung geschrieben sein mag 1 . Von nun an aber überstürzt sich, wie es scheint, die Entwicklung, die immer mehr in ein verhängnisvolles Fahrwasser hineingerät: Seneca redet sich in ein Pathos, das ihn zu einer inneren Hochspannung emporpeitschte, der er auf die Dauer weder körperlich noch seelisch gewachsen war. So folgte fast unvermeidlich der Zusammenbruch, das Versinken in Trübsal und Schwäche, die sich bis zum demütigen Flehen um Gnade bei dem Kaiser herabließ. Wenn man die Uberreizung, wie sie sich in den Schriften dieser Zeit 2 dokumentiert, und die durch sie sich notwendig ergebende seelische Labilität abwägt, wird man zu der Erkenntnis gelangen, daß der zeitliche Abstand, der zwischen dem Dialog De Providentia und der Consolatio ad Polybium anzunehmen ist, durchaus nicht gar zu groß angesetzt zu werden braucht. Der Umschwung aus dem einen Ubermaß in das andere konnte sich schon durch das Eintreten eines scheinbar geringfügigen Ereignisses vollziehen. Da wir für die Consolatio ad Polybium wegen der Erwähnung von Claudius5 britannischem Triumph nicht über 43/44 hinausgehen können, hätten wir für jene Schriften etwa die Zeit von Anfang 42 bis ins Jahr 43 hinein zur Verfügung. Es bleibt übrig, mit einigen Worten auf die Consolatio ad Polybium einzugehen. Th. Birt 3 , dessen Verdienste um die Erkenntnis von Senecas Persönlichkeit nicht bestritten werden sollen, hat es unternommen, Seneca in den Augen der Nachwelt gleichsam zu rehabilitieren. Er hat den Nachweis zu erbringen gesucht, daß die Trostschrift nicht gar zuviel Selbstverleugnung von dem Philosophen verlangt habe. Sei sie doch gerichtet an den geistig hochstehenden, ihm befreundeten Freigelassenen des Kaisers, den er bat, seinen Einfluß für ihn in die Waagschale zu werfen. Nun ist es gewiß ganz unan1
Einige Monate müssen schon verstrichen gewesen sein, denn sonst hätte Seneca Helv. I 2 nicht sagen dürfen: dolori tuo, dum recens saeviret, sciebam occurrendum non esse, . . . expectabam itaque, dum ipse vires suas frangeret et ad sustinenda remedia mora mitigatus tangi se ac tractari pateretur. 2 Sie sind zu einem dichten Knäuel zusammengeballt. Ihre wahrscheinliche Reihenfolge wäre: De constantia sapientis, Consolatio ad Marciam, De ira III, De Providentia. In die Nähe dieser Schriften gehören auch zwei Epigramme (Birts Echtheitsverdächtigung ist grundlos), deren zeitliche Bestimmung uns die Consolatio ad Helviam erlaubt. Das eine — Nr. 405 — ist an den Freund Passienus Crispus gerichtet. Es beginnt mit den Worten Crispe, meae vires .. . Vers 10 quo solo careat si quis, in exilio est ist Nachklang von Helv. I X 4 : Brutus in eo libro, quem de virtute composuit, ait se Marceilum vidisse Mytilenis exulantem . . . beatissime viventem . . . itaque adicit: visum sibi se magis in exilium ire, qui sine illo rediturus esset, quam illum in exilio relinqui . . . quantus vir ille fuit, qui effecit, ut aliquis exul sibi videretur, quod ab exule recederet. Ebenso ist Epigramm 441 ein Nachzügler von Helv. X V I I I 6 (vgl. auch Münscher a.a. O. S. 25f.). 3 Senecas Trostschrift an Polybius und Bittschrift an Messalina N . J . f. kl. Alt. X X V I I , 1 9 1 1 , S. 596—601. Vgl. auch Münscher a . a . O . S . 2 9 — 3 2 .
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gebracht, wenn man die bedrängte Lage Senecas und seine daraus sich ergebende erregte Stimmung bedenkt, ihm seine 'Verfehlungen' vorzurücken und ein Verbrechen daraus zu machen. Aber so gering wird man das Opfer nicht einschätzen dürfen, das er seiner augenblicklichen und, wie die Zukunft lehrte, vorübergehenden Schwäche brachte1. Sicherlich hat es ihn Uberwindung gekostet, mit dem libellus fertig zu werden, mit dem Herzen ist er nicht dabeigewesen. Dafür spricht vor allem die fast unbeholfene Art, wie er die Ubergänge 'meistert' und den Gedanken vorwärtstreibt. Die folgenden Kapitelanfänge, die jeweilig einen neuen Abschnitt eröffnen, mögen das veranschaulichen : I II V V VI VII VIII IX X
4 I i 4 i I i I I
maximum ergo solatium est cogitare . . . illud quoque te non minimum adiuverit, si cogitaveris . . . illud quoque te non minimum adiuverit, si cogitaveris . . . pietatem . . . tuam nihil aeque a lacrimis . . . abducet, quam si cogitaveris . . . potest et illa res a luctu te prohibere nimio, si. . . haec tarnen etiamnunc levioribus te remediis adiuvabunt. . . Caesarem cogita . . . monstrabo etiamnunc non quidem firmius remedium .. . illud quoque magno tibi erit levamento, si . . . illud quoque . . . necesse est te adiuvet cogitantem . . .
Der mechanischen Art der Verknüpfung entspricht der auffallende Mangel an Gestaltungsvermögen, durch den die Schrift gekennzeichnet ist; von einem organischen Aufbau ist kaum etwas zu spüren. Die Consolatio steht in dieser Beziehimg weit zurück hinter der Trostschrift an Marcia und erst recht hinter derjenigen an die Mutter mit ihrer straffen Gliederung. Die Argumente sind ohne inneren Zusammenhang2, entwickeln sich nicht zwangsläufig auseinander, das Ganze ist diffus und wirkt nicht überzeugend in der Anlage. Langatmige Deklamationen wie in cap. II vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, wie lieblos vielfach die einzelnen Trostargumente zusammengerückt sind, die er 1 Man hat geglaubt, den Schwierigkeiten, die sich bei der Interpretation der Schrift nach allen Seiten hin ergeben, aus dem Wege gehen zu können, indem man sie für unecht erklärte und als spätes Machwerk verdächtigte. Lipsius, Diderot u. a. haben sich dazu durch ein gewiß nicht zu unterschätzendes Geschmacksurteil bestimmen lassen, und die Argumente, die in neuerer Zeit C . Buresch (Lpz. Stud. I X i , 1886, S. 114—120) vorgebracht hat, sind auch nicht völlig gegenstandslos. Aber die Vertreter der Unechtheitshypothese sind mit ihrer Ansicht nicht durchgedrungen. Gegen Buresch aufgetreten sind in mehreren umfangreichen Abhandlungen P. Stephanie (Wien. Stud. X X X I I , 1910, S.89—96) und vor allem Anton Siegmund (De Senecae consolationibus, Böhmisch-Leipa, Progr. 1912—1914), der sich mit redlichem Fleiß bemüht hat, die sprachliche Verwandtschaft der Consolatio mit den übrigen Schriften Senecas aufzuweisen. Indessen, was will man eigentlich damit beweisen? Es ist hinreichend bekannt, daß auch die 'Octavia' in Ausdruck, Stil und Stoffbehandlung mit Senecas unzweifelhaft echten Tragödien eng zusammengeht, und doch wird niemand, der weiß, wie sehr Seneca überall seine eigene Person verdeckt und im Hintergrunde behält, sie ihm zuschreiben wollen (vgl. Münschers Palinodie Burs. J. 1922, II S. 198—211 und R. H e l m s soeben in diesen Sitzungsber. erchienene Untersuchung). Ein objektiv gültiger Echtheitsbeweis wird sich also schwerlich in unserem Falle erbringen lassen, vielmehr sind wir m. E. nach wie vor auf unser subjektives Empfinden angewiesen. — Vgl. im übrigen auch W. Isleib, D e Senecae dialogo X I , Diss. Marburg 1906. 2 S. die Nachweise in cap. III 1 d. Abh.
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gleichsam aus seiner Vorratskammer hervorgeholt hat. Bezeichnenderweise beginnt er mit dem Unpersönlichsten und Allgemeinsten zuerst, das etwa in der Consolatio ad Marciam den versöhnenden Abschluß bildet. Und diese vielfach inhaltsleeren Phrasen, die kaum etwas von wahrer Anteilnahme merken lassen, werden unterbrochen durch Schmeicheleien gegenüber dem Caesar, die auch dadurch nicht erfreulicher werden, daß »Claudius damals noch nicht die Ungeheuerlichkeiten seiner letzten Regierungsjähre begangen hatte«. Es ließe sich vorstellen, daß Polybius wenig angenehm beeindruckt war, als er diese 'Consolatio' zu lesen bekam. Leicht also wird die Abfassung, so möchte ich schließen, Seneca nicht geworden sein, so sehr sich auch in manchem der geschickte Routinier verrät, vor allem in der Art, wie er den Kaiser allmählich in den Vordergrund treten läßt, ihn plötzlich in scharfer Wendung verläßt, um endlich, indem er erneut zu ihm zurückkehrt, mit seinen wahren Wünschen herauszurücken. Eine besondere Betrachtung möchte ich der vielbehandelten Stelle in cap. V I I I 3 widmen, wo Seneca dem Polybius zur Ablenkung von seinem Schmerz die Beschäftigung mit der Äsopischen Fabeldichtung empfiehlt. Die Frage lautet: welche Veranlassimg hatte Seneca, von diesen Dingen zu sprechen und ihnen einen bevorzugten Platz zuzuweisen, wie sind ferner die Worte intemptatum Romanis ingeniis opus zu deuten ? Hier wäre eine meines Wissens noch nicht vorgebrachte Erklärimg möglich, die im folgenden zur Diskussion gestellt sei. Wir haben auszugehen von der Tatsache, daß die Fabeldichtung für unser Gefühl unpassend von Seneca 1 hereingebracht wird, daß sie sich ferner insofern von den vorher in cap. V I I I 2 erwähnten literarischen Gattungen unterscheidet, als sie nicht in das Literaturgebiet fällt, dem Polybius schon bisher seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Ich möchte nun annehmen, daß Seneca zu seinem Vorgehen bestimmt wurde durch ein literarisches Zeitereignis, das gerade in j e n e m A u g e n b l i c k die Gemüter stark bewegte: er »ignoriert« nicht den Phaedrus, sondern er bringt auf eine deutliche Weise sein Mißfallen zum Ausdruck über die Art, wie jener seine Aufgabe bewältigt habe, und fordert förmlich dazu auf, nach diesem Versager den Versuch nun noch einmal erst richtig zu unternehmen. Die Worte intemptatum Romanis ingeniis opus enthielten also eine Spitze gegen Phaedrus, wie sie in dieser Schärfe kaum überboten werden konnte. Daß Seneca in intensivstem Briefwechsel mit seinen römischen Freunden stand, kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Er wird über jedes wichtige öffentliche Ereignis gut unterrichtet gewesen sein und wird gewiß auch dazu Stellung genommen haben, wie sich das noch in einem Falle nachweisen läßt. Ich meine die Polemik De brevitate vitae cap. X I I I gegen den Antiquar und Grammatiker Cornelius Valerianus, der ebenfalls ungenannt bleibt, dessen Schrift zu jenem Zeitpunkt gerade erschienen war 2 . Auf unseren Fall übertragen, heißt das: wir müssen, um die Consolatio-Stelle richtig zu verstehen, mit Entschiedenheit supponieren, daß damals und gerade erst damals die Fabelsammlung des Phaedrus in der Öffentlichkeit ihren größten Erfolg zu verzeichnen hatte, daß des weiteren Seneca, indem er deutlich auf sie anspielt, seine Unzufriedenheit mit jenem literarischen Erzeugnis augenfällig zum Ausdruck bringt. So gewinnen wir nach beiden Seiten hin, für Seneca wie für Phaedrus, einen interessanten Ausblick 8 . 1 Er war sich dessen wohl bewußt, wie die Worte difficile est quidem, ut ad haec hilariora studia tarn vehementer perculsus animus tarn cito possit accedere bezeugen. 2 Vgl. F. Münzer, Beiträge zur Quellenkritik der Naturgeschichte des Plinius, Berlin 1897, S. 370ff. 3 An der Tatsache, daß in den Jahren 43/44, als Seneca die Consolatio ad Polybium schrieb, der größte Teil der Fabelbücher (I—IV) bereits herausgegeben, also auch bekannt war, ist trotz der Hypothesen Havets (§ I34ff. seiner Phaedrus-Ausg.) nicht zu zweifeln. Daß Seneca mindestens
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IV. Die Schriften vom glückseligen Leben, i. De brevitate vitae. Die Dialoge De brevitate vitae, De vita beata und De tranquillitate animi bilden eine Kette unter sich verwandter Schriften, die sich um die Idee des beate vivere als den Mittelpunkt ihrer Erörterungen bewegen. Bedeutungsvoller als diese Tatsache ist die andere, daß sie sich über einen Zeitraum von nahezu 1V2 Jahrzehnten erstrecken und daß dementsprechend das Thema im Einklang mit der jeweilig hervortretenden Stimmung und Gemütsverfassung Senecas in wechselnder, öfters sich förmlich widersprechender Beleuchtung und Zurüstung erscheint. Unter diesen Umständen muß es als ein Erfordernis der Forschung gelten, jenen wechselseitigen und mannigfaltigen Beziehungen der drei Dialoge untereinander sorgsam nachzugehen und alsdann an ihnen den inneren Werdegang Senecas, die in seinem Charakter sich vollziehende fortschreitende Veränderung, wo es irgend möglich ist, aufzudecken. Die Schrift De brevitate vitae bezeichnet im Leben Senecas den Gipfelpunkt einer Entwicklung, die sich während der Jahre des Exils unter dem lastenden Druck der Verhältnisse angebahnt und fortgebildet hatte. Sie bedeutet zugleich ihren endgültigen Abschluß. Zwischen diesem Dokument eines in seiner Lebenskraft zurückgedrängten und niedergehaltenen Geistes, dem ein elementares Betätigungsbedürfnis angeboren war, und dem, was wir aus der Folgezeit besitzen, klafft ein Abgrund. Das verpflichtet uns, hier einen Trennungsstrich zu ziehen. Wir müssen das auch um so eher, da sich, unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, die bisher immer betonte Homogenität der Schriften Senecas an nicht wenigen Stellen in eine ausgesprochene Gegensätzlichkeit auflöst. Der Philosoph der Verbannung, der nach der nutzlosen Selbsterniedrigung der Consolatio ad Polybium den Weg zu sich zurückgefunden hatte, und der Mann, der den mächtigsten Einfluß im Staat besaß und ihn zu gebrauchen wußte, sind zwei Gestalten, die nicht immer gleichen Sinnes gewesen zu sein brauchen. Münscher1 hat in bündiger Weise den Nachweis geführt, daß die Schrift De brevitate vitae nicht in Rom während der kurzen Ubergangsfrist geschrieben sei, als Seneca noch nicht in den Kreis des Hoflebens einbezogen war, sondern jener ziemlich unmittelbar vorangehenden Zeitspanne angehöre, als noch jeder die Bücher I — I I I kennengelernt hatte, gibt auch G . Thiele (Philol. 70 S. 547) zu. Norden (Kunstpr. I S. 243) meint — auf Buechelers Erklärung hin — , »der Sklave Phaedrus existiere für den Aristokraten Seneca nicht«. Demgegenüber nimmt Thiele den vermittelnden Standpunkt ein, daß Seneca sich noch kein festes Urteil über Phaedrus habe bilden können und aus diesem Grunde die Fabeldichtung ein intemptatum Romanis ingeniis opus genannt habe. 1 a.a.O. S.31—44.
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Gedanke an eine Änderung seiner Lage müßig, jede Hoffnung unerfüllbar schien. Man wird Münscher, wie ich glaube, nur beipflichten können, denn der resignierte und bittere Ton, von dem das Ganze erfüllt ist, paßt keinesfalls zu der Stimmung eines Rehabilitierten, für den sich sichtbar die Kaiserin erwärmte und einzusetzen gewillt war 1 . Kommt man über die Datierungsschwierigkeiten nicht allzu schwer hinweg, so erregt die Schrift ein besonderes Interesse durch die Art, wie sie in eigentümlicher Weise mit dem Dialog De vita beata verknüpft ist. Wenn in den Anklagen dieser Schrift, die Seneca aufzunehmen sich hatte bequemen müssen, auf seine früheren großen Worte verwiesen wird, um zu zeigen, welche Widersprüche zwischen seinem wirklichen Lebenswandel und seiner Lehre herrschen, sind es gerade auch Äußerungen aus De brevitate vitae, auf die mit Vorliebe zurückgegriffen wird. Schon der zweite größere Abschnitt De vita beata X X I 1 gibt für sich allein das Stichwort: \ . . et inter longius tempus et brevius nihil inter esse iudicat,
tarnen, si nihil prohibet, extendit aetatem et in multa
senectute placidus viret?' Damit vergleiche man etwa die Ausführungen De brev. vit. X I 1 — 2 , die Seneca überschrieben hat: denique vis scire quam non diu vivant? vide quam cupiant diu vivere. Doch es bestehen noch weit schwerer ins Gewicht fallende Zusammenklänge:
mittis ...?'
. . quare et superiori verba sub-
(De vita beataXVII1). Hier ist die Dissonanz besonders grell:
deinde dementissima quorundam indignatio est: queruntur de superiorum fastidio, quod ipsis adire volentibus non vacaverint (De brev. vit. I I 5) und vor allem: sunt quos ingratus superiorum cultus voluntaria Servitute consumat (De brev.
vit. II 1). Aber auch sie wird fast noch überboten an einer dritten Stelle, wo sich nun die Beziehungen zu De brevitate vitae geradezu mit Händen greifen
lassen: \ . . cur non ad praescriptum tuum cenas? cur tibi nitidior supellex 2 est? . . . quare paedagogium pretiosa veste succingitur? quare ars est apud te ministrare3 nec temere et ut libet conlocatur argentum> sed perite (struitur) et est aliquis scindendi obsonii magister? (De vita beata
XVII2). Damit traf der Gegner allerdings ins Schwarze, denn wie hatte sich Seneca De brev. vit. X I I $ aufs hohe Pferd zu setzen gewußt: . . . convivia
mehercules horum nonposuerim inter vacantia tempora, cum videam, quam solliciti argen tum ordinent, quam diligenter exoletorum suorum tunicas succingant, quam suspensi sint, quomodo aper a coco exeat, qua celeritate signo dato glabri 1 Was Birt (N. Jahrb. f. kl. Alt. X X V I I , 1 9 1 1 , S . 3 5 5 Anm. 1) und Dessau (Hermes L I I I , 1918, S. 188—193) demgegenüber zur Begründung ihres eigenen abweichenden Standpunktes angeführt haben, besitzt m. E . ebensowenig Durchschlagskraft wie die gewaltsamen Konstruktionen des Franzosen R. Waltz. 8 Vgl. De tranq. an. 1 8 : Serenus — und durch seinen Mund Seneca — spricht von den A n fechtungen, denen er sich ausgesetzt fühlt: cum bene ista placuerunt, praestringit animum apparatus alicuius paedagogii, diligentius quam in tralatu vestita. 3 Vgl. Epist. 1 1 9 , 1 4 .
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ad ministeria discurrant, quanta arte scindantur aves in frustra non enormia . .. ex his elegantiae lautitiaeque fama captatur et usque eo in omnes vitae secessus mala sua illos sequuntur, ut nec bibant sine ambitione nec edant. Es ist begreiflich, daß gerade die Schrift De brevitate vitae die volle Aufmerksamkeit seiner von Haß- und Eifersuchtsgefiihlen erfüllten Widersacher finden mußte, daß sie mit Vorliebe von dort ihre Argumente und ihr Material sich zusammensuchten, um es alsdann gegen ihn zu verwerten. Der Kontrast zwischen dem stolzen Verzicht dieser Schrift und seinem späteren glänzenden Leben war zu groß, der Widerspruch zu den dort verkündeten Lebensregeln, der immer verhängnisvoller in die Erscheinung trat, zu augenfällig, als daß man sich dabei zu beruhigen vermochte. Indessen es hatte noch gute Wege, bis diese wachsame Gegnerschaft einen Vorstoß in die Öffentlichkeit wagen konnte. Vorderhand gelang es Seneca, nachdem sich die entscheidende Wandlung vollzogen hatte, seine Stellung bei Hofe immer stärker auszubauen und zunehmenden Einfluß auf den jungen Thronfolger zu gewinnen. Daß gerade er zum Erzieher berufen wurde, war nur in der Ordnung. Die Erziehungsgrundsätze, die er namentlich im II. Buch De ira 1 entwickelt hatte, kamen ihm jetzt zustatten. Man konnte auf sie verweisen, um seine besondere Eignung hervorzuheben. Allein die Gegensätzlichkeit, von der wir sprachen, prägt sich nicht nur in jener seltsamen Kampfstellung zwischen den beiden genannten Dialogen aus. Sie hat sich vielmehr in ähnlicher Weise auch in dem Dialog De tranquillitate vitae ausgewirkt. Nur ist der Unterschied hier, daß Seneca selbst sich veranlaßt fühlt, seine frühere Ansicht zu revidieren. Wenn er die Aufforderung des Athenodorus von sich weist, der, ihm zu früh entmutigt, auf politische Betätigung im Staat verzichtet, so fällt der Angriff auch auf ihn selbst zurück, da er in einem früheren Augenblick seines Lebens sich ganz ähnlich wie jener geäußert hatte. Demzufolge sind die Ausgangspunkte in beiden Schriften geradezu einander entgegengesetzt: tot maximi viri relictis omnibus impedimentis, cum divitiis officiis.. . renuntiavissent, hoc unum in extremam usque aetatem egerunt, ut vivere scirent2 (De brev. vit.VII 4) > numquam ... usque eo interclusa sunt omnia, ut nulli actioni locus honestae sit (De tranq. an. IV 8): Pflicht eines jeden Mannes, der noch tätig wirken kann, ist es, sich irgendwie der Allgemeinheit förderlich zu erweisen. Daher muß Seneca, wenn er sich im Dialog De otio zu früheren Ansichten zurückbekehrt, umständlich und entschuldigend beweisen, daß auch das Ideal eines Lebens, das der reinen Be1 Vgl. II 21. Siehe auch A. Fiegl, De Seneca paedagogo, Progr. Bozen 1886 und K. Prächter, Die griechisch-römische Popularphilosophie und die Erziehung, Progr. Bruchsal 1884. 2 Siehe auch VII 5 . . . itaque satis illi fuit: is vero necesse est defuisse, ex quorum vit a multa populus tulit.
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schaulichkeit gewidmet sei, im Rahmen der stoischen Lehre seinen Platz behaupte1. Diese gegensätzliche Einstellung Senecas in zwei wichtigen Abschnitten seines Lebens, die ich zu charakterisieren versucht habe, hat sich auch auf seine politischen Uberzeugungen übertragen. Während er De dementia I 9 die mißlungenen Verschwörungen und Anschläge gegen das Leben des Augustus dahin benutzt, um die Milde und politische Einsicht seines Lieblingskaisers im hellsten Lichte erstrahlen zu lassen, sollen die gleichen Vorgänge De brev. vit. IV 5 versinnbildlichen, auf wie fragwürdigem Unterbau selbst die stärkste Herrschermacht sich aufbaut 2 : dum ultra Rhenum et Euphraten et Danubium términos movet, in ipsa urbe Murenae, Caepionis, Lepidi, Egnati, aliorum... in eum mucrones acuebantur. nondum horum effugerat insidias: filia et tot nobiles iuvenes adulterio velut sacramento adacti iam infractam aetatem territabant. Die innere Wandlung in der Auffassung Senecas, die sich so innerhalb eines halben Jahrzehntes vollzogen hat, ist in der Tat sehr bemerkenswert. Der pessimistischen, nur die Schattenseiten erkennenden und mit ihnen ausschließlich rechnenden Betrachtungsweise in De brevitate vitae tritt in De dementia eine neue entgegen, welche Augustus aus jenen unglücklichen Vorkommnissen gerade die Kraft zu neuem segensreichen Wirken schöpfen läßt. Daneben findet sich naturgemäß auf neutralem Boden genug des Gemeinsamen, so überall dort, wo sich Seneca gegen die inconstantia sui, die levitas und falsa occupatio wendet. Doch es gilt jetzt, die Grundstimmung Senecas, die ihn während der Niederschrift des Dialoges beherrschte, mit möglichster Schärfe zu umreißen: at ille qui nullum non tempus in usus suos conferí, qui omnem diem tamquam vitam ordinat, nec optat crastinum nec timet. . . omnia nota, omnia ad satietatem percepta sunt, de cetero fors fortuna, ut volet, ordinet: vita iam in tuto est. huic adici potest, detrahi nihil (De brev. vit. V I I 9). Das ist das Bild eines durch schwere Jahre des Erlebens reif gewordenen und zur Erkenntnis gelangten Menschen, der seinen Lebenshaushalt in Ordnung gebracht hat und nun völlig in einer ideellen Welt aufgeht, an der die irdischen Zufälligkeiten abprallen: soli omnium otiosi sunt, qui sapientiae vacant, solivivunt. . . omne aevum suo adiciunt ( X I V 1). Von dieser Höhe schweifen seine Blicke auf die Nichtigkeit alles menschlichen Treibens herab. Alles Leben ist nur eine Vorbereitung auf den T o d 3 : tota vita discendum est mori (VII 3). Mit diesem Motiv kehren noch einmal alle die Gedanken wieder, die uns aus den Consolationes und den mit ihnen verknüpften Schriften so geläufig sind: quid ergo est in causa? tamquam Semper victuri vivitis: numquam vobis fr agilitas vestra succurrit (III 4) und nihil non longa demolitur vetustas et movet4 (XV 4). Die Nähe des Grabes läßt ihn nicht los: si quis inferís sensus est5 ( X V I I I 5). Doch vor allem ist sein Geisteszustand durch das Bedürfnis ausgezeichnet, sich über alles Rechenschaft abzulegen, mit sich über jeden einzelnen T a g im reinen zu sein 6 (III 3. V I I 9). So sucht er sich zu wappnen gegen die Möglichkeiten des necopinatum (IX 4), dessen zentrale Stellung in der Ideenwelt Senecas wir erkannt hatten. Scharf
Vgl. D e otio II f. Vgl. den gleichlautenden Bericht Plinius' d. Ä . über die adversa Augusti (nat. 7, 147—150). Auch hier ist der Bericht eingebettet in eine allgemeine Klage über die fragilitas generis humani (vgl. 7, 130fr.). 3 Vgl. Piatos Phaedon. 4 Vgl. besonders Polyb. I. 6 Vgl. Polyb. I X 1. 6 Vgl. De ira I I I 36. 1
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bekämpft er jede dilatio (IX i). Da ihm die Gegenwart und, wie es scheinen mußte, auch die Zukunft abgeschnitten war, verweilt sein Geist mit Vorliebe bei den praeterita (X 2 — 5 . X V I 1), eine Entwicklung, die schon in der Consolatio ad Polybium stärker hervorgetreten war 1 . Wie sehr er sich mit seinem Schicksal abgefunden hatte, wie sehr er überzeugt war, daß es ihn doch zu seinem Besten geleitet habe, zeigt, wie mir scheint, unverkennbar die Anekdote von Livius Drusus (VI 1—2). Wenn er sie erzählte, dachte er an die eigene Jugend, die genügend überzeugende Parallelen® aufwies, wollte er sich klarmachen, wohin auch er hätte gelangen können: ausus est enim et pupillus adhuc et praetextatus iudicibus reos commendare et gratiam suam foro interponere tarn efficaciter quidem, ut quaedam iudicia constet ab illo rapta. quo non erumperet tarn inmatura ambitio? scires in malurn ingens et privatum et publicum evasuratn < tarn } praecoquem audaciam. sero itaque querebatur nullas sibi ferias contigisse a puero seditiosus et foro gravis.
2. De vita beata. Der nach außen hin glücklichste Zeitraum seines Lebens war für Seneca bald wieder durchschritten: von neuem senkte sich das Verhängnis über ihn herab. Die zunehmende Entartung Neros gefährdete seine äußere Stellung, die für sein Gewissen kaum noch tragbare Belastung durch Mitverantwortung an Handlungen, die er hätte weit von sich weisen müssen, bedrohte seinen inneren Frieden. Aus den Reihen der Lebewelt, deren gelehrigster Schüler der Kaiser war, und den Kreisen einer politischen und persönlichen Gegnerschaft erwuchs ihm eine immer feindseliger und entschlossener auftretende Opposition. Im Suilliusprozeß ging sie zum ersten offenen Angriff über, den Seneca indessen noch abzuschlagen vermochte. Aber die Feinde hatten seine verwundbaren Seiten herausgefunden: omnem operam dedi, ut me multitudini educerem et aliqua dote notabilem facerem: quid aliud quam telis me opposui et malivolentiae quod mordetet ostendi? vides 3 istos qui eloquentiam laudant , qui opes sequuntur, quigratiae adulantur, qui potentiam extollunt? . . . quam magnus mirantium tarn magnus invidentium populus est (De vita beata II 3). Waren sie auch noch nicht imstande, ihn zu stürzen, so gelang es ihnen dennoch, ihn in seinem Selbstgefühl aufs empfindlichste zu treffen. Das zeigt seine Erwiderung in der Schrift De vita beata, die nur dem einen Zweck dienen soll, sein früheres Verhalten zu rechtfertigen, ihn womöglich von allen Flecken reinzuwaschen. Mehr noch als der sachliche Inhalt zeigt es die Form: eine tiefe Erbitterung hat ihm die Feder geführt, so daß die Polemik nicht selten in ein unerquickliches Gezänke ausartet. Das läßt erkennen, wie unbehaglich er sich fühlte. Aus den bequemen Lebens1
Siehe S . 7 2 7 . Vgl. Dio Cass. L I X 19, 7 f . 3 Durch diese Worte ist jeder Zweifel über die Person des Gegners behoben, auf den Seneca zielt, vgl. Tac. ann. X I I I 42 : variis deinde casibus iactatus et multorum odio meritus reus haud tarnen sine invidia Senecae damnatur. is fuit P. Suillius, imperitante Claudio terribilis ac venalis ... nec Suillius . . . exprobratione abstinebat .. . Senecam increpans .. . suetum livere iis, qui vividam et incorruptam eloquentiam tuendis civibus exercerent (vgl. ann. X I 5—7). 2
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gewohnheiten, denen er sich allem Anschein nach hingegeben hatte, wurde er mit einem unsanften Stoß aufgerüttelt. Im Grunde weiß er auf die Vorwürfe nichts zu erwidern, es waren Tatsachen, die er gelten lassen mußte. Aber das Bedenküche war, daß er sich für eine solche Polemik bereits früher festgelegt hatte, obschon er sich dessen schwerlich mehr bewußt sein mochte, und daß seine Einwände so von vornherein zur Wirkungslosigkeit verurteilt blieben: 'quare ergo tufortius loqueris quam vivis?' (De vita beata X V I I 1 ) . Wie wollte er diesem Angriff standhalten, er, der in der Consolatio ad Polybium X I 6 selbst warnend auf die Berechtigung eines derartigen Vorwurfes hingewiesen hatte?: lege, quanto spiritu ingentibus intonueris verbis: pudebit te subito deficere et ex tanta orationis magnitudine desciscere. ne commiseris, ut quisquis exemplaris modo scripta tua mirabatur quaerat quomodo tarn grandia tamque solida tarn fragilis animus conceperit. Dieser Satz 1 verkörpert gleichsam das böse Gewissen Senecas, das ihn hier dauernd umschwebt und nicht losläßt. Die ganze 'Beweisführung' ist denn auch in erstaunlicher Weise gemischt aus hochmütiger Zurechtweisung2 und halben Eingeständnissen, indem er sich bald den sapientes zugesellt, um seine eigene innere Überlegenheit zu begründen, bald sich als noch im Zustande der Unvollkommenheit befindlich bezeichnet, um auf die Weise sich alle Milderungsgründe zu sichern. Die Krone des Ganzen aber bildet die Art, wie Sokrates zur Deckung seiner Blößen herhalten muß und wie diesem die bitterböseste Scheltrede in den Mund gelegt wird (cap. XXVII). Im übrigen hat sich Seneca keineswegs eine schlechte Gesellschaft ausgesucht, um den 'Parallelfall' zu demonstrieren: Demokrit und Plato, Zeno, Epikur müssen ihm zuliebe in den gleichen Verdacht hinein, mag er auch sonst in anderen Schriften anders geurteilt haben. Noch von einer ganz anderen Seite her besitzt die Schrift ihre Bedeutung. Man hat sich bislang immer gewöhnt, für die Entstehimg der Bücherfolge De beneficiis allein den Umstand verantwortlich zu machen, daß Seneca sich über sein Verhältnis zu den ihm erwiesenen Wohltaten Neros auszusprechen wünschte. Allein der Dialog De vita beata fuhrt einwandfrei vor Augen, daß auch von seiner Seite her sich die beneficia in seine Gedankenvorstellungen einschoben. Die große Macht und der riesige Reichtum, der sich in seinen Händen anhäufte, machten es ihm leicht, nach allen Seiten freigebig Geschenke auszustreuen. Und da kamen Seneca.dann die Gedanken 3 : donabit aut bonis out eis quos facere potent bonos, donabit cum summo consilio dignisstmos eligens, 1 Späterhin hat er sich die Lektion zu Herzen genommen, wie manche Reminiszenzen in den Briefen zeigen, vgl. Epist. 24, 19. 26, 5. 75, 4 — 5 u. a. 2 V g l . X X V 8 sed vos aliter auditis; sonus tantummodo verborum ad aures vestras peruenit: quid significent non quaeritis u. a. 3
V g l . D e benef. 1 1 , 1 — 2 . 5, 2.
I I 1, 3. 33, 3.
I V 1 1 , 1 . 21, 3 u. a.
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ut qui meminerit tarn expensorum quam acceptorum rationem esse reddendam. . . (XXIII 5); errat si quis existimat facilem rem esse donare (XXIV I—3); nihil magis possidere me credam quam, bene donata. non numero nec pondere beneficia me ulla nisi accipientis aestimatione perpendam... nihil opinionis causa, omnia conscientiae faciam (XX 4); exorabor, antequam rogor, et honestis precibus occurram (XX 5). Das ist, auf eine schlagende Formel gebracht, schon im wesentlichen das Programm dessen, was die ersten Bücher De beneficiis enthalten. Es kann auf Grund dieser einen Tatsache als wahrscheinlich gelten, was durch andere Indizien längst bestätigt ist, daß sich Seneca bald, nachdem er jene Sätze in De vita beata niedergeschrieben hat, der Ausarbeitung des neuen Werkes zugewandt haben wird, dessen Inhalt ihn seit den Büchern De ira schon vielfach beschäftigt hatte. Bevor wir diesen persönlichsten aller Dialoge Senecas verlassen, müssen wir noch dem A u f b a u und der Gedankenführung unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Die Schrift setzt ein in gewohnter Weise, nichts läßt vorerst die ungewöhnliche Erregung des Schreibers ahnen. Wir haben vielmehr einen der für die Moralschriften normalen Eingänge 1 vor uns, der in typischer Weise das Thema umgrenzt. Doch bereits das zweite Kapitel enthält, nachdem das Stichwort argumentum pessimi turba est gefallen ist, einen allerdings noch vorsichtig verkappten Ausfall gegen die eine Front seiner Gegner (II 3—4)*. Dann biegt es wieder ins Abstrakte und Unpersönliche zurück. Die folgenden Kapitel sind angefüllt mit Definitionen der vita beata3, die Seneca sich mit Leichtigkeit für diesen Zweck bereitstellen konnte. Sie führen mit innerer Notwendigkeit zu einer Auseinandersetzung über das Verhältnis der virtus zur voluptas, und nun ist Seneca dem Ziele nahe, dem er von vornherein zustrebte. Wieder wird ein Hieb gegen einen unsichtbaren Gegner ausgeteilt (VI 1): 'sed animus quoque inquit 'voluptates habebit suas'. habeat sane sedeatque luxuriae et voluptatum arbiter. Die wohl beabsichtigte Gleichheit des Ausdruckes kann kaum einen Zweifel darüber lassen, daß der arbiter elegantiarum (Tac. ann. X V I 18), also Petron 1 , gemeint ist. Der Ingrimm Senecas, der in ihm gegen diese Sorte Menschen lauerte, verschließt ihm hier das Verständnis für manche Anschauungen der epikureischen Lehre, denen er, wie z. B. der cogitatio praeteritorum5, sonst sehr wohl gerecht zu werden weiß. Von mm an bewegen wir uns auf vertrautem Boden. Wiederum, wie wir es am augenfälligsten in der Consolatio ad Helviam und dem Dialog D e Providentia erleben konnten 6 , wird die virtus gegen die voluptas ausgespielt (VII 3): virtutem in templo convenies, in foro, in
Vgl. auch die Zusammenstellungen bei Bourgery a . a . O . S.98. Siehe S.742. 3 Die hier in cap. I I I — V gebotenen Definitionen (cap. V I 1 — 2 faßt die wesentlichen Momente noch einmal zusammen) stehen in den Briefen nacheinander abwechselnd im Mittelpunkt der Erörterungen: Epist. 94, 8 beatam esse vitam non quae secundum volu(p}tatem, sed secundum naturam. 124, 7. — 74, 1 maximum . . . instrumentum beatae vitae persuasionem unum bonum esse quod honestum. 10. (vgl. Cic. fin. III 28). 5—6 contemptus fortuitorum et extemorum. 29 beatum .. . in ipsa mente, grande, stabile, tranquillum. — 76, 16 sola ratio perfecta beatum facit. 92, 2. 3 quid est beata vita? securitas (vgl. 12, 9. 37, 3. 44, 7) et perpetua tranquillitas. hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene iudicati tenax (s. auch Cic. fin. I V 23 nat. deor. I 53). — 85, 1 ff. virtus ad explendam beatam vitam sola satis efficax (s. Cic. ac. I 35. II 134: Zeno). — 31,3 unum bonum est, quod beatae vitae causa etfirmamentum est sibifidere. Endlich noch die Feststellung 32, 3 {vita beata) beatior non fit, si longior (s. Cic. fin. I I I 46). 4 Vgl. Epist. 122, 2. 5 Vgl. auch Cic. fin. II 106. 6 Vgl. S. 698 f. 1
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curia, pro muris stantem, pulverulentam, coloratam, callosas häbentem manns: voluptatem latitantem saepius ac tenebras captantem . .. mollem enervem ... pallidam autfucatam et medicamentes pollinctam1. Und nun, hieran anschließend, häufen sich — verflochten in eine Polemik gegen jene, die ein maßvolles Sichhingeben an die voluptas befürworten 2 — die Übereinstimmungen mit De Providentia, bis endlich die cap. X V — X V I vollkommen in die Bahnen der früheren Schrift einlenken3. Wie die Schrift De brevitate vitae die besten Angriffsflächen bot 4 , so griffen seine Gegner mit der gleichen Schadenfreude nach dem anderen Dialog, um jenen Mann der großen Worte gegen den Seneca der Wirklichkeit auszuspielen. Wollte Seneca nicht das Spiel verlorengeben und die schwere moralische Demütigung ohne ernstlichen Widerstand hinnehmen, so mußte er den scheinbar hoffnungslosen Versuch unternehmen, die dort vorschnell eingenommene Stellung nicht aufzugeben, sondern so lange wie möglich zu behaupten. Hinter diesem verschleiernden Vorhang ließ sich durch geschicktes Ausweichen noch genug zur Verbesserung der Lage beitragen. Der Umschwung beginnt cap. X V I 3 ganz jäh: 'quid ergo ? virtus ad beate vivendum sufficit ?', wird aber sogleich noch einmal abgeschwächt durch die vorsichtige Formulierimg: hic qui ad superiora progressus est et se altius extulit, laxam catenam trahit nondum Uber, iam tarnen pro libero6. Jetzt hat Seneca den Boden gewonnen, auf dem er den Anklagen der Feinde ins Auge sehen, zu ihrer Widerlegung vorwärtsschreiten kann. Doch wohlweislich hütet er sich, sogleich den schwersten Vorwürfen entgegenzutreten, begnügt sich vielmehr, zunächst Momente von geringerer Bedeutimg vorzunehmen und auf ihre Tragweite zu prüfen. Inzwischen hat er Zeit gefunden, den Leser durch einen Schwall sophistischer Argumente irrezumachen und von den Hauptbeschwerden abzulenken (XIX 3): negatis quemquam praestare, quae loquitur, nec ad exemplar orationis suae vivere: quid mirum, cum loquantur fortia, ingentia, omtiis humanas tempestates evadentia? Erst nachdem er so genügend Vorarbeit geleistet hat, rückt er mit dem heraus, was ihm am schwersten in die Feder kam (cap. XXI). Die Art aber, wie er sich gegen den Hauptvorwurf 'quare ille philosophiae studiosus est et tarn dives vitam agit? quare opes contemnendas dicit et habet?' zur Wehr setzt, läßt den inzwischen vollzogenen Stellungswechsel klar heraustreten. Denn die Worte, die seine nunmehrige Auffassung wiedergeben, können auf keine Weise mit seinen früheren Äußerungen in Einklang gebracht werden: non amat (sapiens) divitias, sed mavolt; ... nec respuit possessas, sed continet et maiorem virtuti suae materiam subministrari volt (XXI 3). Der zuletzt von ihm vorgetragene Gedanke erlaubt es ihm, das Thema anzuschneiden, wie sehr gerade äußere Mittel dem sapiens seine Aufgabe erleichtern können (cap. X X I I — X X I V 3): welche Möglichkeiten eröffnen sich ihm, den Bedürftigen Gutes zu erweisen und sie durch tätiges Wohlwollen zu unterstützen? Auch ein Scheingefecht läuft Seneca dabei mit unter (XXII 5): 'quid ergo' inquis 'me derides, cum eundem apud te locum (divitiae) hdbent quam apud me' ? Der Einwand wird leichthin beiseitegeschoben: . . . apud me divitiae aliquem locum habent, apud te summum; adpostremum divitiae tneae sunt, tu divitiarum es. Nun geht es schnell dem Ende entgegen. Nochmals wird der Zustand der Unvollkommenheit betont (XXIV 4): aliud est studiosus sapientiae, aliud iam adeptus sapientiam. ille tibi dicet: 'optime loquor; sed adhuc inter mala volutor plurima. non est, quod me ad formülam meam exigas: cum maxime facio me et formo et ad exemplar ingens attollo; si processero quantumcumque proposui, exige ut dictis facta respondeant'. Angesichts dieser Vorbehalte war allerdings jeder Einspruch hinfällig geworden, denn auf die Weise konnte Seneca seine praktische Unzulänglichkeit jederzeit durch den Hinweis entschuldigen, daß es ihm wenigstens nicht am guten Willen gefehlt habe. Nicht minder leicht hat er es sich gemacht, wenn er sich im folgenden Kapitel seine Geringschätzung der irdischen Güter selbst bescheinigt. Fast herausfordernd aber wirkt
Die Anlehnung an die Prodikos-Parabel ist hier unverkennbar. Vgl. De benef. IV 2 , 1 — 4 . Epist. 85; besonders § 18 u . a . 3 Vgl. S. 703 f. 4 Vgl. S. 739 f. Das gleiche gilt von der Consolatio ad Helviam: vgl. De vita beata X X I 1 . . . et exilium vanum nomen putat et ait: 'quid enim est mali mutare regiones?' und Helv. V I — V I I . 6 Man beachte, wie geringschätzig Seneca De brevitate vitae V 3 über diesen Zustand der 'Halbfreiheit' geurteilt hat: semiliberum se dixit Cicero: at me hercules numquam sapiens in tarn humile nomen procedet, numquam semiliber erit. 1
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meines Erachtens die Art, wie er die virtutes scheidet in solche, quae in proclivi sunt (XXV 6), und jene quae clivom subeunt und daraus für sich die Folgerung zieht (XXV 7—8): ergo paupertati adhibebimus illas, quae pugnare sciunt, fortiores, divitiis illas diligentiores, quae suspensum gradurn ponunt et pondus suum sustinent. cum hoc ita divisum sit, malo has in usu mihi esse, quae exercendae tranquillius sunt, quam eas, quarum experimentum sanguis et sudor est1. Wer von seinen Gegnern hätte dem nicht für seine eigene Person beipflichten mögen ? Es setzt in Erstaunen, daß Seneca es wagen konnte, seinen nicht allesamt gutwilligen Lesern eine solche 'Logik' vorzusetzen, die ihre Ausläufer auch weiterhin erstreckt: Seneca sucht seine Widersacher zurückzuschieben, wie es nur angängig ist, ohne sich um die Berechtigung der eigenen Parade zu bekümmern.
So wirkt die Schrift, wenn man sich das Ganze noch einmal vergegenwärtigt, keineswegs immer überzeugend, sondern gehört eher zu den unerfreulichen Erscheinungen, wie wir werden sagen dürfen2. Seneca war, so möchte ich folgern, den Verlockungen des Reichtums anheimgefallen und moralisch nicht unbedenklich angefressen, als er jene Sätze niederschrieb. Es war ein Glück für ihn, daß sich sein Leben von neuem verhängnisvoll zuspitzte und ihn zur Selbsteinkehr führte. Aber es zeugt auch für den unverwüstlichen guten Kern seines Charakters, daß er sich so schnell und endgültig zurückgefunden hat. 3. De tranquillitate animi.
Einen erfreulichen Gegensatz zu der sophistischen Klopffechterei jener Gelegenheitsschrift bildet der Dialog De tranquillitate animi. In Seneca hat sich eine Wandlung vollzogen. Mit Gemessenheit spricht er von seinen Schwächen, deren er sich jetzt durchaus bewußt ist und die er offen zugibt, ist überhaupt ganz ehrlich wie selten, betont, und man glaubt es ihm hier, seinen guten Willen, auf dem Wege der steten Arbeit an sich selber zielbewußt vorwärtszuschreiten. Das Drama, das sich in seiner unmittelbaren Nähe abspielte, hatte ihn, so müssen wir vermuten, zur Selbstbesinnung gebracht. Von nun an wuchs er stetig über sich hinaus, um mit seinem Lebensende das Ideal zu erreichen, das er stets verehrt, nicht immer verfolgt, aber niemals aus den Augen verloren hatte. Der Dialog De tranquillitate animi ist entstanden am Wendepunkt seines äußeren Lebens. Daß die Schrift nahe an jenen Zeitpunkt heranzurücken ist, als nach Burrus' Tod Senecas schon lange erschütterte Machtstellung ins Wanken geriet, als es mit seinem Einfluß bei Hofe für immer zu Ende ging und er daran dachte, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, ist ziemlich allgemein 1 Diese Worte stehen in scharfem Gegensatz zu den Ausführungen in D e Providentia cap. I V 4 — 5 , kündigen aber ihrerseits die Stellungnahme an, die uns in den Briefen (vgl. Epist. 28, 7 u. a.) entgegentritt (s. S. 692). 2 A u c h wenn man seine Gereiztheit in Rechnung stellt und außerdem zugibt, daß vieles von dem, was er vorträgt, seiner inneren Überzeugimg in diesem Augenblick entsprechen mochte.
Sitzungaber. phil.-hist. Kl. 1934.
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anerkannt. Es gilt also nur noch die Frage zu klären, ob mit mehr Berechtigung an die Zeit vor oder nach Eintritt jener Ereignisse zu denken ist. Münscher ist geneigt, die erstere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen und ihr den Vorzug zu geben. Demgegenüber hatte sich Gercke1 zu der anderen Auffassung bekannt, die Münscher zurückweist2: » . . . aber auch Gerckes Ansatz ist unmöglich: er setzt die Abfassung des Dialoges Herbst 62 oder spätestens SommerHerbst 63 an, weil er darin eine Anzahl deutlicher Hinweise auf Senecas Rücktritt von allen Geschäften zu finden glaubte, die es nicht gestatten, 'die Schrift vor Burrus' Tod zu setzen': wo diese deutlichen Hinweise stehen sollen, hat Gercke nicht gezeigt.« Mir scheint, daß hier doch Gercke das Richtige getroffen hat, vielleicht ließe sich nachholen, was er unterlassen hat. Meines Erachtens enthält die Schrift ein getreues Spiegelbild der Stimmungen, die Seneca überkamen, der Überlegungen, die er bei sich angestellt hat, bevor er Nero mit dem Angebot der Güterrückgabe gegenübertrat, ein Ereignis, das alsbald den Stein ins Rollen brachte. Will man das nicht gelten lassen, so ist sie noch weiter hinaufzurücken als das erste Erzeugnis, man ist versucht zu sagen, als der erste 'Aufschrei' jener halb unfreiwilligen Muße nach Senecas Ausscheiden aus dem Staatsdienste. Behalten wir zunächst die Situation vor der Aussprache mit Nero im Auge. Daß Seneca unmittelbar vor der schwersten Entscheidung stand, die ihm bitter genug wurde, nämlich dem Rückzug aus dem öffentlichen Leben, scheint der fast verzweifelt klingende Ausruf cap. V 5 zu erweisen: non est enim servare se obruere. (vere), ut opinor, Curius Dentatus aiebat, malle se esse mortuum quam vivere (sepultum): ultimum malorum est e vivorum numero exire, antequam moriaris: ein Verzicht auf lebendige Wirksamkeit ist schlimmer als der Tod. Und doch kann es eine Lage geben, in der sich auch diese letzte Selbstbeschränkung nicht mehr umgehen läßt. Seneca fährt fort: sedfaciendum erit, si in reipublicae tempus minus tractabile incideris, ut plus otio vindices. So konnte er doch nur schreiben, wenn die Entscheidung schon in der Luft hing. Seneca ist sich auch bereits im klaren, daß er sich durch die Ereignisse nicht abdrängen lassen dürfe, sondern selbst den ersten Schritt unternehmen müsse: nec aliter quam in periculosa navigatione subinde partum petes nec expetess dorne res te dimittant, sed ab Ulis te ipse diiungas. Mit dieser entschlossenen Kundgebung schließt der allgemeine Abschnitt ab, der seinem Inhalt nach bestimmt war, die Erwiderung Senecas auf Athenodorus' Weisungen zu enthalten3. Jener hatte sich ihm gar zu schnell und klein1
a.a.O. S. 3 i 5 f . a.a.O. S . 6 1 . 3 Vgl. O. Hense, Seneca und Athenodorus, Progr. Freiburg i. Br. 1893, vor allem cap. III S. 27—38. 2
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mütig der Macht der Verhältnisse gebeugt: si praevalebit fortuna et praecidet agendi facultatem, non statim aversus inermisque fugiat latebras quaerens .. . sed sensim relato gradu et salvis signis cedendum (IV i). Denn noch bleiben Möglichkeiten einer ersprießlichen und der Allgemeinheit förderlichen Tätigkeit, als letztes : officia civis amisit, hominis exerceat (IV 3). numquam ita tibi magna pars obstruetur, ut non maior reliquatur. sed vide, ne totum istud tuum vitium sit; non vis enim nisi consul aut prytanis aut ceryx aut sufes administrare rem publicam (IV 4—5). Regte sich Senecas noch nicht bezähmte Herrschliebe, die ihm den Gedanken unerträglich machte, die Leitung des Staates aus den Händen zu geben? Man kann es kaum deutlicher empfinden 1 , welche Überwindung es ihn kostete, Abschied zu nehmen von einer Lebensform, die — wie sich die Dinge nun einmal gestaltet hatten—seine Persönlichkeit moralisch zu unterhöhlen drohte, wie schwer er sich entschloß, nach rückwärts auszuweichen. Doch es war unvermeidlich, Seneca erkannte, daß er unter die triarii versetzt war. Er ahnte, daß auch der letzte Schritt, die völlige Abkehr vom aktiven Leben, zu vollziehen sei. Da blieb ihm als einziger Trost (IV 7) : virtus utilitatem etiam ex longinquo et latens fundit und quid? tu parum utile putas exemplian bene quiescentis? Hier halten wir inne. Wir haben einen Einblick getan in die trotz aller eigenen Trostsprüche bedrückte Gemütsstimmung Senecas, die nur in der Schwere der unmittelbar bevorstehenden oder schon gefallenen Entscheidimg ihre Erklärung findet. Um das voll zu begreifen, muß man sich vor Augen halten, wieviel gelassener und mit wieviel größerem Abstandsgefühl er in der Schrift De otio und in den Briefen an überaus zahlreichen Stellen2 diese Fragen anrührt, die ihn noch bewegten, aber nicht mehr erschütterten. Wir sahen weiter, daß Seneca gewillt war, selbst die Initiative zu ergreifen und Fuß um Fuß, wenn es sein mußte, aber nach eigenem Entschluß und Ermessen (V 5) zurückzuweichen. Und nun vergleichen wir, was Tacitus ann. X I V 56 über den Rücktritt Senecas faktisch zu berichten hat: Seneca und Nero scheiden nach der Audienz scheinbar im besten Einvernehmen. Seneca, quifinisomnium cum dominante sermonum, grates agit. Aber er ließ sich nicht täuschen: sed instituta prions potentiae commutât, prohïbet coetus salutantium, vitat comitantis, rarus per urbem, quasi valetudine infensa aut sapientiae studiis domi adtinetur. Daß der Taciteische Bericht hier zuverlässig ist, hat Gercke 3 wahrscheinlich 1 Dabei wäre die Voraussetzung, daß Seneca sich selbst in die Anrede mit einschlösse, was m. E . zulässig ist (vgl. D e prov. I V 5, wo der Fall ähnlich zu liegen scheint; s. cap. I I 1 d. Abh.). 2 Es sind im Grunde genommen — wenigstens in der ersten größeren Hälfte der Briefsammlung — nur zwei Problemgruppen, die Seneca immer wieder behandelt hat: die brevitas vitae und hinter ihr stehend der T o d , andererseits alles, was sich um die tranquillitas animi, otium und vita beata bewegt. 8 a. a. O . S. 161 und S. 279—280.
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gemacht. Es bleibt also als Ergebnis: Ankündigung {ab illis te ipse diiunges) und Ausfuhrung sind völlig eins. Daß jene Ankündigving aber Jahre voraus erfolgt sein sollte, ist wenig glaubhaft. Näher läge es allenfalls umgekehrt, in jenen Sätzen eine nachträgliche Rechtfertigung seines Verhaltens zu vermuten 1 , wofür auch das düstere Bild cap. II 9—10, das wir nicht ganz außer Betracht lassen dürfen, zu sprechen schiene: . . . quae omnia graviora sunt, übt odio infelicitatis operosae ad otium perfugerunt, ad secreta studia, quae patinon potest animus ad civilia erectus agendique cupidus et natura inquies, parum scilicet in se solationum habens; ideo ... invitus aspicit se sibi relictum. hinc illud est taedium et displicentia sui et nusquam residentis animi volutatio et otii sui tristis atque aegra patientia. Auch das war ein Teil seines Ichs, mochte sich Seneca auch stellen, als ob er in eine ganz andere Richtung ziele. Aus den Worten könnte man vielleicht den Eindruck gewinnen, als ob er aus eigenen schmerzlichen Erfahrungen schöpfe. Doch ein solches Urteil würde zu einem guten Teil subjektiv bedingt sein. Man wird sich nicht verhehlen, daß andere Momente den Ansatz vor dem Rücktritt ratsamer erscheinen lassen, insbesondere die Betrachtungen über die Notwendigkeit, sich unter Umständen von einem Teil seiner Reichtümer trennen zu müssen. Wie wohltuend berührt hier neben dem pomphaften Getue der Schrift De vita beata der schlichte Satz (VIII 9): sed quoniam non est nobis tantum roboris (nämlich: auf alles zu verzichten), angustanda certe sunt patrimonia, ut minus ad iniurias fortunae simus expositi. Ganz entsprechend macht Seneca Nero den Vorschlag (Tac. ann. XIV 54): cum opes meas ultra sustinere non possim, praesidium peto. iube rem per procuratores tuos administrari, in tuam fortunam recipi. nec me in paupertatem ipse detrudams sed traditis quorumfulgore praestringor, quod temporis hortorum aut villarum curae seponitur, in animum revocäbo. Den klaren Verzicht hatte er ausgesprochen De tranq. an. X I 2—3: quandoque autem reddere iubebitur {sapiens), non queretur cumfortuna, sed dicet:'gratias ago pro eo, quod possedi habuique. magna quidem res tuas mercede colui, sed quia ita imperas, doy cedo gratus libensque. si quid habere me tui volueris etiamnunc, servabo; si aliud placet, ego vero factum signatumque argentum3 domum familiamque meam reddo, restituo'. Ist so die Schrift 9 entstanden unter dem Druck der schicksalsschweren Entscheidung, so ist sie andererseits in ihrer ganzen Haltung nicht zu verstehen ohne die Voraussetzung jener inneren Krise, die durch den Suilliusprozeß und seine Begleiterscheinungen ausgelöst war und Seneca zunächst zu den Tiraden des Dialoges D e vita beata fortgerissen hatte. Die Wandlung, die sich seitdem
1 Die Schrift würde alsdann ganz ebenso post festum erschienen sein, wie man dies neuerdings für den Dialog D e vita beata anzunehmen geneigt ist, der demnach nicht vor, sondern erst nach dem Suilliusprozeß geschrieben wäre. 2 Alles 'Sachliche' ist in den ersten Kapiteln — wie so oft anderswo — Beiwerk, soll nur dazu dienen, das Persönliche nicht allzu aufdringlich hervortreten zu lassen.
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in ihm vollzogen hatte, verrät sich in den offenen und menschlichen Worten, die er dem Serenus 1 in den Mund gelegt hat (I i6) 2 : puto multos potuisse ad sapientiam pervenire, nisi putassent se pervenisse, ttisi quaedam in se dissimulassent, quaedam opertis oculis transsiluissent. non est enim, quod magis aliena iudices adulatione perire quam nostra, quis sibi verum dicere ausus est? quis non inter laudantium blandientiumquepositusgregesplurimum tarnen sibi ipse adsentatus est? Auf der anderen Seite hatten ihn jene Vorwürfe, die ihn aus seiner Selbstzufriedenheit aufgerüttelt hatten, gelehrt, dem Zustande der menschlichen Unvollkommenheit in höherem Maße Rechnung zu tragen, vgl. besonders cap. X und den überleitenden Satz X I x, wo er betont: ad imperfectos et mediocres et male sanos hic mens sermo pertinet, non ad sapientem. Diese ausgesprochene Tendenz ist das einigende Band, zieht sich wie ein roter Faden durch alle die Werke, die in dieser Periode seines Schaffens entstanden sind : totiens admoneam necesse est non loqui me de sapientibus . . . sed de imperfectis hominibus honestam viam sequi volentibus (De benef. II 18, 4). 1 Indem er sich hinter die Dialogperson des Serenus zurückzog, konnte er um so rückhaltsloser sprechen. 2 Vgl. Epist. 59, 11.
Ausgegeben am 16. Oktober.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei. Sitzungsber. phil.-hist.KJ. 1934.
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Bekanntmachung. Vom i. Januar 1932 ab gelten für den Bezug der »Sitzungsberichte« der Preußischen Akademie der Wissenschaften die folgenden Bestimmungen: 1. Jede einzelne Arbeit ist wie bisher einzeln käuflich. 2. Ferner wird eine Subskription nach Fachgruppen eröffnet. Folgende Gruppen sind vorläufig in Aussicht genommen: a) Mathematik. b) Physik, Chemie, Mineralogie, Astronomie, Astrophysik, Technik. c) Geophysik, Geodaesie, Geologie, Geographie. d) Botanik, Zoologie, Palaeontologie, Anatomie, Physiologie. e) Philosophie. f) Geschichte des Altertums. g) Mittlere und neuere Geschichte. h) Kirchengeschichte. i) Rechts- und Staatswissenschaft. k) Allgemeine, deutsche und andere neuere Philologie. 1) Klassische Philologie, m) Orientalische Philologie. n) Kunstwissenschaft, Archaeologie und Vorgeschichte. Die Subskribenten auf eine oder mehrere dieser Fachgruppen erhalten alle zu der betreffenden Gruppe gehörigen Arbeiten (einschließlich der nicht im Buchhandel erscheinenden kleinen Mitteilungen) mit einem Preisnachlaß von 20 °/0. Die Subskription verpflichtet zur Abnahme aller im Laufe eines Kalenderjahres in der betreffenden Fachgruppe erscheinenden Arbeiten. Sie kann jederzeit eröffnet werden, jedoch nicht mit rückwirkender Kraft. Wird die Subskription nicht spätestens zum 1. Dezember widerrufen, so gilt sie als stillschweigend erneuert für das folgende Jahr. Die Subskription erfolgt durch den Verlag von Walter de Gruyter & Co. in Berlin W10, Genthiner Str. 38. 3. Endlich erscheinen die »Sitzungsberichte« auch wie bisher in Jahresbänden, und zwar getrennt in »physikalisch-mathematische Klasse« und »philosophisch-historische Klasse«. Das Abonnement auf die Jahresbände erfolgt in derselben Weise wie die Subskription auf die einzelnen Fachgruppen. Für die Abonnenten auf die Jahresbände der »Sitzungsberichte« einer einzelnen Klasse beträgt der Vorzugspreis 48 JIM, für jede Klasse, für die Abonnenten auf beide Klassen zusammen 80 JiJl. Nach Abschluß der vollständigen Jahrgänge wird ein höherer Ladenpreis festgesetzt. Preußische Akademie der Wissenschaften,