Unmittelbarkeit und materielles Recht [1 ed.] 9783428541874, 9783428141876

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt bis heute als fundamentales Prinzip der strafgerichtlichen Hauptverhandlung. Aus Grün

122 85 2MB

German Pages 385 Year 2014

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Unmittelbarkeit und materielles Recht [1 ed.]
 9783428541874, 9783428141876

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Schriften zum Prozessrecht Band 233

Unmittelbarkeit und materielles Recht Von Matthias Krüger

Duncker & Humblot · Berlin

MATTHIAS KRÜGER

Unmittelbarkeit und materielles Recht

Schriften zum Prozessrecht Band 233

Unmittelbarkeit und materielles Recht Von Matthias Krüger

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Berlin.

Die Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat diese Arbeit im Herbst 2009 als Habilitation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-14187-6 (Print) ISBN 978-3-428-54187-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84187-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Aaron

Vorwort Die Arbeit lag der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Herbst 2009 als Habilitationsschrift vor. Für die Veröffentlichung wurde sie auf den Stand von Dezember 2013 gebracht. Mein Dank gilt zuvörderst Herrn Prof. Dr. Hans Lilie. Als mein akademischer Lehrer hat er die Entstehung der Arbeit von Beginn an geduldig und konstruktiv begleitet. Seine Ideen und Anregungen haben in vielfältiger Art und Weise Eingang in die Schrift gefunden. Von besonderem Vorteil war dabei seine praktische Sicht auf Unmittelbarkeits- und Beweisfragen, mit denen er sich in seiner nebenamtlichen Tätigkeit als Richter am Landgericht konfrontiert sah. Meine Über­ legungen haben davon sicher profitiert. Mein Dank beschränkt sich aber keinesfalls auf die berufliche Seite von Herrn Prof. Lilie. Durch seinen persönlichen Zuspruch hat er mir zudem durch und über Zeiten geholfen, in denen mir die Arbeit an der Habilitation nicht gerade leicht von der Hand ging. Des Weiteren ist Herrn Prof. Dr. Christian Schröder zu danken. Er hat nicht bloß die Mühen eines schnell erstellten Zweitgutachtens auf sich genommen und dabei wertvolle Hinweise gegeben. Während der Anfertigung der Habilitationsschrift haben mir überdies seine aufmunternden Worte sehr gut getan und überaus geholfen. Ferner sei Herrn Prof. Dr. Werner Beulke gedankt. Seinem raschen Gutachten, das er trotz zahlreicher anderweitiger Verpflichtungen angefertigt und mit weiter­ führenden Anregungen versehen hat, ist es zu verdanken, dass mein Habilitationsverfahren innerhalb kürzester Zeit über die Bühne gehen konnte. Mein Dank gilt ferner meinem Münchner Team, das mir seit meinem Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität unmittelbar nach meiner Habilitation viel Freude bereitet. Es hat mir dabei geholfen, sozusagen aus dem Nichts eine Professur aufzubauen, und diesen Kraftakt mit Bravour gemeistert. Bei der Veröffentlichung meiner Habilitationsschrift haben sich insbesondere Frau Annika Straub, Frau Sophia Maurer und Herr Tim Degenkolb verdient gemacht. Sie haben die Literatur auf aktuellem Stand gehalten, das Korrekturlesen über sich ergehen lassen und in akribischer Arbeit das Sachwortverzeichnis erstellt. Meine Sekretärin, Frau Marlies Rentoulis, hat es zudem vermocht, meine handschriftlichen Notizen im Manuskript umzusetzen. Aus meinem persönlichen Umfeld gebührt von den Menschen, die mir dankenswerterweise auf dem zuweilen steinigen Weg zur Habilitation geholfen haben, Frau Dr. Dunja Lautenschläger ein ganz besonderes herzliches Dankeschön. Sie

8

Vorwort

hat mir die Freiräume gewährt, um diese Arbeit schreiben zu können, und selbst in schwierigen Zeiten durch Wort und Tat zu deren Fertigstellung beigetragen. Schlussendlich ist noch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den groß­ zügig gewährten Druckkostenzuschuss zu danken. München, Januar 2014

Matthias Krüger

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1. Teil



Dogmatische Grundlagen

26

1. Kapitel

Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen 26

I. Begriff und Bedeutung von Prozessmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Funktionen und Geltungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Rechtspolitische Dimension von Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Geschichtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 aa) Verfahrensprinzipien während der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 bb) Verfahrensprinzipien im Strafverfahren der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Strafrecht und Rechts- bzw. Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Klassische versus verfassungsrechtliche Prozessmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2. Kapitel

Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens 40

I. Das Strafverfahren als Mittel zur Durchsetzung und Anwendung des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Strafprozessrecht als bloßes Hilfsrecht des materiellen Strafrechts . . . . . . . . . . . 42 2. Gleichrangigkeit zwischen Straf- und Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Emanzipation des Strafverfahrens(rechts) vom materiellen Strafrecht . . . . . . . . 45 4. Stellungnahme und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II. Das Strafverfahren als Mittel zur Erforschung und Ermittlung der (materiellen) Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Achtung der Menschenwürde und Grundrechte des Beschuldigten als Ziel des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

10

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel



Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime 55

I. Schutzfunktion für den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Historische Dimension – Unmittelbarkeitsgrundsatz als Prinzip der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Wandel im Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Möglichkeit zur besseren Wahrheitserforschung durch eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

2. Teil



Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

63

4. Kapitel

Sinn und Zweck von § 250 StPO 65

5. Kapitel

Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO 66

I. Vernehmung des Bundespräsidenten und anderer hochrangiger Repräsentanten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Parallelvorschriften der §§ 375 Abs. 2, 382 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Streit um die Anwendung auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten . . . . . . . 68 3. Sinn und Zweck der Regelungen im Hinblick auf die Diskussion um den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Vermeidung von Störungen der Amtstätigkeit (h. M.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Kritik an der h. M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Glaubwürdigkeit von (hochrangigen) Repräsentanten des Staates als systemimmanenter Grund für die Ausnahme von Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 76 aa) Staatstheoretische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 bb) Gesetzliche Regelungen zur Zwangsvollstreckung gegen den Staat . . . . 80 cc) Besonderheiten im zivilprozessualen Erkenntnisverfahren gegen den Staat 84 4. Fazit für §§ 49, 50 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II. Zeugenvernehmung durch beauftragten oder ersuchten Richter . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Voraussetzungen von § 223 Abs. 2 StPO, insbesondere „große Entfernung“ . . . . 89 2. Kommissarische Vernehmung und gerichtliche Amtsaufklärungspflicht . . . . . . . 90 a) Aspekt der Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Inhaltsverzeichnis

11

b) Aspekt der Schwere der Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Kommissarische Vernehmung gemäß § 223 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 III. Verlesung von Protokollen früherer Vernehmungen (§ 251 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Videovernehmung, insbesondere § 255a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Verlesung gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Schriftstücke zu Vermögensschäden (§ 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO) . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Verlesung von Behörden- und Ärzteerklärungen (§ 256 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Verlesung von Behördenerklärungen gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO . . . . . . . 109 2. Verlesung von Sachverständigengutachten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO . . 112 3. Verlesung von ärztlichen Attesten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . 114 a) Ansehen des Ärztestandes als Grund für die Ausnahme vom Unmittelbarkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Inhalt des ärztlichen Attests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Verlesung von Routinegutachten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO . . . . . . . . . . . . 122 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Teil



Formelle Unmittelbarkeit

125

6. Kapitel

Formelle Unmittelbarkeit de lege ferenda 127

7. Kapitel

Formelle Unmittelbarkeit de lege lata 129

I. Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. § 355 ZPO als Regelung zur formellen Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Entstehungsgeschichte und weiterer gesetzlicher Werdegang der Vorschriften zum zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Sinn und Zweck von (formeller) Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . 141 4. Ausnahmen vom Grundsatz der (formellen) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Beweisaufnahme durch beauftragte oder ersuchte Richter (§ 375 ZPO) . . . . . 144 aa) Zeugenvernehmung anlässlich eines Ortstermins gemäß §§ 375 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, 219 Abs. 1 Alt 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Verhinderung des Zeugen oder Unzumutbarkeit seines Erscheinens vor dem Prozessgericht (§ 375 Abs. 1 Nr. 2 und 3 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . 147 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

12

Inhaltsverzeichnis b) Zeugenvernehmung durch den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Gesetzliche Regelung der Kammern für Handelssachen . . . . . . . . . . . . . 150 bb) „Sachkunde der Handelsrichter“ für die Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . 152 c) Fazit zu den gesetzlichen Ausnahmen vom zivilprozessualen Unmittelbarkeits­ grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5. Heilung von Verstößen gegen die (formelle) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Heilung gemäß § 295 Abs. 1 ZPO versus deren Ausschluss gemäß § 295 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Abgrenzungsversuche bei § 295 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Unmittelbarkeitsmaxime und § 295 Abs. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (1) Argumente aus der Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (2) Systematische Argumente – Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip und seine Rolle in Offizialverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (3) § 284 Satz 2 ZPO als Schlüssel zur Lösung des Problems . . . . . . . . . 162 b) Heilung und freie Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6. Fazit zur (formellen) Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

II. Formelle Unmittelbarkeit im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Formelle Unmittelbarkeit und Akteneinsichtsrecht von Schöffen . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Argumente pro Akteneinsichtsrecht aus anderen Zusammenhängen . . . . . . . . . . 178 a) Fragerecht von Schöffen gemäß § 240 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Vortrag des Berichterstatters in der Berufung als Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 d) Laienrichterbeteiligung an Haftsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. § 30 GVG als gesetzliche Grundlage eines Akteneinsichtsrechts für Laienrichter 190

4. Teil



Materielle Unmittelbarkeit

194

8. Kapitel

Materielle Unmittelbarkeit de lege ferenda 195

I. Begriff und Inhalt eines sachlichen Prinzips materieller Unmittelbarkeit . . . . . . . . . 195 II. Rangfolge von Beweismitteln als Konsequenz eines sachlichen Prinzips materieller Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Inhaltsverzeichnis

13

9. Kapitel

Materielle Unmittelbarkeit de lege lata 197

I. Materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Schriftliche Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 ZPO) als spezielle Regelung zur materiellen Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) „Inhalt der Beweisfrage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) „Person des Zeugen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Ermessen des Gerichts und Position der Parteien zur schriftlichen Aussage . 203 2. Amtliche Auskunft (§ 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Allgemeine Überlegungen zu materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . 205 a) Ausgangspunkt der h. M. – Wider die materielle Unmittelbarkeit im Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Befürworter materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 208 aa) § 377 Abs. 3 ZPO als Ausnahmeregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 bb) Inkonsequenzen der h. M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Materielle Unmittelbarkeit zwischen Parteimaxime und freier Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 aa) Verhandlungsmaxime als Argument contra materielle Unmittelbarkeit . . 217 bb) Freie Beweiswürdigung als Argument pro materielle Unmittelbarkeit . . 220 cc) Materielle Unmittelbarkeit im Zusammenspiel von Beweisaufnahme und -würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Unmittelbarkeit im Verwaltungsgerichtsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Rechtsprechung und Schrifttum zum Unmittelbarkeitsgrundsatz im Verwaltungsgerichtsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2. Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Vorschriften zur Beweisaufnahme (§§ 96, 98, 87 Abs. 3 VwGO) . . . . . . . . . . 235 b) Untersuchungsgrundsatz gemäß § 86 Abs. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 c) Freie Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. Unmittelbarkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in FGG-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a) Rechtslage vor der FGG-Reform vom Herbst 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 b) Rechtslage nach der FGG-Reform vom Herbst 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Exegese der Normen zur Beweisaufnahme in der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Hinblick auf (materielle) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Beweiswürdigung und (materielle) Unmittelbarkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

14

Inhaltsverzeichnis

IV. Materielle Unmittelbarkeit im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Materielle Unmittelbarkeit und gerichtliche Amtsaufklärungspflicht . . . . . . . . . 258 a) Auffassung von Geppert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 aa) Historische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (1) Unmittelbarkeit vor Geschworenengerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (2) Entstehungsgeschichte von § 244 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (3) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 bb) Systematische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. Materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) . . . . . . . . . 279 a) Prozessmaximen als Erfahrungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 b) Allgemeine Anforderungen an Erfahrungssätze im Rahmen der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 c) Materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

5. Teil

Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz

291

10. Kapitel

Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht 292

I. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Stimmen aus der verfassungs- und (straf-)prozessrechtlichen Literatur . . . . . 297 2. Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Materielles Strafrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 b) Strafprozessrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 c) Unmittelbarkeitsgrundsatz und Menschenwürde (Art. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . 302 II. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Konfrontationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 2. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Art. 6 Abs. 1 MRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Inhaltsverzeichnis

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11. Kapitel

Sachliche Überlegungen im Rahmen einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes 311

I. Aspekt der (besseren) Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei unmittelbarer Vernehmung durch das erkennende Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Rechtsprechung zu non-verbalem Aussageverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Glaubwürdigkeit und blinder Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Glaubwürdigkeit und Videovernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 c) Polygrapheneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3. Auseinandersetzung mit dem Schrifttum zur (Un-)Beachtlichkeit von non-verbalem Aussageverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 II. Der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seinem Verhältnis zum materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1. Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 2. Historische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 3. Unmittelbarkeit und materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 a) Unmittelbarkeit und Rechtsfolgenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Unmittelbarkeit und Tatbestandsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 aa) Beleidigendes Schriftstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 bb) Anstiftung durch Schriftstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 cc) Betrug durch reißerische Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 4. Differenzierung nach tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne 340 a) Ansätze der Differenzierung im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 aa) Tat- und täterbezogene Merkmale im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 (1) Tat- und täterbezogene Mordmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 (2) Tat- und täterbezogene Strafzumessungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . 342 bb) Tat- und täterbezogene Merkmale im Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . 343 (1) Verlesungsvorschrift des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . 343 (2) Verlesungsvorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . 344 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 b) Sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 c) Sachliche und/oder gesetzliche Kriterien für die Differenzierung . . . . . . . . . 350 aa) Verbrechensaufbau als Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 bb) Maßstab des § 28 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

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Inhaltsverzeichnis d) Umsetzung der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 aa) Umsetzung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 bb) Umsetzung de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 e) Vorschlag für eine gesetzliche Regelung der Differenzierung . . . . . . . . . . . . 355

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Einführung „Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit zur Heranziehung des bestmöglichen Beweises dadurch erweitert, dass er der audiovisuellen Vernehmung den Vorrang vor der Verlesung des Protokolls einer kommissarischen Vernehmung einräumt, soweit dies nach der Auffassung des Gerichts ‚zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist‘. […] Bei der Entscheidung, ob das Gericht von der Möglichkeit des § 247a StPO Gebrauch machen will oder nicht, ist insbesondere die durch das technische Medium und die fehlende körperliche Anwesenheit eingeschränkte Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 250 Satz 1 StPO) zu beachten. Zu berücksichtigen wird auch sein, dass sich eine auf Distanz befragte Person dem durch Frage und Antwort entstehenden Spannungsverhältnis wird eher entziehen können als in direktem Kontakt in ein und demselben Raum. Durch die technisch bedingte Distanz wird es zudem schwieriger sein, im Vorfeld der Aussage Hemmungen abzubauen, Vertrauen zu erwecken und sich selbst einen hinreichenden Eindruck von der individuellen Eigenart der Auskunftsperson und ihrem non-verbalen Aussageverhalten zu verschaffen.“

In dieser Passage – aus einem Urteil des BGH zur audiovisuellen Vernehmung1 – kommt nicht bloß der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme expressis verbis vor. Vielmehr umschreibt sie zugleich seinen Inhalt sowie Sinn und Zweck nahezu umfassend, und zwar in ebenso anschaulicher wie plastischer Weise. Dies derart komprimiert getan zu haben, ist durchaus ein – sicher eher ungewolltes – Verdienst der Entscheidung. Selten ist es derart gelungen, wie es angesichts der Geschichte des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes allerdings nicht verwundert. Der Strafprozess, wie er seit Verabschiedung der Reichsstrafprozessordnung in seinen Grundzügen im Wesentlichen unverändert praktiziert wird2, sieht sich von eben diesem Unmittelbarkeitsprinzip beherrscht. Bereits frühzeitig, nämlich im Jahre 1885 hat das Reichsgericht die Unmittelbarkeitsmaxime als „Fundamentalsatz“ unseres Strafverfahrensrechts bezeichnet.3 Schon während des Gesetzgebungsverfahrens zur (Reichs-)Strafprozessordnung ist es – ganz auf dieser Linie – zwar nicht in den Motiven, wohl aber von einem Parlamentarier während einer Plenardebatte zum „wichtigste(n) Prinzip“ des Strafverfahrens erkoren worden.4 Im selben Sinne sprach seinerzeit der Hallenser Straf- und Völkerrechtler Franz

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BGHSt 45, 188, 195 f. (Hervorhebungen nicht im Original). Einen sehr informativen (Kurz-)Überblick über Geschichte und Entwicklung der StPO bietet Rieß, Eser-Festschrift, S. 443 ff. 3 RGSt 12, 104, 105. 4 Abg. Frankenburger (während der zweiten Beratung im Plenum) bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1742. 2

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von Liszt vom „wichtigste(n) aller Prozessprinzipien“.5 Ebenfalls unmittelbar nach Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung ist es als „prozessual selbstverständlich“ charakterisiert worden.6 Diese Bedeutung spiegelt sich in zahlreichen Untersuchungen wider, die sich seither des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips angenommen haben. „Was freilich unter diesem Grundsatz zu verstehen ist, welchen Ausdruck er im einzelnen in der Strafprozeßordnung gefunden hat und wie von hier aus eine Vielzahl die Strafrechtspraxis tagtäglich beschäftigender Streitfragen zu lösen ist, darüber besteht auch heute noch alles andere als Einigkeit.“ Dieser von Geppert – in seiner Habilitationsschrift von 19797 – geprägte Satz hat an Aktualität nicht verloren. Obwohl seither geraume Zeit vergangen ist, wird der Inhalt des Unmittelbarkeitsbegriffs nach wie vor als „noch nicht restlos geklärt“ bezeichnet.8 Noch immer scheint er vom „Dunstkreis“ umhüllt zu sein9, von dem schon vor längerer Zeit die Rede war. Von daher kann es kaum verwundern, dass man sich verschiedentlich etwas despektierlich über den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz äußert. Danach soll „der Glanz des funkelnagelneuen (Unmittelbarkeits-)Prinzips beträchtlich nachgelassen“ haben.10 Man hegt Zweifel, ob „die Maximen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit […], die für die Ursprungsfassung von 1879 von prägender Bedeutung waren und auch die Fassung von 1950 noch deutlich mit bestimmten, gegenwärtig unser Prozessmodell noch hinreichend zu erklären – und zu legitimieren – vermögen“.11 Anderenorts betont man zwar ebenfalls12, dass das „heute schon archaisch wirkende Unmittelbarkeitsprinzip […] ein Kernstück des reformierten Inquisitionsverfahrens“ ist, meint aber zugleich, dass „das Ideal der absoluten Unmittelbarkeit“ als „nostalgische Komfort-Lösung […] wohl der Traum des Akademikers bleiben“ dürfte und macht einen „unüberhörbaren Ruf nach ‚ökonomischen‘ Lösungen in der Strafjustiz“ aus, der „eine Rückkehr zu den Ideal­vorstellungen des 19. Jahrhunderts […] leider unrealistisch“ machen soll. Der Ruf blieb nicht ungehört. In diese Phalanx stoßen nämlich Bemühungen des Gesetzgebers und der Praxis, den Unmittelbarkeitsgrundsatz zu relativieren. Solchen Bestrebungen wird von Seiten der Wissenschaft Vorschub geleistet, wenn man die Charakterisierung des Unmittelbarkeitsprinzips als des „wichtigste(n) aller Prozeßprinzipien“ als überholt und damit obsolet ansieht. Dies sei „angesichts einer Fülle moderner verfassungsrechtlicher Prozeßprinzipien, aber auch ange 5

von Liszt, Reform, S. 29. Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 58. 7 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. 8 Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 227. 9 Rupp, Beweis im Strafverfahren, S. 125. 10 Schmid, ZStW 85 (1973), 893, 913. 11 Rieß, ZIS 2009, 466, 469. 12 Vgl. zum Folgenden Weigend, StraFo 2013, 45 ff. 6

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sichts der Verschiedenartigkeit der Aufgaben und Funktionszusammenhänge keine sachgerechte Einstufung mehr“.13 Danach scheint man Unmittelbarkeit als überkommene Prozessmaxime nicht mit gewissen Modifizierungen erhalten, sondern vielmehr als Ergebnis eines grundlegenden Überdenkens und einer ebensolchen Umorientierung gänzlich auf die, um ein geflügeltes Wort von Eser aufzugreifen14, „Müllhalde“ der Strafrechtsgeschichte befördern zu wollen. Rieß verzeichnet – in seinem gleichnamigen Beitrag15 – aus der „Entwicklung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit in der Strafprozessordnung“ anhand einer „exzessiven Ausweitung der von Anfang an vorhandenen Ausnahmeregelungen“ ebenfalls „einen schleichenden Erosionsprozess“ und einen „Verlust an Prägekraft des Unmittelbarkeitsprinzips“. Die Entwicklungsgeschichte würde „jedenfalls keine überzeugende Rechtfertigung für die Beibehaltung in seiner gegenwärtigen Form“ bieten. Seine Diagnose ist, „dass der Gesetzgeber das Unmittelbarkeitsprinzip nur dort aufrechterhält, wo es nicht stört“. Anderenorts greift man die Diagnose auf und stellt die unmittelbare Beweisaufnahme als Konzept für das Strafverfahren des 21. Jahrhunderts infrage.16 Manche belassen es nicht dabei, das Unmittelbarkeitskonzept kritisch zu hinterfragen, sondern halten sogar ein „Plädoyer für die Streichung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“.17 Weigend macht in dieser Hinsicht im Unmittelbarkeitsprinzip den „Ausdruck eines rechtsstaatlichen Luxus“ aus, dessen Hauptfeind inzwischen „die Orientierung des Strafverfahrens an Ökonomie und Effizienz“ ist.18 Damit – als sein abschließendes Fazit – „der Unmittelbarkeitsgrundsatz einer rationalen Neugestaltung der Hauptverhandlung nicht im Wege stehen“ soll19, wäre es mehr als an der Zeit, „‚offiziell‘ von einem starren Unmittelbarkeitsgrundsatz Abschied zu nehmen“20. Als Alternative dazu macht sich Weigend daran, „das Modell eines ‚reduzierten‘ Unmittelbarkeitsprinzips zu skizzieren“21, das zwar sicher noch einer „näheren Diskussion und Überlegung“ bedarf22, aber immerhin das Potenzial haben soll, einer „drohenden völligen Auf 13

Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 226. Eser, ZStW 104 (1992), 361, 395 f. 15 Rieß, Maiwald-Festschrift, S. 661, 680 f. 16 Weigend, Eisenberg-Festschrift, S. 657 ff. 17 Frister, Fezer-Festschrift, S. 211 ff. Vgl. dazu bereits Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, S. 323 ff., 327 ff. 18 Weigend, Eisenberg-Festschrift, S. 657, 658. 19 Ebd., S. 671. 20 Ebd., S. 669. 21 Ebd., S. 659, 669 ff. Wenn er kurz vor dieser Skizze – im Gewande einer rhetorischen Frage – als Argument für eine dringend erforderliche Revision der Präferenz des historischen Gesetzgebers für die persönliche Zeugenaussage anführt, dass es in Wirtschaftsstrafverfahren „weit weniger auf die Wahrnehmung von Augenzeugen als auf das Zurückverfolgen elektronisch übermittelter und/oder schriftlich festgehaltener Informationen ankommt“, sei die Bemerkung erlaubt, dass insofern vielleicht § 249 Abs. 2 StPO Abhilfe schafft, jedenfalls etwas. 22 Ebd., S. 671. 14

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lösung des (berechtigten) Kerns des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ entgegenzuwirken23. Seine Grundskepsis an der unmittelbaren Beweisaufnahme als Konzept für das Strafverfahren des 21. Jahrhunderts bleibt davon aber unberührt. Es mangelt aber ebenso wenig an Stimmen im neueren Schrifttum, wonach Unmittelbarkeit als tragende und kennzeichnende Säule der strafprozessualen Hauptverhandlung entscheidend auf deren Gestaltung einwirkt.24 Wenngleich „Maximen zu einer bloßen Fassade auszuhöhlen drohen“, zählt Unmittelbarkeit nach wie vor zu den „wichtigsten Konstitutionsprinzipien“.25 Gegenteiliger könnten die Auffassungen kaum sein. Während man sich teilweise vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz verabschieden will, wird er anderenorts unvermindert befürwortet. Es besteht von daher „nicht nur in der Terminologie, sondern in der Sache selbst nach wie vor oft unüberbrückbarer Streit“26, sodass „sich die Diskussion […] oft hoffnungslos festgefahren hat“27. Damit hat es aber nicht sein Bewenden. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Es hat sich nicht bloß die sachliche Debatte mehr oder minder hoffnungslos festgefahren. Sie wird zudem noch mit zahlreichen (Rand-)Problemen hoffnungslos überfrachtet. Bei unbefangener Betrachtung würde man nämlich auf den ersten Blick wohl kaum einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Unmittelbarkeitsprinzip einerseits und der Problematik des Akteneinsichtsrechts für Schöffen andererseits vermuten.28 Die Anforderungen an die richterliche Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit und damit primär die Diskussion um die Beteiligung blinder Richter lässt sich dagegen als ein geradezu klassisches Thema im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz bezeichnen29, ohne dass die Problematik bislang freilich in einem allseits befriedigenden Sinne gelöst worden wäre30. Allenthalben hört man ferner, dass der Bereich des Hörensagenbeweises dazu gehört31, der nach Geppert „praktisch so wichtige und theoretisch so heiß umstrittene Problemkomplex, an dem sich die Geister bis heute scheiden“32. Die diesbezügliche Diskussion wird um „die hinreichend bekannte, gleichwohl aber nach wie vor heftig 23

Ebd., S. 667. Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 21. 25 Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 56 mit Rdnr. 54. 26 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. 27 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 28 s. hierzu Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 54 ff. sowie später näher im 3. Teil, 8. Kapitel unter I. 29 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 147 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 77 ff. – jeweils m. w. N. 30 Vgl. an dieser Stelle bloß die – eher kurzen – Bemerkungen im 3. Teil, 8. Kapitel unter II. 31 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130 ff. – jeweils m. w. N. 32 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130. Vgl. dazu im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 1. b) in Anm. 311 (S. 260). 24

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umstrittene Problematik der Vernehmung von Verhörpersonen bei geheimgehaltenem Gewährsmann (Problematik des V-Manns)“ bereichert.33 Sie lässt sich möglicherweise dadurch etwas entschärfen, dass moderne Medien zum Einsatz kommen34, etwa die Gespräche zwischen V-Mann und Beschuldigtem auf Tonband aufgenommen werden. Damit würde es sich aber bloß um eine vermeintlich saubere Lösung handeln. Schon Geppert hat darauf aufmerksam gemacht, dass man sich wird fragen müssen, „ob und in welcher Weise technische Errungenschaften neuerer Zeit wie insbesondere die dem Gesetzgeber des Jahres 1877 noch unbekannten Möglichkeiten reproduzierender Beweisaufnahmen in das System unseres Beweisrechts eingebaut werden können“.35 Während seinerzeit das Tonband in dieser Hinsicht in der Diskussion stand36, ist es nunmehr die Videovernehmung, die auf Vereinbarkeit mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz untersucht wird. Damit aber nicht genug: Es werden noch weitere Aspekte genannt, deren unmittelbarer Bezug zur Unmittelbarkeitsmaxime sich nicht zwangsläufig auf den ersten Blick erschließt, ohne sich mit allzu großen Vorhalten diesbezüglich aufhalten zu wollen.37 In der Zusammenstellung der vorstehend aufgeführten Gesichtspunkte, Nuancen und Facetten zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz sieht sich der bereits frühzeitig geäußerte kritische Satz von Rupp bewahrheitet. Danach erscheint Unmittelbarkeit „häufig mehr wie ein Dunstkreis, welcher die verschiedenartigsten Dinge bis zur Unterschiedslosigkeit zu umhüllen“ droht.38 In der Sache ohne Unterschied wird Unmittelbarkeit in neuerer Zeit als „Sammelbegriff“ bezeichnet.39 Es hilft aber kaum weiter, wenn man sich lediglich Detailproblemen zuwendet, um von diesem Standpunkt aus das Verfahrensprinzip untersuchen zu wollen. Es lässt sich kaum noch von einem Prinzip sprechen, wenn es in detail­reichen Ausführungen bis zu Unkenntlichkeit verwässert wird und darüber die sachlichen und systematischen Gemeinsamkeiten einzelner Aspekte, die überhaupt erst eine Lehre bzw. ein Prinzip ausmachen (können), in den Hintergrund geraten. Im Übrigen liegt bei Abhandlungen zu Einzelfragen naturgemäß 33

Vgl. hierzu Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 258 ff., 283 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130 ff., 156 ff. – jeweils m. w. N. 34 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 262 ff. befürwortet etwa eine „Verknüpfung der Schwerpunkte von Videotechnikanwendung und Vernehmung von Vertrauenspersonen“. 35 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 2. 36 s. hierzu insbesondere Roggemann, Das Tonband im Verfahrensrecht, S. 31 ff. 37 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 150 ff. nennt insofern noch die Verwertung privaten richterlichen Tatwissens und die verfahrensrechtliche Behandlung offenkundiger Tatsachen. Schließlich ist noch auf die Problematik des sog. Vorhalts hinzuweisen, die gleichfalls im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz gesehen wird, vgl. dazu näher Kuckuck, Zulässigkeit von Vorhalten aus Schrift­ stücken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, S. 136 f., 224 ff., 232 ff. 38 Rupp, Beweis im Strafverfahren, S. 125. 39 Nijboer, in: Lagodgny (Hrsg.), Strafprozeß vor neuen Herausforderungen, S. 157, 159.

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der Schwerpunkt auf diesen selbst, ohne dass der übergeordnete Gesichtspunkt, eben das Verfahrensgebot der Unmittelbarkeit, (nochmals) näher beleuchtet wird. Von daher besteht die Gefahr, dass man von der Ausnahme bzw. dem Detailproblem auf das allgemeine Prinzip schließt. Methodisch ist aber bloß der umgekehrte Weg opportun. Von daher sollte sich eine Untersuchung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht mehr als nötig mit Detailfragen beschäftigen. Schließlich wird die Debatte noch in anderer Hinsicht überfrachtet, nämlich von der Frage, ob sich die einzelnen Verfahrensmaximen voneinander unabhängig in stolzer Autonomie gegenüberstehen oder sich wenigstens berühren oder sich sogar gegenseitig beeinflussen. Geppert hat sich der Stellung von Unmittelbarkeit im System der (übrigen) Prozessmaximen bereits angenommen und diesbezügliche Überschneidungen und Interdependenzen ausgemacht.40 Am augenfälligsten sind sie mit Blick auf den Mündlichkeitsgrundsatz.41 Es zeigt sich schon 40

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 137 ff. Möglicherweise rührt es daher, dass Mündlichkeit – wie Unmittelbarkeit (dazu sogleich oben im Text) – „im Gesetz keine unmissverständlich klare Regelung gefunden hat“ bzw. haben soll, wie es gemeinhin angenommen wird, vgl. in diesem Sinne etwa Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 138; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 55. Dazu ist zu bemerken, dass es an einer ausdrücklichen Norm – vergleichbar § 128 Abs. 1 ZPO – in der Tat fehlt. Sie gab es in § 10 Abs. 1 DDR-StPO, wonach die Hauptverhandlung „öffentlich und mündlich“ durchgeführt wird. Gleiches sah ursprünglich noch der Entwurf der Reichsstrafprozeßordnung in seinem § 27 Abs. 1 vor. Er lautete: „Der Urteilsfällung muss eine mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (Hauptverhandlung) vorangehen.“ Gesetz geworden ist die Vorschrift aber nicht, ohne dass sich dies anhand der Materialien zu den Reichsjustizgesetzen nachvollziehen lässt. Dass die Vorschrift von der Reichsjustizkommission – als selbstverständlich und überflüssig – ersatzlos gestrichen worden ist, wie es Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 138 Fn. 12 annimmt, ergibt sich jedenfalls nicht aus der angegebenen Fundstelle in den Materialien. Darin geht es um Militärstrafverfahren in der dritten Beratung vor dem gesamten (Reichstags-)Plenum. Wenn man dagegen die abschließend bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 2394 ff., 2399 abgedruckte „Strafprozeßordnung […] nebst einer Nachweisung der auf die einzelnen Bestimmungen bezüglichen Stellen der Materialien“ durchforstet, wird nicht erklärlich, warum § 27 Abs. 1 des Entwurfs nicht Gesetz geworden ist. Im ersten Durchgang in der Reichsjustizkommission fand eine besondere Abstimmung darüber überhaupt nicht statt (ebd., StPO, Abt. 1, S. 571). In einem redaktionellen Antrag vor Beginn der zweiten Lesung in der Kommission sollte lediglich die Parenthese „(Hauptverhandlung)“ gestrichen werden (ebd., StPO, Abt. 2, S. 1229), nicht aber der Grundsatz der mündlichen Verhandlung als solcher. In der anschließenden Lesung in der Kommission wurde § 27 Abs. 1 des Entwurfs mit besagter Änderung von lediglich redaktioneller Natur vom Vorsitzenden der Kommission für nicht angefochten und damit angenommen erklärt (ebd., StPO, Abt. 2, S. 1233). Die Beschlüsse des Bundesrates ließen § 27 Abs. 1 des Entwurfs unbeanstandet, sodass er nicht mehr Gegenstand der weiteren Beratung in der Kommission war. In den abschließenden Beratungen im Plenum wiederum wurde § 33 RStPO, der aus § 27 des Entwurfs hervorging, ohne Aussprache angenommen (ebd., StPO, Abt. 2, S. 1738 mit S. 2058). Vor diesem entstehungsgeschichtlichem Hintergrund bleibt es schlichtweg unerfindlich, warum § 27 Abs. 1 des Entwurfs und damit der Grundsatz der Mündlichkeit gleichwohl nicht Gesetz geworden sind. Im Übrigen findet sich an durchaus prononcierter Stelle ein gesetzliches Bekenntnis zur mündlichen Hauptverhandlung, nämlich in § 338 Nr. 6 StPO. Danach 41

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darin42, dass die Grundsätze von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nicht bloß in den Motiven, sondern nicht minder in der Rechtsprechung und der wissenschaftlichen (Reform-)Diskussion zuweilen in einem Atemzug genannt werden, ohne dass immer hinreichend klar wird, ob man die Begriffe synonym verwendet und insofern miteinander identifiziert oder aber beide Grundsätze trennscharf unterscheiden will, im jeweiligen Zusammenhang allerdings als gleichermaßen betroffen bzw. berührt ansieht. In jedem Fall aber macht die exakte Abgrenzung zwischen Mündlichkeit einerseits und Unmittelbarkeit andererseits außerordentlich große Schwierigkeiten. Bei dieser Gemengelage stellt sich die Frage, wie man sie lösen will, wenn – um mit Geppert zu sprechen – bereits mit Blick auf das strafprozessuale Unmittelbarkeitsgebot „nicht nur in der Terminologie, sondern in der Sache selbst nach wie vor oft unüberbrückbarer Streit“ besteht.43 Sie lässt sich überhaupt bloß einigermaßen befriedigend beantworten, wenn man Randprobleme beiseite schiebt und sich „lediglich“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes selbst annimmt. In dieser Hinsicht gilt es nicht bloß den Mut aufzubringen, Geschriebenes als bekannt vorauszusetzen.44 Vielmehr muss noch der Mut vorhanden sein, die Diskussion um den Unmittelbarkeitsgedanken von eher periphären Gedanken zu befreien, um sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich auf das Verfahrensprinzip selbst. Bei aller Uneinigkeit im Detail kann man sich dabei auf einen unisono geteilten Standpunkt stellen. Man ist sich darin einig, dass Unmittelbarkeit „im Gesetz keine unmißverständlich klare Regelung gefunden hat“.45 Den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz vor diesem Hintergrund geringzuschätzen, geht freilich nicht an. Schon Eb. Schmidt hat darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip bloß aus einzelnen Vorschriften der Strafprozessordnung destilliert werden kann und es dennoch – eben als Grundsatz – seine bedeutsame Tragweite hat.46 Gleichwohl ist die Revision begründet, „wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind“. Von daher wird der Grundsatz der Mündlichkeit nicht bloß, wie es gemeinhin angenommen wird, in §§ 260 Abs. 1, 261, 264 Abs. 1 StPO vorausgesetzt, sondern folgt mehr oder minder unmittelbar aus einer strafprozessualen Vorschrift selbst. 42 s. zum Folgenden bloß Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 137 f. sowie früher bereits Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 23 ff., 27 ff. in seinen Ausführungen zur „Vermengung der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ bzw. „Unterscheidung zwischen dem Prinzip der Mündlichkeit und dem der Unmittelbarkeit“. 43 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. 44 Dieser Satz von Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 122 soll im weiteren Verlauf aber ebenfalls beherzigt werden. 45 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. Vgl. ferner noch Niethammer, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission: Es „soll der die Hauptverhandlung beherrschende Grundsatz [der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit] nicht mit Worten an die Spitze gestellt werden“. 46 Eb. Schmidt, JZ 1970, 337, 340. Damit spielt er auf die sogleich im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 1. noch näher darzustellenden Unterschiede bezüglich Funktionen und Geltungsgrund der strafprozessualen Verfahrensmaxime an.

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wäre der Schluss voreilig, dass er überhaupt nicht von normativer Relevanz sein soll. An eher versteckter Stelle wird er insofern erwähnt. Nr. 175a lit. d) RiStBV sieht vor, dass nach Eröffnung des Hauptverfahrens in das Strafbefehlsverfahren gewechselt werden kann, „wenn der unmittelbaren Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung erhebliche Hinderungsgründe entgegenstehen“ und weitere Voraussetzungen gegeben sind. Darin kann aber der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht gesetzlich mit konstitutiver Wirkung loziert sein. Zum einen handelt es sich bei den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren nicht um (materielle) Gesetze mit Außenwirkung im herkömmlich verstandenen Sinne. Sie entfalten vielmehr bloß innerdienstliche Bindungswirkung gegenüber Staatsanwaltschaften.47 Zum anderen begründen sie nicht erst die „unmittelbare Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung“, sondern setzen sie vielmehr voraus, sodass sie anderweitig (gesetzlich) bestimmt sein muss. Damit ist dargetan, dass die (Verwaltungs-)Vorschrift keine Aussage zum Inhalt des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes treffen kann. Etwas mehr dazu erfährt man, ohne dass sie – aus den soeben bereits ausgeführten Gründen – rechtsverbindliche Wirkung entfalten können, aus den „Gemeinsame(n) Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und Verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung“.48 Dabei sind es drei Passagen, die jedenfalls für den sachlichen Kern des Unmittelbarkeitsprinzips von Bedeutung sind und zugleich etwas über dessen Inhalt verlautbaren. Unter „Grundsätzliches“ heißt es insofern in Punkt I. 1. 4 der Richtlinien zunächst: „Der Zeugenbeweis ist eines der wichtigsten Beweismittel, das die Strafprozessordnung zur Wahrheitserforschung zur Verfügung stellt. Die besondere Natur dieses Beweismittels gebietet es grundsätzlich, dass der Zeuge vor der Staatsanwaltschaft und/oder dem Gericht aussagt. Daher kann Informanten und V-Personen nur nach den folgenden Grundsätzen Vertraulichkeit bzw. Geheimhaltung zugesichert werden.“

Während der Gedanke strafprozessualer Unmittelbarkeit an dieser Stelle bloß eher mittelbar anklingt, wird es in den „Voraussetzungen der Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung“ deutlicher. Insofern trifft Punkt I. 3. 1 der Richtlinien folgende Regelung: „Die Inanspruchnahme von Informanten und der Einsatz von V-Personen gebieten eine Abwägung der strafprozessualen Erfordernisse der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der vollständigen Sachverhaltserforschung einerseits und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Zusicherung der Vertraulichkeit/Geheimhaltung andererseits. Hierbei ist der Grundsatz des rechtsstaatlichen Verfahrens zu beachten.“

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Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 226. Abgedruckt bei Meyer-Goßner als Anlage D zu Anhang 12 (RiStBV).

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Noch dezidierter geht Punkt I. 3. 2 der Richtlinien auf den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz ein. Er regelt das Ziel des Einsatzes von Informanten bzw. V-Personen mit folgenden Worten: „[…]. Werden sie in Anspruch genommen bzw. eingesetzt, so ist Ziel der weiteren Ermittlungen das Beschaffen von Beweismitteln, die den strafprozessualen Erfordernissen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme entsprechen und einen Rückgriff auf diese Personen erübrigen.“

Wenn man einmal von diesen zum einen (hoch-)speziellen, zum anderen nicht mit rechtsverbindlicher Wirkung ausgestatteten Regelungen absieht, ist der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz ohne normative Lozierung (im geltenden Recht) geblieben. Von daher kann es nicht verwundern, dass die damit zusammenhängenden Probleme de lege lata et ferenda kontrovers erörtert werden.

1. Teil

Dogmatische Grundlagen In einem ersten Schritt ist sich zunächst einigen dogmatischen Grundlagenfragen anzunehmen. Dabei geht es darum, Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen im Allgemeinen aufzuzeigen. Anschließend wird sich im Besonderen dem Sinn und Zweck des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes gewidmet. Dies bedingt es, sich dabei überhaupt erst einmal über Zweck, Aufgabe(n) und Funktion(en) des Strafverfahrens(rechts) zu verständigen. Weil diese Aspekte sämtlichst schon wiederholt untersucht worden sind, wird sich dabei, schon um Redundanzen zu vermeiden, auf das Notwendige und Wesentliche beschränkt, soweit es für das Verständnis der weiteren Ausführungen und Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip unerlässlich ist.

1. Kapitel

Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen Die Prinzipien, die unser geltendes Strafrecht beherrschen und formen, stehen vor aller „bloßen Technik“. Sie sind zum großen Teil politische Postulate und geben gewissermaßen das Psychogramm unseres Strafprozessrechts wieder.1 Diese Worte von Baumann verdeutlichen sehr anschaulich die grundlegende Bedeutung der Strafprozessprinzipien. Hinweise zur grundsätzlichen Problematik der Prozess­ prinzipien finden sich aber ebenfalls. Nach einer Zeit der Verherrlichung als eine Art „Naturgesetze“ sollen sie bloß noch didaktische und rechtspolitische Funktion haben.2 Bereits diese Gegensätzlichkeit der beiden Aussagen bedingt es, sich der (aktuellen) Bedeutung von Prozessmaximen etwas näher anzunehmen.

1

Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien, S. 26. Schroeder, Peters-Festschrift, S. 411. Wenn es Schroeder kurz darauf meint, dass „es didaktisch fragwürdig erscheint, die Ausgestaltung der Einleitung eines Strafverfahrens als abstrakte ‚Prozessprinzipien‘ an die Spitze einer Darstellung des Strafverfahrensrechts zu stellen“, muss dies etwas verwundern. Wenn die Maximen bloß noch eine didaktische Funktion haben sollen, wie es Schroeder konstatiert, erscheint ein solches (didaktisches) Vorgehen eher nahe liegend als „didaktisch fragwürdig“. 2

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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I. Begriff und Bedeutung von Prozessmaximen Die sog. Prozessgrundsätze (oder -maximen, -prinzipien bzw. -gebote3) dienen der Strukturierung und besseren Erfassung des Strafverfahrens, indem sie – gleichsam einer Brücke – die Verbindung zwischen dem übergeordneten Verfahrensziel des Strafprozesses und der dafür erforderlichen Vielfalt notwendiger Detailregelungen herstellen.4 Insofern ist die Rede von Grundsätzen mittlerer Reichweite und der Mittlerfunktion der Prozessmaximen zwischen Prozessziel und (gesetzlicher) Detailaussage.5 Es handelt sich um „vorwiegend als inhaltliche Konstitutionsprinzipien mittlerer Reichweite des jeweiligen Verfahrensrechts zu verstehende Prozessmaximen“.6 Auf solche verbalen Differenzierungen kommt es indes nicht an, weil es sich dabei um einen eher semantischen Streit handelt. 1. Funktionen und Geltungsgrund In inhaltlicher Hinsicht ist man sich – jedenfalls im Ausgangspunkt – über die Funktionen der Prozessmaximen dagegen weitestgehend einig. Sie beschreiben in zusammenfassender Form diejenigen Leitgedanken, die nach der jeweiligen Vorstellung der Rechtsgemeinschaft und des Gesetzgebers der Erreichung des Verfahrensziels am dienlichsten sind.7 Insofern haben sie programmatischen Charakter.8 In diesem Sinne enthalten sie zuvörderst rechtspolitische Aussagen und nehmen rechtsgestaltende Funktion wahr9, indem sie einen noch zu schaffenden Rechtszustand programmatisch umschreiben. Adressat dieser Funktion ist der Gesetzgeber. Eines besonderen Geltungsgrundes bedürfen sie dafür nicht. Allein der Umstand, dass sie das übergeordnete (Verfahrens-)Ziel zu erreichen vermag, legitimiert die entsprechende Prozessmaxime. Es handelt sich von daher mehr um Fragen de lege ferenda. 3 Vgl. näher zur eher verwirrenden und im Folgenden zu vernachlässigenden Terminologie sowie zur im Schrifttum fließenden Einteilung und Zuordnung in die Kategorien Prozessmaxime oder Verfassungsgrundsätze bloß Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 387 mit Fn. 18; Eser, ZStW 104 (1992), 361, 363. Anderenorts werden die Strafprozessprinzipien noch als „Aufbaugrundsätze des Verfahrens“ bezeichnet, vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 92. 4 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 1. 5 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382, 384. Diese Mittlerfunktion klang – sicher eher unbewusst – schon während des Gesetzgebungsverfahrens beim Abg. Reichensberger während der ersten Beratung im Plenum an, wonach es mit der „Fixierung von Prinzipien als Direktive für die weitere Behandlung der Sache nicht getan sein könne“, sondern vielmehr darauf zu achten ist, wie „es sich im Zusammenhange mit dem Ganzen einfügen, verwirklichen, in den Detailbestimmungen zur Geltung bringen lässt“, s. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 508. 6 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 385. 7 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 1. 8 Geerds, SchlHA1962, 181 f. 9 Vgl. zum Folgenden Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383 sowie Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 2 – jeweils m. w. N.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

De lege lata kommen Prozessprinzipien aber ebenfalls zum Tragen.10 Insofern ist von der systematisierenden oder systematischen und der interpretatorischen Funktion die Rede. Während bei der systematisierenden Komponente die Erklärung, Auslegung und Fortentwicklung des geltenden Rechts im Vordergrund steht, geht es beim interpretatorischen Aspekt um Auslegung und Fortentwicklung einzelner Rechtsvorschriften. Am ehesten lassen sich diese beiden Funktionen vom jeweiligen Adressaten her unterscheiden. Während die systematisierende Funktion vornehmlich von der Rechtswissenschaft und vom novellierenden Gesetzgeber wahrgenommen wird bzw. werden sollte, obliegt die interpretatorische Funktion in erster Linie der (konkreten) Rechtsanwendung und dabei vor allem der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung. In einem gleichen sich systematisierende und interpretatorische Funktion von Prozessgrundsätzen wieder. Anders als bei rechtspolitisch verwendeten Prozess­maximen liegt der Geltungsgrund der systematisierenden und interpretatorischen Seite stets im geltenden Recht. Von daher bedarf es des Nachweises, dass die jeweilige Maxime im geltenden Strafverfahrensrecht gesetzlich loziert ist.11 Insofern geht es bei beiden Funktionen um die Ebene de lege lata. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Funktionen von Strafprozessmaximen stellt sich die Frage, wie sie sich zueinander verhalten, ob es eine gewisse Hierarchie gibt, ob sie sich gegenseitig ausschließen oder vielmehr – genau umgekehrt – einander bedingen. Henkel hat es dahingehend formuliert, dass die Strafprozessprinzipien den Niederschlag der staatspolitischen Forderungen an die Verfahrensgestaltung enthalten. Sie stellen insofern Richtlinien einerseits für den Gesetzgeber bei der Verfahrensnormierung und andererseits für die Organe der Strafrechtspflege bei der Verfahrenshandhabung dar.12 Ähnlich sieht es Rieß. Die begrifflich scharfe Unterscheidung zwischen den verschiedenen Funktionen von Prozessprinzipien darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gleichwohl eine (historische) Wechselwirkung besteht. Wenn etwa die rechtsgestaltende Funktion eines Grundsatzes dazu führt, dass er vom Gesetzgeber übernommen wird, macht er sich diesen dadurch zu Eigen, sodass aus der rechtsgestaltenden die systematische und interpretatorische Funktion sozusagen hervorgehen.13 Wenngleich eine solche Wechselwirkung der einzelnen Funktionen von Strafprozessmaximen propagiert wird, zeigt sich dennoch ein deutlicher Paradigmenwechsel in der aktuellen Kontroverse um die Grundsätze des Strafverfahrens. Es könne zwar das – rechtspolitisch basierte – „formale Beharren auf solchen Maximen und Strukturen des überkommenen Strafprozesses, die kaum noch tragfähig und heute nicht mehr bestimmend sind, […] für die novellierende Gesetzgebung, für die interpretierende und systematisierende Rechtswissenschaft und für die rechtsfortbildende Recht 10 Vgl. zum Folgenden Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383 sowie Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 2 – jeweils m. w. N. 11 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 2. 12 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 92. 13 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383.

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

29

sprechung gefährlich“ sein, weil es den Zugang zu sachgerechten Ergebnissen versperrt14. Dennoch wird nicht – wiederum rechtspolitisch motiviert – die völlige Abkehr vom tradierten System mit seinen Prinzipien gefordert, sondern vielmehr ein „behutsames Fortentwickeln des überkommenen Systems“.15 In dieser Hinsicht versucht man sämtlichen Funktionen der Prozessgrundsätze hinreichend Rechnung zu tragen, wie es sich schon daran zeigt, dass sich die Adressaten der einzelnen Funktionen durchweg aufgerufen fühlen (sollen), sich dieser Fortentwicklung anzunehmen. Gleichwohl wird der Schwerpunkt auf die rechtsgestaltende Funktion von Prozessprinzipien gelegt. Sie sind primär und in erster Linie rechtspolitische Aussagen.16 Insofern sollen sie einen höheren Grad an Verbindlichkeit haben, als er der systematischen und interpretatorischen Verwendung (später) bei der praktischen Umsetzung zuzubilligen sein soll. Damit soll sich etwa erklären lassen, dass kaum eine Maxime ausnahmslos verwirklicht ist, sondern vielmehr „andere antagonistische oder mindestens nicht bruchlos vereinbare Maximen die gesetzliche Regelung beeinflussen“.17 Auf diese Art und Weise wird die rechtsgestaltende Funktion von Strafprozessmaximen betont und in den Vordergrund gerückt. 2. Rechtspolitische Dimension von Verfahrensprinzipien Anderenorts dominiert die rechtspolitische Komponente von Prozessmaximen, wohingegen die anderen Funktionen sehr in den Hintergrund geraten. Sie sollen nicht (mehr) „mit zwingender begrifflicher Notwendigkeit aus dem Wesen des Strafprozesses“ folgen.18 Bereits Eb. Schmidt rückt die (bloße) Zweckmäßigkeit der Prinzipien in den Vordergrund. Unter Verweis auf die einhellig vertretene Ansicht im zeitgenössischen Schrifttum soll es sich bei den Maximen „nicht um logische, sondern um rechtspolitische Erwägungen“ handeln.19 Mit dem (behaupteten) Fehlen von zugrunde liegenden logischen Erwägungen hat er Zweifel an der systematischen Funktion von Prozessprinzipien, „aus den Einzelheiten und dem Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung übergeordnete rechts­politische Entscheidungen“ abzuleiten20. Bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen ist indes mit Vorsicht zu begegnen und eher eine Absage zu erteilen, wie ein Blick in die (jüngere) Strafrechtsgeschichte zeigt.

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Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 456. Rieß, Schäfer-Festschrift, S. 155, 187. 16 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 1 – jew. m. w. N. 17 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 384. 18 Schmoller, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 210. 19 Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 330 m. w. N. in Fn. 4. 20 s. zu dieser systematischen Funktion etwa Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383. 15

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

a) Geschichtliche Betrachtung Es lässt sich kaum ernsthaft bestreiten, dass die Ausgestaltung des Straf­ verfahrens(rechts) seit jeher durch den politischen Zeitgeist geprägt worden ist.21 Um es mit Peters zu formulieren: „Es bedarf nicht der Betonung, daß die Verschiebung der geistigen Grundhaltung gerade für das Gebiet des Strafverfahrens von Bedeutung sein muß.“22 Die Frage ist freilich, bis zu welchem Grad man dies zulassen will bzw. man sich von Seiten der (Straf-)Rechtswissenschaft dagegen nicht zur Wehr setzen sollte, um nicht totalitärer (Rechts-)Politik Vorschub zu leisten. In dieser Hinsicht sind es zwei Phasen der deutschen (Strafrechts-)Geschichte, die eine Antwort auf diese Frage liefern könnten. aa) Verfahrensprinzipien während der NS-Zeit Eine deutliche Einflussnahme der (Partei-)Politik auf die Gestaltung der Strafrechtspflege gab es insbesondere während der NS-Zeit. Sie zeigt sich gerade im Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsprinzip. In diesem Sinne heißt es, dass das Verfahren mit „voller Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ auszugestalten sei, weil dem Richter bloß auf diese Weise „eine sichere Findung der Wahrheit ermöglicht“ wird. Dies wiederum sei vom übergeordneten Ziel einer „volkstüm­ lichen Rechtspflege“ geleitet, die nicht bloß den Verfahrensbeteiligten, „sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient“. Diese Aussagen hatten übrigens Gesetzeskraft. Sie entstammen einer Art von Präambel zum „Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“ vom 27. Oktober 1933.23 Wie schon sein Name zeigt, ging es dem Gesetz allerdings nicht um Änderungen im Bereich der Strafrechtspflege. Die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus führte aber nicht minder zu (Vor-)Arbeiten zur Erneuerung des Strafverfahrensrechts. Zunächst war die Diskussion insofern auf Stellungnahmen aus der Wissenschaft beschränkt. Dabei war es Konsens, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens starker Einschränkungen bedürfen soll.24 Bloß absolut vereinzelt wurde die „transpolitische Natur“ des Unmittelbarkeitsprinzips betont, wonach der Richter, welcher „die Glaubwürdigkeit oder gar die Gesamtpersönlichkeit eines anderen beurteilen soll, ihn selber hören und sehen muß“.25 Bald darauf kam es zu amtlichen Reformarbeiten. Zu diesem Zweck wurde die sog. Strafprozeßkommission durch den Reichs 21

Vgl. hierzu bloß Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 329 ff. Peters, ZStW 56 (1936), 34 (Hervorhebungen nicht im Original) mit Blick auf die Neuordnung des Strafverfahrens nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. 23 RGBl. I S. 780. s. hierzu näher im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 2. 24 Vgl. hierzu die Nachw. bei Koch, Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich, S. 158 in Fn. 1. 25 Exner, ZStW 54 (1935), 1, 6. 22

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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justizminister im Jahre 1936 einberufen, die schließlich im Jahre 1938 einen amt­ lichen Bericht über das kommende deutsche Strafverfahren veröffentlicht hat. Wenn man das Bild dieses (kommenden) Strafverfahrens, welches der Bericht entwirft, mit der Regelung des (damals) geltenden Rechts vergleicht, ist die Übereinstimmung in den wesentlichen Strukturelementen unverkennbar.26 Dies gilt gerade mit Blick auf die Verfahrensmaxime der Unmittelbarkeit. Am Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme hatte die Kommission nämlich festgehalten und diesen sogar als beherrschenden und maßgebenden Grundsatz bezeichnet27, der sogar mehr als bisher das Verfahren beeinflussen wird28. Es zeigt sich im besonderen Maße darin, dass sich die Kommission in der – die Diskussion um das Unmittelbarkeitsprinzip seit jeher leitenden – Frage, „in welchem Umfang die im Vorverfahren gewonnenen Beweise in der späteren Hauptverhandlung verwertet werden können“29, dazu bekennt, dass die Beweisaufnahme im Vorverfahren die Hauptverhandlung nicht unabänderlich vorwegnehmen darf30, sondern dieser selbst und dabei dem Grundsatz möglichster Unmittelbarkeit vorbehalten bleiben muss31. In formeller Hinsicht wird es dadurch offenbar, dass die (bisherigen) Vorschriften über die Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle im Wesentlichen unverändert beibehalten werden sollten.32 Als Quintessenz dessen stellt Niethammer seinen Ausführungen zur Hauptverhandlung im Bericht der amtlichen Straf­ prozeßkommission folgenden maßgebenden (Grund-)Satz voran33: „Der Entwurf will für die Hauptverhandlung am Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit festhalten.“ Im Schrifttum wurde dies nachdrücklich begrüßt. In dieser Hinsicht heißt es etwa bei Gallas in seinen Bemerkungen zum Bericht der amtlichen Strafprozeß­ kommission, dass „nur ein auf das Prinzip der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit ge­gründetes Verfahren dem Entscheidenden ein zuverlässiges Bild der zu beurtei­ 26

Gallas, ZStW 58 (1939), 624, 625. Niethammer, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 141 mit S. 143. 28 Töwe, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 207. 29 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 2. 30 Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 21. 31 Ebd., S. 22. 32 Vgl. dazu die diesbezüglichen Ausführungen von Niethammer, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 170 ff. An gleicher Stelle führt Niethammer aus, dass aus dem „großen, das ganze Beweisrecht beherrschenden Gebot“ der Unmittelbarkeit nicht ein Verbot des Inhalts folgt, „den als Zeugen zu vernehmen, der eine erhebliche Tatsache nicht selbst wahrgenommen, sondern nur etwas über sie durch einen Bericht des Augenzeugen erfahren hat“. Vgl. im Übrigen noch Töwe, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Straf­prozeßkommission, S. 207: Durch „Unmittelbarkeit wird aber die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen nicht schlechthin verboten, so wenig wie das jetzt durch § 250 StPO geschieht“. 33 Niethammer, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 141. Zur synonymen Verwendung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit vgl. bereits Einl. in Anm. 41 (S. 22). 27

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

lenden Lebensvorgänge und Personen zu vermitteln vermag“34, wodurch Bild und Struktur des (damals) künftigen Strafverfahrens von einer mündlich-unmittelbaren Hauptverhandlung als Kern dieses Verfahrens geprägt sind35. Von daher ist es „bezeichnend, daß nicht nur die Strafprozeßkommission an diesen Grundsätzen festgehalten hat, ihre Befolgung vielmehr auch von denen gefordert wird, die sich im übrigen für eine Abkehr von den Gedanken des reformierten Prozesses einsetzten“.36 Dies führt Gallas schließlich zu dem Resümee, dass es sich eben um Prinzipien handelt, „die trotz ihrer Herkunft politisch nicht verbraucht sind, weil sich in ihnen, unabhängig von einer historisch damit verknüpften Ideologie, ein Stück praktischer Prozeßerfahrung ausdrückt“.37 Damit verbindet er sein Urteil über den Bericht, wonach es gerechtfertigt erscheint, „daß die Strafprozeßkommission an der überkommenen Verfahrensstruktur grundsätzlich festgehalten hat“.38 Angesichts dieser Erkenntnis sollte man sich davor hüten, strafprozessuale Verfahrensprinzipien zu bloßen mehr oder minder unverbindlichen rechts­ politischen Leit- und Programmsätzen verkommen und verkümmern zu lassen, weil es dazu – jedenfalls mit Blick auf den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz – selbst während der NS-Zeit nicht gekommen ist. bb) Verfahrensprinzipien im Strafverfahren der DDR Ein anderes Bild vermittelt eine weitere Phase der deutschen Strafrechtsgeschichte, in der ein starker Einfluss von rechts- und mehr noch parteipolitischen Vorgaben herrschte, nämlich die Zeit der DDR. Dabei muss, bevor auf Geltung und Umfang des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingegangen werden kann, etwas weiter ausgeholt werden. Die Darstellung von Problemen des Strafprozessrechts der DDR muss nämlich dem Umstand Rechnung tragen, dass es in der sozialistischen Rechtsordnung Teil eines geschlossenen, philosophisch-ideologisch fundierten Systems ist, das sämtliche Lebensbereiche einbezieht. Man würde von daher Wesen und Bedeutung der Strafprozessmaximen nicht gerecht werden (können), wollte man sie isoliert davon darstellen (wollen).39 Es handelt sich bei diesem System um die marxistisch-leninistische Rechtslehre. Diese Theorie gipfelt in der Schlussfolgerung, dass das Recht eine der Politik untergeordnete Kategorie ist. Es 34

Gallas, ZStW 58 (1939), 624, 627. Ebd., S. 628. 36 Ebd., S. 627 f. 37 Ebd., S. 628. Vgl. im selben Sinne später noch Koch, Reform des Strafverfahrensrechts im Dritten Reich, S. 158: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz eignete „sich aus in der Natur der Sache liegenden Gründen nicht so sehr als Zielscheibe einer polarisierten Indoktrinierung wie etwa das Akkusations- und (stärker) das Legalitätsprinzip. Dem Unmittelbarkeitsgrundsatz war außer seiner ‚liberalistischen‘ Grundsatzhaftigkeit nicht viel vorzuwerfen. Deshalb gaben sich mit Beschränkungen auch solche Stimmen zufrieden, die andernorts vor weiter gehenden Forderungen nicht zurückschreckten.“ 38 Gallas, ZStW 58 (1939), 624, 643. 39 Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 39. 35

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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geht dieser Rechtslehre nicht darum, wie die Einwirkung der Politik auf die Justiz geregelt bzw. begrenzt werden soll, sondern – geradezu diametral dazu – um die Charakterisierung des Rechts als ein der Politik zugeordnetes Instrument, das im Wesen politisch ist und politisch sein muss.40 Dabei hat das Strafprozessrecht als integraler Bestandteil des sozialistischen Rechts in der DDR die Aufgabe gehabt, den gesetzmäßigen Aufbau des Sozialismus zu sichern und aktiv fördernd auf die Gestaltung ökonomischer und gesellschaftlicher Verhältnisse einzuwirken.41 Damit wurde die Notwendigkeit zum Erlass neuer Gesetze begründet, weil die kapitalistischen Rechtsnormen nicht mehr gerechtfertigt sind, wie es insbesondere für die Strafprozessordnung als Produkt einer bourgeoisen Gesellschaftsformation angenommen wurde.42 Während diese Diskussion zunächst bloß von der Wissenschaft betrieben wurde, kam es später zu gesetzgebe­rischen Aktivitäten in dieser Richtung. Im Jahre 1968 kam es zur Verabschiedung einer neuen Strafprozessordnung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR-StPO).43 Darin fanden sich „Grundsatzbestimmungen“ im einleitenden Kapitel. Dabei zählte gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 DDR-StPO der „Schutz der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung und jedes Bürgers“ zu den „Aufgaben des Strafverfahrens“. Zugleich steht die Aufklärung von Straftaten „im gemeinsamen Interesse der sozialistischen Gesellschaft“ (§ 2 Abs. 1 DDR-StPO). Besonders deutlich hat sich die marxistisch-leninistische Rechtslehre noch in § 2 Abs. 3 DDR-StPO niedergeschlagen. Danach trägt das Strafverfahren „zum Schutz der sozialistischen Gesellschaftsordnung“, „zur Gestaltung der sozialistischen Beziehungen der Bürger zu ihrem Staat und im gesellschaftlichen Zusammenleben“ sowie „zur Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse“ bei. Es kann nicht verwundern, dass Strafprozessprinzipien diesen Zielen ebenfalls zu dienen hatten. Sie dienten nicht bloß der Ermittlung der materiellen Wahrheit, sondern ebenso dem gesellschaftlichen Ziel des Gerichtsverfahrens selbst.44 In dieser Hinsicht wurden sie im einzigen Lehrbuch der DDR zum Strafprozessrecht wie folgt definiert45: „Unter Prinzipien sind die leitenden prozessualen Grundsätze zu 40

Ebd., S. 41 f. Benjamin, NJ 1951, 150. 42 Vgl. hierfür die Nachw. bei Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 44. 43 GBl.-DDR Teil I, S. 49. Soweit es übrigens die umstrittene Frage betrifft, ob die vorbeugende Verbrechensbekämpfung systematisch der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr zuzuordnen ist (vgl. umfassend hierzu Rudolph, Antizipierte Strafverfolgung, S. 73 ff., 109 ff.), hat das Recht der Deutschen Demokratischen Republik – im diametralen Gegensatz etwa zu § 2 Abs. 1 Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes Sachen-Anhalt (SOG LSA) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.9.2003 (GVBl. LSA S. 215) – als Teil der Strafverfolgung angesehen. § 1 Abs. 1 Satz 3 DDR-StPO lautete in dieser Hinsicht wie folgt: „Mit Maßnahmen zur Durchsetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und zur Verhütung weiterer Straf­taten trägt das Strafverfahren zur Bekämpfung der Kriminalität bei.“ 44 Etzold/Wittenbeck, NJ 1965, 37. 45 Nachw. der Fundstelle bei Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 53 in Fn. 1. 41

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

verstehen, die allgemein die Organisation des Verfahrens, die Tätigkeit der staat­ lichen Organe und die Rechte und Pflichten der am Strafprozeß beteiligten Bürger, vor allem des Angeklagten, bestimmen.“ Nachdem sich nunmehr allgemein über die Aufgaben des Strafverfahrens zu DDR-Zeiten und der diesbezüglichen Rolle von Prozessmaximen verständigt worden ist, geht es im Folgenden um Geltung und Umfang des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafverfahrensrecht der DDR. Es sah sich von Beginn an heftiger Kritik dergestalt ausgesetzt, dass es schon aufgrund seiner liberalen Herkunft und Prägung eine Wesensverschiedenheit zum sozialistischen Strafverfahrensrecht und seinen Zielen aufweisen würde.46 Die Praxis hat sich diese Kritik zu Eigen gemacht und die gesetzlichen Ausnahmen sehr großzügig gehandhabt.47 Im Schrifttum stieß diese Praxis nicht bloß auf Zustimmung. Dabei begnügte man sich nicht mit der Aufdeckung und Rüge der praktischen Handhabung, sondern forderte vielmehr gesetzgeberische Maßnahmen zur Straffung des Grundsatzes.48 Die offizielle Reaktion auf solche Liberalisierungstendenzen ließ die Vorschläge aber nicht Wirklichkeit werden. Vielmehr müsse mit „überspitzten Anforderungen an die Beweisführung“ Schluss gemacht werden.49 Damit wurde der Versuch der Prozessrechtswissenschaft, dem Prinzip der Unmittelbarkeit eine gewisse Wirksamkeit zu sichern, zunichte gemacht, sodass es, um mit Bechthold zu einem Fazit zu kommen, im Strafverfahren der DDR im Prinzip „außer Geltung“ war50, wobei der rechts- und parteipolitische Einfluss dafür unverkennbar war. Dies gilt es zu bedenken, wenn man Strafprozessmaximen mehr oder minder als bloße unverbindliche rechtspolitische Leitlinien und -sätze abtun will. b) Strafrecht und Rechts- bzw. Kriminalpolitik Im Übrigen unterliegt die gesamte Rechtsordnung der Ausgestaltung durch die jeweils aktuelle (Rechts-)Politik. Das materielle Strafrecht etwa blieb durch die NS-Zeit ebenfalls nicht frei von (rechts-)politischen Einflüssen, die selbst heute noch verschiedentlich sichtbar sind51. Für das Strafrecht der DDR liegt es gleichfalls nahe, dass es politisch instrumentalisiert worden ist. Es zeigt sich etwa in

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In diesem Sinne etwa die polemische Kritik von Schindler/Marga, NJ 1955, 307 ff. Vgl. hierzu im Einzelnen die Darstellung bei Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 133 ff. 48 Löwenthal, NJ 1956, 780, 781. 49 Haid, NJ 1957, 794, 795. 50 Bechthold, Prozeßprinzipien im Strafverfahren der DDR, S. 139. 51 s. hierzu in allg. Hinsicht Vogel, ZStW 115 (2003), 638 ff. sowie zu speziellen Fragen etwa Lüderssen, Festschrift für Hanack, S. 487 ff. (Wiederkehr der Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken); Hirsch, JZ 2007, 494 ff. (subjektive Versuchstheorie als ein Wegbereiter der NS-Strafrechtsdoktrin) sowie Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsguts­ begriff, S. 101 (Verbrechen als Pflichtverletzung versus Verbrechen als Rechtsguts­verletzung). 47

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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Art. 1 DDR-StGB52, wonach die „Grundsätze des sozialistischen Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik“ an erster Stelle „Schutz und Sicherung der sozialistischen Staatsordnung und der sozialistischen Gesellschaft“ nennen, wohingegen vom „Schutz der Würde und Rechte des Menschen“ durch die Strafgesetze des sozialistischen Staates erst in Art. 4 DDR-StGB die Rede ist. Die rechtspolitische Instrumentalisierung des Strafrechts wird ferner noch in der mit Gesetzesrang ausgestatteten Präambel zum Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik offenbar, wonach es „im besonderen“ dem entschiedenen Kampf gegen verbrecherische Anschläge seitens des westdeutschen Imperialismus dient und zugleich den Kampf gegen die Straftaten aufnimmt, „die aus dem Fortwirken der Überreste der kapitalistischen Zeit erwachsen und durch feindliche Einflüsse und moralische Verfallserscheinungen aus den imperialistischen Staaten genährt werden“. Bereits das klassenkämpferische Vokabular macht die Interdependenzen zwischen Rechtspolitik und sozialistischem Strafrecht sehr deutlich. Freilich wird Rechtspolitik sehr häufig über das Instrument des Strafrechts gemacht und keinesfalls ausschließlich in totalitären Regimen. Fremd ist freiheit­ lichen Staaten allerdings die Verabsolutierung der rechts- und kriminalpolitischen Komponente des Strafrechts und insbesondere handelt es sich um Rechtspolitik und gerade nicht um Parteipolitik. Beides, Verabsolutierung und Parteipolitik, haben dagegen das sozialistische Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik im besonderen Maße geprägt, wie Ausführungen zum „Wesen des sozialistischen Strafrechts der DDR und seine(r) Aufgaben beim Schutz und Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ und dabei speziell zu „Begriff und Gegenstand des sozialistischen Strafrechts der DDR“ im einzig für die Ausbildung von Juristen zugelassenen Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafrechts der DDR vor Augen führen.53 Danach gab es eine „generelle politisch-gesellschaftliche Zwecksetzung des sozialistischen Strafrechts der DDR“54 – und damit eine Verabsolutierung der rechtspolitischen Perspektive des Strafrechts. In dieser Hinsicht zeigt sich sehr deutlich, dass nicht erst das Strafverfahrensrecht, sondern bereits das materielle Strafrecht selbst dem (rechts-)politischen Zugriff unterliegt und es in dieser Hinsicht in der deutschen Vergangenheit zu (partei-)politischen Übergriffen auf diese Rechtsmaterien gekommen ist. Es versteht sich natürlich von selbst, dass das bundesdeutsche Strafrecht nicht mit totalitären (national-)sozialistischen Strafrechtsordnungen verglichen werden kann. Dennoch zeigen sich vereinzelt Interdependenzen zwischen Strafrecht einerseits und Rechtspolitik andererseits. In allgemeiner Hinsicht diskutiert man in diesem Sinne über die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts.55 Ande 52

Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968 (GBl. I S. 1). s. zum Folgenden bei Lekschas/Renneberg (Hrsg.), Strafrecht Allgemeiner Teil, Staatsverlag der DDR, 2. Aufl. 1978, S. 18 ff. 54 Ebd., S. 20. 55 Vgl. hierzu aus rechtsgeschichtlicher wie aus zeitgenössischer Perspektive umfassend Zabel, ZStW 120 (2008), 68 ff. 53

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

renorts bzw. etwas altertümlicher bemüht man insofern die „sittenbildende Kraft des Strafrechts“.56 Von daher handelt es sich bei dem Umstand, dass Strafprozess­ prinzipien auf (ausschließlich) rechtspolitischen Erwägungen beruhen sollen, nicht um ein speziell diesen Grundsätzen vorbehaltenes Charakteristikum. Es ist vielmehr sämtlichen Rechtsnormen mehr oder minder immanent. Weil man aber die gesamte Rechtsordnung sicher nicht per se der Beliebigkeit der Rechts- bzw. Kriminal­politik anheimstellen will und sich insbesondere von Seiten der (Straf­ prozess-)Rechtswissenschaft dagegen zur Wehr setzen sollte, gilt es, entsprechenden Überlegungen und Bestrebungen, die Strafprozessrechtsgrundätze in deren Bedeutung abzuwerten und abzuschwächen, entschieden zu begegnen. Dies gilt insbesondere, wenn in diesem Zusammhang gelegentlich vom „Nieder­ gang des Prinzips der unmittelbaren Zeugenvernehmung“ die Rede ist.57 Bei klassischen Prozessmaximen überwiegt nämlich die rechtspolitische und -gestaltende Funktion. Sie beruhen „historisch auf rechtspolitischen Forderungen aus der Zeit der Überwindung des Inquisitionsprozesses“.58 Dabei ging es beim Übergang vom gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren zum reformierten Strafprozess nicht um die bloße Änderung des bestehenden Systems, sondern um eine völlige Neuordnung und -regelung. Dabei müssen systematisierende und interpretatorische Funktion von Prinzipien über deren rechtspolitische Zielsetzung zwangsläufig hintanstehen. Diese wird dabei aber selten rein verwirklicht. Sie gilt vielmehr bloß eingeschränkt, weil Ausnahmen im Gesetz vorgesehen sind. Kaum eine „klassische“ Prozessmaxime gilt uneingeschränkt, und zwar seit jeher. Dieser Umstand kann wiederum bei später anstehenden Änderungen vom jeweiligen Gesetzgeber fruchtbar gemacht werden, um weitere Ausnahmen zuzulassen. Für eine neue Ausnahme wird nicht der sachliche Grund für frühere Ausnahmen geltend gemacht, sondern vielmehr schlicht deren Existenz. Ob die neue Ausnahme aber der systematisierenden Funktion des jeweiligen Prinzips gerecht wird, wird dabei nicht mehr zwangsläufig diskutiert. Schließlich stand sie bei der Etablierung des Prinzips nicht im Vordergrund und dass die rechtspolitische Zielsetzung Ausnahmen zulässt, habe schon der historische Gesetzgeber in diesem Sinne gesehen.59 Dies vermag aber eine Begründung dafür, dass sich die (neuer­ liche) Ausnahme mit dem Prinzip in systematischer Hinsicht rechtfertigen oder jedenfalls in Einklang bringen lässt, nicht ernsthaft zu ersetzen. 56

Vgl. dazu lediglich Jescheck/Weigend, AT, § 1 II m. w. N. in Fn. 12. Grünwald, Dünnebier-Festschrift, S. 347 ff. 58 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 383 (Hervorhebung nicht im Original). 59 Vgl. exemplarisch in dieser Hinsicht die Begründung zur Einführung von § 375 Abs. 1a ZPO in den Gesetzesmaterialien, wonach dessen Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme u. a. damit erklärt wird, dass es schon andere gesetzliche Ausnahmen davon gibt (BT-Drs. 11/4155 S. 10). Ein solches Vorgehen überzeugt indes aus mehreren Gründen nicht. Zum einen kann schon die frühere Vorschrift, auf die man sich zur Legitimation der neueren Norm beruft, systemwidrig sein. Selbst wenn es nicht der Fall ist, ist die Vergleichbarkeit beider Regelungen damit noch nicht zwangsläufig begründet. 57

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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Auf diesen Befund hat Volk – in sehr pointierter Weise – aufmerksam gemacht. Wenn man Prinzipien und deren Ausnahmen betrachtet, wird zuweilen zweifelhaft, warum Prinzipien grundlegend und Ausnahmen exzeptionell sein sollen. Man schwankt zudem in mancher Hinsicht, ob die Ausnahmen nicht wichtiger als die Prinzipien sind.60 Auf diese Weise droht das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt zu werden. Besonders deutlich zeigt es sich bereits in Ausführungen von Eb. Schmidt, worin es heißt, dass bei der Erörterung sämtlicher Prozessprinzipien deren Ausnahmen „eine bedeutsame Rolle“ spielen.61 Einer solchen Sichtweise ist indes entschieden zu begegnen. Sie verkennt die geschilderten Wechselwirkungen der einzelnen Funktionen von Prozessmaximen. Wenn sich der Gesetzgeber auf rechtspolitischer Ebene für ein bestimmtes Prinzip entschieden und im Gesetz verankert hat, kommt nunmehr seine systematische Funktion zum Tragen. Spätere Gesetzesänderungen, die sich innerhalb der rechtspolitischen Zielsetzung bewegen (wollen), müssen sich an der einmal getroffenen (Wert-)Entscheidung messen lassen und sich innerhalb der hierdurch gesetzten Systematik bewegen. Daraus folgt, dass man nicht von den Ausnahmen auf das Prinzip und seinen Inhalt schließen darf. Vielmehr müssen sich – genau umgekehrt – die Einschränkungen eines Prinzips an seinem Inhalt und Wesen sowie seinem Sinn und Zweck messen lassen. 3. Fazit Als Fazit lässt sich festhalten, dass Prozessmaximen nicht auf deren rechtspolitische Funktion reduziert werden dürfen. Vielmehr muss deren systematisierende und interpretatorische Funktion betont werden. Auf unterschiedliche Ebenen von Prozessmaximen hat bereits Geppert im Rahmen seiner Untersuchung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes aufmerksam gemacht. Er wirft der bisherigen Diskussion um den Unmittelbarkeitsbegriff zu Recht vor, dass „terminologisch und in der Sache nicht scharf genug getrennt wurde zwischen dem Unmittelbarkeitsgedanken als abstraktem Begriff und Denkprinzip einerseits und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz andererseits, wie er sich in die allgemeinen Verfahrensentscheidungen […] einpasst“. Man müsse fragen, „in welchem Umfang jene abstrakte Unmittelbarkeitsidee konkreten Eingang in die StPO gefunden 60

Volk, Schüler-Springorum-Festschrift, S. 505, 509. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 330 a. E. (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. im vorliegenden Zuammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz, wenngleich für Unmittelbarkeit im Zivilverfahren, ferner Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 5, die zunächst die Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes untersuchen will. Als Begründung dafür führt sie zunächst an, dass sie genauer als der Grundsatz gesetzlich geregelt sind. Weiter heißt es noch: „Es ist zweckmäßig, diese Untersuchung, die Feststellungscharakter hat, voranzusetzen, um ihre Ergebnisse für den zweiten Hauptteil, der eher – insoweit er Überlegungen zur Fortentwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes enthält – Gestaltungscharakter hat, in den Griff zu bekommen.“ 61

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

hat“.62 Es müssen die theoretisch-begrifflichen Grundlagen eines Unmittelbarkeitsprinzips davon unterschieden werden, in welchem Umfang dieser abstrakte Begriff de lege lata im Gesetz verankert ist.63 Eine andere Frage ist, ob sich das sachliche Substrat bloß in der rechtspolitischen und -gestaltenden Funktion von Prozessmaximen oder ebenso in deren systematisierenden und interpretatorischen Komponente äußert, selbst wenn diese im Einzelfall einmal nicht – expressis verbis64 – gesetzlich verankert ist. Unabhängig von dieser Frage handelt es sich dabei aber bloß um die gebräuchliche Differenzierung von de lege lata und de lege ferenda, die im rechtswissenschaftlichen Zusammenhang freilich immer beachtet werden muss. Diese Unterscheidung wird aber übersehen, wenn man Prozessgeboten allzu apodiktisch abspricht, auf logischen Erwägungen zu beruhen.65 Aus der Differenzierung zwischen dem sachlichen Substrat von Prozessmaximen einerseits und deren gesetzlichen Lozierung andererseits folgt nämlich, dass der gesetzliche Gehalt von Prozessprinzipien zur – mehr oder minder beliebigen und (rechts-)politischen Einflüssen unterliegenden – Disposition des Gesetzgebers steht, nicht aber deren abstrakte Idee. Der Gesetzgeber kann Gesetze ändern, ohne dass er dadurch aber die Logik außer Kraft setzen kann. Von daher geht es nicht an, Prozessmaximen von vornherein und per se absprechen zu wollen, dass sie auf logischen Erwägungen beruhen (können), und zwar unabhängig davon, ob sie im Einzelfall – ausdrücklich66 – im geltenden Recht verankert sind.

II. Klassische versus verfassungsrechtliche Prozessmaximen Die Frage, ob eine Prozessmaxime gesetzlich loziert ist, berührt noch eine andere Unterscheidung, die im Rahmen der allgemeinen Betrachtungen vorgenommen werden muss. Im neueren Schrifttum wird zwischen klassischen und verfassungsrechtlichen Prozessprinzipien differenziert, eine übrigens nicht bloß in der (Kommentar-)Literatur zum Strafprozessrecht67, sondern nicht minder im zivilprozessualen Schrifttum geläufige Einteilung68. Die verfassungsrechtlichen Ver 62

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162 mit S. 181. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 121 f. 64 Dabei darf übrigens nicht übersehen werden, dass Prozessmaxime nicht zwangsläufig unmittelbar im Gesetz loziert sein müssen, sondern bloß auf mittelbare Weise als Erfahrungssätze im Gesetz verankert sein können, und zwar (als „Rechtsnormen“) in §§ 261, 337 Abs. 2 StPO, vgl. dazu allgemein sowie speziell zum Unmittelbarkeitsgrundsatz näher im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 2. 65 Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 210. 66 Wie Anm. 64. 67 Vgl. insbesondere die Übersicht bei Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 9 ff., 71 ff. sowie die Gegenüberstellung bei Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 386 f.; ders., StraFo 1995, 94, 95. 68 s. hierzu etwa Schreiber, JURA 2007, 500 ff. 63

1. Kap.: Wesen und Bedeutung von Prozessmaximen

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fahrensgrundsätze dienen – im Gegensatz zu den klassischen Postulaten – dabei weniger der rechtspolitischen Beschreibung eines erst noch zu schaffenden Rechtszustands, als vielmehr der zusammenfassenden Kennzeichnung bereits vorhandener und allenfalls im Detail anzupassender gesetzlicher Vorschriften. Sie bauen auf dem vorhandenen Rechtszustand auf und heben (bloß) bestimmte Regelungsinhalte auf die verfassungsrechtliche Ebene.69 Sie bedürfen einer gesetzlichen Geltungsgrundlage in der Verfassung selbst, worin sie sich von den klassischen Prozessprinzipien unterscheiden, die – jedenfalls in der rechtspolitischen Funktion – ohne eine solche auskommen und gleichwohl zu beachten sind. Damit stellt sich die Frage, ob Unmittelbarkeit zu den klassischen oder ver­ fassungsrechtlichen Prozessprinzipien zählt. Die Antwort darauf wird dadurch etwas erschwert, dass selbst überkommene Prozessmaximen inzwischen ein verfassungsrechtliches Fundament erhalten haben (sollen)70. Dennoch lässt sich der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz einigermaßen sicher in eine der beiden Rubriken einordnen. Es lässt sich im Ausgangspunkt kaum ernsthaft bezweifeln, dass die historische Bedeutung der (Straf-)Prozessprinzipien darin zu sehen ist, den Missständen des geheimen Inquisitionsprozesses zu begegnen. In seiner Eindämmung und Überwindung liegt aus geschichtlicher Perspektive der Schwerpunkt der Strafprozessmaximen.71 Dies gilt gerade für den Unmittelbarkeitsgrundsatz, wie es von anderer Seite schon mehrfach und umfassend aufgezeigt worden ist.72 In dieser Hinsicht heißt es lapidar, aber deshalb nicht weniger zutreffend, dass das Unmittelbarkeitsprinzip als „klassisches“ Prinzip seinen Ursprung in der Abkehr vom schriftlichen Inquisitionsprozess hat.73 Geppert ist uneingeschränkt darin zuzustimmen, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit weitestgehend auf geschichtlichen Erfahrungen beruht.74 Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass Unmittelbarkeit weniger ein verfassungsrechtliches Verfahrensprinzip ist, sondern vielmehr zu den klassischen, zu den überkommenen und tradierten Prozessmaximen zählt.

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Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 73. In diesem Sinne etwa Rieß, StraFo 1995, 94, 95 unter Nennung von Unmittelbarkeit. Vgl. näher zur Frage, ob der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich fundiert ist, im 5. Teil, 10. Kapitel unter I. 71 Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 210. 72 Vgl. zu Geschichte und Entwicklung des Unmittelbarkeitsprinzips umfassend Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 7 ff., 67 ff.; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 26 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 28 ff., 35 ff. 73 Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 226. 74 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 7. 70

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

2. Kapitel

Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens Im nächsten Schritt hat man sich über Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens zu verständigen. Wie bereits ausgeführt, nimmt Unmittelbarkeit als Prozessmaxime, wie es sämtliche Prozessgrundsätze tun, nämlich eine Mittlerfunktion zwischen Prozessziel und gesetzlicher Detailaussage wahr.75 Von daher muss man sich nunmehr der Ziele des Strafverfahrens, und damit seiner Funktionen und Aufgaben annehmen, um im Anschluss daran klären zu können, worin die Vorzüge eines vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz beherrschten Strafprozesses und damit Sinn und Zweck dieses Verfahrensprinzips bestehen (sollen). Die Ziele des Strafverfahrens sind vielgestaltig. Der Strafprozess soll nicht bloß eine Aufgabe erfüllen, sondern mehrere Funktionen gleichzeitig wahrnehmen. Über deren Verhältnis zueinander wie über die Inhalte der einzelnen Aufgabenzuweisungen herrscht dabei Streit im Grundsätzlichen wie in zahlreichen – begrifflichen76 – Detailfragen. Im Ausgangspunkt, und er genügt für die weitere Behandlung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes, ist man sich aber weitestgehend einig. Der Strafprozess dient, soweit es im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist77, der Anwendung des materiellen Rechts, der Ermittlung von Wahrheit und schlussendlich noch der Achtung der Menschenwürde sowie der Freiheits- und sonstigen Grundrechte des Beschuldigten.

I. Das Strafverfahren als Mittel zur Durchsetzung und Anwendung des materiellen Strafrechts „Das Strafverfahren dient der gerechten Anwendung des sozialistischen Strafrechts.“ Unser Strafverfahrensrecht kennt eine solche – mit § 1 Abs. 1 Satz 1 DDRStPO – vergleichbare Grundsatzbestimmung zu den „Aufgaben des Strafverfahrens“, wie die gesetzliche Überschrift des entsprechenden Kapitels der DDR-StPO lautete, nicht. Gleichwohl stößt man durchweg auf ähnliche Formulierungen zu Sinn und Zweck von Strafverfahren. „Das Strafprozeßrecht ist darauf angelegt, die Tat aufzuklären und den staatlichen Strafanspruch, der aus den Vorschriften

75

s. hierzu näher im 1. Kapitel unter I. bei Anm. 5 (S. 27). s. hierfür bloß Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 31 f. Im Folgenden werden „Zweck“, „Funktion(en)“, „Aufgabe(n)“ und „Ziel“ weitestgehend synonym verwendet, soweit sich nicht aus dem konkreten Kontext etwas anderes ergibt. 77 Vgl. umfassend zu Prozesszwecken etwa Volk, Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, S.  169 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S.  13 ff.; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 173 ff.; Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 32 ff. sowie ferner noch Neumann, ZStW 101 (1989), 52 ff.; Murmann, GA 2004, 65 ff.; Rieß, JR 2006, 269 ff. – jeweils m. w. N. (auf das ältere Schrifttum). 76

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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des materiellen Strafrechts erwächst, festzustellen und durchzusetzen.“78 Das Ziel des Strafverfahrens ist es, die Wahrheit hinsichtlich der Straftat zu ermitteln und den schuldigen Täter der Strafe zuzuführen, wodurch das materielle Strafrecht verwirklicht wird.79 Das Strafverfahrensrecht hat „im konkreten Einzelfall das materielle Strafrecht zu bewähren“.80 Die Anbindung des Strafprozessrechts an das materielle Strafrecht wird noch besonders deutlich im Lehrbuch von Hellmann, worin es heißt81: „Auf die Frage nach der Funktion des Strafprozeßrechts scheint es eine einfache Antwort zu geben: Es dient der Anwendung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts.“ Anderenorts heißt es ähnlich lapidar: „Das Strafprozeßrecht steht in enger Beziehung zum Strafrecht.“82 Quintessenz und Gemeinsamkeit sämtlicher Zitate ist, dass – wie es in einer gleichnamigen Dissertation zum „Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht“ heißt – das Strafverfahrensrecht zwar eine eigene Ordnung darstellt, dabei aber dennoch von außerprozessualen, allgemeinen Werterwägungen beherrscht wird und als ständig sich neu vollziehender Vorgang der Durchsetzung und Bewährung des materiellen Strafrechts dient.83 Insofern ist die Rede von der „Durchsetzungsfunktion“ des Strafverfahrens.84 Darüber, dass Anwendung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts eine Funktion des Strafprozesses ist, herrscht von daher ungeteilte Einigkeit in der (Kommentar-)Literatur. Darin hebt sich das Strafverfahrensrecht übrigens nicht von anderen Verfahrensordnungen ab. Bereits Hellmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass „jede Verfahrensordnung die praktische Umsetzung des materiellen Rechts bezweckt“.85 Im besonderen Maße zeigt sich dies in Stellungnahmen aus der Zivilprozessrechtswissenschaft. Sie erschöpfen sich nicht darin, die dienende Funktion in allgemeiner Hinsicht zu betonen.86 Darüber hinaus sind sie in speziellen Konstellationen vom Grundsatz der materiellrechtsfreundlichen Auslegung prozessrechtlicher Vorschriften beherrscht. Er besagt, dass bei der Anwendung des Zivilverfahrensrechts möglichst diejenige Auslegung der prozessualen Vorschriften zu wählen ist, welche dem materiellen Recht am besten entspricht. Dies wiederum wird aus der dienenden Funktion des (Zivil-)Prozesses im Verhältnis zum materiellen Recht ge 78

Ranft, Strafprozeßrecht, S. 2. Fischer, in: KK, Einl. Rdnr. 3. 80 Stock, Mezger-Festschrift, S. 429 m. w. N. in Fn. 1. 81 Hellmann, Strafprozeßrecht, Rdnr. 1 (Hervorhebung nicht im Original). 82 Schroeder, Strafprozeßrecht, Rdnr. 6. 83 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 159 (Hervorhebung nicht im Original). 84 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S.191 ff., 193 m. w. N. in Fn. 62. 85 Hellmann, Strafprozeßrecht, Rdnr. 1 (Hervorhebung nicht im Original). 86 Es wird nicht bestritten, dass das Zivilprozessrecht der Verwirklichung des materiellen Rechts dient, vgl. dazu bloß Jauernig, Zivilprozessrecht, S. 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, Einl. III Rdnr. 9; Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 1 Rdnr. 12; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rdnr. 9; Musielak, in: ders., ZPO, Einl. Rdnr. 5 – jeweils m. w. N. 79

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

schlussfolgert.87 Eine Besonderheit des Zivilprozesses ist darin wiederum nicht zu sehen. Vielmehr ist man sich durchweg darin einig, dass das jeweilige Verfahrensrecht der Durchsetzung und Anwendung des zugrunde liegenden materiellen Rechts dient88, wie man es für das Strafprozessrecht, wie geschildert, ebenfalls tut. 1. Strafprozessrecht als bloßes Hilfsrecht des materiellen Strafrechts Uneinig ist man sich dagegen in der Frage, wie sich materielles Strafrecht und Strafprozessrecht als Folge einer solchen Aufgabenzuweisung zueinander verhalten. Sehr deutlich in dieser Hinsicht wird Eschelbach: „Das Strafverfahrensrecht ist formelles Recht, welches zuvörderst der Realisierung und Anwendung des materiellen Rechts […] dient. Es besteht nicht um seiner selbst willen, sondern nur als Mittel zum ferneren Zweck der Anwendung des materiellen Strafrechts.“89 Dies entspricht der überkommenen Vorstellung vom Verhältnis Straf- und Strafprozessrecht zueinander. Baumann hat sie – unter Einschluss anderer Verfahrensordnungen – in verfahrensvergleichender Hinsicht wie folgt beschrieben90: „Das Strafprozeßrecht befaßt sich wie das Zivilprozeßrecht mit der Verwirklichung dieser durch das materielle Recht normierten Rechtslage in einem besonderen Verfahren. Strafprozeßrecht, Zivilprozeßrecht, Verwaltungs- und Verfassungsprozeßrecht sind Hilfsrechte jeweils zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts, Zivilrechts, Verwaltungs- und Verfassungsrechts.“ Insofern spricht man anderenorts vom Zivil- und Strafprozeßrecht als Kodifikationen eines „Rechtsdurchsetzungsrechts“, die in dieser Eigenschaft weitgehend vom zugehörigen materiellen Recht abhängig sind, von diesem Farbe und Prägung sowie das jeweils besondere Gesicht erhalten. Sie sind insofern Hilfsrechte der jeweiligen materiell-rechtlichen Schwesterkodifikationen.91 In dieser Hinsicht macht sich die „Erkenntnis der dienenden 87

s. hierzu Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 1 Rdnr. 92 ff.; Prütting, in: Wieczorek/ Schütze, ZPO, Einl. Rdnr. 111; Schumann, Larenz-Festschrift, S. 571 ff. 88 Vgl. für die Arbeitsgerichtsbarkeit etwa Düwell, in: ders./Lipke (Hrsg.), ArbGG, Einl. Rdnr. 169 („Die Arbeitsgerichtsbarkeit dient der Durchsetzung von arbeitsrechtlichen Ansprüchen.“) sowie Germelmann/Matthes/Müller-Glöge/Prütting, ArbGG, Einl. Rdnr. 47: Das System umfassenden Rechtsschutzes und dabei die Arbeitsgerichtsbarkeit als integraler Bestandteil in diesem Rechtsschutzsystem „dient auch der Verwirklichung des objektiven Rechts“. Vgl. für die Verwaltungsgerichtsbarkeit bloß Lorenz, Verwaltungsprozeßrecht, § 1 Rdnr. 2: „Das Prozeßrecht stellt keinen Selbstzweck dar, sondern ist auf die Verwirklichung des materiellen Rechts ausgerichtet, […] hat also dienende Funktion“. Dass diese Aufgabenzuweisung für die Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit ebenfalls Geltung beansprucht, folgt schon daraus, dass sie durch „besondere Verwaltungsgerichte“ wahrgenommen werden (§ 1 SGG und § 1 FGO), wodurch die soeben aufgezeigte Funktion der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit in diese Gerichtszweige sozusagen inkorporiert wird. 89 Eschelbach, in: KMR, Einl. Rdnr. 9. 90 Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, S. 11 (Hervorhebung im Original). 91 Fezer, Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und im Strafprozeß, S. 2 m. w. N.

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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Funktion der Prozeßgesetze zur Verwirklichung des materiellen Rechts“ breit.92 Das Strafverfahren dient primär der Durchsetzung des materiellen Rechts und hat die Realisierung der Vorgaben des materiellen Rechts zum Primärziel.93 Bei einer solchen Sichtweise reduziert man – wie in der Zivilprozessrechtswissenschaft – das Strafverfahrensrecht sehr deutlich auf seine dienende Funktion im Verhältnis zum materiellen Strafrecht. 2. Gleichrangigkeit zwischen Straf- und Strafprozessrecht Anderenorts geht man nicht derart weit, sondern vielmehr von einer Art Gleichwertigkeit und -rangigkeit im Verhältnis von Straf- und Strafverfahrensrecht aus. Nach Volk etwa sind die beiden Rechtsgebiete miteinander verblockt, d. h. funktional aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Ein Straf-Recht ohne Prozess soll es nicht geben.94 Im selben Sinne heißt es bei Peters, dass das materielle Recht erst durch den Prozess Leben und Verwirklichung gewinnt.95 Ähnlich äußert sich noch Schroeder. Danach sei die Formulierung, dass das Strafprozessrecht der Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts dient, problematisch wie es überhaupt gefährlich sei, den Zweck des Strafverfahrensrechts auf eine kurze Formel bringen zu wollen.96 Interessant sind dabei die beiden Argumente, die Schroeder dafür bringt, dass es fragwürdig sein soll, die Funktion des Strafprozessrechts auf die Durchsetzung des materiellen Strafrechts reduzieren zu wollen. Dies könnte zu der bedenklichen Vorstellung verführen, dass ein Freispruch den Zweck des Strafprozesses verfehlen würde.97 Eine solche Ver­suchung besteht indes nicht bzw. ist jedenfalls nicht bedenklich. Wenn es zum Freispruch kommt, etwa wegen Notwehr, Notstands oder aus einem anderen materiell-strafrechtlichen Grund, ist das materielle Recht zur Anwendung gekommen und damit durchgesetzt bzw. verwirklicht worden.98 Insofern besteht die von Schroeder geschilderte Gefahr nicht. 92

Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, S. 3 m. w. N. Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 726 f. (Hervorhebungen nicht im Original), ohne freilich zu leugnen, dass es daneben noch „gleichrangig (bzw. mitunter sogar vorrangig) eigenständige Sekundärzwecke“ gibt. 94 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2 Rdnr. 1. 95 Peters, Strafprozeß, S. 7. 96 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 9 ff. 97 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 8. Ähnlich bereits Schmidhäuser, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 511, 512 (unten); Hagen, Prozeßlehre, S. 172; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 15. 98 Ebenso Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 191 sowie im Anschluss daran Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 40 in Fn. 74. Selbst wenn es zu einer Einstellung durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO kommt, weil ein Verfahrenshindernis besteht und damit aus scheinbar ausschließlich prozessualen Gründen, ist der geschilderte Zweck des Strafverfahrens nicht zwangsläufig verfehlt. Beim fehlenden Strafantrag wird dem materiellen Recht zur Durchsetzung verholfen, jedenfalls unter Annahme, dass er – mit einer 93

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

Von Interesse ist ferner noch sein weiteres Argument dafür, dass man die Funktion des Strafprozessrechts keinesfalls auf die Verwirklichung des materiellen Rechts verengen dürfe. Weil das materielle Strafrecht primär an den Einzelnen gerichtete Verbote aufstellt, wird es ebenso dadurch durchgesetzt und verwirklicht, dass sich der Einzelne strafbaren Handlungen enthält. Unter diesem Blickwinkel wird das Strafrecht sehr viel häufiger freiwillig verwirklicht als durch Vollstreckung von Strafen nach vorherigem Strafprozess.99 Dies wird etwa von Volk in Abrede gestellt, wonach es ein Straf-Recht ohne Prozess nicht geben soll.100 Ähnlich sieht es Peters und bemüht dafür den Vergleich zum Zivilrecht. Insofern würde ein grundlegender Unterschied zwischen Strafprozess und Zivilrecht bestehen, weil sich Zivilrecht regelmäßig außerhalb des Gerichtsverfahrens abspielt, wohingegen das materielle Strafrecht ausschließlich im Strafprozess verwirklicht wird.101 Eine solche Sichtweise sieht sich aber Bedenken ausgesetzt. Erste Einwände ergeben sich aus der Perspektive der Strafzwecke. Wenn es bloß um Vergeltung gehen würde, könnte sich eine Sichtweise, dass materielles Strafrecht bloß im Prozess verwirklicht wird, unter der weiteren Voraussetzung eines staatlichen Gewaltmonopols, rechtfertigen lassen. Grundlage des geltenden Strafrechts sind aber die sog. Vereinigungstheorien, welche die Strafzwecke der positiven und negativen Generalprävention einbeziehen102, wobei lediglich umstritten ist, wie sich Sühne- und Präventionsgedanke zueinander verhalten103. Ein ausschließlich auf Vergeltung oder Sühne abstellendes Strafrechtssystem wird daMindermeinung – eine materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Komponente haben soll (vgl. die Nachw. zum Streitstand bei Schmid, in: LK, Vor § 77 Rdnr. 7). Gleiches gilt für die Verjährung, der man teilweise eine ausschließlich materiell-rechtliche Rechtsnatur oder eine Doppelnatur mit einer materiellrechtlichen und einer verfahrensrechtlichen Seite einräumt (s. hierzu Schmid, in: LK, Vor § 78 Rdnr. 7 ff. m. w. N. zum Meinungsbild). 99 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 9; Schroeder, NJW 1983, 137, 139 sowie ferner Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 24 und Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 193 f. 100 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2 Rdnr. 1. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 15. 101 Peters, Welzel-Festschrift, S. 415, 416 mit Fn. 11. Als Beispiel hierfür bringt Peters den Einkauf der Hausfrau, bei dem sich zivilrechtliche Vorgänge abspielen. Es würde jedoch keine Verwirklichung des Strafrechts bedeuten, wenn die Vertragsschließenden sich dabei nicht betrügen. Das Verhalten sei überhaupt nicht Ausfluss des Strafrechts, sondern Wirkung von Anstand, Sitte und Sittlichkeit. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass es vielleicht die viel beschworene „sittenbildende Kraft des Strafrechts“ ist, warum man bei alltäglichen Rechtsgeschäften nicht betrügt. Im Übrigen würde sich – entgegen Peters – nicht einmal das Zivilrecht, namentlich § 123 BGB, verwirklichen, wenn man beim Einkauf aus Anstand und mit Rücksicht auf Sitte und Sittlichkeit nicht täuscht. 102 Vgl. hierzu näher Jescheck/Weigend, AT, S. 75 ff. m. w. N. in Fn. 73 sowie BVerfGE 45, 187, 253. 103 Während die Rspr. beide Gedanken als gleichrangig ansieht (BGHSt 6, 123, 125; 19, 201, 206; BVerfGE 21, 391, 404; 22, 125, 132), wird im Schrifttum zumeist ausschließlich präventiv orientierten Vereinigungstheorien der Vorzug gegeben (vgl. hierzu etwa Roxin, AT I, § 3 Rdnr.  36 ff., 43 ff. m. w. N.).

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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gegen von niemandem befürwortet. Der Präventionsgedanke wiederum besagt in negativer Hinsicht, dass andere durch die Androhung von Strafe abgeschreckt und dadurch von der Begehung ähnlicher oder vergleichbarer Straftaten abgehalten werden sollen.104 Der positive Aspekt der Generalprävention wird demgegenüber gemeinhin in der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung gesehen. Die Strafe hat danach die Aufgabe, die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und auf diese Weise die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken.105 Streit herrscht in der Gewichtung beider Aspekte. Dem Gesichtspunkt der positiven Generalprävention wird heute zumeist eine größere Bedeutung als der reinen Abschreckungswirkung beigemessen.106 In einem Punkt gleichen sich beide Elemente wiederum. Selbstverständlich wirkt sich die Theorie von der Generalprävention, insbesondere in der positiven Variante, im besonderen Maße erst durch die Verhängung von Strafen im Rahmen der konkreten Strafzumessung aus, weil davon die Effizienz der Strafandrohung abhängt.107 Insofern setzt (positive) Generalprävention zwingend einen Strafprozess voraus, um vollends verwirklicht werden zu können. Die Abschreckungswirkung, wie überhaupt die Lehre von der General­ prävention versteht sich aber primär als eine Theorie der Strafandrohung108 – und soll damit ohne Strafprozess wirken. Dies wird übersehen, wenn man ausführt, dass sich materielles Strafrecht ausschließlich im Strafverfahren verwirklichen soll, und ist Volk entgegenzuhalten, wonach es ein Straf-Recht ohne Prozess nicht geben soll. Es gibt dies sehr wohl, wohingegen die Umkehrung des Satzes (Prozess ohne Straf-Recht) keinesfalls möglich ist. 3. Emanzipation des Strafverfahrens(rechts) vom materiellen Strafrecht Vereinzelt will man das Strafverfahrensrecht sogar noch mehr vom materiellen Strafrecht lösen. Es könne „heute jedenfalls als übergreifendes Ziel des Strafprozesses nicht mehr die Aufgabe angesehen werden, er habe in einer dienenden Funktion das materielle Strafrecht zu verwirklichen“.109 Rieß bleibt aber noch vergleichsweise moderat, weil er diesen Aspekt nach wie vor zumindest als Teil­ element eines übergeordneten Ziels schätzt. Anderenorts wird man insofern deutlicher. Eine Unterordnung des Strafprozessrechts unter das materielle Recht wird als verfehlt angesehen. Keinesfalls soll Ver 104

Roxin, AT I, § 3 Rdnr. 25; Jescheck/Weigend, AT, § 8 II. 3. a) – jeweils m. w. N. Vgl. statt aller bloß Roxin, AT I, § 3 Rdnr. 26 sowie die umfassenden Nachw. bei Hönig, Strafmildernde Wirkung des Geständnisses im Lichte der Strafzwecke, S. 126 ff. 106 Roxin, AT I, § 2 Rdnr. 26 a. E. 107 Roxin, AT I, § 3 Rdnr. 23. 108 Roxin, AT I, § 3 Rdnr. 23; Gropp, AT, § 1 Rdnr. 117. 109 Vgl. hierzu und zum Folgenden Rieß, JR 2006, 269, 270. 105

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

fahrensrecht ein bloßer formaler Appendix des materiellen Rechts sein, sondern vielmehr einen Eigenwert besitzen.110 Danach nimmt es keineswegs eine lediglich dienende Funktion im Verhältnis zum sachlichen Strafrecht wahr. Vielmehr hat, um mit Neumann zu sprechen, eine „Emanzipationsbewegung des Strafprozesses gegenüber dem materiellen Strafrecht“ eingesetzt111, ohne dass er sich deshalb vollends vom Gedanken einer dienenden Funktion des Verfahrens im Verhältnis zum materiellen Recht befreien will. Einen ähnlichen Standpunkt nimmt Freund ein. Danach soll das Strafprozessrecht das eigentliche Anwendungsfeld des materiellen Strafrechts sein und Strafrecht in der Wirklichkeit ohne „Prozess“ ausgeschlossen sein. Vielmehr kann es Realität bloß dadurch gewinnen, dass es über ein Verfahren vermittelt und modifiziert wird.112 Der Strafprozess könne nicht lediglich einen unselbständigen Annex des „eigentlichen“ Strafrechts bilden und dürfe nicht mit der Aufgabe – um nicht zu sagen: Hypothek – belastet werden, bloß der Verwirklichung eines ohne Beachtung der Verwirklichungsproblematik entworfenen materiellen Strafrechts zu dienen.113 Soweit es jedoch die Behauptung von Freund betrifft, dass Strafrecht in der Wirklichkeit ohne Prozess ausgeschlossen sein soll, ist wieder mit Schroeder zu entgegnen, wonach „Strafrecht – glücklicherweise – sehr viel häufiger freiwillig ‚verwirklicht‘ [wird], als durch die Vollstreckung von Strafen“.114 Im Übrigen leugnet Freund zudem nicht, dass es richtig ist, dass der Prozess im Gesamtsystem des Strafrechts eine dienende Funktion besitzt. Er sieht lediglich eine ausschließliche Unter- oder Nachordnung der prozessrechtlichen Problematik im Verhältnis zur materiell-strafrechtlichen als verfehlt an.115 Im Ergebnis will er von daher lediglich die Schwerpunkte anders gesetzt wissen, ohne die dienende Funktion des Strafprozesses im Verhältnis zum materiellen Strafrecht gänzlich in Frage stellen zu wollen. Einen vergleichbaren Paradigmenwechsel nimmt noch Kühne vor. Er ist der Meinung, dass das noch aus der Anfangszeit des reformierten Strafprozesses stammende und zum Teil noch heute unkritisch übernommene Verständnis vom Verfahrensrecht als Hilfsdisziplin des materiellen Rechts unzutreffend und die damit einhergehende relative Geringschätzung des Prozessrechts völlig unangebracht ist. Vielmehr würde das materielle Recht erst durch Verfahrensrecht real zu existieren beginnen. In dieser Hinsicht würde das Prozessrecht natürlich Umfang und Ausmaß möglicher Geltung des materiellen Rechts prägen.116 Dies fasst Kühne dahin 110

Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 8. Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 56. 112 Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 43, 44 (Hervorhebungen im Original). 113 Ebd., S. 56. 114 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 9. 115 Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 43, 56. 116 Kühne, in: LR, Einl., Abschn. B Rdnr. 9. 111

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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gehend zusammen, dass das Strafverfahrensrecht für die reale Geltung des materiellen Rechts konstituierend ist.117 Freilich geht er dabei nicht auf Schroeder ein, wonach „Strafrecht – glücklicherweise – sehr viel häufiger freiwillig ‚verwirklicht‘ [wird] als durch die Vollstreckung von Strafen“ nach vorherigem Strafverfahren.118 Insofern ist das Strafprozessrecht keinesfalls zwangsläufig konstitutiv für die reale Geltungs- und Wirkkraft des materiellen Strafrechts. 4. Stellungnahme und Fazit Eine Stellungnahme in diesem Meinungsstreit kann sich auf die Feststellung von zwei Prämissen beschränken: Dass dem Strafverfahrensrecht ein Eigenwert beizumessen ist, wird – von einer sogleich anzusprechenden Ausnahme abge­ sehen – seit jeher anerkannt, selbst wenn im Übrigen von einer primär dienenden Funktion des Strafprozessrechts im Verhältnis zum materiellen Strafrecht ausgegangen wird.119 Zugleich wird – unabhängig von der Frage der Gewichtung im Einzelnen – die Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts unisono als (eine) Aufgabe des Strafverfahrens angesehen. Dass man sich vereinzelt weigert, dessen Funktion darauf zu reduzieren, hat wohl primär historische Gründe. Sie wurde nämlich während der NS-Zeit verabsolutiert. Im bereits erwähnten Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission wird das Strafverfahrensrecht von Freisler in dieser Hinsicht als eine bloße zweckbestimmte Arbeitsordnung umschrieben, das in seinem Zweck an das sachliche Strafrecht gebunden ist. Eine darüber hinausgehende eigenwertige, selbständige verfassungsmäßige Bedeutung, wie sie insbesondere bei der Verabschiedung der Reichsstrafprozeßordnung diskutiert worden ist, sollte es nicht (mehr) haben, wobei sich dies „bereits aus seiner Gebundenheit an den Sinn des sachlichen Strafrechts“ ergeben sollte.120 Der Auffassung, den Strafprozess auf diese Funktion zu reduzieren und insofern fast schon zweckfrei zu verstehen, sollte man vor diesem Hintergrund sicher nicht anhängen, ohne dass man – im Sinne des genau gegenteiligen Extrems – das Strafverfahren und seine rechtliche Bestimmungen allerdings gleich gänzlich vom materiellen Strafrecht emanzipieren muss.

117

Kühne, in: LR, Einl., Abschn. B Rdnr. 10. Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 9. Aus diesem Grund muss es aber bei der momentanen Fassung von Strafgesetzen bleiben. Nach Schroeder, Strafprozessrecht, § 2 Rdnr. 12 müsste dagegen „Wer einen Menschen tötet, …“ besser lauten „Wem nachgewiesen ist, dass er einen Menschen getötet hat, …“ Dadurch desavouiert er sich aber in gewisser Weise selbst. Denn eine solche Strafvorschrift bedürfte zur Realisierung zwingend eines Prozesses, um den Nachweis zu führen. Einen solchen sieht Schroeder aber – zu Recht – als nicht erforderlich an, damit das Strafrecht „durchgesetzt“ und „verwirklicht“ wird. 119 s. zum Ganzen Rieß, JR 2006, 269, 270 [unter 2. a) mit Fn. 7]. 120 Freisler, in: Gürtner (Hrsg.), S. 12. Vgl. ferner noch Gallas, ZStW 58 (1939), 624, 637: „Das Strafverfahren dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts.“ 118

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

Vielmehr ist von einer Gleichwertigkeit auszugehen. Nach Peters ist es zwar eine „Binsenweisheit“, dass der Strafprozess das Strafrecht verwirklicht und Strafprozessrecht insofern Strafrechtsanwendungsrecht ist, woraus die Notwendigkeit der Anpassung des Strafverfahrensrechts an das jeweilige Strafrecht folgt. Daneben gibt es aber eine Zone der „Gleichberechtigung“.121 Zwischen sachlichem Strafrecht und formellem Strafverfahrensrecht besteht, wie es anderenorts ohne inhaltlichen Unterschied heißt, ein „Verhältnis notwendiger und gleichrangiger Ergänzung“122, ein „gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis“123. In diesem Sinne müssen Normsetzung und Sanktionsandrohung auf der einen Seite und Durchführung des Verfahrens auf der anderen Seite im Sinne eines Zusammenspiels beider (Rechts-)Materien kumulativ zusammenkommen. Insofern haben materielles Recht und Prozessrecht einen gemeinsamen übergeordneten Zweck.124 Von daher stehen sich materielles Strafrecht und formelles Strafprozessrecht gleichsam auf Augenhöhe gegenüber. Roxin bemüht ein ähnliches Bild für das Verhältnis von Straf- und Strafprozessrecht. Er spricht von der engen Beziehung beider Rechtsgebiete, die in einem notwendigen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, weshalb sie in Lehre und Forschung ebenso eng zusammengehören, wie es in der Rechtspraxis seit eh und jeh der Fall ist.125 In früheren Zeiten wurde der Zusammenhang bereits vom Gesetz­ geber selbst betont und unmittelbar hergestellt. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, die Constitutio Criminalis Carolina (CCC), hat jedenfalls noch materielles und formelles Recht unter einem Dach vereinigt. Dabei standen sie überdies nicht mehr oder minder lose in einzelnen Abschnitten oder Kapi 121

Peters, Welzel-Festschrift, S. 415, 416 ff. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17. Vgl. ferner noch Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, wonach „materielles Recht und Strafprozeßrecht eng zueinander gehören und sich gegenseitig ergänzen müssen“. 123 Perron, Hanack-Festschrift, S. 473 (unten), wonach dies von niemandem ernsthaft bestritten wird. 124 Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 32 mit S. 44. Wenn dafür allerdings angeführt wird, dass es zahlreiche Einflüsse des Prozessrechts auf das materielle Recht gibt, etwa Auswirkungen des Beweisrechts auf die Ausgestaltung von Straftatbeständen [Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 32 in Fn. 53 unter Hinweis auf Lüderssen, ZStW 85 (1973), 288 ff.], gerät man in einen methodischen Zirkelschluss, weil Ursache und Wirkung miteinander verwechselt und vertauscht werden. Solche Auswirkungen wären hinzunehmen, wenn sich das Strafverfahrensrecht tatsächlich nicht bloß in einer dienenden Rolle im Verhältnis zum materiellen Strafrecht befindet. Wenn es sie aber gibt, wären die geschilderten Konsequenzen und Interdependenzen methodisch-dogmatisch verfehlt – und müssten jedenfalls anders begründet werden. Es wurde bereits von anderer Seite darauf hingewiesen, dass ein Vorgehen im Sinne von Krack dagegen methodisch fragwürdig ist. Wenn die Rolle des Verletzten „durch den Zweck des Verfahrens (mit)definiert werden soll, wäre es methodisch unrichtig, bei der Ermittlung des Zwecks seine (noch gar nicht feststehende) Position zu berücksichtigen“ (Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 174). Dieser methodisch berechtigte Hinweis wird von Krack etwas außer Acht gelassen. Vgl. im Übrigen zu „Bewältigung von Beweisschwierigkeiten durch Ausdehnung des materiellen Strafrechts“ noch den gleichnamigen Beitrag von Weigend, Triffterer-Festschrift, S. 695 ff. 125 Vgl. zum Folgenden Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 5 f. 122

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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teln nebeneinander, sondern wurden vielmehr unmittelbar miteinander verknüpft. Es wurde etwa peinlich genau geregelt, wie in Verdachtsfällen der Begehung von bestimmten Straftaten in prozessualer Hinsicht zu verfahren ist (Art. 32 ff. CCC). Möglicherweise geht ein solch (innerer) Bezug etwas verloren, wenn man Strafund Strafverfahrensrecht (äußerlich) voneinander trennt, indem man sie in verschiedenen Gesetzen und Gesetzbüchern kodifiziert. Vorschub leistet man einer Emanzipationsbewegung des Strafprozesses gegenüber dem materiellen Strafrecht dadurch allemal. Damit soll nicht einer einheitlichen Kodifikation das Wort geredet werden. In jedem Falle gilt es aber zu beherzigen, dass Anwendung und Realisierung des sachlichen Strafrechts für Wesen und Zweck des Strafverfahrens unverändert von Bedeutung sind, jedenfalls als Teilelement eines übergeordneten Ziels. Damit ist zugleich gesagt, dass es nicht der einzige Zweck des Strafverfahrens ist bzw. sein kann, sondern es daneben noch andere – gleichrangige oder untergeordnete – Funktionen des Strafprozesses gibt, die im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz stehen (können).

II. Das Strafverfahren als Mittel zur Erforschung und Ermittlung der (materiellen) Wahrheit Ein anderer Zweck des Strafverfahrens wird vornehmlich von der Recht­ sprechung betont, insbesondere von der verfassungsgerichtlichen Judikatur. Das Bundesverfassungsgericht sieht das „zentrale Anliegen“ des Strafprozesses in der Ermittlung des wahren Sachverhalts und rückt auf diese Weise die Ermittlung der Wahrheit in den Mittelpunkt.126 Im selben Sinne bezeichnet der BGH die Wahrheitsfindung und dabei die Erforschung und Ermittlung des wahren Sachverhalts als „oberstes Ziel des Strafverfahrens“ und das „zentrale Anliegen des Strafprozesses“.127 Ähnlich sah es schon das Reichsgericht in einer sehr frühen Entscheidung, wenn es den Hauptzweck des Strafverfahrens in der Ermittlung der materiellen Wahrheit erblickt.128 Der Gesetzgeber tendiert – im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung zur verfahrensbeendenden Verständigung129 – gleichfalls in diese Richtung, wenn er die „Ermittlung der Wahrheit durch das Gericht“ zu den „überkommenen Grundsätzen des Strafverfahrens“ zählt. Daneben gibt es allerdings Tendenzen, den Begriff der Wahrheit nicht zu verabsolutieren und zu überhöhen. Vorschub haben sie insbesondere durch externe Quellen bekommen. Von (rechts-)soziologischer Seite hat sich etwa Luhmann näher mit Sinn und Zweck von Verfahren befasst. Dabei greift er über den Straf­ prozess hinaus und bemüht sich um „das Entstehen einer einheitlichen Theorie 126

BVerfGE 57, 250, 275; BVerfG NStZ 1987, 419. BGH NJW 1956, 1646, 1647; BGHSt 47, 62, 65. 128 RGSt 15, 409, 413. 129 Vgl. zum Folgenden BT-Drs. 16/11736, S. 1 sowie im Zusammenhang mit Absprachen bereits BGHSt 43, 195, 204; 50, 40, 65. 127

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

aller rechtlich geregelten Verfahren“ und damit um „eine angemessene Theorie des Verfahrens schlechthin“, um „eine allgemeine Verfahrenslehre“.130 Dabei wendet er sich den „Grundlagen der klassischen Konzeption des Verfahrens“ zu und sieht Ziel und „Kern aller klassischen Verfahrenslehren“ in „Wahrheit oder wahre Gerechtigkeit“131, worin sich unmittelbar der Bezug zum vorliegenden Aspekt zeigt. Er sieht es jedoch als „nicht recht verständlich, vielmehr vollends fragwürdig“ an, „wie […] Wahrheit im Sinne von einzig richtiger, alle überzeugender Lösung der Entscheidungsprobleme garantiert werden kann“.132 Man müsse stattdessen radikaler fragen, „ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist“.133 In dieser Hinsicht wird sich von (rechts-)soziologischer Seite von der Wahrheit als Ziel gerichtlicher Verfahren verabschiedet. Die Rechtsprechung hat diese Skepsis und Kritik durchaus – unausgesprochen – rezipiert. Bereits die Formulierungen vom zentralen Anliegen bzw. obersten Ziel und Hauptzweck zeigen nämlich, dass es daneben noch andere, sekundäre Anliegen bzw. untergeordnete Funktionen und Zwecke des Strafprozesses geben soll. Eine Wahrheitserforschung um jeden Preis wird im Übrigen selbst von der Rechtsprechung nicht befürwortet.134 Insofern lässt sich der Zweck des Strafprozesses keinesfalls auf Ermittlung und Erforschung der Wahrheit reduzieren. Das Schrifttum vermittelt ein ähnliches Bild. Insbesondere Eb. Schmidt hat sich in mannigfacher Weise dahingehend geäußert, dass Wahrheit und Gerechtigkeit das Ziel jeglichen Urteils sind und die Justiz bestimmen.135 Dabei macht er auf das Problem der Wahrheit schlechthin aufmerksam. Eine absolute Wahrheit soll der Justiz nicht abverlangt werden (können).136 Das zeitgenössische strafprozessuale Schrifttum vermeidet ebenfalls eine Verabsolutierung der Wahrheit und eine Festlegung darauf, dass deren Ermittlung das zentrale Anliegen des Strafverfahrens(rechts) sein soll. Noch einigermaßen optimistisch äußert man sich vereinzelt dahingehend, dass der Prozess „in erster Linie“ der Erforschung 130

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 11 f. sowie S. 58: Es gilt, „das Gemeinsame zu sehen, das für alle Gerichtsverfahren bezeichnend ist“ (Hervorhebung nicht im Original). Aus Sicht des Strafprozessrechts kritisch zu Luhmann etwa Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 34 ff. 131 Ebd., S. 18. 132 Ebd., S. 20. 133 Ebd., S. 22. 134 BGHSt 14, 358, 365; 31, 304, 309; 38, 214, 220; 52, 11, 17 (Rdnr. 20 a. E.). Vgl. aus dem Schrifttum im selben Sinne bloß Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 446 f.; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 8 a. E.; Krey, Strafverfahrensrecht I, § 2 Rdnr. 35; Paulus, in: KMR, § 244 Rdnr. 484; Ahlf, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 113, 114. 135 Eb. Schmidt, MDR 1948, 374, 379; ders., Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 20. Vgl. ferner noch Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 446 sowie Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 84: „Verfahrensordnung als Wegweiser zur Wahrheit und Gerechtigkeit“ (Hervorhebung im Original). Henkel, a. a. O. nennt als Aufgabe des Strafverfahrens freilich in einem Atemzug „die Erforschung der Wahrheit über den Tatvorgang und die Verwirklichung des sachlichen Rechts in einem gerechten Urteilsspruch“ (Hervorhebungen im Original). 136 Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 20 (Hervorhebung im Original).

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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der Wahrheit dient.137 Ähnlich sieht man die Auffindung der materiellen Wahrheit als den vorrangigen „Leitgesichtspunkt des gesamten Strafverfahrens“ an.138 Nach Rüping ist „erste Funktion des Strafverfahrens […] die Wahrheitsermittlung, um auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts Strafvorschriften […] durchzusetzen“.139 Paeffgen zufolge ist „die Wahrheitssuche als eigenständiges Verfahrensziel und […] eigenständiger Legitimationsaspekt einzustufen“.140 In solchen Standpunkten tritt die dienende Funktion des Prozessrechts im Verhältnis zum materiellen Strafrecht etwas in den Hintergrund und die Wahrheits­ erforschung – stärker141 – in den Mittelpunkt der Strafverfahrenszwecke. Anderenorts ist man demgegenüber deutlich zurückhaltender und skeptischer. Freund spricht – mit Blick auf das Strafbefehlsverfahren142 – vom angeblichen 137

Krey, Strafverfahrensrecht I, § 2 Rdnr. 35. Ahlf, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 113, 114 oben. 139 Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 6. 140 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 17 ff., 24 (Hervorhebungen nicht im Original). 141 Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 15 leugnet die dienende Funktion aber keinesfalls: „Daß das Strafverfahrensrecht als ‚Strafanwendungsrecht‘ seine Existenz der des Strafrechts verdankt, ist offensichtlich.“ (Hervorhebung nicht im Original). 142 Dass das Strafbefehlsverfahren mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in Berührung kommt, bedarf wohl kaum einer Begründung. In gewisser Weise ist es sogar in mehrfacher Hinsicht mittelbar. Dies trifft nicht bloß auf das gerichtliche Verfahren beim Strafbefehlserlass zu. Bereits das Vorverfahren ist insofern mittelbar, als dass es nicht von der strafbefehlsbeantragenden Staatsanwaltschaft geführt wird, sondern maßgeblich von den Behörden und Beamten des Polizeidienstes. Ohne auf das diesbezügliche Verhältnis von Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und daraus resultierende Verwicklungen eingehen zu müssen [vgl. dazu Lilie, ZStW 106 (1994), 625 ff.; ders., ZStW 111 (1999), 807 ff.], versteht es sich für das Strafbefehlsverfahren deshalb, weil es sich – wegen seiner Beschränkung auf der Rechtsfolgenseite – besonders für kleinere und mittlere Kriminalität eignet. Diese im Vorverfahren aufzu­ arbeiten, obliegt mehr der Polizei und weniger der Staatsanwaltschaft, weil er gemäß Nr. 3 Abs. 1 RiStBV lediglich in „bedeutsamen […] Fällen“ persönlich ermitteln soll. In dieser Hinsicht ist der Erlass des Strafbefehls – sozusagen – doppelt mittelbar. Gleichwohl soll er nicht näher auf eine Rechtfertigung der damit verbundenen Durchbrechung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes untersucht werden. Zum einen lässt sie sich vor dem Hintergrund der soeben schon bemühten Einschränkung auf der Rechtsfolgenseite (etwas) mit der – an späterer Stelle noch näher aufzuzeigenden [s. im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 3.] – Anbindung an das materielle Strafrecht erklären. Darauf wurde schon anderenorts aufmerksam gemacht. Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 32 spricht unter Berufung auf Mittermaier, Mündlichkeit, Anklageprinzip, Öffentlichkeit und Geschworenengericht, S. 11 vom „sich fortentwickelnden Charakter der materiellen Strafgesetzgebung“ (Hervor­ hebung nicht im Original) bzw. der „Wandlung in der Strafgesetzgebung, die sich auf die be­ ginnende Strafprozessreform des 19. Jahrhunderts auswirkte“. In dieser Hinsicht spricht sie insbesondere davon, dass „das richterliche Ermessen in Bezug auf die Strafdrohung beträchtlich erweitert wurde“. Eben daran fehlt es aber beim Strafbefehlsverfahren, weil es hinsichtlich der denkbaren Strafe nach oben reglementiert ist. Zum anderen handelt es sich beim Unmittelbarkeitsgebot maß­geblich um ein (Beweis-)Prinzip des Hauptverfahrens, zu dem es beim Erlass des Strafbefehls – und dessen Akzeptanz – aber gerade nicht kommt. 138

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

Ziel der Wahrheitsfindung. Es könne realistischerweise nicht einmal im ordent­ lichen Strafverfahren erreicht werden und deshalb erst recht nicht im Rahmen des summarischen Strafbefehlsverfahrens. Insofern sei Wahrheitsfindung „ein Ding der Unmöglichkeit – um nicht zu sagen: ein lächerliches Unterfangen“.143 Zum Ende seiner Ausführungen bemerkt Freund noch zusammenfassend, dass es eine „absolute Gewähr für eine richtige Erfassung der materiellen Wahrheit“ selbst am Ende eines prozessordnungsgemäßen Verfahrens nicht gibt.144 In dieser Hinsicht ver­abschiedet man sich von der Wahrheitsermittlung als einem Ziel des Straf­ verfahrens. Überwiegend nimmt man allerdings eine vermittelnde Position ein. Es soll sich bei der Ermittlung der Wahrheit allenfalls um ein Zwischenziel145, keinesfalls aber um einen Endzweck des Strafverfahrens handeln146. Darin dürften diese Stimmen Zustimmung durch Luhmann erfahren147, wenn er Folgendes ausführt: „Eine Theorie des Verfahrens braucht […] einen abstrakteren funktionalen Bezugsgesichtspunkt, der den Wahrheitsmechanismus einschließt, aber sich in ihm nicht erschöpft.“ Dadurch wird Wahrheitserforschung zugleich aber nicht völlig be­ deutungslos. Sie bleibt vielmehr notwendiges Element des Prozesses, selbst wenn man sie nicht in den Rang eines Verfahrensziels erhebt. Sie stellt nämlich ein unverzichtbares Mittel zu Erreichung jedes anderen denkbaren Prozesszwecks dar.148 Dieser instrumentale und funktionale Charakter der Wahrheit lehrt, wie man sie in eine Prozesszweckdefinition aufzunehmen hat. Es handelt sich um ein „Zwischenziel“, das es zu erreichen gilt.149 Als solches wird es aber nicht um seiner selbst willen erstrebt, sondern dient vielmehr der Erreichung eines anderen (übergeordneten) Verfahrenszwecks. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich etwa, dass Weigend die Schaffung von Rechtsfrieden durch Klärung des Tatverdachts als Verfahrensziel ausgibt und die „möglichst wahrheitsgetreue Rekonstruktion des Tatgeschehens“ als notwendige Voraussetzung dafür ansieht.150 Der Wahrheitserforschung ist dagegen die Qualität als eigenständiges Verfahrensziel abzusprechen, wenngleich sie ein unverzichtbares Mittel zur Erreichung jedes anderen Prozesszwecks darstellt. Dabei wird aber nicht die „ganze“ Wahrheit erforscht, sondern bloß derjenige Ausschnitt, der 143 Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 43, 69. 144 Freund, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem, S. 43, 75. 145 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 177 ff. Nach Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 433 ist materielle Wahrheit „unabdingbare Voraussetzung“ gerechter Vergeltung und damit Mittel zum (anderen) Zweck, nicht aber selbst (End-)Zweck des Strafverfahrens. 146 Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 41 m. w. N. in Fn. 77. 147 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 25. 148 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 183. 149 Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, S. 195. 150 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 217 (Hervorhebungen nicht im Original).

2. Kap.: Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens

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aufgrund der jeweils einschlägigen materiellrechtlichen Normen aufklärungs­ bedürftig ist.151 Auf diese Weise wird die Durchsetzung und Anwendung des materiellen Rechts zum eigentlichen (End-)Zweck der Wahrheitserforschung erklärt. Ähnlich verfährt Krack, wenn er die Wiederherstellung des Rechtsfriedens zum Endzweck des gesamten Kriminalrechts erklärt, dies mit generalpräventiven Überlegungen untermauert und von daher das Streben nach der Ermittlung des tatsächlichen Geschehens als „unbestritten notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz der Entscheidung seitens der Bevölkerung und somit unverzichtbares Mittel für das Funktionieren positiver Generalprävention“ ausmacht152, wofür er sich auf § 244 Abs. 2 StPO beruft153. Damit wird die Ermittlung der Wahrheit nicht zu einem selbständigen Verfahrensziel, sondern zu einem bloßen Zwischenziel und insofern lediglich zum integralen Bestandteil eines anderen, gleichsam übergeordneten Prozesszwecks.

III. Achtung der Menschenwürde und Grundrechte des Beschuldigten als Ziel des Strafverfahrens Dass Wahrheit nicht das eigentliche und wahre Ziel des Strafverfahrens sein kann, zeigt sich daran, dass es, worauf schon hingewiesen worden ist, eine Wahrheitsfindung nicht um jeden Preis gibt. Es gibt insofern zahlreiche Einschränkungen. In diesem Zusammenhang werden insbesondere Beweisverbote genannt.154 Sie reglementieren die Wahrheitsfindung. Aber bereits das Gesetz selbst tendiert in diese Richtung. § 136a Abs. 1 StPO listet verbotene Vernehmungsmethoden auf, die gemäß § 136a Abs. 3 StPO selbst mit Einverständnis des Beschuldigten nicht zur Erforschung der Wahrheit herangezogen werden dürfen. Die Vorschrift enthält in Reaktion auf das NS-Regime eine Ausprägung von Art. 1 Abs. 1 GG.155 In­sofern wird die Menschenwürde unmittelbar durch eine Norm des Strafverfahrensrechts verwirklicht. 151 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 183 (Hervorhebung im Original). Darin einen Widerspruch sehen zu wollen, dass Weigend an sich die „Herstellung von Rechtsfrieden durch Verdachtsaufklärung als Verfahrensziel bestimmt“ (ebd., S. 215), würde fehlgehen, weil er den Gedanken der Verwirklichung des materiellen Strafrechts als vom Rechtsfriedensbegriff umfasst ansieht (ebd., S. 217). 152 Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 46 mit S. 41. 153 Ebd., S. 40. 154 Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 446; Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 60 ff.; Rieß, JR 2006, 269, 273; Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 41. Wenn Krack, a. a. O. zugleich noch den Tod des Beschuldigten als Verzicht auf die Durchführung eines Strafverfahrens und damit auf die Wahrheitserforschung ansieht, ist jedenfalls auf §§ 359, 361 StPO hinzuweisen, wonach die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil ab­ geschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten trotz seines Todes möglich bleibt. 155 Vgl. statt aller bloß Peters, Strafprozeß, S. 337; Meyer-Goßner, § 136a Rdnr. 1 m. w. N. sowie ferner noch die Nachw. bei Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 61 in Fn. 33.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

Damit soll es aber nicht sein Bewenden haben. Bereits Stock betont – in Anknüpfung an § 136a StPO – den Grundsatz der Persönlichkeitsachtung. Er ist für den rechtsstaatlichen Charakter des heutigen Strafprozessrechts besonders charakteristisch, weshalb die Gestaltung des gesamten Verfahrens darauf Bedacht nehmen muss.156 Krauß hat in diesem Zusammenhang von der rechtsstaatlichen Funktion des Verfahrens und dabei von der „Subjektstellung“ des Beschuldigten gesprochen.157 Später hat sich vor allem Schlüchter um die Anerkennung eines diesbezüglich eigenständigen Verfahrenszwecks bemüht. Neben anderen Zielen (Gerechtigkeit und Rechtssicherheit) soll das Strafverfahren zugleich noch der Achtung der Menschenwürde und der übrigen Freiheits- und Grundrechte des Beschuldigten dienen.158 Darin dürfte sie von Sternberg-Lieben Zustimmung er­ fahren159, weil sich „verfassungsrechtliche Vorgaben […] bei der Ausgestaltung der Prozeßmaximen sowie der Bestimmung der Verfahrensziele im Strafprozeß zu realisieren“ haben. Anderenorts ist man demgegenüber kritischer. Dieser Aspekt könne selbst nicht unmittelbarer Endzweck des Strafprozesses sein. Vielmehr sei – wie die Er­mittlung der Wahrheit – die Bewahrung der Menschenwürde und der Freiheitsrechte des Beschuldigten „bloß“ ein Mittel des Strafverfahrens(rechts) und insofern unverzichtbares Zwischenziel.160 In dieser Hinsicht ist, wie schon von Krauß betont161, die rechtsstaatliche Funktion des Strafverfahrens ein (Teil-)Element der sog. „Justizförmigkeit des Verfahrens“. Ob es sich dabei um ein – eigenständiges – Ziel des Strafverfahrens handelt, ist noch nicht abschließend geklärt. Sie wird von einigen Autoren genannt, ohne dass immer hinreichend deutlich wird, ob es sich um das End- oder lediglich um ein Zwischenziel des Strafprozesses handeln soll.162 Der Streit wirkt etwas müßig und ist eher akademischer Natur. Praktische Relevanz scheint er jedenfalls nicht zu haben. In jedem Falle wird man aber sagen können, dass die Justizförmigkeit des Strafverfahrens die Wahrung der Menschenwürde und der sonstigen Freiheits-, Menschen- und Grundrechte des Beschuldigten als notwendiges Teilelement einschließt. Wenn nämlich ein Grundrechts­verstoß vorliegt, dürfte es sich kaum noch um ein justizförmiges Verfahren handeln. In die 156

Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 430 ff. (Hervorhebung im Original). Krauß, ZStW 85 (1973), 320, 342. 158 Schlüchter, Rudolphi-Symposium, S. 205, 216; dies., Strafverfahren, Rdnr. 2 sowie – unter Einbezug der Durchsetzung des materiellen Strafrechts als (ein) Zweck des Straf­verfahrens – dies., Strafprozeßrecht, S. 1 f. 159 Vgl. zum Folgenden Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), 721, 729. 160 Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 43. 161 Krauß, ZStW 85 (1973), 320, 344. Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 159 nennt ebenfalls die Rechts- und Freiheitssphäre der Einzelnen in einem Atemzug mit der Justizförmigkeit unseres Strafverfahrens. 162 Vgl. hierzu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rdnr. 2 ff.; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 8; Rieß, Schäfer-Festschrift, S. 155, 171; Wolter, GA 1985, 49, 53; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 25 sowie die diesbezügliche Auseinandersetzung bei Krack, Rehabilitierung des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 44 f. 157

3. Kap.: Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime

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ser Hinsicht ist, jedenfalls als notwendiges Zwischenglied, die Wahrung der Menschenwürde und der weiteren Grundrechte des Beschuldigten als eine, keinesfalls aber als alleinige Aufgabe des Strafverfahrens anzuerkennen.

IV. Resümee Als Resümee der vorherigen Ausführungen und gleichsam als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz lässt sich festhalten, dass der Strafprozess in jedem Falle, sei es ausschließlich, sei es überwiegend, jedenfalls aber sekundär der Anwendung und Durchsetzung des materiellen Strafrechts dient. Dafür ist der tatsächliche Geschehensablauf möglichst wahrheitsgetreu zu rekonstruieren. Ob die Feststellung und Ermittlung der Wahrheit vor diesem Hintergrund zum eigentlichen Zweck des Strafverfahrens erklärt oder aber lediglich als Mittel und notwendiges Zwischenziel angesehen wird, ist demgegenüber von nachrangigem und mehr semantischem Interesse. Gleiches gilt für die Wahrung der Menschenwürde und der Grundrechte des Beschuldigten. Es lässt sich wohl schwerlich leugnen, dass diese Rechte (zumindest mit-) geschützt und deren Schutz damit zu einer Funktion von Strafverfahren werden, wenn man „Strafprozessrecht als angewandtes Verfassungsrecht“ bzw. das „Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung“ und die Strafprozessordnung als „Ausführungsgesetz zum Grundgesetz“ charakterisiert.163 Ob und wie es sich insofern beim strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz verhält, werden die weiteren Ausführungen zeigen (müssen).

3. Kapitel

Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime Damit hat man sich nunmehr mit Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit zu beschäftigen. Hierbei zeigt sich eine Parallele zu den bisherigen Ausführungen und Überlegungen. Ebenso wie es mehrere Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens(rechts) gibt, erschöpft sich der Telos des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes keinesfalls in einem einzigen Aspekt. Vielmehr sollen verschiedene Gesichtspunkte für dieses Verfahrensprinzip sprechen. Weil es seine Entstehung wiederum der Abkehr vom früheren Inquisitionsprozess zu verdanken 163 Vgl. zu solchen bildhaften Umschreibungen BVerfGE 32, 373, 383; BGHSt 19, 325, 330 sowie aus dem Schrifttum Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 86; Sax, in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd. III, Teilband 2, S. 909, 966; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 2 Rdnr. 1 ff.; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 159 m. w. N. in Fn. 4. Vgl. indes zur – im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz – eher begrenzten Aussagekraft des Verfassungsrechts später im 5. Teil, 10. Kapitel unter I.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

hat164, muss er zwangsläufig in die Betrachtungen zu Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit einbezogen werden.

I. Schutzfunktion für den Angeklagten In dieser Hinsicht lässt sich unmittelbar an die abschließenden Ausführungen über Aufgaben und Funktionen des Strafverfahrens(rechts) überhaupt anknüpfen, worin sich einmal mehr die – an früherer Stelle bereits angedeutete165 – Mittlerfunktion der Prozessprinzipien zwischen Prozessziel und gesetzlicher Detailaussage anschaulich aufzeigen lässt. Ein Ziel des Strafprozesses wird, wie soeben dargestellt, darin gesehen, dass die Menschenwürde und die sonstigen Freiheits- und Grundrechte des Angeklagten gewahrt werden sollen. Hierfür wird der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz dienstbar gemacht. Eine Zielsetzung dieser Prozessmaxime wird nämlich in einer Schutzfunktion für den Angeklagten erblickt. Weil die Beweismittel vor Gericht präsentiert werden müssen, hat er die Gelegenheit, dazu Stellung zu beziehen, um etwa die Beweiskraft eines Beweismittels effektiv in Frage zu stellen. Wenn das Gericht seine Kenntnis ausschließlich aus der Hauptverhandlung schöpft, wird der Angeklagte regelmäßig vor übereilten und ungerechtfertigten (Fehl-)Urteilen geschützt.166 Insofern wird dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip eine individualschützende Komponente beigemessen. 1. Historische Dimension – Unmittelbarkeitsgrundsatz als Prinzip der Hauptverhandlung Dies wiederum lässt sich aus historischer Perspektive erklären.167 Der Straf­ prozess in der Partikulargesetzgebung des beginnenden 19. Jahrhunderts war durch eine klare Trennung zwischen Untersuchungsrichter und erkennendem Gericht gekennzeichnet. Dieser institutionelle Aufbau und das (Beweis-)Verfahren im gemeinrechtlichen deutschen Inquisitionsprozess waren mit einer zunehmenden Schutzlosigkeit des Angeklagten verbunden. Die eigentliche Beweisaufnahme erfolgte im Vorverfahren durch den Untersuchungsrichter. Er fasste dessen Ergebnisse in schriftlichen Protokollen zusammen und leitete diese dem „erkennenden“ 164 s. dazu bereits im 1. Kapitel unter II. sowie zur „Begründung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ ferner noch Weigend, Eisenberg-Festschrift, S. 657, 660 ff. 165 Vgl. hierzu näher im 1. Kapitel unter I. bei Anm. 5 (S. 27). 166 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 50 sowie Velten, in: SK-StPO, Vor § 250 Rdnr. 10 mit Rdnr. 17 – jeweils m. w. N. 167 Vgl. zum Folgenden bloß Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 21 ff.; Großkopf, Beweissurrogate und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, S. 16 ff. sowie Velten, in: SK-StPO, Vor § 250 Rdnr. 1 ff. – jeweils m. w. N.

3. Kap.: Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime

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Gericht, dem sog. Justizkollegium zu. Dieses letztentscheidende Gericht überließ das Aktenstudium wiederum regelmäßig einem einzigen Mitglied des Gerichts, dem sog. Referenten oder Berichterstatter. Er las die gesamten Akten und unterbreitete dem Rest des Kollegiums seinen Entscheidungsvorschlag zusammen mit einer (kurzen) Zusammenfassung des entscheidungsrelevanten Stoffes. In der Konsequenz dessen entschied das Kollegium ausschließlich nach Lage der – nicht selbst studierten, sondern vielmehr bloß über einen Dritten vermittelten – Akten, ohne den Beschuldigten oder die Zeugen persönlich gesehen oder gehört zu haben. Mit dem reformierten Strafprozess wollte man bewusst davon abgehen, dass der Schwerpunkt des Strafprozesses im Vorverfahren lag. Es sollte, wie schon die Terminologie vom „vorbereitenden Verfahren“ zeigt (§§ 62, 81 Abs. 3 StPO), bloß noch vorbereitenden Charakter haben. Zugleich verschob man die Akzente zugunsten der späteren Hauptverhandlung. „Das Hauptgewicht soll in der Hauptverhandlung liegen“, soll in dieser Hinsicht als exemplarischer Beleg aus den Materialien zu den Reichsjustizgesetzen genügen.168 Im Schrifttum finden sich vergleichbare Formulierungen und Umschreibungen. Die Hauptverhandlung wurde und wird als Kernstück und Höhepunkt des Strafverfahrens bezeichnet.169 Sie bildet nach Schünemann nicht bloß dessen „Zentrum, sondern das eigentliche Strafverfahren überhaupt“.170 Bereits die Begrifflichkeiten (Hauptverfahren und Hauptverhandlung) legen diesen Schluss nahe. Weil nunmehr der Schwerpunkt in diesem Verfahrensabschnitt lag, verwundert es aus historischer Perspektive nicht, dass eben dieses Stadium des Strafprozesses von Unmittelbarkeit beherrscht sein sollte. Es soll „dieses Prinzip in der Hauptverhandlung zur vollen Geltung gebracht“ werden.171 Von daher ist es erklärbar, dass es sich beim strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz um eine ausschließlich der Hauptverhandlung vorbehaltene Prozessmaxime handelt.172 Dass sie insofern eine Schutzfunktion des Angeklagten entfaltet, ist wiederum angesichts von § 230 Abs. 1 StPO und damit seiner Präsenz(pflicht) in der Hauptverhandlung unmittelbar einsichtig. Aus

168

von Mittnacht, in: Hahn/Mugdan (Hrsg.), Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 194. 169 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 321; Kühne, Strafprozessrecht, § 43 Rdnr. 714; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 314; Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rdnr. 556; Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 443; Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 382, 388. 170 Schünemann, StV 1998, 391, 392. 171 von Mittnacht, in: Hahn/Mugdan (Hrsg.), Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 194. 172 s. dazu bloß Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 382, 386; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 7; Beulke, JA 2008, 758. Nach Velten, in: SK-StPO, Vor § 250 Rdnr. 7 ff., 15 ff., 22 ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Transferverbot ein Strukturprinzip des Prozessrechts, welches das Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren regelt und damit das gesamte Strafverfahren und nicht bloß das Hauptverfahren verfasst. Diese Sichtweise muss nicht zwangsläufig das herkömmliche Verständnis von Unmittelbarkeit als Hauptverhandlungsmaxime tangieren, weil die h. M. insofern vielleicht bloß formelle und materielle Seite im Fokus hat und weil Velten einem Transferverbot daneben eine eigenständige Bedeutung zuschreibt.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

rechtsgeschichtlicher Perspektive lässt sich angesichts dessen nicht daran zweifeln, dass eine Funktion des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Schutz des Angeklagten zu erblicken ist. 2. Wandel im Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren In der Zwischenzeit ist allerdings ein Bedeutungswandel im Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren und damit ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen. Es ist schon fast zum geflügelten Wort geworden, dass inzwischen bereits im Ermittlungsverfahren „die Würfel fallen“ (sollen).173 Es besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die entscheidenden Weichen in der Praxis schon im Vorverfahren gestellt werden. In der Verfahrenswirklichkeit wird ein immer größerer Funktionsverlust der Hauptverhandlung und – damit verbunden – der Aufstieg des nach der unverändert fortbestehenden gesetzgeberischen Konzeption an sich bloß vorbereitenden Ermittlungsverfahrens zum eigentlichen Entscheidungszentrum des Strafprozesses beobachtet.174 Man betont die „urteilsprägende Kraft des Ermittlungsverfahrens“ und damit den Einfluss der kriminalpolizeilichen Ermittlungen auf die weiteren Verfahrensergebnisse.175 Es gipfelt darin, dass Wolter den Satz von der Hauptverhandlung als Kernstück und Höhepunkt des Strafprozesses dahingehend umkehrt176, wonach inzwischen „das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren Kern und Höhepunkt des Strafprozesses ist“. Um eine völlig neue Erkenntnis handelt es sich dabei allerdings nicht. Bereits in den Materialien zu den Reichsjustizgesetzen finden sich entsprechende Äußerungen. Es würde sich um ein Verfahren handeln, in dem richterliche Akte vorgenommen werden, „welche das Schicksal des späteren Prozesses dirigieren“.177 Kontrovers wurde das Verhältnis zwischen Haupt- und Ermittlungsverfahren anhand von § 253 StPO (Protokollverlesung zur Gedächtnisunterstützung) diskutiert. Kritiker der Vorschrift monierten, dass durch eine solche Bestimmung die Bedeutung von Vorverfahren und Hauptverfahren verschoben und die Voruntersuchung unter Umständen „geradezu zur bindenden Beweisgrundlage gemacht“ werden ­würde.178 Von daher ist man sich seit jeher der Bedeutung des Vorverfahrens bewusst. 173

Lagodny, in: ders. (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 167, 175. Weigend, ZStW 104 (1992), 486, 504 ff.; Schünemann, Pfeiffer-Festschrift, S. 461, 482; ders., StV 1998, 391, 392 – jeweils m. w. N. Rieß, Lackner-Festschrift, S. 966, 987 spricht noch von der fast unbestrittenen Einsicht, dass „die entscheidenden Weichen für das Ergebnis der Hauptverhandlung bereits im Ermittlungsverfahren gestellt werden“. 175 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 382, 389; Ahlf, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 113, 117. 176 Vgl. zum Folgenden Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform, S. 35. 177 Abg. Dr. Lasker, in: Hahn/Mugdan (Hrsg.), Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 209. 178 Abg. Dr. Gneist, in: Hahn/Mugdan (Hrsg.), Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 1368. 174

3. Kap.: Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime

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Dennoch hat man sich, wie geschildert, bewusst dafür entschieden, dass das Hauptgewicht in der vom Unmittelbarkeitsgrundsatz beherrschten Hauptverhandlung liegen und das Vorverfahren demgegenüber bloß von untergeordnetem und mehr informatorischem Charakter sein soll. Man könnte nunmehr meinen, dass der Bedeutungswandel und Paradigmenwechsel im Verhältnis von Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung zueinander deshalb ohne Einfluss auf den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz bleibt, weil er bloß in der Hauptverhandlung zur Geltung kommt. Aber schon Mittermaier konstatiert, dass das zentrale Problem der Unmittelbarkeit in der Feststellung des richtigen Verhältnisses von Voruntersuchung und Hauptverfahren liegt.179 Selbst Geppert räumt ein, dass sich die Diskussion um den Unmittelbarkeitsgrundsatz im Grunde immer auf die Frage zuspitzt, „in welchem Umfang die im Vorverfahren gewonnenen Beweise in der späteren Hauptverhandlung verwertet werden können“.180 Der 49. Deutsche Juristentag hat sich dieser Frage intensiv angenommen, insbesondere vor dem Hintergrund sog. Großverfahren in Wirtschaftsstrafsachen. Solche „Taten, die nicht in äußeren Vorgängen sichtbar werden, sondern in Ketten gedanklicher Abstraktionen verlaufen, sind der unmittelbaren Beweisführung im Gerichtssaal kaum zugänglich. […] Das Prinzip der Unmittelbarkeit im Strafprozeß muß also, wie übrigens die meisten anderen Strafprozeßprinzipien auch, neu überdacht und relativiert werden. Damit die Hauptverhandlung nicht zum Schaden aller Beteiligter sich ins Unermeßliche ausdehnt, muß es der Gesetzgeber ermöglichen, daß ein Teil der Beweisaufnahme in die Voruntersuchung verlegt und dort definitiv erledigt wird“.181 Dabei sollen aber „diejenigen Garantien, die die Parteien und insbesondere den Angeschuldigten vernünftigerweise interessieren können, nämlich bei der Beweisaufnahme anwesend zu sein und darauf Einfluß nehmen zu können“, nicht beschnitten werden.182 Damit schreibt man dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip eine Schutzfunktion zugunsten des Angeklagten zu.

179 Mittermaier, Mündlichkeit, Anklageprinzip, Öffentlichkeit und Geschworenengericht, S. 266 ff. mit S. 406. 180 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 2. Er selbst sieht freilich in § 250 StPO nicht schlechthin den Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips. Vielmehr würde es darin und in den folgenden (Verlesungs-)Vorschriften „für einen […] Teilbereich mittelbarer Beweisführung eine weitgehend verselbständigte Lösung gefunden“ haben (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 mit S. 186 oben – Hervorhebung im Original). 181 Tiedemann, Gutachten C zum 49. DJT, S. 49. 182 Ebd., S. 50.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

II. Möglichkeit zur besseren Wahrheitserforschung durch eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen In diesem Zusammenhang rücken Erforschung und Ermittlung der Wahrheit – als ein Anliegen des Strafverfahrens183 – in den Blickpunkt des Interesses. Insofern soll der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz ebenfalls eine Mittlerfunktion einnehmen. Seine Anwendung soll nämlich das erkennende Gericht an die materielle Wahrheit heranführen, indem er sicherstellt, dass für die gericht­liche Entscheidung eine solide und verlässliche Urteilsgrundlage geschaffen wird.184 In dieser Hinsicht hatte und hat die Forderung nach unmittelbar-mündlicher Verhandlung anerkanntermaßen das Ziel, dem erkennenden Gericht im Interesse der Wahrheitsfindung eine bessere Urteilsgrundlage zu verschaffen.185 Ebenso sieht es der Gesetzgeber in der Begründung zu einem Gesetzentwurf186, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz und die damit verbundenen Forderungen im Interesse der Wahrheitsfindung stehen. Für den Bereich des Zivilverfahrens ist es sogar einmal in einem Gesetz un­ mittelbar selbst zum Ausdruck gebracht worden. In einer im Gesetzblatt abgedruckten amtlichen Präambel zum Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933 heißt es in dieser Hinsicht187, dass nur in „einem lebendigen Verfahren mit voller Mündlichkeit und Unmittelbarkeit […] dem Richter eine sichere Findung der Wahrheit ermöglicht“ wird. Wie dieses hehre Ziel der Wahrheitsfindung gerade durch das Unmittelbarkeitsprinzip erreicht werden soll, zeigt sich bei näherer Betrachtung seiner Konsequenzen. Eng mit der Forderung nach Erforschung und Ermittlung der Wahrheit verknüpft ist der tiefere und eigentliche Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit, der sich ebenfalls aus dem historischen Übergang vom gemeinrechtlichen Inquisitionszum reformierten Strafprozess erklären lässt, vor dessen Hintergrund der straf­ prozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz überhaupt zu sehen ist.188 Er soll eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen ermöglichen. Um dies besser nachvollziehen zu können, muss – kurz189 – der Ablauf eines gemeinrechtlichen deutschen Inquisitionsprozesses geschildert werden, wie er für 183

s. dazu im 2. Kapitel unter II. Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 50. 185 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 122. 186 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung (Gesetz zum Schutz kindlicher Zeugen), BT-Drs. 13/4983, S. 4. 187 RGBl. I S. 780 (Hervorhebungen nicht im Original) und dazu später näher im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 2. 188 s. hierzu bereits im 1. Kapitel unter II. 189 Um unnötige Redundanzen zu vermeiden sei an dieser Stelle zum Folgenden sowie näher zum Ablauf des gemeinrechtlichen Strafprozesses bloß auf Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 7 ff. und Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 31 ff. – jeweils m. w. N. zum (zeitgenössischen) Schrifttum – verwiesen. 184

3. Kap.: Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit als Prozessmaxime

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das (bessere) Verständnis der weiteren Ausführungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz von Interesse ist. Das Verfahren war sehr stark inquisitorisch geprägt. Es war nicht mehr vom Verhandlungsgrundsatz, sondern vom Offizialprinzip beherrscht und dabei auf strikte Wahrheitserforschung ausgerichtet. Diese inquisitorische Zielrichtung und die gerichtsorganisatorische Trennung der beteiligten und entscheidenden Personen hatten zur Konsequenz, dass der entscheidungsrelevante Stoff nach und nach zusammengetragen wurde und keinesfalls sämtliche Beweisaufnahmen vor vollständig besetzten Gerichten stattfanden. Vielmehr war die Mehrzahl der erkennenden Richter bloß auf den Akteninhalt angewiesen, ohne einen eigenen Eindruck von Beschuldigten oder Zeugen gehabt zu haben. In der Folgezeit wurde der Strafprozess sogar endgültig des Unmittelbarkeitsgrundsatzes beraubt. Man begnügte sich mit Vernehmungen im polizeilichen Vorverfahren. Es wurde von einem Untersuchungsrichter, dem sog. Inquirenten, geleitet. Der Untersuchungsrichter fasste die Ergebnisse seiner Verhöre in schriftlichen Protokollen zusammen, wobei man davon ausgeht, dass diese entsprechend seines Selbstverständnisses als Strafverfolgungsorgan in aller Regel „wohlgefärbt“, sprich im Duktus eher zu Lasten des Beschuldigten gehalten waren. Diese Vernehmungsprotokolle wurden dem entscheidenden Justizkollegium zugeleitet, das davon aber nicht in seiner Gesamtheit Kenntnis nahm. Vielmehr las bloß ein Mitglied des Kollegialgerichts, der sog. Referent, die Akten und gab seinen Kollegen lediglich eine Zusammenfassung des entscheidungsrelevanten Stoffes. Das Kollegialgericht entschied anschließend hierüber, ohne Beschuldigte oder Zeugen persönlich gehört zu haben. Dass in einem solchen Verfahren eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen nicht möglich ist, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Demgegenüber liegen die Vorteile in dieser Hinsicht auf der Hand, soweit die Aussage mündlich und persönlich vor dem erkennenden Gericht gemacht wird.190 Es besteht etwa die Möglichkeit, auf denkbare Lücken oder Widersprüche in der Aussage einzugehen sowie Ergänzungs- und Zusatzfragen zu stellen. Daraus und aus der Gegenüberstellung mit anderen Zeugen können wiederum aufschlussreiche Folgerungen bezüglich der Wahrheitsliebe und -fähigkeit der jeweiligen Aussageperson gezogen werden. Schlussendlich hat man einen persönlichen Eindruck von Zeugen. Damit einhergeht die Frage, ob aus Gestik und Mimik, dem Klang der Stimme und der Veränderung des Tonfalls, der Redseligkeit bei bestimmten Fragen einerseits und der Wortkargheit bei anderen Fragen andererseits entsprechende Rückschlüsse für die Glaubwürdigkeit von Zeugen gezogen werden können, dürfen und/oder müssen.191 Dabei lässt sich sicher nicht leugnen, dass man solche Um 190 Zum Folgenden s. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 167 f. sowie Großkopf, Beweissurrogate und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, S. 36 ff. – jeweils m. w. N. 191 s. zu diesem Inhalt des „persönlichen Eindrucks“ bereits Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 172 sowie hierzu noch an späterer Stelle im 5. Teil, 11. Kapitel unter I.

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1. Teil: Dogmatische Grundlagen

stände überhaupt bloß, ohne sie von vornherein überzubewerten, berücksichtigen kann, wenn man sie selbst wahrnimmt. In dieser Hinsicht lässt sich nicht bestreiten, dass Unmittelbarkeit den Zweck verfolgt, eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen zu ermöglichen.

III. Fazit Bei einem Fazit fällt auf, dass Durchsetzung und Anwendung des materiellen Strafrechts, obschon die – bloß mit unterschiedlicher Gewichtung versehene – Aufgabe des Strafverfahrens schlechthin192, im Rahmen der Erörterungen von Sinn und Zweck des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht genannt wird. Selbst Löhr, die sich umfassend mit dem „Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht“ in der gleichnamigen Dissertation befasst hat, anerkennt zwar, dass das Strafverfahrensrecht eine eigene Ordnung darstellt, dabei aber dennoch von außerprozessualen, allgemeinen Werterwägungen beherrscht wird und als ständig sich neu vollziehender Vorgang der Durchsetzung und Bewährung des materiellen Strafrechts dient.193 Auf etwaige Interdependenzen zwischen den materiellen Strafgesetzen und dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz geht sie aber gleichfalls bloß am Rande ein.194 Demgegenüber soll diese Prozessmaxime eine individualschützende Komponente in Form einer Schutzfunktion für den Angeklagten enthalten. Dadurch wird sie aber unzureichend erklärt. Es handelt sich dabei im Ergebnis bloß um einen Schutzreflex eines anderen, mehr objektiv ausgerichteten Elements. Insofern soll das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip der besseren Erforschung und Ermittlung der Wahrheit dienen, weil die unmittelbar-sinnliche Wahrnehmung von Aussagepersonen, insbesondere von Zeugen, aufgrund der nunmehr möglichen Beurteilung der Glaubwürdigkeit eine verlässlichere Grundlage als die Verlesung von Mitschriften früherer Vernehmungen bilden soll.

192 Vgl. dazu sowie näher zum Verhältnis von Straf- und Strafprozessrecht und dem diesbezüglichen Streit im 2. Kapitel unter I. 193 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 159 (Hervorhebung nicht im Original). 194 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 32 spricht unter Berufung auf Mittermaier, Mündlichkeit, Anklageprinzip, Öffentlichkeit und Geschworenengericht, S. 11 vom „sich fortentwickelnden Charakter der materiellen Strafgesetzgebung“ (Hervorhebung nicht im Original) bzw. der „Wandlung in der Strafgesetzgebung, die sich auf die beginnende Strafprozessreform des 19. Jahrhunderts auswirkte“. Vgl. näher zum Verhältnis von Unmittelbarkeit und materiellem Strafrecht im 5. Teil, 11. Kapitel unter II.

2. Teil

Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften Nachdem die dogmatischen Grundlagen für die weiteren Überlegungen gelegt sind, soll sich nunmehr des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes selbst angenommen werden. Dabei wird mit einer Untersuchung von § 250 StPO und seinen Ausnahmen begonnen. Dieses Vorgehen versteht sich keinesfalls von selbst. In diesem Zusammenhang braucht bloß an die mahnenden Worte von Geppert erinnert zu werden, wonach sich die Diskussion um das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip in der Vergangenheit allzu oft in diesen Vorschriften hoffnungslos festgefahren hat.1 Dabei handelt es sich um aber ein eher emotionales Argument, wohingegen rationale Gründe dafür sprechen, sich zuvörderst mit § 250 StPO und seinen Ausnahmen zu befassen. Aber selbst insofern hegt Geppert Zweifel und trägt dafür einen methodischen Einwand vor. § 250 StPO sei zwar eine zentrale Vorschrift, keinesfalls aber schlechthin Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips.2 Vielmehr soll es sich bloß um einen Teilbereich (un-)mittelbarer Beweisführung handeln.3 Darin weiß er sich im Einklang mit einem Teil des Schrifttums, der in § 250 StPO ebenfalls bloß ein Teilgebiet von (materieller) Unmittelbarkeit geregelt sieht.4 Anderenorts heißt es dagegen, dass die Vorschrift den Kernbereich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ausmachen soll.5 Bei einer solchen Sichtweise würde es sich von selbst verstehen, die Vorschrift in Mittelpunkt und Vordergrund einer Untersuchung zum Verfahrensprinzip der Unmittelbarkeit zu rücken. Ob es sich bei § 250 StPO um den Kern- oder lediglich um einen Teilbereich dieser Prozessmaxime handelt, besagt jedoch im Grunde wenig darüber, in welcher Weise man sich des Prinzips methodisch nähert. Interessanter ist ein anderer Einwand von Geppert. Es soll sich bei §§ 250 ff. StPO nämlich nicht bloß um einen Teilbereich handeln. Das Unmittelbarkeits­ prinzip soll darin – und dabei handelt es sich um die viel entscheidendere Aussage – darüber hinaus eine weitgehend verselbständigte Lösung erfahren haben.6 1

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. Ebd. 3 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 mit S. 186 (Hervorhebung im Original). 4 Velten, in: SK-StPO, § 250 Rdnr. 1; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 1. 5 Joecks, § 250 Rdnr. 1; Pfeiffer, § 250 Rdnr. 1. Vgl. ferner noch Schork, in: HK-GS, § 250 Rdnr. 1: „Kernstück der Regelungen über den Unmittelbarkeitsgrundsatz“. 6 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 186 (Hervorhebung nicht im Original). 2

64

2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Es lassen sich mit anderen Worten die Prämissen und dogmatischen Erkenntnisse der §§ 250 ff. StPO nicht zwangsläufig auf das (übergeordnete) Unmittelbarkeitsprinzip übertragen. Wenn es sich tatsächlich in diesem Sinne verhalten würde, könnte eine vorrangige Beschäftigung mit diesen Regelungen in der Tat in die Irre führen. Zum einen aber ist nicht gesagt, dass Geppert die Rolle des § 250 StPO innerhalb des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgebots zutreffend charakterisiert. Zum anderen kann man sich sehr wohl selbst für den Fall zuvörderst mit diesen Vorschriften befassen, dass es sich lediglich um einen Teilbereich des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes mit einer weitestgehend verselbständigten Lösung handeln soll, solange man dies bedenkt, bevor man den Ertrag der diesbezüglichen Analyse auf den Grundsatz – möglicherweise unbesehen und unreflektiert – übernehmen will. Ein zwingender Hinderungsgrund ist es jedenfalls nicht, sich zunächst mit § 250 StPO und seinen Ausnahmen zu beschäftigen. Ein weiteres Argument de lege lata spricht dafür. Es handelt sich bei diesen Vorschriften, wie selbst Geppert zugeben muss, der darin bloß einen Teilbereich (un-) mittelbarer Beweisführung verwirklicht sieht, um die einzigen Regelungen, die sich „gezielt mit der Problematik unmittelbarer bzw. mittelbarer Beweisführung“ befassen, während sich ansonsten nicht einmal andeutungsweise Bestimmungen dazu finden, sondern vielmehr Einigkeit darin herrscht, dass Unmittelbarkeit im Gesetz keine unmissverständlich klare Regelung gefunden hat.7 Von daher liegt es aus der Perspektive de lege lata auf der Hand, mit eben diesen (Spezial-)Vorschriften die weitere Untersuchung dieser Prozessmaxime einzuläuten. Schlussendlich gilt es noch Folgendes zu bedenken: Schon an früherer Stelle ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass es zu einem Bedeutungswandel im Verhältnis von Ermittlungs- und Hauptverfahren gekommen ist.8 Dies muss Konsequenzen für die Verlesungsvorschriften und deren Verständnis haben. Bereits Mittermaier hat in dieser Hinsicht konstatiert, dass das zentrale Problem der Unmittelbarkeit in der Feststellung des richtigen Verhältnisses von Voruntersuchung und Hauptverfahren liegt.9 Geppert stimmt darin ein, wenn er einräumt, dass sich die Diskussion des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Grunde immer auf die Frage zuspitzt, „in welchem Umfang die im Vorverfahren gewonnenen Beweise in der späteren Hauptverhandlung verwertet werden können“.10 Um genau diese Frage geht es bei § 250 StPO und seinen Ausnahmen in den sog. Verlesungsvorschriften. Von daher liegt es nahe, diese Regelungen und deren Untersuchung späteren Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz voranzustellen.

7

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 mit S. 1. Vgl. im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 2. 9 Mittermaier, Mündlichkeit, Anklageprinzip, Öffentlichkeit und Geschworenengericht, S. 266 ff. mit S. 406. 10 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 2. 8

4. Kap.: Sinn und Zweck von § 250 StPO

65

4. Kapitel

Sinn und Zweck von § 250 StPO Diese Vorgehensweise sieht sich bestätigt, wenn man sich Sinn und Zweck von § 250 StPO vor Augen führt. Insofern stößt man nämlich auf eine Identität mit Sinn und Zweck des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes überhaupt. In dieser Hinsicht wurde erörtert, dass er der besseren Erforschung und Ermittlung von Sachverhalt und Wahrheit dienen soll, wie es insbesondere durch die an eine persönliche Einvernahme anknüpfende Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen ermöglicht wird.11 Auf ähnliche Überlegungen stößt man in der (Kommentar-)Literatur zum Telos von § 250 StPO. Die Vorschrift enthalte – neben einer individualschützenden Komponente zugunsten des Angeklagten12 – ein Gebot optimaler Sachaufklärung.13 Sie dient der zuverlässigen Sachverhaltsermittlung14, indem sie im Interesse der besseren Sachaufklärung ein Verbot der Verlesung von Niederschriften über frühere Vernehmungen aufstellt, weil selbst das beste Protokoll im Vergleich zur mündlichen Vernehmung der Auskunftsperson in der Hauptverhandlung das weniger anschauliche und wegen der Möglichkeit von Unvollständigkeiten sowie von Ausdrucks- und Aufnahmefehlern zudem oftmals schlechtere Beweismittel ist, zumal Richter durch § 250 StPO einen – für die Beweiswürdigung wichtigen – persönlichen Eindruck von der Auskunftsperson und damit von deren Glaubwürdigkeit gewinnen (können).15 Darin liegt die primäre Funktion von § 250 StPO. In seinen Konsequenzen ist man sich ebenfalls einig. Er statuiert einen Vorrang des Personal- vor dem Urkundsbeweis16, wodurch die gemäß § 249 StPO im Grundsatz bestehende Freiheit des Urkundsbeweises eingeschränkt wird.17 Insofern stellt § 250 StPO eine Ausnahme zu § 249 StPO dar.18 In den Vorschriften der §§ 251 ff. StPO sind wiederum Ausnahmen von dieser Ausnahme vorgesehen. In 11

Vgl. hierzu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. BGHSt 29, 109, 111; Diemer, in: KK, § 250 Rdnr. 1; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 1; Dölling, in: AK-StPO, § 250 Rdnr. 1; Schork, in: HK-GS, § 250 Rdnr. 1; Paulus, in: KMR, § 250 Rdnr. 2; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 187; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 41. Vgl. zur individualschützenden Komponente des Unmittelbarkeitsprinzips überhaupt bereits im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 3. 13 Velten, in: SK-StPO, § 250 Rdnr. 1. 14 Paulus, in: KMR, § 250 Rdnr. 2. 15 Schneidewin, JR 1951, 481, 482; Schork, in: HK-GS, § 250 Rdnr. 1; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 1; Dölling, in: AK-StPO, § 250 Rdnr. 1; Seyler, GA 1989, 546, 563. 16 BGHSt 15, 253, 254; Pfeiffer, § 250 Rdnr. 1; Joecks, § 250 Rdnr. 2; Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 2; Schork, in: HK-GS, § 250 Rdnr. 2; Diemer, in: KK, § 250 Rdnr. 1; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 1; Dölling, in: AK-StPO, § 250 Rdnr. 1; Wömpner, NStZ 1983, 293, 294. 17 Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 1; Dölling, in: AK-StPO, § 250 Rdnr. 1; Julius, in: HK, § 250 Rdnr. 1. 18 s. expressis verbis in diesem Sinne Velten, in: SK-StPO, § 250 Rdnr. 3. 12

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

der Sache ohne Unterschied spricht man anderenorts von sog. Rückausnahmen ­ eppert zum grundsätzlich zulässigen Urkundsbeweis.19 Diese Systematik könnte G in die Hände spielen, wonach es bei §§ 250 ff. StPO bloß um einen Teilbereich von Unmittelbarkeit gehen und insbesondere § 250 StPO nicht schlechthin Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips sein soll20, weil ein Grundsatz wohl in der Tat eher nicht in einer Ausnahmevorschrift loziert gehört. Zum anderen zeigt das systematische Verständnis zugleich einen methodischen Weg zu einem möglicherweise besseren Verständnis des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf, wie er in diesen Vorschriften de lege lata zum Ausdruck kommt. Die eigentlichen Ausnahmen im gesetzlichen Gefüge dieser Vorschriften finden sich nicht in §§ 251 ff. StPO. Vielmehr ist § 250 StPO selbst die Ausnahmeregelung im Verhältnis zu § 249 StPO, wohingegen die Normen der §§ 251 ff. StPO den Grundsatz des § 249 StPO wiederherstellen (helfen). Insofern soll im weiteren Verlauf der Überlegungen nicht § 250 StPO, sondern vielmehr seine Ausnahmen analysiert werden. Es erscheint für daran anknüpfende Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz auf der Ebene de lege ferenda gewinnbringender zu sein als eine isolierte Analyse von § 250 StPO, an dem sich – und darin ist Geppert zuzustimmen – der Streit um das Unmittelbarkeitsprinzip in der Vergangenheit allzu oft hoffnungslos festgefahren hat.21 Angesichts dessen soll der Blick nunmehr auf die gesetzlichen Vorschriften gelenkt werden, in denen Ausnahmen von § 250 StPO verankert sind.

5. Kapitel

Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO Die gesetzlichen Ausnahmen von § 250 StPO sind weit über das Gesetz verstreut.22 Die praktisch wichtigsten Durchbrechungen finden sich allerdings im unmittelbaren Anschluss an § 250 StPO, nämlich in §§ 251 ff. StPO. Das Urteil des Schrifttums über diesen Normenkomplex ist teilweise ebenso verheerend wie ver 19

Gollwitzer, in: LR, 25. Aufl., § 250 Rdnr. 1; Velten, in: SK-StPO, § 250 Rdnr. 3. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 mit S. 186. 21 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 22 Eine weitere Ausnahme enthält etwa § 325 StPO [vgl. dazu näher Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 151 ff. sowie später noch im 3. Teil, 8. Kapitel unter I. 2. c)]. Auf sie soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zum einen knüpft § 325 StPO durch den Verweis in seinem Wortlaut weitestgehend an § 251 StPO an. Im Übrigen ist das Unmittelbarkeitsprinzip in praxi eher nicht bei der Bewältigung von Klein- und mittlerer Kriminalität berührt, um die es aber bei der Berufung und dem vorherigen amtsgericht­ lichen Verfahren geht, die sich insofern bewährt haben (vgl. dazu näher Lilie, Gutachten D zum 63. DJT, S. 46 ff.). Schon dieser Umstand für sich spricht dafür, dass eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in diesem Bereich eher nicht von Seiten der Rechts­ politik und des Gesetzgebers zu erwarten steht. 20

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

67

nichtend. Er offenbare eine „wild gewachsene Struktur, hinter der nicht ein planender gesetzgeberischer Gedanke steckt“.23 Es handelt sich um einen „unübersichtlichen, in sich nicht koordinierten und nicht mehr zeitgmäßen Flickenteppich der §§ 250 ff. StPO“.24 Sie sollen „ein besonders heikles und schwieriges, wenig geglücktes Stück des im allgemeinen rühmenswerten Gesetzes“ sowie „unübersichtlich gestaltet“ sein. Es sei eine „mißliche und manchmal fast erschreckende Aufgabe“ bzw. eine „starke Zumutung, […] sich durch dieses Gestrüpp hindurchzuwinden“.25 Freilich muss das Dickicht dieser Vorschriften im Folgenden nicht vollends gelichtet werden. Zum einen werden nämlich die Worte von ­Geppert beherzigt und der Mut aufgebracht, bereits Geschriebenes als bekannt vorauszusetzen.26 Im Übrigen sollen die Regelungen keinesfalls kommentarhaft und überblicksartig dargestellt werden, sondern stattdessen der Versuch unternommen werden, sie in sachlicher Hinsicht zu systematisieren. Dass darüber – die Praxis sicher interessierende – Detailfragen zuweilen ausgeblendet werden (müssen), lässt sich nicht vermeiden. Im Hinblick auf weiterführende Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip sind sie aber ohnehin kaum hilfreich und verstellen eher den Blick für eine Systematisierung der Verlesungsvorschriften unter sachlichen Gesichtspunkten. Auf diese Weise lässt sich eher klären, ob sich die Ausnahmen systemimmanent und -konform in das Gefüge des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes einfügen lassen.

I. Vernehmung des Bundespräsidenten und anderer hochrangiger Repräsentanten des Staates Es zeigt sich in besonders anschaulicher Weise, wenn es um die Vernehmung des Bundespräsidenten und anderer hochrangiger Repräsentanten des Staates geht. Für die diesbezüglichen Ausnahmen von § 250 StPO werden Begründungen gegeben, die mehr von außen an das Unmittelbarkeitsprinzip herangetragen werden, anstatt zu fragen, ob sie sich nicht viel besser systemimmanent und unmittelbar mit dem Prinzip selbst erklären und rechtfertigen lassen. Weil es sich aber praktisch um eher selten vorkommende Fälle handelt, soll zunächst die gesetzliche Ausgangslage kurz skizziert werden. Eine diesbezügliche Ausnahme von § 250 StPO regelt § 49 StPO. Danach ist der Bundespräsident nicht zur Vernehmung in die Hauptverhandlung zu laden. Vielmehr wird er in seiner Wohnung vernommen und das hierüber errichtete Protokoll 23

Großkopf, Beweissurrogate und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, S. 53. Weigend, Eisenberg-Festschrift, S. 657, 669. 25 Schneidewin, JR 1951, 481. 26 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 122. Dies gilt insbesondere für die Entstehungsgeschichte der Vorschriften, auf die bloß im Zusammenhang mit konkreten Fragen eingegangen wird. Vgl. hierzu im Übrigen die Darstellung bei Geppert, a. a. O., S.  100 ff. sowie Rieß, Maiwald-Festschrift, S. 661 ff. 24

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

später in der Hauptverhandlung verlesen. Gleiches bestimmt § 50 StPO für die Vernehmung anderer hochrangiger Repräsentanten des Staates. Gemäß der Regelung werden Bundestags- und Landtagsabgeordnete sowie Mitglieder des Bundesrats während der jeweiligen Legislatur- bzw. Amtsperiode am Versammlungssitz der gesetzgebenden Körperschaft vernommen (§ 50 Abs. 1 StPO). Vergleichbares gilt für Mitglieder von Bundes- und Landesregierungen, deren Vernehmung am Amtssitz erfolgt (§ 50 Abs. 2 StPO). 1. Parallelvorschriften der §§ 375 Abs. 2, 382 ZPO Vergleichbare Regelungen gibt es im Zivilprozessrecht. § 375 Abs. 2 ZPO korrespondiert dabei mit § 49 StPO, indem er bestimmt, dass der Bundespräsident in seiner Wohnung zu vernehmen ist. § 375 Abs. 2 ZPO wiederum ist im Zusammenhang mit § 219 Abs. 2 ZPO zu sehen. Danach ist der Bundespräsident nicht verpflichtet, „persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen“. Parallelnorm zu § 50 StPO ist § 382 ZPO, wonach Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung (§ 382 Abs. 1 ZPO) bzw. Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates sowie der Landtage (§ 382 Abs. 2 ZPO) am Aufenthaltsort bzw. am Sitz der Versammlung zu vernehmen sind. Obwohl die Regelungen von daher weitgehend identisch sind, worauf aus der Perspektive des Zivilprozessrechts vereinzelt sogar expressis verbis hingewiesen wird27, werden sie dennoch lediglich aus dem Blickwinkel der jeweiligen Prozessrechtswissenschaft betrachtet. 2. Streit um die Anwendung auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten Besonders anschaulich lässt sich dies am Streit darüber illustrieren, ob die Vorschriften über die Vernehmung des Bundespräsidenten auf seinen Stellvertreter ebenfalls Anwendung finden. In dieser Hinsicht haben sich die Meinungsbilder völlig konträr zueinander entwickelt. Die weitaus überwiegende strafprozessuale (Kommentar-)Literatur und ebenso das verfassungsrechtliche Schrifttum ver­ neinen die Anwendbarkeit von § 49 StPO auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten.28 Lediglich vereinzelt regt sich Widerstand und wird eine Anwendung der Vorschrift insofern befürwortet.29 Die Kommentare zur Zivilprozessordnung sprechen demgegenüber eine völlig andere Sprache. Es überwiegen deutlich Stimmen, 27

Damrau, in: MünchKommZPO, § 382 Rdnr. 1. Senge, in: KK, § 49 Rdnr. 1; Dahs, in: LR, § 49 Rdnr. 1; Meyer-Goßner; § 49 Rdnr. 1 a. E.; Trüg, in: HK-GS, § 49 Rdnr. 1; Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 1; Pfeiffer, § 49 Rdnr. 1; Radtke/Hohmann/Otte, § 49 Rdnr. 1; Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 57 Rdnr. 25 a. E.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 57 Rdnr. 32. 29 Kühne, in: AK-StPO, § 49 Rdnr. 2; Gercke, in: HK, § 49 Rdnr. 1; Umbach, in: ders./Clemens, GG, Art. 57 Rdnr. 41. 28

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

69

wonach die Regelungen der §§ 375 Abs. 2, 219 Abs. 2 ZPO auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten anwendbar sind30, ohne sich zuweilen um Argumente dafür zu bemühen.31 Bloß noch absolut vereinzelt wird die Ansicht vertreten, dass es sich nicht in diesem Sinne verhalten soll, ohne dass hierfür eine Begründung geliefert wird.32 Obwohl es sich bei § 49 StPO und § 375 Abs. 2 ZPO um im Wortlaut teilweise identische und in jedem Falle sachlich übereinstimmende Vorschriften handelt, werden sie in diesem Streitpunkt völlig verschieden interpretiert. Noch mehr überrascht es, dass man seiner jeweils eigenen Perspektive verhaftet bleibt und nicht die jeweils andere Prozessrechtswissenschaft wahrnimmt. Dieses Versäumnis in methodisch-dogmatischer Hinsicht bleibt freilich ohne Konsequenzen für die Praxis, wie überhaupt der Streit um die Anwendung der Zeugenprivilegien des Staatsoberhaupts auf seinen Vertreter wie der Streit um des Kaisers Barte und das berühmte dogmatische Glasperlenspiel im akademischen Elfenbeinturm anmuten. In praktischer Hinsicht wirkt der Streit nämlich eher müßig. Gemäß Art. 57 GG werden „die Befugnisse des Bundespräsidenten […] im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen“. Im Bundesrat wiederum sind die Länder vertreten, und zwar gemäß Art. 51 Abs. 1 GG durch „Mitglieder der Regierungen der Länder“, die bloß „durch andere Mitglieder ihrer Regierungen vertreten werden“ können. Selbst wenn man weder § 49 StPO noch § 375 Abs. 2 ZPO auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten anwenden möchte, kommt von daher jedenfalls § 50 StPO bzw. § 382 ZPO zum Zuge, wie es von Seiten der Strafprozessrechtswissenschaft vereinzelt bereits erkannt worden ist33, und zwar § 50 Abs. 1 StPO bzw. § 382 Abs. 2 ZPO wegen der Mitgliedschaft im Bundesrat (Art. 57 GG) oder § 50 Abs. 2 StPO bzw. § 382 Abs. 1 ZPO wegen der zwingend erforder­lichen Beteiligung an einer Landesregierung (Art. 51 Abs. 1 GG). Deshalb wirkt der Streit eher wie das berühmte dogmatische Glasperlenspiel. In praktischer Hinsicht besteht, soweit es um Strafverfahren geht, lediglich ein Unterschied zwischen der Anwendung von § 49 oder § 50 StPO auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten. Während er bei § 49 StPO zwingend in seiner Wohnung zu vernehmen wäre, könnte es im Falle von § 50 StPO durchaus zur Ladung in die Hauptverhandlung kommen. Der Unterschied besteht freilich bloß im (gesetzlichen) Ausgangspunkt. Regelmäßig wird es nämlich zur Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung kommen. Ob das Gericht die Repräsentanten im Sinne des § 50 StPO innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung hört, bestimmt es nach seinem pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung der möglichen 30 Gehrlein, in: MünchKommZPO, § 219 Rdnr. 5; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 219 Rdnr. 5; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, § 219 Rdnr. 11.  31 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 219 Rdnr. 12; Hk-ZPO/Wöstmann, § 219 Rdnr. 3. 32 Stöber, in: Zöller, ZPO, § 219 Rdnr. 5. 33 Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 3.

70

2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Auswirkungen auf die Parlamentsarbeit34 sowie der Belange des Zeugen35, sprich seiner Arbeitsbelastung und (sonstigen) beruflichen Verpflichtungen36. Sie wird im Falle des Stellvertreters des Bundespräsidenten regelmäßig sehr hoch sein, im Regelfall sogar höher als der Arbeitsanfall beim Bundespräsidenten selbst. Vertreten wird der Bundespräsident, wie bereits ausgeführt, vom Bundesratspräsidenten. Dieser wiederum wird gemäß Art. 52 Abs. 1 GG vom Bundesrat aus seiner Mitte gewählt. In der Staatspraxis hat sich dabei ein Turnus entwickelt, wonach sich die Ministerpräsidenten der Bundesländer jährlich in einer festgelegten Reihenfolge abwechseln. In jedem Falle ist der Bundesratspräsident zugleich Ministerpräsident eines Bundeslandes in Personalunion. Dass wiederum die Arbeitsbelastung eines Ministerpräsidenten (exorbitant) hoch und jedenfalls größer als beim eher repräsentativen Amt des Bundespräsidenten ist, dürfte auf der Hand liegen, womit sich der Kreis zur eingangs aufgestellten These schließt. Weil dieser Arbeitsanfall für eine Vernehmung außerhalb der Hauptverhandlung spricht, werden der Bundespräsident wie sein Stellvertreter in Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht im Rahmen der Beweisaufnahme während der Hauptverhandlung selbst vernommen. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, erscheint der Streit darüber, ob § 49 StPO oder § 375 Abs. 2 ZPO bloß auf den Bundespräsidenten oder daneben noch auf seinen Stellvertreter Anwendung findet, eher als (praktische) Marginalie. Dennoch gilt es zum Abschluss der diesbezüglichen Ausführungen nochmals zu betonen, dass es eine diesbezügliche Kontroverse gibt, die von den jeweiligen Prozessrechtswissenschaften verschieden beurteilt, ohne dass die andere Disziplin in die eigenen Betrachtungen einbezogen wird, obwohl die Vorschriften weitestgehend identisch sind. 3. Sinn und Zweck der Regelungen im Hinblick auf die Diskussion um den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz Eher seltene Einmütigkeit unter Juristen herrscht wiederum in der Frage nach Sinn und Zweck der Vorschriften. Dabei wird vor Grenzen nicht halt gemacht. Vielmehr werden Ratio und Telos der Normen gleich verstanden, insbesondere soweit es § 50 StPO und den hiermit korrespondierenden § 382 ZPO betrifft. Sie werden von Straf- wie von Zivilprozessualisten gleichermaßen charakterisiert.

34

Rogall, in: SK-StPO, § 50 Rdnr. 3 a. E. In diesem Sinne BGH NStZ 1982, 158, 159. 36 Im Schrifttum wird der Aspekt der Arbeitsbelastung des Zeugen bzw. seiner beruflichen Verpflichtungen expressis verbis genannt, s. etwa Meyer-Goßner, § 50 Rdnr. 3 a. E.; Pfeiffer, § 50 Rdnr. 1; Neubeck, in: KMR, § 50 Rdnr. 3; Senge, in: KK, § 50 Rdnr. 3. 35

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

71

a) Vermeidung von Störungen der Amtstätigkeit (h. M.) Die Ratio von § 50 StPO soll auf originär staatsrechtlichen Motiven beruhen, wie es ein angesehener Strafprozessrechtler einmal formuliert hat.37 Auf solchermaßen motivierte Begründungen stößt man ferner in der (Kommentar-)Literatur zu § 50 StPO. Die Vorschrift soll die Sicherung der Parlaments- und Regierungsarbeit bezwecken, die Schaden nehmen könnte, wenn Parlaments- und Regierungsmitglieder gezwungen wären, sich zum Zwecke der Vernehmung an auswärtige Vernehmungsorte zu begeben.38 Sie will die geordnete und ungestörte Tätigkeit von Gesetzgebungsorganen und Regierungen gewährleisten.39 In der früheren Rechtsprechung heißt es in der Sache ohne Unterschied, dass die Vorschrift den Zweck verfolgt, einen „vermittelnden Ausweg zu schaffen für die Fälle der Kollision der Pflicht, auf Vorladung als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, mit amt­ lichen oder amtsähnlichen Pflichten“40. In der späteren Judikatur äußert man sich in Übereinstimmung mit dem Schrifttum dahingehend, dass der Schutzzweck des § 50 StPO im Schutz der Parlamentsarbeit vor Störungen durch Abwesenheit von Abgeordneten zu sehen sein soll.41 Nach abweichenden oder die Regelungen kritisierenden Stimmen sucht man im strafprozessrechtlichen Schrifttum vergebens. Anders verhält es sich mit der Kommentarliteratur zur Zivilprozessordnung. Dabei führt man einen eher staatstheoretisch fundierten Einwand an. Es soll sich erheblich bezweifeln lassen, ob die Bevorzugung der Legislative und (teilweise) der Exekutive in unserer Demokratie eigentlich noch dem Ansehen der gleichwertigen Judikative dient, ohne dass dadurch der Vorschrift des § 382 ZPO freilich eine andere Bedeutung zugemessen werden soll. Sinn und Zweck der Regelung werden vielmehr in der Rücksicht auf Amt und Rang des betroffenen Zeugen gesehen.42 Auf solche und ähnliche Formulierungen stößt man durchweg im zivilprozessrechtlichen Schrifttum zu § 382 ZPO. Er dient dem Schutz der Funktionsfähigkeit der jeweiligen Verfassungsorgane.43 Es soll die politische Arbeit von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sie als Zeugen zum Erscheinen bei Gericht verpflichtet wären.44 Die Vorschrift soll verhindern, dass die Arbeit von Regierungsmitgliedern und Parlamentariern über Gebühr belastet und verhindert wird.45 Daran knüpft allerdings die eingangs ge 37

Peters, Strafprozeß, S. 347. Meyer-Goßner, § 50 Rdnr. 1; Rogall, in: SK-StPO, § 50 Rdnr. 1; Dahs, in: LR, § 50 Rdnr. 1; Senge, in: KK, § 50 Rdnr. 1; Trüg, in: HK-GS, § 50 Rdnr. 1; Gercke, in: HK, § 50 Rdnr. 1. 39 Kühne, in: AK-StPO, § 50 Rdnr. 1; Neubeck, in: KMR, § 50 Rdnr. 1. 40 RGSt 26, 253, 255. 41 BGH NStZ 1982, 158, 159. 42 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 382 Rdnr. 2. 43 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 382 Rdnr. 1. 44 Huber, in: Musielak, ZPO, § 382 Rdnr. 1; Damrau, in: MünchKommZPO, § 382 Rdnr. 1; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 382 Rdnr. 1. 45 Hk-ZPO/Eichele, § 382 Rdnr. 1. 38

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

nannte Kritik an. Es gibt nämlich in der übrigen Bevölkerung andere Menschen von vergleichbarem Rang und Amt.46 Wenn man einmal diese vereinzelt gebliebene Kritik außer Acht lässt, wird § 382 ZPO und seine Ratio im selben Sinne verstanden, wie sie unter Strafprozessrechtlern bezüglich § 50 StPO vorherrscht. In dieser Hinsicht präjudizierend waren die Materialien zur (Reichs-)Strafprozeß- und zur Civilprozeßordnung. Der Entwurf zur Reichsstrafprozessordnung enthielt eine Regelung, wie man sie nunmehr in § 50 StPO findet, noch nicht. Sie wurde erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens angeregt und an seinem Ende als § 49 RStPO verabschiedet. Inhaltliche Unterschiede zur heutigen Regelung bestehen jedoch nicht, insbesondere soweit es Sinn und Zweck betrifft. Es soll – in der Sprache der Motive47 – vermieden werden, dass eine Vorladung vor Gericht zur „unvermeidliche(n) Kollision mit amtlichen oder anderen öffentlichen Pflichten“ führt, dass Regierungsmitglieder an der amtlichen Tätigkeit und Mitglieder einer gesetzgebenden Versammlung an der Teilnahme an bestimmten Sitzungen gehindert bzw. dass gewisse hohe Staatsbeamte in der Hauptverhandlung vernommen werden, weil es dadurch zu einem Konflikt mit deren wichtigsten Berufspflichten kommt. In der Sache läuft dies auf einen Schutz der Funktionsfähigkeit der genannten Verfassungsorgane hinaus. Interessant an der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ist noch, dass sie in das Blickfeld der damaligen strafprozessualen Diskussion erst durch die gleichlautende Vorschrift in der Civilprozeßordnung geraten ist, worauf in den Materialien ausdrücklich hingewiesen wird.48 Dass sie in einem funktionalen Zusammenhang zu sehen sind, wurde bei der Verabschiedung des Vorläufers von § 382 ZPO besonders betont. Wörtlich heißt es: „Alles, was für die Vorschrift im Strafprozesse gesagt worden ist, treffe für den Civilprozeß in noch größerem und weiterem Maße zu“.49 Von daher verwundert es nicht, dass Sinn und Zweck der Vorschriften als identisch angesehen werden. § 382 ZPO soll einen unerträglichen Widerstreit der Erscheinungspflicht des Zeugen mit den Anforderungen und Pflichten des öffentlichen Dienstes lösen. Die Vorschrift sei im Interesse des öffentlichen Dienstes zu sehen und diene dem Schutz der Dienstgeschäfte.50 Angesichts solcher Aussagen lässt sich nicht daran zweifeln, dass Sinn und Zweck von § 50 StPO einerseits und § 382 ZPO andererseits nicht bloß im zeitgenössischen Schrifttum synonym gesehen werden, sondern bereits vom historischen Gesetzgeber in diesem (inhalts­ gleichen) Sinne verstanden worden sind.

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Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 382 Rdnr. 2. Vgl. zum Folgenden die Wiedergabe der Wortlautprotokolle der zweiten Lesung in der Kommission bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1244. 48 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1244. 49 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 2, S. 1142. 50 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 2, S. 1088. 47

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Ähnlich sieht man es mit Blick auf § 375 Abs. 2 ZPO. Danach sind die Vorrechte aus §§ 375 Abs. 2, 219 Abs. 2 ZPO dem Bundespräsidenten aus staatsrechtlichen Gründen gewährt, nämlich um seine ungestörte Amtsausübung und der damit verbundenen Amtsgeschäfte zu sichern.51 Soweit Kritik an den Vorschriften geübt wird, sollen sie sich nicht mit der ungestörten Amtsausübung rechtfertigen lassen. § 375 Abs. 2 ZPO soll als Privileg in einem demokratischen Staat fragwürdig und heute überholt sein, ohne dass vernünftige Gründe für die Bestimmung erkennbar seien.52 Wenn man einmal von dieser Kritik absieht, herrscht Einigkeit über Sinn und Zweck der zivilprozessrechtlichen Regelungen über die Vernehmung des Bundespräsidenten. Mit dem Hinweis auf die Sicherung der Amtsausübung und -­tätigkeit werden sie dabei ähnlich gedeutet, wie es bereits bei § 50 StPO bzw. § 382 ZPO der Fall ist. Das Pendant zu § 375 Abs. 2 ZPO ist § 49 StPO. Anders als zu §§ 375 Abs. 2, 219 Abs. 2 ZPO stößt man allerdings im strafprozessrechtlichen Schrifttum eher selten auf konkrete Aussagen zu Sinn und Zweck von § 49 StPO. Wenn man etwas zum Telos erfährt, heißt es zunächst etwas diffus und nebulös, dass die Erscheinens­ pflicht eines Zeugen vor Gericht im Falle des Bundespräsidenten aus staatsrechtlichen Gründen eingeschränkt bzw. aufgehoben ist.53 Kaum mehr erfährt man, wenn davon gesprochen wird, dass es mit der Würde des Amtes bzw. der Stellung des Bundespräsidenten nicht vereinbar sein soll, dass er als Zeuge vor Gericht erscheinen muss.54 Die Ratio der Vorschrift besteht nämlich in der Rücksichtnahme auf die herausgehobene verfassungsrechtliche Stellung des Staatsoberhaupts. Sein Ansehen soll vor Beschädigungen bewahrt werden, die aus einer Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung resultieren könnten.55 Weniger deutlich, im Ergebnis aber wohl ohne Unterschied stellt man durch solche Formulierungen – wie in der Zivilprozessrechtswissenschaft – die ungestörte Amtsausübung in das Zentrum von Sinn und Zweck des § 49 StPO. b) Kritik an der h. M. Nachdem vorstehend der Meinungsstand zu den straf- und zivilprozessualen Normen über die Vernehmung hochrangiger Vertreter unseres Staates aufbereitet worden ist, soll er nunmehr kritisch hinterfragt werden. Dabei wird sich zeigen, dass er weder in seinen praktischen Konsequenzen noch in seinem dogmatischen Ausgangspunkt zu überzeugen vermag. In methodischer Hinsicht wird dabei ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, ob und wie sich der Gedanke eines 51 Gehrlein, in: MünchKommZPO, § 219 Rdnr. 5; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 219 Rdnr. 5; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, § 219 Rdnr. 11. 52 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 14. 53 Peters, Strafprozeß, S. 347; Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 1. 54 Kühne, in: AK-StPO, § 49 Rdnr. 2; Dahs, in: LR, § 49 Rdnr. 1. 55 Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 3.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes mit der Ratio der Vorschriften, wie er bislang in Rechtsprechung und Schrifttum gesehen wird, in Einklang bringen lässt. Das bisherige Meinungsspektrum weist bereits Schwächen innerhalb der eigenen Argumentation auf. Wenn etwa mit Blick auf § 49 StPO angeführt wird, dass der Bundespräsident vor Beschädigungen bewahrt werden soll, die aus einer Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung resultieren könnten56, bleibt unklar, woran man dabei denkt. Soweit es um den (etwa falschen) Inhalt seiner Aussage geht, wird sie durch deren späteres Verlesen ohnehin publik. Wenn die Verfahrensbeteiligten ungehörige Fragen stellen, können sie zurückgewiesen werden (§ 241 StPO). Welche Beschädigungen ein Bundespräsident durch eine Vernehmung im Gericht selbst soll erleiden können, bleibt von daher ungewiss. Im Übrigen gilt es zu bedenken, dass die von Gesetzes wegen relativ stark eingeschränkte (Bild-) Berichterstattung über Gerichtsverfahren gemäß § 169 GVG bereits ausreichenden Schutz in dieser Hinsicht bietet57, sodass sich das Privileg damit bloß unzu­ reichend erklären lässt. Ebenso verhält es sich mit der Begründung von der Sicherung der ungestörten Amtsausübung und -tätigkeit des Bundespräsidenten, wie sie im zivilprozessrechtlichen Schrifttum gegeben wird58. Dieser Gesichtspunkt lässt jedenfalls nicht die Konsequenz zu, dass deshalb sein Vertreter ebenfalls in den Genuss von § 375 Abs. 2 ZPO kommen soll. In der langen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kam es verhältnismäßig selten zur Anwendung von Art. 57 GG. Dass der Bundesratspräsident dabei, obwohl zugleich Ministerpräsident eines Bundeslandes, die Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten nicht hätte führen können, ist jedenfalls nicht bekannt geworden. Seine Belastung resultiert eher aus der Tätigkeit als „Landesfürst“. In dieser Eigenschaft greifen aber nicht § 49 StPO bzw. § 375 Abs. 2 ZPO, sondern vielmehr § 50 Abs. 2 StPO bzw. § 382 Abs. 1 ZPO. Die Konsequenz der Anwendbarkeit des § 375 Abs. 2 ZPO auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten lässt sich von daher eher nicht damit erklären, dass man Sinn und Zweck der Vorschrift in der Sicherung der ungestörten Amtsausübung des Staatsoberhaupts sieht. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Konsequenz selbst unzutreffend ist. Es muss dafür aber eine andere Begründung gefunden werden. Bevor sich damit in methodisch-dogmatischer Hinsicht befasst werden soll, muss allerdings noch hinterfragt werden, wie es sich mit Sinn und Zweck des § 50 StPO und dem damit korrespondierenden § 382 ZPO verhält. Wie ausgeführt, wird die Ratio der Vorschriften darin gesehen, eine ungestörte Amtstätigkeit der 56

Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 3. Vgl. zur Bildberichterstattung de lege lata bloß BVerfGE 119, 309 ff.; BVerfG NJW 2009, 120 ff. sowie Fink, Bild- und Tonaufnahmen im Umfeld der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, S. 121 ff. 58 Gehrlein, in: MünchKommZPO, § 219 Rdnr. 5; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 219 Rdnr. 5; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, § 219 Rdnr. 11. 57

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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jeweiligen Verfassungsorgane zu gewährleisten, die durch Reisen zu Zeugenaussagen an auswärtige Gerichtsorte beeinträchtigt werden könnte. Dieser Sinn und Zweck ist sicher unmittelbar einsichtig, soweit es die viel beschäftigten Mitglieder von Landesregierungen betrifft. Bei (Landtags-)Abgeordneten muss man jedoch Zweifel in dieser Hinsicht hegen, wie sie bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Reichsstrafprozessordnung von einer Minderheit geäußert worden sind.59 Anders als der – regelmäßig wöchentlich tagende – Bundestag treten Landtage weitaus seltener zusammen. Im Übrigen muss noch Folgendes bedacht werden: Dass ein Parlament in toto als Zeuge geladen wird, ist – entgegen der Entstehungs­ geschichte60 – praktisch wohl kaum vorstellbar. Für den Fall, dass es während einer Parlamentssitzung zu einer Straftat kommt, sieht § 36 StGB im Übrigen Indem­ nität vor, wonach parlamentarische Äußerungen bloß eingeschränkt strafrechtlich verfolgt werden (können und dürfen). Der Fall, dass sämtliche Parlamentarier als Zeugen vor Gericht auftreten müssen, ist für den noch am ehesten praktisch denkbaren Fall eines von einem Parlamentarier verübten Äußerungsdelikts von daher aufgrund einer Regelung im materiellen Strafrecht ausgeschlossen. Während der Debatte im Verlauf der Verabschiedung der (Reichs-)Strafprozessordnung ist noch geäußert worden, dass man die Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane dadurch beeinflussen könnte, dass man durch die gezielte Ladung von Parlamentariern „bei einer wichtigen Abstimmung die Majorität in Minorität zu verändern“ droht.61 Dabei handelt es sich aber – jedenfalls nunmehr – um ein eher theoretisches Argument. Wenn man sich die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags vor Augen führt (§§ 79 ff. GO BT), wird deutlich, dass die (eigentliche) gesetzgeberische Arbeit, wie es auf die Landtage im Übrigen ebenfalls zutrifft, weniger im Plenum, sondern vielmehr in den Ausschüssen geleistet wird. Selbst wenn man deren Zusammensetzung bei einzelnen Sitzungen gezielt manipulieren wollte, würde es auf das Ergebnis der Beratungen nicht durchschlagen. Insofern kommt es gerade nicht (mehr) zu zufälligen Mehrheiten. In der Staatspraxis gibt es für solche Fälle nämlich eine – freilich ungeschriebene und von daher eher informelle und rechtlich jedenfalls unverbindliche – Absprache zwischen den (großen) Fraktionen, dass für den Fall des entschuldigten Fehlens eines Abgeordneten einer Fraktion ein Mitglied der anderen Fraktion ebenfalls der Abstimmung fernbleibt (sog. Pairing), sodass das Kalkül, zufällige Mehrheiten im Plenum oder in den Ausschüssen herbeiführen zu wollen, sich nicht zwangsläufig im Abstimmungsergebnis niederschlägt. Dass die Parlamentsarbeit durch das Fernbleiben einzelner Parlamentarier ernsthaft gefährdet ist, lässt sich von daher behaupten, aber eher nicht begründen. Insofern wird der Zweck von § 50 StPO mit dem Schutz

59 s. hierzu Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1244 ff. mit S. 1542. 60 Die Diskussion kam in der zweiten Beratung im Plenum auf, s. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1741. 61 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1747.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

vor Störungen der Regierungs- und Parlamentsarbeit durch Reisen an auswärtige Vernehmungsorte lediglich rudimentär erfasst und eher defizitär umschrieben. Bereits in den (denkbaren) praktischen Konsequenzen vermag es, um zu einem Fazit der bislang gegebenen Begründungen zu Sinn und Zweck der Vorschriften über die Vernehmung hochrangiger Amtspersonen im Staate, eher nicht zu überzeugen, wenn man diese damit rechtfertigen und erklären will, dass das jeweilige Verfassungs- und Staatsorgan nicht in der Ausübung seiner damit verbundenen Geschäfte und Tätigkeiten beeinträchtigt werden soll. Zudem handelt es sich um Begründungen, die eher wenig mit Sinn und Zweck eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu tun haben. Um einen solchen Bezug sollte man sich aber durchaus bemühen. Schließlich wird etwa § 49 StPO unisono als Lockerung des Unmittelbarkeitsprinzips und als Ausnahme bzw. Abweichung von § 250 StPO verstanden.62 Für sein Pendant in § 375 Abs. 2 ZPO nimmt man Gleiches an.63 In § 50 StPO, jedenfalls in seinem Absatz 4, sieht man ebenfalls eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und eine Ausnahme von § 250 StPO.64 Auf gleichlautende Bemerkungen stößt man bezüglich § 382 ZPO.65 Diesen Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz lassen sämtliche Ansichten zu Sinn und Zweck der Regelungen über die (auswärtige) Vernehmung hochrangiger Staatsrepräsentanten bislang vermissen. Einer solchen systemimmanenten Lösung gebührt aber in methodisch-dogmatischer Hinsicht der Vorzug. c) Glaubwürdigkeit von (hochrangigen) Repräsentanten des Staates als systemimmanenter Grund für die Ausnahme von Unmittelbarkeit Dabei wird es ein zentrales Anliegen sein, sich um eine Erklärung zu bemühen, die sich eher als die h. M. mit Sinn und Zweck eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes vereinbaren lässt. Denn eine Ausnahme hiervon mit der Gewährleistung einer störungsfreien Amtstätigkeit erklären zu wollen, verträgt sich hiermit eher nicht. Dies ist vielmehr der Fall, wenn man die Vorschriften der 62

Neubeck, in: KMR, § 49; Rogall, in: SK-StPO, § 49 Rdnr. 10; Kühne, in: AK-StPO, § 49 Rdnr. 6; Dahs, in: LR, § 49 Rdnr. 6; Meyer-Goßner, § 49 Rdnr. 2. 63 Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1 a. E. 64 Dahs, in: LR, § 50 Rdnr. 13 mit § 49 Rdnr. 6; Kühne, in: AK-StPO, § 49 Rdnr. 7; MeyerGoßner, § 50 Rdnr. 10 mit § 49 Rdnr. 2. Dies wurde bereits in den Beratungen zur Reichstrafprozessordnung betont. Die Vorschrift „durchbricht […] das wichtigste Prinzip, welches der Strafprozeßordnung zu Grunde liegt, nämlich das Prinzip der Unmittelbarkeit des Verfahrens“ (Abg. Frankenburger in der zweiten Beratung im Plenum, s. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1742). 65 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 1 mit Rdnr. 8; Greger, in: Zöller, ZPO, § 375 Rdnr. 1 mit Rdnr. 2; Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1 mit Rdnr. 3; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 2 mit Rdnr. 9; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 1 mit Rdnr. 3.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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§§ 49, 50 StPO und die entsprechenden Normen des Zivilprozessrechts mit dem Vertrauen in die Integrität höchster Staatsämter und die Lauterkeit der damit verbundenen Amtsführung rechtfertigt, wie es nunmehr näher aufgezeigt und nach­ gezeichnet werden soll. aa) Staatstheoretische Argumente Dabei soll nicht mit rechtlichen, sondern vielmehr mit eher staatstheoretischen Argumenten begonnen werden, und zwar nicht von ungefähr. Zum einen geht es um die Vernehmung von Personen in hochrangigen Staatsämtern. Zum anderen, und darin liegt der entscheidendere Grund, sind staatstheoretische Überlegungen vom jeweils geltenden Recht unabhängig. Kennzeichen eines Rechtsstaats ist nicht bloß, dass überhaupt eine Rechtsordnung besteht, sondern dass der Staat sich selbst dieser unterwirft.66 Souveränität der Staatsgewalt in diesem Sinne bedeutet, dass sie sich bloß im Rahmen der von der souveränen Staatsgewalt geschaffenen Rechtsordnung entfalten kann.67 Weil man sich dabei aber auf einen Rechtsstaat bzw. eine Rechtsordnung bezieht, soll noch ein Schritt (zurück) in Richtung eines (Selbst-)Verständnisses vom Staat gemacht werden, wie man es in der staatstheoretischen Diskussion befürwortet. Der Staat, wie er ist, muss sich daran messen lassen, wie er nach Maßgabe der Vernunft sein sollte, am Ideal des bestmöglichen oder jedenfalls des besseren Staates. Um seiner Wirksamkeit willen muss sich der Staat seinen Bürgern gegenüber als zustimmungswürdig ausweisen und sich um deren tatsächliche Zustimmung bemühen.68 Wer um die Legitimation der Herrschaft ringt, wird sich naturgemäß darum bemühen, die Betroffenen durch eine gute Regierungstätigkeit von seinem legitimen Herrschaftsanspruch zu überzeugen.69 Dies könnte damit abgetan werden, dass es sich als zu sehr rechtsromantisch verklärt darstellt und nicht der Wirklichkeit des – korrupten und korrumpierbaren – Staats(apparats) entspricht. Von Seiten der Staatstheorie würde man einem solchen Einwand entgegnen, dass sich die Staatsrealität diesem Ideal auf Dauer nicht verschließen kann und sollte. Der politischen Stoßkraft des Ideals hält die Wirklichkeit des Staates bloß (zeitlich) begrenzt stand. Sie zerbricht, wenn sie sich dem Ideal nicht annähert und anpasst.70 Ein solches Staatsverständnis bedarf jedoch der Umsetzung durch die jeweils handelnden (Amts-)Personen. Der moderne Staat kommt ohne das öffentliche Amt nicht (mehr) aus. Vielmehr gibt es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Entstehung des moder-

66 Reineck, Allgemeine Staatslehre und Deutsches Staatsrecht, S. 42 (Hervorhebung nicht im Original). 67 Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 15 Rdnr. 37. 68 Isensee, JZ 1999, 265, 267. 69 Fleiner/Fleiner, Allgemeine Staatslehre, S. 15. 70 Isensee, JZ 1999, 265, 266.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

nen Staates und dem heutigen Beamtentum.71 Dabei verschränken sich Macht und Recht in der Institution des öffentlichen Amtes, wobei sich seine Führung durch den jeweiligen Amtswalter am Gemeinwohl zu orientieren hat.72 Der Einrichtung des öffentlichen Amtes kommt insofern zentrale Bedeutung zu. Seine Aufgabe ist es, das staatliche Gesamtinteresse gegenüber den gesellschaftlichen Sonderinteressen zu vertreten und durchzusetzen.73 Diese Gemeinwohlorientierung des Amtshandelns bedarf jedoch der Sicherung. Etwas voreilig könnte man meinen, dass es aus diesem Grund die Beamtengesetze des Bundes (BBG) und der Länder gibt, die entsprechende Amtspflichten statuieren, wie etwa die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit gemäß § 61 BBG. Im Vordergrund stehen aber andere, eher vorrechtliche Aspekte. Gemäß § 54 Satz 3 BBG muss das Verhalten des Beamten – innerhalb und außerhalb des Dienstes – der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordert, wobei „Achtung und Vertrauen“ vom Gesetz als in der Bevölkerung existent vorausgesetzt werden. Die beiden Begriffe verhalten sich dabei wie die beiden Kehrseiten ein und derselben Medaille. In der Staatswissenschaft ist anerkannt, dass das Vertrauen in die Integrität der Amtsführung zu den Anforderungen für die Gewährleistung einer gemeinwohlorientierten Amtsführung zählt.74 Dieses Vertrauen wiederum korrespondiert mit der (Selbst-)Achtung gegenüber dem Beruf des Beamten, dem sog. republikanischen Amtsethos. Insofern bestehen Interdepedenzen, wie sie insbesondere Hennis herausgearbeitet hat, bei dessen Amtskonzeption der Begriff des Vertrauens eine Schlüsselrolle innehat.75 Beim Amtsethos handelt es sich76, wie generell beim Ethos, um die sittliche Grundhaltung und Gesinnung, um die moralische Gesamthaltung eines Einzelnen. Als innere Einstellung ist er ebenso wie das korrespondierende Vertrauen nicht real fassbar, aber dennoch vorhanden. Es handelt sich, um mit Isensee zu sprechen, um „genuin ethische Gebote, die durch dienstrechtliche Normen unterfangen werden“.77 Diese (lückenfüllende) Funktion des Beamtenethos’ darf nicht unterschätzt werden, weil selbst bei sorgfältigster gesetzlicher Regelung der Amtspflichten noch Frei- und Spielräume verbleiben, bei deren Ausfüllung das (Selbst-)Verständnis des Amtswalters eine bedeutende Rolle spielt.78 Als ethische Gebote sind sie allerdings auf freiwillige Befolgung angelegt, erlangen aber durch die Beachtung der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 Abs. 5 GG) gewisse rechtliche Verbindlichkeit. Zu diesen Grundzügen der Beamtenethik, zu den Standards des „guten Beamten“, zu seinem Tugend- und Qualifikationskatalog bzw. zu seinem Leitbild, um einige 71

Stolleis, Die Verwaltung 13 (1980), 447, 471; Schuppert, Staatswissenschaft, S. 107. Vgl. allg. hierzu Schuppert, Staatswissenschaft, S. 107 ff., S. 115 ff. 73 von Stein, Verwaltungslehre, S. 215 f. 74 Schuppert, Staatswissenschaft, S. 125 f. 75 Hennis, Smend-Festgabe, S. 51, 56. 76 Vgl. allg. hierzu Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 57 Rdnr. 64 ff.; Schuppert, Staatswissenschaft, S. 129 f. 77 Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 57 Rdnr. 66 a. E. 78 Schuppert, Staatswissenschaft, S. 129. 72

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Formulierungen von Stolleis aufzugreifen, gehören gewisse subjektive Kriterien, „die den eigentlichen Kern der Beamtenethik bilden“, und ethische Haltungen, die man von sich aus einzunehmen hat, wie Aufrichtigkeit, Integrität, Verschwiegenheit und (Gesetzes-)Treue.79 Vor diesem (staats-)theoretischen Hintergrund erfüllt der Beamte seine Pflichten nicht bloß deshalb, weil er anderenfalls wegen eines Dienstvergehens verfolgt werden könnte, sondern nicht minder weil es sein Amtsethos und damit sein (Selbst-)Verständnis von einer integren Amtsführung gebieten. Um es mit Stolleis zu formulieren: „Die mit dem Beamtentum verbundene politische Ethik ist ein zentraler Punkt im Selbstverständnis des modernen Staates“.80 In dieser Hinsicht bedarf der Staat der inneren Zustimmung der Bürokratie.81 Deutlicher lässt es sich wohl kaum ausdrücken, dass man einem Amtsethos nicht (bloß) deshalb entspricht, weil man es von Gesetzes wegen muss, sondern weil man es nach seinem Selbstverständnis will. Gegen die vorstehenden Gedanken könnte man zum einen einwenden, dass sie zu sehr obrigkeitshörig, eher (rechts-)romantisch verklärt und hoffnungslos alt­ modisch sind.82 Zum anderen könnten das mehr und mehr schwindende Vertrauen der Bevölkerung in das (Berufs-)Beamtentum und die politische Klasse sowie die bloße Existenz der Bestechungsdelikte dagegen sprechen. Soweit es den letzteren Einwand betrifft, sei zum einen auf den staatstheoretisch fundierten Gegeneinwand verwiesen, dass sich die Realität dem Ideal anzupassen hat und nicht umgekehrt.83 Im Übrigen wird die Existenz eines Rechtsguts durch eine Strafvorschrift keinesfalls in Abrede gestellt, sondern vielmehr vorausgesetzt. Es soll nämlich gerade vor Schäden durch kriminelle Auswüchse bewahrt werden. Ebenso verhält es sich bei den Korruptionsdelikten. Sie schützen ein Rechtsgut, das sich inhaltlich mit den staatstheoretischen Überlegungen zu weiten Teilen deckt. Die Strafvorschriften zum Schutz gegen Bestechung und Korruption im öffentlichen Bereich sind im Abschnitt der Amtsdelikte geregelt. Ein einheitliches Rechtsgut enthalten diese Strafvorschriften zwar nicht, wohl aber einen gemeinsamen Kern. Zumeist geht es um den Schutz der Ordnungsgemäßheit der Amtsführung und damit um das ureigene Staatsinteresse an der Rechtmäßigkeit und Lauterkeit von Verwaltung und Rechtspflege sowie um das öffentliche Vertrauen in die Integrität des Staatsapparates.84 Mit anderen Worten schützt der Staat einerseits sich selbst und andererseits 79 Stolleis, Die Verwaltung 13 (1980), 447, 455 ff., 466 ff. (Hervorhebung nicht im Original). Mit den Wesensmerkmalen der Aufrichtigkeit und der Integrität wird (unweigerlich) die Brücke zu Sinn und Zweck der Unmittelbarkeit geschlagen, die in der besseren Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen gesehen wird, vgl. hierzu näher im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 80 Stolleis, Die Verwaltung 13 (1980), 447, 448 (Hervorhebung nicht im Original). 81 Ebd., S. 449 (Hervorhebung nicht im Original). 82 s. hierzu aus (rechts-)soziologischer Sicht Schuppert, Staatswissenschaft, S. 122 ff. 83 Isensee, JZ 1999, 265, 266. 84 Heine, in: Schönke/Schröder, Vorbem. § 331 Rdnr. 1; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB, Vor § 331 Rdnr. 5 ff. sowie mit Blick speziell auf Schutzzweck und -gut der Bestechungsdelikte etwa noch BGHSt 47, 22, 25; 47, 295, 309; Lackner/Kühl, § 331 Rdnr. 1; Fischer, § 331 Rdnr. 3; Kuhlen, in: NK, § 331 Rdnr. 9 ff. – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

das Vertrauen der Staatsbürger in den Staat und seine Organe. Das „demokratische Vertrauen“ und die dadurch vermittelte Autorität von Politikern und Beamten wiederum gründet mehr auf deren positiven Leistungen und Ergebnissen als auf der (notwendigen) Missbrauchsverhütung.85 Dabei wiederum handelt es sich um einen Gedanken aus den bereits angestellten staatstheoretischen Überlegungen. Im Übrigen handelt es sich nicht bloß um Gedankenspiele von mehr oder minder unverbindlicher Qualität. Der Sache nach liegen verschiedenen Vorschriften ein Vertrauen in (Staats-)Ämter und ein damit korrespondierender Amtsethos im geschilderten Sinne zugrunde. Sie haben insofern Eingang in unsere Rechtsordnung gefunden und dadurch eine mehr oder minder rechtsverbindliche Natur bekommen. bb) Gesetzliche Regelungen zur Zwangsvollstreckung gegen den Staat Diese Argumentation bleibt im Übrigen nicht der (Staats-)Theorie verhaftet, sondern hat sich vielmehr in unserer Rechtsordnung niedergeschlagen. Das (öffent­liche) Vertrauen in den Staat sowie die Recht- und Ordnungsmäßigkeit des Handelns seiner Organe und der sich selbst auferlegte Amtsethos – als Kehrseite dieses Vertrauens – stehen etwa als (Rechts-)Gedanke hinter den Vorschriften über die Zwangsvollstreckung gegen den Staat. Er ist freilich etwas in den Hintergrund der diesbezüglichen Diskussion geraten. Es gibt nämlich eine „nach heutigem Verständnis nicht mehr problematische Zulässigkeit verwaltungsrechtlicher Vollstreckungsmaßnahmen gegen Verwaltungsträger“.86 Sie zeigt sich etwa in § 882a ZPO und in § 170 VwGO. Des Weiteren sind noch „die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen gegen einen Gemeindeverband oder eine Gemeinde“ im Sinne von § 15 Nr. 3 EGZPO zu nennen, etwa Art. 77 Bayrische Gemeindeordnung (BayGO). Dennoch besteht eine Besonderheit insofern, als dass nach den genannten Regelungen die Zwangsvollstreckung gegen die öffentliche Hand nicht unverzüglich eingeleitet werden darf, sondern der vorherigen Ankündigung und des Ablaufs einer mit der Ankündigung beginnenden Frist für die freiwillige Leistung bedarf. An den Vorschriften hat sich heftige Kritik entzündet. In diesem Sinne liest man etwa, dass die Privilegierung der öffentlichen Hand in der Zwangsvollstreckung „zur Gänze überholten obrigkeitsstaatlichen Denken entstammte und daher dringend der Beseitigung bedurfte“, weil sie „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei“.87 Im selben Sinne heißt, dass man sich angesichts der Bevorzugung der öffentlichen Hand im Vollstreckungsrecht noch im „guten, alten Obrigkeitsstaat wähnt“.88 Konträr dazu und deutlich weniger polemisch äußert man sich 85

Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 143. Renck, BayVBl. 1984, 703, 704. Vgl. ferner noch Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 3. 87 Geißler, NJW 1953, 1853, 1854. 88 Zeiss, JZ 1974, 564, 567; ders., ZRP 1982, 74, 75. 86

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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an anderer Stelle dahingehend, dass von der öffentlichen Hand „im Rechtsstaat eine freiwillige Befolgung titulierter Rechtspflichten erwartet werden darf“.89 Aus rechtsstaatlichen Gründen dürfe eine Zwangsvollstreckung gegen den Staat nicht praktisch werden.90 Darin, dass die öffentliche Hand titulierte Forderungen regelmäßig freiwillig erfüllt, wird der Grund dafür gesehen, dass § 170 VwGO keine nennenswerte praktische Bedeutung hat.91 Aus derselben Ecke kommt aber wiederum der diesbezügliche Einwand, dass die freiwillige Unterwerfung der Verwaltung kein Grund sein soll, sie vom Vollstreckungszwang auszunehmen,92 wobei es im konkreten Zusammenhang um die Vollstreckung aus verwaltungsgerichtlichen Vergleichen ging. Die Zitate dürften gezeigt haben, dass über das (Selbst-)Verständnis des Staates in der Zwangsvollstreckung unverändert Unklarheit herrscht. Die Frage hat sich insbesondere nicht durch den Übergang vom (kaiserlichen) Obrigkeitsstaat zum demokratischen Rechtsstaat erledigt. Schließlich wird ein modernes Rechtsstaatsverständnis gerade dafür in Anspruch genommen, dass die öffentliche Hand in der Regel freiwillig leistet. Weil dies mit der Rolle und dem Selbstverständnis des Staates und seiner Organe erklärt werden könnte, und man dies ebenso bei den Vorschriften über die (auswärtige) Vernehmung hochrangiger Staatsrepräsentanten tun könnte, soll sich nunmehr der Ratio der Zwangsvollstreckungsnormen gegen den Staat angenommen werden. Aus der verwaltungsprozessualen Zwangsvollstreckung ist § 170 VwGO zu nennen. Sein Sinn und Zweck wird im Schutz der behördlichen Verwaltungstätigkeit gesehen.93 Das die Vorschrift prägende Interesse ist es, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Hand um der öffentlichen Aufgaben willen zu erhalten.94 Die Tätigkeit der öffentlichen Hand soll nicht durch unnötige und überflüssige Maßnahmen der Zwangsvollstreckung eingeschränkt werden.95 Dieser Argumentation ist man bereits bei §§ 50 StPO, 382 ZPO begegnet. Auf sie stößt man ferner noch bei § 882a ZPO, der Regelung zur Zwangsvollstreckung gegen den Staat wegen einer Geldforderung. Dabei ist voranzuschicken, dass eine strukturelle Verwandtschaft zwischen § 170 VwGO und § 882a ZPO besteht. § 170 VwGO wird als § 882a ZPO ähnlich und weitgehend inhaltsgleich bis wortlautidentisch nachempfunden betrachtet.96 Von daher verwundert es nicht, 89

Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, § 43 Rdnr. 1. Ule, DVBl. 1959, 537, 540. 91 Bader, in: ders./Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 170 Rdnr. 1. 92 Renck-Laufke, BayVBl. 1976, 621, 622. 93 Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, § 43 Rdnr. 14. 94 Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 170 Rdnr. 1. 95 Pietzner, in: Blümel-Festschrift, S. 443, 446; ders./Möller, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 170 Rdnr. 1; Kraft, in: Eyermann, VwGO, § 170 Rdnr. 1; Heckmann, in: NK-VwGO, § 170 Rdnr. 7; Schunck/DeClerck, VwGO, § 170 Anm. 1. 96 Bank, Zwangsvollstreckung gegen Behörden, S. 68; Pietzner, in: Blümel-Festschrift, S. 443, 445; Heckmann, in: NK-VwGO, § 170 Rdnr. 14 a. E. 90

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

dass der Telos von § 882a ZPO gleichfalls in der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung gesehen wird.97 Er bezweckt, die Erfüllung von im Gemeinwohlinteresse liegenden öffentlichen Aufgaben durch juristische Personen des öffentlichen Rechts zu schützen.98 Nach der (bundesverfassungsgerichtlichen) Rechtsprechung ist die Norm dem Bestreben des Gesetzgebers zu verdanken, die im Gemeinwohlinteresse ausgeübte Tätigkeit der juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht über Gebühr zu beeinträchtigen.99 Lediglich vereinzelt regt sich Kritik daran. Es würde sich um eine deutliche und nicht einsehbare Bevorzugung der öffentlichen Hand handeln, die bloß zum Teil berechtigt sei.100 Wenn man diese einzelne Stimme einmal außer Acht lässt, ähneln die Begründungen zu § 882a ZPO den Ausführungen zur Ratio von § 50 StPO bzw. § 382 ZPO. Gleiches gilt für Sinn und Zweck der „landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen“ gegen Kommunen im Sinne von § 15 Nr. 3 EGZPO, etwa Art. 77 BayGO. Die Vorschrift „schützt die Gemeinden vor dem unmittelbaren Zugriff durch Gläubiger bürgerlich-rechtlicher Geld­ forderungen im Zwangsvollstreckungsverfahren“ und dient damit „letztlich der reibungslosen, ungestörten Erfüllung der gemeindlichen Aufgaben“.101 Wenn sich die Bedeutung der genannten Vorschriften tatsächlich darin erschöpfen würde, wären Rückschlüsse im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich. Es ist indes nicht der Fall. Neben diesem (handfesten) Motiv gibt es noch einen ideellen Aspekt der Vorschriften, wie er im Folgenden beispielhaft anhand von Kommentierungen zu § 170 VwGO illustriert werden soll. Er enthält Einschränkungen der Zwangsvollstreckung gegen öffentlich-rechtliche Körperschaften, die mit Rücksicht auf deren Ansehen geboten sind.102 Eine dem Ruf der öffentlichen Hand abträgliche Vollstreckung soll soweit wie möglich vermieden werden.103 Vollends in den Mittelpunkt gerückt wird der Gedanke von den Motiven zu § 170 VwGO, die wiederum auf die Motive zu § 882a ZPO Bezug nehmen. Ohne ein Wort über die Funktionsfähigkeit der Verwaltung zu verlieren, heißt es darin, dass eine Zwangsvollstreckung deshalb grundsätzlich abzuwenden ist, „weil es stets das Ansehen des Staates und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung schädigt, wenn eine Behörde nur mit Zwang dazu gebracht werden kann, einer

97

Heckmann, in: NK-VwGO, § 170 Rdnr. 14. Münzberg, in: Stein/Jonas, ZPO, § 882a Rdnr. 2; Eickmann, in: MünchKommZPO, § 882a Rdnr. 1. 99 BVerfGE 60, 135, 157. 100 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 882a Rdnr. 2. 101 Schmitt-Timmermanns/Schäfer, BayVBl. 1989, 489 m. w. N. in Fn. 1 (Hervorhebung nicht im Orginal). Vgl. ferner in diesem Sinne noch Pencerici/Siering, LKV 1996, 401, 402 m. w. N. 102 Schunck/DeClerck, VwGO, § 170 Anm. 1. 103 Redeker/von Oertzen, VwGO, § 170 Rdnr. 3; Hüttenbrink, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozessrecht, S. 407, Rdnr. 29 a. E. 98

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Gerichtsentscheidung nachzukommen“.104 Mit dem Hinweis auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung ist die Brücke geschlagen zum Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität höchster Staatsämter. Die frühere Diskussion über die Zwangsvollstreckung gegen den Staat und die diesbezüglichen Vorschriften war noch sehr stark von solchen (ideellen) Gedanken getragen. Dabei wurden Argumente wider die Zwangsvollstreckung gegen den Staat und seine Organe vorgetragen105, die als (rechts-)romantisch verklärt ab­getan werden106, dennoch aber im vorliegenden Zusammenhang von ungebrochenem Interesse sind. Im eingangs geschilderten staatstheoretischen Sinne heißt es etwa, dass der Einsatz von Zwangsmitteln gegen den Staat durch sich selbst „mit einem gesunden Staatsbewußtsein unvereinbar“ ist.107 Pragmatischer wird argumentiert, dass es deshalb der Zwangsvollstreckung nicht bedarf, weil der Staat per se leistungswillig sei.108 Soweit es § 15 Nr. 3 EGZPO betraf, wurde hiergegen bereits bei seiner Verabschiedung vorgetragen, dass dem Gläubiger nicht der Zwang angetan werden dürfe, sich auf die Pflichttreue der oberen Verwaltungsbeamten verweisen zu lassen109, worin sich ein tiefes justizstaatliches Misstrauen gegenüber der Verwaltung äußert. Das Argument hat sich zum einen aber in der Gesetzesberatung nicht durchgesetzt. Zum anderen ist es historisch überholt, weil das Gemeinwesen und seine (Rechts-)Staatlichkeit der damaligen (Kaiser-)Zeit nicht mehr mit dem demokratischen (Rechts-)Staat heutigen Zuschnitts verglichen werden kann. Damit bleibt es beim (Selbst-)Verständnis an ein Staatswesen. Diesbezüglich kann auf die staatstheoretischen Überlegungen verwiesen werden. Sie vermögen vielleicht nicht die generelle Unzulässigkeit von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach sich zu ziehen, aber in jedem Falle die nach wie vor existierende (Sonder-) Rolle des Staates und seiner Organe in diesem Zusammenhang zu erklären. Hiergegen wird freilich noch vorgetragen, dass das Argument von der Leistungswilligkeit nicht mit der Wirklichkeit in Einklang stehen soll.110 Selbst wenn 104

Zitat nach Koehler, VwGO, S. 1287. Einen Überblick über die Argumente und eine diesbezügliche Auseinandersetzung bieten Dagtoglou, VerwArch 50 (1959), 165, 167 ff.; Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 3 ff.; Blank, Zwangsvollstreckung gegen Behörden, S. 63 ff. sowie Loeser, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, § 882a Rdnr. 2 ff. 106 Loeser, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, § 882a Rdnr. 9. 107 Mayer, Verwaltungsrecht, S. 382. 108 s. hierzu Dagtoglou, VerwArch 50 (1959), 165, 167 f.; Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 7 ff. – jeweils m. w. N. 109 Abg. Reichensperger bei der Beratung von § 15 Nr. 3 EGZPO, vgl. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO Abt. 2, S. 1056. 110 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 882a Rdnr. 2; Loeser, in: Wieczorek/ Schütze, ZPO, § 882a Rdnr. 8; Dagtoglou, VerwArch 50 (1959), 165, 168; Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffent­ lichen Rechts, S. 8. 105

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

es sich empirisch in diesem Sinne verhalten sollte, kann der Kritikpunkt aus zwei Gründen außer Betracht bleiben. Zum einen müsste sich für diesen Fall die Praxis ändern und nicht die theoretische Begründung einer Norm. Zum anderen, und darin liegt der entscheidende Grund, spricht gegen diesen Einwand ein – wiederum – praktischer Aspekt, der in diesem Punkt zu sehr in Vergessenheit geraten ist. cc) Besonderheiten im zivilprozessualen Erkenntnisverfahren gegen den Staat Die zwangsvollstreckungsrechtlichen Vorschriften dürfen nämlich nicht isoliert für sich betrachtet werden. Vielmehr sind sie im Kontext mit den Regelungen zum Erkenntnisverfahren zu sehen, eine Erkenntnis, der man sich bei der Diskussion um die Zwangsvollstreckung gegen die öffentliche Hand durchaus bewusst ist111, ohne daraus freilich Konsequenzen ziehen zu wollen. Das (genaue) Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Zwangsvollstreckungsverfahren wird höchst kontrovers diskutiert. Einige Autoren sehen die Zwangsvollstreckung geradezu als „Kern des Rechtsschutzverfahrens“ oder als „Höhepunkt des Prozesses“ und das Erkenntnisverfahren bloß als dessen „Vorstufe“ an.112 Selbst wenn man dieser weitgehenden Auffassung skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, ist man sich jedenfalls darin einig, dass die Zwangsvollstreckung – trotz organisatorischer Selbständigkeit und (leicht) divergierender Zwecke113 – die notwendige Ergänzung zum Erkenntnisverfahren darstellt, falls der Schuldner dem Richterspruch nicht von sich aus nachkommen will114, und insofern eine enge Verbindung115, ein funktioneller Zusammenhang besteht116. Darin ist der Grund dafür zu sehen, dass es deshalb zu Interdependenzen zwischen beiden Verfahrensstadien kommen kann. Bei § 882a ZPO scheint man dies (etwas) aus den Augen verloren zu haben. Die Vorschrift hat nämlich kaum einen praktischen Anwendungsbereich, und zwar einer Konsequenz aus dem Erkenntnisverfahren wegen. § 882a ZPO setzt ein Leistungsurteil nach vorheriger Leistungsklage voraus. Gegen die in § 882a ZPO genannten Vollstreckungsschuldner erhebt man jedoch gemeinhin nicht Leistungsklage, sondern vielmehr bloß Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO. Eine solche Klage ist zwar mangels Vollstreckbarkeit eines Feststellungsurteils grundsätzlich 111

Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 14. 112 Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, S. 121, 188. 113 Vgl. hierzu näher Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, S. 69 ff. 114 Gaul, Rpfleger, 1971, 41, 51; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, § 5 Rdnr. 1. 115 Baur/Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, § 1 Anm. 1.4. 116 Gaul, Rpfleger, 1971, 41, 51; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, § 5 Rdnr. 1.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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subsidiär gegenüber einer möglichen Leistungsklage.117 Dieser Grundsatz gilt aber nicht, wenn die Durchführung des Feststellungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der strittigen Punkte führt.118 Hierher gehören die Fälle, in denen zu erwarten ist, dass sich der Beklagte einem Feststellungsurteil beugen und es respektieren sowie zur Leistung fähig und bereit sein wird.119 Diese Leistungsbereitschaft, um den Kreis zu schließen, nehmen Rechtsprechung und Schrifttum bei Feststellungsklagen gegen öffentlich-rechtliche Körperschaften unisono an.120 Es wird damit begründet, dass der Beklagte kraft Amtspflicht die Rechtskraft voraussichtlich ohne Zwang anerkennen und dem Spruch genügen wird.121 Dies wiederum kann bei der Verwaltung wegen des Grundsatzes von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der entsprechenden Amtspflicht vermutet werden. Die Ausführung eines rechtskräftigen Urteils ist nämlich selbstverständliche Aufgabe jeder gesetzesgebundenen rechtsstaatlichen Verwaltung.122 Es sollte, heißt es in diesem Sinne noch, „die an Gesetz und Recht gebundene Tätigkeit des verurteilten hoheitlichen Schuldners eine widerspruchslose Ausführung des Urteils gewährleisten“.123 Es ist das nobile officium jedes Staatsorgans und jeder Staatsstelle, gesetzestreu zu handeln und ohne Vollstreckungszwang dem Recht zur Verwirklichung zu verhelfen, wobei diese Gesetzestreue mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet wird.124 Dieser Zusam 117

BGH NJW 1984, 1118, 1119; Becker-Eberhard, in: MünchKommZPO, § 256 Rdnr. 49 m. w. N. in Fn. 123. 118 BGH NJW 1978, 1520, 1521; NJW 1984, 1118, 1119; Becker-Eberhard, in: ­Münch KommZPO, § 256 Rdnr. 50. 119 BGHZ 27, 190, 195 f.; Becker-Eberhard, in: MünchKommZPO, § 256 Rdnr. 50; Schumann, in: Stein/Jonas, ZPO, § 256 Rdnr. 89; Foerste, in: Musielak, § 256 Rdnr. 13. 120 RGZ 92, 377, 378; 106, 46, 49; 129, 31, 33 ff.; 146, 290, 295; RG JW 1911, 815 Nr. 26; JW 1931, 2483 Nr. 13; JW 1931, 3263 Nr. 6; BGHZ 28, 123, 126; BGH NJW 1984, 1118, 1119; NJW 2001, 445, 448; BAG NJW 1962, 270, 271; JZ 1990, 194; OLG Köln VersR 1988, 61; Becker-Eberhard, in: MünchKommZPO, § 256 Rdnr. 50; Schumann, in: Stein/Jonas, ZPO, § 256 Rdnr. 89; Foerste, in: Musielak, ZPO, § 256 Rdnr. 13; Hk-ZPO/Saenger, § 256 Rdnr. 16; Greger, in: Zöller, ZPO, § 256 Rdnr. 8. Bei § 43 Abs. 2 VwGO, worin die Subsidiarität der Feststellungs- gegenüber der Leistungsklage ausdrücklich normiert ist, herrscht ein Streit darüber, ob dieser Grundsatz bei Klagen gegen den Staat ebenfalls gilt, vgl. die Nachw. bei Redeker/von Oertzen, VwGO, § 43 Rdnr. 26. Jedenfalls vom BVerwG wird – unter expliziter Bezugnahme auf die zivilgerichtliche Rspr. zu § 256 ZPO – davon im Vertrauen auf die Rechtstreue von Behörden eine Ausnahme gemacht, weil diese wegen der verfassungsmäßig verankerten Bindung an Gesetz und Recht selbst den einer Vollstreckung nicht fähigen Ausspruch in einem Feststellungsurteil befolgen würden (BVerwGE 36, 179, 181). 121 BAG JZ 1990, 194; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 256 Rdnr. 82 mit Rn. 78. 122 Dagtoglou, VerwArch 50 (1959), 165, 170; Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 11. 123 Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 83. Soweit Miedtank im Konjunktiv spricht („sollte“) und damit wohl darauf anspielen will, dass die Realität zuweilen etwas anders aussieht, wird auf die Ausführungen zur Leistungswilligkeit bei Anm. 110 (S. 83) verwiesen. 124 Loeser, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, § 882a Rdnr. 7 mit Fn. 19.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

menhang zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren und damit zwischen § 256 ZPO und § 882a ZPO wird bloß vereinzelt gesehen125, zumeist aber schlichtweg übersehen. Teilweise argumentiert man sogar widersprüchlich, wenn man einerseits § 882a ZPO damit kritisiert, dass der Staat nicht immer leistungswillig sei126, zugleich aber die Feststellungsklage aus § 256 ZPO mit der Begründung zulässt, dass der Staat das entsprechende Feststellungsurteil aller Voraussicht ohne Zwang anerkennen und dem Richterspruch genügen wird127. Die Interdependenzen und das Zusammenspiel zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren gehen in solchen Stellungnahmen etwas unter. Zugleich hat sich der Vorwurf obrigkeitsstaatlichen Denkens erledigt, weil er jedenfalls bei § 256 ZPO noch an der Tagesordnung ist, ohne dass sich ansatzweise Kritik daran regt. Schlussendlich hat sich bei § 256 ZPO gezeigt, dass das (Selbst-)Verständnis des Staates, nämlich die Beachtung von Recht und Gesetz und damit der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, nach wie vor seine Sonderrolle im Zivil­ verfahren rechtfertigt. 4. Fazit für §§ 49, 50 StPO Von dieser Erkenntnis aus bedarf es bloß noch eines kleinen Schrittes zu einer Schlussfolgerung daraus für die Vernehmung hochrangiger Repräsentanten des Staates und die damit verbundenen Durchbrechungen und Ausnahmen vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz. Wenn ein solches Vertrauen (auf die Leistungsbereitschaft) bei jeder juristischen Person des öffentlichen Rechts vermutet wird, kann es – im Wege eines Erst-Recht-Schlusses (argumentum a fortiori) – bei hochgestellten Persönlichkeiten unseres Staats- und Gemeinwesens ebenfalls angenommen werden. Auf die unmittelbar-persönliche Vernehmung dieser Personen durch das erkennende Gericht kann deshalb verzichtet werden, weil kraft des Staatsamtes und des damit einhergehenden (Selbst-)Verständnisses eine Vermutung Platz greift, dass dieser Personenkreis seiner Zeugenpflicht, insbesondere seiner Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage nachkommt, ohne davor – im bildlichen wie wörtlichen Sinne – vor den Schranken eines Gerichts stehen zu müssen. Es kann mit anderen Worten von der Glaubwürdigkeit dieser Personen ausgegangen werden, ohne dass es hierfür der unmittelbaren Konfrontation des (erkennenden) Gerichts mit der Aussageperson bedarf. Darin liegt der tiefere Sinn und Zweck der Regelungen der §§ 49, 50 StPO einerseits bzw. §§ 375 Abs. 2, 382 ZPO andererseits und weniger darin, die Funktionsfähigkeit der jeweiligen Äm-

125 BAG NJW 1962, 270, 271; Miedtank, Zwangsvollstreckung gegen Bund, Länder, Gemeinden und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts, S. 7 f.; Lüke, in: M ­ ünch KommZPO, § 256 Rdnr. 50. 126 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 882a Rdnr. 2. 127 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 256 Rdnr. 82.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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ter zu gewährleisten, die durch (gelegentliche) unmittelbare Zeugenaussagen eher nicht gefährdet wäre. Ein letzter Grund spricht dafür, die Vorschriften der §§ 49, 50 StPO weniger mit der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der jeweiligen Staatsämter erklären zu wollen, als vielmehr damit, dass mit dem Amt eine Vermutung der Glaubwürdigkeit der Amtsperson einhergeht. Staatstheoretisch lässt es sich damit begründen, dass zu den Grundzügen der Beamtenethik solche Wesensmerkmale wie Aufrichtigkeit und Integrität unweigerlich gehören128 – und Glaubwürdigkeit bloß ein anderes Wort dafür ist. Ein solcher Telos lässt sich zudem zwanglos mit Sinn und Zweck eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips vereinbaren. Er besteht darin, wie an früherer Stelle herausgearbeitet129, dem erkennenden Gericht die Möglichkeit einer zuverlässigeren Erforschung der Wahrheit und dabei insbesondere die Möglichkeit einer besseren Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen zu eröffnen als es auf mittelbar-schriftliche Art und Weise denkbar ist. Wenn dieser Zweck jedoch auf andere Weise erreicht wird, kann das straf­ prozedurale Unmittelbarkeitsgebot zurücktreten. Bei einem Verständnis der §§ 49, 50 StPO im vorgeschlagenen Sinne ist dies der Fall. Insofern fügen sich die Vorschriften zwanglos in das System des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes ein. Man hat damit eine systemimmanente Erklärung gefunden, weil sie mit Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit harmoniert und vereinbar ist, während die Ansicht der h. M. eher wenig damit zu tun hat. Praktische Konsequenzen in der Anwendung der §§ 49, 50 StPO resultieren aus der vorgeschlagenen Interpretation indes kaum. Bei § 50 StPO wird man allerdings den Aspekt der zu vermutenden Glaubwürdigkeit in die pflichtgemäße Abwägung und Entscheidung darüber einzustellen haben, ob die Aussageperson außerhalb oder während der Hauptverhandlung zu vernehmen ist. Im Zweifelsfalle spricht das genannte Argument für eine bloß kommissarische Vernehmung. § 49 StPO wiederum ist auf den Stellvertreter des Bundespräsidenten anwendbar, weil er (als Ministerpräsident) ebenfalls ein entsprechendes Vertrauen genießt. Weniger für die Praxis, mehr aber für die Dogmatik des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes sind von daher die vorstehenden Erkenntnisse von Bedeutung. Vielleicht ist es gerade der Umstand, dass die Vorschriften bislang noch nicht bzw. kaum im Fokus der Praxis gestanden haben, der es nahe legt, dass sie einen von Prag­matik weitestgehend unbeeinflussten Zugang zu dogmatischen Fragen und Erkenntnissen erlauben.

128

Stolleis, Die Verwaltung 13 (1980), 447, 466 ff. s. hierzu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II.

129

88

2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

II. Zeugenvernehmung durch beauftragten oder ersuchten Richter Von ungleich größerer (Praxis-)Relevanz ist die (kommissarische) Zeugenvernehmung durch beauftragte oder ersuchte Richter gemäß § 223 StPO. Sie stellt sich dem „Wesen nach als eine Ausnahme von dem Prozeßgrundsatze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Verhandlung“ dar, wie es bereits das Reichsgericht betont hat.130 Von daher soll an dieser Stelle weder die Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz an sich noch deren Berechtigung hinterfragt werden, die von den Motiven in der Vermeidung eines durch große Reisen erwachsenen Kostenaufwands gesehen wird131. Vielmehr soll deren Anwendung und Auslegung aufgezeigt werden, wie sie für die weitere Behandlung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes noch von Bedeutung sein kann. Dabei wird sich auf zwei Punkte konzentriert: Zum einen wird skizziert, wie der Begriff der „längeren oder ungewissen Zeit“ verstanden wird. Zum anderen wird sich § 223 Abs. 2 StPO näher angenommen, insbesondere seines Merkmals von der „großen Entfernung“. Die Beschränkung erklärt sich daraus, dass es sich dabei um besonders auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe handelt. Bei deren Ausfüllung in besonderem Maße auf Sinn und Zweck eines Unmittelbarkeitsgebots zu rekurrieren, dürfte sich von selbst verstehen, woraus sich wiederum erklärt, dass sie für die weitere Untersuchung desselben von großem Interesse sind. Dabei darf der Blick freilich nicht auf § 223 StPO verharren. Vielmehr muss man den Fokus noch auf die Verlesungsvorschrift des § 251 StPO richten, zu der ein enger Zusammenhang bzw. eine entsprechende Verbindung besteht132. Dass ein solcher Bezug besteht, klang in der ursprünglichen Fassung der Vorschriften noch unmittelbarer an, als er in den heutigen Fassungen zum Ausdruck kommt. Gemäß § 250 RStPO war „in den in § 222 bezeichneten Fällen“ die Verlesung des Protokolls über die frühere kommissarische Vernehmung des Zeugen durch beauftragte oder ersuchte Richter zulässig. Ein solcher Verweis findet sich zwar nicht mehr in § 251 StPO, wohl aber sind § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO und § 223 Abs. 1 StPO im Wortlaut identisch. Gleiches gilt für § 223 Abs. 2 StPO im Verhältnis zu § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO, wenngleich mit der Einschränkung versehen, dass bloß die Verlesungsvorschrift expressis verbis auf die „Berücksichtigung der Bedeutung der Aussage“ abstellt. Es wird aber noch zu zeigen sein, dass der Aspekt der „Bedeutung der Aussage“ in beiden Vorschriften gleichermaßen relevant wird.

130

RGSt 44, 8, 10. Vgl. im selben Sinne ferner noch Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 1; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 4. 131 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 180 mit S. 825. 132 Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 1; Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 1; Pfeiffer, § 223 Rdnr. 1; Joecks, § 223 Rdnr. 1. Bereits die Motive betonen einen solchen engen Zusammenhang, s. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 180.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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1. Voraussetzungen von § 223 Abs. 2 StPO, insbesondere „große Entfernung“ Bei unbefangener Betrachtung scheint § 223 Abs. 2 StPO aber zunächst ausschließlich oder jedenfalls maßgeblich auf die Entfernung zwischen Wohnort des Zeugen und Sitz des Gerichts abzustellen. Dies anzunehmen, wäre indes ein Trugschluss. Dass es in der heutigen Zeit darauf kaum noch ankommen kann, versteht sich angesichts moderner Transportmittel und Verkehrswege von selbst. Bereits die Motive geben zu erkennen, dass „eine große Entfernung des Aufenthaltsortes eines Zeugen vom Sitz des Gerichts […] an sich, zumal bei dem gegenwärtigen Zustande der Verkehrsmittel, nicht als ein Hindernis seiner Ladung und unmittelbaren Vernehmung betrachtet werden“ kann.133 Vielmehr hat sich der Richter bei der Anwendung von § 223 Abs. 2 StPO auf tatsächliche Erwägungen verschiedenster Art zu stützen.134 Im Anschluss daran hat sich in Rechtsprechung und Schrifttum ein weitgehend gebilligter Kanon von Gesichtspunkten herausgebildet, der in dieser Hinsicht von Interesse sein soll. Auf Seiten der Beweisperson werden dabei die Entfernung zwischen Gerichtssitz und Wohnort sowie deren persönliche Verhältnisse unter Einschluss der beruflichen Verpflichtungen und Belastungen genannt135, ohne dass sie für sich den Ausschlag geben würden. Vielmehr betont bereits das Reichsgericht die Unerlässlichkeit einer jedesmaligen Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles, an deren Ende eine Gesamtabwägung bzw. -würdigung der in Betracht kommenden Interessen steht136. Dabei stellt sich die Frage, welche Aspekte gegen die Interessen der Aussageperson in die Abwägung einzustellen sind. Es sind dies die Belange bzw. das Allgemeininteresse der Strafverfolgung.137 In dieser Hinsicht wird der Grad der Wichtigkeit oder (Beweis-)Bedeutung der Aussage als Maßstab angesehen.138 Je wichtiger der Aufklärungswert einer Aussage ist, desto weniger kommt es auf die Entfernung der Beweisperson vom Gerichtssitz an.139 Insofern erfolgt eine „Berücksichtigung der Bedeutung der Aussage“. In § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO hat dieser Aspekt eine positivrechtliche Normierung erfahren. Er gilt aber nicht minder für § 223 Abs. 2 StPO. Bereits ein Blick in die 133

Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 180. RGSt 44, 8, 9. 135 RGSt 44, 8, 9; BGH GA 1964, 275; Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 8; Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 11 mit Rdnr. 8; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 59. 136 RGSt 44, 8, 9. Vgl. ferner noch in diesem Sinne BGHSt 9, 230, 231; BGH GA 1964, 275; Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 11; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 59; Schulz, in: HK-GS, § 223 Rdnr. 2; Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 17. Dabei folgt das Erfordernis einer Abwägung bereits aus dem Gesetzeswortlaut selbst, weil sich bloß auf diese Weise klären lässt, welches Vorgehen dem Zeugen „zugemutet werden kann“. 137 Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 17. 138 RGSt 44, 8, 9; BGH NJW 1986, 1999, 2000; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 57. 139 BGH StV 1983, 444; BGH NJW 1986, 1999, 2000; OLG Köln VRS 70, 143; Alsberg/ Nüse/Meyer, S. 263; Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 11; Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 8. 134

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Kommentarliteratur zu § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO legt eine sachliche Identität beider Vorschriften nahe. Es wird nämlich die „Berücksichtigung der Bedeutung der Aussage“, obwohl im Gesetz verankert, nicht gesondert erwähnt und berücksichtigt. Vielmehr fließt der Aspekt in eine allgemeine Abwägung vielfältiger Umstände ein, wie sie bei § 223 Abs. 2 StPO ebenfalls vorgenommen wird.140 Insofern sind die Voraussetzungen beider Vorschriften sachlich identisch141, wofür systematische und historische Erwägungen sprechen. Es folgt zum einen aus dem engen Zusammenhang zwischen § 223 StPO einerseits und den Verlesungsvorschriften andererseits.142 Im Übrigen hat schon das Reichsgericht, noch bevor § 251 StPO um die „Berücksichtigung der Bedeutung der Aussage“ ergänzt wurde143, von der Wichtigkeit der Aussage als für § 223 Abs. 2 StPO bedeutsamen Umstand ge­ sprochen144. Eben diese ist gegen die geschilderten Belange der Beweisperson abzuwägen. 2. Kommissarische Vernehmung und gerichtliche Amtsaufklärungspflicht Ebenso wie sich die große Entfernung aber nicht mit Streckenmaßen abgrenzen lässt145, ist die Wichtigkeit der Aussage ein mehr oder minder unbestimmter (Rechts-)Begriff. Damit kommt unweigerlich die Frage auf, ob es insofern einen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum des jeweiligen Tatrichters gibt. Das Reichsgericht spricht vom richterlichen Ermessen, unter dessen Vorbehalt die Anwendung der Vorschrift steht, und davon, dass die Beurteilung der tatsächlichen Voraussetzungen einer kommissarischen Vernehmung dem Tatrichter obliegt.146 Fraglich ist aber, ob es sich dabei um ein freies Ermessen handelt oder ob es vielmehr pflichtgemäß wahrzunehmen ist. 140 Aus diesem Grund wird sich im vorliegenden Zusammenhang auf die Darstellung von § 223 Abs. 2 StPO beschränkt. Vgl. zum identischen Inhalt der Abwägung bei § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO etwa Sander/Cirener, in: LR, § 251 Rdnr. 66; Schlüchter, in: SK-StPO, § 251 Rdnr. 18. 141 Pfeiffer, § 223 Rdnr. 2; Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 3. 142 Vgl. bei und in Anm. 132 (S. 88). Damit wird die Verlesung selbstverständlich noch nicht durch die Anordnung der kommissarischen Zeugenvernehmung präjudiziert. Darüber befindet vielmehr das Prozessgericht im Moment der Verlesung, s. dazu bloß Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 1; Joecks, § 223 Rdnr. 1; Pfeiffer, § 223 Rdnr. 1; Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 2 mit Rdnr. 42. 143 Die Änderung erfolgte durch das „Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts“ vom 12.9.1950 (BGBl. I. S. 455 ff., 656). 144 RGSt 44, 8, 9. 145 Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 8. 146 RGSt 44, 8, 9. Die eher semantische Frage, ob man von Ermessens- oder Beurteilungsspielraum sprechen sollte, bleibt im Folgenden ausgespart. Die Grenze ist ohnehin fließend. Hinsichtlich der auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe handelt es sich um einen Beurteilungsspielraum, wohingegen im Anschluss an die Beurteilung und Annahme der gesetzlichen Merkmale das Ermessen („kann“ in § 223 StPO) zum Tragen kommt.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Teilweise behandelt man es als Frage eines reinen tatrichterlichen Ermessens und eröffnet dem Gericht insofern einen Beurteilungsspielraum.147 Andere sehen es als eine Frage des pflichtgemäßen Ermessens an, das revisionsrechtlich bloß eingeschränkt überprüfbar ist.148 In die gleiche Richtung weist es, wenn man § 223 StPO von der Beachtung der Aufklärungspflicht abhängig macht und insofern die zu § 244 Abs. 2 StPO entwickelten Maßstäbe für entsprechend anwendbar erklärt.149 Die Rechtsprechung teilt diese Auffassung. Bereits das Reichsgericht betont im Zusammenhang mit der Verlesung von Niederschriften über eine kommissarische Zeugenvernehmung, dass das Tatgericht auf Grund „seiner Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit […] in jedem Falle zu prüfen [hat], ob die Verlesung des Protokolls über eine Vernehmung durch den ersuchten Richter genügenden Ersatz für die persönliche Anhörung des Zeugen bildet“ und sein diesbezügliches Ermessen „nicht ein völlig freies, sondern durch pflichtgemäße Würdigung der Bedürfnisse des Einzelfalls gebunden“ ist.150 Ebenso sieht es der BGH, wonach bei der Abwägung „die in § 244 Abs. 2 StPO normierte Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung zu berücksichtigen“ ist.151 In dieser Hinsicht wird die Frage in Rechtsprechung und Schrifttum kontrovers diskutiert. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe dafür, das Ermessen in § 223 StPO („kann“) unter den Vorbehalt des § 244 Abs. 2 StPO zu stellen. Dafür streiten historische wie systematische Argumente. Bereits ein Blick in die Motive zur (Reichs-) Strafprozessordnung macht dies deutlich. Danach ist die „Anwendung dieser Ausnahmevorschrift dem verständigen Ermessen des Richters zu überlassen, von welchem vorausgesetzt werden muß, daß er sich überall des Werthes der mündlichen und unmittelbaren Vernehmung im Gegensatz zu der Verlesung einer zu Protokoll genommenen Aussage, bewußt sein werde“.152 Die Annahme eines freien Ermessens verträgt sich damit eher nicht.

147 Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 10. Vgl. ferner noch Schulz, in: HK-GS, § 223 Rdnr. 2 a. E.: „Einräumung eines Ermessensspielraums“. 148 Julius, in: HK, § 223 Rdnr. 7; Deiters, in: SK-StPO, § 223 Rdnr. 11. 149 Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 40 mit Rdnr. 62. Bei näherer Betrachtung ist es aber nicht § 244 Abs. 2 StPO, sondern vielmehr, ohne dass daraus Unterschiede resultieren würden, § 155 Abs. 2 StPO, dessen Maßstäbe gelten, und zwar nicht entsprechend, sondern unmittelbar. § 155 Abs. 2 StPO statuiert eine umfassende Aufklärungspflicht des Gerichts nach Erhebung der Anklage. Von daher liegt es an sich nahe darauf zu rekurrieren. Stattdessen wird die Vorschrift übersehen (vgl. etwa Meyer-Goßner, NJW 1970, 415) und vielmehr eine analoge Anwendung von § 244 Abs. 2 StPO in sämtlichen Stadien des Strafverfahrens propagiert (s. dazu bloß Krüger, NJ 2004, 295, 298 Fn. 22), obwohl es wegen § 155 Abs. 2 StPO an einer Regelungslücke als unabdingbare Voraussetzung für eine Analogie fehlt. Vgl. zur gericht­ lichen Amtsaufklärungspflicht und den diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften noch später im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 1. c) aa) (2). 150 RGSt 51, 20. 151 BGHSt 22, 118, 120; 32, 68, 73. Vgl. ferner noch BGH bei Holtz, MDR 1979, 989, 990; NStZ, 1981, 271; StV 1992, 548: „pflichtgemäßes Ermessen“. 152 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 180.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Des Weiteren spricht ein (Seiten-)Blick auf die Verlesungsvorschriften dagegen. Bei der (Parallel-)Vorschrift des § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO geht man unisono davon aus.153 Weil die Norm wiederum in engem Bezug zu § 223 Abs. 2 StPO steht154, geht es nicht an, diese Frage insofern anders behandeln zu wollen. Vor diesem Hintergrund dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass die Anwendung von § 223 Abs. 2 StPO nicht in das freie Ermessen des Gerichts gestellt sein kann, sondern vielmehr § 244 Abs. 2 StPO unterliegt. Dabei werden wiederum zwei Aspekte immer wieder genannt, die bei der Wahrnehmung des pflichtgemäßen Ermessens besonderes Augenmerk verdienen. a) Aspekt der Glaubwürdigkeit Aus der Amtsaufklärungspflicht wird geschlussfolgert, dass der (Haupt-)Belastungszeuge in der Regel erscheinen muss und nicht kommissarisch vernommen werden darf. Dies wird damit begründet, dass sich das (verurteilende) Gericht in solchen Fällen selbst von der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage überzeugen muss.155 Es kommt in solchen Konstellationen nämlich maßgeblich auf die Glaubwürdigkeit der Aussageperson an, weshalb sich das Tatgericht im Interesse einer erschöpfenden Sachaufklärung nach Möglichkeit einen persönlichen Eindruck von dieser Person verschaffen muss.156 In dieser Hinsicht zeigen sich deutliche Berührungspunkte mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz. Wie geschildert, wird sein Sinn und Zweck insbesondere darin gesehen, eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen zu ermöglichen.157 Von daher verwundert es nicht, dass eine Ausnahme davon mit derselben Begründung restriktiv gehandhabt wird.

153 s. hierfür bloß Velten, in: SK-StPO, § 251 Rdnr. 37 m. w. N. in Fn. 148: Berücksichtigung der Aufklärungspflicht. 154 Vgl. dazu bei und in Anm. 132 (S. 88). 155 BGH bei Holtz, MDR 1979, 989, 990; OLG Düsseldorf NJW 1991, 2781, 2782. Interessant ist die Betonung auf den „Belastungszeugen“. Dass er regelmäßig selbst gehört werden muss, lässt sich sicher mit der Schutzfunktion des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zugunsten des Angeklagten erklären, vgl. hierzu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. Der Umkehrschluss, dass (frühere) Aussagen von Entlastungszeugen vor Gericht entbehrlich sind, sondern vielmehr verlesen werden können, kann daraus allerdings nicht gezogen werden. Insofern gebietet sie – je nach Lage des Einzelfalls – die Ermittlung der Wahrheit als (weiterer) Sinn und Zweck der Unmittelbarkeitsmaxime, s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 156 OLG München StV 2006, 464. Vgl. zur „Wichtigkeit des persönlichen Eindrucks“ der Aussageperson als Glaubwürdigkeitsaspekt im Zusammenhang mit § 223 StPO ferner noch BGH NStZ 1981, 271; StV 1989, 468; StV 1993, 232. 157 s. im 1. Teil, 3. Kapitel unter II.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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b) Aspekt der Schwere der Straftat Noch ein anderer für die Abwägung bedeutsamer Umstand eher allgemeiner Natur soll im Rahmen der von § 244 Abs. 2 StPO geleiteten Anwendung des § 223 Abs. 2 StPO von Relevanz sein. Unisono werden in dieser Hinsicht – sachlich ohne Unterschied – Wesen, Bedeutung oder Erheblichkeit der (Straf-)Sache genannt.158 Keinesfalls spielt dieser Aspekt erst in der neueren Zeit eine Rolle. Schon das Reichsgericht hat Wesen und Bedeutung der Strafsache in die Abwägung einfließen lassen.159 Dabei belässt man es bei dieser eher allgemeinen Floskel. In den Motiven ist zunächst ebenfalls sehr allgemein die Rede davon, dass „die dem Zeugen zugemutete Mühe einer großen Reise und der hierdurch erwachsene Kostenaufwand nicht in einem Mißverhältnisse zu dem Gegenstande der Untersuchung stehen“ sollte.160 Dahinter verbirgt sich mit anderen Worten, ob es um die Aufklärung eines – in die Zuständigkeit des damaligen Geschworenengerichts fallenden161 – Kapitalverbrechens oder um eher kleinere und mittlere Kriminalität geht. Weiter heißt es in der Begründung noch, dass sich bei einem schweren Verbrechen und dessen Untersuchung die Ladung eines vom Gericht weit entfernt wohnenden Zeugen nicht beanstanden lässt, wohingegen dasselbe Prozedere bei einer bloßen Polizeiübertretung in der Regel unangemessen, wenngleich nicht schlechthin ausgeschlossen wäre.162 158 Gmel, in: KK, § 223 Rdnr. 11; Schulz, in: HK-GS, § 223 Rdnr. 2; Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 8; Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 19: „Strafsachen von einigem Gewicht“. BGHSt 9, 230, 232 spricht sachlich ohne Unterschied von „der Schwere des gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurfs“, der im konkreten Fall gegen § 223 Abs. 2 StPO sprach. Ähnlich noch Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 57: „Gewicht des aufzuklärenden strafrechtlichen Vorwurfs“. 159 RGSt 44, 8, 9. 160 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 179. Vgl. hierzu bereits Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 18. 161 Insofern überrascht freilich etwas die Regelung in § 250 Abs. 2 RStPO, wonach die Verlesung des Protokolls über eine kommissarische Vernehmung statthaft war, „wenn sie in dem Vorverfahren unter Beobachtung der Vorschriften des § 191 erfolgt ist“. Durch Bezugnahme auf § 191 RStPO wird deutlich, dass es sich bei dem Vorverfahren um die gerichtliche Voruntersuchung handelt. Diese war in Geschworenensachen obligatorisch (§ 176 Abs. 1 RStPO). Vor dem Geschworenengericht wiederum wurden aber Kapitalverbrechen oder, um im Duktus der Motive zu § 222 Abs. 2 RStPO zu bleiben, „schwere Verbrechen“ verhandelt (Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO Abt. 1, S. 180). An anderer Stelle sprechen sie noch davon, dass es sich in der Voruntersuchung regelmäßig um wichtigere und verwickeltere Fälle handeln dürfte und es sich deshalb häufiger empfehlen würde, auf die Möglichkeit einer kommissarischen Zeugenvernehmung zu verzichten und stattdessen das persönliche Erscheinen der Aussageperson in der Hauptverhandlung zu verlangen (Abg. Struckmann bei Hahn/ Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO Abt. 1, S. 1387). Von daher wirkt die Regelung in § 250 Abs. 2 RStPO nicht frei von Widersprüchen. Sie soll einerseits die Verlesung ermöglichen, obwohl der in § 250 Abs. 2 RStPO in Bezug genommene § 222 Abs. 2 RStPO bei schweren Straftaten andererseits eher nicht zur Anwendung kommen soll. 162 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 180. An die Stelle der strafbaren Polizeiübertretungen sind die Ordnungswidrigkeiten getreten. Vgl. ferner noch den Redebeitrag des Abg. Becker während der ersten Lesung in der Reichsjustizkommission bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 825: „Wichtigkeit der Sache“.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

In dieser Hinsicht erfährt der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz seit jeher Ausnahmen in Abhängigkeit vom materiellen Strafrecht, nämlich von der Schwere des jeweils angeklagten Delikts. 3. Kommissarische Vernehmung gemäß § 223 Abs. 1 StPO Dabei ist dies keinesfalls auf § 223 Abs. 2 StPO beschränkt. Bei der Frage, wie die „längere oder ungewisse Zeit“ in § 223 Abs. 1 StPO näher bestimmt werden könnte, verfährt man vielmehr ebenso. Einen solchen Bezug stellt etwa das OLG München her, wenn es von den „der Urteilsfindung zugrunde liegenden schwerwiegenden Tatvorwürfen“ spricht.163 Dies ist ein Aspekt der – ebenfalls unter dem Diktat der Aufklärungspflicht stehenden164 – Abwägung zwischen der Bedeutung oder Relevanz der Sache und der Wichtigkeit der Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung einerseits und dem Interesse an einer reibungslosen und beschleunigten Durchführung des Verfahrens andererseits.165 Auf diese Weise wird die Vorschrift zum einen unter den Vorbehalt des § 244 Abs. 2 StPO gestellt und zum anderen die Bedeutung der Strafsache zum (mit-)entscheidenden Faktor für die Bestimmung der Länge der Zeit. 4. Fazit Als Fazit zur kommissarischen Vernehmung gemäß § 223 StPO lässt sich festhalten, dass seine Voraussetzungen eng und restriktiv zu handhaben sind.166 Dies wird zum einen dadurch sichergestellt, dass die Vorschrift unter dem Vorbehalt von § 244 Abs. 2 StPO steht. Zugleich kann nicht verhehlt werden, dass das materielle Strafrecht dabei eine entscheidende Rolle spielt, sodass sich in dieser Hinsicht Inter­dependenzen zwischen materiell-sachlichem Strafrecht und strafprozessualem Unmittelbarkeitsgrundsatz, respektive seinen Ausnahmen, zeigen.

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OLG München StV 2006, 464, 465. Vgl. hierzu soeben unter 2. b) sowie OLG München StV 2006, 464 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. RGSt 52, 86 und BGH bei Herlan, MDR 1955, 529 stehen dem nicht entgegen. Sie sprechen zwar vom „tatrichterlichen Ermessen“, zugleich aber nicht minder von der „Pflicht zur erschöpfenden Prüfung der Sachlage“. 165 BGHSt 22, 118, 120; 32, 68, 72 f.; BGH NStZ-RR 1997, 268; BayObLG StV 1982, 412; OLG München StV 2006, 464; Diemer, in: KK, § 251 Rdnr. 24; Alsberg/Nüse/Meyer, S. 270; Keller, in: AK-StPO, § 223 Rdnr. 8; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 62. Vgl. zum ähnlichen Problem in § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, wie zeitlich bestimmt wird, bis wann ein Zeuge „in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann“, sogleich unter III. 2. 166 Julius, in: HK, § 223 Rdnr. 2; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 5. 164

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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III. Verlesung von Protokollen früherer Vernehmungen (§ 251 StPO) Die kommissarische Vernehmung steht in engem Zusammenhang mit den Ver­ lesungsvorschriften der §§ 251 ff. StPO. Insbesondere § 251 StPO enthält zahlreiche Ausnahmen von § 250 StPO. Ob sie sich de lege ferenda auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen lassen, lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Sie sollen, um Worte von Schneidewin aufzugreifen, „ein besonders heikles und schwieriges, wenig geglücktes Stück des im allgemeinen rühmenswerten Gesetzes“ sowie „unübersichtlich gestaltet“ sein. Es sei eine „mißliche und manchmal fast erschreckende Aufgabe“ bzw. eine „starke Zumutung, […] sich durch dieses Gestrüpp hindurchzuwinden“.167 Freilich muss das Dickicht dieser Vorschriften im Folgenden nicht vollends gelichtet werden. Viemehr sollen die Worte von Geppert beherzigt und der Mut aufgebracht werden, bereits Geschriebenes als bekannt vorauszusetzen.168 Dies kann freilich nicht (völlig) für technische Neuerungen gelten. 1. Videovernehmung, insbesondere § 255a StPO In der Kontroverse um neue Technologien und deren Vereinbarkeit mit dem (straf-)prozessualem Grundsatz der Unmittelbarkeit stand zunächst die Tonbandaufnahme im Mittelpunkt des Interesses.169 Inzwischen wurde sie, und darauf soll sich im Folgenden konzentriert werden170, von der Videovernehmung abgelöst. Dabei hatte sich die Diskussion zunächst auf die Ebene de lege ferenda konzentriert.171 Nachdem entsprechende gesetzliche Regelungen eingeführt wurden172, 167

Schneidewin, JR 1951, 481. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 122. Dies gilt insbesondere für die Entstehungsgeschichte der Vorschriften, auf die bloß im Zusammenhang mit konkreten Fragen eingegangen wird. Vgl. hierzu im Übrigen die gründliche Darstellung bei Geppert, a. a. O., S.  100 ff. 169 Vgl. dazu etwa Roggemann, Tonband im Verfahrensrecht, S. 55 ff. 170 In dieser Hinsicht sei bloß eine Bemerkung gestattet: Es bedürfte einer näheren Analyse, ob sich die Verwendung von Tonbandaufnahmen analog §§ 251 ff. StPO nicht des – inzwischen vielleicht berechtigten – Einwands ausgesetzt sehen muss, dass der Gesetzgeber durch § 255a StPO eine (möglicherweise abschließende) Regelung über die Verwendung moderner (Vernehmungs-)Techniken und neuer Medien geschaffen hat, sodass es an einer planwidrigen Regelungslücke als erste Voraussetzung einer Analogie fehlt. Dies bedürfte freilich weitergehender Betrachtungen. 171 Mildenberger, Schutz kindlicher Zeugen im Strafverfahren durch audiovisuelle Medien, S.  233 ff.; Zacharias, Der gefährdete Zeuge im Strafverfahren, S. 254 ff.; Maier, Audiovisuelle Vernehmung kindlicher Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Strafverfahren, S. 185 ff.; Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 226 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 205 ff.; Meurer, JuS 1999, 937 ff.; Beulke, ZStW 113 (2001), 709, 732 ff. 172 Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes (Zeugenschutzgesetz) vom 30. April 1998 (BGBl. I S. 820). 168

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

sah sich alsbald darauf die höchstrichterliche Rechtsprechung mit der Regelung zur sog. Simultanvideovernehmung gemäß § 247a StPO konfrontiert. Dabei äußerte sich der BGH expressis verbis zu deren Verhältnis zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip173: „Bei der Entscheidung, ob das Gericht von der Möglichkeit des § 247a StPO Gebrauch machen will oder nicht, ist insbesondere die durch das technische Medium und die fehlende körperliche Anwesenheit eingeschränkte Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 250 StPO) zu beachten.“ Noch augenfälliger ist der Bezug zum Unmittelbarkeitsgebot freilich – schon wegen der systematischen Stellung im Gesetz – bei § 255a StPO. Es handelt sich dabei um eine Ausnahme von § 250 StPO und damit um eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.174 Im Falle von § 255a Abs. 1 StPO zeigt es sich schlicht daran, dass er auf die vorherigen Vorschriften verweist, sodass die Probleme de lege lata insofern vergleichbar sind. Vor (wirklich) neue Fragen sah man sich dagegen bei § 255a Abs. 2 StPO gestellt. Es existiert in dieser Hinsicht ein Streit über den zugrunde liegenden Zeugenbegriff. Während überwiegend sämtliche der Altersvoraussetzung entspre-

173 BGHSt 45, 188, 196. Dass § 247a StPO den Erfordernissen formeller und materieller Unmittelbarkeit genügt, wurde bereits hinreichend dargetan und soll an dieser Stelle, um unnötige Redundanzen zu vermeiden, nicht erneut hinterfragt werden, vgl. dazu bloß Rieck, Substitut oder Komplement?, S. 133 ff., 145 ff.; Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung von Auslands­ zeugen, S. 18 ff., 36 sowie Maaß, Schutz besonders sensibler Zeugen durch den Einsatz von Videotechnik, S. 191 ff. – jeweils m. w. N. Ebenfalls unerörtert bleibt § 58b StPO, der durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 30. April 2013 eingeführt wurde (BGBl. I S. 935), und zwar auf Betreiben des Bundesrats (BT-Drs. 17/1224). Er regelt die Simultanvideovernehmung eines Zeugen „außerhalb der Hauptverhandlung“ und damit – in Abgrenzung zu § 247a StPO – die Videovernehmung im Ermittlungsverfahren. Von daher ist er für ein Hauptverhandlungsprinzip der Unmittelbarkeit per se irrelevant. 174 Diemer, in: KK, § 255a Rdnr. 1; ders., NJW 1999, 1667, 1673. Der Gesetzgeber sieht es ebenso im Ende Juni 2013 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG – BGBl. I S. 1805). Dadurch wurde der mit § 255a StPO korrespondierende § 58a StPO erweitert und insgesamt eine (stärkere) Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes angestrebt. Sie wird durch die Schutzbedürftigkeit der Zeugen legitimiert, wohingegen Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie und der Prozessbeschleunigung dahinter zurückzustehen haben (BT-Drs. 17/6261 S. 10 mit S. 12). Es ist nicht sicher auszuschließen, dass der Gesetzgeber aufgrund europäischer Direktiven bald wieder aktiv werden muss. Die Richtline 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L vom 14.11.2012, S. 57) verlangt jedenfalls in Erwägungsgrund 53, dass „Vernehmungen auf Video aufgezeichnet werden und die Verwendung dieser Aufzeichnungen im Gerichtsverfahren zugelassen wird“ und konkretisiert dies in Art. 24 Abs. 1 lit. a) dahingehend, dass „sämtliche Vernehmungen des Opfers im Kindesalter in strafrechtlichen Ermittlungen audiovisuell aufgezeichnet werden können und die Aufzeichnung als Beweismittel in Strafverfahren verwendet werden kann“. §§ 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 255a Abs. 2 StPO wären daraufhin zu überprüfen. Die Videosimultanvernehmung gemäß § 247a StPO ist wiederum in Art. 23 Abs. 3 lit. a) angesprochen.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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chende Zeugen darunter gefasst werden175, will man die Vorschrift teilweise restriktiver handhaben. Unter Berufung darauf, dass sich die Überlegungen im Gesetzgebungsverfahren auf Opferschutzaspekte konzentriert haben (sollen), will man § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO überhaupt bloß auf Opfer oder in vergleichbarer Weise gefährdete Zeugen beziehen.176 Dabei äußert man sich vereinzelt relativ strikt, wenn man die Vorschrift von vornherein auf solche Fälle beschränkt wissen will.177 Anderenorts macht man die Frage bloß zu einem Umstand im Rahmen des von der Vorschrift eingeräumten Ermessens („kann“)178, ohne die Norm darauf zu reduzieren, sodass nicht wirklich ein Unterschied zur h. M. besteht. Die besseren Argumente in dieser Kontroverse streiten für die vorherrschend vertretene Auffassung. Eine generelle Beschränkung von § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Videovernehmung des kindlichen bzw. jugendlichen Opfers ist weder mit seinem Wortlaut noch mit seiner Entstehungsgeschichte und seinem weiteren gesetzlichen Werdegang vereinbar. § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO spricht schlicht vom „Zeugen“. Wenn das Gesetz das „Opfer“ im Fokus hat, gebraucht es den Begriff 175 Meyer-Goßner, § 255a Rdnr. 8; Julius, in: HK, § 255a Rdnr. 9; Schork, in: HK-GS, § 255a Rdnr. 5; Seitz, JR 1998, 309, 313. 176 Maaß, Schutz besonders sensibler Zeugen durch den Einsatz von Videotechnik, S. 125. 177 Diemer, in: KK, § 255a Rdnr. 7; ders., NJW 1999, 1667, 1674 f. 178 Mosbacher, in: LR, § 255a Rdnr. 8 mit Fn. 33. Vgl. ferner Meyer-Goßner, § 255a Rdnr. 9 (Hervorhebung nicht im Original): „Mit Blick auf die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes werden die gegen eine Vorführung sprechenden Rechtsgrundsätze besonders zu gewichten sein, wenn der Zeuge nicht zu den Opfern der Straftat zählt bzw. durch sie nicht in vergleichbarer Weise betroffen ist.“ Dieser Umstand war schon immer im Rahmen des von § 255a Abs. 2 StPO eröffneten Ermessens zu berücksichtigen und ist nunmehr de lege lata in § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO niedergelegt, allerdings in einem eher deklaratorischen Sinne (­BT-Drs. 17/6261 S. 12). Ein echte Neuerung könnte dagegen mit dem Begründungserfordernis in § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO verbunden sein. Es kam erst auf Intervention des Rechtsausschusses ins Gesetz und „dient der Transparenz und dem fairen Verfahren“ (BT-Drs. 17/12735 S. 22). Damit kommt die Frage auf, in welcher Form die Entscheidung zur Videovernehmung ergeht, ob als Gerichtsbeschluss oder lediglich als Verfügung des Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung gemäß § 238 Abs. 1 StPO. Die besseren Gründe sprechen für ein Beschlusserfordernis (vgl. zur Rechtslage vor dem StORMG insbesondere BGH StV 2012, 451 mit Anm. Krüger/Wengenroth). Der Rechtsausschuss will durch die Regelung expressis verbis einen Gleichlauf von § 255a Abs. 2 mit § 255a Abs. 1 StPO herstellen (BT-Drs. 17/12735 S. 22). Dass ein Gerichtsbeschluss zur Videovernehmung nicht selbstständig anfechtbar wäre, versteht sich von selbst, vgl. § 336 StPO. Der einzige Umstand, der seit der Reform des § 255a Abs. 2 StPO gegen ein Beschlusserfordernis spricht, ist der – vielleicht auf einem gesetzgeberischen Lapsus beruhende – sprachliche Gesichtspunkt, dass § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO gerade nicht von einem „Beschluss“ spricht, sondern von der „Entscheidung“ des Gerichts. Zum einen gehören zu den „Entscheidungen“ des Gerichts aber unzweifelhaft seine Beschlüsse. Zum anderen spricht § 34 StPO dafür, dass die Entscheidung nach § 255a StPO insgesamt als Beschluss ergehen muss. Einer Begründung bedürfen nämlich bloße prozessleitende Verfügungen nach § 238 Abs. 1 StPO nicht (Maul, in: KK, § 34 Rdnr. 3 m. w. N.), weil sie schließlich dem Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO unterliegen. Von daher muss die Anordnung der Videovernehmung gemäß § 255a Abs. 2 StPO durch Gerichtsbeschluss erfolgen, vgl. zum Ganzen bereits Krüger/Wengenroth, StV 2012, 452 ff.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

des „Verletzten“, wie etwa in §§ 172, 374 ff., 395 ff., 403 ff. StPO. Das Zeugenschutzgesetz sieht diese Unterscheidung in dem durch dieses Gesetz eingefügten § 58a StPO ebenfalls vor und orientiert sich von daher selbst daran. Dass der Gesetzgeber insofern die sonst gemachte terminologische Differenzierung zwischen Zeugen einerseits und Verletzten andererseits bei § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO nicht mehr vor Augen gehabt haben soll, als er darin – in einem umfassenderen und Opfer einschließenden Sinne – vom „Zeugen“ sprach, lässt sich zwar behaupten, aber nicht wirklich tragfähig begründen. Dies sieht sich durch (spätere) Reformen von § 255a Abs. 2 StPO bestätigt. Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren (2. Opferrechtsreformgesetz) wurde in §§ 58a, 255a Abs. 2 StPO die Schutzaltersgrenze von 16 auf 18 Jahre heraufgesetzt.179 Wenn man einen Blick in die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien wirft, wird deutlich, dass der ursprüngliche gesetzgeberische Wille, wenn er sich wirklich auf Opferzeugen konzentriert haben sollte, inzwischen jedenfalls obsolet geworden wäre. Vielmehr äußert sich der Gesetzgeber nunmehr im Sinne der vorherrschend vertretenen Ansicht. Dabei ist der gegenteiligen Auffassung zunächst durchaus zuzugestehen, dass in der Begründung zum Gesetz(entwurf) manchmal die Rede von der „Schutz­ altersgrenze für kindliche und jugendliche Opferzeugen“, von „Vernehmungen kind­licher Opferzeugen“ bzw. vom „Interesse der jugendlichen Opferzeugen“ die Rede ist.180 Solche Passagen könnte die Mindermeinung in Anspruch nehmen, wonach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Videovernehmung des Opfers beschränkt sein soll. Andererseits nennt der Entwurf nicht bloß in seiner Gesetzesüberschrift181, sondern darüber hinaus mehrfach in seiner Begründung (jugendliche) Opfer und Zeugen in einem Atemzug, ohne dass freilich immer hinreichend klar wird, ob er die Begriffe synonym verstanden wissen will. In den Motiven zum 2. Opferrechtsreformgesetz finden sich daneben aber Passagen, die einen unzweifelhaften Schluss im Sinne der h. M. zulassen. Danach gibt es „eine Reihe von Vorschriften zum Schutz kindlicher und jugendlicher Zeugen, die oft zugleich Opfer einer Straftat sind“182, ohne es zwangsläufig sein zu müssen, will man unwillkürlich ergänzen. Noch deutlicher werden die Materialien zum Gesetz(entwurf), wenn als sein Ziel ausgegeben wird, „die Rechte von Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Straftaten geworden sind oder als Zeugen in einem Strafverfahren aussagen müssen, weiter zu stärken“.183 Von daher ist der

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BGBl. 2009, Teil I, S. 2280. BR-Drs. 178/09, S. 17, 66, 67 (Hervorhebungen nicht im Original). 181 Der Titel des Gesetzes wie seine Kurzform („2. Opferrechtsreformgesetz“) helfen in diesem Zusammenhang aus denselben Gründen, wie soeben oben im Text bezüglich seines Vorgängers bereits diskutiert, nicht weiter. 182 BR-Drs. 178/09, S. 72 (Hervorhebung nicht im Original). 183 Ebd., S. 2 (Hervorhebung nicht im Original). 180

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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gesetzgeberische Wille aufgrund dieser alternativen Formulierung dahingehend zu verstehen, dass sich § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO nicht auf die Videovernehmung des Opfers beschränkt, sondern sich im Sinne der h. M. auf jeden Zeugen unterhalb der Schutzaltersgrenze erstreckt. Besonders deutlich äußert sich der Gesetzgeber im Sinne der h. M. schließlich in der Begründung vom Ende Juni 2013 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG).184 Darin heißt es mit Blick auf – die bereits bis zu diesem Zeitpunkt geltende Fassung von – § 255a Abs. 2 StPO, dass „es sich bei dem Zeugen nicht notwendigerweise um einen Verletzten der Straftaten handeln [muss], die Gegenstand des Verfahrens sind“.185 Damit ist der Wille des Gesetzgebers sehr deutlich dahingehend zu verstehen, dass sich § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO nicht auf die frühere Videovernehmung von Opfer­ zeugen reduzieren lässt. Schlussendlich ist noch einmal der Blick auf den Wortlaut der Norm selbst zu richten. Dabei sind es wiederum zwei Aspekte, die dafür streiten, dass § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO keinesfalls auf Opferzeugen beschränkt ist. Der erste Umstand knüpft an den soeben dargestellten gesetzgeberischen Willen an, der seit der Reform der Vorschrift durch das sog. StORMG sehr deutlich in deren Wortlaut anklingt. Eine Beschränkung auf Opferzeugen bzw. Verletzte der Straftat erfolgt unzweifelhaft in § 255a Abs. 2 Satz 2 StPO, während seine anderen beiden Sätze demgegenüber in einem erweiternden Sinne den Oberbegriff des Zeugen ge­ brauchen. Ein weiterer (materiell-strafrechtlicher) Gesichtspunkt kommt hinzu: § 255a Abs. 2 StPO ist auf bestimmte Katalogtatbestände beschränkt, wodurch das materielle Strafrecht geradezu zwangsläufig in den Fokus des Interesses rückt, wenn es um die Anwendung der strafprozessualen Vorschrift geht. § 255a Abs. 2 StPO enthält dabei in seinem Katalog eine Straftat186, bei der von vornherein bloß noch Zeugen, nicht mehr aber das Opfer selbst vernommen werden kann. Im Klammerzusatz der „Straftaten gegen das Leben“ wird die fahrlässige Tötung gemäß § 222 StGB ebenfalls genannt.187 Bei einer solchen gibt es aber kein Opfer (mehr), das später noch als Zeuge vernommen werden könnte, weil der fahrlässige Versuch

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BGBl. I S. 1805. BT-Drs. 17/6261 S. 12. 186 Der sogleich oben im Text näher ausformulierte Gedanke klingt bereits bei Diemer, NJW 1999, 1667, 1675 an, wenn es heißt, dass die „Aufnahme der Tötungsdelikte in den Straftatenkatalog“ des § 255a Abs. 2 StPO zeigen soll, „dass Absatz 2 nicht nur auf die Vernehmung von Opferzeugen zugeschnitten ist, sondern auch die Fälle erfassen will, in denen das Kind Zeuge der Tötung […] geworden ist“. Dieser Gedanke trifft freilich noch nicht ganz den Kern, weil es jedenfalls beim versuchten Tötungdelikt am Kind dabei bleibt, dass es Opferzeuge ist. 187 Vgl. im selben Sinne bereits Swoboda, Videotechnik im Strafverfahren, S. 421 f. sowie Maaß, Schutz besonders sensibler Zeugen durch den Einsatz von Videotechnik, S. 124 m. w. N. in Fn. 477. 185

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

nicht unter Strafe steht.188 Wenn man § 255a Abs. 2 StPO in dieser Hinsicht einen Sinn geben und die Vorschrift nicht ad absurdum führen will, muss er dahingehend verstanden werden, dass er sämtliche Zeugen unter 18 Jahren erfasst, ohne dass dadurch Besonderheiten bei Opfern bzw. Verletzten der Katalogtaten – schon wegen § 255a Abs. 2 Satz 3 StPO189 – gänzlich in Abrede gestellt werden. Als Fazit der Ausführungen zur Videovernehmung lässt sich für § 255a Abs. 2 StPO festhalten, dass sich der Streit darüber, ob die Norm auf die Videovernehmung des kindlichen bzw. jugendlichen Opfers beschränkt ist oder vielmehr jedweden Zeugen unterhalb der Altersgrenze erfasst, befriedigend lösen lässt, wenn man das materielle Strafrecht in seine diesbezüglichen Überlegungen einbezieht. Bei § 255a Abs. 1 StPO stellen sich dagegen auf der Ebene de lege lata wegen seines Verweises auf die vorherigen Vorschriften und dabei insbesondere auf § 251 StPO nicht wirklich neue Probleme190, sodass sich im Folgenden auf diese Ver­ lesungsvorschrift beschränkt werden soll. 2. Verlesung gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO gestattet die Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle, „wenn der Zeuge, Sachverständige oder Mitbeschuldigte verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann“. Die sachliche Nähe zwischen der „längeren oder ungewissen“ Zeit in §§ 223 Abs. 1, 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO und der „absehbaren Zeit“ in § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO dürfte mehr als augenfällig sein.191 Es handelt sich eher um semantische und weniger um inhaltliche Differenzen. 188 Die Straflosigkeit des fahrlässigen Versuchs schlussfolgert man zumeist daraus, dass es bei einem solchen den für einen Versuch gemäß § 22 StGB erforderlichen Tatentschluss nicht geben soll (vgl. hierzu sowie überhaupt zum diesbezüglichen Meinungs- und Streitstand bloß Jakobs, AT, 25/28 und Freund, AT, § 8 Rdnr. 2 ff. – jeweils m. w. N.). Dies mag allenfalls für die Fälle der unbewussten Fahrlässigkeit gelten. Im Bereich der bewussten Fahrlässigkeit macht man sich dagegen durchaus „Vorstellungen“, die man de lege lata unter § 22 StGB fassen könnte. Die Straflosigkeit des fahrlässigen Versuchs folgt vielmehr erst aus dem Zusammenspiel von § 15 und § 23 Abs. 1 StGB. Der fahrlässige Versuch müsste explizit unter Strafe gestellt sein. Solche Vorschriften gibt es nicht. Es gibt zwar durchaus Strafvorschriften, die Versuch wie Fahrlässigkeit unter Strafe stellen. Dies kumuliert aber nicht in einem fahrlässigen Versuch. Wenn der Versuch, wie in §§ 312 Abs. 2, 315 Abs. 2, 315a Abs. 2, 315b Abs. 2, 315 c Abs. 2 StGB unter Strafe gestellt ist, erfasst dies unter gesetzessystematischen Aspekten nicht die jeweils erst danach geregelte Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. 189 Vgl. dazu bereits in Anm. 178 (S. 97). 190 Ebenso bereits Beulke, ZStW 113 (2001), 709, 734 m. w. N. in Fn. 117. 191 Besonders deutlich in dieser Hinsicht Paulus, in: KMR, § 251 Rdnr. 45: „Dass jemand in absehbarer Zeit nicht vernommen werden kann, entspricht dem Merkmal ‚längere oder ungewisse Zeit‘.“ Vgl. ferner noch Neuhaus, StV 2005, 47, 51, wonach es schwer vorstellbar ist, dass § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO neben dem vorrangigen § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Von daher kann es nicht verwundern, dass der maßgebende Zeitraum nicht allgemein fest begrenzt werden kann192, sondern vielmehr im jeweiligen Einzelfall unter Würdigung und Abwägung sämtlicher Umstände zu ermitteln ist. Abzuwägen sind dabei verschiedenste Aspekte, wie die Belange des Angeklagten und die Erfordernisse der Sachaufklärung und der zügigen Erledigung des Verfahrens, die Wichtigkeit der Zeugenaussage für die Wahrheitsfindung und die mit einer Verzögerung verbundene Gefahr des Beweisverlusts anderer Beweismittel sowie Schwere und Bedeutung der Tat.193 Es handelt sich mithin um eben jene Gesichtspunkte, wie sie bei §§ 223 Abs. 1, 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO ebenfalls genannt werden194. Insbesondere wird mit der „Schwere und Bedeutung der Tat“ das materielle Strafrecht zu einem Bezugspunkt bei der Bestimmung der „absehbaren Zeit“. Diese Bestimmung steht wiederum nicht im freien Ermessen des Tatgerichts, sondern hat vielmehr „unter Berücksichtigung der Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO)“ zu erfolgen.195 Sie gebietet es, wie schon bei §§ 223 Abs. 2, 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO196, dass die Aussage des Belastungszeugen, zumal bei zweifelhafter Beweislage, regelmäßig unmittelbar vor dem Tatgericht zu erfolgen hat und nicht durch Verlesung von polizeilichen Vernehmungsniederschriften wegen angeblicher Unerreichbarkeit des Zeugen reproduziert werden darf.197 In dieser Hinsicht ist die Norm, wie überhaupt die Ausnahmevorschrift des § 251 StPO198, eng auszulegen. Die Betrachtung von § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO hat offenbar werden lassen, dass sich seine Anwendung zum einen von § 244 Abs. 2 StPO hat leiten zu lassen und 192 Alsberg/Nüse/Meyer, S. 270; Sander/Cirener, in: LR, § 251 Rdnr. 38; Diemer, in: KK, § 251 Rdnr. 13; D. Meyer, MDR 1977, 543, 544. 193 BGHSt 22, 118, 120; BGH NStZ 1993, 144, 145; KG StV 1983, 95; OLG München StV 2006, 464; D. Meyer, MDR 1977, 543, 544; ter Veen, StV 1985, 295, 297; Sander/ Cirener, in: LR, § 251 Rdnr. 38; Diemer, in: KK, § 251 Rdnr. 13; Dölling, in: AK-StPO, § 251 Rdnr. 35; Paulus, in: KMR, § 251 Rdnr. 45; Velten, in: SK-StPO, § 251 Rdnr. 36; Julius, in: HK, § 251 Rdnr. 10; Meyer-Goßner, § 251 Rdnr. 10. Nach Herdegen, NStZ 1984, 337, 338 soll die „Schwere des Anklagevorwurfs“ dagegen außen vor bleiben, weil nicht klar sei, welcher Maßstab dafür, ein abstrakter oder ein konkreter, ein normativer oder ein faktischer, zur Anwendung kommen soll. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass es in den Ausführungen von Herdegen nicht unmittelbar um § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO, sondern vielmehr um den Ablehnungsgrund der „Unerreichbarkeit des Beweismittels“ Zeugen ging. Wenngleich die Voraussetzungen ähnlich oder sogar identisch sein mögen, darf nicht verkannt werden, dass es sich bei § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO um einen enumerativen Katalog handelt. Diesen durch eine irgendwie geartete Abwägung zu öffnen, ist von daher soweit als möglich zu unterlassen, sodass Herdegen nicht zwangsläufig als Gegner der Berücksichtigung der Schwere der Tat bei § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO angeführt werden muss. 194 Vgl. dazu soeben unter II. 195 BGHSt 22, 118, 120; OLG München StV 2006, 464; Diemer, in: KK, § 251 Rdnr. 14; Dölling, in: AK-StPO, § 251 Rdnr. 35. Vgl. ferner noch BGH bei Dallinger, MDR 1974, 369; NStZ 1993, 144, 145: „pflichtgemäßes Ermessen“. 196 Vgl. bei und in Anm. 155 (S. 92). 197 BGH StV 1989, 467. 198 Julius, in: HK, § 251 Rdnr. 1 a. E.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

zum anderen am materiellen Strafrecht insofern zu orientieren hat, als dass von der Verlesung eher abzusehen ist, wenn der strafrechtliche Anklagevorwurf ein entsprechendes Gewicht aufweist. 3. Schriftstücke zu Vermögensschäden (§ 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO) Einen noch unmittelbareren Bezug zum sachlich-materiellen Strafrecht weist § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO auf. Die Vorschrift ermöglicht die Verlesung einer Niederschrift oder Urkunde, soweit sie „das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft“. Diese Möglichkeit wurde durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 geschaffen.199 Dabei knüpft es, worauf in den Materialien expressis verbis hingewiesen wird200, an frühere rechtspolitische Bestrebungen an, die noch ohne Erfolg geblieben sind201. Über den Grund für die Einführung der Vorschrift liest man in den entsprechenden Gesetzesmaterialien, dass sie „vor allem in Massensachen zur Verfahrensentlastung beitragen“ soll.202 Sie soll „etwa im Bereich der Wirtschaftskriminalität (300 Betrugsfälle nach immer demselben Schema) einer Entlastung und Beschleunigung der Hauptverhandlung sowie dem Schutz des Opfers vor zeitaufwendigen, aber entbehrlichen Mehrfachvernehmungen dienen“. Entbehrlich seien diese deshalb, weil der Geschädigte oft zum Tathergang und zur Person des Täters nichts beitragen, sondern lediglich dazu befragt werden kann, welcher Schaden eingetreten ist, wofür nicht in jedem Falle eine persönliche Vernehmung erforderlich ist.203 Insofern werden prozess­ ökonomische Gründe bemüht, um den Grundsatz der persönlichen Vernehmung gemäß § 250 StPO ausnahmsweise gesetzlich zu modifizieren.

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BGBl. I S. 2198. BT-Drs. 15/1508 S. 26. Weil auf diese Weise die frühere Begründung sozusagen in die Materialien zum 1. Justizmodernisierungsgesetz inkorporiert worden ist, wird darauf – jedenfalls in den Fußnoten – ebenfalls eingegangen. 201 BT-Drs. 13/4541 (Bundesratsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege – strafrechtlicher Bereich). 202 BT-Drs. 15/1508 S. 13. In BT-Drs. 13/4541 S. 1 mit S. 22 heißt es, dass die Vorschrift nicht auf Opferschutz, sondern ausschließlich auf „Entlastung und Beschleunigung“ und „Straffung des Prozeßablaufs“ im „Interesse der Effektivität der Strafjustiz“ abzielt. Gemeinhin verspricht man sich Beschleunigungen von Einschränkungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, vgl. etwa Kudlich, Gutachten C zum 68. DJT, C 24. Darauf wird weder an dieser Stelle noch im weiteren Verlauf eingegangen, weil sich vorliegend um systemimmanente Begründungen innerhalb des Unmittelbarkeitsprinzips bemüht wird. 203 BT-Drs. 15/1508 S. 26, wobei es zumindest merkwürdig anmutet, dass der Gesetz­geber zunächst von „300 Betrugsfälle nach immer demselben Schema“, kurz darauf aber von „PkwAufbrüchen, Sachbeschädigungen und Verkehrsstraftaten“ spricht. Jedenfalls zu den am Schluss genannten Verkehrsstraftaten wird der Geschädigte u. U. als Zeuge etwas zum Tathergang sagen können. Vgl. im Übrigen zur Frage, ob § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO auf bestimmte Delikte beschränkt ist, sogleich noch näher oben im Text. Vgl. ferner noch die gleich lautende Begründung in BT-Drs. 13/4541 S. 21 sowie Joecks, § 251 Rdnr. 8; Meyer-Goßner, § 251 Rdnr. 12. 200

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Von daher verwundert es nicht, dass sich Kritik – insbesondere von Strafverteidigerseite – an der Vorschrift artikuliert. Sie schränkt den Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit erheblich ein und beeinträchtigt dadurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten.204 Wenn man dies um der bloßen Prozessökonomie willen tut, wie es dem Gesetzgeber vorzuschweben scheint, liegt eine solche Kritik durchaus nahe. Sie wird aber deutlich abgeschwächt, wenn man die Vorschrift unter sachlichen Gesichtspunkten und damit systemkonform bzw. -immanent im Rahmen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und seiner Ausnahmen erklären und rechtfertigen kann. Dabei geht es, wie schon im Schrifttum betont205, um die Frage, „wie der neu eingeführte Begriff des Vermögensschadens im Prozessrecht zu verstehen ist“ und ob es sich dabei um eine „unklare Formulierung“ handelt. Einig ist man sich noch darin, dass immaterielle Schäden nicht darunter fallen und insofern „durch die Neuregelung der Grundsatz der persönlichen Vernehmung in § 250 StPO nicht modifiziert werden“ soll.206 Dies folgt schon aus dem Wortlaut der Norm, weil – in Anlehnung an § 253 BGB – der immaterielle Schaden gerade „nicht Vermögensschaden ist“. Dabei kann der Rekurs auf das Zivilrecht durchaus unternommen werden. Es folgt unmittelbar aus den Gesetzesmaterialien zum 1. Justizmodernisierungsgesetz, durch das § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO bekanntlich eingeführt worden ist. Insofern ist vom „Blick auf die Einheit der Rechtsordnung“ die Rede.207 Von daher ist nicht daran zu zweifeln, dass immaterielle Schäden im Sinne von § 253 BGB nicht über § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO in den Prozess eingeführt werden dürfen. Hiervon abgesehen herrscht Streit darüber, wie der Begriff des „Vermögensschadens“ im Übrigen zu verstehen ist. Die Motive verweisen insofern auf § 153a StPO.208 Dies vermag indes nicht zu überzeugen.209 Zunächst ist auf den unterschiedlichen Wortlaut beider Normen aufmerksam zu machen. Während § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO vom „Vermögensschaden“ spricht, ist in § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO lediglich vom „Schaden“ die Rede. Folgende Überlegung kommt hinzu: Bei § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO muss es sich um einen in Geld bezifferbaren Vermögensschaden handeln. Anderenfalls könnte man nämlich nicht seine „Höhe“ zum Gegenstand der Verlesung machen. § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO lässt als Leistung „zur Wiedergutmachung des durch die Tat verursachten Schadens“, wie 204

Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2935 (Hervorhebung nicht im Original). Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2935 f. 206 BT-Drs. 15/1508 S. 26; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2936; Schork, in: HK-GS, § 251 Rdnr. 6. Im Übrigen ist zu bemerken, dass Opfer einer Sexualstraftat sehr wohl etwas zum Tathergang und zur Person des Täters – und sei es beim maskierten Täter wenigstens zur Stimmlage – sagen können, woran es im Falle von § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO (sonst) fehlen soll. Insofern muten die Gesetzesmaterialien, wie schon Knauer/Wolf betonen, etwas überflüssig an. Vgl. ferner noch die gleich lautende Begründung in BT-Drs. 13/4541 S. 21 f. 207 BT-Drs. 15/1508 S. 13. 208 BT-Drs. 15/1508 S. 26 sowie BT-Drs. 13/4541 S. 21. 209 Ebenso bereits Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2936. 205

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

schon ein arg. e contrario zur anschließend im Gesetz genannten Auflage der Zahlung eines Geldbetrags zeigt, dagegen nicht bloß eine Geldleistung zu. Vielmehr ist Naturalrestitution – jedenfalls unter gewissen Voraussetzungen – ebenfalls denkbar.210 Insofern unterscheiden sich § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO einerseits und § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO andererseits in grundlegender Hinsicht. Demgegenüber ist augenscheinlich, dass der Begriff des „Vermögensschadens“ eine gewisse Nähe zum materiellen Strafrecht aufweist. Er ist „letztlich materiellrechtlich zu verstehen und dem Recht der Vermögensdelikte entlehnt“.211 Von daher ist der strafprozessuale Begriff des „Vermögensschadens“ nicht anders als im materiellen Strafrecht zu verstehen. Insbesondere in welcher „Höhe“ (vgl. § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO) ein Schaden entstanden ist, wird sich aber nicht immer ausschließlich durch das Verlesen einer Niederschrift oder Urkunde klären lassen, worauf im Schrifttum schon implizit hingewiesen worden ist212. Dies gilt insbesondere für die sog. schadensgleiche oder konkrete Vermögensgefährdung als tatbestandlicher Vermögensschaden oder -nachteil, wenngleich insofern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht unterschätzt werden darf. Es verlangt, dass „die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen müssen“.213 Dabei „sind auch Gefährdungsschäden von den Gerichten in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise festzustellen“, ggf. unter Mitwirkung von Sachverständigen aus der (Finanz-)Wirtschaft.214 Demgegenüber begegnet der Verzicht auf eine eigenständige Ermittlung des Nachteils, wozu angesichts der Schwierigkeiten der Beurteilung bei Kreditvergaben in der Regel die Konkretisierung des Schadens der Höhe nach anhand üblicher Maßstäbe des Wirtschaftslebens gehört, durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.215 Denn „nur eine nachvollziehbare Darlegung und Ermittlung des Schadens auch in seinem 210 s. hierzu näher Beulke, in: LR, § 153a Rdnr. 54; Schöch, in: AK-StPO, § 153a Rdnr. 27. Man könnte sich etwa vorstellen, dem (jugendlichen) Sprayer gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 JGG aufzuerlegen, sein Graffito zu beseitigen, um dadurch „nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen“ (vgl. hierzu bereits Krüger, Gegenwärtige Strafrechtslage zu Graffiti, S. 50, 62). 211 Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2936. 212 Neuhaus, StV 2005, 47, 52: „Je komplizierter sich der angeklagte und aufzuklärende Sachverhalt im Zuge der Beweisaufnahme in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht darstellt, um so weniger kommt die Anwendung des § 251 Abs. 1 Nr. 3 in Betracht.“ Weiter heißt es noch: „Geht es aber um Betrugs- und Untreuehandlungen, namentlich im wirtschaftlichen Bereich, so ist der Schadensnachweis im Wege der Verlesung entsprechender Urkunden gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 3 in der Regel ausgeschlossen …“ 213 BVerfGE 126, 170, 211 (zu § 266 StGB – Hervorhebung nicht im Original). Vgl. ferner noch BVerfG StraFo 2012, 27 (zu § 263 StGB). 214 BVerfGE 126, 170, 229 (Hervorhebung nicht im Original). 215 BVerfGE 126, 170, 228 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. zur Berechnung des Risikoschadens in solchen Fällen anhand einer mathematisch hoch komplizierten Formel etwa Nack, NJW 1980, 1599, 1600 f. sowie im Übrigen noch Knauer, NStZ 2002, 399, 402 – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Ausmaß kann verhindern, dass eine Bestrafung wegen (vollendeter) Untreue auch dann erfolgt, wenn Verlustwahrscheinlichkeiten so diffus sind oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss, wenn auch möglich bleibt“.216 Angesichts dieser grundsätzlichen Notwendigkeit der Bezifferbarkeit des Gefährdungsschadens ist selbst hinsichtlich der „Höhe“ eines solchen Vermögensschadens die Verlesung gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO nicht schlechterdings ausgeschlossen, sodass der (strafprozessuale) Begriff des „Ver­ mögensschadens“ in dieser Norm ohne jede Einschränkung aus den Vermögens­ delikten entnommen und damit materiell-rechtlich interpretiert werden kann. Dies wird nicht dadurch konterkariert, dass der Gesetzgeber die Anwendung der Vorschrift überhaupt nicht auf das Vermögensstrafrecht (im engeren Sinne) beschränkt wissen möchte. Es soll gerade nicht erforderlich sein, dass es um ein Vergehen geht, das sich (ausschließlich) gegen fremdes Vermögen richtet. In Fällen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) etwa kann die Beweisaufnahme über einen eingetreten Vermögensschaden ebenfalls erforderlich sein.217 Dies vermag – für das geschilderte Beispiel des § 142 StGB – aber weder in der Begründung noch in der Konsequenz zu überzeugen. Die Begründung suggeriert, dass es sich bei § 142 StGB nicht um ein Vermögens­ delikt handeln würde. In materiell-rechtlicher Hinsicht ist diese Annahme indes unzutreffend. Zwar war lange Zeit umstritten, ob § 142 StGB die Rechtspflege, das Interesse der Allgemeinheit an der Strafverfolgung und der lückenlosen Erfassung von Verkehrsunfällen, um die Verkehrssicherheit durch Bestrafung der Schuldigen und andere geeignete Präventivmaßnahmen zu heben, oder das individuelle Interesse der Unfallbeteiligten an der Abwehr staatlicher Strafverfolgungsmaßnahmen zum geschützten Rechtsgut haben soll.218 Diese Interessen mögen noch an einem mittelbaren Schutzreflex der Norm teilhaben. Der unmittelbare Schutzzweck des § 142 StGB besteht dagegen darin, „Feststellungen zur Klärung der durch einen Unfall entstandenen zivilrechtlichen Ansprüche zu sichern, d. h. die Durchsetzung berechtigter oder die Abwehr unberechtigter Ansprüche zu ermöglichen“.219 Eine solche Rechtsgutsbestimmung findet sich nicht bloß in den Gesetzesmaterialien,

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BVerfGE 126, 170, 229 (Hervorhebung nicht im Original). BT-Drs. 15/1508 S. 26. In BT-Drs. 13/4541 S. 22 findet sich unter Bezugnahme auf Rieß, in: LR, 24. Aufl., § 153 Rdnr. 48 noch die Ergänzung, dass bei § 142 StGB „keine gegen fremdes Vermögen gerichtete Straftat vorliegt“ (vgl. im selben Sinne Schork, in: HK-GS, § 251 Rdnr. 6). Dazu ist zunächst zu bemerken, dass § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO a. F. anders als die geltende Fassung bloß zur Anwendung kommen konnte, wenn es sich um ein Vergehen gehandelt hatte, „das gegen fremdes Vermögen gerichtet“ war. Sich im Übrigen seitens des Gesetzgebers auf Rieß zu berufen, greift insofern zu kurz, als dass Rieß selbst ausführt, dass die Anwendbarkeit des § 153 StPO a. F. auf die aufgezählten Delikte, darunter § 142 StGB, von der teilweise umstrittenen Frage abhängt, „was das geschützte Rechtsgut der jeweiligen Vorschriften ist“, womit er auf die sogleich oben im Text angesprochene Problematik bei § 142 StGB anspricht. 218 Nachw. hierzu bei Geppert, in: LK, § 142 Rdnr. 1. 219 BT-Drs. 7/2434 S. 4 f. 217

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

sondern ebenso in der (verfassungsgerichtlichen) Rechtsprechung.220 Im Schrifttum erblickt man das geschützte Rechtsgut gleichfalls im privaten Beweissicherungsinteresse der Unfallbeteiligten und Geschädigten an der Feststellung der Unfallursachen zwecks Klärung der zivilrechtlichen Verantwortlichkeiten221, wodurch § 142 StGB zu einem abstrakten Vermögensgefährdungsdelikt individualschützender Natur wird222. Von daher fällt er zwanglos und unmittelbar in den Anwendungsbereich von § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Aus einem anderen Grund kommt die Vorschrift aber möglicherweise dennoch nicht zum Zuge. § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO soll (entbehrliche) Mehrfachvernehmungen vermeiden helfen, weil der Geschädigte oft zum Tathergang oder zur Person des Täters nicht beitragen kann.223 Jedenfalls wenn es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr – und damit um „die Ursache des Schadens“224 – handelt, wird der Geschädigte, sofern er Unfallbeteiligter im Sinne von § 142 Abs. 5 StGB ist, etwas zum Tathergang sagen können. Etwas anderes mag gelten, wenn es sich um einen „Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs“ im Sinne von § 142 Abs. 4 StGB handelt. Insofern kann § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO bei § 142 StGB durchaus zur Anwendung kommen, allerdings nicht derart pauschal, wie es dem Gesetzgeber vorzuschweben scheint, der sich insofern nicht an seine eigene Wertung hält. Sie kommt in dieser Hinsicht noch anderenorts zu kurz. Nach Knauer/Wolf soll bei einer räuberischen Erpressung davon auszugehen sein, „dass auf Grund des gesetzgeberischen Willens es hinsichtlich des Vermögensschadens beim Grundsatz des § 250 StPO bleibt“. Der maßgebliche Grund dafür soll sein, dass es sich dabei um ein Verbrechen handelt225, während die Motive bloß von „Vergehen“ 220 Vgl. aus der Rspr. etwa BGHSt 12, 253, 258; 24, 382, 385; 29, 138, 142; OLG Hamm NJW 1977, 207, 208; NJW 1985, 445; BayObLG NZV 1992, 413 – jeweils m. w. N. – sowie BVerfG NJW 2007, 1666, 1668, worin unwidersprochen bleibt, dass die strafgericht­liche Judikaktur auf die Sicherung der „Durchsetzbarkeit zivilrechtlicher Ansprüche der Unfall­ beteiligten untereinander“ als Schutzzweck des § 142 StGB abstellt. 221 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 142 Rdnr. 1a; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB, § 142 Rdnr. 5; Fischer, § 142 Rdnr. 2; Lackner/Kühl, § 142 Rdnr. 1; Geppert, in: LK, § 142 Rdnr. 1; Zopfs, in: MünchKommStGB, § 142 Rdnr. 2; Schild, in: NK, § 142 Rdnr. 7 – jeweils m. w. N. 222 Geppert, in: LK, § 142 Rdnr. 1. Vgl. insofern in anderem Zusammenhang bereits Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 137. 223 BT-Drs. 15/1508 S. 26. 224 Nach Neuhaus, StV 2005, 47, 52 (Hervorhebung im Original) erstreckt sich der Beweisgehalt der verlesenen Niederschrift oder Urkunde über „das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens“ von vornherein nicht auf die Ursache des Schadens. Dies folgt zwanglos aus dem Gesetzeswortlaut von § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO und weist – sicher unbewusst – in Richtung eines Verständnisses der Verlesungsvorschriften, das an späterer Stelle näher aufgezeigt werden soll, vgl. im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 4. a) bb). 225 Knauer/Wolf, NJW 2004, 2932, 2936 – freilich ohne Zitat von § 255 StGB. Vgl. ferner noch Meyer-Goßner, § 251 Rdnr. 12, wonach die persönliche Vernehmung, „falls Gegenstand des Verfahrens ein Verbrechen ist oder es bei einem Vergehen um sehr hohe Schadenssummen geht“, gegenüber der Verlesung vorzuziehen ist.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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sprechen226. Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass es fraglich erscheint, ob der Gesetzgeber wirklich an § 12 StGB anknüpfen wollte. Selbst wenn er es gewollt hätte, hat sich eine Beschränkung des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO auf „Vergehen“ jedenfalls nicht in seinem Gesetzestext niedergeschlagen, wie es aber nach der sog. „Andeutungstheorie“ Voraussetzung dafür ist, dass dem gesetzgeberischen Willen zur Geltung verholfen werden kann227. Als Begründung greift es von daher etwas zu kurz. Aus einem anderen Grund ist allerdings davon auszugehen, dass es bei einer räuberischen Erpressung aufgrund des gesetzgeberischen Willens beim Grundsatz des § 250 StPO bleibt. § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO soll (entbehrliche) Mehrfachvernehmungen vermeiden helfen, weil der Geschädigte oft zum Tathergang oder zur Person des Täters nicht beitragen kann.228 Bei einer räuberischen Erpressung wird es sich aber regelmäßig anders verhalten. Weil sie gemäß § 255 StGB „durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ erfolgen muss, wird vom – bei der räuberischen Erpressung damit zwingend anwesenden – (Nötigungs-)Opfer etwas zum Tathergang oder zur Person des Täters ausgesagt werden können, und sei es beim maskierten Täter bloß zur Stimmlage. Aus diesem materiell-strafrechtlichen Grund wird man bei § 255 StGB im Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen regelmäßig auf eine Verlesung gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO verzichten müssen. Insofern kommt es in solchen Fällen – vorbehaltlich einer anderweitigen gesetzlichen Verlesungsmöglichkeit – im Rahmen des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO auf das von der Vorschrift eingeräumte Ermessen („kann“) von vornherein nicht mehr an, weil bereits (gesetzgeberischer) Sinn und Zweck ein Absehen von der Vorschrift gebieten. Wenn man dies beherzigt, dürfte sich der Anwendungsbereich der Norm in Grenzen halten. Gleichwohl wird befürwortet, sie „restriktiv auszulegen, zumal die Amtsaufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO uneingeschränkt fortgilt“.229 Daran ist richtig, dass § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO, wie § 251 StPO überhaupt230, unter dem Vorbehalt von § 244 Abs. 2 StPO steht. Erst an dieser Stelle – und, wie soeben geschildert, nicht per se – wird im Übrigen relevant, ob „Gegenstand des Verfahrens ein Verbrechen ist oder es bei einem Vergehen um sehr hohe Schadenssummen geht“231. Dass die Bedeutung der Sache, und darum geht es bei hohen Schadenssummen, ein Aspekt bei der Abwägung pro und contra Verlesung ist, wurde schon an früheren Stellen nachgewiesen.232 Im Übrigen zeigt das Vermögensstrafrecht verschiedentlich selbst, etwa in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB, dass die Schadenshöhe materiell-rechtlich von Relevanz ist („Vermögensverlust 226

BT-Drs. 15/1508 S. 26. Vgl. dazu bloß BVerfGE 18, 97, 111 sowie Röhl, Allg. Rechtslehre, S. 598. 228 BT-Drs. 15/1508 S. 26. 229 Neuhaus, StV 2005, 47, 52. 230 s. dazu bereits soeben Anm. 195 (S. 101). 231 Meyer-Goßner, § 251 Rdnr. 12. 232 Vgl. unter II. 2. b). 227

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

großen Ausmaßes“). Damit werden Anwendung und Auslegung des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO in doppelter Hinsicht von Vorgaben des materiellen Strafrechts abhängig gemacht. Zum einen ist bei der Interpretation des Begriffs vom „Vermögensschaden“ auf das (Vermögens-)Strafrecht zu rekurrieren. Im Übrigen wird es zu einem Aspekt im Rahmen der vom Gericht – unter Beachtung von § 244 Abs. 2 StPO – vorzunehmenden Abwägung, ob es zur Verlesung schreitet.

IV. Verlesung von Behörden- und Ärzteerklärungen (§ 256 StPO) § 256 StPO sieht die Verlesung von Behörden- und Ärzteerklärungen vor. Er regelt damit eine weitere Durchbrechung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes.233 Im Zusammenhang mit § 256 StPO sind noch §§ 420 Abs. 2, 411 Abs. 2 Satz 2 StPO zu sehen. Gemäß § 420 Abs. 2 StPO dürfen im beschleunigten Verfahren „Erklärungen von Behörden und sonstigen Stellen über ihre dienstlichen Wahrnehmungen, Untersuchungen und Erkenntnisse sowie über diejenigen ihrer Angehörigen […] auch dann verlesen werden, wenn die Voraussetzungen des § 256 nicht vorliegen“. Damit werden die Verlesungsmöglichkeiten nach dieser Vorschrift erweitert. Gleiches ist in der Hauptverhandlung auf Grund eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl gemäß § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig, der in toto auf § 420 StPO verweist. Gemäß § 420 Abs. 3 StPO bedarf dieses Vorgehen jedoch „der Zustimmung des Angeklagten, des Verteidigers und der Staatsanwaltschaft, soweit sie in der Hauptverhandlung anwesend sind“. Insofern werden diese Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip von einem eher formalen Kriterium abhängig gemacht, nämlich vom allseitigen Einverständnis der Prozessbeteiligten. Dessen Berechtigung soll dadurch nicht in Zweifel gezogen werden. Insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz (sekundär) den Interessen des Angeklagten dienen soll234, lassen sich die Durchbrechungen insofern systemkonform erklären. Für ein tieferes Verständnis dieser Prozessmaxime sind aber, zumal für daran anknüpfende Reformüber­ legungen, jene Ausnahmen mehr von Bedeutung, die sich auf materielle Kriterien zurückführen lassen. Von daher soll sich auf § 256 StPO beschränkt und danach geschaut werden, wie man die Vorschrift im System der Unmittelbarkeitsmaxime dogmatisch rechtfertigen will. Als Begründung wird zumeist genannt, dass die Norm eine Erleichterung des Verfahrens, insbesondere dessen Beschleunigung, sowie die Vermeidung 233 RGSt 35, 162 f.; OLG Koblenz NJW 1984, 2424; Joecks, § 256 Rdnr. 1; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 3; Julius, in: HK, § 256 Rdnr. 1; Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 2; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 3; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 1; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 3; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 1; Radtke/Hohmann/Pauly, § 256 Rdnr. 1; Gössel, DRiZ 1980, 363, 373; Rogall, Gössel-Festschrift, S. 511, 512. 234 Vgl. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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unnötiger Kosten und damit Prozessökonomie bezwecken will.235 Der (moderne) Gesetzgeber teilt diesen Standpunkt. § 256 StPO erfuhr eine umfassende Reform durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004.236 Zunächst ging es um eine bessere Verständlichkeit durch eine Nummerierung der bisherigen Aufzählung.237 Darüber hinaus wurden die Verlesungsmöglichkeiten des § 256 StPO erweitert. Schon der Umstand für sich, dass es in § 256 StPO zu weiteren Durchbrechungen des strafprozes­sualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes gekommen ist, bedingt es, die Vorschrift etwas näher zu beleuchten. Bevor es dabei um deren Anwendung und Auslegung gehen soll, lohnt ein Blick in die Gesetzesmaterialien. Danach haben diese Erweiterungen ein erklärtes Ziel. Sie stehen, wie überhaupt das 1. Justizmodernisierungsgesetz, unter dem „Ziel eines ökonomischen Einsatzes der personellen Ressourcen“, das „eine optimale effiziente Verfahrenssteuerung durch die Gerichte“ ermöglichen soll, um dadurch „Gerichtsverfahren zu vereinfachen, effektiver und flexibler zu gestalten“ und „spürbaren Effizienzgewinnen“ Vorschub zu leisten. Dies soll „zur Straffung der Hauptverhandlung und zu Kosteneinsparungen führen“.238 Damit wird eine Durchbrechung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes einmal mehr mit bloßen prozessökonomischen Erwägungen und Überlegungen begründet. Es stellt sich indes die Frage, ob man sich mit einer solchen Begründung begnügen muss, um § 256 StPO als Ausnahme vom Unmittelbarkeitsprinzip legitimieren zu können. Es handelt sich dabei nämlich um Gesichtspunkte, die man sozusagen von außen an das Unmittelbarkeitsgebot und seine Ausnahmen (in § 256 StPO) heranträgt. Es wäre der Sache aber dienlicher, sich stattdessen zuvörderst um ein – soweit als möglich – in sich schlüssiges System des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips und seiner Ausnahmen zu bemühen. In diesem Sinne soll es gehalten und im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob § 256 StPO einer solchen systemimmanenten Lösung zugeführt werden kann. 1. Verlesung von Behördenerklärungen gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO Gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO können „die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen öffentlicher Behörden“ verlesen werden. Für ein über die Vorschrift hinausgehendes Verständnis vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz ist zunächst der Inhalt solcher behördlicher Erklärungen von In 235

Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 1; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 1; Pfeiffer, § 256 Rdnr. 1; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 1; Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 2; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 11; Rogall, Gössel-Festschrift, S. 511, 522. 236 BGBl. I S. 2198. 237 BT-Drs. 15/1508 S. 26. 238 BT-Drs. 15/1508 S. 1 mit S. 13.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

teresse. Es kann sich dabei um Feststellungen aus amtlichen Unterlagen oder über amtliche Vorgänge oder um Wahrnehmungen einzelner Behördenangehöriger handeln.239 Mehr von Interesse ist aber die Quelle solcher Wahrnehmungen. Die amtlich festgestellten Tatsachen können auf der unmittelbaren Wahrnehmung des Beamten selbst oder auf der Mitteilung eines Dritten an die Behörde beruhen.240 Insofern zeigt sich eine gewisse Nähe zur Thematik des Zeugens vom Hörensagen. Dabei handelt es sich um eine „vielfach erörterte Problematik“ im Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsprinzip.241 Es muss einen Grund haben, dass sie sonst vehement diskutiert wird, im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO dagegen überhaupt nicht angesprochen wird. Zunächst stößt man auf eine allgemeine Überlegung, die – wie eingangs geschildert – grundsätzlich auf § 256 StPO zutreffen soll. Gemeint ist der Gedanke der Effizienz. Es soll der Arbeitsbelastung der Behörden Rechnung getragen werden, indem deren Gutachten verlesen werden dürfen, um „die ohnehin mit Arbeit überlasteten Behörden nicht noch mit zahlreichen persönlichen Vertretungen vor Gericht zu beanspruchen“.242 Dieser Umstand für sich allein kann aber § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO nicht hinreichend rechtfertigen, weil er auf andere Sach­ verständige, etwa Rechtsmediziner, ebenfalls zutrifft, ohne dass die Vorschrift auf sie Anwendung finden würde. Es muss vielmehr ein weiteres Argument hinzukommen. Der Grund für die Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz wird allgemein in der Rücksicht auf den amtlichen Ursprung der zu verlesenden Urkunden und damit in der besonderen Autorität der zur Unparteilichkeit verpflichteten Behörden gesehen.243 Insofern wird § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO – nicht zu Unrecht – als im Einzelfall widerlegbare gesetzliche Vermutung der Objektivität von Behörden charakterisiert und rubrifiziert.244 Es handelt sich von daher um vergleichbare 239

Alsberg/Nüse/Meyer, S. 222. RGSt 9, 88, 93; RG GA Bd. 37 (1889), 187, 188; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 5; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 33. 241 Vgl. dazu die Nachw. in Anm. 32 auf S. 20 sowie später noch im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 1. b) in Anm. 311 (S. 260). 242 Seyler, GA 1989, 546, 549. Vgl. ferner noch RGSt 14, 6; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 1; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 1; Schneidewin, JR 1951, 481, 486. 243 OLG Koblenz NJW 1984, 2424; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 1; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 3; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 1; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 1; Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 2; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 3; Schnellbach, Sachverständigengutachten kollegialer Fachbehörden im Prozeß, S. 61; Schneidewin, JR 1951, 481, 486; Ahlf, MDR 1978, 981, 982; Leineweber, MDR 1980, 7, 9. In den Beratungen zur (Reichs-) Strafprozessordnung ist dieser Gedanke bloß am Rande angeklungen. Bei der – am Ende der Diskussion verneinten – Frage der Verlesbarkeit von Leumundszeugnissen wurde für eine solche Möglichkeit angeführt, dass sie im damaligen Bayern von den Gemeindevertretungen ausgestellt worden sind, deren Mitglieder „unabhängige, frei gewählte Männer“ waren (Nachw. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 867), womit man wohl auf deren besondere Legitimation und damit Autorität anspielen wollte. 244 Dästner, MDR 1979, 545, 546. 240

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Überlegungen, wie sie bereits bei §§ 49, 50 StPO angestellt wurden245. Mit dieser Autorität geht eine entsprechende Glaubwürdigkeit einher. Weil deren Beurteilung ein (maßgeblicher) Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsprinzips in Gestalt von § 250 StPO ist246, kann er zurückstehen, wenn Zweifel an der Glaubwürdigkeit überhaupt nicht oder jedenfalls kaum angebracht sind. Insofern lässt sich § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO systemkonform erklären, sprich innerhalb der mit Unmittelbarkeit verbundenen sachlichen Aspekte, ohne dass man zwingend auf prozessökonomische Gründe abstellen müsste. Vereinzelt wird der Gedanke, dass die Autorität von Behörden die Ausnahme vom Grundsatz der Unmittelbarkeit rechtfertigen soll, allerdings als un­geeignet angesehen. Es sei keinesfalls die Absicht des Gesetzgebers gewesen, Behördengutachten einen erhöhten Beweiswert, etwa im Sinne einer Beweisregel, zukommen zu lassen.247 Dafür bedarf es aber nicht einmal der Berufung auf den historischen Gesetzgeber und seiner Motive. Dies hat nämlich bereits unmissverständlich Eingang in den Gesetzestext selbst gefunden, weil die Erklärungen öffentlicher Behörden verlesen werden „können“, nicht aber verlesen werden müssen. Insofern kann die geschilderte Überlegung für den Regelfall durchaus Geltung beanspruchen. Argumente, warum sie in dieser Hinsicht unzutreffend sein soll, insbesondere eine Auseinandersetzung mit staatstheoretischen Überlegungen, sucht man dagegen vergebens. Von daher entbehrt es den kritischen Stimmen an Überzeugungskraft, sodass der geschilderte Grund die Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz in § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO grundsätzlich zu tragen vermag.

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s. dazu unter I. 3. c). Vgl. hierzu im 4. Kapitel. 247 s. insbesondere Seyler, GA 1989, 546, 559 f. sowie ferner noch Julius, in: HK, § 256 Rdnr. 1. Deutliche Kritik an diesem „Räsonnement“ (Rogall, Gössel-Festschrift, S. 511, 512 in Fn. 14) findet sich noch bei Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 1504 a. E., die aber nicht zu überzeugen vermag: Nach BGHSt 18, 214 kann die Tätigkeit von Beamten im Auftrage der Strafverfolgungsbehörden lediglich im Einzelfall die Besorgnis der Befangenheit begründen, nicht aber allgemein die dienstliche Tätigkeit schlechthin. Wenn Eisenberg ferner § 81f Abs. 2 StPO gegen die Annahme der Strafprozessordnung von einer verfahrensbezogenen Neutralität behördlicher Stellen anführt, vermag dies aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. Zum einen handelt es sich um eine eher singuläre Vorschrift und darum vielleicht gerade um einen Ausnahmefall vom sonst (ungeschrieben) geltenden Grundsatz von der verfahrensbezogenen Neutralität staatlicher Stellen. Die in § 81f Abs. 2 StPO vorgesehene Trennung von ermittelnder Behörde und DNA-Untersuchung durchführender Stelle hat überdies eher strafverfahrensfremde Zwecke zum Inhalt. Sie bezweckt die Sicherung der Verwendungsbeschränkungen gemäß § 81f Abs. 2 Satz 2 StPO (BT-Drs. 13/667 S. 8). Damit geht es – vergleichbar dem Arztvorbehalt in § 81a Abs. 1 StPO – weniger um Beschuldigtenrechte, als vielmehr um andere grundrechtsrelevante Rechtspositionen, konkret um das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Schlussendlich sind Behörden im Sinne von § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO, um die es im vorliegenden Zusammenhang ausschließlich geht, gerade nicht die – von Eisenberg mit § 81 f Abs. 2 StPO ins Spiel gebrachten – an der Strafverfolgung unmittelbar beteiligten staatlichen Stellen, wie § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO unmissverständlich zeigt. 246

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Wenn dagegen noch die Aufklärungspflicht des Gerichts angeführt wird248, vermag es ebenfalls nicht vollends zu überzeugen. Wie aus dem Gesetz selbst folgt, „können“ Erklärungen öffentlicher Behörden verlesen werden. Im Einzelfall kann es § 244 Abs. 2 StPO allerdings gebieten, von der Verlesung abzusehen. Es ist unbestritten, dass § 256 StPO die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht unberührt lässt und seine Anwendung im durch § 244 Abs. 2 StPO gebundenen Ermessen des Gerichts liegt249, sodass eine persönliche Vernehmung bloß für den Fall erforderlich ist, dass die Pflicht zur Wahrheitserforschung und erschöpfenden Sachaufklärung dies gebietet.250 Von daher wird eine Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einmal mehr unter den Vorbehalt von § 244 Abs. 2 StPO gestellt. 2. Verlesung von Sachverständigengutachten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO Gemäß des – erst durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz251 – eingefügten § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO ist es zulässig, „die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen der Sachverständigen, die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind,“ zu verlesen. Dies soll „im Interesse aller Beteiligten eine Straffung der Hauptverhandlung und Kosten­einsparungen“ ermöglichen.252 Um eine Begründung im Rahmen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes bemüht man sich insofern jedoch nicht, obwohl es sich um eine Ausnahme von dieser Prozessmaxime handelt. Dies hätte an sich nahe gelegen, weil sich die Vorschrift vor diesem Hintergrund heftiger Kritik ausgesetzt sieht. Es wird bemängelt, dass bei Anwendung des § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO „der wichtige persönliche Eindruck von der Person des Sachverständigen verloren“ geht253, womit man mit dessen Glaubwürdigkeit unmittelbar auf Sinn und Zweck von § 250 StPO anspielt254. Dieser Verzicht lässt sich mit prozessökonomischen Erwägungen schwerer rechtfertigen als mit Überlegungen, die sich systemkonform innerhalb des Unmittelbarkeitsgedankens bewegen. Freilich belässt es der Gesetzgeber in seinen Motiven nicht mit dem Hinweis auf Effizienzsteigerung und Kos 248

Seyler, GA 1989, 546, 559. König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 4; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 2; Joecks, § 256 Rdnr. 2; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 1; Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 3; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 4; Schneidewin, JR 1951, 481, 486; Gössel, DRiZ 1980, 363, 375. 250 BGHSt 1, 94, 96; BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 95; BayObLG NJW 1953, 194; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 10. 251 BGBl. I S. 2198. Der Bundesrat mit seinem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Bereich) wollte mit identischer Begründung bereits eine entsprechende Regelung schaffen, ist damit aber gescheitert, vgl. hierzu BT-Drs. 13/4541 S. 22. 252 BT-Drs. 15/1508 S. 26 mit S. 13. 253 Neuhaus, StV 2005, 47, 52. 254 s. dazu an früherer Stelle im 4. Kapitel. 249

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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teneinsparungen. Vielmehr führt er noch aus, dass es inzwischen eine Reihe zuverlässiger Sachverständiger gibt, deren Ausführungen in der Regel von einer solchen Sachautorität geprägt sind, die es rechtfertigt, sie den Behördengutachten im Sinne von § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO gleichzustellen.255 Damit wiederum wird deren Glaubwürdigkeit vermutet, sodass man sich systemkonform im Rahmen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes bewegt, ohne die Ausnahme – sozu­ sagen von außen – durch prozessökonomische Überlegungen erklären zu müssen. Freilich bedarf der Hinweis des Gesetzgebers noch etwas der Vertiefung, weil er auf andere Sachverständige ebenfalls zutreffen könnte. Der tiefere Grund für § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO liegt darin, dass es sich um Sachverständige handeln muss, „die für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt sind“. Wann eine allgemeine Vereidigung erfolgt, bestimmt sich – wie bei § 79 Abs. 3 StPO256 – nicht nach strafverfahrensrechtlichen Normen, sondern nach (sonstigem) Bundes- und Landesrecht. Eine wichtige Vorschrift in diesem Zusammenhang stellt § 36 Gewerbeordnung (GewO) dar. Er regelt die „öffentliche Bestellung von Sachverständigen“. Sie erfolgt, wenn die Kandidaten besondere Sachkunde nachweisen und „keine Bedenken gegen ihre Eignung bestehen“. Damit geht es zum einen um die fachliche Eignung (besondere Sachkunde). Daneben kommt es noch auf die sonstige, insbesondere persönliche Eignung an. Dabei wiederum handelt es sich um Fragen der persönlichen Zuverlässigkeit, der Vertrauenswürdigkeit, der Persönlichkeitsstruktur und der Akzeptanz des Sachverständigen. Der Sachverständige muss für die Dauer seiner Bestellung die Gewähr für Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Objektivität und Einhaltung seiner besonderen Pflichten als öffentlich bestellter und allgemein vereidigter Sachverständiger bieten.257 In der Rechtsprechung wird dies u. a. verneint, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung des Ansehens des Bewerbers in der Bevölkerung zu befürchten steht.258 Vielmehr ist eine besondere und uneingeschränkte Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit zu verlangen.259 Anderenorts heißt es in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur ohne Unterschied in der Sache260, dass das Amt des öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen – im Gegensatz zu sonstigen Experten – eine erhöhte oder besondere Glaubwürdigkeit mit sich bringt. Damit schließt sich der Kreis zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz in Gestalt von § 250 StPO: Wenn die Vorschrift es ermöglichen soll, die Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen vom Gericht beurteilen lassen zu können261, kann 255

BT-Drs. 15/1508 S. 26. Vgl. hierfür etwa RGSt 8, 357, 359; 45, 373, 374; Krause, in: LR, § 79 Rdnr. 10; Senge, in: KK, § 79 Rdnr. 5. 257 Bleutge, in: Landmann/Rohmer, GewO, § 36 Rdnr. 71 m. w. N. 258 BVerwG GewArch 1975, 333, 336. 259 BVerwG GewArch 1974, 333, 337; VGH Mannheim GewArch 1977, 19, 20; OVG Münster NJW 1987, 512, 513. 260 BVerwG NJW 1960, 690; VG Ansbach GewArch 1971, 129. 261 s. dazu im 4. Kapitel. 256

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

darauf bei allgemein vereidigten Sachverständigen regelmäßig verzichtet werden, weil diese auf Grund des vorherigen Bestellungsakts und der damit verbundenen Prüfung der persönlichen Eignung in der Regel angenommen werden kann. Schon das Reichsgericht in Strafsachen hat dies im Zusammenhang mit § 36 GewO betont, wonach die Vorschrift Personen erfasst, „deren Handlungen gesetzlich eine besondere Glaubwürdigkeit beigelegt ist“.262 Auf diese Weise lässt sich § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO zwanglos in das System des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips einfügen, ohne dass man – sozusagen von außen – prozessökono­ mische Gründe herantragen müsste. Des Weiteren sind öffentlich bestellte Sachverständige gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 GewO „darauf zu vereidigen, dass sie ihre Sachverständigenaufgaben unabhängig, weisungsfrei, persönlich, gewissenhaft und unparteiisch erfüllen und ihre Gutachten entsprechend erstatten werden“. Neben der Bestellung, welche die Prüfung der besonderen Sachkunde und der persönlichen Eignung zum Inhalt hat, geht die besondere Glaubwürdigkeit öffentlicher Sachverständiger noch auf diesen Eid zurück. Öffentliche Bestellung und Eid haben dieselbe Funktion263, nämlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sachverständigentätigkeit zu begründen. Dabei wird die öffentlich bestellten Sachverständigen zuerkannte besondere Sachkunde sowie das von der Allgemeinheit entgegengebrachte Vertrauen auf deren Glaubwürdigkeit und persönlicher Integrität insbesondere dadurch begründet, dass sie beeiden (müssen), die Gutachtertätigkeit „gewissenhaft“ auszuführen.264 Solchermaßen allgemein vereidigte Sachverständige bieten eine hinreichende Gewähr dafür, glaubwürdig zu sein. Von daher „können“ Gutachten von allgemein vereidigten Sachverständigen – unter Beachtung von § 244 Abs. 2 StPO265 – grundsätzlich verlesen werden. In dieser Hinsicht lässt sich § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO in einer Art und Weise rechtfertigen, die sich zwanglos in das System des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und seiner Ausnahmen integrieren lässt. 3. Verlesung von ärztlichen Attesten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO Ebenso verhält es sich, um das Ergebnis vorwegzunehmen, mit § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Er erlaubt die Verlesung von ärztlichen Attesten über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren gehören, und fand sich bereits in der Reichs 262 RGSt 45, 373, 375. Vgl. ferner bereits RGSt 3, 321: Die Bestellung und Vereidigung als Sachverständiger „verleiht ihren Gutachten […] öffentlichen Glauben“. 263 Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, § 36 Rdnr. 75. 264 Bleutge, in: Landmann/Rohmer, GewO, § 36 Rdnr. 97 mit Rdnr. 106 (Hervorhebungen nicht im Original). 265 Schon der Gesetzgeber weist darauf hin, dass es in Zweifelsfällen notwendig werden kann, dass der Sachverständige sein Gutachten persönlich erläutert (BT-Drs. 15/1508 S. 26), worin er vom Schrifttum Zustimmung erfahren hat (vgl. Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 16; Joecks, § 256 Rdnr. 5 a. E.). De lege lata lässt sich dies – wie generell bei § 256 StPO – durch eine Einschränkung von § 256 Abs. 1 Nr. 1 b) StPO im Wege des § 244 Abs. 2 StPO erreichen.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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strafprozessordnung. In den diesbezüglichen Motiven liest man, dass es ohne die Vorschrift zu „einer allzu großen Belästigung der Ärzte“ käme. Überdies würde es „zu einer übermäßigen Erhöhung der Kosten des Verfahrens führen, wenn in jedem einzelnen Fall der Arzt, welcher den Verletzten besichtigt hat, mündlich vernommen werden sollte“.266 Dieser Begründung haben sich Rechtsprechung und Schrifttum in der Folgezeit uneingeschränkt angeschlossen.267 Damit werden – wie schon bei Behördengutachten – prozessökonomische Überlegungen und Erwägungen in den Vordergrund gestellt, die eher weniger mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz und seinem Sinn und Zweck zu tun haben. Damit kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich diese Ausnahme lediglich damit oder nicht vielmehr ebenso – oder sogar besser – systemkonform erklären lässt. a) Ansehen des Ärztestandes als Grund für die Ausnahme vom Unmittelbarkeitsprinzip § 250 StPO soll bekanntlich die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen ermöglichen.268 Wenn diese aber auf Grund besonderer Umstände angenommen oder sogar (widerlegbar) vermutet werden kann, tritt dieser Sinn und Zweck in den Hintergrund, wie schon soeben bei § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) und b) StPO näher aufgezeigt. Einen ebensolchen Umstand gibt es bei § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Danach sind lediglich Bestätigungen approbierter Ärzte verlesbar.269 Die Erteilung der Approbation ist in der Bundesärzteordnung (BÄO) geregelt. Hierfür sind verschiedene Voraussetzungen erforderlich, u. a. dass sich der Antragsteller „nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich eine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergibt“ (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BÄO). Wenngleich der ärztliche Beruf gemäß § 1 Abs. 2 BÄO kein Gewerbe, sondern seiner Natur nach ein freier Beruf ist, kann man zur Konkretisierung dieser Begriffe auf die soeben getätigten Ausführungen zu öffentlich bestellten und allgemein vereidigten Sachverständigen verweisen. Insofern ist eine persönliche Integrität erforderlich, damit man die Approbation als Voraussetzung für die Ausübung des Arztberufs verliehen bekommt. Sie bietet die Grundlage für ein – Behörden 266 Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 195. Das Kostenargument ist insofern von Interesse, als dass es offenbart, dass solche Erwägungen nicht erst vom modernen Gesetzgeber als bestimmend angesehen werden, sondern sich bereits die Verfasser der Reichsstrafprozessordnung, denen gemeinhin nachgesagt wird, immun gegen solche Überlegungen gewesen zu sein, durchaus davon haben leiten lassen. 267 RGSt 14, 4, 6; 39, 286, 290; BGHSt 33, 289, 291 (Verfahrenserleichterung im Interesse der Kostenersparnis und der Vermeidung unnötiger Inanspruchnahme von Ärzten); MeyerGoßner, § 256 Rdnr. 18; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 13. BGHSt 57, 24, 25 spricht ganz offen von „letztlich pragmatischen Gründen“. 268 s. dazu im 4. Kapitel. 269 Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 19; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 17. Die folgenden Überlegungen rechtfertigen von daher nicht bloß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, sondern ebenso § 256 Abs. 1 Nr. 1 c) und Nr. 3 StPO.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

mitteilungen vergleichbares – Maß an Objektivität und Zuverlässigkeit ärztlicher Atteste.270 Diese Integrität, um den Bogen zurück zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz zu schlagen, beinhaltet eine damit korrespondierende Glaubwürdigkeit, sodass § 250 StPO zurückstehen und sich im Regelfall mit der Ver­ lesung gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO begnügt werden kann. Dies sieht sich noch auf andere Weise bestätigt. Stuckenberg rechtfertigt die Vorschrift damit, dass die Objektivität der schriftlichen Fixierung hinreichend gewährleistet ist, weil sie von berufsrechtlich verpflichteten Ärzten erfolgt.271 Damit bringt er die Musterberufsordnung (MBO) für deutsche Ärzte zur Sprache. Sie ist über die Kammer- und Heilberufe-Gesetze der einzelnen Bundesländer von rechtsverbindlichem Charakter.272 Nach der Präambel zur Berufsordnung stellt sie u. a. die Überzeugung der Ärzteschaft zum Verhalten in der Öffentlichkeit dar, um dadurch das Ansehen des Arztberufs zu wahren. Dafür legt man ein Gelöbnis ab, in dem man sich etwa dazu bekennt, die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechtzuerhalten. § 2 MBO statuiert in dieser Hinsicht „allgemeine ärztliche Berufspflichten“, wonach man sich zuvörderst von seinem Gewissen und den Ge­ boten der ärztlichen Ethik zu leiten hat, um dem von der Allgemeinheit entgegengebrachten Vertrauen in die ärztliche Berufsausübung zu entsprechen. Zum besseren Verständnis und Inhalt der einzelnen Pflichten, insbesondere aus § 2 MBO, verweist man in der diesbezüglichen Literatur auf die entsprechenden Erfordernisse nach der Bundesärzteordnung.273 Von daher kann auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen werden. Dies beinhaltet – und dies ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Gewicht – die Glaubwürdigkeit der Berufsausübung.274 Damit schließt sich der Kreis, weil § 250 StPO primär dazu dient, eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussageperson zu ermöglichen. Weil sie bei Ärzten aufgrund der geschilderten Pflichten, deren Nichtbefolgung standesbzw. berufsrechtliche Sanktionen nach sich zieht, im Regelfall angenommen werden kann, rechtfertigt sich § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO von daher, wodurch sich diese Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz systemkonform erklären lässt, ohne dass dafür zwingend auf prozessökonomische Gründe abgestellt werden müsste. Dabei ist gewährleistet, dass Abweichungen vom Regelfall möglich sind. Ausweislich des Gesetzeswortlauts „können“ ärztliche Atteste verlesen werden, nicht aber müssen sie es zwangsläufig. In dieser Hinsicht soll die Bestimmung „den 270

Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 13 mit Rdnr. 28. Vgl. in diesem Sinne ferner noch J. Meyer, Urkundenbeweis in der Hauptverhandlung, S. 142. 271 Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 6. In die gleiche Richtung weist es, wenn Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 2 von der Sonderstellung des Arztberufs spricht. Vgl. ferner noch Trendelen­ burg, ZJS 2012, 261, 265. 272 Vgl. etwa § 20 Gesetz über die Kammern für Heilberufe Sachsen-Anhalt (KGHB-LSA) vom 13. Juli 1994 (GVBl. S. 832). 273 Lippert, in: Ratzel/Lippert, MBO, § 2 Rdnr. 2 ff. 274 Ebd., Rdnr. 14.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Richter in den Stand setzen, die Wahrheit der Aussagen zu prüfen, welche der Verletzte selbst oder die sonstigen Zeugen über die dem ersteren zugefügten Verletzungen abgeben, und es wird der Richter nach der Lage jedes einzelnen Falles zu beurteilen haben, ob es zum Zwecke der Beweisführung der mündlichen Vernehmung des Arztes bedarf oder ob die durch den Inhalt des Attestes bestätigten Aussagen eine hinreichend sichere Grundlage für das Urteil bilden“.275 Maßstab für diese Beurteilung ist – wie generell bei § 256 StPO276 – die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO.277 Auf diese Weise wird dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz im Einzelfall (wieder) Rechnung getragen. b) Inhalt des ärztlichen Attests Hinzukommt eine Anbindung an das materielle Strafrecht, wie sie bei anderen Ausnahmen von § 250 StPO ebenfalls schon aufgezeigt worden ist. Gleichwohl besteht ein deutlicher Unterschied: Bei § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zeigt sich seine Abhängigkeit vom sachlichen Strafrecht bereits unmittelbar im Gesetzeswortlaut selbst. Danach ist die Verlesung von ärztlichen Attesten lediglich bei Körperverletzungen zulässig, „die nicht zu den schweren gehören“. Damit scheidet die Möglichkeit aus, wenn § 226 StGB im Raume steht. Vielmehr muss es entweder um §§ 223, 224 StGB oder, ohne Rücksicht auf den Verletzungserfolg, um eine fahrlässige Körperverletzung nach § 229 StGB gehen.278 Es wäre verfehlt, dies als gesetzgeberische Beliebigkeit abzutun. Vielmehr kommt darin ein sachlicher Gesichtspunkt zum Tragen. In der Rechtsprechung ist nämlich darauf aufmerksam gemacht worden, dass es sich bei diesen Delikten um verhältnismäßig häufige 275

Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 195 f. Weil es mit anderen Worten mehr oder minder bloß um die Bestätigung einer bereits durch andere Beweismittel bekundeten Tatsache geht, soll auf die Einvernahme des Arztes im Regelfall verzichtet und stattdessen sein entsprechendes Attest verlesen werden können. 276 BGHSt 1, 94, 96; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 2. Vgl. ferner noch die diesbezüglichen Ausführungen zu § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO unter 1. 277 BGHSt 57, 24, 27; Schneidewin, JR 1951, 481, 48. Treffend in diesem Sinne Gössel, JR 2012, 220: § 256 StPO erlaubt eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, nicht aber die Durchbrechung der Pflicht zur Wahrheitserforschung. Vgl. ferner noch Trendelenburg, ZJS 2012, 261, 264, wonach „der Sinn des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO darin besteht, dass aus verfahrensökonomischen Gründen Abstriche am (starren) Unmittelbarkeitsgrundsatz, nicht aber an der (flexibleren und letztlich den Hintergrund des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bildenden) Aufklärungspflicht gemacht werden sollen“. Wenn aber die Aufklärungspflicht den Hintergrund für den Unmittelbarkeitsgrundsatz bilden soll, sind beide insofern gleichermaßen starr oder flexibel, woran sich bereits zu zeigen scheint, dass (materielle) Unmittelbarkeit de lege lata gerade nicht in § 244 Abs. 2 StPO loziert ist, vgl. dazu umfassend an späterer Stelle im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV 1. 278 RGSt 1, 188; 39, 286, 290; BGHSt 4, 155, 156; 33, 389, 391; BGH NJW 1980, 651; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 20; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 15; Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 21; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 14; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 8; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 28; Schneidewin, JR 1951, 481, 486.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

Strafverfahren handelt, die „zudem nicht allzu erhebliche Straftaten betreffen“279, weshalb man sich mit der Verlesung eines ärztlichen Berichts begnügen kann, während „die Feststellung eines schweren Verbrechens eine erschöpfendere Beweisaufnahme erfordert, als die Feststellung einer geringfügigen Straftat“ durch die Verlesung eines ärztlichen Attests280. Damit wird, wie schon in anderen Zusammenhängen281, das – nicht allzu große – Gewicht der angeklagten Tat zum sachlichen Argument für Durchbrechungen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Die Schwere des Tatvorwurfs wird aber nicht zum Posten im Rahmen einer allgemeinen Abwägung, sondern bereits vom Gesetzgeber in den Wortlaut der Norm selbst inkorporiert, indem er die Delikte expressis verbis aufzählt, bei denen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zur Anwendung kommen darf. Weil dies wiederum am Anklagesatz und -vorwurf festgemacht werden kann282, scheint die Anwendung der Vorschrift in der Praxis kaum zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen zu können. Gleichwohl werden vielfältige Differenzierungen im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorgenommen. In jedem Falle verlesbar ist der objektive Befund des Verletzten – wie des Angeklagten283 – als solcher und die zugehörige Krankengeschichte.284 Enthält das Attest darüber hinaus eine gutachtliche Äußerung, etwa über Schwere und Folgen der Verletzung, Minderung der Erwerbsfähigkeit und voraussichtliche Heilungsmöglichkeiten, kann es insoweit ebenfalls verlesen werden.285 Wenn es dagegen nicht bloß auf das Vorhandensein der bescheinigten Körperverletzung selbst ankommt, sondern darüber hinaus auf die Art der Verletzung, genügt die Verlesung nicht. Vielmehr muss der Arzt in solchen Fällen als Zeuge vernommen werden.286 Unzulässig ist ferner die Verlesung von Tatsachen, welcher der Arzt bei der Untersuchung ohne besondere Sachkunde festgestellt hat, etwa Angaben des Verletzten oder eines Dritten über Ursache und Herkunft der 279

BGH NJW 1980, 651. RGSt 26, 38, 39; 39, 286, 290 f. sowie ferner BGHSt 33, 389, 391. Vgl. im Übrigen noch RGSt 35, 162, 163: „Die Einschränkung der Verlesbarkeit ärztlicher Atteste auf solche Körperverletzungen, welche nicht zu den schweren gehören, weist darauf hin, daß die Verlesbarkeit in eine Beziehung zu dem Maße der Strafbarkeit derjenigen Körperverletzung, über welche das Attest Auskunft gibt, hat gesetzt werden sollen.“ 281 Vgl. etwa im Rahmen der kommissarischen Vernehmung unter II. 2. b). 282 König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 15; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 14; ­Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 28. 283 RGSt 35, 162, 163. Der sogleich näher aufzuzeigende Bezug des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum materiellen Strafrecht klingt in dieser Entscheidung bereits an, wenn das Gericht ausführt, dass dies „mit Rücksicht auf die Behauptung der Notwehr oder auf die Bestimmung des § 233 StGB […] in Betracht kommen“ kann. § 233 StGB ähnelte § 199 StGB und wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164) abgeschafft. 284 RGSt 19, 364, 365; BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211. 285 RGSt 19, 364, 365; RG JW 1891, 505; RG GA Bd. 61 (1914), 350; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 16; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 49; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 19. 286 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211 Nr. 21; Joecks, § 256 Rdnr. 7 a. E.; MeyerGoßner, § 256 Rdnr. 19 a. E. 280

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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Verletzung und damit über den möglichen Tathergang.287 Eine Begründung für die unterschiedliche Reichweite der Verlesungsmöglichkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im vorgenannten Sinne wird in den entsprechenden Entscheidungen manchmal bloß in Ansätzen gegeben. Ob die Differenzierungen bereits vom Gesetzeswortlaut vorgegeben sind, ist eher zu bezweifeln. Manches „ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 256 StPO, aber aus dessen Sinn und Zweck“.288 Dass dieser wiederum im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz steht, versteht sich von selbst. Wenn man nunmehr diesen Kontext beachtet, lassen sich die dargestellten Nuancen in der Handhabung des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO durchaus auf allgemeine Aussagen zurückführen. Schon die bisherige Darstellung hat dabei offenbar werden lassen, dass das materielle Strafrecht durchaus einen Maßstab für die Reichweite der Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip bildet. Dieser Gedanke lässt sich auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO und die dabei gemachten Differenzierungen übertragen. Bei den „Ursachen der Verletzung“ geht es ebenfalls um eine materiell-strafrechtliche Kategorie, nämlich um die Kausalität zwischen der Handlung des Täters bzw. Angeklagten und dem eingetretenen Erfolg, die bei § 223 StGB zu verlangen ist. Insofern stellt sich die Frage, warum zwar die erlittene Verletzung, nicht aber deren Ursache(n) zum Gegenstand der Verlesung gemacht werden können. Der Unterschied lässt sich aber – durchaus vor dem Hintergrund des materiellen Strafrechts – erklären. Bei der Verletzung als solcher geht es um ein sozusagen tatbezogenes Merkmal, ob nämlich überhaupt ein strafrechtlich relevanter Erfolg vorliegt. Bekanntlich fallen bloß geringfügige Beeinträchtigungen aus dem Tatbestand des § 223 StGB heraus.289 Dies wiederum lässt sich, weil sich die Erheblichkeit objektiv nach dem (ärztlichen) Befund aus Sicht eines objektiven Dritten beurteilt290, durch bloßes Verlesen eines ärztlichen Attests klären, weil es – in den Worten des BGH zu § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO – für die Feststellung des gesetzlichen (Straf-)Tatbestands im Rahmen der §§ 223, 224, 229 StGB auf nichts weiter ankommt, als auf das bloße Vorhandensein der bescheinigten Körperver-

287 RG JW 1905, 218; BGHSt 4, 155, 156; 57, 24, 25 Rdnr. 9; BGH bei Dallinger, MDR 1955, 397; StV 1984, 142, 143; OLG Hamburg, StV 2000, 9, 10; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 19; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 8; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 29; Radtke/Hohmann/ Pauly, § 256 Rdnr. 14; Stuckenberg, in: LR, 256 Rdnr. 43. Anders offenbar noch RG JW 1891, 505, wonach „noch diejenigen sachverständigen Schlußfolgerungen, zu denen der Arzt durch seine Besichtigung bezüglich der Fragen nach den mutmaßlichen Entstehungsursachen […] gelangt ist, als inbegriffen erachtet werden“. 288 Treffend in diesem Sinne BGHSt 33, 389, 391 zur Frage der Verlesbarkeit eines ärzt­ lichen Attests, wenn laut Anklage ein anderes Delikt idealiter mit der leichten Körperverletzung ­konkurriert. 289 Vgl. statt aller bloß Lilie, in: LK, § 223 Rdnr. 9 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. 290 BGH NJW 1991, 2918, 2919.

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

letzung selbst.291 Eines Bezugs zu denkbaren Ursachen der (un-)erheblichen Be­ einträchtigung bedarf es dafür jedenfalls nicht. Anders verhält es sich, wenn die Erheblichkeitsgrenze überschritten ist und es nunmehr um die konkrete Zurechnung der Tat zum Angeklagten geht. Dabei handelt es sich um ein sozusagen täterbezogenes Kriterium. Wenn man nunmehr noch in den Blick nimmt, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz den Interessen des Angeklagten dienen soll292, liegt es nahe, die Verlesungsmöglichkeit des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im geschilderten Sinne restriktiv zu interpretieren. Freilich muss man dafür das materielle Strafrecht in seine Betrachtungen und Überlegungen einbeziehen. Entsprechende Überlegungen lassen sich ferner in der Frage fruchtbar machen, warum ein ärztliches Attest nicht verlesen werden darf, wenn es nicht bloß um das Vorhandensein der bescheinigten Körperverletzung als solcher geht, sondern es darüber hinaus auf die Art der Verletzung ankommt, weil daraus nämlich „Rückschlüsse auf die Stärke des Angriffs und damit den Tötungs- oder nur Verletzungsvorsatz des Angekl. möglich“ sind.293 Damit wird implizit auf die Abgrenzung zwischen Tötungs- und bloßem Körperverletzungsvorsatz hingewiesen. Dabei handelt es sich unter dogmatischen Gesichtspunkten (bloß) um einen Unterfall der allgemeinen Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit294, bei der es zu tatbestandsspezifischen Besonderheiten des bedingten Vorsatzes kommt, wozu insbesondere die Grenzziehung zwischen Körperverletzungs- und Tötungsvorsatz gehört295. In der Rechtsprechung hat sich diesbezüglich die sog. Hemmschwellentheorie entwickelt, wonach vor dem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle steht als vor dem Gefährdungs- oder Verletzungsvorsatz.296 Im Übrigen wird eine Gesamtbetrachtung sämtlicher maßgeblicher Indizien bzw. der für und gegen bedingten Vorsatz sprechenden subjektiven und objektiven Umstände vorgenommen297, 291 BGHSt 4, 155, 156; BGH NJW 1980, 651. Etwas missverständlich ist in dieser Hinsicht RGSt 39, 286, 290, wonach im Rahmen einer Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung ungeachtet des eingetretenen (schweren) Verletzungserfolgs ein ärztliches Attest verlesen werden kann, weil „die sachverständige Feststellung deshalb nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, weil die Folge nicht ein Tatbestandsmerkmal bildet, sondern nur bei der Strafzumessung in Betracht kommt oder kommen kann“. Dass es überhaupt zu einer Körperverletzung gekommen ist, gehört aber ebenfalls zum Tatbestand des § 229 StGB. Vgl. zum Aspekt der Verlesbarkeit aus strafzumessungsrechtlicher Sicht aber sogleich noch oben im Text die Aus­ führungen zu den „verschuldeten Auswirkungen der Tat“. 292 Vgl. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 293 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211. 294 Überblick über die einzelnen Abgrenzungsversuche bei Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 96 ff., 102 ff. (Rspr.), 118 ff. (Schrifttum). 295 Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 110 ff. 296 Vgl. dazu sowie zum Folgenden zusammenfassend BGHSt 57, 183 m. w. N. sowie zur Kritik an der Hemmschwellentheorie etwa Verrel, NStZ 2004, 309 ff. m. w. N. 297 s. dafür bloß Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 109 mit Rdnr. 65 sowie eingehend Schneider, in: MünchKommStGB, § 212 Rdnr. 4 ff., 10, 15 ff. (Fallgruppen) – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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darunter die augenfällige Gefährlichkeit des Täterverhaltens298. Darüber wiederum wird die Art der Verletzung etwas aussagen (können), sodass aus materiell-strafrechtlicher Perspektive die Verlesung zu unterbleiben hat und vielmehr der Arzt als (sachverständiger) Zeuge zu vernehmen ist. Ganz auf dieser Linie liegt eine Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2007299, wonach sich die Verlesung eines ärztlichen Attests nicht mehr im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO bewegt, wenn „der Tatrichter seine Überzeugung vom Vorliegen eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes aus den in den Arztberichten mitgeteilten schweren inneren Verletzungen einschließlich des in Richtung Herz verlaufenen Stichkanals gewonnen hat“. Interdependenzen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum materiellen Strafrecht zeigen sich ferner darin, dass mittelbare Folgen der Körperverletzung, wie Minderung der Erwerbsfähigkeit und voraussichtliche Heilungsmöglichkeit, verlesen werden können. Es handelt sich bei diesen mittelbaren Folgen um strafzumessungsrelevante Faktoren. Sie unterfallen den „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ im Sinne von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB. Dabei scheint es zwar auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein, dass die (täterbezogenen) „Ursachen der Verletzung“ – wie geschildert: zu Recht – nicht im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden dürfen, wohl aber die diesbezüglichen strafzumessungsrelevanten mittelbaren Folgen, obwohl von „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ die Rede ist und damit – wie generell bei der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) – der konkrete Täter in den Blick zu nehmen ist. Bei näherer Betrachtung handelt es sich aber bloß um einen scheinbaren Widerspruch. Man muss nämlich zwischen der Frage trennen, ob es sich zunächst überhaupt um strafzumessungsrelevante „Auswirkungen der Tat“ – und damit um ein sozusagen tatbezogenes Kriterium – handelt, und erst auf der zweiten Ebene nach dem Verschulden des Täters fragen. Soweit es den ersten Aspekt betrifft, harrt zwar noch der Klärung, woran man dies festmachen will. Diskutiert wird insofern, ob es sich um regelmäßige Tatfolgen handeln muss300, wohingegen (außertatbestandliche) Folgen als „Auswirkungen der Tat“ auszuscheiden haben, wenn sie völlig außerhalb der verletzten Strafnorm liegen301. Ein diesbezüglicher Streit dürfte im Anwendungsbereich des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO aber kaum aufkommen. Jedenfalls ist eine (vorübergehende) Minderung der Erwerbsfähigkeit eine geradezu im 298 Im Einzelnen ist insofern vieles streitig. Wenn man die umfangreiche sowie kaum noch über- und durchschaubare Rechtsprechungskasuistik durchforstet, lässt sie sich wie folgt zusammenfassen: Es genügt zwar nicht die bloße Inkaufnahme einer Lebensgefährdung, wie schon § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zeigt. Bei äußerst gefährlichen Verhaltensweisen liegt, ohne dass es gleich einen diesbezüglichen Erfahrungssatz geben würde, bedingter Tötungsvorsatz aber durchaus nahe. Vgl. die insofern einschlägigen Nachw. zur Rspr. bei Schneider, in: ­MünchKommStGB, § 212 Rdnr. 9 sowie Eser, in: Schönke/Schröder, § 212 Rdnr. 5. 299 BGH StV 2007, 569. 300 Fischer, § 46 Rdnr. 34; Miebach, in: MünchKommStGB, § 46 Rdnr. 93 ff. 301 OLG Düsseldorf StV 2001, 233; Lackner/Kühl, § 46 Rdnr. 34; Stree/Kinzig, in: Schönke/ Schröder, § 46 Rdnr. 26a; Horn, in: SK-StGB, § 46 Rdnr. 109 sowie – einschränkend – BGH NStZ 2002, 645 und StV 2003, 442 mit Anm. Meier. Aus diesem Grund hat es BGH StV 2011,

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

manente mittelbare Folge von Körperverletzungen, sodass sie durch bloßes Verlesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden kann, wohingegen die anschließende Frage, ob die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen der Tatbestandsverwirklichung vom Täter mindestens vorausgesehen werden konnten und diesem vorzuwerfen sind302, auf andere Weise, etwa durch dahingehende Einlassung des Angeklagten oder Indizien, geklärt werden muss. Insofern wirkt die unterschiedliche Handhabung im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO keinesfalls beliebig oder sogar widersprüchlich, sondern lässt sich vor dem Hintergrund des materiellen Strafrechts in einem rationalen Sinne befriedigend erklären und rechtfertigen. 4. Verlesung von Routinegutachten gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO Gewisse unmittelbare Bezüge zum Strafrecht bestehen ferner bei § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO, soweit es um Gutachten zur Bestimmung des Blutalkoholgehalts einschließlich seiner Rückrechnung geht. Die Blutalkoholkonzentration bei Begehung der Tat spielt zwar nicht mehr die entscheidende Rolle bei der Frage der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit.303 Nach wie vor ist sie aber bei § 316 StGB von unwiderlegbarer Relevanz für die Frage, ob jemand „nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen“.304 Der tiefere Grund, warum sich die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO systemkonform in das Gefüge des straf­ prozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes einfügt, ist aber ein anderer. § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO erlaubt die Verlesung von (Routine-)Gutachten, deren Eigenart darin besteht, dass sie auf Grund allgemein anerkannter wissenschaft­ licher Erkenntnisse und Erfahrungssätze in standardisierter Form mit nicht weiter erläuterungsbedürftigem Inhalt erstellt werden.305 Es kommt mithin nicht entschei715, 716 völlig zu Recht beanstandet, dass der straferhöhende Umstand eines schweren posttraumatischen Belastungssyndroms als Folge der Körperverletzung ausschließlich aus dem Verlesen eines ärztlichen Attests gewonnen wurde. 302 BGHSt 37, 179, 180; BGH NStZ 1985, 453; StV 1987, 100; StV 1991, 64; StV 1997, 129; NStZ 2005, 156, 157; NStZ-RR 2006, 372; wistra 2006, 258. 303 Seit BGHSt 43, 66 gibt es unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung „keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber, daß ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen ist“. Nunmehr wird eine bestimmte BAK bloß noch als diesbezügliches Indiz angesehen, vgl. zum Ganzen Perron, in: Schönke/Schröder, § 20 Rdnr. 16 ff. m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. 304 Seit BGHSt 37, 89 wird bei einer BAK von 1,1 ‰ von absoluter Fahruntüchtigkeit aus­ gegangen. 305 Paulus, in: KMR, § 256 Rdnr. 2; Julius, in: HK, § 256 Rdnr. 1; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 9; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 30. Vgl. zur routinemäßigen Ermittlung der BAK auf Grund bundeseinheitlicher Richtlinien etwa die Nachw. bei Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/ Schröder, § 316 Rdnr. 14.

5. Kap.: Gesetzliche Ausnahmen von § 250 StPO

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dend auf die Beweisperson und deren Persönlichkeit an.306 Insofern spielt zugleich deren Glaubwürdigkeit eine deutlich untergeordnete Rolle, sodass es Sinn und Zweck von § 250 StPO nicht zwangsläufig gebieten, den Gutachter persönlich zu vernehmen. Darin liegt zum einen der sachliche Grund dafür, dass de lege lata, wie schon ein arg. e contrario zu § 256 Abs. 1 Nr. 1 a) StPO zeigt, nicht vorausgesetzt wird, dass das Gutachten von einer Behörde (amtliche Untersuchungsstelle, Universitätsklinikum) erstellt werden muss. Zum anderen liefert dieser Umstand zugleich das Argument dafür, warum sich § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO systemimmanent in das System des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und seiner Ausnahmen integrieren lässt. Bevor man von daher im Zusammenhang mit § 256 Abs. 1 Nr. 4 StPO Argumente wie Verfahrensvereinfachung und Entlastung der Gutachter bemüht307, sollte man sich auf eine solche eher rationale Begründung für diese Ausnahme vom Unmittelbarkeitsprinzip stützen. 5. Fazit Mehr noch als § 251 StPO bewegt sich § 256 StPO systemkonform im Rahmen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Damit ist keinesfalls gemeint, dass es insofern seltener zur Verlesung nach § 256 StPO kommt oder kommen muss. Eher das Gegenteil ist der Fall: Während sie bei § 251 StPO die Ausnahme bildet, stellt sie bei § 256 StPO den Regelfall dar, ohne dass hierin eine empirisch gesicherte Aussage liegen soll. Bei § 256 StPO ist nämlich – mehr als bei § 251 StPO – durch die Person des Ausstellers der zu verlesenden Urkunde oder Niederschrift eine hinreichende Gewähr dafür vorhanden, dass sie regelmäßig als glaubwürdig angesehen werden kann. Weil eben dies durch § 250 StPO ansonsten soll beurteilt werden können, kann davon bei Behörden- und Ärzteerklärungen in der Regel ausgegangen werden. Wenn im Einzelfall gleichwohl einmal Zweifel bestehen, kann im Rahmen des sich an § 244 Abs. 2 StPO zu orientierenden Ermessens von der Verlesung abgesehen und die persönliche Vernehmung durch das Gericht angeordnet werden.308 Insofern wird auf zweierlei Weise dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz hinreichend Rechnung getragen. Zugleich hat sich gezeigt, dass bei § 256 StPO – und zwar mehr noch als bei §§ 223, 251 StPO – eine Anbindung an das materielle Strafrecht erfolgt. Dabei spielt sie nicht bloß im Rahmen einer allgemeinen Abwägung eine Rolle. Vielmehr klingt sie bei § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits unmittelbar im Gesetzeswortlaut selbst an. De lege ferenda ist der Grund für die Ausnahmen freilich wiederum identisch. Weil es sich bei §§ 223, 224, 229 StGB um vergleichsweise leichtere Delikte handelt, können „ärztliche Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu 306

Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 30. Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 30. 308 Vgl. hierzu in verfahrenstechnischer Hinsicht lediglich Meyer-Goßner, § 251 Rdnr. 39 ff. versus § 256 Rdnr. 29 sowie speziell zu § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO etwa Krüger, NStZ 2011, 594. 307

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2. Teil: Unmittelbarkeit und Verlesungsvorschriften

den schweren gehören“, verlesen werden. Ebenso verhält es sich, wie geschildert, bei §§ 223, 251 StPO, weil die Schwere des Anklagevorwurfs der Verlesung entgegenstehen kann, wohingegen die Vorschriften bei Kleinkriminalität eher zur Anwendung kommen können. Diesem Aspekt wird in § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits de lege lata Rechnung getragen. Einmal mehr zeigt sich in dieser Hinsicht eine gewisse Abhängigkeit des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes bzw. seiner Ausnahmen von Vorgaben des sachlichen Strafrechts.

3. Teil

Formelle Unmittelbarkeit In der „Bibliothek dialektischer Grundbegriffe“ liest man zur „Unmittelbarkeit“ folgende Ausführungen: „Der Ausdruck Unmittelbarkeit ist vieldeutig. Was Unmittelbarkeit heißen soll, leuchtet keineswegs unmittelbar ein. […] Unmittelbarkeit hat vielfältige Konnotationen. Es handelt sich nicht um einen wohl definierten Begriff.“1 Dabei stehen der Begriff der „Unmittelbarkeit“ und sein Verhältnis zu deren „Vermittlung“ keinesfalls bloß in der Philosophie im Streit.2 Der alltägliche Sprachgebrauch versteht „unmittelbar“ als „direkt“, als „ohne Vermittlung durch ein Anderes“ und bezeichnet damit den Gegensatz zu „indirekt“ und „vermittelt“. Als Negation von „Vermittlung“ steht „Unmittelbarkeit“ für den unverstellten Zugang zu etwas. „Unmittelbar“ nennen wir gewöhnlich eine direkte Beziehung auf etwas oder jemanden, eine zeitliche oder räumliche Nähe. Unmittelbarkeit in diesem Sinne ist Gegenwärtigkeit und Präsenz, die nicht durch etwas Anderes verstellt wird. Diese Aussagen scheinen zwanglos mit § 250 StPO zu harmonieren, indem er die Aussage des Zeugen in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung selbst vorschreibt (Satz 1), und zwar „ohne Vermittlung durch ein Anderes“, nämlich ohne dass dies „durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden“ darf (Satz 2). Von daher könnte man sich zu der Annahme verleiten lassen, dass ein strafprozessualer Unmittelbarkeitsgrundsatz ausschließlich oder jedenfalls primär in dieser Vorschrift loziert ist. Aber bereits Geppert hat in seiner grundlegenden Monographie zum „Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“ darauf hingewiesen, dass sich in der Vergangenheit die Diskussion um Unmittelbarkeit bereits des Öfteren in §§ 250 ff. StPO hoffnungslos festgefahren hat und dass insbesondere jener zentrale § 250 StPO nicht schlechthin Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips ist, sondern lediglich einen Teilbereich von (materieller) Unmittelbarkeit im Sinne einer weitgehend verselbständigten Lösung regelt.3 Alltäglicher und juristischer Sprachgebrauch scheinen von daher nicht ohne weiteres übereinzustimmen. Dabei ist seine Viel- und Mehrdeutigkeit in der strafverfahrensrechtlichen Diskussion angelegt. Es ist zwar allenthalben vom strafprozessualen Unmittel 1

Arndt, Unmittelbarkeit, S. 6 f. Arndt, Unmittelbarkeit, S. 9 ff. 3 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 mit S. 186 (Hervorhebung im Original). 2

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

barkeitsgrundsatz als dem „Fundamentalsatz“ unseres Strafverfahrensrechts die Rede.4 Anderenorts wird er als „vom gesunden Menschenverstand gebotener Verfahrensgrundsatz“ bezeichnet5, gelegentlich sogar als „strafprozessual selbstverständlich“ charakterisiert6, ohne dass aber von Einigkeit im Übrigen gesprochen werden könnte. „Was freilich unter diesem Grundsatz zu verstehen ist, welchen Ausdruck er im einzelnen in der Strafprozeßordnung gefunden hat und wie von hier aus eine Vielzahl die Strafrechtspraxis tagtäglich beschäftigender Streitfragen zu lösen ist, darüber besteht auch heute noch alles andere als Einigkeit. Einig ist man sich nur in der Feststellung, daß diese ‚Unmittelbarkeit‘ im Gesetz keine unmißverständlich klare Regelung gefunden hat. Ansonsten herrscht nicht nur in der Terminologie, sondern in der Sache selbst nach wie vor oft unüberbrückbarer Streit.“ Diese – einst von Geppert formulierten7 – Sätze haben an Aktua­lität nicht verloren. Nach wie vor scheint der Gedanke der Unmittelbarkeit vielmehr von einem „Dunstkreis“ umhüllt zu sein, der sich bloß langsam zu lichten beginnt.8 Es wird nämlich mit „Unmittelbarkeit“ nicht zwangsläufig dasselbe im Schrifttum verbunden, von unterschiedlichen Vorstellungen über den Inhalt eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes ganz zu schweigen. Von daher kann es nicht verwundern, wenn von Unmittelbarkeit als Sammelbegriff die Rede ist.9 Der Hauptgrund dafür, dass in der Diskussion um das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip kaum begriffliche Klarheit und Einigkeit herrscht, von sachlicher Übereinstimmung einmal völlig abgesehen, wird dabei darin ausgemacht, dass in der langjährigen Diskussion weder terminologisch noch in der Sache scharf genug getrennt worden ist zwischen dem Unmittelbarkeitsgedanken als abstraktem Begriff und Denkprinzip einerseits und der Frage, ob und wie er gesetzlich loziert ist, andererseits.10 Dafür, dass die Ebenen nivelliert werden, führt man etwa an, dass der Blick, wenn man sich mit Unmittelbarkeit befasst, zumeist sogleich auf die Vorschriften der §§ 250 ff. StPO gerichtet wird, die aber als weitgehend verselbständigte Sonderregelung bloß einen Teilbereich materieller Unmittelbarkeit erfassen11 und in denen sich die Diskussion in der Vergangenheit oft hoffnungslos festgefahren hat12. Man könnte nunmehr meinen, dass sich aus eben diesem Grund die folgenden Ausführungen ebenfalls schon von vornherein disqualifiziert haben. Schließlich wurden soeben § 250 StPO und seine Ausnahmen näher erörtert. Gleichwohl dürfte die diesbezügliche Darstellung die Kritik von Geppert nicht 4

RGSt 12, 104, 105. Staud, DJ 1934, 512. 6 Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 58. 7 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. 8 Rupp, Beweis im Strafverfahren, S. 125. 9 Nijboer, in: Lagodgny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 157, 159. 10 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 120 f. mit S. 162. 11 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162 mit S. 186. 12 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 5

6. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege ferenda

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mit voller Wucht treffen. Jedenfalls wurden nämlich die verschiedenen Ebenen (de lege lata et ferenda) beachtet und sich zunächst weitestgehend auf eine Erörterung der lex lata beschränkt. Nunmehr soll es stattdessen zuvörderst um den sachlichen Gehalt eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes gehen, ohne dass im Anschluss daran zu kurz kommen soll, ob und in welcher Weise er im geltenden Recht verortet ist.

6. Kapitel

Formelle Unmittelbarkeit de lege ferenda Der Begriff der Unmittelbarkeit wurde schon relativ früh geprägt, nämlich bereits im Jahre 1885 von Pollack.13 Er verstand darunter die sog. formelle Unmittelbarkeit. Synonym spricht man ferner von „Unmittelbarkeit der Beweiserhebung“, „Unmittelbarkeit der Beweisführung“ oder „Unmittelbarkeit des Verkehrs“.14 Die Uneinheitlichkeit der Terminologie zeigt sich ferner noch in Formulierungen wie „Unmittelbarkeit der Verhandlung“15, „Unmittelbarkeit des Verfahrens“16, „persönlicher bzw. personeller Unmittelbarkeit“17 bzw. „Unmittelbarkeit in subjektiver Hinsicht“18. Anderenorts ist noch von „örtlicher Unmittelbarkeit“ die Rede.19 In solchermaßen divergierenden Begrifflichkeiten bewahrheitet sich der kritische Satz von Geppert20, dass nicht bloß in der Sache, sondern bereits in der Terminologie ein nach wie vor unüberbrückbarer Streit über den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz herrscht. In der Sache ist man sich trotz der uneinheitlichen Terminologie dagegen einig. Inhaltlich enthält formelle Unmittelbarkeit zunächst einmal die Forderung nach eigener sinnlicher Wahrnehmung des gesamten Prozessgeschehens in der Hauptverhandlung unter Einschluss der Beweisaufnahme durch das erkennende Gericht.21 Damit wird formelle Unmittelbarkeit zu einem Beweisprinzip erklärt.22 Die eigene sinnliche Wahrnehmung ist später als das erste Charakteristi 13

Pollack, GA Bd. 33 (1885), 232, 253. Nachw. zu Begriffen und Fundstellen bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 124 f. in Fn. 21–23. 15 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 326 ff.; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 37. 16 Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 509 ff.; Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd. 1, S. 249. 17 Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozessrechts, S. 43. 18 Bennecke/Beling, Lehrbuch des Deutschen Reichsstrafprozessrechts, S. 249. 19 In diesem Sinne etwa Liermann, Tonbandaufnahme als Beweismittel im Strafprozeß, S. 73. 20 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. 21 Rosenfeld, Reichsstrafprozeß, S. 47; von Gleispach, Strafverfahrensrecht, S. 39; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 87 mit S. 511; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 328. 22 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 136. 14

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

kum eines mehr formellen Unmittelbarkeitsverständnisses angesehen und dahingehend präzisiert worden, dass das Gericht hiernach die Verfahrensbeteiligten und im Rahmen der Beweisaufnahme die Beweismittel in der Hauptverhandlung mit den eigenen Sinnen selbst wahrnehmen muss.23 Unmittelbarkeit in diesem Sinne kennzeichnet immer das Verhältnis des erkennenden Gerichts zu den Beweismitteln und Verfahrensbeteiligten24, wenngleich in dieser Hinsicht ein erster Streit über den (zeitlichen) Umfang dieser formellen Komponente besteht, worauf sogleich zu sprechen kommen sein wird. Ein zweites Charakteristikum kommt hinzu: Danach hat das Gericht die Beweise selbst zu erheben.25 Einem Dritten, wie noch im gemeinen deutschen Strafprozess üblich26, soll sie nicht (mehr) überlassen bleiben. In dieser Hinsicht versteht sich Unmittelbarkeit gewissermaßen als Form der gerichtlichen Kenntnisnahme von den Urteilsgrundlagen und dabei als unmittelbare Konfrontation des erkennenden Gerichts mit den Beweismitteln.27 Hierin liegt die eigentliche Forderung des mehr formellen Unmittelbarkeitsbegriffs. In jedem Fall geht es bei formeller Unmittelbarkeit aber bloß um das „Ob“ der Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht, dagegen (noch) nicht um die Frage nach dem „Wie“, sprich in welcher Form die Beweise zu erheben sind. Um es auf den Punkt zu bringen: Ob das erkennende Gericht die Zeugen selbst hört oder stattdessen Protokolle über deren frühere Vernehmung als Urteilsgrundlage heranzieht, beeinträchtigt die formelle Seite eines in diesem Sinne verstandenen strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht. Sofern man bloß die formelle Unmittelbarkeit im Auge hat, steht der Verlesung von Schriftstücken und insbesondere von förmlichen (Vernehmungs- oder Augenscheins-)Protokollen nichts im Wege. Unmittelbarkeit in diesem eng verstandenen formellen Sinne widerspricht der Bezugnahme auf frühere Ermittlungsergebnisse bloß für den Fall, dass die außerhalb der Hauptverhandlung gewonnenen Beweisergebnisse nicht zum Gegenstand derselben gemacht werden.28 Über diesen Inhalt der formellen Unmittelbarkeit besteht ungeteilte Einigkeit.

23

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 123. Krause, Urkundenbeweis, S. 132; Sprang, Zeugen vom Hörensagen, S. 36; Dolderer, Beweis durch Urkunden, S. 18; Roggemann, Tonband im Verfahrensrecht, S. 35. 25 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 124. 26 s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 27 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 124 f. 28 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 146. An dieser Stelle sei lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass an früherer Stelle im Sinne von formeller Unmittelbarkeit verlangt wird, dass das Gericht „im Rahmen der Beweisaufnahme den Angeklagten, die Zeugen und die Sachverständigen in der Hauptverhandlung mit eigenen Augen sehen und hören“ muss, s. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 123 (Hervorhebung nicht im Original). Zur Klärung der selbst monierten Sprachverwirrung und der daraus resultierenden sachlichen Unklarheiten tragen solche (begrifflichen) Unklarheiten eher nicht bei. 24

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

129

Interessant ist nunmehr, dass es trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung im formellen Unmittelbarkeitsverständnis erste Meinungsverschiedenheiten über Umfang und Reichweite eines solchermaßen verstandenen strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes gibt, und zwar in zeitlicher Hinsicht. Insofern ist umstritten, auf welche Stadien des Strafprozesses sich formelle Unmittelbarkeit erstreckt. Wenn man von formeller Unmittelbarkeit als „Unmittelbarkeit der Beweiserhebung“ spricht29, stellt man sich auf den Standpunkt, dass das Prinzip bloß im Stadium der Beweisaufnahme zur Anwendung kommt. Anderenorts spricht man demgegenüber von „Unmittelbarkeit der Verhandlung“ oder „Unmittelbarkeit des Verfahrens“ und verbindet damit die Forderung nach eigener unmittelbarer Wahrnehmung durch das erkennende Gericht in Bezug auf das gesamte (Haupt-)Verfahren.30 Die Beweisaufnahme würde daran als integraler Bestandteil der Hauptverhandlung naturgemäß teilhaben, sodass sich Unterschiede zwischen den einzelnen Auffassungen nicht bei der (eigentlichen) Beweisaufnahme, sondern vielmehr beim (übrigen) Verkehr mit den Verfahrensbeteiligten offen­baren (können).

7. Kapitel

Formelle Unmittelbarkeit de lege lata Die Diskussion um die (zeitliche) Reichweite der formellen Unmittelbarkeit wirkt aber etwas müßig geführt. Man vermisst nämlich ein Eingehen darauf, ob das Gesetz entsprechende Antworten parat hält. Es geht aber unter methodischen Aspekten nicht an, die lex lata allzu sehr zu vernachlässigen. Damit geht es nunmehr um die Rechtsgrundlagen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in seiner formellen Spielart. Dabei ruft es Verwunderung hervor, dass man das geltende Recht in der Diskussion über Umfang und Reichweite formeller Unmittelbarkeit ausblendet. Es gibt nämlich diesbezügliche prozessuale Konstellationen, die im Gesetz eine Regelung erfahren haben und Rückschlüsse auf die Frage zulassen, ob sich dieser Grundsatz bloß auf die Beweisaufnahme erstreckt oder darüber hinaus noch den Verkehr mit den Verfahrensbeteiligten erfasst, und damit die gesamte Hauptverhandlung unter diesem Gebot steht. Dabei liegt es in der Natur des Streits, dass sich solche Regelungen an der Schnittstelle zwischen den Vorschriften zur Beweisaufnahme und den übrigen Normen zur Hauptverhandlung finden lassen (müssen), wenn es sie gibt.

29

Peters, Strafprozeß, S. 487 (Hervorhebung nicht im Original). Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 509 ff., 511; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 326 ff.; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 37; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, S. 43. 30

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Wenn man sich in dieser Weise im Gesetz umtut, findet man sie in der Tat, und zwar am Beginn wie am Ende der Hauptverhandlung. Gemäß § 244 Abs. 1 StPO erfolgt die Beweisaufnahme „nach der Vernehmung des Angeklagten“, sodass diese selbst de lege lata nicht dazu zählt. Gemäß § 258 Abs. 2 StPO steht dem Angeklagten das letzte Wort zu, und zwar „nach dem Schluss der Beweisaufnahme“ und den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Von daher stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise die Einlassungen des Angeklagten im Rahmen seiner Vernehmung oder der Erteilung des letzten Wortes verwertet werden (können). Die Beantwortung dieser Frage lässt Rückschlüsse darauf zu, ob formelle Unmittelbarkeit bloß im Stadium der Beweisaufnahme gilt oder vielmehr die gesamte Hauptverhandlung beherrscht. Dabei soll, schon wegen der zeitlichen Abfolge, mit der Vernehmung des Angeklagten begonnen werden. §§ 243 Abs. 4, 244 Abs. 1 StPO zeigen unmissverständlich, dass sie de lege lata nicht zur Beweisaufnahme gehört. Der Angeklagte ist aber Beweismittel im weiteren Sinne31, wenn er aussagt, sodass seine Einlassung zum Gegenstand der Beweiswürdigung und damit zur Grundlage des Urteils gemacht werden kann.32 Die Selbstverständlichkeit, dass die Einlassung des Angeklagten, obwohl vor der Beweisaufnahme erfolgend, zur Grundlage des Urteils gemacht werden kann, spricht dafür, dass formelle Unmittelbarkeit nicht bloß die Beweisaufnahme erfasst, sondern sich vielmehr auf den Verkehr mit den Verfahrensbeteiligten und damit auf die gesamte Hauptverhandlung erstreckt. Ein anderes Bild vermittelt die strafgerichtliche Praxis im Rahmen der Handhabung von § 258 Abs. 2 StPO. Wenn der Angeklagte, nachdem er das letzte Wort erteilt bekommen hat, ein Geständnis ablegt, kann es nicht ohne weiteres im Urteil zu einem Schuldspruch führen. Das letzte Wort des Angeklagten gehört zwar zum „Inbegriff der Hauptverhandlung“ im Sinne des § 261 StPO und muss von daher bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden.33 Dies könnte dafür sprechen, dass die komplette Hauptverhandlung und nicht bloß die Beweisaufnahme unter dem Gebot formeller Unmittelbarkeit steht. Wenn der Angeklagte aber ein Geständnis im Rahmen des letzten Wortes ablegt, kann es nicht ohne weiteres im Urteil verwertet werden. Vielmehr muss ein Wiedereintritt in die Beweisaufnahme erfolgen.34 Dies erscheint – angesichts der nochmaligen Belehrungspflicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO35 – zwar durchaus angezeigt. Soweit es aber die Reichweite formeller Unmittelbarkeit betrifft, konterkariert es etwas das zu § 244 31

BGHSt 2, 269, 270; 28, 196, 198; Meyer-Goßner, § 244 Rdnr. 2 sowie Dencker, ZStW 102 (1990), 51, 54 m. w. N. 32 Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 5; Park, StV 1998, 59, 61. Vgl. ferner noch Fezer, JR 1980, 83: „So gesehen unterscheidet sich die Einlassung des Angeklagten nicht von der Zeugenaussage.“ 33 BGHSt 11, 74, 74; BGH StV 1984, 402; BGH StraFo 2010, 71; Meyer-Goßner, § 258 Rdnr. 1. 34 BGH, 2 StR 88/75 vom 11.6.1975 (Zitat nach Meyer-Goßner, § 258 Rdnr. 1 a. E.); Julius, in: HK, § 258 Rdnr. 17. 35 Vgl. dazu bloß Meyer-Goßner, § 243 Rdnr. 21.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Abs. 1 StPO gefundene Ergebnis. Insofern lässt § 258 Abs. 2 StPO ein abschließendes Urteil in der Frage nach der zeitlichen Reichweite von formeller Unmittelbarkeit nicht zu. In diesen Zusammenhang gehört des Weiteren noch die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Ausführungen des Strafverteidigers, welche er für den – in der Hauptverhandlung in solchen Fällen zumeist schweigenden – Angeklagten abgibt, im Rahmen der Beweiswürdigung verwertet werden dürfen, insbesondere wenn darin die Täterschaft des Angeklagten eingeräumt wird. Tat- und Revisionsgerichte sehen sich immer wieder mit solchen Konstellationen befasst.36 Dabei stellen sich vielfältige Fragen, etwa ob und auf welche Weise eine schriftliche Einlassung zum Inbegriff der (mündlichen) Hauptverhandlung gemacht werden muss. Darauf kommt es aber im vorliegenden Zusammenhang nicht an, weil es Aspekte der Beweisaufnahme berührt (Einlassung als präsentes Beweismittel, Verlesung kraft Amtsaufklärungspflicht oder aufgrund eines Beweisantrags)37, in deren Stadium formelle Unmittelbarkeit in jedem Falle zu beachten ist. Interessant ist die Konstellation, wie sie der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 23.2.2000 zugrunde lag.38 Nachdem in der Beweisaufnahme belastende Zeugenaussagen gemacht wurden, gab der Verteidiger in seinem Schlussvortrag eine Erklärung ab, welche ebenfalls ein Indiz für die Täterschaft des Angeklagten lieferte. Das Tatgericht hat diese im Rahmen der Beweiswürdigung als Geständnis des Angeklagten verwertet. Dies wurde vom Senat nicht beanstandet. Schließlich hatte der Verteidiger „die Äußerungen ausdrücklich für den Angeklagten abgegeben, und dieser hatte sich in seinem letzten Wort den Ausführungen seines Verteidigers angeschlossen“. Eine solche Form der Verwertung im Rahmen von § 261 StPO verstößt bloß für den Fall nicht gegen den strafprozessualen Grundsatz formeller Unmittelbarkeit, wenn man diesen nicht auf die Beweisaufnahme beschränkt, sondern vielmehr auf die gesamte Hauptverhandlung erstreckt. Denn erwiesenermaßen sind die Schlussvorträge nicht mehr Bestandteil der Beweis­ aufnahme (§ 258 Abs. 1 StPO: „nach dem Schluss der Beweisaufnahme“). Die Betrachtung der vorgenannten Konstellationen hat gezeigt, dass das Gesetz, jedenfalls seine Handhabung durch die Strafgerichte, einmal dafür zu sprechen scheint, formelle Unmittelbarkeit auf das Stadium der Beweisaufnahme zu beschränken (Wiedereintritt in die Beweisaufnahme nach geständiger Einlassung im „letzten Wort“). In anderen Zusammenhängen wird sie dagegen auf die komplette Hauptverhandlung erstreckt (Einlassung des Angeklagten gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO und Verteidigererklärung im Schlussvortrag). Insofern lassen diese speziellen Konstellationen kaum Rückschlüsse auf die allgemeine Frage nach der zeitlichen Reichweite formeller Unmittelbarkeit zu. 36

s. etwa die Urteile in StV 2007, 620 ff. – jeweils m. w. N. Vgl. zum Ganzen näher Schlothauer, StV 2007, 623 sowie kritisch Olk, JZ 2006, 204 – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. 38 BGH, Beschl. vom 23.2.2000 – 1 StR 605/99, NStZ-RR 2000, 210 (Ls). 37

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Dabei weist das Beispiel der Verwertung von – die Täterschaft des Angeklagten einräumenden – Ausführungen der Verteidigung über das Problem der zeit­ lichen Reichweite formeller Unmittelbarkeit hinaus. Sie sind bekanntlich bloß für den Fall verwertbar, dass der Angeklagte den Verteidiger zu dieser Erklärung ausdrücklich bevollmächtigt oder die Erklärung nachträglich genehmigt, indem er zu verstehen gibt, die Äußerungen des Verteidigers als seine verstanden wissen zu wollen.39 Einer solchen Billigung seitens des Angeklagten bedarf es, weil das Strafverfahrensrecht eine § 85 ZPO vergleichbare Vorschrift nicht kennt. Ob der Angeklagte sich die Ausführungen des Verteidigers, insbesondere Erklärungen zum Tatvorwurf oder sogar dessen Einräumung, als eigene Einlassung zurechnen lassen will, lässt sich ohne weiteres in Erfahrung bringen. Schließlich ist er zur Anwesenheit nicht bloß berechtigt, sondern überdies zur Teilnahme an der „Verhandlung“ verpflichtet (§ 231 StPO). Die Vorschrift dient in Ergänzung des § 230 StPO dazu, die Anwesenheit des Angeklagten während der ganzen Hauptverhandlung sicherzustellen.40 Hierin unterscheidet sich das Strafverfahren fundamental vom Zivilprozess, bei denen die Parteien nicht anwesend sein müssen. Hierfür bedarf es vielmehr einer richterlichen Anordnung gemäß § 141 ZPO, „wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint“. Man könnte nunmehr meinen, dass aus dieser Verschiedenheit folgt, dass sich formelle Unmittelbarkeit im Strafverfahren auf die gesamte Hauptverhandlung erstreckt und damit auf den Verkehr mit den Verfahrensbeteiligten, wohingegen es sich im Zivilprozess anders verhält. Ein solcher Schluss wäre indes voreilig. Denn ob und in welchem Umfang formelle Unmittelbarkeit im Zivilverfahrensrecht verankert ist41, bedarf einer näheren Untersuchung.

I. Unmittelbarkeit im Zivilprozess Eine solche Untersuchung erscheint schon deshalb angezeigt, weil Unmittelbarkeit als Begriff wie als (Rechts-)Prinzip, wie die folgenden Ausführungen im Einzelnen noch zeigen werden, im Zivilverfahrensrecht – anders als im Strafprozessrecht42 – mehrfach expressis verbis im Gesetz genannt wird und damit unmittelbar im geltenden Recht selbst loziert ist. Gleichwohl gehen die Meinungen über Inhalt

39

BGH StV 2007, 620 ff. m. w. N. Vgl. statt aller bloß Gmel, in: KK, § 231 Rdnr. 1. 41 An dieser Stelle wird sich auf das Zivilverfahren beschränkt, weil dessen maßgeblichen Beweisnormen (§§ 355, 375 ZPO) im Verwaltungsgerichtsprozess und bei einer förmlichen Beweisaufnahme im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ebenfalls zur Anwendung kommen (§§ 98 VwGO, 30 Abs. 1 FamFG). Vgl. zu diesen beiden Gerichtszweigen aber noch später im 4. Teil, 2. Kapitel unter II. und III. 42 Vgl. ausführlich zu (denkbaren) Rechtsgrundlagen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes sogleich im 2. Kapitel unter II. sowie noch an späterer Stelle im 4. Teil, 2. Kapitel unter IV. 40

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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und Umfang eines zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auseinander, wobei Unmittelbarkeit zunächst in verschiedener Hinsicht verstanden wird. Zunächst geht es um das Verhältnis von Verhandlung, Beweisaufnahme und Entscheidung. Dies wird mit dem Begriff der allgemeinen Unmittelbarkeit umschrieben.43 Sie zerfällt wiederum in zwei Teilaspekte. Zum einen wird zeitliche Unmittelbarkeit durch § 310 Abs. 1 ZPO sichergestellt, indem er ein zeitlich rasches Urteil im Anschluss an die Verhandlung gewährleisten soll.44 Im Übrigen wird Unmittelbarkeit im zeitlichen Sinne noch dahingehend interpretiert, dass sie das Gebot beinhaltet, die erhobenen Beweise im unmittelbaren Anschluss an die Beweisaufnahme zu würdigen.45 Es wird de lege lata durch § 285 Abs. 1 ZPO verwirklicht, wonach die Parteien „über das Ergebnis der Beweisaufnahme […] unter Darlegung des Streitverhältnisses zu verhandeln“ haben. In dieser Hinsicht ist der Zivilprozess von zeitlicher Unmittelbarkeit beherrscht. § 309 ZPO bestimmt des Weiteren das Erfordernis persönlicher Unmittelbarkeit46, wonach das Urteil „nur von denjenigen Richtern gefällt werden [darf], welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben“. Dies ist eine weitere Richtung der (allgemeinen) Unmittelbarkeit im Zivilverfahren. In dieser Hinsicht knüpft die Vorschrift einerseits an den Grundsatz der Unmittelbarkeit an, schränkt diesen andererseits aber zugleich wieder ein. Sie verlangt nämlich nicht, dass die entscheidenden und das Urteil fällenden Richter am gesamten Rechtsstreit teilgenommen haben müssen47, sondern lediglich an der letzten mündlichen Verhandlung vor Urteilsfällung. Gleichwohl ist umstritten, ob dies für eine bereits erfolgte Beweisaufnahme ebenfalls zu gelten hat und insofern eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes anzunehmen ist. Lediglich vereinzelt wird es abgelehnt, dass sich der neue Richter eine bereits durchgeführte Beweiserhebung zu Eigen machen darf.48 43

Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 2. Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 2; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 4; Musielak, in: MünchKommZPO, § 310 Rdnr. 1 mit Rdnr. 4; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 310 Rdnr. 5. Auf diesen Aspekt des Unmittelbarkeitsgedankens wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Er wird im Strafprozess zum einen durch §§ 268 Abs. 3, 275 Abs. 1 StPO gewährleistet, die insofern gewissermaßen mit § 310 ZPO korrespondieren. Im Übrigen ist auf § 229 StPO und dessen Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz hinzuweisen (vgl. dazu näher Mandla, Unterbrechung der strafrechtlichen Hauptverhandlung, S. 155 ff.). 45 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1. Wenn er insofern § 370 ZPO als gesetz­ liche Grundlage für diesen (Teil-)Aspekt zeitlicher Unmittelbarkeit nennt, überzeugt es aber eher nicht. Er regelt die „Fortsetzung der mündlichen Verhandlung“ und steht insofern tatsächlich im unmittelbaren Zusammenhang mit zeitlicher Unmittelbarkeit, aber eher in Nähe zum – oben im Text – erläuterten ersten (Teil-)Aspekt zeitlicher Unmittelbarkeit. Soweit es das Strafverfahren betrifft, stellt sich § 257 StPO als gewisses Pendant zu § 285 Abs. 1 ZPO dar. 46 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 2. 47 Vgl. statt aller bloß Musielak, in: MünchKommZPO, § 309 Rdnr. 1 m. w. N. 48 s. zum Folgenden Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 12. Vgl. in dieser Richtung wohl ferner noch Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 89 ff. 44

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Als Begründung wird angeführt, dass insbesondere die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen ein höchstpersönlicher Vorgang ist. Dabei könne das Aussageverhalten eines Zeugen niemals erschöpfend und ohne Verlust an Lebendigkeit und Anschaulichkeit in einem Protokoll wiedergegeben werden. Diese Auffassung ist allerdings in der Minderheit geblieben. Nach h. M. ist es demgegenüber mit dem Unmittelbarkeitsprinzip grundsätzlich vereinbar, wenn an der Urteilsfällung ein anderer Richter mitwirkt als an der Beweisaufnahme. Insbesondere muss sie nicht zwingend wiederholt werden.49 Gleichwohl erfährt dies gewisse Einschränkungen. Wenn sich etwa der neue Richter der Einschätzung des ausgeschiedenen Richters über die Glaubwürdigkeit der Aussageperson anschließen will, müssen die diesbezüglichen Angaben im Protokoll über die Zeugenvernehmung enthalten und in die Verhandlung eingeführt worden sein.50 Wenn er eine abweichende Beurteilung vornehmen will, darf dies nicht bloß im Urteil erfolgen. Vielmehr muss die Zeugenvernehmung wiederholt werden.51 Gleiches gilt, wenn der persönliche Eindruck von der Beweisperson erheblich ist, weil in einer solchen Situation maßgeblich auf deren Glaubwürdigkeit abgestellt wird.52 Insofern bildet der Grundsatz der Beweiswürdigung ein gewisses Regulativ und Korrektiv in Konstellationen des Richterwechsels, weil er der unreflektierten Übernahme von Beweisergebnissen einer nicht selbst durchgeführten Beweisaufnahme etwas Einhalt gebietet. Die gesetzliche Grundlage für eine neuerliche Beweisaufnahme und Zeugen­ vernehmung bildet dabei § 398 Abs. 1 ZPO. Danach kann das Prozessgericht „nach seinem Ermessen die wiederholte Vernehmung eines Zeugen anordnen“. Dabei handelt es sich insofern um eine Besonderheit des – unter Parteiherrschaft stehenden53 – Zivilverfahrens, als dass die Wiederholung nicht eines neuerlichen 49 BGHZ 32, 233, 234; 53, 245, 257; BGH NJW 1979, 2518; OLG Hamm MDR 1993, 1235; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 309 Rdnr. 4 mit § 355 Rdnr. 7; Greger, in: Zöller, § 355 Rndr. 6; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 6; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 6 – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. Vgl. ferner noch Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 71 ff. 50 BGH JZ 1984, 186, 187; NJW 1995, 1292, 1293; NJW 1997, 1586, 1587; OLG Hamm MDR 1993, 1235, 1236; OLG Düsseldorf NJW 1992, 187, 188; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 6; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 7 – jeweils m. w. N. 51 BGH NJW 1997, 1586, 1587; NJW-RR 1997, 506, 507; OLG Koblenz NVersZ 1998, 123; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 6 – jeweils m. w. N. 52 BGH NJW 1997, 1586, 1587; OLG Hamm MDR 1993, 1235, 1236; OLG Koblenz NVersZ 1998, 123; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 7. 53 Vgl. dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76 Rndr. 1 ff. mit § 77 Rdnr. 3, 7 ff.; Jauernig, Zivilprozessrecht, S. 67 ff.; Lüke, Zivilprozessrecht, § 2 Rdnr. 6 ff.; Paulus, Zivilprozessrecht, Rdnr. 210 ff.; Schellhammer, Zivilprozess, Rdnr. 1163 ff.; Thomas/Putzo, ZPO, Einl. Rdnr. 1 ff.; Greger, in: Zöller, ZPO, vor § 128 Rdnr. 9 ff.; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, vor § 128 Rdnr. 18 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rdnr. 138 ff.; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rdnr. 274 ff.; Musielak, in: ders., ZPO, Einl. Rdnr. 35 ff. Ganz in diesem Sinne spricht RGZ 151, 93, 98 vom Verhandlungsgrundsatz als „dem obersten Grundsatz der Prozeßordnung“ (Hervorhebung nicht im Original).

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Beweisantrags einer Partei bedarf, sondern kraft des unmissverständlichen Wortlauts von Amts wegen erfolgen kann. In anderer Hinsicht könnte § 398 Abs. 1 ZPO dagegen zu einem Missverständnis verleiten. Wenn darin die Rede davon ist, dass das Prozessgericht „nach seinem Ermessen“ verfährt, handelt es sich dabei nicht um ein freies Ermessen. Wenn es sein Urteil maßgeblich auf die (abweichende) Beurteilung der Glaubwürdigkeit stützen will, darf es dies nicht von selbst tun, sondern muss vielmehr sein Ermessen pflichtgemäß dahingehend ausüben, dass ein solcher Zeuge nochmals vom Gericht in seiner Neubesetzung zu vernehmen ist.54 Quintessenz dessen ist, dass eine Wiederholung der Beweisaufnahme nach einem Richterwechsel vor dem Hintergrund eines zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes zwar nicht zwingend durchgeführt werden muss, wohl aber im Hinblick auf die freie Beweiswürdigung erforderlich sein kann. In einem Punkt ist man sich dagegen über die Konsequenzen eines Richterwechsels einig: Er lässt das bisherige Parteivorbringen unberührt. Es bleibt ebenso wirksam wie ein Geständnis, Anerkenntnis, Verzicht etc.55 Damit wird die im Strafverfahren streitige Frage über die (zeitliche) Reichweite des formellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Zivilverfahren dahingehend beantwortet, dass er sich nicht auf den Verkehr mit den Parteien und übrigen Verfahrensbeteiligten erstreckt, sondern vielmehr ausschließlich auf die Beweisaufnahme beschränkt ist. 1. § 355 ZPO als Regelung zur formellen Unmittelbarkeit Dies sieht sich im Rahmen der weiteren Betrachtungen bestätigt. Als maßgebliche Norm zur Verankerung eines zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes wird nämlich § 355 ZPO angesehen. Darin hat der Gedanke der Unmittelbarkeit Eingang in das Zivilprozessrecht gefunden und dabei in einer deutlichen Art und Weise, wie sie dem Strafprozessrecht nicht geläufig ist. Schon kraft seiner gesetzlichen Überschrift regelt § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO die (formelle) „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“. Danach erfolgt die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht. Eine solche unmissverständlich klare Regelung zur Unmittelbarkeit, darüber herrscht Einigkeit56, sucht man im Strafverfahrensrecht vergebens. Schon dieser Umstand für sich lässt es angezeigt erscheinen, den Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivilprozess sowie seine gesetzlichen Grundlagen samt deren Entstehungs­ geschichte und die diesbezügliche Rechtsprechung und Literatur einmal näher zu beleuchten.

54

BGH NJW 1991, 1180; NJW 1997, 1586, 1587; NJW-RR 1994, 1537; NJW-RR 1997, 505, 506; Weth, JuS 1991, 34, 35. 55 Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 309 Rdnr. 14. 56 s. die Nachw. in Einl. bei und in Anm. 45 (S. 23).

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Im Schrifttum ist man sich einig, dass formelle Unmittelbarkeit durch § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO verwirklicht wird.57 Er ist sedes materiae des zivilprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips.58 Dabei verwendet man mit Blick auf seine Bedeutung solche Superlative, wie sie im strafprozessualen Schrifttum für das Unmittelbarkeitsprinzip ebenfalls gebräuchlich (geworden) sind59. Es ist die Rede von seiner großen Bedeutung für die Tatsachenfeststellung als „einen der wichtigsten Prozessgrundsätze überhaupt“, dessen Nichtbeachtung für die Rechtspflege äußerst gefährlich ist.60 Die Vorschrift enthält „einen der tragenden Grundsätze der Beweisaufnahme“.61 Er zählt zu den „wichtigsten Maximen des Beweisrechts“.62 Anderenorts wird er als ein „Grundprinzip des deutschen Zivilprozesses“ bzw. „Grundpfeiler des Verfahrensrechts“ charakterisiert.63 Geradezu euphorisch spricht man noch vom „Lebensprinzip“ des heutigen Zivilprozesses.64 Etwas nüchterner wird er an anderer Stelle als „ein vom gesunden Menschenverstand gebotener Verfahrensgrundsatz“ bezeichnet.65 Von daher wird die Bedeutung der Unmittelbarkeitsmaxime im zivilprozessrechtlichen Schrifttum sehr stark betont. In der Rechtsprechung sieht man es ebenso. Das Reichsgericht sprach in dieser Hinsicht zunächst von einem fundamentalen Prinzip66, später sogar vom „beherrschenden Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“ als dem Kernpunkt des Verfahrens, sodass allein seine strenge und gewissenhafte Durchführung dem Geiste des heutigen Verfahrens entspricht.67 Das OLG Köln führt im selben 57 Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 59; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 39; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 27 sowie aus der Kommentarliteratur etwa Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 5; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5; Hk-ZPO/Eichele, § 355 Rdnr. 1 – jeweils m. w. N. Verschiedentlich spricht man statt von formeller von subjektiver Unmittelbarkeit (Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 9; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 1). 58 Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 144. 59 s. dazu die Nachw. in Einl. bei und in Anm. 3 ff. (S. 17). 60 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 5 mit Rdnr. 7. 61 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 1. Vgl. in diesem Sinne ferner noch Weth, JuS 1991, 34; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 368. 62 Lindacher, FamRZ 1967, 195. 63 Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 2; Werner/Pastor, NJW 1975, 329, 331. 64 Wach, Grundfragen und Reform des Zivilprozesses, S. 68. 65 Staud, DJ 1934, 512. 66 RGZ 14, 383, 387. 67 RGZ 149, 287, 290 f. Seine eigene Aussage wird freilich dadurch etwas konterkariert, dass eine weder strenge noch gewissenhafte Durchführung folgenlos bleibt, indem § 355 Abs. 2 ZPO nicht bloß im laufenden Verfahren Rechtsschutz versagen, sondern darüber hinaus die Bedeutung haben soll, dass eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes weder mit der Berufung noch mit der Revision angegriffen werden kann. Zur Begründung dessen führt es aus: „Vielleicht hätte es nahegelegen, dem durch Handhabung der Ausnahmebestimmungen des früheren § 375 ZPO praktisch ausgeschaltet gewesenen, jetzt aber zum Kernpunkt des neuen Verfahrens gemachten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme durch Aufhebung der Vorschrift des § 355 Abs. 2 ZPO auch den verfahrensrechtlichen Schutz der Berufung und der Revision zu sichern. Der Gesetzgeber hat jedoch die klare Vorschrift des § 355 ZPO nicht

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Sinne aus, dass die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit „fundamentale Prinzipien“ des Zivilprozessrechts darstellen.68 Sehr emphatisch hat sich noch Heinrich in diesem Sinne über das Unmittelbarkeitsprinzip geäußert69: „Die (formelle) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme schafft die geeignete Grundlage für die Beweiswürdigung des Richters, weil regelmäßig nur derjenige am besten über den Wert und Erfolg eines Beweises zu urteilen vermag, der bei der Beweiserhebung anwesend ist, also den Zeugen, den Sachverständigen oder die zu vernehmende Partei hören und fragen kann, Einsicht in die vorgelegte Urkunde nimmt oder das Augenscheinsobjekt bewertet. Die Überlegenheit der unmittelbaren Beweisaufnahme gegenüber einer bloß mittelbaren ist so offenkundig, dass dieses Prinzip niemals – weder bei der Entstehung der ZPO noch danach – ernsthaft in Frage gestellt worden ist.“

In dieser Hinsicht wird Heinrich aber durchaus widersprochen, wenngleich bislang bloß eher vereinzelt und von daher vielleicht nach wie vor nicht ernsthaft. Kritische Stimmen sehen in Unmittelbarkeit eine bloße Fiktion und „Idee aus einer vergangenen Zeit“70. Von daher ist sie brüchig geworden und sieht sich – wie das strafprozessuale Pendant71 – Anfeindungen ausgesetzt, worin ein weiterer Grund liegt, sich der Entwicklung des Unmittelbarkeitsgedankens im Zivilverfahren etwas näher anzunehmen. 2. Entstehungsgeschichte und weiterer gesetzlicher Werdegang der Vorschriften zum zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz Dabei ist mit der Entstehungsgeschichte und der weiteren gesetzgeberischen Entwicklung der Vorschriften zum zivilprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip zu beginnen. Als man die Zivilprozessordnung verabschiedet hat, war man sich der Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes voll bewusst. Dies zeigt sich insbesondere in der damaligen Begründung zur Vorschrift über die kommissarische Zeugenvernehmung.72 Die „als Regel vorgeschriebene Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor dem Prozeßgerichte ist nach dem angenommenen Prinzip der freien Beweiswürdigung von vorzugsweiser Bedeutung für den Zeugenbeweis“. beseitigt und im Vertrauen auf eine nunmehr strenge Befolgung des Grundsatzes wohl auch nicht beseitigen wollen, sondern mag ihre Aufrechterhaltung im Sinne einer weiterhin ebenfalls wünschenswerten Vereinfachung des Berufungs- und des Revisionsverfahrens für angebracht gehalten haben.“ Vgl. zu Konsequenzen eines Verstoßes gegen den zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz im Übrigen noch sogleich unter 5. 68 OLG Köln NJW 1977, 1159. Ähnlich spricht Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 26 von „der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme für ein geordnetes und rechtsstaatliches Verfahren, für die Prozeßbeschleunigung und die materielle Rechtspflege“. 69 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1 (Hervorhebung im Original). 70 Geiger, ZRP 1998, 365, 367. 71 Vgl. die Nachw. in Einl. bei und in Anm. 10 ff. (S. 18 ff.). 72 Zu den folgenden Zitaten s. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 309.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Die Norm verleiht, heißt es an derselben Stelle weiter, „unter möglichster Einschränkung der Ausnahmefälle […] diesem Grundsatze Ausdruck“. Damit verbanden die Gesetzesverfasser noch die Forderung an Richter, „daß die vom Entwurf vorausgesetzte unmittelbare Zeugenvernehmung vor dem Prozeßgerichte nur in solchen Fällen unterbleiben wird, in welchen das Vorhandensein einer […] Ausnahme klar vorliegt“. Das Vertrauen in die Richterschaft sah sich in der Folgzeit allerdings enttäuscht. Die Regelung der kommissarischen Vernehmung wurde nämlich sehr weitherzig ausgelegt und überaus extensiv gehandhabt. Das Reichsgericht monierte etwa, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit durch die praktische Handhabung der Ausnahmevorschrift in weitem Umfang ausgeschaltet gewesen war.73 Es hat in dieser Hinsicht vor einer allzu großzügigen und damit rechtsmissbräuchlichen Anwendung der Norm gewarnt.74 Insofern hat es sich die im zeitgenössischen Schrifttum wiederholt ausgesprochenen Bedenken zu eigen gemacht.75 Heinrich hat diese Entwicklung rückblickend mit den Worten beschrieben, dass „die Praxis zeitweilig so großzügig von den Ausnahmemöglichkeiten Gebrauch gemacht [hat], die das Gesetz zulässt, dass entgegen den Absichten des Gesetzgebers die Ausnahme einer mittelbaren Beweisaufnahme zur Regel verkehrt wurde“.76 Ebenso plastisch wird diese Entwicklung noch mit der Bemerkung umschrieben77, dass die Klagen über die unzureichende Beachtung des Unmittelbarkeitsprinzips ebenso alt wie das Prinzip selbst sind. Der Gesetzgeber hat die Kritik an der Praxis durch das Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933 aufgegriffen.78 Bis dahin sah die Vorschrift über die kommissarische Vernehmung vor, dass sie erfolgen „kann“, wenn eine der genannten Ausnahmen gegeben war. Nunmehr heißt es seit jenem Gesetz aus dem Jahre 1933, dass sie „nur übertragen werden“ darf, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Damit wird das vom Gesetzgeber vorausgesetzte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO einerseits und kommissarischer Zeugenvernehmung andererseits (wieder) stärker betont und nunmehr expressis verbis im Gesetz selbst verankert. Das Reichsgericht hat dies nachdrücklich begrüßt. Das Gesetz hat den Grundsatz „in verstärktem Maße wieder zur Geltung gebracht“ und zum „Kernpunkt 73

RGZ 149, 287, 289 ff. RGZ 159, 235, 242 mit Nachw. zur älteren Rspr. 75 Nachw. hierzu bei Werner/Pastor, NJW 1975, 329, 330 in Fn. 13. 76 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1 m. w. N. in Fn. 6. Vgl. ferner noch die Nachw. bei Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 9 in Fn. 33. 77 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 7 mit Fn. 8. 78 Zu den folgenden Zitaten s. RGBl. I S. 780. Auf diesen Vorspruch wird im zivilprozessualen Schrifttum verschiedentlich expressis verbis hingewiesen, vgl. etwa Rosenberg, ZZP 58 (1934), 283, 284; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 13; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 19. 74

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des neuen Verfahrens“ gemacht.79 Mehr denn je würde der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme das Prozessrecht beherrschen.80 „Zur Sicherung einer schnellen und volksnahen Rechtsprechung, wie sie das Gesetz vom 27. Oktober 1933 erstrebt, ist der Grundsatz wie kein anderer geeignet. Daher entspricht ohne Zweifel allein seine strenge und gewissenhafte Durchführung dem Geiste des heutigen Verfahrens.“81 Angesichts solcher Worte und des Datums des Gesetzes ist jedoch zunächst Zurückzuhaltung zu üben, bevor man seine Bedeutung (über-) bewertet. Es handelt sich um ein von der damaligen Reichsregierung beschlossenes Gesetz im Zuge der sog. Ermächtigungsgesetzgebung. Materiell-strafrechtlich ist es noch heute von Bedeutung. Es hat nämlich die Wahrheitspflicht der Parteien in § 138 Abs. 1 ZPO eingeführt, die nach wie vor als Begründung für die Strafbarkeit des Prozessbetrugs herangezogen wird.82 An dieser Stelle soll es freilich nicht um die Fortgeltung von NS-Strafrecht und damit verbundene Probleme gehen83, sondern vielmehr ausschließlich um die zivilprozessuale Bedeutung des Gesetzes. In einer amtlichen Präambel zum (eigentlichen) Gesetz wird betont84, dass das Verfahren mit „voller Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ auszugestalten sei, weil dem Richter bloß auf diese Weise „eine sichere Findung der Wahrheit ermöglicht“ wird. Dies wiederum sei vom übergeordneten Ziel einer „volkstümlichen Rechtspflege“ geleitet, die nicht bloß den Parteien, „sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient“. Die nationalsozialistische Ideologie tritt in diesen Worten unverkennbar zu Tage. Das Gesetz geht jedoch auf Vorarbeiten zurück. Es knüpft an einen Entwurf aus dem Jahre 1931 an, der wiederum auf Arbeiten der sog. Zivilprozesskommission fußt, die im Jahre 1920 gebildet wurde.85 Insofern wäre es übereilt, das Gesetz von 1933 als Ausfluss nationalsozialistischer Partei- und Rechtspolitik zu verbrämen. Der Entwurf selbst wie später das Gesetz haben eine umfangreiche Untersuchung durch Rosenberg erfahren. Nachdem er zunächst ein eher ungünstiges Gesamturteil über den Entwurf fällt, befasst sich Rosenberg anschließend unmittelbar mit der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Dabei „soll rühmend hervor­gehoben werden die Energie, mit der die Unmittelbarkeit der Beweis­aufnahme durchge 79

RGZ 149, 287, 289 ff. RGZ 159, 235, 242. 81 RGZ 149, 287, 290. 82 s. dazu Fahl, JURA 1996, 74, 75. 83 Vgl. hierzu allg. Vogel, ZStW 115 (2003), 638 ff. sowie zu speziellen Fragen etwa Lüderssen, Festschrift für Hanack, S. 487 ff. (Wiederkehr der Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken); Hirsch, JZ 2007, 494 ff. (subjektive Versuchstheorie als ein Wegbereiter der NS-Strafrechtsdoktrin) sowie Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 101 (Verbrechen als Pflichtverletzung versus Verbrechen als Rechtsgutsverletzung). 84 Zu den folgenden Zitaten s. RGBl. I S. 780. Auf diesen Vorspruch wird im zivilprozes­ sualen Schrifttum verschiedentlich expressis verbis hingewiesen, vgl. etwa Rosenberg, ZZP 58 (1934), 283, 284; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 13; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 19. 85 Vgl. dazu näher Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185, 187 f. 80

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setzt wird“.86 Der Entwurf samt seiner Begründung habe „die Bedeutung der Unmittelbarkeit des Verfahrens in ausgezeichneter und schlechthin überzeugender Weise dargelegt“.87 Dies sei „vortrefflich und schlechthin unwiderlegbar“.88 Von daher hat das Gesetz vom 27. Oktober 1933 die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme „mit Recht zu einem Hauptstück seiner Reform gemacht“.89 Denn schließlich ist sie „von der allergrößten Bedeutung für den Prozeß“.90 Angesichts dieser Vorgeschichte, die bis in die Weimarer Zeit zurückreicht, geht es nicht an, das Gesetz von 1933 und den darin gemachten Vorspruch über die Rolle der Unmittelbarkeit als nationalsozialistische Ideologie abzutun. Vielmehr hat sich darin eine schon zuvor und überdies unisono betonte Bedeutung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme versinnbildlicht, die zu einer Stärkung dieser Verfahrensmaxime durch eben jenes Gesetz geführt hat. Von Seiten des Gesetzgebers ist diese Entwicklung weiter vorangetrieben worden. Durch das sog. Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990 wurde § 375 ZPO um eine weitere Voraussetzung für sämtliche darin geregelten Fälle der kommissarischen Zeugenvernehmung ergänzt. Zusätzlich ist seither erforderlich, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlaufe der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“.91 Durch diese Ergänzung und das Gesetz überhaupt wird „der aus § 355 ZPO abzuleitende Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme betont“, wie es in den Gesetzesmaterialien heißt.92 86

Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185, 189. Ebd., S. 190. 88 Ebd., S. 325. An gleicher Stelle betont Rosenberg „den für die Beweiswürdigung unentbehrlichen unmittelbaren Eindruck von dem Verlaufe und dem Inhalt der Beweisaufnahme“, womit er auf Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit anspielt, vgl. dazu sogleich oben im Text unter 3. 89 Rosenberg, ZZP 58 (1934), 283, 300. An selber Stelle bedient sich Rosenberg noch der damals nicht selten anzutreffenden blumenreichen Sprache: „Die Unmittelbarkeit beflügelt den Prozeß, die Mittelbarkeit gleicht dem grundlosen Sandweg, in dem sich die Räder des Prozeßwagens nur mühsam fortbewegen. Die Unmittelbarkeit ist Arbeit im Freien, in Sonne und frischer Luft; die Mittelbarkeit begräbt den Richter unter Bergen von papiernen Protokollen und erstickt ihn im Aktenstaub.“ An früherer Stelle verglich Rosenberg die Mittelbarkeit im selben Sinne mit den (schlechten) „Ernährungsersatzmittel(n), zu denen uns der Weltkrieg zwang“, Rosenberg, ZZP 57 (1934), 185, 326. Für die späteren Überlegungen soll nicht verhehlt werden, dass Rosenberg an dieser Stelle einen prozessordnungsübergreifenden Ansatz insofern wählt, als er für die Güte der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme die Erfahrungen vor den Strafgerichten anführt. 90 Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185, 325. 91 BGBl. I S. 2847. Vgl. dazu näher unter 5. b) (S. 223 ff.). 92 BT-Drs. 11/3621 S. 38. Vor diesem Hintergrund überrascht freilich die gleichzeitige Einführung von § 375 Abs. 1a ZPO. Er lässt die kommissarische Zeugenvernehmung durch ein Mitglied des Prozessgerichts – als beauftragten Richter (§ 361 ZPO) – zu, „wenn dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Prozessgericht zweckmäßig erscheint“. An der Vorschrift hat sich heftige Kritik entzündet. Dadurch würde das eigentliche Ziel des Gesetzes, nämlich den Unmittelbarkeitsgedanken (wieder) stärker zu betonen, geradezu konterkariert (Berger, in: 87

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Zum wiederholten Male ist auf diese Weise – anders als im Strafverfahrensrecht93 – die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozessrecht expressis verbis unmittelbar im Gesetz selbst loziert (worden). 3. Sinn und Zweck von (formeller) Unmittelbarkeit im Zivilprozess Im Ausgangspunkt muss die unterschiedliche Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Straf- und Zivilverfahrensrecht allerdings Verwunderung hervorrufen. Sinn und Zweck der Verfahrensmaxime werden nämlich in beiden Rechtsgebieten durchaus ähnlich bis identisch betrachtet. Im zivilprozessrechtlichen Schrifttum führt man – unter Vernachlässigung des Aspekts der Prozessbeschleunigung als einer Funktion des Unmittelbarkeitsprinzips94 – diesbezüglich aus, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz die Möglichkeit persönlicher Beweiswürdigung durch das entscheidende Gericht sichern soll95, worin man gleichfalls den Telos des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgebots erblickt96. In dieser Hinsicht steht es, wie es in der zivilprozessualen (Kommentar-)Literatur weiter heißt, im engen Zusammenhang mit der freien Beweiswürdi-

Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 2; Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1 a. E.). Der Gesetzgeber verhehlt dies keinesfalls, sieht aber die Vorschrift als mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit vereinbar an, weil Ausnahmen von diesem Grundsatz zugunsten anderer Prinzipien zulässig seien (BT-Drs. 11/4155 S. 10). Im Übrigen wird das Prinzip jedenfalls insofern gewahrt, als dass Zweckmäßigkeit und Verfahrensvereinfachung für sich nicht genügen, sondern hinzukommen muss, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sach­ gemäß zu würdigen vermag“, vgl. dazu näher unter 5. b). 93 s. dazu bei und in Anm. 45 (S. 23). 94 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 6. Dass Unmittelbarkeit ein geradezu „unentbehrliches Mittel der Prozeßbeschleunigung“ ist [Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185, 326], wurde schon in der Reichsjustizkommission bei den Beratungen zur Zivilprozessordnung bemerkt (s. Abg. Lasker bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 2: „Durch die Ausdehnung statthafter kommissarischer Vernehmungen werde eine größere Raschheit der Prozesse nicht erzielt werden, vielmehr vermehre die Zeugenvernehmung durch Ersuchen auswärtiger Richter unzweifelhaft die Summe der richterlichen Geschäfte.“). Diese Erkenntnis überrascht auf den ersten Blick insofern, als dass man eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes u. a. mit der Begründung fordert, dass er den Strafprozess unnötig in die Länge ziehen würde. Auf den zweiten Blick erklärt sich aber die vermeintliche Diskrepanz. Im Zivilverfahren mangelt es an vorprozessualen Zeugenvernehmungen. Sie erfolgen von amtlicher Seite erst durch das (Prozess-)Gericht. Wenn es nunmehr die Zeugenvernehmung einem anderen Richter überträgt, ist damit in der Tat ein zeitlicher Verlust ver­bunden. Im Strafprozess gibt es hingegen die protokollierten Zeugenvernehmungen aus dem Ermittlungsverfahren. Sie im Hauptverfahren zu verlesen, könnte wiederum tatsächlich zu einem zeit­ lichen Vorteil im Vergleich zur nochmaligen unmittelbar-mündlichen Zeugenvernehmung vor dem Tatgericht führen. 95 Heinrich, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 2. 96 s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

gung.97 Unmittelbarkeit bildet danach „die notwendige Voraussetzung des Prinzips der freien Beweiswürdigung“.98 Dabei kann sich das Schrifttum für seine Ansicht auf den historischen Gesetzgeber berufen. Bereits die Motive zur Civilprozeßordnung nennen im Zusammenhang mit der (Vorläufer-)Regelung des § 355 ZPO die Grundsätze der Unmittelbarkeit der Verhandlung und der freien Beweiswürdigung in einem Atemzuge.99 Der (moderne) Gesetzgeber hielt daran in der Folgezeit fest. Wie soeben ausgeführt100, kam es durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990, wie schon in der Gesetzesbegründung betont, zu einer Stärkung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Dabei sollen die Gerichte durch diese Fassung veranlasst werden, „die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Regeln über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sorgfältig zu prüfen, damit die richterliche Beweiswürdigung nicht beeinträchtigt wird“.101 Der schon vom historischen Gesetz­geber herausgestrichene Bezug zwischen Beweisaufnahme und -würdigung und die diesbezügliche Rolle des zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes kommen von daher in der modernen Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts keinesfalls zu kurz, sondern werden vielmehr sogar besonders hervorgehoben. Das Schrifttum sieht es ebenso. Der eigene, nicht durch Protokolle oder einen mündlichen Bericht vermittelte Eindruck vom Ergebnis der Beweisaufnahme stellt eine tragfähigere Grundlage für eine gewissenhafte Tatsachenfeststellung dar.102 Sie liefert, um mit Musielak zu sprechen103, die „geeignete Grundlage für die Beweiswürdigung des Richters“. Es bleibt der weiteren Untersuchung vorbehalten, ob und auf welche Weise diesem Zusammenhang zwischen Beweisaufnahme einerseits und -würdigung andererseits de lege lata et ferenda hinreichend Rechnung getragen wird. In besonderem Maße gilt dies bei Auslegung und Hand­ habung der Ausnahmen vom zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz, wie er gesetzlich in § 355 ZPO loziert ist.

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Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 5; Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 82; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 368. Vgl. dazu noch näher unter 5. b). 98 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 13. 99 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 304. 100 Vgl. unter 2. 101 BT-Drs. 11/3621 S. 38. 102 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 5. Vgl. ferner noch Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 2: „Im übrigen kann auch ein gutes Protokoll des ersuchten Richters mit Aufnahme seines persönlichen Eindrucks nur bedingt diejenigen Wahrnehmungen ersetzen, die man zur erschöpfenden Würdigung der Aussage […] braucht.“ 103 Musielak, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1.

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4. Ausnahmen vom Grundsatz der (formellen) Unmittelbarkeit Damit ist man bei den Ausnahmen, Lockerungen und Durchbrechungen der formellen Unmittelbarkeit im Zivilverfahren angelangt. Bereits § 355 Abs. 1 Satz 2 ZPO bestimmt, dass das Unmittelbarkeitsprinzip im Zivilprozess nicht ausnahmslos gilt, sondern „in den durch dieses Gesetz bestimmten Fällen“ durchbrochen werden kann. Wichtigste – noch existente104 – gesetzliche Regelungen in dieser Hinsicht sind, wobei – wie schon bei den Ausführungen zu den gesetzlichen Ausnahmen vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz – jene bei der zivilprozessualen Berufung außen vor bleiben (sollen)105, zum einen der bereits erwähnte § 375 ZPO als Regelung zur kommissarischen Zeugenvernehmung sowie zum anderen § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO, die Vorschrift über die Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen (Handels-)Richter. Diese – als gesetzliche Ausnahmen vom Unmit 104 Besonders kritisch wurde noch die frühere Regelung zum sog. vorbereitenden Einzelrichter betrachtet. Nachdem diese Regelung durch das Gesetz zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3651) eine grundlegende Umgestaltung dahingehend erfuhr, dass seither entweder der Einzelrichter oder das Kollegium den Rechtsstreit jeweils in Gänze entscheidet, soll die Kritik nicht mehr aufgegriffen werden, vgl. dazu aus zeitgenössischer Perspektive etwa Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 98 ff.; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 21 ff., 41 ff.; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 11 ff. – jeweils m. w. N. Eine gewisse Renaissance hat der vorbereitende Einzelrichter zwar durch § 375 Abs. 1a ZPO erfahren (s. etwa Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 21 mit S. 23: „Weg zurück zum vorbereitenden Einzelrichter“), wonach ein Mitglied des Prozessgerichts schon aus bloßen Gründen der Zweckmäßigkeit und Verfahrensvereinfachung Zeugenbeweis erheben darf, wenn „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, s. dazu an späterer Stelle unter 5. b). Die Vorschrift dürfte aber neben §§ 348, 348a ZPO in der Fassung des ZPO-Reformgesetzes vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) kaum noch Bedeutung erlangen [Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 2; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 4 a. E.; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 370], sodass darauf an dieser Stelle nicht eingegangen werden soll. 105 In dieser Hinsicht sind es zwei Punkte, auf die jedenfalls kurz aufmerksam gemacht werden soll. Zum einen geht es darum, ob das Berufungsgericht überhaupt eine neuerliche (unmittelbare) Beweisaufnahme durchführen muss oder nicht vielmehr auf die Protokolle der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung zurückgreifen darf, vgl. dazu näher Koukouselis, Un­ mittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 95 ff.; Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 59 ff. sowie aus der Kommentarliteratur etwa Musielak, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 7; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 8 – jeweils m. w. N. Zum anderen stellt sich die Frage, wenn es zu einer Beweisaufnahme kommt, ob diese vom gesamten Berufungsgericht vorgenommen werden muss oder durch ein Mitglied desselben erfolgen darf. Dieser zweite Aspekt hat eine gesetzliche Regelung erfahren, die in einem – im Folgenden hervorgehobenen – Punkt mit § 375 ZPO identisch ist. Gemäß § 527 Abs. 2 ZPO kann ein Mitglied des Berufungsgerichts „einzelne Beweise erheben, soweit dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Berufungsgericht wünschenswert und von vornherein anzunehmen ist, dass das Be­ rufungsgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, vgl. dazu später unter 5. b).

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

telbarkeitsgrundsatz verstandenen106 – Vorschriften, respektive deren normativen Voraussetzungen sollen nunmehr aufgezeigt werden, soweit sie für die (weitere) Untersuchung noch von Bedeutung sein werden. a) Beweisaufnahme durch beauftragte oder ersuchte Richter (§ 375 ZPO) Eine für die Praxis bedeutsame Ausnahme ist in § 375 ZPO statuiert. Er regelt die Beweisaufnahme durch einen beauftragten Richter des Prozessgerichts selbst (§ 361 ZPO) oder durch ein anderes Gericht als ersuchten Richter gemäß § 362 ZPO. Es handelt sich bei § 375 ZPO um eine Ausnahme vom Grundsatz der Unmittelbarkeit.107 Sie darf aber bloß ausnahmsweise zur Anwendung kommen. Dies hat bereits der Gesetzgeber in seinen Motiven betont und „in die pflichtgemäße Beurteilung des Prozeßgerichts gestellt“.108 Im Schrifttum sieht man dies ebenso. Die Ausnahmen dürften „nur zurückhaltend Anwendung finden“.109 Die Vorschrift „unterstreicht den Unmittelbarkeitsgrundsatz und engt die Übertragung der Beweisaufnahme auf andere Richter sehr ein“.110 Dass die Praxis der Gerichte möglicherweise im Umgang mit der Vorschrift eher großzügig, bei der Übertragung der Beweisaufnahme auf beauftragte oder ersuchte Richter etwa sehr systematisch

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Es ist bereits fraglich, soll aber nicht weiter vertieft werden, ob es sich wirklich um Ausnahmen vom formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz handelt. Um es nochmals in Erinnerung zu rufen: Sofern man bloß formelle Unmittelbarkeit im Auge hat, steht der Verlesung von Schriftstücken und insbesondere von förmlichen (Vernehmungs- oder Augenscheins-)Protokollen an sich nichts im Wege. Die Unmittelbarkeit in diesem eng verstandenen formellen Sinne widerspricht der Bezugnahme auf frühere Ermittlungsergebnisse bloß für den Fall, dass die außerhalb der Hauptverhandlung gewonnenen Beweisergebnisse nicht zum Gegenstand derselben gemacht werden (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 146). Die kommissarische Vernehmung im Zivilverfahren wird aber zum Gegenstand der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht gemacht. § 285 Abs. 2 ZPO bestimmt, dass im Falle einer nicht vor dem erkennenden Prozessgericht stattgefundenen Beweisaufnahme „die Parteien ihr Ergebnis auf Grund der Beweisverhandlungen vorzutragen“ haben. Dies haben sie, soweit nötig durch Verlesung des Protokolls zu tun (Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 285 Rdnr. 7). Damit ist der formellen Unmittelbarkeit Genüge getan und der Umstand, dass § 375 ZPO dennoch als Ausnahme vom zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz angesehen wird, der Tatsache geschuldet, dass schon in der Terminologie zu diesem Prinzip nicht unerhebliche und kaum überbrückbare Differenzen bestehen. Um die Terminologie nicht noch weiter zu belasten, soll an dieser Stelle weiterhin davon ausgegangen werden, dass es sich bei § 375 ZPO um eine solche Ausnahme handelt, obwohl es – wie noch zu zeigen sein wird – eher um den materiellen Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes geht. 107 Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 1; Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 2. 108 Vgl. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 309. 109 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 2. 110 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 1 mit § 355 Rdnr. 13 („Ausnahmen vom Prinzip der formellen Unmittelbarkeit sind nur in engen Grenzen gegeben.“)

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verfährt111, ändert daran nichts. Denn keinesfalls vermag eine (falsche) Praxis den Gesetzeswortlaut außer Kraft zu setzen. Vielmehr hat sie sich am (richtig verstandenen) Gesetzestext zu orientieren. Insofern wiederum gibt § 375 Abs. 1 ZPO unmittelbar selbst zu erkennen, dass er bloß ausnahmsweise zur Anwendung kommen darf („nur“). Darüber hinaus normiert er weitere spezielle Voraussetzungen112, bei deren Vorliegen die Beweisaufnahme durch beauftragte oder ersuchte Richter zulässig ist. aa) Zeugenvernehmung anlässlich eines Ortstermins gemäß §§ 375 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, 219 Abs. 1 Alt 1 ZPO Gemäß § 375 Abs. 1 Nr. 1 ZPO kann die Aufnahme des Zeugenbeweises durch einen beauftragten oder ersuchten Richter erfolgen, „wenn zur Ausmittlung der Wahrheit die Vernehmung des Zeugen an Ort und Stelle dienlich erscheint“. Dies ist etwa der Fall, wenn der Zeuge seine Aussage durch Hinweise auf örtliche Verhältnisse zu erläutern hat113, wenn bloß die Aussage am Tatort ein richtiges Bild vom Geschehen vermittelt114. Als ein solcher Ort wird etwa der Unfallort genannt.115 Etwas allgemeiner werden die Voraussetzungen der Vorschrift umschrieben, wenn lediglich am Ort der Vernehmung mit einer brauchbaren Aussage zu rechnen ist.116 Weil „Ort der Vernehmung“ an sich das Gericht ist, kommt damit die Frage auf, an welchem Ort es zu tagen hat, sodass zwangsläufig die diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften in die Überlegungen einzubeziehen sind. Der „Terminsort“ ist in § 219 Abs. 1 ZPO geregelt. Danach werden Gerichts­ termine „an der Gerichtsstelle abgehalten, sofern nicht die Einnahme eines Augen­ scheins an Ort und Stelle […] erforderlich ist“. Wenn ein solcher auswärtiger Ortstermin notwendig erscheint, ist er gemäß dieser Vorschrift an sich vom Prozessgericht selbst wahrzunehmen. Etwaige Zeugen wären dabei grundsätzlich durch das erkennende Gericht selbst zu vernehmen. Statt eines solchen Vorgehens kann es aber ebenso einen (auswärtigen) Richter vor Ort damit beauftragen. Darin zeigt sich ein Zusammenhang zwischen § 375 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 ZPO einerseits und § 219 Abs. 1 ZPO andererseits, wie er bereits in den Motiven zur Zivilprozessordnung expressis verbis zum Ausdruck kommt.117 111 Nachw. zur diesbezüglichen Rspr. bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 3 a. E. 112 Vgl. zur Prognoseentscheidung, „dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlaufe der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, erst an späterer Stelle im Zusammenhang unter 5. b). 113 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 6. 114 Thomas/Putzo, ZPO, § 375 Rdnr. 3. 115 Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 2. 116 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 8. 117 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 309. In diesen Zusammenhang gehört ferner noch § 365 ZPO, wonach der beauftragte oder ersuchte Richter

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Damit muss man § 219 Abs. 1 ZPO in seine Überlegungen zur kommissarischen Zeugenvernehmung in Zivilverfahren einbeziehen. Sie erscheint „dienlich“ im Sinne von § 375 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, wenn sonst ein auswärtiger Gerichtstermin „erforderlich“ wäre. Dafür wiederum genügen bloße Zweckmäßigkeitsüberlegungen, wie etwa das Einsparen von Reisekosten für Zeugen, nicht.118 Ebenfalls einig ist man sich darin, dass „erforderlich“ nicht im Sinne einer anderweitigen Unmöglichkeit der Beweisaufnahme zu verstehen ist.119 Im Übrigen aber herrscht Streit. Das Bundesarbeitsgericht tendiert zu einer sehr extensiven Auslegung von § 219 Abs. 1 ZPO. In einem Beschluss aus dem Jahre 1993 führt es aus, dass ein auswärtiger Termin erforderlich ist, wenn er im Interesse der Rechtsfindung an einer auswärtigen Stelle vorzunehmen ist, etwa weil sich der Spruchkörper über die Rechtsverhältnisse vor Ort zu vergewissern hat.120 Damit macht es das jeweilige materielle Recht zum Maßstab dafür, ob ein Ortstermin erforderlich ist. Die Entscheidung hat in der Kommentarliteratur ebenso Zustimmung wie Kritik erfahren.121 Kritische Stimmen meinen, etwas restriktiver verfahren zu müssen. Ein solcher Termin soll bloß für den Fall im Sinne von § 219 Abs. 1 ZPO „erforderlich“ sein, wenn er zur Herbeiführung einer gerechten Entscheidung der Streitsache für notwendig gehalten wird122, wobei eine zweckmäßige Durchführung des Rechtsstreits, etwa eine sonst bestehend erhebliche Erschwerung der Rechtsfindung, im Einzelfall als insofern ausreichend angesehen worden ist123. Der Unterschied zur Auffassung des Bundesarbeitsgerichts dürfte aber mehr in den Worten und weniger in der Sache liegen. Das „Interesse der Rechtsfindung“ geht wohl dahin, eine gerechte und damit eine „Entscheidung der Streitsache“ überhaupt herbeizuführen und umgekehrt. Wenn man den – eher semantischen – Streit vor diesem Hintergrund außen vor lässt, herrscht ansonsten Einigkeit darin, dass das jeweils anzuwendende materielle Recht einen Ortstermin „erforderlich“ machen kann und

ermächtigt ist, ein drittes Gericht um die Beweisaufnahme zu ersuchen, „falls sich später Gründe ergeben, welche die Beweisaufnahme durch ein anderes Gericht sachgemäß erscheinen lassen“. Der ursprünglich ersuchte und nunmehr an ein anderes Gericht abgebende Richter darf dabei zwar nicht prüfen, ob die Entscheidung des Prozessgerichts überhaupt „dienlich“ im Sinne von § 375 ZPO war und ist (Stadler, in: Musielak, ZPO, § 365 Rdnr. 2). Wenn aber der Augenscheinsort, womit auf § 219 ZPO angesprochen worden wäre, nicht im Bezirk des ersuchten Gerichts liegt, sondern in einem anderen Gerichtsbezirk, kann an das dafür zuständige andere Gericht abgegeben werden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 365 Rdnr. 3). 118 Stöber, in: Zöller, ZPO, § 219 Rdnr. 2; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, § 219 Rdnr. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 219 Rdnr. 8. 119 BAG NJW 1993, 1029; RGZ 56, 357, 358 f.; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, § 219 Rdnr. 6; Baumbach/Lauterbach Albers/Hartmann, ZPO, § 219 Rdnr. 8. 120 BAG NJW 1993, 1029. 121 Vgl. einerseits Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 219 Rdnr. 8 und andererseits Stöber, in: Zöller, ZPO, § 219 Rdnr. 1. 122 Stöber, in: Zöller, ZPO, § 219 Rdnr. 2 unter Hinweis auf RGZ 56, 357, 359. 123 OLG Koblenz NJW 1957, 796, 797.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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eine damit zusammenhängende kommissarische Zeugenvernehmung im Sinne von § 375 Abs. 1 Nr. 1 ZPO „zur Ausmittlung der Wahrheit […] dienlich erscheint“. In dieser Hinsicht ist § 375 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ein beredtes Beispiel für den – bereits an früherer Stelle erwähnten124 – Grundsatz der materiellrechtsfreundlichen Auslegung prozessrechtlicher Vorschriften. Er besagt, dass bei der Anwendung des Zivilverfahrensrechts möglichst diejenige Auslegung der prozessualen Vorschriften zu wählen ist, welche dem materiellen Recht am besten entspricht. Dies folgt aus der dienenden Funktion des (Zivil-)Prozesses. Auf eine vergleichbar enge Anbindung an das materielle Recht stößt man bei § 223 StPO als dem strafprozessualen Pendant zu § 375 ZPO125, wenn man einmal von der Schwere des Tatvorwurfs im Rahmen der allgemeinen Abwägung absieht126, dagegen nicht. bb) Verhinderung des Zeugen oder Unzumutbarkeit seines Erscheinens vor dem Prozessgericht (§ 375 Abs. 1 Nr. 2 und 3 ZPO) In anderer Hinsicht ähneln sich beide Vorschriften dagegen wiederum sehr stark. § 375 Abs. 1 Nr. 2 ZPO lässt die Zeugenvernehmung durch den beauftragten oder ersuchten Richter zu, „wenn der Zeuge verhindert ist, vor dem Gericht zu erscheinen“. Eine solche Verhinderung ist insbesondere bei länger dauernder Krankheit und hohem Alter sowie anderen Hinderungsgründen, wie Haft oder Reiseunfähigkeit, gegeben.127 Die Parallele zu § 223 Abs. 1 StPO liegt auf der Hand, weil er längere Krankheit und Gebrechlichkeit – etwa wegen fortgeschrittenem Alters128 – bloß als Beispiele der anderen nicht zu beseitigenden Hindernisse nennt.129 Darin erschöpfen sich die Parallelen zwischen Straf- und Zivilprozessrecht im Bereich der kommissarischen Zeugenvernehmung aber keinesfalls. Des Weiteren ähneln sich noch § 223 Abs. 2 StPO einerseits und § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO andererseits. Beide Vorschriften erlauben die kommissarische Zeugenvernehmung, wenn dem Zeugen das Erscheinen vor dem erkennenden (Prozess-) Gericht „wegen großer Entfernung“ nicht zugemutet werden kann. Soweit es § 223 Abs. 2 StPO betrifft, ist man sich dabei darin einig, dass sich dies nicht in konkreten Streckenmaßen angeben lässt. Vielmehr sind die Interessen der Beweisperson auf der einen Seite gegen die Bedeutung der Sache und die Wichtigkeit der Aus 124

Vgl. zum Folgenden im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. bei und in Anm. 87 (S. 41 f.). Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1 betont etwa, dass § 223 StPO eine „ähn­liche Regelung“ im Verhältnis zu § 375 ZPO darstellt. 126 s. dazu im 2. Teil, 5. Kapitel unter II. 127 Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 4; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 9; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 3; Thomas/Putzo, ZPO, § 375 Rdnr. 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 10. 128 Meyer-Goßner, § 223 Rdnr. 5; Pfeiffer, § 223 Rdnr. 3. 129 Schlüchter, in: SK-StPO, § 223 Rdnr. 8; Jäger, in: LR, § 223 Rdnr. 9; Eschelbach, in: KMR, § 223 Rdnr. 47. 125

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

sage auf der anderen Seite abzuwägen.130 Daran bemisst sich die Unzumutbarkeit des Erscheinens im Sinne der Vorschrift. Bei § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nimmt man eine solche Abwägung ebenfalls vor. Nach seinem Wortlaut kommt er zur Anwendung, „wenn dem Zeugen das Erscheinen vor dem Prozessgericht wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann“. Damit nennt das Gesetz mit der „Bedeutung der Aussage“ selbst einen für die Gesamtabwägung relevanten Aspekt. Die „Bedeutung der Aussage“ beurteilt sich dabei nach dem Beweisthema und den Folgen des Prozesses für den Beweisführer.131 Im Übrigen sind noch die Bedeutung des Prozesses, die Schwierigkeit der Beweisfrage und der Wert eines persönlichen Eindrucks vom Zeugen in die Würdigung einzustellen.132 Diese Belange sind wiederum mit den Interessen des Zeugen abzuwägen.133 Damit sind die Faktoren und die (methodische) Vorgehensweise bei § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO weitgehend identisch mit der Handhabung des § 223 Abs. 2 StPO. Dies kommt nicht von ungefähr. Im Zusammenhang mit § 223 Abs. 2 StPO ist § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO zu sehen.134 Dessen Ähnlichkeit mit § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO liegt auf der Hand und ist keinesfalls zufällig, sondern vielmehr gewollt. Bei der Änderung der zivilprozessualen Norm hat sich der Gesetzgeber nämlich bewusst an das strafprozessuale Pendant angelehnt.135 Er hat damit eine Brücke zwischen Straf- und Zivilprozessrecht geschlagen und zugleich zu erkennen gegeben, dass er eine gemeinsame Betrachtung der straf- und zivilprozessualen Vorschriften zum Unmittelbarkeitsgrundsatz durchaus für opportun, jedenfalls nicht für schlechthin unangebracht hält. Des Weiteren sollte § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch seine Neufassung enger gefasst werden, um auf diese Weise die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wieder stärker zu betonen.136 Im Schrifttum hat man sich diese Sichtweise des Gesetz­ gebers zu Eigen gemacht.137 Einmal mehr kam es in dieser – und später noch in anderer138 – Hinsicht zu einer gesetzgeberischen Aufwertung des zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. 130

Vgl. hierzu näher im 2. Teil, 5. Kapitel unter II. Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 3. 132 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 11. Als Ergebnis einer solchen Würdigung soll etwa die Bedeutung der Aussage geringer sein, wenn z. B. noch andere Zeugen zum gleichen Beweisthema zu vernehmen sind (Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 5; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 10). 133 BT-Drs. 11/3621 S. 38; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 10. 134 Vgl. im 2. Teil, 5. Kapitel unter II. 1. bei Anm. 132 (S. 88). 135 BT-Drs. 11/3621 S. 38. 136 Ebd. 137 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 10. 138 Die kommissarische Zeugenvernehmung wegen Unzumutbarkeit des Erscheinens gemäß § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO – wie eine solche gemäß § 375 Abs. 1 Nr. 2 ZPO wegen Verhinderung – sind ferner bloß für den Fall zulässig, dass „eine Zeugenvernehmung nach § 128a Abs. 2 [ZPO] nicht stattfindet“. Die Vorschrift regelt die audiovisuelle Vernehmung auswärtiger Zeugen. Die 131

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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cc) Fazit Dies lässt sich, um zum Fazit für § 375 ZPO zu kommen, für dessen Entwicklung – von § 375 Abs. 1a ZPO einmal abgesehen139 – in Gesetzgebung sowie in Rechtsprechung und Wissenschaft überhaupt sagen, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben dürften. Des Weiteren ist unverkennbar, dass seine Voraussetzungen zuweilen in Abhängigkeit vom – jeweils anzuwendenden – materiellen Recht stehen und insofern eine materiellrechtsfreundliche Auslegung vorherrscht. b) Zeugenvernehmung durch den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter Auf vergleichbare Interdependenzen zwischen materiell- und prozessrecht­ lichen Vorschriften stöß man bei einer weiteren Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz, nämlich in § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Darin ist die Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen (Handels-)Richter geregelt. Dass die Vorschrift etwas mit Unmittelbarkeit zu tun hat und in diesem Sinne eine Ausnahme bzw. Abweichung davon aufstellt, wird im zivilprozessrechtlichen Schrifttum nicht verhehlt.140 Es ist etwa die Rede davon, dass sie eine „im Interesse des Unmittelbarkeitsprinzips vor­ genommene doppelte Beschränkung“ statuiert.141 Im Wortlaut der Norm zeigt sich der Bezug darin, dass eine solche Beweiserhebung bloß für den Fall zulässig ist, dass „die Kammer das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Darin zeigen sich freilich nicht die eingangs geschilderten Interdependenzen zwischen mate­ riellem und Prozessrecht. Um sie besser nachvollziehen zu können, muss sich zunächst der Eigenart der Kammern für Handelssachen angenommen werden. Subsidiarität der kommissarischen gegenüber der audiovisuellen Vernehmung wurde durch das ZPO-Reformgesetz vom 27. Juli 2001 in § 375 Abs. 1 Nr. 2 und 3 ZPO statuiert (BGBl. I S. 1887). Der Grund dafür wird in den Gesetzesmaterialien unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Es gebührt der „Zeugenvernehmung durch das Prozessgericht per Video­ konferenz wegen größerer Unmittelbarkeit der Vorzug […] vor der Zeugenvernehmung durch den kommissarischen Richter“ (BT-Drs. 14/6036 S. 122 – Hervorhebung nicht im Original). Das Schrifttum sieht es ebenso. Danach wahrt die Video-Vernehmung die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und ist deshalb der Einvernahme durch den beauftragten oder ersuchten Richter vorzuziehen (Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 3 mit § 355 Rdnr. 10). 139 s. dazu bereits in Anm. 104 (S. 143). 140 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 349 Rdnr. 5; Greger, in: Zöller, ZPO, § 349 Rdnr. 3; Weth, JuS 1991, 34, 35. 141 Bergerfurth, NJW 1975, 331, 332. Mit „doppelter Beschränkung“ wird auf die beiden Voraussetzungen des § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO angespielt, die kumulativ vorliegen müssen, die „beson­dere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter“ (s. dazu sogleich oben im Text) und die Möglichkeit der sachgemäßen Beweiswürdigung ohne unmittelbaren Eindruck vom Verlauf der Beweisaufnahme [s. dazu später im Zusammenhang unter 5. b)].

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

aa) Gesetzliche Regelung der Kammern für Handelssachen Die gesetzliche Regelung der Kammern für Handelssachen findet sich in §§ 93 ff. GVG. Sie werden aufgrund von Rechtsverordnungen der Landesregierungen an den Landgerichten gebildet und treten in sog. Handelssachen an die Stelle der Zivilkammern. Sie entscheiden dabei gemäß § 105 GVG „in der Besetzung mit einem Mitglied des Landgerichts als Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern“. Die Voraussetzungen für die Ernennung zum ehrenamtlichen (Handels-) Richter sind wiederum in § 109 GVG geregelt. Von besonderem Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist § 109 Abs. 1 Nr. 3 GVG, wonach man bestimmte berufliche Eigenschaften aufweisen muss, um in das Ehrenamt berufen werden zu können, etwa dass man als „Kaufmann“ im Handelsregister eingetragen ist oder war. Der gesetzliche Grund dafür ist in § 114 GVG zu sehen. Seine Betrachtung ist bereits deshalb von Interesse, weil Kommentatoren der Vorschrift auf strafgerichtliche Urteile verweisen142, ohne dass damit freilich eine irgendwie geartete inhaltliche Aussage verbunden wird. Gemäß § 114 GVG trifft die Kammer für Handelssachen in bestimmten Fällen eine „Entscheidung auf Grund eigener Sachkunde“. Im Wortlaut der Norm heißt es, dass „über Gegenstände, zu deren Beurteilung eine kaufmännische Begutachtung genügt, sowie über das Bestehen von Handelsgebräuchen […] die Kammer für Handelssachen auf Grund eigener Sachkunde und Wissenschaft entscheiden“ kann. An der Lozierung der Vorschrift im Gerichtsverfassungsrecht wird vielfältige Kritik geübt. Die Norm sei als Regelung des Beweisrechts an dieser Stelle systemwidrig (de-)platziert.143 Vielmehr müsse sie im Kontext mit § 286 ZPO, der Regelung über die „freie Beweiswürdigung“, gesehen werden.144 Dieser (eher akademische) Streit ändert indes – ebenso wenig wie die praktische Bedeutung145 – nichts an Sinn und Zweck der Vorschrift sowie deren Bezug und Berührungspunkte zum materiellen (Handels-)Recht. Der Bezug zum materiellen (Handels-)Recht zeigt sich dabei unmittelbar, soweit die Kammer für Handelssachen über das Bestehen von Handelsgebräuchen 142

Lückemann, in: Zöller, GVG, § 114 Rdnr. 2; Kissel/Mayer, GVG, § 114 Rdnr. 1 mit Rdnr. 6; K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 2 mit Fn. 4. In BGHSt 12, 18 wie in BayObLG NStZ 1993, 347 ging es jeweils um die Frage, ob das Tatgericht auf die Hinzuziehung eines Sachverständigen verzichten kann, wenn es (in Teilen) selbst über die für die Beurteilung des Sachverhalts erforderliche besondere Sachkunde verfügt. 143 Zimmermann, in: MünchKommZPO, GVG, § 114 Rdnr. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, GVG, § 114 Rdnr. 1; K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 1; Kissel/Mayer, GVG, § 114 Rdnr. 1. 144 Thomas/Putzo, GVG, § 114 Rdnr. 1. 145 Sie soll wegen der Zunahme von Gutachten der Industrie- und Handelskammern mehr und mehr einbüßen, s. hierzu K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 1; Zimmer­ mann, in: MünchKommZPO, GVG, § 114 Rdnr. 1 – jeweils m. w. N. Der Punkt ist insofern ohne Belang, als dass sich dadurch nichts daran ändert, dass Beweiserhebungsvorschriften vor dem Hintergrund des materiellen Rechts zu sehen und zu deuten sind.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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auf Grund eigener Sachkunde entscheiden kann und darf. Gemäß § 346 HGB ist unter Kaufleuten „in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen“. Ob und welche Gewohnheiten und (Handels-)Bräuche im Handelsverkehr bestehen, können die ehrenamtlichen (Handels-)Richter eher und besser als der Vorsitzende beurteilen.146 Auf die Wechselbezüglichkeit bzw. Abhängigkeit zwischen § 346 HGB einerseits und § 114 GVG andererseits wird dabei in der zivilprozessualen Kommentarliteratur wie im handelsrechtlichen Schrifttum hingewiesen.147 In § 114 GVG liegt, wenngleich der Bezug bloß vereinzelt expressis verbis hergestellt wird148, im Übrigen der tiefere Grund für die bereits erwähnte Vorschrift des § 109 GVG. Sie will eine gewisse Kenntnis und Erfahrung in Handelssachen im Allgemeinen (§ 109 Abs. 1 Nr. 3 GVG) sowie zu örtlichen Handelsgewohnheiten im Speziellen (§ 109 Abs. 2 GVG) sicherstellen.149 Insofern erklärt sich § 109 Abs. 1 Nr. 3 GVG vollends erst vor dem Hintergrund des materiellen Rechts. Im anderen Fall des § 114 GVG, wenn für die „Beurteilung eine kaufmän­ nische Begutachtung genügt“, geht es ebenfalls um materiell-rechtliche Fragen. In der Kommentarliteratur werden hierfür als Beispiel ein Streit um Inhalt und Aus­ legung von Verträgen genannt.150 Ferner fällt in die eigenständige Beurteilung die Frage, ob ein Stoff einwandfrei ist.151 Dabei geht es mithin um die Gewährleistung im Kaufrecht (§§ 434 ff. BGB, 377 HGB). Vor dem Hintergrund solcher inhalt­ licher, sprich materiell-rechtlicher Aspekte ist die Vorschrift des § 114 GVG zu sehen. Erst von daher lassen sich §§ 109 Abs. 1 Nr. 3, 114 GVG umfassend und befriedigend erklären. 146 In RGZ 44, 31, 33 etwa wird expressis verbis betont, dass selbst die kaufmännischen Mitglieder bei der Kammer für Handelssachen eine objektive Rechtsnorm bestimmten Inhalts nicht ausmachen konnten. An anderer Stelle betont man ebenfalls, dass eine Verkehrssitte nicht bloß faktischen, sondern nicht minder normativen Charakter hat und deshalb § 114 GVG die Kammern für Handelssachen ermächtigt, über das Bestehen von Handelsgebräuchen in eigener Sachkunde und Wissenschaft zu entscheiden, s. Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 92. 147 Vgl. aus dem zivilprozessualem Schrifttum Zimmermann, in: MünchKommZPO, GVG, § 114 Rdnr. 2; K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 2; Thomas/Putzo, GVG, § 114 Rdnr. 1; Lückemann, in: Zöller, GVG, § 114 Rdnr. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, GVG, § 114 Rdnr. 2; Kissel/Mayer, GVG, § 114 Rdnr. 5 sowie aus der handelsrecht­ lichen Kommentarliteratur Koller, in: Staub, HGB, § 346 Rdnr. 52; Hefermehl, in: Schlegel­ berger, HGB, § 346 Rdnr. 15; Koller/Roth/Morck, HGB, § 346 Rdnr. 5; Horn, in: Heymann, HGB, § 346 Rdnr. 32; K. Schmidt, in: MünchKommHGB, § 346 Rdnr. 25; Baumbach/Hopt, HGB, § 346 Rdnr. 13; Joost, in: Ebenroth/Boujoung/Joost/Strohn, HGB, § 346 Rdnr. 24. 148 Kissel/Mayer, GVG, § 114 Rdnr. 1. 149 Zimmermann, in: MünchKommZPO, GVG, § 109 Rdnr. 1. Dass es örtliche Handels­ bräuche im Sinne von § 346 HGB gibt, ist dabei unbestritten, vgl. Koller, in: Staub, HGB, § 346 Rdnr. 29 ff.; Hefermehl, in: Schlegelberger, HGB, § 346 Rdnr. 33; Koller/Roth/Morck, HGB, § 346 Rdnr. 8; Horn, in: Heymann, HGB, § 346 Rdnr. 11; Ensthaler/Achilles, GK-HGB, § 346 Rdnr. 22; Joost, in: Ebenroth/Boujoung/Joost/Strohn, HGB, § 346 Rdnr. 12 ff. 150 K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 2; Zimmermann, in: MünchKomm ZPO, GVG, § 114 Rdnr. 2. 151 Zimmermann, GVG, § 114 Rdnr. 1.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

bb) „Sachkunde der Handelsrichter“ für die Beweisaufnahme Damit ist die Brücke zu § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO geschlagen. Ohne seine Beisitzer darf der Vorsitzende einer Kammer für Handelssachen eine Beweiserhebung nämlich bloß für den Fall vornehmen, dass deren Ergebnis einerseits ohne unmittelbaren Eindruck vom Verlauf der Beweisaufnahme gewürdigt werden kann.152 Kumulativ hinzukommen muss, dass es bei der Beweiserhebung „auf die besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter nicht ankommt“. Auf diese Weise soll die Sachkunde der Handelsrichter im Entscheidungsprozess stärker zur Geltung gebracht und zugleich die Befugnis des Vorsitzenden zur Erhebung von Beweisen eingeschränkt werden. Die Regelung ist an sich eindeutig und einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich.153 Sie muss vielmehr die (gesetzliche) Ausnahme vom Grundsatz der Unmittelbarkeit gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO bleiben und darf nicht weit ausgelegt werden154, wie es bereits die insofern unmissverständ­ lichen Gesetzesmaterialien erkennen lassen155. Selbst wenn man etwas polemisch dem Gesetzgeber vorhält, mit „erhobenem Zeigefinger“ bei § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu verfahren, wird von der Praxis erwartet, dass es gleichwohl nicht „zu einer Aufweichung des verschärften Gesetzesbefehls“ und zu einer keinesfalls legitimierbaren Übung kommt, Beweise lediglich in Ausnahmefällen vor der Kammer zu erheben.156 Die Praxis zeigt sich davon freilich unbeirrt. Allerdings wird die verbreitete, fast als üblich zu bezeichnende Praxis, dass (nahezu) die gesamte Beweisaufnahme vom Vorsitzenden durchgeführt und deren Ergebnis den beisitzenden Handelsrichtern bei der Beratung lediglich vorgetragen wird, als eindeutiger Verstoß gegen § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO angesehen.157 Von daher sollte sich die Praxis der Theorie anpassen und nicht umgekehrt.

152 s. hierzu im Zusammenhang unter 5. b). Wenn Bergerfurth, NJW 1975, 331, 332 gegen § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO anführt, dass „sich die besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter erfahrungsgemäß weniger bei der Frage, ob ein Zeuge glaubwürdig ist, auswirkt“, verkennt er den Gesetzestext. § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO verlangt das kumulative Vorliegen von zwei Voraussetzungen. Die Sachkunde bezieht sich dabei, wie aus der Verknüpfung mit „und“ folgt, ledig­lich auf die erste Voraussetzung. 153 Deubner, in: MünchKommZPO, § 349 Rdnr. 1 mit Rdnr. 5 a. E. 154 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 349 Rdnr. 5. Freilich konterkariert man dies an derselben Stelle und leistet der richterlichen Praxis dadurch Vorschub, dass man „großzügig“ vorgehen sollte. 155 Nach BT-Drs. 7/1550, S. 8 soll die Neuregelung die „Voraussetzungen für eine Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden enger fassen als der geltende § 349“ (Hervorhebung nicht im Original). BT-Drs. 7/2769, S. 13 wiederum begründet die Neuregelung damit, dass sicher­ gestellt werden soll, dass „die vorgesehenen Beschränkungen auch eingehalten werden, was gegenwärtig nicht immer geschieht“. Dieser Befund spricht dafür, dass der Gesetzgeber bei seinen damaligen Bestrebungen zur Reform des Zivilverfahrens den Unmittelbarkeitsgrundsatz gestärkt wissen will. 156 Bergerfurth, NJW 1975, 331, 333. 157 Deubner, in: MünchKommZPO, § 349 Rdnr. 5.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Die (gesetzliche) Theorie besagt, dass die Beweisaufnahme vor der gesamten Kammer für Handelssachen zu erfolgen hat, wenn es „auf die besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Handelsrichter […] ankommt“. Obwohl man die geschilderte Praxis zu Recht als gesetzeswidrig geißelt, wird sie im selben Atemzug in gewisser Weise befördert. Man nimmt eine besondere Sachkunde nämlich bloß für den Fall an, dass die aufzuklärenden Vorgänge einem Lebensbereich zuzuordnen sind, mit dem wenigstens einer der Handelsrichter zu tun hat. Dies sei angesichts der sich in der Wirtschaft ständig verstärkenden Spezialisierung immer seltener der Fall,158 wodurch man der Praxis in die Hände spielt, obwohl sie nach den eigenen Worten eindeutig dem Wortlaut von § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO zuwiderhandeln soll. Indes ist der Ausgangspunkt, dass es sich um einen Vorgang aus dem speziellen Berufszweig der Handelsrichter handeln muss, unzutreffend. Dies zeigt sich, wenn man § 114 GVG in seine Überlegungen einbezieht. Dazu besteht deshalb Anlass, weil man § 114 GVG als Vorschrift aus dem Beweisrecht ansieht, die – wie soeben schon geschildert – lediglich systemwidrig im Gerichtsverfassungsrecht verortet worden ist.159 Bei § 114 GVG wiederum ist man sich, wenngleich es de lege ferenda kritisiert wird160, de lege lata darin einig, dass der Handelsrichter nicht in der Branche tätig sein muss, aus der sich die Frage stellt161. Gleiches muss bei § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO gelten, weil sich die Vorschriften einander ergänzen. Der sachliche Zusammenhang geht lediglich wegen der – insofern unglücklichen – räumlichen Trennung beider Vorschriften verloren. Dass er gleichwohl besteht, steht demgegenüber außer Frage, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben. Auf die besondere Sachkunde im Sinne von § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO kommt es von daher an, wenn im Sinne von § 114 GVG eine kaufmännische Begutachtung erforderlich ist oder über das Bestehen von Handelsgebräuchen gestritten wird. Damit ist es das materielle (Handels-)Recht, das darüber Aufschluss gibt, ob der Vorsitzende – nach pflichtgemäßen Ermessen162 – die Beweisaufnahme selbst durchführen darf oder sie vielmehr der Kammer für Handelssachen vorbehalten bleiben muss.

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Deubner, in: MünchKommZPO, § 349 Rdnr. 5. Zimmermann, in: MünchKommZPO, GVG, § 114 Rdnr. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, GVG, § 114 Rdnr. 1; K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 1. 160 Zimmermann, GVG, § 114 Rdnr. 1 a. E.: „Ob ein Stoff einwandfrei ist, kann ein Obst­ händler wohl nicht schon deswegen entscheiden, weil er Handelsrichter ist.“ 161 Lückemann, in: Zöller, GVG, § 114 Rdnr. 1; Kissel/Mayer, GVG, § 114 Rdnr. 4; K. Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, GVG, § 114 Rdnr. 2; Zimmermann, in: MünchKommZPO, GVG, § 114 Rdnr. 2. 162 BGH NJW 1964, 108, 109; Bergerfurth, NJW 1975, 331, 333; Wittschier, in: Musielak, ZPO, § 349 Rdnr. 3; Grunsky, in: Stein/Jonas, ZPO, § 349 Rdnr. 7. 159

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

c) Fazit zu den gesetzlichen Ausnahmen vom zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz Als Fazit nicht bloß für § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO, sondern für die gesetzlichen Ausnahmen vom zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz überhaupt lässt sich festhalten, dass Interdependenzen zum materiellen Recht eine nicht unerheb­liche Rolle bei deren Anwendung und Auslegung spielen. Im Übrigen sind die Voraussetzungen der Ausnahmen – von § 375 Abs. 1a ZPO einmal abgesehen163 – im Laufe der Zeit immer enger gefasst worden, sodass der Unmittelbarkeitsgedanke im Zivilprozess eher gestärkt worden ist. 5. Heilung von Verstößen gegen die (formelle) Unmittelbarkeit Dieser Befund könnte freilich ins Wanken geraten, wenn Verstöße gegen den zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz geheilt werden können. Insofern gerät § 295 Abs. 1 ZPO in den Blickpunkt des Interesses. Die Norm bestimmt, soweit es im vorliegenden Zusammenhang interessiert, dass die „Verletzung einer das Verfahren […] betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden [kann], wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens statt­ gefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste“. a) Heilung gemäß § 295 Abs. 1 ZPO versus deren Ausschluss gemäß § 295 Abs. 2 ZPO Es ist fraglich und Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung, ob die Verletzung der Unmittelbarkeitsmaxime aus § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO nach § 295 ZPO geheilt werden kann. Dies schließt die Fälle ein, in denen eine Beweisaufnahme durch den beauftragten oder ersuchten Richter zu Unrecht erfolgt ist.164 Ob ein 163

Vgl. dazu in Anm. 104 (S. 143). In dieser Hinsicht wird noch danach differenziert, ob jedenfalls die systematische Übertragung, d. h. ohne Prüfung der Voraussetzungen des § 375 ZPO im Einzelfall, nicht der Heilung unterliegt. Zum Teil wird selbst in diesen Fällen von der Möglichkeit des § 295 Abs. 1 ZPO ausgegangen (KG VersR 1980, 653, 654; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 17; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 12; Greger, in: Zöller, ZPO, § 375 Rdnr. 7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 17; Dinslage, NJW 1976, 1509, 1510; Rasehorn, NJW 1977, 789, 792). Anderenorts wird es aber als nicht angängig angesehen (OLG Düsseldorf NJW 1976, 1103, 1105; Hk-ZPO/Eichele, § 355 Rdnr. 5), obwohl man sonst von Heilung eines Verstoßes gegen die formelle Unmittelbarkeit ausgeht (OLG Düsseldorf NJW 1977, 2320; Eichele, a. a. O.). Diese Differenzierung im Rahmen der Heilungsmöglichkeit zwischen einzelnen und systematischen Verletzungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes soll im Folgenden 164

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Verstoß gegen die formelle Unmittelbarkeit und damit die „Verletzung einer das Verfahren […] betreffenden Vorschrift“ über § 295 Abs. 1 ZPO geheilt werden kann, ist in Rechtsprechung und Schrifttum zum Zivilverfahrensrecht heftig umstritten und wird – wie seine Revisibilität165 – kontrovers diskutiert. Insbesondere die Rechtsprechung geht von dieser Möglichkeit aus.166 Vom Schrifttum hat sie darin überwiegend Zustimmung erfahren.167 Lediglich vereinzelt ist man der Auffassung, dass ein Verstoß gegen die formelle Unmittelbarkeit nicht der Heilung nicht weiter verfolgt werden. Es versteht sich nämlich von selbst, dass das systema­tische Umgehen von § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Wege der sehr großzügigen Handhabung von § 375 ZPO, wenn bereits der singuläre Verstoß gegen die Unmittelbarkeitsmaxime unheilbar ist, erst Recht nicht der Heilung unterliegen kann. Wenn Heilung dagegen möglich ist, kann man schlichtweg nicht von einem systematischen Umgehen sprechen, weil es nicht der (immer selbe) Richter allein in der Hand hat, sondern vielmehr die (ständig wechselnden) Parteien und Prozessbevollmächtigten ebenso. Denn schließlich können sie eine entsprechende Rüge ­erheben. 165 Beide Fragestellungen sind im Zusammenhang zu sehen, wie es insbesondere die grundlegende Entscheidung BGHZ 40, 179 zeigt. Darin ist die Frage der Revisibilität von Ver­stößen gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz mit der Begründung offen gelassen worden, dass sie jedenfalls gemäß § 295 ZPO geheilt werden könnten. Wenngleich ein solcher Zusammenhang nicht zu leugnen ist, müssen beide Aspekte dennoch auseinander gehalten werden. Dabei ist aber gleichwohl, insofern ist dem BGH zuzustimmen, die Möglichkeit einer Heilung vorgreiflich zu diskutieren. Sie tritt nämlich ausweislich des Wortlauts von § 295 Abs. 1 ZPO noch im Ausgangsverfahren selbst ein („nächste mündliche Verhandlung“) und wirkt im Rechtsmittelverfahren fort (§§ 534, 556 ZPO). Wenn aber der Verfahrensfehler noch im Ausgangsverfahren geheilt wird, kann das (fehlerhafte) Urteil darauf nicht beruhen und es kommt insofern auf §§ 512, 557 Abs. 2 ZPO überhaupt nicht mehr an. Vor diesem Hintergrund hat man sich zuvörderst mit der Frage zu befassen, ob Verstöße gegen den zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz grundsätzlich, d. h. unabhängig von den Voraussetzungen im Einzelfall, der Heilung nach § 295 ZPO unterliegen. Von daher wird sich darauf an dieser Stelle beschränkt. Es sei aber jedenfalls darauf hingewiesen, dass der diesbezügliche Bezug zur Beweiswürdigung [vgl. dazu sogleich unter 5. b)] im Rahmen der Diskussion um die Revisibilität von Verletzungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ebenfalls hergestellt wird. Es wird insofern der Verstoß gegen § 355 ZPO im Einzelfall als beachtlicher Verfahrensfehler angesehen, soweit damit ein Verstoß gegen § 286 ZPO und damit gegen die freie Beweiswürdigung einhergeht (Hk-ZPO/ Eichele, § 355 Rdnr. 5; Greger, in: Zöller, ZPO, § 355 Rdnr. 8). Der BGH bemüht sich gleichfalls um den Bezug zu § 286 ZPO, wonach „es in den meisten Fällen von entscheidender Bedeutung sein (kann), dass sämtliche Mitglieder des Prozeßgerichts und nicht nur der Bericht­ erstatter einen persönlichen Eindruck“ vom Ablauf des Verfahrens, insbesondere der (Zeugen-) Vernehmungen bekommen (BGHZ 40, 179, 185). 166 BGHZ 40, 179, 183 f.; 86, 105, 113 ff.; BGH NJW 1979, 2518; NJW 1991, 1180; NJW 1996, 2734, 2735; NJW-RR 1997, 506; OLG Köln NJW 1976, 2218; OLG Frankfurt/M. NJW 1977, 301; OLG Düsseldorf NJW 1977, 2320; OLG Hamm MDR 1978, 676; MDR 1993, 1235, 1236; KG VersR 1980, 653. 167 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 31 mit § 375 Rdnr. 1; Stadler, in: Musielak, ZPO § 355 Rdnr. 12; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 17; Hk-ZPO/Eichele, § 355 Rdnr. 5; Thomas/Putzo, ZPO, § 355 Rdnr. 6 mit § 295 Rdnr. 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, § 355 Rdnr. 8 mit § 295 Rdnr. 53; Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 9; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 5 mit § 295 Rdnr. 4; Greger, in: Zöller, ZPO, § 375 Rdnr. 7; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 295 Rdnr. 18; Zimmermann, ZPO, § 295 Rdnr. 7; Dinslage, NJW 1976, 1509, 1510; Rasehorn, NJW 1977, 789, 792; Schultze, NJW 1977, 409, 411 f.; Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 146.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

gemäß § 295 Abs. 1 ZPO unterliegt.168 Das Bundesverfassungsgericht sah sich ebenfalls schon mit der Frage konfrontiert. Eher en passant und jedenfalls obiter dicta weist es darauf hin, dass „der Grundsatz der Unmittelbarkeit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Parteidisposition unterliegt“.169 Dass es sich diese Rechtsprechung dadurch selbst zu Eigen macht, lässt sich jedoch kaum annehmen. Schließlich handelt es sich um eine Frage des einfachen Rechts. Anstoß von Verfassungs wegen nahm es daran aber gleichwohl nicht. Beim Bundesverfassungsgericht wie überhaupt vermisst man allerdings nicht selten etwas die Begründung für die eine oder die andere Schlussfolgerung. Zumeist begnügt man sich mit dem Zitat früherer Entscheidungen oder anderer Fundstellen. Der Streit kreist dabei um § 295 Abs. 2 ZPO. Danach ist die Heilung eines Verfahrensverstoßes durch Rügeverzicht oder Unterlassen der Rüge ausgeschlossen, „wenn Vorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann“. Damit läuft es auf die Frage hinaus, ob die Vorschriften über den formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz darunter fallen. Wonach es sich aber beurteilt, ob § 295 Abs. 2 ZPO anwendbar ist, harrt allerdings nach wie vor der (endgültigen) Klärung. Der Gesetzgeber selbst überlässt es der Wissenschaft, die Vorschriften festzustellen, welche unter die Bestimmung fallen sollen.170 In Rechtsprechung und Schrifttum mangelt es nicht an Versuchen, entsprechende all­ gemeine Kriterien aufzustellen.171 Die hierfür maßgeblichen Aspekte und Abgrenzungskriterien divergieren allerdings nicht unerheblich.

168 Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 17 ff.; Werner/Pastor, NJW 1975, 329, 331; Weth, JuS 1991, 34, 36; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 375. 169 BVerfG NJW 2008, 2243. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Determinierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes noch später im 5. Teil, 10. Kapitel unter I. 170 Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 282 oben. 171 Vgl. den Überblick bei Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 5 ff. Eine unterste Grenze wird darin gesehen, dass jedenfalls die Vorschriften unter § 295 Abs. 2 ZPO fallen (­sollen), die „verfassungsrechtliche Anforderungen an ein gerichtliches Verfahren konkretisieren“ (Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 10). „Große Bedeutung für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens haben dabei die Verfahrensgrundsätze“, sodass darauf beruhende Verfahrensvorschriften bloß für den Fall als verzichtbar sollen angesehen werden können, „wenn gewährleistet ist, daß das Verfahren trotzdem den verfassungsrechtlichen Regeln entspricht (Prütting, a. a. O., Rdnr. 13). Eine solche Grenzziehung hilft freilich im vorliegenden Zusammenhang kaum weiter, weil der (strafprozessuale) Unmittelbarkeitsgrundsatz – nach zutreffender Ansicht – nicht am Schutz durch das Grundgesetz teilhat [vgl. dazu näher im 5. Teil, 10. Kapitel unter I.] sowie für zivilprozessuale Beweisunmittelbarkeit im selben Sinne bloß Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 368.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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aa) Abgrenzungsversuche bei § 295 Abs. 2 ZPO In der Rechtsprechung bemisst man es vereinzelt daran, ob die (verletzten) Verfahrensvorschriften die Grundlagen des Prozessrechts betreffen172, wodurch der (zu heilende) Verstoß gleichsam die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege berührt173. Dabei handelt es sich aber um sehr vage und wenig aussagekräftige Kriterien, die eine klare Grenzziehung kaum möglich machen.174 In der Rechtsprechung differenziert man weiter danach, ob es sich um zwingende öffentlich-rechtliche Vorschriften handelt, die betroffen sind.175 Damit ist aber nicht viel gewonnen, weil dadurch bloß der Wortlaut des § 295 Abs. 2 ZPO umgekehrt wird176, ohne dass inhaltliche Kriterien dafür aufgestellt werden, wann eine Vorschrift derart „zwingend“ ist, dass „auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann“. Ansatz- und Anknüpfungspunkt für die Verzichtbarkeit ist vielmehr die Parteiherrschaft177, wie es der BGH ebenfalls zu erkennen gibt178. Lediglich unter Heranziehung der Partei- und Dispositionsmaxime lässt sich klären, ob es sich um eine Vorschrift handelt, „auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten kann“. Dieses Auslegungskriterium wahrt die innere Systematik des § 295 ZPO. Denn § 295 Abs. 1 ZPO dient der Parteiherrschaft und setzt sie voraus179, indem er es zulässt, dass eine „Partei auf die Befolgung der [verletzten] Vorschrift verzichtet“. Diesen Ansatz macht sich das Schrifttum überwiegend zu Eigen. Danach sind Vorschriften im Sinne von § 295 Abs. 2 ZPO unverzichtbar, wenn sie dem öffentlichen Interesse (an einer geordneten Rechtspflege) dienen, insbesondere von Amts wegen zu beachten sind, und von daher nicht zur Disposition der Parteien stehen.180 Lediglich diese Interpretation des § 295 Abs. 2 ZPO wird seinem Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Norm gerecht. bb) Unmittelbarkeitsmaxime und § 295 Abs. 2 ZPO Sie ist zugrunde zu legen, wenn nunmehr untersucht werden soll, wie es um den zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz und die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen in dieser Hinsicht bestellt ist. Dabei hilft es allerdings nicht viel weiter, sich mit der Aussage zu begnügen, dass die Unmittelbarkeitsmaxime und da 172

OLG Köln OLGZ 1985, 320. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 295 Rdnr. 16. 174 Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 7. 175 BGHZ 86, 43 und 113. Vgl. ferner noch OLG Hamburg FamRZ 1985, 94; OLG Schleswig FamRZ 1988, 737. 176 Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 8. 177 Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 9; Hagen, JZ 1972, 505, 509. 178 BGH NJW 1987, 1200, 1201. 179 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 295 Rdnr. 2. 180 Hk-ZPO/Saenger, § 295 Rdnr. 3; Huber, in: Musielak, ZPO, § 295 Rdnr. 3; Thomas/Putzo, ZPO, § 295 Rdnr. 3. 173

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

mit die Vorschriften der §§ 355, 375 ZPO nicht im öffentlichen Interesse stehen, sondern vielmehr ausschließlich oder aber jedenfalls ganz überwiegend Parteiinteressen verfolgen sollen181. Damit wird bloß der Maßstab für § 295 Abs. 2 ZPO geschildert. Woraus es aber (de lege lata) folgt, dass das Unmittelbarkeitsgebot (nicht) ausschließlich den Interessen der Parteien dient, ist damit noch nicht gesagt. Dafür bedarf es einer näheren Begründung. Koukouselis lehnt die Möglichkeit der Heilung von Verstößen gegen die Unmittelbarkeit ab. Danach dient der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zwar dem Interesse der Parteien auf Feststellung der Wahrheit von Tatsachenbehauptungen durch Erhebung der im Wege des Beibringungsgrundsatzes von den Parteien angebotenen Beweise. Gleichzeitig soll er aber überdies als Institution zu verstehen sein, die im öffentlichen Interesse an der Prozessbeschleunigung im Rahmen eines geordneten und rechtsstaatlichen Verfahrens liegt.182 Daran ist zutreffend, dass die Unmittelbarkeitsmaxime der Beschleunigung und Förderung des Zivilverfahrens dient.183 Ein schneller Zivilprozess wird aber insbesondere von den Parteien begrüßt, sodass es sich dabei – angesichts knapper (Personal-)Ressourcen im staatlichen Gerichtswesen – um ein durchaus öffentliches, mehr aber noch um ein Anliegen der Parteien handelt. Daraus folgt, dass sie darüber disponieren könnten und § 295 Abs. 2 ZPO nicht mit der geschilderten Begründung zur Anwendung gelangen kann. Koukouselis meint ferner noch, dass das Unmittelbarkeitsprinzip im öffent­ lichen Interesse an einer materiell gerechten Rechtspflege liegt.184 Ähnlich sieht es das OLG Düsseldorf. Danach soll der Grundsatz der Unmittelbarkeit deshalb nicht zur Disposition der Parteien stehen (können), weil er der möglichst wirklichkeitsgetreuen Sachverhaltskonstruktion dienen soll.185 Von anderer Seite setzt man sich gegen diese Argumentation zur Wehr. Schlosser zufolge soll der Staat kein Interesse daran haben, den Parteien eine verlässlichere Beweismethode aufzuoktroyieren, als sie selbst ausdrücklich wünschen.186 Eine Begründung (mit dem Gesetz) ist dies aber keinesfalls. Vielmehr setzen diese Äußerungen das voraus, um dessen Klärung es im Rahmen des § 295 Abs. 2 ZPO geht, ob nämlich Unmittelbarkeit der Parteidisposition entzogen ist. Dafür wiederum müssen Argumente auf der Ebene der lex lata gefunden werden. Dies kommt nicht in Konflikt mit dem gesetzgeberischen Ausgangspunkt, dass es Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen bleibt, welche Vorschriften 181

Lindacher, FamRZ 1967, 195; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 12; Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß, S. 42. 182 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 30. 183 s. dazu an früherer Stelle in Anm. 94 (S. 141). 184 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 30 f. (Hervorhebung nicht im Original). 185 OLG Düsseldorf NJW 1976, 1103, 1105. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Weth, JuS 1991, 34, 36. 186 Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß, S. 42.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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unter § 295 Abs. 2 ZPO fallen (sollen), wie es bei Verabschiedung der Reichsjustiz­ gesetze expressis verbis betont worden ist187. Weil dafür die jeweiligen Vorschriften aber wiederum ausgelegt werden müssen, ist der Wille des Gesetzgebers – im Rahmen der historischen Interpretation – selbstverständlich nicht völlig unbeachtlich. Das methodische Vorgehen in dieser Hinsicht erinnert etwas an die Bestimmung des vom jeweiligen Straftatbestand geschützten Rechtsguts auf der positivrechtlichen Ebene, bei der man sich gleichfalls auf die Norm an sich unter Einbezug von (entstehungs-)geschichtlichen und (gesetzes-)systematischen Aspekten zu beschränken und die – im kriminalrechtlichen Zusammenhang ohnehin etwas in Verruf geratene188 – teleologische Auslegung sowie an die Rechtsgutsbestimmung anknüpfende Konsequenzen auszublenden hat.189 Im vorliegenden Zusammenhang hat man – insofern durchaus in gewisser Weise vergleichbar – die jeweilige Verfahrensvorschrift nach Maßgabe der juristischen (Auslegungs-)Methoden auf deren Sinn und Zweck zu untersuchen, und zwar ohne sich dabei von der Frage einer eventuellen Heilungsmöglichkeit gemäß § 295 ZPO leiten zu l­assen. (1) Argumente aus der Entstehungsgeschichte Damit stellt sich unter historischen (Auslegungs-)Gesichtspunkten zunächst die Frage, wie sich der Gesetzgeber in grundsätzlicher Hinsicht zum Unmittelbarkeitsprinzip verhält. Eine deutliche Sprache findet sich in dieser Hinsicht in der Präambel zum Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933.190 Danach soll es durch das Gesetz „zu einem lebendigen Verfahren mit voller Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ und damit zu einer „volkstümlichen Rechtspflege“ kommen, die nicht bloß den Parteien, „sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient“. Angesichts solcher Formulierung versteht es sich von selbst, dass eine Heilung von Verletzungen des Unmittelbarkeitsprinzips zwangsläufig an § 295 Abs. 2 ZPO scheitern muss. Damit kommt es auf die Bedeutung der Präambel an. Dabei würde es, wie geschildert191, zu kurz greifen, sie deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil es sich um ein Gesetz aus der NS-Zeit handelt. Von daher ist es nicht zu beanstanden, wenn der BGH ausführt, dass in jenem Vorspruch zum Ausdruck kommt, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit in seiner Bedeutung für die Wahrheitsfindung 187 Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 282 oben. 188 s. zur diesbezüglichen Diskussion näher Herzberg, JuS 2005, 1 sowie Krüger, JA 2008, 492, 496. 189 Vgl. dazu näher Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 104 ff., 119 ff. 190 RGBl. I S. 780 und dazu bereits unter 2. 191 s. unter 2.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

nicht unterschätzt werden darf.192 Zugleich kann aber der weitere gesetzgeberische Werdegang der gesetzlichen Vorschriften zum zivilprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip nicht unberücksichtigt bleiben. Er dürfte hinreichend deutlich gezeigt haben, dass sich der Gesetzgeber sonst sehr ambivalent zu diesem Verfahrensgrundsatz verhält.193 Zuweilen ist er gestärkt, manchmal aber – etwa durch § 375 Abs. 1a ZPO – nicht minder geschwächt worden. Der Wille des Gesetzgebers lässt sich in dieser Hinsicht nicht abschließend feststellen. (2) Systematische Argumente – Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip und seine Rolle in Offizialverfahren Von daher verwundert es nicht, wenn man sich mehr § 355 ZPO selbst zuwendet. Wenn er Ausnahmen von der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zulässt, soll er gleichzeitig davon ausgehen, dass sie sich auf die in der Zivilprozessordnung bestimmten Fälle beschränken (sollen).194 Insofern misst man den gesetzlichen Ausnahmevorschriften, insbesondere § 375 ZPO, einen abschließenden Charakter bei. Geradezu diametral dazu argumentiert der BGH. Er verweist darauf, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit selbst von der Zivilprozessordnung nicht lückenlos durchgesetzt wird und schließt daraus, dass im Bereich der Beweisaufnahme Raum für Parteidispositionen bestehen würde.195 Im Schrifttum hält man es dagegen im Rahmen von § 295 Abs. 2 ZPO für nicht ausschlaggebend, dass die Parteien in weiten Bereichen der Beweisaufnahme Raum für Dispositionen hätten. Ein solches Recht hätten sie in diesem Verfahrensabschnitt vielmehr „nur aufgrund von besonderen Vorschriften […], die ausdrücklich eine Disposition der Parteien anordnen“, wie etwa §§ 391, 399 ZPO.196 Daraus will Prütting scheinbar ein arg. e contrario herleiten, dass ansonsten die Partei- und Dispositionsmaxime hintanzustehen hat. Aus § 377 Abs. 4 ZPO a. F. hat man wiederum das genau gegenteilige Argument gezogen. Diese – frühere197 – Regelung zur schriftlichen Zeugenaussage hat ein Einverständnis der Parteien mit dieser Vorgehensweise verlangt. Daraus hat man geschlussfolgert, dass die Form der Beweisaufnahme zur Disposition der Parteien steht und damit ein Unmittelbarkeitsverzicht im Rahmen von § 295 ZPO möglich sein soll.198 Schon diese Gegensätzlichkeit zeigt, dass die 192

BGHZ 40, 179, 183. Vgl. unter 2. 194 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 31. 195 BGH NJW 1979, 2518. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 17. 196 Prütting, in: MünchKommZPO, § 295 Rdnr. 20 (Hervorhebung nicht im Original). 197 Seine heutige Fassung hat § 377 Abs. 3 ZPO durch das Rechtspflege-Vereinfachungs­ gesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2847) erhalten. Vgl. näher zu § 377 Abs. 3 ZPO im 4. Teil, 9. Kapitel unter I. 1. 198 Peters, Freibeweis, S. 103 in Fn. 100; Lindacher, FamRZ 1967, 195. 193

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Argumentationen einigermaßen beliebig wirken. Im Übrigen vermögen sie durchweg nicht zu überzeugen. Aus einem (methodischen) Grund geht es nicht an, dass man gesetzliche Rege­ lungen, die ausdrücklich auf ein Einverständnis der Parteien abstellen, etwa §§ 391, 399 ZPO, in der Frage der (Un-)Anwendbarkeit von § 295 Abs. 2 ZPO fruchtbar machen will. Dabei gilt es nämlich Folgendes zu bedenken: Wenn eine Vorschrift ein ausdrückliches Einverständnis verlangt, geht sie – gleichsam als lex specialis – der allgemeinen Regelung gemäß § 295 ZPO vor, sodass sie Rückschlüsse für die allgemeine Frage der Anwendung von § 295 Abs. 2 ZPO eher nicht zulässt. Sie sind bei der Betrachtung vielmehr auszublenden. Stattdessen sind die verletzten Verfahrensvorschriften selbst in den Mittelpunkt zu rücken. In dieser Hinsicht hält es die gegenteilige Ansicht, wonach sich die Ausnahmen von der Unmittelbarkeit auf die in der Zivilprozessordnung „bestimmten Fälle“ zu beschränken haben.199 Sie kann zwar durchaus den Wortlaut des § 355 Abs. 1 Satz 2 ZPO für sich reklamieren. Zum einen indiziert aber diese Norm überhaupt erst den Verfahrensverstoß, um dessen (mögliche) Heilung es geht. Sie wirft sozusagen überhaupt erst die Frage auf und kann von daher kaum zugleich die Antwort darauf geben. Im Übrigen lässt sich argumentieren, dass § 295 Abs. 1 ZPO, seine Anwendbarkeit im vorliegenden Zusammenhang einmal unterstellt, ein von der Zivilprozessordnung vorgesehener Ausnahmefall ist. Die Argumentation mit § 355 Abs. 1 Satz 2 ZPO gerät vor diesem Hintergrund in einen Zirkelschluss und entbehrt von daher der Überzeugungskraft. Einen anderen Argumentationsansatz verfolgt Lindacher. Er sieht die Bedeutung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zwar auf dem Gebiet der Wahrheitsfindung. Im zivilprozessualen Regelverfahren erfolgt diese aber, wie es sich aus der Geltung der Verhandlungsmaxime ergeben soll, ausschließlich im Parteiinteresse.200 Durchaus ähnlich argumentiert der BGH in seiner grundlegenden Entscheidung BGHZ 40, 179. Nachdem er auf gegenteilige Ansichten im Schrifttum verweist, hält er es nicht für gerechtfertigt, die Parteidisposition bei der Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Einzelfall zum Ausdruck gebracht werden soll, schlechthin auszuschließen. Etwas anderes soll gelten, soweit ein Verfahren unter der Offizialmaxime läuft.201 Damit unterstellt der BGH die formelle Unmittelbarkeit der Parteiherrschaft. Eine Begründung dafür gibt er indes nicht. Sie kann insbesondere nicht darin gesehen werden, dass möglicherweise in besonderen Zivilverfahren mit Geltung der Offizialmaxime etwas anderes gelten soll. Zunächst bilden Lindacher wie der BGH damit (wiederum) bloß den Maßstab für § 295 Abs. 2 ZPO ab, ohne die Antwort darauf zu geben, warum Un­ 199

Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 31. Lindacher, FamRZ 1967, 195. 201 BGHZ 40, 179, 184. 200

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

mittelbarkeit im zivilprozessualen Regelverfahren zur Parteidisposition stehen soll. Im Übrigen muss § 295 Abs. 2 ZPO bereits im zivilprozessualen Regelverfahren zur Anwendung kommen (können), wenn man die Vorschrift nicht ad absurdum führen will. Auf Grund der systematischen Stellung im Gesetz soll es schließlich nach Auffassung des Gesetzgebers durchaus der Fall sein (können). Folglich muss man Argumente aus den Vorschriften über diese Verfahrensart finden und darf für den Ausschluss von § 295 Abs. 2 ZPO nicht auf andere Verfahrensarten verweisen. (3) § 284 Satz 2 ZPO als Schlüssel zur Lösung des Problems Eine solche gesetzliche Regelung für das streitige Zivilverfahren gibt es (inzwischen). Mit dem Ersten Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 24. August 2004 kam es zur Änderung von § 284 ZPO.202 Bereits seine amtliche Überschrift („Beweisaufnahme“) zeigt, dass es sich dabei – anders als §§ 391, 399 ZPO bzw. § 377 Abs. 4 ZPO a. F.203 – um eine zentrale Vorschrift im Recht der Beweis­ aufnahme handelt. Wegen seines ersten Satzes, worin für die Beweisaufnahme auf die Vorschriften des fünften bis elften Titels und damit auf §§ 355, 375 ZPO verwiesen wird, ist er für die Auslegung dieser (nachfolgenden) Vorschriften von grundlegender Bedeutung. § 284 Satz 2 ZPO lässt die Beweisaufnahme in einer „geeignet erscheinenden Art“ und Weise seitens des Gerichts zu, wenn sich die Parteien hiermit einverstanden erklären. „Dadurch kann sich der Richter in geeigneten Fällen über […] den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Einvernehmen der Parteien hinwegsetzen.“204 Er kann in diesen Konstellationen außer Kraft gesetzt werden, wodurch der Zivilprozess noch stärker der Parteiherrschaft unterworfen wird.205 Unmittelbar betrifft die Vorschrift zwar lediglich die Fälle, in denen sich die Parteien zuvor mit der Form der Beweisaufnahme einverstanden erklären. Mittelbar ist dies aber durchaus von Bedeutung für § 295 Abs. 2 ZPO. Der Gesetzgeber gibt dadurch nämlich unmissverständlich zu erkennen, dass die Vorschriften über die Beweisaufnahme weitestgehend zur Disposition der Parteien stehen. Von daher liegt es nahe, dass deren nicht einvernehmliche Verletzung der (späteren) Heilung zugänglich ist. Der Gesetzgeber selbst lässt dies erkennen. Er sah bereits auf der Grundlage des damals geltenden Rechts, d. h. ohne § 284 Satz 2 ZPO, die Möglichkeit der Heilung von Verstößen gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit als gegeben an. Durch diese (neue) Vorschrift sollen aber Verfahrenserleichterungen im Einvernehmen beider Parteien vom Odium der Verfahrensverletzung

202

BGBl. I S. 2198. Vgl. dazu unter (2). 204 BT-Drs. 15/1508, S. 13. 205 BT-Drs. 15/1508, S. 18. 203

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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befreit und auf eine solide rechtliche Grundlage gestellt werden.206 Damit kann § 295 Abs. 2 ZPO in Fällen der nicht einvernehmlichen Verletzung der §§ 355, 375 ZPO nicht mehr zur Anwendung kommen. Wenn die Parteien im Vorfeld darüber disponieren können, handelt es sich nicht um Vorschriften, „auf deren Befolgung die Partei nicht wirksam verzichten kann“.207 Vielmehr kommt § 295 Abs. 1 ZPO zur Anwendung. Wenn man der „Verletzung“ bereits im Vorfeld wirksam zustimmen kann, muss es im Nachhinein ebenso möglich sein und kann von daher nicht (mehr) an § 295 Abs. 2 ZPO scheitern. An der Vorschrift des § 284 Satz 2 ZPO hat sich aber Kritik artikuliert. Sie sei ein „Fremdkörper“ und „erstaunliches Novum für den deutschen Zivilprozess“, das „mehr Nachteile als Vorteile erwarten lässt“.208 Soweit es die Möglichkeit der Heilung betrifft, soll die Vorschrift ohne Einfluss darauf bleiben, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Parteidisposition entzogen ist.209 Eine solche Interpretation verstößt aber gegen den eindeutigen Wortlaut von § 284 Satz 2 ZPO und vermag von daher de lege lata nicht zu überzeugen. De lege ferenda wird als Argument angeführt, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz in engem Zusammenhang mit der Beweiswürdigung steht210, wodurch sich die Vorschrift insofern Bedenken ausgesetzt sieht. Der Einwand suggeriert, dass er von der h. M. in der Diskussion um die Möglichkeit der Heilung von Verstößen gegen das zivilprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip völlig unbeachtet bleiben würde. Ein solcher Schluss wäre indes voreilig gezogen. b) Heilung und freie Beweiswürdigung Es besteht nämlich eine Ausnahme von der grundsätzlich gegebenen Möglichkeit der Heilung von Verletzungen des zivilprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips. Wenn die verfahrensfehlerhaften Feststellungen erst durch das Urteil offengelegt werden, entfällt eine Heilung, weil die betroffene Partei zuvor keine Möglichkeit hatte, den Fehler zu rügen.211 Dasselbe ist gemeint, wenn es heißt, dass eine Heilung ausgeschlossen ist, wenn das Gericht die fehlerhaft gewonnen Beweisergebnisse in seiner Entscheidung verwertet und das Urteil darauf beruht.212 Erst bei weitergehender Betrachtung zeigt sich der (wahre) Hintergrund dieser Ausnahme von § 295 Abs. 1 ZPO. 206

BT-Drs. 15/1508, S. 18. Vgl. im selben Sinne bereits Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 32. 208 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 363, 377, 383. 209 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 375. 210 Ebd. 211 BGH NJW-RR 1992, 1966, 1967; NJW-RR 1997, 506; OLG Düsseldorf, NJW 1992, 187, 188; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 18; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 12. 212 Thomas/Putzo, ZPO, § 355 Rdnr. 7 f. 207

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

Es ist in solchen Fällen nämlich nicht bloß § 355 ZPO verletzt. Wenn „der Fehler erst in der Beweiswürdigung der Urteilsgründe zu Tage“ tritt213, ist daneben noch das Prinzip der freien Beweiswürdigung tangiert. In dieser Hinsicht nimmt man bei Missachtung von § 355 ZPO einen Verfahrensfehler an, der sich in einem Verstoß gegen § 286 ZPO fortsetzen kann, wenn die Verletzung der zivilprozes­sualen Unmittelbarkeitsmaxime erst im Urteil sichtbar wird.214 Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist jedoch der Parteidisposition entzogen215, sodass bei einem solchen (Folge-)Fehler der Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme der Heilung entzogen ist, weil insofern § 295 Abs. 2 ZPO zur Anwendung kommt. Die Quintessenz dessen hat Hartmann wie folgt auf den Punkt gebracht216: „Eine Verletzung [von § 355 ZPO] ist heilbar, soweit nicht auch § 286 ZPO verletzt ist“. Insofern steht „der Unmittelbarkeitsgrundsatz in engem Zusammenhang mit der freien Beweiswürdigung“217, worauf vielfach hingewiesen wird. Im zivilprozessrechtlichen Schrifttum liest man diesbezüglich, dass er die Möglichkeit persön­ licher Beweiswürdigung durch das entscheidende Gericht sichern soll218, wie man es schon als Sinn und Zweck des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes gelesen hat219. Bereits die Motive zur Civilprozeßordnung nennen im Zusammenhang mit der (Vorläufer-)Regelung des § 355 ZPO die Grundsätze der Unmittelbarkeit der Verhandlung und der freien Beweiswürdigung in einem Atemzuge.220 Der eigene, nicht durch Protokolle oder mündlichen Bericht vermittelte Eindruck vom Ergebnis der Beweisaufnahme stellt eine tragfähigere Grundlage für eine gewissenhafte Tatsachenfeststellung dar.221 Sie liefert, um mit Musielak zu sprechen222, die „geeignete Grundlage für die Beweiswürdigung des Richters“. Ein solcher Bezug – zwischen Unmittelbarkeit als einen der tragenden Grundsätze der Beweisaufnahme und § 286 ZPO als dem wichtigsten Grundsatz der Be-

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Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 12. Hk-ZPO/Eichele, § 355 Rdnr. 5. 215 RGZ 96, 57, 59; RG JW 1900, 151; BGH VersR 1967, 25, 26; NJW-RR 1995, 1328; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 32; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 295 Rdnr. 23; Pantle, NJW 1988, 2027, 2028; ders., NJW 1991, 1279, 1280; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286 Rdnr. 20; Foerste, in: Musielak, ZPO, § 286 Rdnr. 16; Greger, in: Zöller, ZPO, § 286 Rdnr. 8. 216 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 8. Angesichts dessen wirkt der Streit um die Frage der Heilung von Verletzungen des § 355 ZPO allerdings etwas müßig oder – bildlich gesprochen – wie ein dogmatisches Glasperlenspiel und Streit um des Kaisers Barte, weil dieser Verstoß wohl meist zugleich einen solchen gegen § 286 ZPO beinhaltet (s. in diesem Sinne etwa Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 295 Rdnr. 53). 217 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 32. 218 Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 2. 219 Vgl. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 220 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 304. 221 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 5. 222 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1. 214

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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weiswürdigung223 – besteht dabei nicht bloß in der Sache. Vielmehr wird er bereits de lege lata hergestellt. Die Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip, etwa § 375 ZPO224, verlangen in dieser Hinsicht, dass von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht „das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. In der ursprünglichen Fassung kannte die Vorläuferregelung von § 375 ZPO diesen Passus noch nicht. Dennoch ging der historische Gesetzgeber davon aus, dass sie gleichwohl eher restriktiv von den Gerichten gehandhabt werden sollte. Er sah sich freilich darin enttäuscht, weil die Praxis die Regelung eher großzügig angewendet hat.225 Damit wollte der Gesetzgeber bewusst brechen und wieder den aus § 355 ZPO abzuleitenden Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme stärker betonen. Die Gerichte sollen sich veranlasst sehen, „die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Regeln über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sorgfältig zu prüfen“.226 Im Schrifttum ist dies als gewisse Hinwendung zum Unmittelbarkeitsgrundsatz begrüßt worden.227 Auf welche Weise dies erreicht werden soll, gilt es nunmehr etwas näher darzustellen. Eine kommissarische Zeugenvernehmung ist bloß für den Fall zulässig, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Daran fehlt es etwa, wenn mit einander widersprechenden Aussagen zu rechnen ist.228 Im Übrigen liegt Entbehrlichkeit des un­mittelbaren Eindrucks vor, je weniger es auf die Glaubwürdigkeit der Aussageperson ankommt229, sodass – umgekehrt – eine kommissarische Vernehmung ausscheidet, wenn es gerade maßgeblich auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit ankommt230. Dabei hat das Prozessgericht nicht bloß die Person des Zeugen zu berücksichtigen, sondern daneben noch das Beweisthema, die bisher vorliegenden Beweis­ ergebnisse und den sonstigen, insbesondere unstreitigen Prozessstoff.231 Aufgrund

223 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 1 (Hervorhebungen jeweils im Original). 224 Gleiches sehen § 349 Abs. 1 Satz 2 und § 527 Abs. 2 Satz 2 ZPO vor. Dabei ist der Passus überall identisch zu interpretieren. Dafür spricht schon der Umstand, dass bei seiner Einführung in § 375 ZPO in den Motiven expressis verbis auf die Regelung zur Berufung hingewiesen worden ist (BT-Drs. 11/3621 S. 38). Von daher wird sich im Folgenden auf Rechtsprechung und Schrifttum zu § 375 ZPO konzentriert. 225 s. zur Entstehungsgeschichte näher unter 2. 226 BT-Drs. 11/3621 S. 38. 227 Damrau, in: MünchKommZPO, § 375 Rdnr. 1; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 1 mit Rdnr. 3. 228 OLG Köln NJW-RR 1998, 1143; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 2; Greger, in: Zöller, ZPO, § 375 Rdnr. 1. 229 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 6. 230 Greger, in: Zöller, ZPO, § 375 Rdnr. 1. 231 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 7; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 2.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

dieser Umstände hat es eine Prognose bzw. Wahrscheinlichkeitsbewertung vorzu­ nehmen232, ob im Rahmen der Beweiswürdigung auf den unmittelbaren Eindruck vom Verlauf der Beweisaufnahme verzichtet werden kann. Dies muss jedenfalls denkbar und möglich sein, ohne dass dies genügt. Absolute Sicherheit ist aber ebenfalls nicht zu verlangen. Vielmehr genügt ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit.233 Bei dieser Bewertung kommt es im Übrigen nicht auf die Sicht der Prozessbeteiligten, insbesondere nicht der Parteien an. Das Gericht hat zwar deren Ansichten in die Abwägung einzustellen, muss gleichwohl aber eine Entscheidung aufgrund eigenen, pflichtgemäßen Ermessens treffen234, wie überhaupt sämtliche Voraussetzungen der Ausnahmefälle vom Grundsatz der Unmittelbarkeit „in die pflichtgemäße Beurteilung des Prozeßgerichts gestellt“ sind.235 Dies überrascht etwas angesichts der Tatsache, dass im Zivilverfahren ansonsten die Partei- und Dispositionsmaxime als vorherrschend betrachtet wird236. Sie erfährt bei § 375 Abs. 1 ZPO darüber hinaus noch eine weitere Einschränkung. Die Prognose muss ex ante im Moment der Übertragung angestellt werden, wie es vom Gesetz unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird („von vornherein anzunehmen ist“). Im Übrigen aber ist die Gesetzesfassung geeignet, zu Missverständnissen führen zu können. Es könnte etwa der Eindruck entstehen, dass eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit überhaupt, sprich bei gesetzeskonformer Vornahme einer kommissarischen Zeugenvernehmung, unterbleiben kann. Keinesfalls verhält es sich aber in diesem Sinne. Bei der Würdigung der vom verordneten Richter erhobenen Beweise durch das Prozessgericht dürfen vielmehr persönliche Eindrücke des beauftragten oder ersuchten Richters berücksichtigt werden, sofern sie im Protokoll niedergelegt sind. Wenn es dagegen die Glaubwürdigkeit anders beurteilen will, darf es dies nicht bloß in den Entscheidungsgründen tun. Vielmehr muss es in einem solchen Fall – wie beim Wechsel in der Besetzung des Spruchkörpers – die Vernehmung wiederholen.237 Einmal mehr zeigen sich darin Inter­ dependenzen zwischen (formeller) Unmittelbarkeit und Beweiswürdigung.

232

Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 4; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 2. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 6. 234 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 7; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 2. 235 Motive zur ZPO bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 309. 236 Vgl. dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76 Rndr. 1 ff. mit § 77 Rdnr. 3, 7 ff.; Jauernig, Zivilprozessrecht, S. 67 ff.; Lüke, Zivilprozessrecht, § 2 Rdnr. 6 ff.; Paulus, Zivilprozessrecht, Rdnr. 210 ff.; Schellhammer, Zivilprozess, Rdnr. 1163 ff.; Thomas/Putzo, ZPO, Einl. Rdnr. 1 ff.; Greger, in: Zöller, ZPO, vor § 128 Rdnr. 9 ff.; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, vor § 128 Rdnr. 18 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rdnr. 138 ff.; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rdnr. 274 ff.; Musielak, in: ders., ZPO, Einl. Rdnr. 35 ff. Ganz in diesem Sinne spricht RGZ 151, 93, 98 vom Verhandlungsgrundsatz als „dem obersten Grundsatz der Prozeßordnung“ (Hervorhebung nicht im Original). 237 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 15 m. w. N. sowie bereits die Ausführungen zum Richterwechsel an früherer Stelle. 233

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Die Gesetzesfassung ist noch in anderer Hinsicht missglückt. Denn die Frage, ob das Beweisergebnis sachgemäß zu würdigen ist, kann oftmals erst anhand des Verlaufs der Beweisaufnahme entschieden werden.238 Wenn sich, ohne dass es schon ex ante ab- und voraussehbar war, erst ex post herausstellt, dass eine sachgemäße Beweiswürdigung nicht möglich ist, kommt es zur erneuten Vernehmung des Zeugen vor dem Prozessgericht gemäß § 398 Abs. 1 ZPO.239 Die Vorschrift eröffnet dem Gericht zwar ein Ermessen. In der geschilderten Konstellation der sich nachträglich als unrichtig erweisenden Prognose im Rahmen von § 375 Abs. 1 ZPO nimmt aber selbst die – im Umgang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz ansonsten eher großzügige – Rechtsprechung hinsichtlich des Vorgehens nach § 398 Abs. 1 ZPO eine echte Rechtspflicht an240, wie es sich bloß mit der überragenden Bedeutung des Unmittelbarkeitsprinzips als einen der wichtigsten Beweisgrundsätze erklären lässt. Im Ergebnis wird er von daher durch den einleitenden Halbsatz des § 375 ZPO in mehrfacher Hinsicht betont. Zum einen stärkt er als zusätzliches Erfordernis für eine kommissarische Zeugenvernehmung den Grundsatz aus § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO und versteht sich von Seiten des Gesetzgebers als bewusste Abkehr von der (früheren) Praxis. Zum anderen liegt seine Anwendung nicht in den Händen der Parteien. Vielmehr ist die Prognose eigenständig vom Gericht vorzunehmen, wobei es zwar ein pflichtgemäßes Ermessen hat, das sich bei deren Unrichtigkeit aber – entgegen dem Wortlaut von § 398 Abs. 1 ZPO – in eine Verpflichtung zur unmittelbaren Vernehmung des Zeugen vor dem Prozessgericht wandelt. Auf diese Art und Weise wird der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz – zumindest de lege lata241 – vor dem Hintergrund des Prinzips der freien Beweiswürdigung, mit dem es in einem engen, nahezu unauflöslichen und jedenfalls vom Gesetz­ geber betonten Zusammenhang steht, entscheidend gestärkt. Angesichts dessen übersieht weder der Gesetzgeber noch – entgegen VölzmannStickelbrock242 – die h. M. in der Frage der Möglichkeit einer Heilung von Verstö 238

Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 4. Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 375 Rdnr. 4 mit § 398 Rdnr. 7; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, § 375 Rdnr. 7; Huber, in: Musielak, ZPO, § 375 Rdnr. 2 a. E.; Greger, in: Zöller, § 375 Rdnr. 1 a. E mit § 398 Rdnr. 5. § 398 ZPO und seine diesbezügliche Hand­ habung werden offensichtlich von Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 43 übersehen, wenn sie Kritik an § 349 Abs. 1 Satz 2 ZPO erhebt, wonach dessen Voraussetzungen „völlig von der subjektiven Vorstellung“ des Kammervorsitzenden und seiner „eigenen Meinung“ abhängen soll. 240 BGH NJW 1990, 3088; NJW 1991, 1180; NJW 1997, 1586, 1587; NJW-RR 1994, 1537; NJW-RR 1997, 505, 506; NJW-RR 2002, 1649. 241 Dass sich die Praxis an die gesetzlichen Vorgaben im Einzelfall nicht hält oder diese möglicherweise sogar systematisch umgeht, ist insofern ohne Belang. Denn eher muss sich die rechts- und gesetzeswidrige Praxis dem Gesetz anpassen als umgekehrt. Vgl. in dieser Hinsicht bereits Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 355 Rdnr. 2: „Vorladung vorm Prozessgericht ist deshalb öfter ratsam als weithin praktiziert.“ 242 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 375. 239

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

ßen gegen den zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz dessen engen Zusammenhang zum Prinzip der freien Beweiswürdigung. Es könnte aber freilich sein, dass dieser Bezug nunmehr durch § 284 Satz 2 ZPO verloren geht und die geschilderte Ausnahme von § 295 ZPO de lege lata ebenfalls zur Disposition der Parteien steht. Mitnichten ist es aber der Fall. Aus zweierlei Gründen bleibt es dabei, dass Heilung ausgeschlossen ist, sobald das Prinzip der freien Beweiswürdigung tangiert ist, ohne dass § 284 Satz 2 ZPO daran etwas ändert. Dafür streiten ein eher formales Argument aus dem Wortlaut und ein mehr inhaltlich-materielles Kriterium de lege lata. § 284 Satz 2 ZPO normiert eine Ausnahme von § 284 Satz 1 ZPO, wonach die Beweisaufnahme „durch die Vorschriften des fünften bis elften Titels bestimmt wird“. Die Beweiswürdigung ist aber nicht in diesen Vorschriften geregelt, sodass § 284 Satz 2 ZPO bereits insofern ohne Belang ist. Dabei handelt es sich um ein gesetzestechnisches Argument von eher formaler Natur. Im Übrigen ist keinesfalls gesagt, dass der Bezug des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zur freien Beweiswürdigung, wie es Völzmann-Stickelbrock scheinbar glauben machen will, im Wortlaut des § 284 Satz 2 ZPO unterzugehen droht. Eine nähere Normexegese unternimmt sie jedenfalls nicht. Wenn man sich dieser Mühe unterzieht, wird demgegenüber deutlich, dass der Zusammenhang zumindest ansatz- und andeutungsweise Eingang in den Gesetzestext gefunden hat. § 284 Satz 2 ZPO verlangt neben dem Einverständnis der Parteien, dass das Gericht die beabsichtigte und von den Vorschriften des fünften bis elften Titels abweichende Beweiserhebung für eine „geeignet erscheinende(n) Art“ und Weise der Beweisaufnahme hält. Von vornherein geeignet kann aber bloß eine im Rahmen der Beweiswürdigung verwertbare Form der Beweisaufnahme sein. Dies wiederum bedeutet, dass der Richter bei § 284 Satz 2 ZPO davon ausgehen muss, dass es auf Aspekte der Glaubwürdigkeit der Aussageperson, die sich bloß durch Aussage vor dem Gericht selbst wahrnehmen lassen, insbesondere nonverbales Verhalten, wie Körpersprache, Gestik und Mimik243, im Rahmen der Beweiswürdigung nicht wird ankommen können. In die gleiche Richtung weist es, wenn Völzmann-Stickelbrock ein Vorgehen nach § 284 Satz 2 ZPO bei Zeugen für ausgeschlossen hält, „deren Glaubwürdigkeit von vorneherein fraglich erscheint“244. Wenn man gleichwohl in diesem Sinne verfährt und dies anschließend bei der Beweiswürdigung für ausschlaggebend hält und sich dafür auf das Einverständnis der Parteien und damit auf § 284 Satz 2 ZPO berufen will, ist zwar nicht (mehr) das Unmittelbarkeits­ gebot verletzt, wohl aber – nach wie vor – das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Davon suspendiert die Vorschrift nicht. Zugleich ist die Norm selbst verletzt, weil es sich gerade nicht um eine „geeignet erscheinende(n) Art“ der Beweisauf 243

Vgl. zu Aspekten im Rahmen der Glaubwürdigkeit bloß Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 54 ff. sowie zu deren Relevanz de lege lata et ferenda an späterer Stelle im Zusammenhang im 5. Teil, 11. Kapitel unter I. 244 Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 378.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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nahme gehandelt hat. Eine nachträgliche Heilung gemäß § 295 ZPO kommt insofern übrigens nicht in Betracht. Schließlich muss diese Voraussetzung kumulativ zu dem ohnehin erforderlichen Einverständnis der Parteien hinzutreten. Wenn sie fehlt, kann dies nicht nachträglich geheilt werden, weil sich sonst der Gesetzgeber gleich mit dem bloßen Einverständnis hätte begnügen können, ohne diese weitere Voraussetzung zu statuieren. Dass er es gleichwohl getan hat, lässt sich bloß dahingehend interpretieren, dass sie der Parteidisposition entzogen ist, will man die Vorschrift nicht ad absurdum führen. Vor diesem Hintergrund wird man eine „geeignet erscheinende(n) Art“ der Beweisaufnahme bloß für den Fall annehmen (können), dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Damit ist deutlich geworden, dass die von Völzmann-Stickelbrock heraufbeschworene Gefahr, dass der enge Zusammenhang zwischen dem Unmittelbarkeitsgrundsatz und der freien Beweiswürdigung in der Vorschrift des § 284 Satz 2 ZPO verloren zu gehen droht, nicht besteht, jedenfalls nicht im befürchteten Ausmaß. Angesichts dessen – und darin ist Völzmann-Stickelbrock ausdrücklich zuzustimmen245 – wird die Vorschrift freilich „nur in wenigen Ausnahmefällen“ zur Anwendung kommen (können), sodass ein sehr „enger Anwendungsbereich“ für die Norm verbleibt, womit zugleich implizit gesagt ist, dass trotz der Regelung am zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz aufgrund seines unmittelbaren Bezugs zur freien Beweiswürdigung festzuhalten ist – und vom Gesetzgeber fest­gehalten wird. 6. Fazit zur (formellen) Unmittelbarkeit im Zivilprozess Ein Fazit zur formellen Unmittelbarkeit im Zivilverfahren muss angesichts der vorstehenden Ausführungen geradezu ambivalent ausfallen. Einerseits wird sie vom Gesetzgeber verstärkt betont. Es zeigt sich zum einen darin, dass sie – anders als im Strafprozessrecht – überhaupt unmittelbar im Gesetz selbst loziert ist. Im Übrigen wurden die gesetzlichen Ausnahmen vom zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz vom Gesetzgeber im Laufe der Zeit immer enger gefasst. Allerdings, und darin zeigt sich die Ambivalenz, können Verstöße gegen § 355 ZPO in gewissem Umfang geheilt werden, wie es sich nach Einführung von § 284 Satz 2 ZPO kaum noch ernsthaft bestreiten lässt. Freilich wird Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nicht bloß durch § 355 ZPO gewährleistet. Insofern ist vielmehr ein anderer, gleichsam übergeordneter – und insbesondere der Heilung nach § 295 ZPO entzogener – Gesichtspunkt zu nennen. Eigentlicher, jedenfalls primärer und vorrangiger Garant des zivilprozessrecht­

245

Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 378.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

lichen Unmittelbarkeitsgebots ist nämlich das Prinzip der freien Beweiswürdigung, wie es – für das Zivilverfahren – de lege lata in § 286 ZPO verankert ist.

II. Formelle Unmittelbarkeit im Strafprozess Vor diesem Hintergrund soll sich nunmehr der Frage angenommen werden, ob und auf welche Weise, insbesondere in welcher gesetzlichen Vorschrift, der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner formellen Variante loziert ist. Dabei ist man sich im Ausgangspunkt darin einig, dass er „im Gesetz keine unmißverständlich klare Regelung gefunden hat“.246 Das zivilprozessuale Pendant wird, um es in Erinnerung zu rufen, entscheidend durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gewährleistet. Dieser wiederum wird im Strafprozessrecht durch § 261 StPO garantiert. Eine entsprechende Vorschrift soll, jedenfalls nach Ansicht der strafgerichtlichen Judikatur, der Bereich des bürgerlichen Rechtsstreits nicht kennen.247 Die Betrachtungen haben indes gezeigt, dass dieses Prinzip dem Zivilverfahrensrecht sehr wohl bekannt ist und unmittelbar im Gesetz selbst loziert ist (§ 286 ZPO). Freilich bleibt es ohne Konsequenzen, dass man die (Parallel-) Vorschrift übersieht und der strafprozessualen Binnensicht (allzu sehr) verhaftet bleibt. Denn, wie nunmehr noch näher aufgezeigt werden soll, herrscht in Rechtsprechung und Strafprozessrechtswissenschaft darin Einigkeit, dass formelle Unmittelbarkeit durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO de lege lata unmittelbar im Gesetz selbst verankert ist. Dass die Vorschrift hierfür prädestiniert ist, zeigt bereits deren Entstehungsgeschichte. Mit der Reichsstrafprozessordnung wurde die Abkehr vom gemeinrechtlichen Inquisitions- zum reformierten Strafprozess zum Abschluss gebracht. Das Unmittelbarkeitsprinzip wiederum ist Ausfluss dieses Wandels in den Prozessstrukturen.248 Insofern lässt sich eine zeitliche Parallelität zwischen der Geburtsstunde des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes einerseits und dem Entstehen von § 261 StPO andererseits nicht leugnen. Freilich kann es mit diesem historischen Hinweis nicht sein Bewenden haben. Vielmehr muss näher aufgezeigt werden, inwiefern sein formeller Aspekt de lege lata Eingang in § 261 StPO gefunden hat. Damit näher befasst hat sich Geppert. Wortwörtlich führt er in dieser Hinsicht aus249: „Gesetzlich verankert ist diese formelle Spielart des Unmittelbarkeitsprinzips in erster Linie in § 261 StPO (‚aus dem Inbegriff der Verhandlung‘).“ Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis stellt er zunächst die zwei tragenden Verfahrensgrundsätze der Vorschrift dar, wonach durch das Wort „Verhandlung“ die Entscheidung des Gesetzes zur Mündlichkeit des Prozessverkehrs zum Ausdruck gebracht 246

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. BGHSt 18, 51, 52. 248 Vgl. dazu näher im 1. Teil, 1. Kapitel unter II. 249 Vgl. zum Folgenden Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 146. 247

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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werden soll und sich überdies das Gesetz mit der Formulierung, dass das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme „nach seiner freien … Überzeugung“ zu befinden hat, zur freien richterlichen Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung bekennt.250 Diesen beiden Aspekten des § 261 StPO stellt Geppert aber noch einen weiteren darin enthaltenen Gedanken an die Seite.251 Es sei nicht ganz korrekt zu behaupten, dass die Vorschrift lediglich die „rechtliche Regelung richterlicher Schlussfolgerungen“ regeln soll, nicht aber die „Form der Beweisaufnahme“. Wenn nämlich die Entscheidung des Gerichts seiner freien Überzeugung überantwortet wird, setzt dies wie nahezu selbstverständlich voraus, dass das erkennende Gericht den Weg zur Wahrheit selbst gehen muss. In dieser Hinsicht spricht das Gesetz in § 261 StPO nicht bloß von der „freien“, sondern im selben Atemzug noch von der „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Liest man eben diese Vorschrift mit Betonung auf „aus dem Inbegriff (der Verhandlung)“, soll man den Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit erkennen,252 wonach im Interesse möglichst zuverlässiger Wahrheitsfindung die Beweisaufnahme vom erkennenden Gericht selbst im Rahmen der Hauptverhandlung durchgeführt werden muss. Diese formelle Seite der Unmittelbarkeitsidee soll notwendiges Korrelat und zwangsläufige Voraussetzung der richterlichen Beweiswürdigung sein. In der Folgezeit hat sich die Meinung von Geppert in Rechtsprechung und Schrifttum durchgesetzt. Unisono sieht man formelle Unmittelbarkeit de lege lata in § 261 StPO verankert.253 Zur Begründung führt man noch ein weiteres Argument an. Es sei festzuhalten, „daß bei der Beurteilung der Problematik [der Mitwirkung eines blinden Richters im Hinblick auf die formelle Unmittelbarkeit254] möglicherweise ein Unterschied zwischen der StPO und anderen Prozessordnungen gesehen werden muß. Dieser könnte sich aus § 261 StPO und der damit verbundenen Verpflichtung ergeben.“ An dieser Stelle noch in der Fußnote255, später aber im Text 250

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 145. Ebd. 252 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 141. 253 BGHSt 43, 360, 361; Kühne, Strafprozessrecht, § 55 Rdnr. 914 mit § 56 Rdnr. 951; ders., in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 63; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 29; Schlüchter, Strafverfahren, Rdnr. 470; Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 21 Rdnr. 112; Ott, in: KK, § 261 Rdnr. 1. Vgl. ferner Hellmann, Strafprozessrecht, § 14 Rdnr. 659, der zugleich noch § 264 Abs. 1 StPO nennt. Wenn Kindhäuser, a. a. O.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46 Rdnr. 3 sowie Kühne, Strafprozessrecht, § 55 Rdnr. 914 meinen, dass die kommissarische Vernehmung eine Ausnahme vom Grundsatz formeller Unmittelbarkeit bildet, ist dem allerdings zu widersprechen. Weil die hierüber errichteten Protokolle in der (späteren) Hauptverhandlung verlesen werden, gehören sie zum „Inbegriff der Verhandlung“. Dass formelle Unmittelbarkeit de lege ferenda der Verlesung nicht entgegensteht, wurde im Übrigen bereits dargetan, vgl. im 6. Kapitel. Vgl. zur Frage der verfassungs- und konventionsrechtlichen Verankerung im Übrigen noch im 5. Teil, 10. Kapitel. 254 BGHSt 35, 164, 166 nennt im Zusammenhang mit dieser Thematik ebenfalls § 261 StPO. 255 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 80 in Fn. 295. 251

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

selbst findet man insofern die Bemerkung, dass es an einer § 261 StPO entsprechenden Norm in anderen Prozessordnungen fehlen soll.256 Der BGH hat sich dies ebenfalls zu Eigen gemacht. In BGHSt 18, 51, 52 liest man vom „Bereich des bürgerlichen Rechtsstreits, der allerdings […] eine dem § 261 StPO vergleichbare Vorschrift nicht kennt“. Als Fazit lässt sich festhalten, dass ein eher formelles Unmittelbarkeitsverständnis seine gesetzliche Grundlage in § 261 StPO finden soll, wobei die Betonung auf den „Inbegriff“ der Verhandlung und darauf gelegt wird, dass die Vorschrift ohne Pendant in anderen Verfahrensordnungen sein soll. Wenngleich dem Er­gebnis, dass formelle Unmittelbarkeit als Beweisprinzip in § 261 StPO gesetzlich loziert ist, uneingeschränkt zugestimmt werden kann, vermag die dafür gegebene Begründung nicht durchweg zu überzeugen. Sofern es das Argument betrifft, dass der Bereich des bürgerlichen Rechtsstreits eine § 261 StPO entsprechende Vorschrift nicht kennen soll, geht das Argument bereits im Ansatz fehl. Die Ausführungen zum zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz haben gezeigt, dass er insbesondere durch das in § 286 ZPO de lege lata verankerte Prinzip der freien Beweiswürdigung gewährleistet wird.257 Im Übrigen wurde bereits von anderer Seite darauf hingewiesen258, dass das Gebot der freien Beweiswürdigung ein allgemeiner Grundsatz des Prozessrechts ist, der sämtlichen Verfahrensordnungen immanent ist, sodass die Behauptung, dass der Bereich des bürgerlichen Rechtsstreits eine § 261 StPO entsprechende Vorschrift nicht kennen würde, einigermaßen apodiktisch wirkt und im Übrigen unzutreffend ist. Demgegenüber muss sich vielmehr des Wortlauts von § 261 StPO selbst angenommen werden. Dabei sieht man sich vor die Schwierigkeit gestellt, ob er (noch) die Beweisaufnahme zum Regelungsgegenstand hat. Dies ist essentielle Voraussetzung dafür, dass formelle Unmittelbarkeit darin de lege lata verankert ist. Denn schließlich soll sich dieses Verfahrensprinzip als Beweisgrundsatz insbesondere auf das Stadium der Beweisaufnahme erstrecken.259 Damit kommt die Frage auf, ob dies von § 261 StPO de lege lata geleistet werden kann, weil die Vorschrift unmittel­bar schon die Beweiswürdigung zum Inhalt hat. Es ist Geppert aber darin zuzustimmen, dass es nicht ganz korrekt ist zu behaupten, dass § 261 StPO nicht die Form der Beweisaufnahme betreffen soll.260 Dabei 256

Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 86. s. unter I. 5. b). 258 Vgl. zum Folgenden Höfling/Rixen, in: NK-VwGO, § 108 Rdnr. 1 ff. mit Fn. 1. 259 s. hierzu im 6. Kapitel. 260 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 145. Wenn Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 40 dagegen vorträgt, dass es ungenau sein soll, wenn gesagt wird, dass das wahre Unmittelbarkeitsprinzip seinen Ausdruck in § 261 StPO gefunden haben soll, weil Protokolle einer Zeugenaussage schließlich verlesen werden können und das Gericht dadurch bloß auf mittelbare Weise Kenntnis vom Inhalt dieser Beweismittel erhält, ist dazu zu bemerken, dass es dabei nicht (mehr) um formelle, sondern bereits um materielle Unmittelbarkeit geht. 257

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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will er bei seiner Lektüre die Betonung auf „aus dem Inbegriff (der Verhandlung)“ legen.261 Um die Frage zu beantworten, worauf der Schwerpunkt zu legen ist, sei noch einmal kurz daran erinnert, welchen Gedanken man mit formeller Unmittelbarkeit verbindet. Sie beinhaltet zum die Forderung nach eigener sinn­licher Wahrnehmung des gesamten Prozessgeschehens durch das erkennende Gericht selbst. Zum anderen, und hierin liegt wohl das Hauptaugenmerk des formellen Unmittelbarkeitsverständnisses, hat es die Beweise selbst zu erheben und darf dies nicht einem Dritten überlassen.262 Wenn man diesen Gedanken im Gesetz in allgemeiner Hinsicht verankert sehen will, bietet sich hierfür in der Tat § 261 StPO an. Darin ist Geppert im Ausgangspunkt zuzustimmen, wenngleich die Akzente etwas anders zu setzen sind. § 261 StPO muss nämlich anders gelesen werden, und zwar wie folgt: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien und seiner aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Hieraus folgt, dass es sich nicht bloß eine eigene Überzeugung bilden muss, sondern sie zuvor selbst schöpfen muss, und zwar unmittelbar selbst, wie das Possessivpronomen „seiner“ erkennen lässt. Man hat darauf verzichtet, es nochmals im geschilderten Sinne ins Gesetz aufzuführen, sondern es – grammatikalisch korrekt und sprachlich besser – zusammengefasst. Dadurch mag der Eindruck entstanden sein, dass der Schwerpunkt auf der Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung liegt. Wenn man indes § 261 StPO – wie aufgezeigt – seziert, wird deutlich, dass es nicht korrekt ist zu behaupten, dass er lediglich die rechtliche Regelung richterlicher Schlussfolgerungen betreffen soll. Er betrifft vielmehr ebenso – und zwar als gleichrangigen Aspekt – die „Form der Beweisaufnahme“ und schreibt ganz im Sinne des formellen Unmittelbarkeitsverständnisses vor, dass es sich um seine Beweisaufnahme, sprich um die vom erkennenden Gericht selbst vorgenommene Beweiserhebung handeln muss. Von daher lässt sich § 261 StPO ohne weiteres als Sitz des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes verstehen, soweit es seine formelle Seite angeht.

III. Formelle Unmittelbarkeit und Akteneinsichtsrecht von Schöffen Vor diesem Hintergrund kann sich nunmehr einem speziellen Problem zugewandt werden263, das gemeinhin unter dem Stichwort der formellen Unmittelbarkeit erörtert wird, nämlich der Frage nach einem Akteneinsichtsrecht für Laienrichter. Damit hat sich – aus der Perspektive des formellen Unmittelbarkeits 261

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 141. Vgl. dazu im 6. Kapitel. 263 Vgl. die Diskussion weiterer Problempunkte (Verwertung privaten richterlichen Tatwissens, verfahrensrechtliche Behandlung offenkundiger Tatsachen) bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 150 ff. 262

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

grundsatzes264 – insbesondere Stüber ausführlich beschäftigt.265 Er meint, dass an einen Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz zu denken ist, wenn ein Schöffe eventuell vorhandenes Wissen aus den Akten nicht in die (mündliche) Verhandlung einführen und auf diese Weise dem Angeklagten die Möglichkeit zur Gegenrede nehmen und sich stattdessen sein Urteil aus schriftlichen Unterlagen bilden würde. Bei einem solchen Verhalten wäre zugleich der Grundsatz der (formellen) Unmittelbarkeit verletzt, weil der Laienrichter sein urteilsrelevantes und -­begründendes Wissen außerhalb der Hauptverhandlung erfährt, ohne in dieser die Tat­sachenschilderungen und Beweismittel selbst mit überzeugungsbildender Wirkung wahrzunehmen. Hierzu ist aber bereits zu sagen, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in einem solchen Fall nicht bloß von einem Laienrichter verletzt worden wäre, sondern nicht minder, wenn sich ein Berufsrichter in dieser Art und Weise verhalten würde. Über das Für und Wider eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen gibt der Fall deshalb nichts her. Im Übrigen ist zu betonen, dass Stüber an späterer Stelle selbst ausführt, dass die Gefahr einer Beeinflussung durch das Aktenmaterial, wenn sie bestehen sollte, Berufs- und Laienrichter (gleichermaßen) trifft266, weshalb der Grundsatz der Unmittelbarkeit als Ausgangspunkt einer Differenzierung an sich eher nicht geeignet erscheint. Gleichwohl soll sich, weil halt ein diesbezüglicher Zusammenhang hergestellt wird, der Frage näher angenommen werden. 1. Meinungsstand Dabei ist der Ausgangspunkt eindeutig: Eine ausdrückliche Vorschrift zur Frage des Akteneinsichtsrechts für Schöffen gibt es – von Nr. 126 Abs. 3 RiStBV ab­ gesehen267 – nicht. Eine solche wollte der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf (AE) in seinem gesetzgeberischen Vorschlag zur Neuregelung der Hauptverhandlung installieren. § 241 AE-StPO-HV beschränkte das Akteneinsichtsrecht auf Berufsrichter. Interessant ist die Begründung, die hierfür gegeben wird. Die durch die Aktenkenntnis unbelasteten Schöffen könnten in der Urteilsberatung die Kontrolle darüber ausüben, dass nichts eingebracht und verwertet wird, ohne dass es nicht vorher in der Hauptverhandlung zur Sprache gebracht worden ist.268 Obwohl der AE diese Überlegung zur Ablehnung eines Akteneinsichtsrechts anführt, wird sie von einem Befürworter eines solchen Rechts fruchtbar gemacht. Dies mutet be 264 Zur Frage einer aus Aktenkenntnis resultierenden Beeinflussung, Voreingenommenheit und Befangenheit der Schöffen näher Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 195 ff. sowie Nowak, JR 2006, 459, 462 f. 265 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 54 ff. 266 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 68. 267 s. dazu Nowak, JR 2006, 459, 461. 268 AE-StPO-HV, S. 66.

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reits im Ausgangspunkt paradox an. Dabei ist das Argument keinesfalls janusköpfig, wie es Kemmer suggerieren möchte. Zum besseren Verständnis sollen zunächst seine entsprechenden Ausführungen im Wortlaut mitgeteilt werden269: „Wenn man, wie dies der Arbeitskreis AE tut, den Schöffen die Kontrolle darüber zutraut, daß nichts in die Urteilsberatung einfließt, was nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war, hält man sie ohnehin für fähig, zwischen den Ergebnissen der Hauptverhandlung und denen aus dem Ermittlungsverfahren differenzieren zu können. Dann aber leuchtet es nicht ein, warum sie zu einer solchen Unterscheidung generell nicht in der Lage sein sollen, wenn ihnen die Ermittlungsakten zwecks Vorbereitung auf die Hauptverhandlung ausgehändigt werden.“

Weil der erste Satz etwas Unzutreffendes behauptet, kann deshalb daraus nicht auf ein umfassendes Akteneinsichtsrecht für Schöffen geschlussfolgert werden. Der erste Satz ist schlichtweg deshalb unzutreffend, weil der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf es den Schöffen gerade nicht zutraut, zwischen Ergebnissen der Hauptverhandlung und denen aus dem Ermittlungsverfahren differenzieren zu können. Diese bekommen sie überhaupt nicht (aktenmäßig) vermittelt, sodass sich die Frage eines entsprechenden Urteils- und Differenzierungsvermögens beim Vorschlag des AE überhaupt nicht stellt. Im Übrigen hat er Recht: Wenn man etwas erstmals in der Urteilsberatung hört, horcht man – im fast sprichwörtlichen Sinne – auf. Das Vertrauen des AE in Schöffen ist von daher nicht unberechtigt. Ob man dagegen, wie Kemmer meint, noch danach differenzieren und unterscheiden kann, ob man es bloß gelesen oder ob man es gelesen und – wie de lege lata verlangt – in der Hauptverhandlung gemäß § 250 StPO vom Zeugen gehört bzw. gemäß §§ 251 ff. StPO nochmals vorgelesen bekommen hat, ist demgegenüber fraglich. In jedem Falle ist der Schluss von Kemmer nicht tragfähig, weil der für sich berechtigte Ausgangspunkt des Arbeitskreis’ AE falsch gedeutet wird. Bis es aber dazu kommen sollte, dass eine solche Vorschrift unmittelbar im Gesetz selbst loziert wird, bleibt es indes umstritten, ob Laienrichtern ein Akteneinsichtsrecht zusteht. Das Reichsgericht hat es in ständiger Rechtsprechung verwehrt. Wegweisend in dieser Hinsicht war die Entscheidung RGSt 69, 120.270 Darin war die Frage zu 269

Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 195. Vgl. ferner RGSt 53, 176, 178, worin noch ausgeführt wird, dass ein im Akteneinsichtsrecht für Laienrichter zu sehender Verstoß gegen die Unmittelbarkeit zugleich „geeignet ist, die Unbefangenheit der zur Rechtsfindung berufenen Personen, insbesondere der Geschworenen zu beeinträchtigen“. In dieser Hinsicht gerät noch § 353d Nr. 3 StGB in den Blick, wonach man sich strafbar macht, wenn man „die Anklageschrift oder andere amtliche Stücke eines Strafverfahrens […] ganz oder in Teilen im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind“. Die Vorschrift dient dem Schutz der Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern und Zeugen, um dadurch eine justizförmige, unvoreingenommene Rechtsfindung zu sichern (BT-Drs. 7/550 S. 283 f.; BVerfGE 71, 206, 217 ff.; OLG Hamm NJW 1977, 967; OLG Köln JR 1980, 473; OLG Hamburg NStZ 1990, 284; OLG Stuttgart NJW 2004, 622; Vormbaum, in: LK, § 353d Rdnr. 38; Hoyer, in: SKStGB, § 353d Rdnr. 4; Perron, in: Schönke/Schröder, § 353d Rdnr. 40; Kuhlen, in: NK, § 353d Rdnr. 26; Fischer, § 353d Rdnr. 1; Többens, GA 1983, 97, 105). Dieselbe Begründung klingt 270

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entscheiden, ob es zulässig ist, dass Schöffen während der Sitzungstage Abschriften der Anklageschrift benutzt und zur weiteren Verwendung mitgenommen haben, während die Hauptverhandlung unterbrochen war. Lapidar stellt das Reichsgericht fest: „Eine Einsicht der Schöffen oder der Geschworenen ist im Gesetz nicht vorgesehen und findet nicht statt.“ Zur Begründung führt das Gericht aus, dass es seit jeher „jede Einwirkung auf die Richter durch Unterbreitung der schriftlich dargestellten Ergebnisse des Vorverfahrens als dem wichtigen Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zuwiderlaufend abgelehnt“ hat. Es habe vielmehr „immer nachdrücklich darauf hingewiesen, daß alles zu vermeiden sei, was die Richter daran hindern könne, ihre Überzeugung so, wie § 261 StPO dies vorschreibt, ausschließlich aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu schöpfen.“ Damit war das Reichsgericht der Auffassung, dass die Aktenkenntnis der Laienrichter mangels gesetzlicher Grundlage gegen den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz verstößt und deshalb ein entsprechendes Akteneinsichtsrecht abzulehnen ist. Der BGH hat zunächst die Linie des Reichsgerichts eingenommen und ein solches Recht ebenfalls verneint.271 Erstmals im Jahre 1960 ist er hiervon in einer Entscheidung etwas abgerückt und sieht „keinen überzeugenden Grund, eine im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene unterschiedliche Behandlung von Berufs- und Laienrichtern aufrechtzuerhalten. Auch den Laienrichtern, die dazu berufen sind, alle schwierigen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art gemeinsam und gleichberechtigt mit den Berufsrichtern zu entscheiden, darf […] unbedenklich zugetraut werden, Sinn und Bedeutung der Anklageschrift zu verstehen.“272 Einen Wendepunkt markiert BGHSt 43, 36. Danach ist es zulässig und verstößt nicht gegen die Grundsätze von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, wenn Schöffen in der Hauptverhandlung zum besseren Verständnis der Beweisaufnahme aus den Akten stammende Protokolle über diese Beweismittel (hier: Tonbandprotokolle) als Begleittext zur Verfügung gestellt werden. In den Entscheidungsgründen lässt der Senat es für den konkreten Fall zwar offen, ob hierfür ein umfassendes Akteneinsichtsrecht der Schöffen spricht. Er neigt aber jedenfalls dazu. Kurz darauf hat sich derselbe Strafsenat nochmals dazu bekannt.273 Der Große Senat für Strafsachen sieht es ebenso und würde die Aushändigung des gesamten Anklagesatzes an die Schöffen, jedenfalls in Strafverfahren wegen einer Vielzahl gleichförmiger und durch eine gleichartige Begehungsweise gekennzeichneter Einzeltaten, nicht beanstan-

beim Reichsgericht an, um Laienrichtern ein Akteneinsichtsrecht zu verwehren. Es ist das Verdienst von Kemmer, auf den diesbezüglichen Zusammenhang aufmerksam gemacht zu haben, vgl. Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 36. An anderer Stelle wird er aber freilich von Kemmer selbst etwas vernachlässigt, vgl. sogleich unter 2. c) in Anm. 296 (S.  181 f.). 271 BGHSt 5, 261; 13, 73; BGH bei Dallinger MDR 1957, 268. Vgl. ferner noch OLG Hamburg NStZ 1985, 379. 272 BGH, Urt. vom 23.2.1960 – 1 StR 648/59, in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XV, S. 266 ff. 273 BGHSt 43, 360.

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den.274 Damit tendiert die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Annahme eines (zumindest partiellen) Akteneinsichtsrechts für Laienrichter, ohne freilich jemals abschließend und expressis verbis Stellung genommen zu haben. Das Schrifttum hat gleichfalls einen Schwenk vollzogen. Nachdem es die reichsgerichtliche Judikatur zunächst uneingeschränkt gebilligt hat275, erhob erstmals Schäfer Bedenken dagegen, Laienrichtern die Aktenkenntnis zu verwehren, insbesondere mit Blick auf § 30 GVG.276 Später hat vor allem Schreiber es als Widerspruch zu dieser Regelung angesehen, dass man Schöffen die Akten vorenthält: „Eine akzeptable Lösung hat die Rechtsprechung damit aber nicht gefunden. Sie hat […] in Widerspruch zur eindeutigen gesetzlichen Regelung die Schöffen als Richter geringerer Art und minderer Qualifikation behandelt.“ Die Verwei­gerung der Akteneinsicht erfolgt entgegen der klaren Gesetzesbestimmung, heißt es weiter bei Schreiber.277 „Nicht vertretbar erscheint das Vorenthalten der Akten zudem vor allem im Hinblick auf die Regelung in den §§ 30, 77 I GVG, wonach dem Laienrichter während der Hauptverhandlung die gleichen Mitwirkungsrechte zukommen wie den Berufsrichtern“, schrieb später noch Kemmer278, wenngleich er dennoch eine gesetzliche Regelung daneben für erforderlich hielt279. Gleichwohl sind solche Stimmen zunächst noch in der Minderheit geblieben. Dies hat sich durch BGHSt 43, 36 aber entscheidend verändert. Seither scheinen die Befürworter eines Akteneinsichtsrechts, ohne dass es an (neueren) kritischen Stimmen mangeln würde280, im Vordringen begriffen zu sein281. Dabei lässt man sich aber scheinbar mehr vom Rechtsprechungswandel und weniger von sachlichen Argumenten leiten. 274

BGHSt 56, 109, 118 Rdnr. 28. Vgl. hierzu die Nachw. bei Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S.  89 f. 276 Schäfer, JR 1932, 196 ff. 277 Schreiber, Welzel-Festschrift, S. 941, 949. 278 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 213. 279 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 214 f. 280 Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 3; Stuckenberg, in: KMR, § 261 Rdnr. 15; Kühne, Strafprozessrecht, § 5 Rdnr. 116; Beulke, Strafprozessrecht, § 20 Rdnr. 408; Lunnebach, StV 1997, 452 ff.; Imberger-Bayer, JR 1999, 299 ff.; Schünemann, StV 2000, 159, 164. 281 Kissel/Mayer, GVG, § 30 Rdnr. 2 ff.; Gittermann, in: LR, GVG, § 30 Rdnr. 7 f.; MeyerGoßner, GVG, § 30 Rdnr. 2; Terhorst, MDR 1988, 809 ff.; Dehn, NStZ 1997, 607, 608; Hillenkamp, Kaiser-Festschrift, S. 1437, 1443 ff.; Duttge, JR 2006, 358, 360; Satzger, JURA 2011, 518, 523. Vgl. ferner die Nachw. in BGHSt 43, 36, 39 sowie bei Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 65 in Fn. 228 und Nowak, JR 2006, 459, 460 in Fn. 10. Vgl. ferner noch Lilie, Rieß-Festschrift, S. 303, 310, der es aus § 30 GVG abzuleiten scheint, dabei freilich unumwunden einräumt, „dass die Konflikte mit den Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit zu kaum lösbaren Schwierigkeiten führen“. Wenn er ferner ein finanzgerichtliches Verfahren ohne mündliche Verhandlung, aber mit Beteiligung der Laienrichter als unabweislich dafür anführt, „dass die ehrenamtlichen Richter auch das Recht auf Einsicht in die Akten besitzen“ (Lilie, a. a. O., S. 312), mag dies für die Laienrichter der Finanzgerichtsbarkeit gelten, begründet zugleich aber ein arg. e contrario im Zusammenhang mit der Frage nach dem Akteneinsichtsrecht für Schöffen, weil es eine solche Verfahrensart in Strafsachen gerade nicht gibt. 275

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2. Argumente pro Akteneinsichtsrecht aus anderen Zusammenhängen Im Rahmen der Auseinandersetzung zum Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern wird von dessen Befürwortern nicht bloß § 30 GVG genannt, worin die Befugnisse von Schöffen in dem Sinne geregelt sind, dass sie Berufsrichtern weitestgehend gleichgestellt werden. Nicht minder interessant sind prozessuale Konstellationen, die angeführt werden, um (angebliche) Widersprüche zwischen deren Handhabung und der Ablehnung eines Akteneinsichtsrechts für ehrenamtliche Richter aufzuzeigen. Freilich greift es in dieser Hinsicht deutlich zu kurz, wenn Nowak als Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen ausführt, dass die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zwar einen hohen Stellenwert haben, das Gesetz aber seit jeher eine Vielzahl von Einschränkungen zulässt und daraus schlussfolgern will, dass Gleiches in der Frage der Aktenkenntnis von Schöffen gelten könnte.282 Weder in der Sache noch de lege lata vermag eine solche Argumentation zu überzeugen. In der Sache lässt sich entgegnen, dass von Ausnahmen eines Prinzips nicht ohne weiteres auf weitere Ausnahmen geschlossen werden kann und darf, will man das Prinzip nicht überhaupt zur Ausnahme machen (wollen). Im Übrigen sind die sonstigen Ausnahmen jedenfalls gesetzlich normiert, während das Recht auf Einsichtnahme von Schöffen in die Verfahrensakten nicht „vom Gesetzgeber in einer eindeutigen und abschließenden Weise beantwortet worden“ ist, wie es Nowak selbst einräumt283. Insofern führt er sich bei seiner Argumentation mit den gesetzlich fixierten Durchbrechungen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in gewisser Weise selbst ad absurdum. Davon unabhängig ist sich nunmehr jenen Fragenkreisen anzunehmen, die von Befürwortern eines Akteneinsichtsrechts angeführt werden. a) Fragerecht von Schöffen gemäß § 240 Abs. 2 StPO In dieser Hinsicht wird etwa § 240 Abs. 2 StPO genannt, wonach es Schöffen vom Vorsitzenden zu gestatten ist, Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu richten. Um ein mögliches widersprüchliches Aussageverhalten von Zeugen und Angeklagten in der gebotenen Art und Weise nachvollziehen und im Wege der sachgerechten Ausübung des Fragerechts feststellen zu können, müssten 282 Nowak, JR 2006, 459, 461 f. Vgl. wohl ferner in dieser Richtung noch Rieß, JR 1987, 389, 392: Man müsse „in Betracht ziehen, daß die Verbindlichkeit dieses [Unmittelbarkeits-]Prinzips in mancherlei Hinsicht seit der Entstehung der StPO durch die legislatorische Entwicklung Abstriche erfahren hat“ (Hervorhebung nicht im Original). Wegen der Hervorhebung und aus den sogleich oben im Text gemachten Ausführungen vermag eine solche Argumentation indes nicht zu überzeugen. 283 Nowak, JR 2006, 459.

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den Schöffen die Angaben aus den früheren Vernehmungsprotokollen bekannt sein. Von daher soll die effektive Wahrnehmung des Fragerechts gemäß § 240 Abs. 2 StPO durch die Schöffen in sinnvoller und sachbezogener Weise für ein Recht auf Einsicht in die insoweit relevanten Aktenbestandteile sprechen.284 Die Parallele verfängt indes nicht. Dabei ist zunächst zu betonen, dass es sich bei der vorstehenden Argumentation um eine solche de lege ferenda handelt. Wie es de lege lata um das Akteneinsichtsrecht von Schöffen bestellt ist, wird damit noch nicht gesagt. Wenn man sich diesbezüglich umtut, wird deutlich, dass § 240 Abs. 2 StPO insofern keinesfalls präjudizierend wirkt.285 Bei der Vorschrift handelt es sich um einen Ausfluss von § 30 Abs. 1 GVG. Dadurch wird sie von dieser allgemeinen Norm gleichsam überlagert. Sie lässt aber expressis verbis Ausnahmen von der Gleichstellung zwischen Berufs- und Laienrichtern während der Hauptverhandlung zu. Sie gibt es zwar nicht hinsichtlich des Fragerechts. In anderen Zusammenhängen können sie aber durchaus bestehen. In dieser Hinsicht lässt sich § 240 Abs. 2 StPO sogar eher von den Gegnern eines Akteneinsichtsrechts anführen. Wenn der Gesetzgeber trotz der Regelung des § 30 Abs. 1 GVG den Schöffen ein Fragerecht explizit einräumt, lässt sich daraus ein arg. e contrario ableiten, dass sein Schweigen in der Frage eines Akteneinsichtsrechts eher gegen dessen Annahme spricht. Weil zwar das Fragerecht der Laienrichter eindeutig und abschließend geregelt ist, nicht aber die Frage nach deren Recht auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten „vom Gesetzgeber in einer eindeutigen und abschließenden Weise beantwortet worden“ ist, wie selbst Befürworter der Argumentation mit § 240 Abs. 2 StPO unumwunden ein­räumen286, lässt sich eben diese unterschiedliche gesetzgeberische Ausgestaltung eher gegen ein solches Recht anführen. b) Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO Gleiches gilt, um das Ergebnis vorwegzunehmen287, soweit dem Selbstlese­ verfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO eine weitergehende Aussage im Streit um ein Akteneinsichtsrecht für Schöffen entnommen wird.288 Ein erstes Indiz dafür, dass es sich in diesem Sinne verhält, zeigt sich schon darin, dass die Vorschrift von Befürwortern wie von Gegnern einer solchen Befugnis angeführt wird. Anhänger des Akteneinsichtsrechts sehen sich bestärkt und werten die Norm als ein Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber eine Gefährdung von Unmittelbarkeit und Mündlichkeit

284 Terhorst, MDR 1988, 809, 810; Hillenkamp, Kaiser-Festschrift, S. 1437, 1453; Nowak, JR 2006, 459, 461. 285 Vgl. dazu etwa Börner, ZStW 122 (2010), 157, 192 m. w. N. 286 Nowak, JR 2006, 459. 287 Vgl. im selben Sinne bereits Börner, ZStW 122 (2010), 157, 191. 288 In diesem Sinne etwa Satzger, JURA 2011, 518, 524.

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durch eine mögliche Beeinflussung der Schöffen nicht befürchtet.289 Anderenorts weist man demgegenüber darauf hin, dass sich der Vorschrift „keine allgemeine Erlaubnis zur Kenntnisnahme der Schöffen von dem nicht in die Hauptverhandlung eingeführten Prozeßstoff herleiten [und] kein Argument dafür entnehmen [lässt], über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Vorschrift hinaus Schöffen Akteneinsicht zu gestatten“.290 Es bedarf sicher nicht der Erwähnung, dass die gegensätzliche Deutung von § 249 Abs. 2 StPO de lege lata nicht überzeugen kann und die Vorschrift im Rahmen der Auseinandersetzung um ein Akteneinsichtsrecht der ehrenamtlichen Richter in der Strafrechtspflege bloß in die eine oder in die andere Richtung verstanden werden kann. Dabei geben dessen Befürworter das Argument gegen die eigene Ansicht – und zwar sicher unbewusst – den Kritikern selbst an die Hand. Stüber als Fürsprecher für ein Akteneinsichtsrecht räumt etwa unumwunden ein, dass eine eindeutige Positionierung des Gesetzgebers zu Für und Wider eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen an dieser Stelle fehlt.291 Vom eigenen Standpunkt aus, dass es eine solche Befugnis – und zwar aus § 30 Abs. 1 GVG – geben soll292, noch merkwürdiger mutet es an, wenn Nowak ausführt, dass durch § 249 Abs. 2 StPO zugleich die „allgemeine Vorschrift des § 30 Abs. 1 GVG näher ausgestaltet“ wird293. Wenn Nowak dies an dieser Stelle für erforderlich zu halten scheint und zugleich betont, dass die „Fragestellung, ob und inwieweit Schöffen in einem Strafverfahren ein Recht auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten zusteht, […] weder von der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung noch vom Gesetzgeber in einer eindeutigen und abschließenden Weise beantwortet worden“ ist294, gibt er mittelbar zu erkennen, welche Schlüsse aus § 249 Abs. 2 StPO de lege lata für die übergeordnete Thematik des Akteneinsichtsrechts von Schöffen an sich nahe liegen. Die Vorschrift ist entweder konstitutiver Natur, wohingegen sich ein weiter­ gehendes Akteneinsichtsrecht von Schöffen gerade nicht aus § 30 Abs. 1 GVG ergibt.295 Dafür könnte sprechen, dass es der Erwähnung der „Schöffen“ in § 249 Abs. 2 StPO nicht bedurft hätte, wenn der Gesetzgeber eine solche Befugnis wirklich bereits aus § 30 Abs. 1 GVG würde ableiten wollen. Im Übrigen müsste man die Vorschrift für diesen Fall im Verhältnis zu § 30 GVG als speziellere Vorschrift 289

BGHSt 43, 360, 366; Gittermann, in: LR, GVG, § 30 Rdnr. 4; Rieß, JR 1987, 389, 393; Terhorst, MDR 1988, 809, 811; Hillenkamp, Kaiser-Festschrift, S. 1437, 1454; Nowak, JR 2006, 459, 461. Auf die Frage der Voreingenommenheit wird insofern aber – wie überhaupt in diesem Zusammenhang (vgl. bereits Anm. 270 auf S. 175) – nicht eingegangen werden (können), vgl. hierzu Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 121 ff. 290 Imberger-Bayer, JR 1999, 299, 300 f. Vgl. in diesem Sinne ferner noch Kühne, Straf­ prozessrecht, § 5 Rdnr. 116. 291 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 66. 292 Nowak, JR 2006, 459, 463. 293 Nowak, JR 2006, 459, 461 (Hervorhebung nicht im Original). 294 Nowak, JR 2006, 459 (Hervorhebung nicht im Original). 295 In dieser Richtung etwa Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 1662, wonach das Selbstlese­ verfahren das grundsätzliche Verbot der Aktenkenntnis gerade voraussetzt.

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ansehen, wovon Nowak durchaus auszugehen scheint. In methodischer Hinsicht würde für diesen Fall aber nach anerkannten Grundsätzen juristischer Methodenlehre das speziellere Gesetz die allgemeine Regelung verdrängen, sodass § 30 Abs. 1 GVG als Rechtsgrundlage für ein Akteneinsichtsrecht von Schöffen, wie von Nowak propagiert, von vornherein ausscheiden müsste. In dieser Hinsicht lässt sich aus § 249 Abs. 2 StPO von daher eher ein arg. e contrario ableiten, dass es eine darüber hinaus gehende Befugnis der ehrenamtlichen Richter der Strafgerichtsbarkeit, sich vom Akteninhalt Kenntnis zu verschaffen, gerade nicht gibt. Ebenfalls denkbar ist aber, dass die Vorschrift lediglich deklaratorischer Natur ist. Für diesen Fall kann sie allerdings das Recht auf Einsichtnahme von Schöffen in die Verfahrensakten nicht zugleich begründen. Vielmehr muss es anderweitig statuiert sein. Man kann es drehen und wenden wie man will: Ein zusätzliches Argument für die Annahme eines Akteneinsichtsrechts von Laienrichtern lässt sich § 249 Abs. 2 StPO nicht entnehmen. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall: Schon die bloße Existenz der Vorschrift gibt ein Indiz dafür, dass es eine solche Befugnis nicht gibt, will man dem Gesetzgeber nicht unterstellen, die „Schöffen“ unnötigerweise in § 249 Abs. 2 StPO genannt und insofern eine überflüssige Vorschrift geschaffen zu haben, wovon – bis zum Beweis des Gegenteils – eher nicht aus­ zugehen ist. c) Vortrag des Berichterstatters in der Berufung als Ausnahme vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz Als weiterer Beleg dafür, dass es widersprüchlich sei, Schöffen die Akten vorzuenthalten, wird § 324 Abs. 1 StPO genannt, wonach in der – gemäß § 76 GVG mit Schöffen besetzten – Berufungsinstanz vor der Beweisaufnahme (§ 324 Abs. 2 StPO: „sodann“) der Berichterstatter einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens hält. Der Laienrichter werde dadurch über den Prozessgegenstand informiert und soll trotzdem unbefangen der Sache gegenübertreten. Wenn es an dieser Stelle möglich sei, soll der Einwand nicht mehr verfangen können, dass Aktenkenntnis im erstinstanzlichen Verfahren zu einer Voreingenommenheit führen muss.296 Es sei mehr als erstaunlich, dass angesichts dessen nach wie vor

296 Volk, Dünnebier-Festschrift, S. 373, 383. Auf den Aspekt der Befangenheit und Vorein­ genommenheit soll im Folgenden nicht mehr eingegangen werden. Der BGH hatte sich mit dieser Frage, ohne dabei auf deren Verhältnis zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einzugehen, bereits im Jahre 1976 befasst gesehen (BGH GA 1976, 338). Den (vermeint­lichen) Widerspruch versucht er wie folgt zu lösen: Vor der Berufungsverhandlung „hat bereits eine – zum größten Teil öffentliche – Verhandlung stattgefunden, die durch ein öffentlich verkündetes Urteil abgeschlossen worden ist. Daß das Verfahren und sein Ergebnis der Allgemeinheit und damit auch den in der neuen Verhandlung amtierenden Schöffen zur Kenntnis gelangt ist (insbesondere durch Presseberichte), läßt sich danach nicht ausschließen, ist sogar die Regel und wird von der Rechtsordnung in Kauf genommen. Es verhält sich hier anders als bei der Mittei-

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

daran festgehalten wird, dass die Kenntnis des Laienrichters von den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens gegen diesen die Besorgnis der Befangenheit begründen und zu einem Verstoß gegen § 261 StPO bzw. gegen die Prozessprinzipien von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit führen soll. Vor dem Hintergrund der Regelung in § 324 Abs. 1 StPO müsse die Auffassung, die Aushändigung der Ermittlungs­ akten an die Schöffen verletze die Prozessmaximen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, vielmehr als unhaltbar qualifiziert werden.297 Es wird zu untersuchen sein, ob es sich dabei um einen wirklichen oder vielmehr bloß um einen vermeintlichen Widerspruch handelt. Man könnte dies nunmehr lapidar damit abtun, dass der Vortrag des Berichterstatters nicht zur Beweisaufnahme gehört und sich die Entscheidung des Berufungsgerichts und die Überzeugung der einzelnen (ehrenamtlichen) Richter ausschließlich aus dem Inbegriff der sich an den Bericht anschließenden Berufungsverhandlung herleiten muss.298 Insofern erscheint ein Konflikt des § 324 Abs. 1 StPO mit formeller Unmittelbarkeit von vornherein nicht vorliegen zu können, wenn sich diese bloß auf die Beweisaufnahme erstreckt. Das Bild wandelt sich freilich, wenn man sie auf die gesamte Hauptverhandlung bezieht, wie es § 261 StPO als gesetzlicher Hort dieser Verfahrensmaxime durchaus im Ansatz

lung des Ermittlungsergebnisses der Anklageschrift, das nur den bisher nicht öffentlich bekannten Akteninhalt wiedergibt und dessen Verdachtsgründe erst in einer mündlichen Verhandlung geprüft werden müssen.“ Der sachlichen zutreffenden These fehlt es jedoch an Argumentation mit dem Gesetz. Sie ist aber im Sinne eines systematischen Zusammenhanges mit § 353d Nr. 3 StGB durchaus möglich. Die Vorschrift kann in der Berufungsinstanz nicht mehr verwirklicht werden, weil die Anklageschrift bereits in der ersten Instanz „in öffent­licher Verhandlung erörtert worden“ ist. Der mit § 353d Nr. 3 StGB verfolgte Zweck, der Schutz der Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern (s. die Nachw. in Anm. 270 auf S. 175), lässt sich in der Berufungsinstanz nicht mehr vollends verwirklichen. Von daher kann in der Berufungsverhandlung der Vortrag des Berichterstatters erfolgen, der insofern lediglich an die Stelle der – strafrechtlich nicht mehr schützenswerten Anklageschrift – tritt (BGH NStZ 1987, 135, 136; Frisch, in: SK-StPO, § 324 Rdnr. 1; Rautenberg, in: HK, § 324 Rdnr. 3 mit Rdnr. 11; Joecks, § 324 Rdnr. 2; Gössel, in: LR, § 324 Rdnr. 6; Brunner, in: KMR, § 324 Rdnr. 3; Paul, in: KK, § 324 Rdnr. 2; Pfeiffer, § 324 Rdnr. 1; Bloy, JuS 1986, 585, 592). Man wundert sich etwas, dass § 353d Nr. 3 StGB von Kemmer, obwohl er seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Akteneinsichtsrecht für Schöffen zunächst selbst und gleich zu Beginn zu seiner entsprechenden Untersuchung herausstreicht (Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 36), bei seiner späteren Auseinandersetzung mit § 324 Abs. 1 StPO jedoch überhaupt nicht mehr erwähnt wird. Dass die Strafvorschrift vom BGH unerörtert bleibt, mag daran gelegen haben, dass sie erst kurz vor seiner diesbezüglichen Entscheidung, nämlich im Jahre 1975 zu Bundesstrafrecht geworden ist. Mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz hat dies aber alles herzlich wenig zu tun. 297 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 182 ff., 186. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Kühne, ZRP 1985, 237; Hillenkamp, Kaiser-Festschrift, S. 1437, 1452. 298 RGSt 61, 399 f.; BayObLG MDR 1973, 692, 693; OLG Hamm NJW 1974, 1180; Frisch, in: SK-StPO, § 324 Rdnr. 8; Gössel, in: LR, § 324 Rdnr. 8 sowie ausdrücklich als Befürworter eines Akteneinsichtsrechts ferner noch Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 184.

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entnommen werden kann.299 Ganz in diesem Sinne stellt es zwar einen Verfahrensfehler dar, wenn Teile des Berichterstattervortrags wie Beweisergebnisse verwertet worden sind, allerdings bloß für den Fall, dass darauf bei der im Rahmen der Berichterstattung erfolgten Verlesung nicht unmissverständlich hingewiesen worden ist.300 Dies sieht sich durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Danach haben die Richter zweiter Instanz „laut § o und § 220 zu urteilen auf Grund der vor ihnen geführten Verhandlung und des Materials, das der Berichterstatter zulässiger Weise mitgeteilt habe“.301 Von daher greift der eingangs geschilderte Einwand etwas zu kurz und es läuft auf die Frage hinaus, welchen Umfang der Bericht haben darf, um davon sprechen zu können, dass das Material vom Berichterstatter in zulässiger Weise mitgeteilt worden ist. In dieser Hinsicht könnte § 324 Abs. 1 StPO in einen tieferen Konflikt mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz geraten, weil bisweilen das Ermittlungsverfahren als „Ergebnis des bisherigen Verfahrens“ im Sinne der Vorschrift angesehen wird302, wenngleich eine Begründung dafür nicht gegeben wird. Teilweise wird man deutlicher und zählt die Ergebnisse des Vorverfahrens (z. B. frühere Aussagen eines Zeugen) dazu303, ohne ein Argument dafür zu benennen. ­Etwas unklarer heißt es an anderer Stelle noch, dass dazu „auch die Ergebnisse von Vorerhebungen“ gehören sollen304, worunter man wohl das Vorverfahren versteht. Damit spitzt sich die Problematik bei § 324 StPO, wie letztlich immer bei der Diskussion um den Unmittelbarkeitsgrundsatz, auf die Frage zu, „in welchem Umfang die im Vorverfahren gewonnenen Beweise in der späteren Hauptverhandlung verwertet werden können“305. Wenn es sich tatsächlich in diesem Sinne verhalten würde, könnte sich in der Tat das Verbot der Aktenkenntnis der ehrenamt­ lichen Richter am Schöffengericht kaum noch aufrechterhalten lassen. In der Diskussion der Frage vermisst man Argumente mit dem Gesetz und dessen Auslegung. Die Exegese einer Norm hat dabei bekanntlich am Wortlaut an­ zusetzen. Bei § 324 StPO führt die wörtliche Auslegung in unserem Zusammenhang freilich nicht weiter. Es geht insofern darum, wie man das „bisherige Verfahren“ zu verstehen hat. Je nachdem, ob darunter bloß das (erstinstanz­ liche) Hauptverfahren oder das gesamte Strafverfahren fällt, stellt sich die Antwort 299 Vgl. in dieser Hinsicht ferner Pfeiffer, § 324 Rdnr. 3: Vortrag des Berichterstatters als Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO). 300 Paul, in: KK, § 324 Rdnr. 10 a. E.; Brunner, in: KMR, § 324 Rdnr. 3; Gössel, in: LR, § 324 Rdnr. 9; Dölling, in: AK-StPO, § 324 Rdnr. 3. 301 Struckmann bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 1012 (Hervorhebung nicht im Original). § o des betreffenden Antrags (a. a. O., S. 987) entspricht § 332 StPO und mit § 220 ist § 261 StPO gemeint. 302 Meyer-Goßner, § 324 Rdnr. 4; Joecks, § 324 Rdnr. 3. 303 Brunner, in: KMR, § 324 Rdnr. 6. 304 Gössel, in: LR, § 324 Rdnr. 7. Freilich wird dies dadurch relativiert, dass insofern lediglich das soll referiert werden dürfen, „was bekannt ist“, ohne dass klar wird, worauf damit in prozessualer Hinsicht angespielt wird. 305 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 2.

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

auf die Frage dar. Sie ist aber janusköpfig. Aus § 203 StPO könnte man einerseits schluss­folgern, dass erst ab diesem Zeitpunkt ein Verfahren eröffnet ist. Freilich spricht § 170 Abs. 2 StPO bereits von einem früheren Zeitpunkt, in dem ein Verfahren einzustellen ist, dass es in diesem Moment folglich bereits gegeben haben muss. Welcher Begriff „des bisherigen Verfahrens“ § 324 StPO zugrunde liegt, lässt sich von daher im Rahmen der wörtlichen Auslegung nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Die Entstehungsgeschichte lässt sich indes eher gegen ein weites Verständnis von § 324 StPO anführen. Die Vorschrift sah sich während der Beratungen der Reichsstrafprozessordnung erheblichen Einwänden ausgesetzt. Es wurde insbesondere Kritik dahingehend laut, dass nicht deutlich sei, welchen Umfang der Bericht haben darf. Ein Kritiker der Vorschrift etwa fragte einigermaßen polemisch: „Umfassende Mitteilungen aus den Vorakten und dem Protokoll der Hauptverhandlung erster Instanz?“. Die Antwort darauf gab er sich selbst. Man sei sich sicher „einig, daß die Vorakten nicht für die Beurteilung des in der Hauptverhandlung aufgenommenen Beweises maßgebend sein dürften“.306 Die Befürworter der Norm sprachen sich ganz in diesem Sinne für ein restriktives Verständnis aus. Der Vortrag solle lediglich Mitteilungen über die Person des Angeklagten, des An­ klagevorwurfs, dem Termin der Erstverhandlung, der vernommenen Zeugen, den Urteilsinhalt und die gravamina307, mithin Mitteilungen über Vorkommnisse in der ersten Verhandlung enthalten308. Dies entspricht im Übrigen der Funktion des Berichts, die bekanntlich darin besteht, den Anklagesatz zu ersetzen.309 Daraus folgt zugleich eine eher restriktive Interpretation von § 324 Abs. 1 StPO im geschil­ derten Sinne. Dies sieht sich im Rahmen der systematischen Auslegung bestätigt. Sie spricht dafür, dass mit „bisherigen Verfahren“ lediglich das gerichtliche (Haupt-)Verfahren, nicht aber das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gemeint sein kann. § 324 StPO steht in einem engen systematischen Zusammenhang zu § 325 StPO. Er wird nicht bloß durch die unmittelbare Nähe deutlich. Vielmehr wird § 324 StPO gleichsam dadurch in § 325 StPO inkorporiert, als dass § 325 StPO in seinem einleitenden Halbsatz davon spricht, dass bei der Berichterstattung und der Beweiserhebung Schriftstücke verlesen werden können. Während man dies durchaus noch dahingehend verstehen könnte, dass bei der Berichterstattung über Zeugenaussagen während des Ermittlungsverfahrens und die hierüber errichteten Schrift-

306 Abg. von Puttkamer bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 1010 f. 307 Nachw. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 1012. 308 Abg. Mayer bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 1015. 309 BGH NStZ 1987, 135, 136; Frisch, in: SK-StPO, § 324 Rdnr. 1; Rautenberg, in: HK, § 324 Rdnr. 3 mit Rdnr. 11; Joecks, § 324 Rdnr. 2; Gössel, in: LR, § 324 Rdnr. 6; Brunner, in: KMR, § 324 Rdnr. 3; Paul, in: KK, § 324 Rdnr. 2; Pfeiffer, § 324 Rdnr. 1; Bloy, JuS 1986, 585, 592.

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protokolle informiert wird, spricht § 325 StPO im Übrigen aber eine andere Sprache. Er lässt es als Ausnahme vom gemäß § 332 StPO an sich geltenden § 250 StPO zu, dass unter den in § 325 StPO genannten Voraussetzungen „Protokolle über Aussagen der in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges vernommenen Zeugen und Sachverständigen“ verlesen werden dürfen. Wenn der Gesetzgeber insofern die Verlesbarkeit von Vernehmungsprotokollen in der Berufungsverhandlung ausdrücklich regelt und auf bestimmte beschränkt, ist eine solche Regelung als abschließend zu verstehen. Wenn er mehr gewollt hätte, würde man es an dieser Stelle erwarten. Eben diesen Willen des historischen Gesetzgebers würde man umgehen, wenn man Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsverfahren als „Ergebnis des bisherigen Verfahrens“ im Wege des § 324 StPO zum Gegenstand der Berufungsverhandlung soll machen dürfen. Aus dem systematischen Zusammenhang zwischen §§ 324 und 325 StPO folgt von daher ein arg. e contrario dafür, dass der Verlauf des Vorverfahrens nicht als „Ergebnis des bisherigen Verfahrens“ anzusehen ist und die diesbezüglich errichteten Vernehmungsprotokolle nicht im Rahmen des Berichts mitgeteilt werden dürfen. Der Hinweis der Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen auf einen Widerspruch zwischen § 324 Abs. 1 StPO einerseits und der Praxis der Verweigerung eines solchen Rechts andererseits hat sich von daher als nicht stich­ haltig erwiesen. d) Laienrichterbeteiligung an Haftsachen Im Zusammenhang mit der Frage eines Akteneinsichtseinsichtrechts werden ferner die Vorschriften der §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO diskutiert. Sie bestimmen, dass Haftentscheidungen ab Erhebung der Anklage vom mit der Sache befassten Tatgericht getroffen werden. Es herrscht Streit darüber, ob hieran die Schöffen zu beteiligen sind, wenn es sich beim betreffenden Tatgericht um ein solches mit Laienbeteiligung handelt und die Haftentscheidung selbst nicht während der Hauptverhandlung gefällt wird. Bevor hierauf einzugehen ist, muss zunächst, um den Bogen zur vorliegenden Untersuchung zu schlagen, die Frage erlaubt sein, in welchem Zusammenhang dies mit dem Akteneinsichtsrecht von Schöffen und dadurch wiederum im Kontext mit dem Unmittelbarkeitsprinzip zu sehen sein soll. Nach Kemmer soll die Beteiligung von Laienrichtern an Haftsachen, die auf §§ 30 Abs. 1, 77 Abs. 1 GVG gestützt wird, es für deren Begründetheitsprüfung erforderlich machen können und müssen, dass die Schöffen über bislang lediglich in den Akten befindliche Ermittlungsergebnisse, die noch nicht Gegenstand von Hauptverhandlung und Beweisaufnahme waren, informiert werden, damit sie überhaupt zu einem Votum in der Lage sind. Dies zu Ende gedacht soll für ein generelles und umfassendes Akteneinsichtsrecht von ehrenamtlichen Richtern in der Strafgerichtsbarkeit sprechen. Der (Gegen-)Ansicht, die Schöffen von Haftentscheidungen ausschließt, wird vorge-

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worfen, dass dadurch nicht bloß § 30 Abs. 1 GVG, sondern darüber hinaus noch das Prinzip des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG missachtet wird.310 Dabei werden aber mehrere Aspekte miteinander vermengt und die Frage ist gerade, ob Schöffen mitwirken müssen. Wenn es nicht der Fall ist, wird dadurch zwangsläufig zugleich die Frage nach dem gesetzlichen Richter beantwortet. Von dem Punkt, ob Schöffen an Haftsachen während der Hauptverhandlung zu beteiligen sind, ist von daher die Frage zu trennen, ob hieraus zwingend auf deren Akteneinsichtsrecht oder jedenfalls Kenntnis vom Akteninhalt zu schlussfolgern ist. Beides wird von Kemmer nicht mit hinreichender Deutlichkeit auseinandergehalten und beantwortet. Er lässt etwa §§ 30 Abs. 2, 76 Abs. 1 Satz 2 GVG, wonach „die außerhalb der mündlichen Verhandlung erforderlichen Entscheidungen“ ohne Schöffen ergehen, völlig unerwähnt, wodurch der Vorwurf einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber der h. M. aber allzu apodiktisch vorgetragen wird. Schließlich lässt sich wohl nicht ernsthaft bezweifeln, dass im Falle von § 30 Abs. 2 GVG der gesetzliche Richter die Entscheidung trifft. Erst wenn nicht § 30 Abs. 2 GVG, sondern vielmehr § 30 Abs. 1 GVG einschlägig wäre, stellt sich überhaupt die Frage, wie Schöffen am Prozess der Entscheidungsfindung, etwa durch ein Akteneinsichtsrecht, zu beteiligen sind. Damit läuft es auf die (Vor-)Frage hinaus, ob Laienrichter obligatorisch an Entscheidungen in Haft­ sachen mitwirken (müssen). Nach einer Auffassung im Schrifttum sind Schöffen an solchen Entscheidungen generell nicht (obligatorisch) zu beteiligen311, wobei es freilich deutlich zu kurz greift, dies als „sauberste Lösung“ zu bezeichnen, die „ohne weiteres zulässig ist“312, ohne dass dafür ein einziges (gesetzliches) Argument angeführt wird. Anderenorts versteht man unter Gericht im Sinne von §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO überwiegend den gesamten Spruchkörper und damit unter Einschluss der Laienrichter.313 Die Rechtsprechung ist in der Frage ebenfalls gespalten.314 Nach dem Bundesverfassungsgericht ist es „von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn das Gericht über einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls außerhalb der Hauptverhandlung in der Besetzung nur mit den Berufsrichtern ohne Schöffen entscheidet“.315 Dabei hat es sich freilich 310 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 178 ff. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Terhorst, MDR 1988, 809, 811. 311 Schultheis, in: KK, § 126 Rdnr. 10; Kissel/Mayer, GVG, § 30 Rdnr. 9 ff., 16 ff.; Foth, NStZ 1998, 262; Satzger, JURA 2011, 518, 524. 312 Häger, Meyer-Gedächtnisschrift, S. 171, 175. 313 Hilger, in: LR, § 125 Rdnr. 16a; Terhorst, MDR 1988, 809, 811; Dehn, NStZ 1997, 607, 608; Schlothauer, StV 1998, 144 ff.; Kunisch, StV 1998, 687 ff. sowie differenzierend MeyerGoßner, § 126 Rdnr. 8. 314 Vgl. einerseits (ohne Schöffen) LG Hamburg MDR 1973, 69; OLG Schleswig NStZ 1990, 198; OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 1996, 302, 303; OLG Hamburg StV 1998, 143; OLG Hamm StV 1998, 388; OLG Jena StV 1999, 101; OLG Naumburg NStZ-RR 2001, 347 und andererseits (mit Schöffen) OLG Düsseldorf StV 1984, 159; OLG Köln StV 1998, 273. 315 BVerfG StV 1998, 387.

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auf eine verfassungsrechtliche Prüfung beschränkt, ohne die einfachrechtlichen Normen näher zu untersuchen. Der 1. Strafsenat des BGH hat sich insofern gegen eine obligatorische Beteiligung von Schöffen an Haftentscheidungen außerhalb einer Hauptverhandlungssitzung ausgesprochen.316 Im Schrifttum wird noch vereinzelt danach differenziert, ob es sich um eilbedürftige (ohne Schöffen) und nicht eil­bedürftige (mit Schöffen) Haftentscheidungen handelt.317 Die vermittelnde Ansicht vermag aber bereits deshalb nicht zu überzeugen und soll von daher im weiteren Verlauf ausgeklammert bleiben, weil „in dringenden Fällen“ ohnehin der Vorsitzende allein entscheiden kann, §§ 125 Abs. 2 Satz 2, 126 Abs. 2 Sätze 3 und 4 StPO. Die vorgeschlagene Differenzierung wird bereits vom Gesetz vorgenommen und kann deshalb die darüber hinaus gehende Frage der grundsätzlichen Beteiligung von Schöffen an Haftsachen kaum befriedigend beantworten. Im Folgenden wird angesichts dessen lediglich auf die sich konträr gegenüberstehenden Auffassungen eingegangen.318 Paradoxerweise wird § 30 GVG als Argu­ ment für die jeweils eigene Auffassung genannt. Während § 30 Abs. 2 GVG im ablehnenden Sinne ins Feld geführt wird, weisen beipflichtende Stimmen darauf hin, dass gemäß § 30 Abs. 1 GVG die ehrenamtlichen Richter „auch an den im Laufe der Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidungen teil[nehmen], die in keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können“. Haftentscheidungen sollen darunter fallen (können). Wenn man das Gesetz nicht ad absurdum führen will, indem Laienrichtern etwas mit einer Hand gegeben und zugleich mit der anderen Hand wieder genommen werden soll, versteht es sich wohl von selbst, dass § 30 GVG nicht diese Janusköpfigkeit haben kann, sondern lediglich eine der beiden genannten Aus­ legungen sinnvoll und überzeugend sein kann. Mit § 30 GVG hat sich insbesondere Dehn näher befasst.319 Er meint, dass die Vorschrift eine weite Auslegung des Begriffs „in“ bzw. „während der Hauptverhandlung“ erlauben soll. Wortwörtlich heißt es weiter: Selbst „wenn sich die Notwendigkeit einer Entscheidung nicht in einem Hauptverhandlungstermin selbst, sondern während einer Unterbrechung gem. § 228 StPO ergibt, kann von einer ‚im Laufe einer Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidung‘ i. S. von § 30 I GVG, an welcher die Schöffen mitzuwirken haben, gesprochen werden, zumal wenn man bedenkt, daß auch Entscheidungen in Betracht kommen, die in ‚keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können‘. Die letztgenannte Gesetzesformulierung schließt jedenfalls nicht aus, eine Entscheidung ‚in der Hauptverhandlung‘ selbst dann anzunehmen, wenn über sie nicht mündlich verhandelt und sie nicht in der Hauptverhandlung 316 BGH NStZ 2011, 356 mit Anm. Krüger, NStZ 2012, 341. Vgl. im selben Sinne bereits OLG Köln NStZ 2009, 589 mit Anm. Krüger. 317 Katholnigg, JR 1998, 170, 172. 318 s. zur Problematik umfassend Börner, ZStW 122 (2010), 157, 159 ff. sowie später noch ders., JR 2010, 481 ff. – jeweils m. w. N. 319 Vgl. zum Folgenden Dehn, NStZ 1997, 607, 608.

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verkündet wird; auch in diesem Fall ist eine Beratung in der ‚Hauptverhandlungs­ besetzung‘ mit Schöffen vorstellbar“. Wenn Dehn die letztgenannte Gesetzesformulierung anführt, meint er offensichtlich, dass die Mitwirkung von Schöffen nicht davon abhängig gemacht werden muss, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste, solange sie bloß durchgeführt worden ist, könnte man ergänzen, womit ein erster Einwand gegen Dehn gefunden ist. Wenn nämlich eine gemäß § 118 Abs. 4 StPO allerdings bloß fakultativ vorgesehene mündliche Verhandlung in der Haftsache tatsächlich stattgefunden hat, sind die Schöffen an der Verhandlung selbst wie an der Entscheidung zu beteiligen. Allenfalls für diesen Fall stellt sich die Frage eines Akteneinsichtsrechts. Dabei handelt es sich aber nicht um eine spezielle Frage. Am Ende eines auf Strafe erkennenden Urteils eines Schwurgerichts muss zugleich ein Beschluss über das Ob der Aufrechterhaltung der U-Haft stehen (§ 268b StPO). Wenn die Schöffen aber für die Urteilsfällung von der Akteneinsicht auszuschließen sind, ist nicht recht einsichtig, warum Gleiches nicht für die Beschlussfassung über die U-Haft gelten soll, zumal ein Schuldspruch den dringenden Tatverdacht mehr als impliziert und die Akten für Haftgründe nichts hergeben (müssen). Im Übrigen aber gerät Dehn in Konflikt mit § 30 Abs. 2 GVG, den er freilich selbst sieht und auf folgende Weise zu lösen versucht. Er legt den Schwerpunkt bei dessen Auslegung schlichtweg anders. Während zumeist die Betonung auf „außerhalb der Hauptverhandlung“ gelegt wird, betont Dehn, dass es sich um „außerhalb der Hauptverhandlung erforderliche Entscheidungen“ handeln muss und macht dies im vorliegenden Zusammenhang dahingehend fruchtbar, dass die gemäß § 30 Abs. 1 GVG grundsätzlich notwendige Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter in Haftsachen im Einzelfall wegen der Verhinderung eines Schöffen (unter Zugrundelegung eines schöffenfreundlichen Zumutbarkeitsmaßstabs) entfallen kann.320 Es stellt sich allerdings die Frage, wie Dehn das Merkmal „außerhalb“ auslegen will. Bei seiner weiten Auslegung des Begriffs „in“ bzw. „während der Hauptverhandlung“ unter Einschluss der unterbrochenen Hauptverhandlung wird in dem selbst gebildeten Beispielsfall trotz der Eilbedürftigkeit nicht „außerhalb“, sondern nach den eigenen Maßstäben „während“ bzw. „im Laufe der Hauptverhandlung“ entschieden. Bloß unter Inkaufnahme eines Widerspruchs lässt sich von daher seine Auffassung halten. Insofern hilft eine immanente Auslegung des § 30 GVG eher nicht weiter. Vielmehr muss man über den „Tellerrand“ der Vorschrift hinausschauen und darf insofern nicht einer Binnensicht verhaftet bleiben. Eine neue Erkenntnis ist dies übrigens nicht. Selbst Dehn weist zutreffend darauf hin, dass § 30 GVG die Frage, ob eine Entscheidung (nicht) im Laufe der Hauptverhandlung zu treffen ist, nicht

320

Dehn, NStZ 1997, 607, 609.

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selbst beantwortet.321 Der Mühe, den Blick auf andere strafverfahrensrechtliche Regelungen in dieser Hinsicht schweifen zu lassen, unterzieht er sich freilich nicht. Wenn man sich in dieser Hinsicht umtut, stößt man auf § 33 StPO. Er ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb von maßgeblicher Relevanz, weil er die Unterscheidung zwischen Entscheidungen „im Laufe einer Hauptverhandlung“ (§ 33 Abs. 1 StPO) und solchen „außerhalb der Hauptverhandlung“ (§ 33 Abs. 2 StPO) zum Gegenstand hat. In § 33 Abs. 4 StPO wird die Anordnung der Untersuchungshaft explizit genannt. Danach soll § 33 Abs. 3 StPO nicht anzuwenden sein, wobei § 33 Abs. 3 StPO wiederum auf die in § 33 „Absatz 2 bezeichneten Entscheidungen“ Bezug nimmt, die – nach dem unmissverständlichen Wortlaut von § 33 Abs. 2 StPO – „außerhalb der Hauptverhandlung“ ergehen. Die Anordnung der Unter­ suchungshaft erfolgt von daher de lege lata „außerhalb der Hauptverhandlung“ im Sinne von § 30 Abs. 2 GVG. Daraus folgt, dass der Erlass eines Haftbefehls im Wege des § 125 Abs. 2 StPO ohne Beteiligung der Schöffen erfolgen kann. Für weitere Entscheidungen im Sinne von § 126 Abs. 2 StPO, etwa Aufhebung oder Außervollzugsetzung eines Haftbefehls, gilt § 33 Abs. 4 StPO zwar nicht unmittelbar. Sie sind aber als actus contrarius gleichfalls dieser Regelung und der daran anknüpfenden Verweisungskette zu unterstellen.322 Vor diesem Hintergrund ergehen Entscheidungen in Haftsachen grundsätzlich „außerhalb der Hauptverhandlung“ im Sinne von § 30 Abs. 2 GVG. Das systematische Argument aus § 33 StPO sieht sich durch einen Blick in die Entstehungsgeschichte von § 30 GVG bestätigt. In den Motiven zur Vorschrift wird zunächst klargestellt, dass die Bestimmung unabhängig davon zur Anwendung kommt, ob die Entscheidung vor oder nach Erhebung der Klage zu treffen ist.323 Im Übrigen wird auf die Regelungen der Strafprozessordnung verwiesen, aus denen sich ergibt, in welchen Fällen bloß der Amtsrichter zu entscheiden hat, sowie diesbezüglich auf eine weitere Stelle in den Motiven zum Gerichtsverfassungs­ gesetz, die solche Maßnahmen beispielhaft aufzählt, darunter der Erlass von Verwahrungsbefehlen, sprich die Anordnung von Untersuchungshaft.324 Von daher sind es gleichsam systematische wie historische Argumente, die gegen eine obligatorische Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern an Haftsachen sprechen. Damit ist zugleich gesagt, dass dieser Problemkreis nicht zwingend für ein Akten­ einsichtsrecht von Schöffen angeführt werden kann, weil sich der Ausgangspunkt der Befür­worter eines solchen Rechts, dass Laienrichter an Haftentscheidungen mitwirken müssen, als de lege lata unzutreffend erwiesen hat.

321 Dehn, NStZ 1997, 607, 608. Vgl. insofern bereits die Motive zu § 30 GVG bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 81 oben. 322 Eine solche – wenngleich nicht unumstrittene – sog. „Kehrseitentheorie“ ist etwa in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur geläufig (s. dazu BVerwGE 25, 72, 76; 27, 245, 247; 30, 77, 79; 71, 354, 357). 323 Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 80. 324 Ebd., S. 81 oben mit S. 72 unter 3.

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3. § 30 GVG als gesetzliche Grundlage eines Akteneinsichtsrechts für Laienrichter Abschließend bleibt bloß noch zu klären, ob § 30 Abs. 1 GVG ein Akten­ einsichtsrecht für Schöffen statuiert. Interessant ist, dass selbst Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen es nicht zwangsläufig daraus ableiten wollen. „Ein Recht auf Akteneinsicht direkt aus § 30 GVG ist folglich nicht herzuleiten“, heißt es etwa bei Stüber325, der es im Übrigen nicht ablehnt326. Bei Kemmer heißt es ganz in diesem Sinne: „Der Gesetzgeber sollte, wenn er es tatsächlich mit der in §§ 30, 77 I GVG von ihm vorgenommenen Gleichstellung ernst meint und der Aushöhlung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Schöffen durch die Rechtsprechung entgegenwirken will, […] diese Problematik auf die Tagesordnung setzen und das Akteneinsichtsrecht […] für Berufs- wie Laienrichter gleichermaßen in der StPO gesetzlich verankern.“327 Man ist etwas überrascht, dass die Vorschrift zwar genannt, nicht aber näher untersucht wird. Man belässt es vielmehr bei dieser – zuweilen sehr apodiktisch anmutenden328 – Behauptung, ohne dass § 30 Abs. 1 GVG einer näheren Normexegese mit den Mitteln juristischer Methodenlehre unterzogen wird. Sie vermisst man allerdings ebenso bei der – ein umfassendes Akteneinsichtsrecht ablehnenden – (früheren) Gerichtspraxis. Das Reichsgericht etwa geht überhaupt nicht auf § 30 Abs. 1 GVG ein. In gleicher Weise verfährt der BGH in seiner erwähnten Entscheidung aus dem Jahre 1960. Ebenfalls unter bloßem Hinweis auf die Vorschrift nimmt BGHSt 43, 36, 39 dagegen ein Akteneinsichtsrecht aus § 30 Abs. 1 GVG an. Das eine wie das andere Vorgehen vermag indes nicht zu überzeugen, weil es jeweils ohne nähere Interpretation der Norm erfolgt. Bei einer solchen Analyse wird sich zeigen (müssen), ob es sich bei § 30 Abs. 1 GVG wirklich um eine „eindeutige gesetz­liche Regelung“ bzw. unmissverständliche Vorschrift handelt. Die wörtliche Auslegung des § 30 GVG scheint auf den ersten Blick in der Tat für ein umfassendes Akteneinsichtsrecht von Laienrichtern zu sprechen. Schließlich spricht er davon, dass „die Schöffen während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang“ wie die Berufsrichter ausüben. Die an sich klare Sprache des Gesetzes verliert aber bereits dadurch etwas an Überzeugungskraft, als dass der Gesetzgeber seinen eigenen Worten nicht allzu viel an Vertrauen entgegenzubringen scheint. Es ist vor dem Hintergrund des § 30 GVG schwer erklärbar und jedenfalls tautologisch, wenn in den bereits erwähnten §§ 240, 249 Abs. 2 StPO die Schöffen explizit neben den (Berufs-)Richtern erwähnt werden. Der 325

Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 57. Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 76. 327 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 214 f. 328 Schreiber, Welzel-Festschrift, S. 941, 949 („eindeutige gesetzliche Regelung“) sowie ­ferner noch Terhorst, MDR 1988, 809, 810: „Diese Vorschrift ist unmißverständlich.“ Dass sie Ausnahmen zulässt, wird dabei geflissentlich verschwiegen. 326

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Wortlaut des § 30 Abs. 1 GVG macht eine solche ausdrückliche Gleichstellung an sich überflüssig. Von daher scheint die Norm keinesfalls derart „eindeutig“ bzw. „unmissverständlich“ zu sein329, wie es Befürworter eines Akteneinsichtsrechts für Laienrichter suggerieren möchten. In einer Hinsicht ist die Vorschrift aber ebenso eindeutig wie unmissverständlich. Sie lässt Ausnahmen zu. Insofern kann man freilich nicht aus dem Fehlen eines gesetzlichen Verbots der Aktenkenntnis von Laienrichtern den Schluss ziehen, dass sie deshalb ein Akteneinsichtsrecht haben würden. Denn wie schon Befürworter einer solchen Befugnis ausgeführt haben, gibt es eine Vorschrift, welche den beisitzenden Berufsrichtern die Aktenkenntnis ausdrücklich gestattet, ebenfalls nicht.330 Von daher kann es eine gesetzlich normierte Ausnahme davon – für ehrenamtliche Richter – und das Bedürfnis nach einer entsprechenden gesetz­ lichen Norm von vornherein nicht geben. Die Ausnahmen können sich aber gleichsam aus der Natur der Sache bzw. als Annex zu anderen Vorschriften ergeben, die Laien- und Berufsrichter unterschiedlich behandeln. In dieser Hinsicht wird § 238 Abs. 1 StPO genannt, wonach die Leitung der Hauptverhandlung und insbesondere die Aufnahme des Beweises nicht den Laienrichtern, sondern vielmehr dem Vorsitzenden (Berufs-)Richter gebührt.331 Auf diesen fundamentalen Unterschied haben schon die Motive hingewiesen.332 Dafür wiederum ist Aktenkenntnis unabdingbar, woraus ein arg. e contrario 329

Schreiber, Welzel-Festschrift, S. 941, 949; Terhorst, MDR 1988, 809, 810. Hillenkamp, Kaiser-Festschrift, S. 1437, 1446 f. Dies bedarf freilich insofern der Klarstellung, als dass sich ein solches Recht, wie sogleich noch zu zeigen sein wird, aus der Natur der Sache bzw. als Annex zu anderen Vorschriften ergeben kann. In dieser Hinsicht ist für die beisitzenden Berufsrichter § 203 StPO zu nennen. Wenn „das Gericht“ – und damit, weil es sich um eine Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung gemäß §§ 30 Abs. 2, 76 Abs. 1 Satz 2 GVG handelt, sämtliche Berufsrichter ohne Mitwirkung der Schöffen (Meyer-Goßner, § 201 Rdnr. 7; Seidl, in: KMR, § 207 Rdnr. 25 mit § 201 Rdnr. 21; Rieß, in: LR, § 207 Rdnr. 23; Joecks, § 201 Rdnr. 6) – über die Eröffnung des Hauptverfahren „nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens“ entscheidet, hat es hierfür nicht bloß die Anklageschrift, sondern die ganzen Akten zu Rate zu ziehen (Meyer-Goßner, § 203 Rdnr. 1; Rieß, in: LR, § 203 Rdnr. 5). Hieraus wiederum folgt implizit ein Akteneinsichtsrecht für die beisitzenden Berufsrichter. 331 Imberger-Bayer, JR 1999, 299, 301. Soweit § 238 Abs. 2 StPO als Argument für ein Akteneinsichtsrecht angeführt wird (Terhorst, MDR 1988, 809, 811), ändert dies nichts. Im Rahmen der Beratung über die zu treffende Entscheidung, die durch Beschluss ergeht (Meyer-Goßner, § 238 Rdnr. 19; Frister, in: SK-StPO, § 238 Rdnr. 4; Joecks, § 238 Rdnr. 9; Pfeiffer, § 238 Rdnr. 5; Becker, in: LR, § 238 Rdnr. 32; Paulus, in: KMR, § 238 Rdnr. 50), ist den Laienrichtern vom Vorsitzenden, soweit erforderlich, Aktenkenntnis zu verschaffen. Ein Verstoß gegen § 261 StPO und den darin lozierten formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz liegt hierin nicht, weil nicht über das Ergebnis der Beweisaufnahme, sondern vielmehr über eine diesbezügliche Anordnung zu befinden ist. 332 s. dazu Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 80. Im besonderen Maße gilt dies für die Geschworenen im Schwurgericht damaliger Prägung. Das Schwurgericht zur Zeit der Verabschiedung der Reichsjustizgesetze bestand gemäß § 81 GVG der damaligen Fassung aus den (Berufs-)Richtern oder dem Gerichtshof auf der einen und der Geschworenenbank oder Jury auf der anderen Seite. Dabei betonen bereits die Motive, dass es 330

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3. Teil: Formelle Unmittelbarkeit

folgt, dass sie bei Schöffen entbehrlich ist, weil sie gerade nicht diese Aufgaben wahrnehmen. Von daher ist es durchaus mit dem Wortlaut von § 30 Abs. 1 GVG vereinbar, ein Akteneinsichtsrecht für Laienrichter abzulehnen, weil es insofern eine Ausnahme gibt. Die historische Auslegung spricht ebenfalls eher gegen ein Akteneinsichtsrecht für Schöffen. Dabei wird weniger an die Motive des Gesetzgebers gedacht, die sich ohnehin nicht expressis verbis zu dieser Frage äußern, sondern vielmehr daran, dass der Gesetzgeber wiederholt Gelegenheit hatte, ein solches Recht zu statuieren oder § 30 GVG in dieser Hinsicht zu präzisieren. Schließlich hat er das Verfahren vor den Schöffen- und Schwurgerichten seit Erlass der Reichsstrafprozessordnung mehrfach gesetzlich modifiziert und geändert. Dabei hat man in Kenntnis dessen, dass die Praxis den Laienrichtern die Aktenkenntnis verwehrt, § 30 Abs. 1 GVG gleichwohl unverändert gelassen. Wenn der Gesetzgeber sie tatsächlich durch die Vorschrift gewährleistet sehen möchte, hätte man eine (deklaratorische) Klarstellung erwartet. Dass sie ausblieb, ist deshalb dahin zu ver­stehen, dass der Gesetzgeber ein solches Recht als nicht von der Vorschrift umfasst sieht. Im Rahmen der historischen Auslegung lässt sich von daher zumindest ein Indiz dafür entnehmen, dass die Ermittlungs- und Verfahrensakten den Schöffen zu Recht vorenthalten werden. Es sieht sich durch die teleologische Auslegung bestätigt. Sie wird von Befürwortern eines Akteneinsichtsrechts von ehrenamtlichen Richtern der Straf­ gerichtsbarkeit selbst ins Spiel gebracht. Kemmer führt in dieser Hinsicht aus333: Es „kann die Gewährung von Akteneinsicht überhaupt nur dann sinnvoll sein, wenn dies die Effektivität des Laienrichteramtes bei der Urteilsfindung steigern würde – das Überlassen von Aktenmaterial darf nicht um seiner selbst willen geschehen, sondern lediglich unter der Voraussetzung, daß dies der Rechtsfindung dienlich wäre!“ Damit umschreibt er Sinn und Zweck der Gleichstellung in § 30 GVG, freilich ohne daraus die an sich nahe liegende Konsequenz zu ziehen. Der Rechtsfindung ist es keinesfalls dienlich, wenn Schöffen – gleichsam als Garanten der

sich dabei um „zwei selbständige, teils miteinander, teils nebeneinander wirkende Faktoren“ handelt (Vorbemerkung zur Begründung der §§ 276 ff. RStPO bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 214). Ein Nebeneinander bestand insbesondere hinsichtlich Beweisaufnahme und -würdigung. Eine Beweiswürdigung ist für die „Entscheidung der Schuldfrage“ erforderlich, die gemäß § 81 GVG ausschließlich der Jury oblag. Die Berufsrichter waren hiervon ausgeschlossen und hatten sich auch im Übrigen jeder Beweiswürdigung zu enthalten. Für den Vorsitzenden hat es § 300 RStPO ausdrücklich ausgesprochen. Die Vorschrift regelte die (Rechts-)Belehrung des Vorsitzenden, welche er den Geschworenen vor deren Beratung zu geben hatte. Danach hatte er sie zu belehren, „ohne in eine Würdigung der Beweise einzugehen“. Die Beweisaufnahme oblag dagegen gemäß §§ 276, 237 ff. RStPO ausschließlich den Berufsrichtern. Hierfür war und ist Aktenkenntnis unabdingbar, nicht aber für die Geschworenen. Vgl. zur Frage, wie sich diese Aufgabenteilung auf die Geltung materieller Unmittelbarkeit auswirkte, noch später im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 1. c) aa) (1). 333 Kemmer, Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 157.

7. Kap.: Formelle Unmittelbarkeit de lege lata

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Unmittelbarkeit334 – ein umfassendes Akteneinsichtsrecht haben. Denn die Rechtsfindung vollzieht sich im Strafverfahren nämlich gerade nicht aus den Akten, sondern vielmehr „aus dem Inbegriff der (Haupt-)Verhandlung“. Aktenkenntnis ist diesem Ziel eher abträglich. Sie kann deshalb nicht umfassend, sondern allenfalls insofern gewährt werden, als dass bereits verlesene, wie etwa der Anklagesatz335, oder gemäß § 249 Abs. 2 StPO zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachte Aktenstücke den Schöffen, etwa als Gedächtnisstütze, überlassen werden können und müssen, wenn sie verlangt werden. Wenn Aktenteile dagegen noch nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, sind sie Schöffen von Rechts wegen vorzuenthalten. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine zirkuläre Argumentation. Dies wäre der Fall, wenn die Einschränkung des § 30 GVG erst aus dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz geschlussfolgert wird, ohne dass sie seinerseits in der Vorschrift selbst angelegt ist. Sie ist es jedoch in der Tat, nämlich – auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig – in der Formulierung vom „vollem Umfang“. Ein Schöffe kann seinem Amt im „vollem Umfang“ nachkommen, ohne die Akten kennen zu müssen, weil sie für seine Entscheidung ohne Relevanz sind. Ob man dies (noch) als teleologische Auslegung oder (bereits) als teleologische Reduktion ansieht, kann dahinstehen. In jedem Fall wird es – außerhalb des insofern konstitutiven § 249 Abs. 2 StPO – durchaus dem Telos des § 30 GVG gerecht, ehrenamt­ lichen Richtern in der Strafgerichtsbarkeit die Kenntnisnahme der Ermittlungs­ akten zu verweigern. Deshalb kann die Vorschrift nicht zugleich, will man sie nicht ad absurdum führen, der Hort eines Akteneinsichtsrechts für Schöffen sein. Es ist vielmehr abzulehnen. Damit ist zugleich gesagt, dass es sich nicht als ein Problem darstellt, das zwangsläufig und ausschließlich unter dem Blickwinkel des Unmittelbarkeitsprinzips betrachtet werden muss. Die ohnehin schon verworrene und in der Diskussion einigermaßen festgefahrene Fragestellung, ob und inwieweit Schöffen in einem Strafverfahren ein Recht auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten zusteht, wird jedenfalls dadurch, dass man sie noch um die Facette der formellen Un­ mittelbarkeit bereichert, nicht gerade leichter. Weil es aber eine solche Befugnis der ehrenamtlichen Richter de lege lata nicht gibt, kann sie jedenfalls nicht in Konflikt mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner formellen Variante geraten.

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Vgl. hierzu im Zusammenhang mit einem Akteneinsichtsrecht aus § 30 GVG näher Börner, ZStW 122 (2010), 157, 181 ff., 187 ff. 335 Ebenso Häger, Meyer-Gedächtnisschrift, S. 171, 172 f. Dagegen geht es vor diesem Hintergrund zu weit, wenn es der BGH in seinem bereits erwähnten NS-Urteil aus dem Jahre 1960 für unbedenklich ansieht, dass Laienrichtern „unbedenklich zugetraut werden [darf], Sinn und Bedeutung der Anklageschrift zu verstehen“ (Hervorhebung nicht im Original).

4. Teil

Materielle Unmittelbarkeit Nachdem sich bislang lediglich der eher formellen Seite des (straf-)prozessualen Unmittelbarkeitsprinzips angenommen worden ist, geht es im Folgenden um die sog. materielle Unmittelbarkeit. Sie ist in jeder Hinsicht deutlich umstrittener, als es die formelle Komponente des Unmittelbarkeitsgebots ist. Es beginnt schon damit, dass nicht klar ist, wie sich die Gesichtspunkte der formellen und materiellen Unmittelbarkeit zueinander verhalten. Selbst Geppert, der sich umfassend mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren befasst hatte, lässt es in dieser Hinsicht etwas an klarer Linie vermissen. Während er im Zusammenhang mit formeller Unmittelbarkeit noch davon spricht, dass sie eine „eigenständige Bedeutung und Wirkkraft“ haben soll1, ist gleich zu Beginn seiner Erörterungen zur materiellen Seite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes davon die Rede, „daß die ‚formelle‘ Seite der Unmittelbarkeit für sich allein Wesen und Wirkungsweise des Unmittelbarkeitsprinzips als eines einheitlichen Beweisgrundsatzes nicht hinreichend erklärt“2. An etwas versteckter Stelle heißt es zum Verhältnis von formeller und materieller Unmittelbarkeit noch: „Richtig ist: Beide Säulen zusammen stehen im Dienst der Wahrheitserforschung und machen zusammen das Wesen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als eines fundamentalen Beweisgrundsatzes aus.“3 Wie es um die beiden Elemente des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes steht, lässt sich allerdings erst beantworten, wenn man sich über den sachlichen Gehalt materieller Unmittelbarkeit und deren Rechtsgrund­lagen ver­ gewissert hat.

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Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 147. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. In dieser Hinsicht scheint die Kritik, „daß sich unter dem Begriff der Unmittelbarkeit völlig unterschiedliche prozessuale Erscheinungen verbergen und daß die Besetzung eines einheitlichen Begriffs für unterschiedliche Dinge zu Sprachverwirrung und […] zu sachlichen Unklarheiten führen muß“ (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 129) und in der Terminologie nicht immer scharf genug getrennt wird (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162), Geppert in gewisser Weise selbst zu treffen. 3 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 147 in Fn. 52 (Hervorhebung im Original). 2

8. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege ferenda

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8. Kapitel

Materielle Unmittelbarkeit de lege ferenda Während formelle Unmittelbarkeit als sachliches Prinzip hinsichtlich Umfang und Konsequenzen als einigermaßen gesichert angesehen werden kann, lässt sich Gleiches für materielle Unmittelbarkeit nicht sagen. Vielmehr hat bereits Geppert ausgeführt, „daß sich unter dem Begriff der Unmittelbarkeit völlig unterschiedliche prozessuale Erscheinungen verbergen und daß die Besetzung eines einheitlichen Begriffs für unterschiedliche Dinge zu Sprachverwirrung und […] zu sachlichen Unklarheiten führen muß“.4 Von daher muss geradezu zwangsläufig zunächst auf Begriff und Inhalt eines materiell verstandenen Unmittelbarkeitsprinzips eingegangen werden.

I. Begriff und Inhalt eines sachlichen Prinzips materieller Unmittelbarkeit Unisono geht man – von begrifflichen Divergenzen einmal abgesehen5 – davon aus, dass es sich ausschließlich um ein Beweisprinzip handelt.6 Dabei steht hinter einem materiellen Verständnis der Unmittelbarkeit anerkanntermaßen der Gedanke des bestmöglichen Beweises.7 Er soll beinhalten, dass „von mehreren möglichen Beweiswegen immer der beste“ zu wählen ist.8 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in diesem Sinne ist durch die Forderung gekennzeichnet, dass „das Gericht bei Feststellung des Sachverhalts sich in die denkbar innigste, unmittelbarste Beziehung zu den erschließenden Tatsachen setzen soll“.9 Es hat „bei der Erforschung einer Straftat und bei Ermittlung der für Schuld und Strafe maßgebenden Tatsachen in die denkbar nächste Beziehung zu den Tatsachen zu treten, die für Unrechtstatbestand, Schuld und Sanktionen beweisrelevant sind“.10 Es soll schlicht um die Frage gehen, „welches Beweismittel soll oder welches Beweismittel soll nicht zum Gegenstand des Beweises gemacht werden“ (dürfen).11 Das

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Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 129. Vgl. zur unterschiedlichen Terminologie bloß die Nachw. bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 127. 6 Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 15; von Hippel, Strafprozeß, S. 315; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 127 in Fn. 37. 7 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 127 mit S. 130. 8 Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 33; von Hippel, Strafprozeß, S. 315. 9 Bennecke-Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 249 (Hervorhebung nicht im Original). Freilich bringt es für eine Definition von (materieller) Unmittelbarkeit nicht allzu viel, wenn man darin (wieder) den Begriff von der „unmittelbarsten“ Beziehung verwendet. 10 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. 11 von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 98 f. 5

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Gericht soll dabei möglichst „aus der Quelle selbst“ schöpfen12, seine Erkenntnis tunlichst „aus erster Hand“ suchen.13 Vor diesem Hintergrund enthält die Idee materieller Unmittelbarkeit das generelle Gebot, unter mehreren Beweismitteln in Bezug auf ein und dasselbe Beweisthema dasjenige Beweismittel zu wählen, welches dem zu erforschenden Sachverhalt am nächsten kommt.14 In diesem Sinne soll es sich um eine „selbstverständliche prozessuale Regel“ handeln15, die als „Klugheitsregel“ oder Leitidee allgemein anerkannt ist.16 An dieser Stelle hören aber die Gemeinsamkeiten auf und beginnen die Unterschiede.

II. Rangfolge von Beweismitteln als Konsequenz eines sachlichen Prinzips materieller Unmittelbarkeit Es herrscht insbesondere Unklarheit in der Frage, welche Konsequenzen ein materiell verstandenes strafprozessuales Unmittelbarkeitsgebot nach sich ziehen soll. „Die Unklarheiten beruhen“, um mit Löhr zu sprechen17, dabei „rein begrifflich auf der Mehrdeutigkeit des Wortes [vom] Unmittelbarkeitsgrundsatz, das eine mannigfache Interpretation zulässt.“ Gleichwohl hat sich ein Grundkonsens herausgebildet. In diesem Sinne soll einem materiell verstandenen strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz eine Art Rangfolge der Beweismittel entnommen werden können. Als Prinzip der Benutzung des bestmöglichen Beweismittels verlangt (materielle) Unmittelbarkeit etwa eigenen richterlichen Augenschein (z. B. Ortstermin am Unfallort) statt entsprechender Zeugenaussage (z. B. Schilderung eines Polizeibeamten über die örtlichen Gegebenheiten der Unfallstelle) bzw. die Wahrnehmung der Dispositiv­ urkunde selbst (z. B. des beleidigenden Flugblattes) anstelle der inhaltlichen Wiedergabe dieses Flugblatts durch einen Leser.18 Damit kommt zwangsläufig die Frage auf, welche sachlichen Kriterien hierfür sprechen (sollen). Es soll dabei um die Beweisqualität im Sinne einer Rangfolge verschiedener Beweismittel bezüglich ein und desselben Beweisthemas gehen.19 Man versteht 12

Bennecke-Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 250; Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 1. 13 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 128. 14 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 129. 15 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 47. 16 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130. 17 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 1. 18 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 128; Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 18. Schon an diesen Beispielen zeigt sich übrigens, dass es einen grundsätzlichen Vorrang von Personal- vor Sachbeweisen nicht geben kann, sodass auf die diesbezügliche Kontroverse nicht weiter eingegangen zu werden braucht. 19 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 165. Beweis­ thema bei den Gegebenheiten des Unfallortes könnte etwa sein, ob es sich dabei um „unüber-

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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sie dahingehend, dass aus Gründen der Beweisqualität dem – zum jeweiligen Beweisthema am nächsten stehenden – Originalbeweismittel der Vorrang vor einem Beweissurrogat gebührt und die Ersetzung eines Original-Beweises durch solche Beweissurrogate, die lediglich den sachlichen Inhalt jener ursprünglichen Beweise wiedergeben, möglichst ausgeschlossen werden soll.20 Das (unmittelbare) Originalbeweismittel steht dabei der zu beweisenden Tatsache in dem Sinne am nächsten, als es eben diese Tatsache gewissermaßen aus erster Hand beleuchtet und seine Beweiskraft originär aus sich selbst schöpft, wohingegen ein Beweissurrogat als (bloß mittelbares) Beweismittel seine Beweiskraft aus einem anderen (originären) Beweismittel bezieht, das es bloß inhaltlich reproduziert.21 Es ist das wohl wichtigste Anliegen materieller Unmittelbarkeitstheorien, diese Unterscheidung von originären Beweismitteln und abgeleiteten Beweissurrogaten in deren Bedeutung für die gerichtliche Beweisführung herausarbeiten zu wollen. In diesem Sinne „verlangt die Idee materieller Unmittelbarkeit nach richterlicher Kenntnisnahme der Beweise gewissermaßen ‚im Original‘. Anders ausgedrückt: Die Beweisführung durch abgeleitete Beweise (= Beweissurogate) ist begrifflich-abstrakt immer eine Verletzung der materiellen Unmittelbarkeit“, heißt es noch.22 Es „drängt die Idee materieller Unmittelbarkeit zur Verwendung originärer Beweise und im Allgemeinen zum Verzicht auf Beweisreproduktionen“.23 Bereits früh­zeitig hat es von Kries treffend charakterisiert, als er davon sprach, dass bei einer auf dem Prinzip der Unmittelbarkeit beruhenden Beweisführung „Gegenstand des Beweises alles […] mit Ausnahme des Inhalts anderer Beweismittel“ sein kann.24 In dieser sachlichen Konsequenz des materiellen Unmittelbarkeitsgedankens als abstraktem Denkprinzip ist man sich weitestgehend einig.

9. Kapitel

Materielle Unmittelbarkeit de lege lata Die Einigkeit setzt sich zunächst noch in der Frage fort, ob und in welchen Vorschriften es de lege lata verankert ist. Unisono geht man davon aus, dass materielle Unmittelbarkeit im Gesetz lediglich in einer Regelung loziert ist. Insofern wird sichtliche Stellen“ im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) und e) StGB handelt. Insofern zeigt sich, dass sich eine solche Rangfolge erst für den Fall befriedigend erklären lässt, wenn man das materielle Strafrecht in die Betrachtungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einbezieht, vgl. dazu näher im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 20 Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung, S. 13; Heissler, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Strafprozeß, S. 59 ff.; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 128 mit S. 153. 21 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 166. 22 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 166. 23 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 24 von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 99.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

allenthalben § 250 StPO genannt. Er wird oftmals als gesetzlicher Ausdruck der materiellen Komponente von Unmittelbarkeit angesehen.25 Die Vorschriften der §§ 250 ff. StPO sind „die einzigen spezialgesetzlichen Vorschriften, in denen sich unsere Strafprozeßordnung ausdrücklich (wenngleich leider nicht eindeutig) zur Problematik mittelbarer Beweisführung äußert.“26 Dies birgt die Gefahr in sich, wie schon Geppert mit Blick auf die Vergangenheit moniert hat27, dass man sich bei der inhaltlichen Diskussion oft vorschnell und zudem hoffnungslos in diesem Regelungsbereich festfährt. Von dieser Gefahr sind die folgenden Ausführungen jedenfalls insofern befreit, als dass § 250 StPO und seine Ausnahmen schon an früherer Stelle dargestellt worden sind. Es stellt sich freilich die Frage, ob sich de lege lata überhaupt von einem inhaltlich-materiellen Grundsatz materieller Unmittelbarkeit sprechen lässt, wenn er sich auf einige wenige, im Übrigen weitgehend zur Disposition des Gesetzgebers stehende spezialgesetzliche Vorschriften beschränken soll. Freilich soll es sich dabei nicht schlechthin um den Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips handeln. Vielmehr sieht man darin bloß einen Teilbereich materieller Unmittelbarkeit geregelt28, und zwar mit einer weitgehend verselbständigten Lösung29. Welche eigentliche(n) – sozusagen unmittelbare(n) – Rechtsquelle(n) der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz daneben bzw. stattdessen haben soll, ist Gegenstand der weiteren Überlegungen. Dabei soll, wie schon bei der formellen Unmittelbarkeit, der Fokus etwas geweitet, d. h. über den strafprozessualen „Tellerrand“ hinausgeschaut und zunächst andere Prozessordnungen in den Blick genommen werden.

I. Materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess Dabei soll mit dem Zivilverfahren begonnen werden, und zwar nicht von ungefähr. Zum einen spricht dafür, dass die Zivilprozessrechtswissenschaft den umgekehrten Weg bereits eingeschlagen und sich mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip befasst hat.30 Dabei betont Bachmann zunächst, dass „der Unmittelbarkeitsgrundsatz in allen Prozessordnungen gleichermaßen hoch gehalten wird“31, wenngleich er anschließend noch näher untersucht, ob „der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wirklich in allen Prozessordnungen 25 Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 46 in Fn. 142. 26 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 186. 27 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 28 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 (Hervor­ hebung im Original). 29 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 186 unter Rückgriff auf von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 122 und Hürter, Grundsatz der Unmittelbarkeit im Strafprozeß, S. 27. 30 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 ff. 31 Ebd., S. 137.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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gilt“32. Den methodischen Grund dafür, warum er sich einer solchen prozessordnungs- bzw. verfahrensübergreifenden Fragestellung annimmt, liefert Bachmann ebenfalls.33 Ein solcher komparativer Ansatz ist im Grunde unverzichtbar. Neben der eigentlichen Rechtsvergleichung mit ausländischen Rechtsordnungen darf nicht vernachlässigt werden, sondern erscheint sogar zwingender, „innerhalb ein und derselben Rechtsordnung parallele Probleme und deren Lösung einer vergleichenden Würdigung zu unterziehen“. Dabei kann es einerseits nicht darum gehen, sämtliche Verfahrensarten unter der etwas floskelhaften Formel von der „Einheit der Rechtsordnung“ in ein Korsett zu zwängen. Eine bloße Synopse der gesetzlichen Vorschriften als Kontrast dazu wäre jedoch gleichfalls zu wenig. Im Übrigen aber kann ein vergleichender Ansatz fruchtbare Einsichten bringen, die bei einer isolierten Behandlung des Problems verschlossen bleiben (würden). Dies sind Gründe genug, sich einmal aus der Perspektive des Strafprozessrechts mit der Frage nach der Geltung materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren zu befassen. Ein Weiteres spricht dafür: Das Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess wird als „dogmatisch bisher am meisten vernachlässigt“ bezeichnet.34 Freilich muss dies nicht zwangsläufig verwundern. Es besteht nämlich in tatsächlicher Hinsicht ein gravierender Unterschied zwischen Straf- und Zivilverfahren. Beim strafprozessualen Unmittelbarkeitsgedanken geht es im Kern zumeist um die Frage, ob und in welchem Umfang die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens in die Hauptverhandlung transferiert werden können, wofür sich bei Zeugen­aussagen die Protokolle über die (polizeilichen) Vernehmungen während des Vorverfahrens anbieten. Ein solchermaßen vorbereitendes Verfahren kennt das Zivilprozessrecht indes nicht. Von daher gibt es Vernehmungsprotokolle, die Begehrlichkeiten nach einem Verzicht auf die nochmalige Vernehmung des Zeugen während der mündlichen Hauptverhandlung wecken könnten, von vornherein nicht, sodass ein Konflikt mit dem Prinzip materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren schon im tatsächlichen Ausgangspunkt nicht in dem Maße entstehen kann, wie es demgegenüber im Strafprozess der Fall sein kann. Gleichwohl gibt es zivilprozessuale Konstellationen, die etwas zu Für und Wider materieller Unmittelbarkeit aussagen (können).

32

Ebd., S. 138. Zum Folgenden s. Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 150 f. (Hervorhebung im Original). Vgl. für eine „verfahrensvergleichende Betrachtung“ ferner noch Richter, Rpfleger 1969, 261, 263: „Wesentlich fruchtbarer kann […] für ein Problem des allgemeinen Verfahrensrechts ein Vergleich mit anderen Verfahrensordnungen sein.“ 34 Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten im Erkenntnisverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 176 sowie Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 66. Dieser Vorwurf trifft insbesondere das ältere Schrifttum (vgl. dazu die Nachw. und Auseinandersetzung bei Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweis­ aufnahme, S. 47 ff.), wohingegen sich an dieser Stelle auf das neuere Schrifttum konzentriert werden soll. 33

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

1. Schriftliche Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 ZPO) als spezielle Regelung zur materiellen Unmittelbarkeit Innerhalb der mündlichen Hauptverhandlung sieht das Zivilprozessrecht – neben § 284 Satz 2 ZPO35 – mit § 377 Abs. 3 ZPO eine Möglichkeit vor, die un­ mittelbar in Widerspruch zum materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz gerät, wie er in seinem sachlichen Gehalt verstanden wird. Dass die Vorschrift damit etwas zu tun hat, wird besonders in Ausführungen von Stadler deutlich, wonach die Norm in gewisser Weise die Einstellung einer Verfahrensordnung zur Unmittelbarkeit dogmatisch offenbart und damit einen Maßstab für die Verwirklichung bzw. Durchbrechung dieses Grundsatzes bildet.36 Von daher liegt es nahe, der Regelung besonderes Augenmerk zu schenken. Gemäß § 377 Abs. 3 ZPO kann das Gericht „eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage anordnen, wenn es dies im Hinblick auf den Inhalt der Beweisfrage und die Person des Zeugen für ausreichend erachtet“. Eine solche Form der Beweisaufnahme im Laufe eines Strafverfahrens ist lediglich während des Ermittlungsverfahrens möglich (Nr. 67 RiStBV).37 Während der Hauptverhandlung gilt dagegen § 250 StPO. Hiervon geht § 377 Abs. 3 ZPO für das Zivilverfahren in gewisser Weise ab. Gericht im Sinne der Vorschrift ist nämlich das „erkennende Gericht“ gemäß § 128 Abs. 1 ZPO bzw. das „Prozessgericht“ im Sinne von § 355 ZPO. Daraus folgt zum einen, dass es sich bei der schriftlichen Antwort des Zeugen nicht um einen Urkundsbeweis handelt. Vielmehr wird Zeugenbeweis im Wege des § 377 Abs. 3 ZPO erhoben.38 Dies erschließt sich jedenfalls aus seiner systematischen Stellung im Gesetz. Schließlich ist die Norm im Titel mit der gesetzlichen Überschrift vom „Zeugenbeweis“ loziert. Weil der Zeuge dafür dennoch nicht vor Gericht erscheinen muss, soll es sich bei der Vorschrift zum anderen um eine Ausnahme vom Grundsatz der Unmittelbarkeit nach § 355 ZPO handeln, um seine Durchbrechung und Einschränkung bzw. einen Verzicht darauf.39 Von daher mahnt man im Schrifttum an, davon bloß zurückhaltend Gebrauch zu machen 35

s. dazu bereits im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. a) bb) (3). Stadler, ZZP 110 (1997), 137. 37 Nr. 67 RiStBV hat folgenden Wortlaut (Hervorhebungen nicht im Original): „In geeigneten Fällen kann es ausreichen, dass ein Zeuge sich über bestimmte Fragen zunächst nur schriftlich äußert, vorausgesetzt, dass er glaubwürdig erscheint und eine vollständige Auskunft von ihm erwartet werden kann.“ Die Hervorhebungen dürften die Nähe zu § 377 Abs. 3 ZPO („­Inhalt der Beweisfrage und Person des Zeugen“) hinreichend verdeutlichen. 38 Greger, in: Zöller, ZPO, § 377 Rdnr. 6; Zimmermann, ZPO, § 377 Rdnr. 3; Thomas/ Putzo, ZPO, § 377 Rdnr. 2; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 377 Rdnr. 36; Huber, in: Musielak, ZPO, § 377 Rdnr. 5; Damrau, in: MünchKommZPO, § 377 Rdnr. 1; Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 139. 39 LG Gießen MDR 1996, 200; Damrau, in: MünchKommZPO, § 377 Rdnr. 7; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 377 Rdnr. 36; Huber, in: Musielak, ZPO, § 377 Rdnr. 4; Völzmann-Stickel­ brock, ZZP 118 (2005), 359, 371. 36

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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und die dafür erforderlichen Anforderungen eher restriktiv zu interpretieren.40 Schließlich würde die Erfahrung lehren, dass sich die Darstellung eines Zeugen wie seine Glaubwürdigkeit in Rede und Gegenrede im Termin ändern könnten, ohne dass man damit vorher zwangsläufig rechnen konnte oder musste.41 Damit ist man bei den Voraussetzungen von § 377 Abs. 3 ZPO angelangt. a) „Inhalt der Beweisfrage“ Zunächst muss der „Inhalt der Beweisfrage“ eine schriftliche Anhörung des Zeugen zulassen. Dies ist der Fall, wenn die Beweisfrage vom Zeugen ohne weiteres verständlich und leicht zu beantworten ist, weil es sich nicht um einen schwierigen Lebensvorgang handelt, über den er berichten soll42, wohingegen umfangreiche oder komplizierte Fragen sich eher nicht für eine schriftliche Beantwortung eignen43. An anderer Stelle bemüht man sich darum, die Prognose zum „Inhalt der Beweisfrage“ weniger von solchen tatsächlichen Gegebenheiten und Unwägbarkeiten abhängig zu machen. Vielmehr will man sich am materiellen Recht orientieren und schlägt in dieser Hinsicht vor, dass man zu § 377 Abs. 3 ZPO greifen kann, wenn es etwa um die Beweiserhebung über eine Nebenforderung (§ 4 Abs. 1 ZPO a. E.) geht.44 Man hat etwa den Fall im Blick, dass man über den Inhalt eines mündlich geschlossenen Kaufvertrages kaum gemäß § 377 Abs. 3 ZPO Beweis erheben kann45, wohl aber darüber, ob es später zu einer schriftlichen Rechnung – mit der Folge des § 286 Abs. 3 BGB – oder einer verzugsbegründenden Mahnung hinsichtlich des Kaufpreises gekommen ist. Die Gesetzesmaterialien nennen als „Inhalt der Beweisfrage“ noch den Fall, dass „sich ein Bankangestellter zu den Bedingungen eines Kreditvertrages äußern soll“.46 Insofern lässt sich nicht verhehlen, dass § 377 Abs. 3 ZPO eine Interpretation vor dem Hintergrund des auf den jeweiligen Fall anzuwendenden materiellen Rechts zulässt. Ganz besonders deutlich klingt es bei Stadler an.47 Danach wird „man meist schon bei einem vergleichsweise einfachen Kaufvertrag nicht ohne Nachfragen an den Zeugen auskommen, der in der Regel ja nicht wissen kann, worauf es juristisch ankommt“. Plastischer und anschaulicher lassen sich Interde­ pendenzen zwischen materiellen und – der Verwirklichung und Durchsetzung des materiellen Rechts dienenden48 – prozessualen Rechts kaum beschreiben. 40

Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1 a. E. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 377 Rdnr. 8. 42 Thomas/Putzo, ZPO, § 377 Rdnr. 2. 43 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 377 Rdnr. 37; Damrau, in: MünchKommZPO, § 377 Rdnr. 7. 44 Greger, in: Zöller, ZPO, § 377 Rdnr. 7. 45 Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 140. 46 BT-Drs. 11/3621 S. 38. 47 Vgl. zum Folgenden Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 140 (Hervorhebung nicht im Original). 48 s. hierzu näher im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. 41

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

b) „Person des Zeugen“ Weitere Voraussetzung ist, dass die „Person des Zeugen“ als ausreichend für eine schriftliche Beantwortung der Beweisfrage erachtet werden kann. Neben sonstigen Voraussetzungen eher allgemeiner Natur, wie ein entsprechender Bildungsgrad des Zeugen sowie seine Erkenntnis-, Ausdrucks- und Erklärungsfähigkeit49, verlangt man darüber hinaus noch seine persönliche Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit.50 Anderenorts umschreibt man es – in der Sache ohne Unterschied – schlicht damit, dass eine schriftliche Befragung ausgeschlossen ist, wenn es auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen und den diesbezüglichen persönlichen Eindruck bei der Würdigung der Aussage ankommt.51 Insofern kommt die Frage auf, wie man dies bei einer schriftlichen Aussage des Zeugen überhaupt beurteilen will und auf welche Weise das diesbezügliche Fragerecht der Parteien gemäß § 397 ZPO („Verhältnisse des Zeugen“) zu gewährleisten ist.52 Dazu ist zum einen zu sagen, dass der von § 395 Abs. 2 ZPO – als Pendant zu § 68 Abs. 4 StPO53 – expressis verbis genannte Umstand für die Glaubwürdigkeit des Zeugen, nämlich „seine Beziehungen zu den Parteien“, durchaus schriftlich abgefragt werden kann. Im Übrigen nennt bereits die Gesetzesbegründung „Angehörige einer Partei“ als Beispiel dafür54, dass eine schriftliche Zeugenbefragung von Personen, bei denen Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Glaubwürdigkeit bestehen, regelmäßig auszuscheiden hat. Es muss nämlich die Erwartung einer zuverlässigen und der Beweiswürdigung im Sinne von § 286 ZPO zugänglichen Beantwortung der Beweisfrage bestehen.55 Wenn das Gericht demgegenüber auf einen unmittelbaren Eindruck vom Zeugen und seiner Aussage angewiesen ist, um das Beweisergebnis sachgemäß würdigen zu können, kann es nicht nach § 377 Abs. 3 ZPO, sondern muss vielmehr nach § 355 ZPO verfahren.56 Mit der Formulierung von der „Person des Zeugen“ in § 377 Abs. 3 ZPO wird von daher auf die allgemeine Voraussetzung einer kom 49

Vgl. dazu näher Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 122 ff. Greger, in: Zöller, ZPO, § 377 Rdnr. 8; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 377 Rdnr. 10. 51 Hansen, NJW 1991, 953, 956; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 108 mit S. 127. 52 Vgl. hierzu Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 77 ff. 53 Er lässt Fragen an den Zeugen über solche Umstände zu, „die seine Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten“. Vgl. zur Bedeutung von Aspekten der Glaubwürdigkeit im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz noch die diesbezüg­lichen Über­ legungen an späterer Stelle im 5. Teil, 11. Kapitel unter I. 54 BT-Drs. 11/3621 S. 38. Von daher verwundert es etwas, wenn Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 141 ausführt, dass „entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers“ solche Personen für § 377 Abs. 3 ZPO auszuscheiden haben, „die in einer engen persönlichen Beziehung zu einer der Parteien stehen“, weil der Gesetzgeber dies gerade in den Motiven betont, dass nämlich „die schriftliche Anhörung eines Angehörigen einer Partei in der Regel ausscheiden“ wird. 55 Greger, in: Zöller, ZPO, § 377 Rdnr. 8. 56 Hk-ZPO/Eichele, § 377 Rdnr. 5. 50

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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missarischen Vernehmung angesprochen, wonach anzunehmen sein muss, „dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Insofern kann für diese Voraussetzung des § 377 Abs. 3 ZPO auf frühere Ausführungen zu § 375 ZPO verwiesen werden57, ohne dass Unterschiede in der Sache bestehen. Für geradezu prädestiniert, um nach § 377 Abs. 3 ZPO vorzugehen, hält man Ärzte. Das Gericht sollte sie öfter im Wege der schriftlichen Anhörung befragen.58 Ob dies in dieser Absolutheit sachgerecht erscheint, kann dahinstehen. Freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass dafür eine Parallele aus dem Strafprozessrecht bemüht werden kann. Gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO können „ärztliche Atteste über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren gehören“, verlesen werden, wobei sich dies wiederum systemimmanent deshalb mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz verträgt, weil der Berufsstand des Arztes und die damit einhergehenden standesrechtlichen Verpflichtungen Gewähr und Vermutung der Glaubwürdigkeit mit sich bringen, sodass bei Angehörigen dieser Berufsgruppe regelmäßig auf die unmittelbar-mündliche Vernehmung verzichtet werden kann.59 Wenn man im zivilprozessualen Schrifttum noch weitere für § 377 Abs. 3 ZPO relevante Berufsgruppen nennt60, haben sie übrigens eben dies mit Ärzten gemeinsam. In diesen Fällen bietet die „Person des Zeugen“ im Regelfall eine hinreichende Gewähr für deren Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit. c) Ermessen des Gerichts und Position der Parteien zur schriftlichen Aussage Freilich steht die Anwendung des § 377 Abs. 3 ZPO, um zu seiner letzten Voraussetzung zu kommen, im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.61 Weder ist es an einen entsprechenden Beweisantrag einer Partei gebunden, noch müssen die Parteien zustimmen, damit nach § 377 Abs. 3 ZPO verfahren werden darf. Es folgt 57

Vgl. im 3. Teil, 2. Kapitel unter I. 5. b). Dass ein solcher Bezug besteht, klingt verschiedentlich expressis verbis an, s. etwa Huber, in: Musielak, ZPO, § 377 Rdnr. 4, wonach eine Beweisprognose ähnlich wie bei § 375 ZPO zu verlangen ist. Vgl. ferner in dieser Richtung noch Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 64. 58 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 377 Rdnr. 8 mit Rdnr. 10. 59 Vgl. zum Ganzen näher im 2. Teil, 5. Kapitel unter IV. 3. a). 60 s. die Aufzählung bei Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 58. Dass sie neben Richtern, Rechtsanwälten, Verteidigern, Notaren, Beamten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern noch Bankangestellte nennt, dürfte mit der damaligen Fassung des § 377 Abs. 3 ZPO zusammenhängen. Er verlangte nämlich, dass man die schriftliche Beantwortung „anhand seiner Bücher oder anderweitiger Aufzeichnungen“ vornehmen kann, wie es bei Bank­ angestellten wegen der Kontoaufzeichnungen durchaus nahe liegt. 61 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 62; Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 140 sowie aus der Kommentarliteratur etwa Huber, in: Musielak, ZPO, § 377 Rdnr. 4; Damrau, in: MünchKommZPO, § 377 Rdnr. 9; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 377 Rdnr. 8; Thomas/Putzo, ZPO, § 377 Rdnr. 2.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

zum einen aus seinem unmissverständlichen Wortlaut („kann“) und zum anderen aus dem Wegfall des § 377 Abs. 4 ZPO, wonach die Zustimmung der Parteien für die schriftliche Befragung erforderlich war. Die Vorschrift ist mit der gesetzgeberischen Begründung gestrichen worden, dass die Einholung des Einverständnisses der Parteien oft umständlich und zeitraubend war.62 Dies überrascht vor dem Hintergrund der im Zivilverfahren ansonsten herrschenden Partei- und Dispositionsmaxime. Damit kommt nahezu zwangsläufig die Frage auf, ob das Gericht in seinem Ermessen gewissen Schranken unterliegt. Dass es sich nicht um ein völlig freies und ungebundenes Ermessen handeln kann, zeigt bereits die Regelung des § 377 Abs. 3 Satz 3 ZPO. Er spricht (im Imperativ) davon, dass das Gericht die Ladung des Zeugen anordnet, wenn es dies zur weiteren Klärung der Beweisfrage für notwendig erachtet. Unmittelbar behandelt die Norm zwar bloß den Fall, dass eine schriftliche Zeugenaussage bereits vorliegt. Mittelbar wird sie aber für deren erstmalige Anordnung ebenfalls relevant. Wenn von vornherein abzusehen ist, dass eine schriftliche Befragung zur Beweisklärung ungeeignet erscheint und man aus diesem Grund nach § 377 Abs. 3 Satz 3 ZPO verfahren muss, ist darauf in toto zu verzichten. Damit wird deutlich, dass das Ermessen bei § 377 Abs. 3 ZPO pflichtgebunden ist. Das Gericht hat sich bei der Ermessensausübung von bestimmten Grundsätzen leiten zu lassen, wozu insbesondere der Gedanke der Beweis­ unmittelbarkeit zählt.63 Auf diese – zumindest mittelbare – Art und Weise wird dem Gedanken materieller Unmittelbarkeit bei § 377 Abs. 3 ZPO (wieder) zum Tragen verholfen. 2. Amtliche Auskunft (§ 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) Ein anderer Aspekt, der ebenfalls in Berührung mit (materieller) Unmittelbarkeit kommt, ist de lege lata in § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO geregelt, wonach das Gericht im sog. vorbereitenden Verfahren „Behörden oder Träger eines öffentlichen Amtes […] um Erteilung amtlicher Auskünfte ersuchen kann“. Der Konflikt mit der Unmittelbarkeit resultiert daraus, dass sich das Gericht später mit dieser Auskunft begnügen kann, ohne den Behördenmitarbeiter oder sonstigen Trägern eines öffentlichen Amtes nochmals vernehmen zu müssen. Insofern besteht eine gewisse Nähe zu § 256 StPO, wenngleich § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO im Vergleich dazu die deutlich weitergehende Regelung ist. 62 BT-Drs. 11/3621 S. 38. In der Praxis geht damit freilich dennoch nicht zwangsläufig eine Vereinfachung einher. Wenn nämlich die Parteien signalisieren, konkrete Fragen an den Zeugen stellen zu wollen, ist das Gericht zwar nicht de jure, wohl aber de facto daran gehindert, im Wege des § 377 Abs. 3 ZPO zu verfahren, sondern wird vielmehr davon absehen und diesen Zeugen zur Verhandlung laden (Damrau, in: MünchKommZPO, § 377 Rdnr. 9; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 377 Rdnr. 38). 63 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 78 m. w. N. in Fn. 307.

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Im zivilprozessualen Schrifttum herrscht großer Streit über die Bedeutung der amtlichen Auskunft, ob sie etwa ein Beweismittel sui generis ist.64 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert freilich ausschließlich die Begründung dafür, ob und wie sie sich systemimmanent in das Gefüge des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einfügen könnte. Koukouselis verlangt für die Zulässigkeit der Verwertung einer amtlichen Auskunft, dass die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen und erwartet werden kann, dass „die schriftliche Erklärung der Behörde oder des Beamten ausreicht, um die richterliche Überzeugung auch ohne unmittelbaren Eindruck von diesen Personen zu stützen“.65 Das Argument dafür, dass und warum dies regelmäßig der Fall ist, liefert sie kurz darauf selbst. Sie weist zu Recht darauf hin, dass sich Behördenmitarbeiter und Träger eines öffentlichen Amtes zur „gewissenhaften Ausübung“ des Amtes verpflichten.66 Dies bringt eine Vermutung der Glaubwürdigkeit mit sich. Aus diesem Grund kann sich mit der (schriftlichen) Auskunft begnügt werden, ohne dass die Auskunftsperson selbst unmittelbar vernommen werden muss, sodass sich die Regelung – wie das strafprozessuale Pendant – zwanglos in das System des Unmittelbarkeitsprinzips einfügt, und zwar in systemimmanenter Art und Weise. 3. Allgemeine Überlegungen zu materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess Freilich kennt das Strafverfahrensrecht ebenfalls Ausnahmen vom Grundsatz persönlicher Vernehmung, wie er in § 250 StPO angeordnet wird. Insofern spricht die bloße Existenz der §§ 377 Abs. 3 ZPO, 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO noch nicht dafür, dass der Zivilprozess im Übrigen (nicht) vom materiellen Unmittelbarkeits­ gedanken beherrscht wird. Vielmehr müssen diese (Ausnahme-)Vorschriften bei dies­bezüglichen Überlegungen allgemeiner Natur ausgeblendet werden.

64 Vgl. dazu sowie zu weiteren – im vorliegenden Zusammenhang nicht interessierenden – Fragen den Überblick zum Meinungs- und Streitstand bei Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 69 ff. 65 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 74. 66 Ebd., S. 76. In dieselbe Richtung weist es, wenn Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte im Zivilprozeß, S. 49 auf die „besonderen Verpflichtungen“ von Behörden(angestellten) hinweist, die es rechtfertigen, sich mit der schriftlichen Erklärung zu begnügen. Im Übrigen liegt deren Besonderheit darin, „unter öffentlicher Autorität für die Zwecke der Erreichung des Staates tätig zu sein“. Wenn sich zivilgerichtliche Rechtsprechung und Kommentarliteratur auf diese Formulierung zurückziehen (BGHZ 3, 110, 116 f.; 25, 186, 188 f.; BGH NJW 1964, 299; Foerste, in: Musielak, ZPO, § 273 Rdnr. 12), ist daran bemerkenswert, dass es sich dabei um eine von einem Strafgericht aufgestellte Definition handelt (vgl. RGSt 18, 246, 249). Darin zeigt sich, dass ein komparativer Ansatz durchaus Gewinn bringend ist.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

a) Ausgangspunkt der h. M. – Wider die materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess Das Schrifttum vermittelt ein relativ einheitliches Bild in der Frage, ob und in welchem Umfang der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz Einzug in das Zivilverfahrensrecht gehalten hat. Überwiegend leugnet man seine Existenz. Nach ganz herrschender Ansicht soll das Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit im zivilprozessualen Verfahren nicht gelten.67 Weder § 355 ZPO noch sonst eine Vorschrift des Zivilverfahrensrechts kennt ein Verbot indirekter Beweismittel oder ein Gebot der Heranziehung des sachnächsten Beweismittels.68 Insofern soll die Frage, ob Urkunden- oder Zeugenbeweis zu erheben ist, nicht den Unmittelbarkeitsgrundsatz berühren.69 Weil man eben dies gemeinhin aus materieller Unmittelbarkeit de lege ferenda schlussfolgert70, sprechen solche Formulierungen in der Tat auf den ersten Blick dafür, dass sie im Zivilprozess nicht gilt. De lege lata interessieren mehr die dafür gebrachten Argumente. Diesbezüglich heißt es etwa, dass es an einer ausdrücklichen Anerkennung des Prinzips im Gesetzeswortlaut der ZPO fehlt.71 Das Argument vermag aber schon im Ansatz nicht 67 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rdnr. 371; Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5; Schilken, Zivilprozessrecht, Rdnr. 378; Hk-ZPO/Eichele, § 355 Rdnr. 2 mit Rdnr. 4; Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 66 ff.; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 79 ff., 82; Weth, JuS 1991, 34, 35; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 30 ff.; Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 145; VölzmannStickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 367. 68 Greger, in: Zöller, § 355 Rdnr. 1. 69 Thomas/Putzo, ZPO, § 355 Rdnr. 1. 70 Vgl. im 8. Kapitel unter II. 71 Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 67; Kou­ kouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 80; Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 46; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 31. Hiergegen bereits zutreffend Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 140 in Fn. 32. Als Argument gegen die Geltung der materiellen Unmittelbarkeitsmaxime im Zivilverfahren wird ferner vorgetragen, dass Verstöße gegen die formelle Unmittelbarkeit der Heilung gemäß § 295 ZPO unterliegen, vgl. in dieser Richtung etwa Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 81. Wenngleich sich daran nicht (mehr) zweifeln lässt [s. hierzu im 3. Teil, 7. Kapitel unter 5.], besagt es im vorliegenden Zusammenhang aber noch relativ wenig. Einigermaßen überzeugend und stichhaltig wäre das Argument überhaupt bloß unter der Annahme, dass formelle und materielle Unmittelbarkeit in einem untrennbaren Zusammenhang zueinander stehen würden. Man ist sich – jedenfalls im strafprozessualen Schrifttum – über das Verhältnis von formeller und materieller Unmittelbarkeit aber schon im Ausgangspunkt kaum einig. Besonders anschaulich lässt es sich an Ausführungen von Geppert exemplifizieren. Während er im Zusammenhang mit formeller Unmittelbarkeit noch davon spricht, dass sie eine „eigenständige Bedeutung und Wirkkraft“ haben soll (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 147), ist gleich zu Beginn seiner Erörterungen zur materiellen Seite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes davon die Rede, „daß die ‚formelle‘ Seite der Unmittelbarkeit für sich allein Wesen und Wirkungsweise des Unmittelbarkeitsprinzips als eines einheitlichen Beweisgrundsatzes nicht hinreichend erklärt“ (ebd., S.162). Insofern ist jedenfalls Vorsicht geboten und

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zu überzeugen. Ebenso wenig wie im Zivilverfahrensrecht ist es im Strafprozessrecht explizit und unmittelbar im Gesetz selbst loziert.72 Das Fehlen einer das Gebot materieller Unmittelbarkeit ausdrücklich anerkennenden Norm bedeutet von daher nicht zwangsläufig, dass es nicht gilt oder nicht zu beachten wäre. Dafür, dass der Grundsatz materieller Unmittelbarkeit nicht im Zivilverfahren gelten soll, wird des Weiteren § 250 StPO samt seiner Ausnahmen in den anschließenden Vorschriften und der Umstand angeführt, dass es eine solche Vorschrift in der ZPO nicht gibt.73 Der BGH spricht ebenfalls davon, dass „die Zivilprozeß­ ordnung im Gegensatz zu der Regelung des § 250 Satz 2 StPO kein Verbot des Inhalts enthält, daß die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nicht durch Verlesung einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden darf“.74 Diese Passage, die verschiedentlich gegen die Geltung materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren angeführt wird75, lässt diesen Schluss aber keinesfalls zwingend zu. Wenn man das Urteil weiter liest, heißt es nämlich kurz darauf: „Eine Urkunde aber, in der das Ergebnis eines Augenscheins oder die Bekundung eines Zeugen oder Sachverständigen niedergelegt ist, hat in keinem Fall eine höhere, sondern im allgemeinen eine geringere Beweiskraft als der unmittelbare Augenschein und die Zeugen- oder Sachverständigenvernehmung selbst.“ Eben dies verbindet man aber in der Sache mit dem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz76, sodass er vom BGH in Zivilsachen nicht gänzlich in Abrede gestellt wird. Auf den ersten Blick interessanter erscheint dagegen das arg. e contrario zu § 250 StPO. Bei näherer Betrachtung lassen sich daraus indes keine zwingenden (methodischen) Rückschlüsse ziehen. Zunächst ist mit Geppert zu entgegnen, dass jener zentrale § 250 StPO allenfalls einen Teilbereich materieller Unmittelbarkeit regelt, aber nicht schlechthin Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips ist.77 Deshalb verInterdependenzen der eingangs geschilderten Art und Weise keinesfalls zwingend. Im Übrigen gilt es – jedenfalls aus der Binnensicht des Zivilverfahrensrechts – noch Folgendes zu bedenken. Die Argumentation, dass aus der fehlenden Möglichkeit der Heilung von Verstößen gegen die formelle Unmittelbarkeit zu schlussfolgern sei, dass materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht herrschen soll, ist extrem zirkulär. Für den Ausschluss der Heilung verweist man nämlich zugleich darauf, dass sie u. a. daraus folgen soll, dass materielle Unmittelbarkeit im Zivilverfahren nicht zur Anwendung kommen soll, vgl. in diesem Sinne etwa Berger, in: Stein/ Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 31. Zirkulärer können Argumentationen wohl kaum sein, sodass das Argument nicht überzeugen kann und von daher zu vernachlässigen ist. 72 s. hierzu sogleich unter IV. 73 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 31; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 79; Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 49. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 145 sowie Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 367. 74 BGHZ 1, 218, 220. Vgl. im selben Sinne noch BGHZ 80, 389, 395: „Für den Zivilprozeß besteht kein dem § 250 StPO entsprechendes Verbot, eine Zeugenvernehmung durch einen Urkundenbeweis zu ersetzen.“ 75 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 31 in Fn. 129. 76 s. im 8. Kapitel unter II. 77 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

bieten sich Schlussfolgerungen aus dem Fehlen einer Parallelregelung in der ZPO von vornherein. Im Übrigen stellt sich die Frage, wie man § 377 Abs. 3 ZPO, der im krassen Gegensatz zu § 250 Satz 2 StPO steht, in dieser Hinsicht methodisch interpretieren will. Man könnte sich zum einen auf den Standpunkt stellen, dass die Vorschrift lediglich deklaratorischer Natur ist, weil materielle Unmittelbarkeit bereits aus anderen Erwägungen heraus nicht gilt. Ebenso könnte man – genau umgekehrt – argumentieren, dass es geradezu zwingend dieser Vorschrift bedarf, weil sonst eben jenes Prinzip gelten würde. Einmal mehr zeigt sich, dass spezielle gesetzliche (Ausnahme-)Vorschriften allenfalls bedingte Rückschlüsse für all­ gemeine Prozessrechtsgrundsätze zulassen. b) Befürworter materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess Von daher vermögen Stimmen, wonach materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess durchaus gelten soll, nicht verwundern, wenngleich sie eher vereinzelt geblieben sind. Nach Pantle, sonst eher Gegner von materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren, hat der Gedanke der materiellen Beweisunmittelbarkeit bloß „punktuelle Ansätze“ im Gesetz gefunden.78 Einen Schritt weiter geht Rohwer. Sie meint, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht bloß in seiner formellen Ausprägung, sondern ebenso in seinem materiellen Kern in allen Verfahrensordnungen Beachtung erheischen soll.79 Damit ist sie lange Zeit vereinzelt geblieben. Inzwischen hat sie allerdings mit Bachmann einen Anhänger gefunden.80 Anderenorts hat man später noch ausgeführt, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Inhalt hat, „dass mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme […] (mate­ riell) nach Möglichkeit unter Heranziehung des nächststehenden Beweismittels er­ folgen sollen“81, ohne darüber zu reflektieren, dass die h. M. in diesem Punkt anderer Auffassung ist. Der Reformgesetzgeber scheint ebenfalls davon auszugehen, dass materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess zum Tragen kommt. Es klingt mehr oder minder unmittelbar im Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (Justiz­ modernisierungsgesetz – JuMoG) an. Durch den diesbezüglichen Regierungsentwurf sollte ein (neuer) § 374 ZPO über die „Verwertung von richterlichen Vernehmungsniederschriften“ geschaffen werden, und zwar mit folgendem Wortlaut82: „Die Vernehmung eines Zeugen kann durch die Verwertung der Niederschrift über seine richterliche Vernehmung in einem anderen Verfahren ersetzt werden, wenn dies zur Ver-

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Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozess, S. 25 ff., 49. Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 53 ff., 63 ff. mit S. 114. 80 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 140 ff., 159. 81 Saenger, ZZP 121 (2008), 139, 153. 82 Vgl. BT-Drs. 15/1508, S. 5. 79

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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einfachung der Verhandlung vor dem Prozessgericht zweckmäßig erscheint und wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittel­ baren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag.“

Schon die bloße Absicht für sich, eine entsprechende Vorschrift zu installieren, gibt zu erkennen, dass der Reformgesetzgeber davon ausging, dass das Zivilverfahren von materieller Unmittelbarkeit beherrscht wird. Anderenfalls, sprich wenn der Grundsatz ohnehin nicht gelten würde, könnte auf eine solche Norm nämlich von vornherein verzichtet werden. Dass sie im Zusammenhang mit dem materiellen Unmittelbarkeitsprinzip zu sehen ist, folgt im Übrigen noch aus der Begründung zum Justizmodernisierungsgesetz. Der Reformgesetzgeber ging davon aus, dass es sich dabei um eine Durchbrechung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit handelt, wie er de lege lata in § 355 ZPO niedergelegt ist.83 Darin sieht man in der zivilprozessualen Rechtsprechung und Kommentarliteratur allerdings den Grundsatz formeller Unmittelbarkeit loziert.84 Er wäre aber schlechterdings durch die (beabsichtigte) Regelung nicht tangiert worden, weil es schließlich das Prozessgericht selbst gewesen wäre, vor dem es zu einer Verwertung von richterlichen Vernehmungsniederschriften gekommen wäre. Vielmehr macht die Vorschrift, ohne dass es der Gesetzgeber unmittelbar ausspricht und ohne dass er sich – möglicherweise – dessen überhaupt bewusst war, lediglich für den Fall einen (gesetzgebe­ rischen) Sinn, dass man von materieller Unmittelbarkeit im Rahmen der zivilprozessualen Beweisaufnahme ausgeht. Interessant ist noch die Begründung, wie der Gesetzgeber trotz der Vorschrift den (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatz gewahrt wissen wollte.85 Danach „kommt eine Verwertung der Vorschrift nur in Betracht, wenn der Richter sich in der Lage sieht, das Beweisergebnis auch ohne einen unmittelbaren Eindruck von dem Zeugen sachgerecht zu würdigen. Dies wird in der Regel nur dann möglich sein, wenn die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen außer Frage steht und seine Aussage so klar und widerspruchsfrei ist, dass sich der Richter zu Nachfragen nicht veranlasst sieht.“ Während der Bundesrat an der Vorschrift, wenngleich mit Modifikationen, noch festhalten wollte86, fiel sie einer Intervention des Rechtsausschusses zum Opfer, der eine Regelung zur „Verwertung von richterlichen Vernehmungsniederschriften aus anderen Verfahren – über die der­zeitige Rechtslage hinaus – nicht für angezeigt“ hielt.87 Ungeachtet dieses Schicksals wird man nicht umhinkommen (können), der gesetzgeberischen Initiative bloß für den Fall eine wirkliche Berechtigung zusprechen zu können, dass man von der Geltung des Grundsatzes materieller Unmittelbarkeit innerhalb des Zivilprozesses ausgeht.

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BT-Drs. 15/1508, S. 19. s. hierzu im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 1. 85 Vgl. zum Folgenden BT-Drs. 15/1508, S. 19. 86 BT-Drs. 15/1508, S. 42. 87 BT-Drs. 15/3482, S. 17. 84

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

aa) § 377 Abs. 3 ZPO als Ausnahmeregelung Damit hat man sich mit den Argumenten jener Auffassung auseinanderzusetzen, die davon ausgeht, dass der Zivilprozess durchaus unter dem Regime materieller Unmittelbarkeit stehen soll. In dieser Hinsicht wird zunächst § 377 Abs. 3 ZPO angeführt, der zeigen soll, dass die Zulassung mittelbarer Beweismittel im Zivil- wie im Strafverfahrensrecht die Ausnahme bilden soll.88 Die h. M. begegnet dem Einwand relativ schlicht damit, dass es sich bei dieser Vorschrift um eine Ausnahme vom Prinzip der formellen Unmittelbarkeit handeln soll.89 Danach soll die schriftliche Zeugenaussage nach § 377 Abs. 3 ZPO nicht mit dem Unmittelbarkeits­gebot aus § 355 Abs. 1 ZPO kollidieren, solange das Prozessgericht die schriftliche Aussage selbst zur Kenntnis nimmt.90 Hiergegen sprechen aber mehrere Gründe. Während im zivilprozessualen Schrifttum, um zu einem ersten Beleg in dieser Hinsicht zu kommen, § 375 ZPO als Ausnahme vom Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit angesehen wird91, sieht man in § 251 StPO das Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit klar zum Ausdruck gebracht92. Dies vermag bei näherer Betrachtung nicht (zwangsläufig) zu überzeugen. § 251 StPO lässt u. a. die Verlesung des Protokolls über eine kommissarische Zeugenvernehmung zu, allerdings bloß als Ausnahme. Um eine solche geht es aber ebenfalls bei § 375 ZPO, sodass sich

88 Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 53 ff.: „Die besonderen und engen Voraussetzungen, von denen die Zivilprozeßordnung die Zulassung mittelbarer Beweismittel abhängig erklärt, und der sich daraus ergebende Ausnahmecharakter dieser Vorschrif­ t[en] zeigen deutlich, daß auch diese Verfahrensordnung nicht generell und ohne weiteres die Ersetzung des direkten Beweises durch den indirekten gestattet sehen will. […] Das Gesetz knüpft die ersatzweise Beweisführung mit Hilfe mittelbarer Beweismittel vielmehr an erhöhte Sicherheitsmaßnahmen. Es offenbart somit im Gegenteil, daß auch diese Prozeß­ ordnung der indirekten Beweisführung mit Skepsis und Mißtrauen gegenübersteht. Sie erachtet eine solche indirekte Beweisführung eben nur in den Fällen für zulässig, in denen für die Qualität und den Wert des Beweisergebnisses keine Gefahr besteht. Zwar kann aus dieser Tat­sache allein noch nicht gefolgert werden, der Zivilprozeßordnung liege ebenso wie der Strafprozeßordnung ein Prinzip der materiellen Beweisunmittelbarkeit zugrunde. Hingegen stellt es keinen voreiligen Schluß dar, zu behaupten, sie könne bereits als Indiz für die An­ erkennung dieses Prinzips gewertet werden.“ (Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 54 f.). 89 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 33; Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S. 27 in Fn. 8 (Hervorhebung jeweils nicht im Original). 90 Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5. Dazu ist zu entgegnen: Wer sonst als das (Prozess-)„Gericht“ im Sinne der Vorschrift soll die schriftliche Beantwortung der Beweisfrage anordnen und zur Kenntnis nehmen. 91 Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 59; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 28; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 13 ff.; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 10 mit Rdnr. 5. Selbst wenn man annimmt, dass die Beweisführung im Zivilverfahren ebenfalls vom Grundsatz materieller Unmittelbarkeit beherrscht wird (­Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 63 ff.), sieht man in § 375 ZPO bloß eine Ausnahme vom Prinzip formeller Unmittelbarkeit (ebd., S. 39). 92 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 31.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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die Vorschrift – ebenso wie § 251 StPO – durchaus als Verkörperung eines mate­ riellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes verstehen lässt. Dies sieht sich bei näherer Betrachtung bestätigt. Es mutet einigermaßen merkwürdig an, dass man § 375 ZPO einerseits und § 251 StPO andererseits im vor­ genannten Sinne verschieden einordnet, zugleich aber bemerkt, dass § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO der Vorschrift des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO entspricht93. Der Gesetzgeber sieht es ebenso. Schließlich sollte nach seiner Begründung die Norm des § 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO „unter Anlehnung an den § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO enger gefasst werden“.94 Wenn man aber diese Nähe betont, geht es nicht an, beide Regelungen unter sachlichen Gesichtspunkten verschieden einordnen zu wollen. Dass man § 375 ZPO an früherer Stelle als Ausnahme vom Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit dargestellt hat95, ist dabei unschädlich. Es sollte(n) lediglich – die mahnenden Worte von Geppert beherzigend96 – nicht Anlass für weitere begriff­liche Verwirrung geboten, sondern vielmehr erst die sachlichen Fragen angegangen werden. Genau darum geht es im vorliegenden Zusammenhang, wohingegen terminologische Fragen in den Hintergrund zu treten haben. Es kann nicht eine Frage der (Um-)Etikettierung und Rubrifizierung sein, ob es um formelle oder materielle Unmittelbarkeit geht. Dies hat sich vielmehr an sachlichen Gesichtspunkten zu orientieren. Wenn man in dieser Weise verfährt, wird unmittelbar einsichtig, dass § 377 Abs. 3 ZPO nicht mit formeller Unmittelbarkeit kollidiert, wohl aber eine Aussage zur materiellen Unmittelbarkeit trifft. In gewisser Weise legen dies sogar schon Äußerungen von Gegnern der mate­ riellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess nahe, wofür im Folgenden eine Passage von Koch im Zusammenhang wiedergegeben werden soll97: Einen weiteren „Teilaspekt bildet die materielle Unmittelbarkeit, die die Frage betrifft, ob nur jene Beweismittel zulässig sind, die ihrem Inhalt nach die Erkenntnis der erheblichen Tatsache am originärsten, d. h. ohne Benutzung von Beweissurogaten ermöglichen. Als Beispiel stelle man sich vor, zur Beantwortung einer Beweisfrage soll ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Unter strenger Berücksichtigung der materiellen Unmittelbarkeit würde eine 93 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 19; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 175 mit S. 214. Inzwischen handelt es sich wegen der Änderung durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz um § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO. 94 BT-Drs. 11/3621, S. 38. Inzwischen handelt es sich wegen der Änderung durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz um § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO. 95 Vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 4. a). 96 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 111. 97 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 30. Insofern scheint er davon auszugehen, dass es sich bei § 411 ZPO um Urkundsbeweis handeln soll, obwohl die Vorschrift nicht im diesbezüglichen Titel (§§ 415 ff. ZPO) geregelt ist, sondern vom Gesetzgeber vielmehr als „Beweis durch Sachverständige“ angesehen wird. Wie es darum steht, soll nicht weiter interessieren. Interessant ist lediglich, dass Koch dem schriftlichen Sachverständigengutachten insofern Surrogatfunktion zuzusprechen scheint, wohingegen er Gleiches bei der schriftlichen Beantwortung der Beweisfrage durch einen Zeugen kurz darauf vehement in Abrede stellt, vgl. Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 33. Frei von Widersprüchen ist dies nicht.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

schriftliche Beantwortung, wie sie in § 414 ZPO [nunmehr: § 411 ZPO] vorgesehen ist, nicht ausreichen. Die Beweisaufnahme müßte vielmehr durch Befragung des Sachverständigen zu den einzelnen Beweisfragen erfolgen, da das schriftliche Gutachten nicht das originäre Beweismittel darstellt, sondern nur ein Beweissurrogat.“

Koch greift das Beispiel und dabei die Frage, ob die gesetzliche Vorschrift mit diesem sachlichen Prinzip kollidiert, im weiteren Verlauf nicht mehr auf, sondern konzentriert sich vielmehr auf § 377 Abs. 3 ZPO. Dabei überzeugt es nicht, dass er diese Vorschrift als Ausnahme vom Prinzip der formellen Unmittelbarkeit charakterisiert und rubrifiziert98. Worin der Unterschied zu § 411 ZPO bestehen soll, wird nicht recht einsichtig. Entweder kommen beide Vorschriften als Ausnahme von formeller Unmittelbarkeit daher oder in Berührung mit materieller Unmittelbarkeit oder aber sein Beispiel mit § 411 ZPO ist schlichtweg neben der Sache. In jedem Falle sind seine diesbezüglichen Ausführungen nicht frei von Widersprüchen. Schon Bachmann hat – im Zusammenhang mit der Videovernehmung – darauf aufmerksam gemacht, dass ein und derselbe Aspekt nach Auffassung mancher Autoren mit der formellen Unmittelbarkeit in Berührung kommen soll, während anderenorts die materielle Unmittelbarkeit als tangiert angesehen wird, sodass es oftmals bloß eine Frage der (subjektiven) Sichtweise ist, ob man eine Verletzung des formellen oder des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes als ge­geben ansieht.99 Mit solchen mehr semantischen Einwänden kann es aber nicht sein Bewenden haben. Vielmehr soll nunmehr untersucht werden, wie sich § 377 Abs. 3 ZPO zum Unmittelbarkeitsgrundsatz verhält und damit verträgt. Die Norm berührt durchaus materielle Unmittelbarkeit. De lege lata wird materieller Unmittelbarkeit im Gesetzeswortlaut des § 377 Abs. 3 ZPO nämlich Rechnung getragen. Dies erfolgt zum einen dadurch, dass bei der „Person des Zeugen“ maßgeblich auf Aspekte der Glaubwürdigkeit abgestellt wird100, um deren Beurteilung es bei materieller Unmittelbarkeit gerade geht101. Im Übrigen wird sie noch dadurch gewahrt, dass § 377 Abs. 3 Satz 3 ZPO die unmittelbar-mündliche Zeugenvernehmung durch das Gericht vorschreibt, „wenn es dies zur weiteren Klärung der Beweisfrage für not­ wendig erachtet“. In dieser Hinsicht gibt es im Zivilprozess auf der Ebene de lege lata durchaus Ansätze eines materiell verstandenen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. bb) Inkonsequenzen der h. M. Mit der Betrachtung singulärer Vorschriften kann es, wie schon wiederholt betont, aber nicht sein Bewenden haben. Ein schlagkräftiges Argument pro oder contra 98 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 33. Vgl. im Übrigen noch soeben bei und in Anm. 95 (S. 211). 99 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 139 ff., 141. 100 Vgl. unter 1. b). 101 s. im 8. Kapitel.

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materielle Unmittelbarkeit im Zivilverfahren bilden Einzelvorschriften jedenfalls nicht.102 In der Sache wird der Grundsatz aber selbst von der h. M. in gewisser Weise akzeptiert, obwohl er verbal vehement in Abrede gestellt wird. Es handelt sich um die Konstellation, dass eine Partei beantragt, einen zum selben Lebenssachverhalt bereits in einem anderen (Straf-)Prozess vernommenen Zeugen nochmals zur unmittelbar-mündlichen Vernehmung zu laden. Nachdem ein gesetzgeberischer Vorstoß, hierfür eine ausdrückliche Regelung zu schaffen, wie soeben näher ausgeführt, am Votum des Rechtsausschusses scheiterte, der es bei der derzeitigen Rechtslage belassen wollte, stellt sich die Frage, wie sich diese darstellt, ob etwa der Antrag abgelehnt und stattdessen das Protokoll über die frühere Vernehmung in den Zivilprozess eingeführt werden darf. Es ist – unter Befürwortern103, wie Gegnern eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes104 – unstreitig, dass ein solches Vorgehen nicht opportun ist. In dieser Hinsicht heißt es, dass die mögliche Verwertung eines mittelbaren Beweismittels niemals der beantragten Heranziehung des unmittelbaren Beweises entgegensteht.105 Insbesondere darf die beantragte Vernehmung eines Zeugen nicht im Hinblick auf vorliegende Protokolle aus einem anderen Prozess abgelehnt werden.106 Interessant ist die dafür gegebene Begründung. Manchmal begnügt man sich schlicht damit, dass es „wegen des Prozessrechtsgrundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 I ZPO) unzulässig“ sein soll107, einen entsprechenden Beweisantrag abzulehnen und sich mit der Verwertung einer richterlichen Vernehmungsniederschrift aus einem anderen Verfahren zu begnügen. Mit dem Verweis auf § 355 Abs. 1 ZPO scheint man davon auszugehen, dass sonst formelle Unmittelbarkeit verletzt wäre. Schließlich soll in dieser Vorschrift eben jener (Teil-)Aspekt des Unmittelbarkeitsprinzips de lege lata loziert sein.108 Mitnichten wäre aber formelle Unmittelbarkeit berührt, wenn man in der geschilderten Weise vorgeht. Nochmals: Ob das erkennende Gericht die Zeugen selbst hört oder stattdessen Protokolle über deren frühere Vernehmung als Urteilsgrundlage heranzieht, beeinträchtigt nicht die formelle Seite des Unmittelbarkeitsprinzips.109 Im Übrigen ist es bloß eine Behauptung, dass der Prozessrechtsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verletzt sein soll, ohne dass es näher begründet wird. 102

Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 142 in Fn. 32. Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 74 ff. 104 Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 102. 105 Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28. 106 BGHZ 7, 116, 121 f.; BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215; NJW 1997, 3096; NJW 2000, 3072, 3073. 107 BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215. 108 s. hierzu im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 1. 109 Vgl. dazu bereits im 3. Teil, 6. Kapitel. Im vorliegenden Zusammenhang ebenso schon Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 39: „In Wahrheit ist jedoch der Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit nicht tangiert, weil die Verwertung der Strafakten im Wege des (unmittel­baren) Urkundenbeweises erfolgt.“ 103

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage findet dagegen in der insofern grundlegenden Entscheidung BGHZ 7, 116 statt. Deren entscheidende Passage lautet wie folgt110: „Eine Verletzung des § 286 ZPO sieht die Revision ferner mit Recht darin, dass die Kindesmutter im vorliegenden Verfahren entgegen dem Antrag des Klägers nicht vernommen worden ist. Sie war lediglich zu Beginn des Ehescheidungsverfahrens vernommen worden. Zwar konnte die Niederschrift über diese Vernehmung im vorliegenden Verfahren als Beweisurkunde verwertet werden, insbesondere, wenn eine der Parteien sich darauf unter Vortrag ihres Inhalts berief. Damit wurde aber der Antrag des Klägers, die Zeugin im gegenwärtigen Verfahren zu vernehmen, nicht gegenstandslos. Das Anerbieten dieses Zeugenbeweises durfte nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass bereits die Niederschrift über ihre frühere Vernehmung vorliege. Der Beweiswert einer solchen Urkunde ist in aller Regel von dem des Zeugenbeweises durchaus verschieden. Der persönliche Eindruck des Zeugen, die Anwesenheit der Parteien, das ihnen eingeräumte Fragerecht sowie die Möglichkeit und Zulässigkeit der Gegenüberstellung von Zeugen bieten eine Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit, die dem Vortrage in der Niederschrift wiedergegebener Zeugenaussagen, also dem Urkundenbeweise […] mangelt.“

Eben dies verbindet man im Strafprozess mit dem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz, wie er etwa im Gefüge der §§ 250 ff. StPO de lege lata seine Ausprägung findet111, wonach die Verlesung von Niederschriften früherer Vernehmungen die Ausnahme bildet, sodass nahezu zwangsläufig die Frage aufkommt, wie der vorstehende Befund von der insofern h. M. im Zivilverfahren begründet wird, wenn nicht mit dem – allerdings in Abrede gestellten – Prinzip materieller Unmittelbarkeit. Im Schrifttum ist in der Tat davon die Rede, dass die Durchführung der beantragten Zeugenvernehmung anstelle der Verlesung von Protokollen früherer Vernehmungen offensichtlich deshalb erforderlich ist, damit das Gericht unter dem unmittelbaren, frischen Eindruck der erneuten Aussage deren Für und Wider abwägen könne.112 Nach Auffassung der h. M. soll der dafür maßgebliche Gesichtspunkt freilich nicht die – auf materielle Unmittelbarkeit hinauslaufende – Er­ wägung sein, dass die Vernehmung des Zeugen als unmittelbare Beweiserhebung Vorrang vor dem Urkundenbeweis beanspruchen könne. Sie sei indes nicht entscheidend, sondern vielmehr die Wahrheitserforschungspflicht, wonach es dem Gericht obliegt, geeignete Beweise zur Aufklärung des streitigen Sachverhalts zu erheben.113 Insoweit weist der BGH darauf hin, dass der persönliche Eindruck des Aussagenden sowie die Möglichkeit, zusätzliche Fragen zu stellen und Vor 110

BGHZ 7, 116, 121 f. (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. zu Sinn und Zweck des § 250 StPO in Gestalt der besseren Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen im Verhältnis zu Vernehmungsprotokollen im 2. Teil, 4. Kapitel. 112 Bosch, Grundsatzfragen des Beweisrechts, S. 114. 113 Musielak, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 9 (Hervorhebung nicht im Original). Eine andere Frage ist, ob der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz nichts anderes als Ausdruck dieser Pflicht ist, wie es Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 142 in Fn. 40 annimmt. 111

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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halte zu machen, durch die Auswertung eines Protokolls nicht ersetzt werden können.114 Eben dies verbindet man aber gemeinhin mit dem Gedanken materieller Un­mittelbarkeit. In anderer Hinsicht tritt der Widerspruch innerhalb der h. M. sogar noch offener zutage. Es geht um die Frage, ob eine vom Zeugen unmittelbar selbst – und damit nicht von einem Gericht im Rahmen eines anderen Prozesses – errichtete Niederschrift im Zivilprozess eingeführt und verwertet werden kann, wie es für den Strafprozess aufgrund von § 250 Satz 2 StPO („schriftliche Erklärung“) ausgeschlossen ist. In Judikatur und Schrifttum zum Zivilverfahrensrecht kommt man aber selbst ohne ein entsprechendes Pendant zum selben Ergebnis. Diesbezüglich heißt es in der Entscheidung BGHZ 1, 218, 220, die verschiedentlich gegen die Geltung materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren angeführt wird115, wie folgt: „Eine Urkunde aber, in der das Ergebnis eines Augenscheins oder die Bekundung eines Zeugen oder Sachverständigen niedergelegt ist, hat in keinem Fall eine höhere, sondern im allgemeinen eine geringere Beweiskraft als der unmittelbare Augenschein und die Zeugen- oder Sachverständigenvernehmung selbst.“ Das Reichsgericht hat es damit begründet, „daß, solange das für die richterliche Überzeugung bessere Beweismittel einer gerichtlichen Vernehmung zugänglich sei, einer von der Civilprozeßordnung an sich für die Beweisermittlung nicht zugelassenen außergerichtlichen Feststellungen von Zeugenaussagen selbständige Beweiskraft nicht zukommen könne“.116 Diese Ansicht hat sich der BGH in der Folgezeit im Ergebnis zu eigen gemacht117, während sie im Schrifttum kontrovers diskutiert wird118. Dabei ist Pantle als erklärter Gegner materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess insofern konsequent, als dass er dem Reichs­gericht die Gefolgschaft versagt und vorwirft, dass es eine nicht zu verkennende Anleihe beim Gedanken der materiellen Beweisunmittelbarkeit macht. Einigermaßen unverständlich ist es dagegen, wenn Koukouselis als Gegnerin materieller Unmittelbarkeit auf dem Gebiet der Zivilrechtspflege der Rechtsprechung zustimmt.119 Mehr noch überrascht es aber, wenn sich Rohwer als erklärte Befürworterin von materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren auf die Seite von Pantle schlägt und sich damit gegen die Rechtsprechung stellt.120 Vom eigenen Standpunkt aus würde man von Rohwer an sich das genaue Gegenteil erwarten. 114

BGHZ 7, 116, 122 (Hervorhebung nicht im Original). Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 31 in Fn. 129. 116 RGZ 49, 374, 375. 117 BGH MDR 1970, 135. 118 Vgl. die Nachw. bei Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 45 in Fn. 49. 119 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 85 ff., 88. 120 Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 75 ff., 77. Sie begründet es damit, dass sich ein prozessuales Problem mit dem materiellen Unmittelbarkeitsprinzip in dieser Frage erst stellt, „wenn ein Verfahrensbeteiligter trotz Vorliegens der Urkunde die Anhörung des Zeugen oder Sachverständigen verlangt“. Dazu ist zunächst zu entgegnen, dass die einverständliche Verlesung im Strafprozess ebenfalls möglich ist (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 115

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Es kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben, welcher Auffassung der Vorzug in diesem speziellen Streit gebührt. Entscheidend ist, dass die h. M. zwar verbal einen materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz in Abrede stellt, gleichwohl aber zu einem Ergebnis kommt, das sich gerade mit diesem Prinzip erklären lässt. Man scheint nicht zu bemerken, dass sich ein solches Ergebnis – zumal beim Fehlen einer Parallelregelung zu § 250 StPO – widerspruchsfrei mit einem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz deuten lässt, während es einen krassen Widerspruch offenbart, dieses Prinzip zu leugnen, gleichwohl aber eine Verwertung solcher (Zeugen-) Erklärungen nicht zuzulassen. Vollends grotesk und absurd wird es, wenn man dies mit der – offenbar als abschließend angesehenen – gesetzlichen Regelung des § 377 Abs. 3 ZPO begründet, die einer „Erweiterung dieser Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz“ entgegensteht.121 Wenn es aber einen entsprechenden Grundsatz materieller Natur nicht gibt, brauchen „Ausnahmen“ davon überhaupt nicht gesetzlich normiert sein. Vielmehr lässt die Behandlung dieser Konstellation durch die h. M. den genau gegenteiligen Schluss zu. Selbst ohne eine Regelung wie § 250 StPO, dessen Fehlen im Zivilprozessrecht verschiedentlich als Argument wider die materielle Unmittelbarkeit im Zivilverfahren angeführt wird122, kommt der – verbal in Abrede gestellte – Grundsatz nämlich insofern zum Tragen. Noch in anderer Hinsicht hat die h. M. gewisse Vorbehalte gegen eine mittelbare Beweisführung. Dass der Beweiswert mittelbarer Beweismittel geringer sein kann, ist etwa bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.123 Es sei dem Gericht zwar nicht aus § 286 ZPO verwehrt, indirekte Beweismittel als Erkenntnisquelle anzusehen, wohl aber muss es die spezifischen Fehlerquellen solcher Beweis­mittel bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen.124 Die Sachnähe eines Beweismittels (etwa Zeuge vom Hörensagen) findet erst in der Beweiswürdigung einen Niederschlag.125 Angesichts solcher Aussagen lässt sich die etwas apodiktisch anmutende Behauptung der h. M., dass der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivil­ verfahren nicht zum Tragen kommen soll, jedenfalls nicht in dieser Pauschalität und Rigidität aufrechterhalten. Von daher muss sich die h. M. den Vorwurf gefallen lassen, nicht gänzlich frei von Widersprüchen zu sein. Allerdings könnte es sich jedoch um eng umgrenzte Ausnahmen und Sonderfälle oder, um mit Pantle zu sprechen126, bloß um „punktuNr. 3 StPO). Im Übrigen begründet das Reichsgericht sein Ergebnis maßgeblich mit der „richterlichen Überzeugung“ und damit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung, worin Rohwer materielle Unmittelbarkeit verankert wissen will. 121 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 88. 122 Vgl. bei und in Anm. 73 (S. 207). 123 BGH NJW 1995, 2856, 2857; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28; AK-ZPO/ Rüßmann, § 355 Rdnr. 6; Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 146. 124 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 32. 125 Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5. 126 Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 49.

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elle Ansätze“ handeln. Im Umkehrschluss dazu könnte materielle Unmittel­barkeit aber jedenfalls im Übrigen aus übergeordneten Gründen im Zivilverfahren auszuscheiden haben. Dies zwingt dazu, die Ebene der gesetzlichen (Detail-)Regelungen zu verlassen und sich tragenden Prozessprinzipien des Zivilverfahrens und dabei der Frage anzunehmen, ob sie eine Aussage pro oder contra Geltung mate­ rieller Unmittelbarkeit zulassen. c) Materielle Unmittelbarkeit zwischen Parteimaxime und freier Beweiswürdigung Dabei ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung soeben schon ansatzweise zur Sprache gekommen. Er klingt bereits in § 375 ZPO, eine gemeinhin als Ausnahme von formeller Unmittelbarkeit angesehene Vorschrift127, insofern an, als dass das Prozessgericht eine Beweisaufnahme bloß für den Fall delegieren darf, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass [es] das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Ein anderes tragendes Verfahrensprinzip des Zivilverfahrens ist die Parteimaxime, sodass es nahe liegt, dass diese beiden Verfahrensgrundsätze möglicherweise Aussagen zu Ob und Wie des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Zivilverfahren treffen (können). aa) Verhandlungsmaxime als Argument contra materielle Unmittelbarkeit Dabei soll mit der Partei-, Dispositions- und Verhandlungsmaxime begonnen werden, und zwar nicht von ungefähr. Das zivilgerichtliche Verfahren wird – anders als der Strafprozess – nicht vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht. Von daher verwundert es nicht, dass man dafür, dass materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht gelten soll, des Öfteren die Partei- und Dispositionsmaxime anführt.128 Wenn man mit Walter davon ausgeht, dass eine Amtsaufklärungspflicht gleichermaßen im Straf- und im Zivilprozess besteht129, würde sich jede weitere diesbezügliche Untersuchung von vornherein erübrigen. Am Ausgangspunkt, dass 127

Vgl. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel unter 4. a). Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 33; Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 81; Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 27; Weth, JuS 1991, 34, 35 sowie aus der Kommentarliteratur etwa Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28; AK-ZPO/Rüßmann, § 355 Rdnr. 6; Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5; dies., ZZP 110 (1997), 137, 145. Es sei an dieser Stelle bloß darauf aufmerksam gemacht, dass der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz selbst in amtswegigen Zivilverfahren geleugnet wird (Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28). Aus den sogleich oben im Text näher ausgeführten Gründen braucht darauf aber nicht weiter eingegangen zu werden. 129 Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 293. 128

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Zivilverfahren unter dem Regime der Parteimaxime stehen130, soll jedoch nicht gerüttelt werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die daraus gezogene Kon­ sequenz von der Leugnung materieller Unmittelbarkeit zwangsläufig zu überzeugen vermag. Dabei fällt zunächst ein gewisser (Selbst-)Widerspruch auf. Es ist durchaus verdienstvoll, dass etwa Koukouselis, die mit eben jenem Argument von der Disposi­ tionsmaxime materielle Unmittelbarkeit im Zivilverfahren in Abrede stellt131, einen prozessordnungs- und verfahrensübergreifenden Deutungsversuch durch einen Vergleich mit anderen Prozessordnungen unternimmt und dabei den Strafprozess und das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit herausgreift132. Dabei kommt sie zu der Erkenntnis, dass die Wahrung der Unmittelbarkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit bloß ausnahmsweise in Betracht kommt133, obwohl dieser Gerichtszweig – wie sie zutreffend herausarbeitet134 – vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht ist. Insofern hätten sich Zweifel an der eigenen Aussage, dass der Umfang des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vom Gegensatz zwischen Partei- und Offizialmaxime abhängen soll, aufdrängen können. Sie sehen sich genährt, wenn man die Ebene eines prozessordnungsüber­ greifenden Ansatzes (wieder) verlässt und sich zunächst ausschließlich dem Zivilverfahrensrecht selbst zuwendet. Es stellt sich insofern die Frage, ob die Beweisaufnahme im Zivilprozess wirklich in das (volle) Belieben der Parteien gestellt ist, wie man es gemeinhin mit der Partei- und Dispositionsmaxime verbindet. Dies gilt uneingeschränkt für den Beweisantritt. Er obliegt gemäß § 282 ZPO den Parteien. Insofern kann es dazu kommen, dass Kläger oder Beklagter bloß mittelbaren Beweis in Form eines Beweissurrogats anbieten. Freilich stellt sich die Frage, ob dies ein materielles Unmittelbarkeitsgebot zwingend in Abrede stellt. Wenn man des unmittelbaren Beweismittels nicht mehr habhaft wird, kann man selbst bei Geltung eines solchen Prinzips auf abgeleitete mittelbare Beweise zurückgreifen. Daneben ist es aber denkbar, dass eine Partei – in Kenntnis der anderen Verfahrenssubjekte135 – ein bloß mittelbares Beweismit 130

Vgl. dazu bloß Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Grdz vor § 128 Rdnr. 18 ff.; Musielak, in: ders., ZPO, Einl. Rdnr. 35; Rauscher, in: MünchKommZPO, Einl. Rdnr. 273 ff.; Thomas/Putzo, ZPO, Einl. Rdnr. 1 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, Vor § 128 Rdnr. 138 ff.; Greger, in: Zöller, Vor § 128 Rdnr. 9 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 76 Rdnr. 1 ff. mit § 77 Rdnr. 1 ff.; Schilken, Zivilprozessrecht, § 8 Rdnr. 339 ff.; Zeiss/Schreiber, Zivilprozessrecht, § 27 Rdnr. 174 ff.; Lüke, Zivilprozessrecht, § 2 Rdnr. 6 ff.; Grunsky, Zivil­ prozessrecht, Rdnr. 36 – jeweils m. w. N. RGZ 151, 93, 98 spricht vom Verhandlungsgrundsatz als „dem obersten Grundsatz der Prozeßordnung“ (Hervorhebung nicht im Original). 131 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 81. 132 Ebd., S. 108 ff. 133 Ebd., S. 135. Vgl. dazu noch später in diesem Kapitel unter III. 134 Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 127 ff. 135 Dies ist zwingende Prämisse der folgenden Ausführungen. Sobald die andere Partei bzw. das Gericht keine diesbezügliche Kenntnis haben, gilt das soeben Gesagte.

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tel anbietet, obwohl das originäre vorhanden ist und darauf ohne Weiteres zurück­ gegriffen werden könnte. Einmal abgesehen davon, dass ein solches (prozess-) taktisches Vorgehen möglicherweise nicht ohne Grund und Hintergedanken erfolgt und nunmehr die Gegenpartei auf den Plan ruft, um das originäre Beweismittel gegenbeweislich aufzubieten, wodurch Partei- und Dispositionsmaxime dem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz geradezu zur Geltung verhelfen würden136, darf noch Folgendes nicht übersehen werden: Im Schrifttum wird erwogen, dass ein solcher Beweisantrag eine richterliche Hinweispflicht gemäß § 139 Abs. 1 ZPO auslöst.137 Inhalt eines solchen richterlichen Hinweises kann wiederum, wenn er wirklich Sinn machen will, nicht bloß sein, dass man Beweis mit dem unmittelbaren Beweismittel antreten soll. Damit verbunden werden muss vielmehr noch der Hinweis, dass das mittelbare Beweismittel im Rahmen der Beweiswürdigung, wie es unisono anerkannt ist138, bloß von geringerem Beweiswert sein könnte. Wenn man sich dies vor Augen führt, lässt sich zwar einerseits im Ausgangspunkt nicht leugnen, dass die Parteien durchaus einen gewissen Einfluss auf Geltung und Umfang des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes haben. Andererseits haben sie aber die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen, worauf sie – trotz Parteiund Dispositionsmaxime – von Amts wegen hinzuweisen sind. Weitere Aspekte sprechen dafür, dass materielle Unmittelbarkeit und Verhandlungsgrundsatz durchaus miteinander harmonieren (können). Insofern ist darauf hinzuweisen, dass etwa die Voraussetzungen der kommissarischen Vernehmung gemäß § 375 ZPO, wie an früherer Stelle erörtert139, vom Gericht selbst nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft und festgestellt werden. Dass die Vorschrift als Ausnahme von formeller Unmittelbarkeit charakterisiert und rubrifiziert wird, bleibt dabei, wie soeben erörtert, ohne Belang. Schlussendlich wird, wie ebenfalls schon dargestellt140, über § 398 ZPO sichergestellt, dass es von Amts wegen zu einer Wiederholung der – nunmehr unmittelbar-mündlichen – Zeugenvernehmung kommt, wenn das Gericht sie für erforderlich hält. In dieser Hinsicht ist die Par-

136

Ebenso bereits Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 142. Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 94 ff. Vgl. in dieser Richtung etwa BGH NJW 1982, 580, 581; VersR 1983, 667, 668; Deubner, NJW 1983, 1000, wonach es die richterliche Hinweispflicht gebietet, den Beweisführer darauf aufmerksam zu machen, dass man Vernehmungsniederschriften aus Strafakten für die zivilprozessuale Beweisführung möglicherweise als nicht ausreichend erachten werde. Freilich lässt sich den Ausführungen nicht mit Gewissheit entnehmen, ob man bereits die Protokolle an sich als nicht genügend ansah oder lediglich als – im Vergleich zur im Zivilprozess denkbaren unmittelbar-persönlichen Zeugenvernehmung – im Beweiswert geringer, wie es der Zusammenhang in BGH NJW 1982, 580, 581 aber durchaus nahe legt. Expressis verbis in diesem Sinne Hartung, VersR 1982, 141, 142 mit Blick auf die Entscheidung, wonach der Hinweis wahrscheinlich zum Anlass genommen worden wäre, die Vernehmung der Zeugen zu beantragen, „die möglicherweise sicherere Feststellungen erlaubt hätten“ (Hervorhebung nicht im Original). 138 Vgl. bei und in Anm. 123 (S. 216). 139 Vgl. die Darstellung im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). 140 Vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). 137

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

tei- und Dispositionsmaxime im Bereich des (formellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes stark zurückgedrängt. Die Verhandlungsmaxime schließt, um zum diesbezüglichen Fazit zu kommen, die Geltung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes keinesfalls zwingend aus. Der diesbezügliche Einfluss ist vielmehr relativ gering. Es hat sich etwa gezeigt, dass die Beurteilung der Voraussetzungen einer kommissarischen Ver­ nehmung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht, ohne dass es dabei an entsprechende Anträge der Parteien gebunden wäre. Der Einfluss der Parteien auf den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz beschränkt sich lediglich auf den Beweisantritt, wenn sie ein mittelbares statt des an sich möglichen originären Beweismittels anbieten. Diese Einschränkung ist aber eher marginal, weil zugleich als Korrektiv dazu von Amts wegen darauf hinzuweisen ist, dass sich dies im Rahmen der Beweiswürdigung nachteilig auswirken kann. bb) Freie Beweiswürdigung als Argument pro materielle Unmittelbarkeit Damit kommt nahezu zwangsläufig die Frage auf, ob materielle Unmittelbarkeit nicht im Grundsatz der freien Beweiswürdigung, wie er für das Zivilverfahren in § 286 ZPO niedergelegt ist, loziert sein könnte. Wenn es sich in diesem Sinne verhält, würde das – im Übrigen aber, wie soeben aufgezeigt, ohnehin nicht überzeugende – Argument davon, dass Partei- und Dispositionsmaxime der Geltung materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren entgegenstehen (sollen), noch mehr an Überzeugungskraft verlieren. Schließlich ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung diesen Verfahrensmaximen entzogen.141 Selbst die Neuregelung in § 284 Satz 2 ZPO ist insofern, wie an früherer Stelle geschildert142, ohne Belang. Von daher liegt es nahe, einmal näher zu untersuchen, ob materielle Unmittelbarkeit für den Bereich des Zivilprozesses nicht de lege lata im Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO verankert ist. Entsprechende, allgemein anerkannte Thesen lassen diesen Schluss durchaus nicht fern liegend erscheinen. Dass der Beweiswert mittelbarer Beweismittel geringer sein kann, ist bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen143, konstatieren selbst erklärte Gegner eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im

141 RGZ 96, 57, 59; RG JW 1900, 151; BGH VersR 1967, 25, 26; NJW-RR 1995, 1328; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 32; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 295 Rdnr. 23; Pantle, NJW 1988, 2027, 2028; ders., NJW 1991, 1279, 1280; Prütting, in: MünchKommZPO, § 286 Rdnr. 153; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286 Rdnr. 20; Foerste, in: Musielak, ZPO, § 286 Rdnr. 16. 142 Vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). 143 BGH NJW 1995, 2856, 2857; Berger, in: Stein/Jonas, ZPO, § 355 Rdnr. 28; AK-ZPO/ Rüßmann, § 355 Rdnr. 6.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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Zivil­prozess144. Es sei dem Gericht zwar nicht aus § 286 ZPO verwehrt, indirekte Beweismittel als Erkenntnisquelle anzusehen, wohl aber muss es die spezifischen Fehlerquellen solcher Beweismittel bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen.145 Die Sachnähe eines Beweismittels (etwa Zeuge vom Hörensagen) findet erst in der Beweiswürdigung einen Niederschlag.146 Dabei wird der Beweiswert einer solchen Aussage regelmäßig geringer anzusehen sein als die Bekundung unmittelbar eigener Wahrnehmungen.147 Damit allein ist freilich noch gesagt, dass dieses Prinzip de lege lata in § 286 ZPO loziert ist. Vielmehr ist es mit Geppert zu halten148, wonach sauber zwischen dem Unmittelbarkeitsprinzip als abstraktem Begriff und Denkprinzip einerseits und der Frage andererseits unterschieden werden muss, ob und auf welche Weise es Eingang in das Gesetz gefunden hat. Bevor dabei auf § 286 ZPO eingegangen werden soll, ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Gesetzgeber selbst zu erkennen gibt, materielle Unmittelbarkeit als Aspekt der Beweiswürdigung anzusehen. In dieser Hinsicht wird an die Vorschrift des § 418 Abs. 3 ZPO gedacht. Danach erbringen öffentliche Urkunden, deren Inhalt und „Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson“ beruhen, gleichwohl den „vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, […] wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist“. Inwiefern darin materielle Unmittelbarkeit als Aspekt der Beweiswürdigung anklingt, lässt sich erst erklären, wenn man § 415 Abs. 1 ZPO in seine Überlegungen einbezieht. Er hat folgenden Wortlaut: „Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichen Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden sind (öffentliche Urkunden), begründen, wenn sie über eine vor der Behörde oder der Urkundsperson ab­gegebene Erklärung errichtet worden sind, vollen Beweis des durch die Behörde oder die Urkundsperson beurkundeten Vorgangs.“

§ 415 Abs. 1 ZPO hat insofern ein unmittelbares Beweismittel zum Inhalt. Schließlich wird die Urkunde „über eine vor der Behörde oder der Urkunds­person abgegebene Erklärung errichtet“. Zugleich gibt die Norm unmissverständlich zu erkennen, dass sie im Rahmen der Beweiswürdigung eine besondere Rolle spielt. Damit ist dargetan, dass der Gesetzgeber den Aspekt der Unmittelbarkeit im Rahmen der Beweiswürdigung angesiedelt wissen will. Es handelt sich bei § 415 Abs. 1 ZPO nämlich um eine Beweisregel im Sinne von § 286 Abs. 2 ZPO149, sodass eine freie Beweiswürdigung in dieser Hinsicht nicht mehr erforderlich ist. 144

Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 78. Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 32. 146 Stadler, in: Musielak, ZPO, § 355 Rdnr. 5. 147 BGH NJW 1984, 2039; OLG Stuttgart NJW 1972, 67. 148 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. 149 Huber, in: Musielak, ZPO, § 415 Rdnr. 2 mit Rdnr. 10; Schreiber, in: MünchKommZPO, § 415 Rdnr. 1. Vgl. ebenso, wenngleich de lege ferenda krit. Baumbach/Lauterbach/Albers/ 145

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Damit kommt zwangsläufig die Frage auf, mit welcher Ratio sich dies erklären und rechtfertigen lässt. Sinn und Zweck von § 415 Abs. 1 ZPO erschließen sich mehr oder minder unmittelbar bereits durch seinen Wortlaut. Es handelt sich bei den Urkunden nämlich um „von einer mit öffentlichen Glauben versehenen Person“ errichtete Schriftstücke. Bei solchen Personen, etwa Notaren150, spricht – wie schon beim strafprozessualen Pendant des § 256 StPO151 – eine Vermutung der Glaubwürdigkeit für die inhaltliche Richtigkeit der Urkunde, die im Falle des § 415 Abs. 1 ZPO zur echten Beweisregel wird, weil die freie Beweiswürdigung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Ausstellers ausgeschlossen ist152. Gleiches gilt für die öffentliche Behörde, weil sie ebenfalls dazu berufen ist, „Tat­sachen unter der Autorität des öffentlichen Glaubens zu bezeugen“153, sodass deren Erklärungen und Urkunden gemeinhin als glaubwürdig anzusehen sind. In dieser Hinsicht wird etwa die amtliche Auskunft gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO als öffentliche Urkunde angesehen154, sodass man sich mit diesem mittelbaren Beweismittel begnügen kann. Um ein bloß mittelbares Beweismittel im Sinne der sachlichen Prämissen materieller Unmittelbarkeit geht es ebenfalls bei § 418 Abs. 3 ZPO. Schließlich handelt es sich um – öffentliche155 – Urkunden, deren Inhalt und „Zeugnis nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson“ beruhen. Anders als öffentliche Urkunden im Sinne von § 415 Abs. 1 ZPO, die per se vollen Beweis erbringen, wird dies bei öffentlichen Urkunden gemäß § 418 Abs. 3 ZPO davon abhängig gemacht, dass „sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft Hartmann, ZPO, § 415 Rdnr. 2. Flankiert wird die Vorschrift noch von § 435 ZPO. Sie regelt, dass öffentliche Urkunden in Urschrift vorzulegen sind. Insofern ist es nicht gänzlich unzutreffend, wenn man darin materielle Unmittelbarkeit als gesetzlich verankert ansieht [s. in diesem Sinne etwa Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181, 188 in Fn. 40]. Aber erst im Zusammenhang mit der – systematisch zunächst geregelten – Vorschrift des § 415 Abs. 1 ZPO, und damit einer Regelung zur Beweiswürdigung, erschließt sich der eigentliche Sinn und Zweck des § 435 ZPO, einer Norm zur Beweisaufnahme. 150 BGH NJW 1994, 320, 321; Schreiber, in: MünchKommZPO, § 415 Rdnr. 18; Huber, in: Musielak, ZPO, § 415 Rdnr. 8; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 415 Rdnr. 5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 415 Rdnr. 5 f. Bei Notaren spricht für Glaubwürdigkeit, dass sie gemäß § 1 BNotO „unabhängige Träger eines öffentlichen Amtes“ sind. 151 Vgl. hierzu im 2. Teil, 5. Kapitel unter IV. 1. 152 Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 415 Rdnr. 23. Dass es um Glaubwürdigkeit des Aus­ stellers geht, zeigen bereits die Motive durch einen Vergleich mit der Privaturkunde. Anders als bei öffentlichen Urkunden haben die darin enthaltenen Angaben „nicht ohne Weiteres Anspruch auf Glaubwürdigkeit“, s. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 321. 153 In diesem Sinne die Motive bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, ZPO, Abt. 1, S. 323. 154 OLG Hamm FamRZ 1981, 916, 916; Schreiber, in: MünchKommZPO, § 418 Rdnr. 6; ­Huber, in: Musielak, ZPO, § 418 Rdnr. 2. 155 Bei Privaturkunden ist eine solche Form der mittelbaren Beweisführung, wie es sich aus der Regelung des § 416 ZPO und aus einem arg. e contrario zu § 418 Abs. 3 ZPO ergibt, da­ gegen ausgeschlossen.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist“. In dieser Hinsicht wird dem mittelbaren Beweismittel vom Gesetz größere Skepsis entgegengebracht, seine (volle) Beweiskraft bei der Beweiswürdigung jedenfalls von einer weiteren (gesetzlichen) Voraussetzung abhängig gemacht. Damit hat sich gezeigt, dass materielle Unmittelbarkeit – zum einen – sehr wohl vom Gesetzgeber in § 418 Abs. 3 ZPO anerkannt wird, und zwar – zum anderen – im Rahmen der Beweiswürdigung. Freilich handelt es sich bei der Beweiskraft von Urkunden um einen eigenständigen Regelungsbereich innerhalb des Zivilverfahrensrechts. Insofern könnte darin, um das von Geppert zu §§ 250 ff. StPO geäußerte Wort umzumünzen156, eine weitgehend verselbständigte Lösung normiert sein, der man in methodischer Hinsicht sogar ein arg. e contrario dahingehend entnehmen könnte, dass mate­rielle Unmittelbarkeit im Übrigen für das Zivilverfahren nicht von Belang ist. Damit ist sich Fragen und Aspekten eher allgemeiner Natur zuzuwenden. In dieser Hinsicht fällt eine Konstellation ins Auge, die unmittelbar mit dem (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatz zu tun hat. Die höchstrichterliche Judikatur in Zivilsachen, obwohl sie verbal materielle Unmittelbarkeit in Abrede stellt157, hat es – in einer später immer wieder bemühten und zitierten158 – grundlegenden Entscheidung als unzulässig angesehen159, „dass die Kindesmutter im vorliegenden Verfahren entgegen dem Antrag des Klägers nicht vernommen worden ist. Sie war lediglich zu Beginn des Ehescheidungsverfahrens vernommen worden. Zwar konnte die Niederschrift über diese Vernehmung im vorliegenden Verfahren als Beweisurkunde verwertet werden, insbesondere, wenn eine der Parteien sich darauf unter Vortrag ihres Inhalts berief. Damit wurde aber der Antrag des Klägers, die Zeugin im gegenwärtigen Verfahren zu vernehmen, nicht gegenstandslos. Das Anerbieten dieses Zeugenbeweises durfte nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass bereits die Niederschrift über ihre frühere Vernehmung vorliege. Der Beweiswert einer solchen Urkunde ist in aller Regel von dem des Zeugenbeweises durchaus verschieden. Der persön­ liche Eindruck des Zeugen, die Anwesenheit der Parteien, das ihnen eingeräumte Fragerecht sowie die Möglichkeit und Zulässigkeit der Gegenüberstellung von Zeugen bieten eine Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit, die dem Vortrage in der Niederschrift wiedergege­ bener Zeugenaussagen, also dem Urkundenbeweise […] mangelt.“

Interessant ist, welche Vorschrift der BGH als dadurch verletzt ansieht, nämlich § 286 ZPO. Damit stellt sich die Frage, ob materielle Unmittelbarkeit durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO gewährleistet wird. In dieser Hinsicht ist die Vorschrift Befürwortern wie Gegnern materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren in den Blick geraten. Dabei überrascht es, dass sie für die jeweils eigene Auffassung bemüht wird. Reichel sieht hierin ein geradezu treffen 156

Vgl. hierzu Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. s. bei und in Anm. 74 (S. 207). 158 Vgl. lediglich BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215; NJW 1997, 3096. 159 s. zu Folgendem BGHZ 7, 116, 121 f. 157

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

des Argument gegen eine materielle Unmittelbarkeit der Beweismittel in der Zivilprozessordnung. Hiernach hat das Gericht nach seiner freien Überzeugung über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung zu entscheiden. Dieser freien Beweiswürdigung soll ein Grundsatz der bezeichneten Art widersprechen, weil er wegen der Nichtverwertbarkeit der mittelbaren Beweismittel eine negative Beweisregel proklamieren würde, die mangels gesetzlicher Bestimmung das Recht des Gerichts auf freie Beweiswürdigung restringiere.160 Immerhin räumt er aber ein, dass der Beweiswert eines indirekten Beweismittels geringer sein kann als der eines unmittelbaren Beweismittels, wobei dies erst im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO zu berücksichtigen sei.161 Ob man sich dieser Frage nicht sehr wohl kraft Gesetzes schon während der Beweisaufnahme zu stellen hat, untersucht Reichel freilich nicht, sodass seine diesbezügliche Behauptung allzu apodiktisch anmutet. Den geradezu diametralen Standpunkt zu Reichel nimmt Rohwer ein. Danach soll materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht bloß in der Sache zu beachten, sondern darüber hinaus gesetzlich verankert sein.162 Dass es in der Sache zu respektieren ist, erklärt sie damit, dass materielle Unmittelbarkeit der Erzielung eines optimalen und zuverlässigen Beweismittels dient. Dies wiederum ist Anliegen der Verfahrensordnungen überhaupt und erklärt sich aus Sinn und Zweck einer jeden Prozessordnung. Sie ermöglicht die zwangsweise Durchsetzung des jeweiligen materiellen Rechts.163 Daran ist interessant, dass sie – anders als im strafprozessualen Schrifttum zum Unmittelbarkeitsgrundsatz – einen diesbezüglichen Zusammenhang des Prinzips zum hehren Prozesszweck der Durchsetzung und Anwendung des materiellen Rechts herstellt. Mehr aber interessieren die Ausführungen zum Zusammenhang zwischen freier Beweiswürdigung und materieller Unmittelbarkeit. Dabei könnte der Gegensatz zu Reichel konträrer kaum sein. Denn während er von der Unvereinbarkeit eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes mit dem Prinzip freier Beweiswürdigung ausgeht, soll es nach Rohwer dagegen nicht in einen diesbezüglichen Widerspruch

160

Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 68. Kou­ kouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 80 macht sich die Ausführungen von Reichel – weit gehend unreflektiert – zu eigen. Wenn sie an späterer Stelle wiederum den Grundsatz der Unmittelbarkeit im Strafverfahren aus § 261 StPO ableiten will (Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 108), wirkt es auf den ersten Blick widersprüchlich, muss es aber – wegen der sogleich oben im Text erfolgenden Auseinandersetzung mit Rohwer – nicht zwangsläufig sein. 161 Reichel, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung, S. 69. 162 Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 53 ff., 63 ff. 163 Ebd., S. 65. Einen vergleichbaren Zusammenhang stellt noch, obwohl erklärte Gegnerin eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes, Koukouselis her. Danach ist „Unmittelbarkeit nicht als Selbstzweck, sondern als Unterstützung der Prozeßziele der Verwirklichung des materiellen Rechts und der Prozeßbeschleunigung“ aufzufassen (Koukouselis, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, S. 8 ff, 14).

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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treten.164 Vielmehr soll sich – geradezu umgekehrt – „die von § 286 ZPO geforderte freie Beweiswürdigung als Argument für die Anerkennung des Grundsatzes der materiellen Beweisunmittelbarkeit heranziehen“ lassen.165 Offener könnte der Widerspruch zu Reichel kaum zu Tage treten. Mit der Einordnung eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in das geltende Zivilverfahrensrecht hat sich noch Bachmann beschäftigt. Sein Blick fällt dabei ebenfalls auf § 286 ZPO. Dabei soll die Vorschrift und damit die freie richterliche Beweiswürdigung einer Anerkennung des materiellen Unmittelbarkeitsprinzips im Zivilprozess schon deshalb nicht entgegenstehen können, weil sie im Strafverfahren ebenso gilt (§ 261 StPO).166 Bislang ist die strafprozessuale Regelung zur Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung aber bloß als gesetzlicher Hort der formellen Unmittelbarkeit ausgemacht worden.167 Ob Gleiches für einen materiellen Aspekt des Unmittelbarkeitsgebots gilt, ist damit aber noch nicht zwangsläufig gesagt, sondern gerade Gegenstand der vorliegenden Überlegungen. Wenn man sich dieses Meinungsbild vergegenwärtigt, scheint sich der Streit um die gesetzliche Lozierung eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Zivilverfahren in § 286 ZPO festgefahren zu haben, und zwar ebenso hoffnungslos, wie es bezüglich § 250 StPO moniert wird168. Es zeigt sich in gewisser Weise in den Ausführungen von Rohwer selbst. Als Argument gegen die Auffassung, dass materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung miteinander unvereinbar sein sollen, führt sie an, dass der Strafprozess ebenfalls einen Grundsatz der freien Beweiswürdigung kennt (§ 261 StPO) und im strafprozessualen Schrifttum von einem materiellen Unmittelbarkeitsprinzip gesprochen wird, ohne dass die freie Beweiswürdigung als diesbezüglicher Hinderungsgrund betrachtet werden würde.169 Dieses Argument greift – angesichts von § 261 StPO – zwar nicht im Ausgangspunkt, wohl aber in der Schlussfolgerung zu kurz. Rohwer verschweigt nämlich geflissentlich, dass es überhaupt nicht § 261 StPO, sondern vielmehr § 250 StPO ist, der vom zivilprozessualen Schrifttum dafür angeführt wird170, dass das Strafverfahren im Gegensatz zum Zivilprozess von materieller Unmittelbarkeit beherrscht sein soll. Insofern überzeugt das Argument nicht vollends. Der Streit zwischen Rohwer und Reichel offenbart zugleich ein grundsätzliches Dilemma, das in gewisser Weise sämtlichen bisherigen Bemühungen um Klärung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes anhaftet. Es wird allzu sehr der Fokus auf eine einzige Vorschrift gerichtet, die eine Aussage zum Ob des materiellen Unmittelbarkeitsprinzips in die eine oder andere Richtung treffen soll, ohne 164

Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 59. Ebd., S. 61. 166 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 140 in Fn. 32. 167 Vgl. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel unter II. 168 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 169 Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, S. 57. 170 Vgl. hierfür die Nachw. bei und in Anm. 73 (S. 207). 165

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

freilich darzutun, dass es dafür eines zwingenden (methodischen oder sonstigen) Grundes bedarf. Dabei drängt sich bei unbefangener Betrachtung das Gegenteil nahezu auf. Wenn ein überragendes (Prozess-)Rechtsprinzip überhaupt de lege lata normiert ist bzw. sein soll, ohne dass sich dafür eine ausdrückliche Vorschrift ausfindig machen lässt, kann es stattdessen vielleicht – gleichsam im Wege einer Rechts- bzw. Gesamtanalogie171 – einer Vielzahl von normativen Regelungen entnehmen werden. cc) Materielle Unmittelbarkeit im Zusammenspiel von Beweisaufnahme und -würdigung Von daher erscheint es an der Zeit, nicht bloß eine einzelne Vorschrift in den Blick zu nehmen. Vielmehr darf, und darin liegt das Versäumnis sämtlicher bisheriger Bemühungen um Klärung der gesetzlichen Verankerung eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Zivilverfahrensrecht, der Blick nicht auf § 286 ZPO verharren. Darüber darf nämlich sein Zusammenspiel mit den Vorschriften zur Beweisaufnahme nicht vernachlässigt werden, wie es nunmehr aufgezeigt werden soll. Es zeigt sich besonders anschaulich, wenn man diesbezüglich ein Argument der Gegner materieller Unmittelbarkeit aus § 286 ZPO aufgreift. Insofern wird vor­ getragen, dass die Vorschrift keinen tauglichen Ansatzpunkt für eine Verankerung des Prinzips materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozessrecht bietet. Denn die Vorschrift betrifft nicht die Auswahl der Beweismittel, sondern deren abschließende Würdigung. Bei dieser Würdigung sei das Gericht völlig frei, direkte und indirekte Beweise gleichberechtigt nebeneinander zu stellen.172 Dies vermag allerdings näherer Betrachtung nicht standzuhalten. Es beginnt schon damit, dass die in Bezug genommene Kommentarstelle eine völlig andere Frage zum Gegenstand hat. Es geht dabei um das Verhältnis von direktem und indirektem (Indizien-)Beweis, deren Gleichberechtigung angenommen wird.173 Schon Geppert hat jedoch hinlänglich dargetan, dass es bei der Zulässigkeit von Indizienbeweisen nicht einmal im Ansatz um Unmittelbarkeitsaspekte geht.174 Soweit es dagegen das Verhältnis von originärem Beweismittel und Beweissurrogat betrifft, worum es in der Sache beim materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz geht175, wird deutlich, dass das Gericht in seiner diesbezüglichen Wahl keinesfalls völlig frei ist. 171 Bei der Rechts- bzw. Gesamtanalogie wird aus mehreren Vorschriften ein durchgängiger Gesetzes- und Rechtsgedanke im Sinne einer verallgemeinerten ratio abgeleitet, vgl. zur Definition etwa Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 722; Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 123. 172 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 32. 173 Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286 Rdnr. 1 (Hervorhebung nicht im Original). 174 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 123 ff. 175 s. im 8. Kapitel unter II.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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Als Beweissurrogat kann es etwa, wie an früherer Stelle geschildert176, auf den Inhalt einer kommissarischen Zeugenvernehmung bloß für den Fall zurückgreifen, dass sich seine ursprüngliche Prognose, dass es „das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, noch im Moment der Beweiswürdigung als zutreffend erweist. Anderenfalls muss es nach § 398 ZPO verfahren. Damit ist zum einen gesagt, dass es in der Wahl der Beweismittel keinesfalls frei ist und zum anderen, dass das Originalbeweismittel jedenfalls kraft Gesetzes grundsätzlich als höherwertig angesehen wird. Während der erste Aspekt bereits bzw. noch die Beweisaufnahme betrifft, geht es im anderen Punkt erst bzw. schon um die Beweiswürdigung. Wenn man beide Gesichtspunkt miteinander verbindet, wird im Übrigen deutlich, dass materielle Unmittelbarkeit durchaus im Zivilprozess zum Tragen kommt. Im Strafprozessrecht klingen vergleichbare Interdependenzen zwischen Beweisaufnahme einerseits und -würdigung andererseits im Wortlaut der diesbezüglich maßgeblichen Vorschriften an. Gemäß § 261 StPO entscheidet das Gericht „über das Ergebnis der Beweisaufnahme […] nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Von daher muss man bei der Beweiswürdigung retrospektiv auf die Beweisaufnahme zurückblicken. Aber schon bei diesem Verfahrensabschnitt hat man de lege lata die spätere Beweiswürdigung prospektiv in den Blick zu nehmen. Nach § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht „zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind“. Weil die Entscheidung wiederum gemäß § 261 StPO im Wege der freien Beweiswürdigung gefällt wird, lässt sich de lege lata schwerlich leugnen, dass gewisse Verschränkungen zwischen der strafgerichtlichen Beweisaufnahme einerseits und der Beweiswürdigung andererseits bestehen. Solche Interdependenzen zeigen sich noch mehr im Zivilverfahrensrecht, und zwar besonders deutlich auf der Ebene der lex lata in Gestalt von § 375 ZPO, indem er für eine kommissarische Zeugenvernehmung verlangt, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Wie sonst als durch den Gedanken materieller Unmittelbarkeit will man diese Einschränkung erklären und rechtfertigen. Sie bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die unmittelbar-persönliche Vernehmung des Zeugen durch das erkennende Gericht die bessere Alternative im Verhältnis zur Einführung eines Protokolls über eine von einem anderen Gericht vorgenommene Vernehmung ist. Eben dies versteht man aber der Sache nach unter materieller Unmittelbarkeit.177 176 Vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). Weil das Gericht seine Prognose im Laufe der Beweiswürdigung nochmals inzident überprüfen muss, erledigt sich von daher im Übrigen der Einwand, dass „sich diese Prognose der Entbehrlichkeit einer grundsätzlich unzulässigen Vorabwürdigung eines Beweises annähert“ (Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 21 oben). 177 s. dazu im 8. Kapitel unter II.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Sie zeigt zugleich den Zusammenhang zwischen Unmittelbarkeit und Beweiswürdigung auf, wie er vielfach beschworen wird – und selbst von Gegnern materieller Unmittelbarkeit nicht in Abrede gestellt wird178. Von daher lässt sich keinesfalls sagen, dass das Zivilverfahren überhaupt nicht vom Gedanken materieller Unmittelbarkeit beherrscht wird. Selbst Pantle als erklärter Gegner materieller Unmittelbarkeit sieht in der Prognose ein „materielles Kriterium“, worin eine „Tendenz zur Begrenzung mittel­ barer Beweisaufnahmen innewohnt“.179 Später macht er – durchaus im vorstehend verstandenen Sinne – eine sog. „Doppelrelevanz“ des Grundsatzes der Beweisunmittelbarkeit für die Verfahrensweise der Beweisaufnahme einerseits und die Beweiswürdigung andererseits aus.180 Noch in anderer Hinsicht sind seine Ausführungen bemerkenswert. Selbst zu einer Zeit, als § 375 ZPO seinen einleitenden Halbsatz mit dem Erfordernis der Beweisprognose, dass „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, noch nicht zum gesetzlichen Inhalt hatte, leitete Pantle ein solches Erfordernis aus § 286 ZPO ab.181 In dieser Hinsicht wird die – inzwischen vom Gesetz verlangte – Prognose als mehr oder minder bloß deklaratorischer Natur angesehen, während konstitutiv dafür die Vorschrift des § 286 ZPO ist. Freilich konnte er dessen Missachtung noch als bloßen Beweiswürdigungsfehler abtun, ohne zugleich materielle Unmittelbarkeit bereits für das Stadium der Beweisaufnahme anzuerkennen (müssen). Nachdem aber entsprechende Überlegungen angesichts des unmissverständlichen Wortlauts von § 375 ZPO bereits während und sogar schon vor der Beweissammlung anzustellen und zu berücksichtigen sind, lässt es sich nicht mehr als bloßen Beweiswürdigungsfehler abtun, sondern ist vielmehr, um in der Terminologie von Pantle zu bleiben182, als Fehler in der Verfahrensweise zu geißeln, wenn das Prozessgericht eine kommissarische Zeugenvernehmung anordnet, obwohl gerade nicht „von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. In dieser Hinsicht ist der frühere Beweiswürdigungsfehler im Sinne von Pantle zum Verstoß gegen materielle Unmittelbarkeit bei der Beweisaufnahme geworden, worin sich einmal mehr zeigt, dass dieser Verfahrensgrundsatz im Zivilprozess durch ein Wechselspiel zwischen § 375 ZPO einerseits und dem – insofern konstitutiven – Grundsatz der Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) andererseits zur Geltung kommt.

178 Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S. 28. Dass Koch dabei von formeller Unmittelbarkeit spricht, ist insofern unter sachlichen Aspekten unschädlich, vgl. dazu die diesbezüglichen Erörterungen bei § 377 Abs. 3 ZPO. 179 Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 55 f. 180 Ebd., S. 111 ff. 181 Ebd., S. 137. 182 Ebd., S. 113 unten mit S. 136 ff., 137 f.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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4. Fazit Das Fazit der Betrachtungen zur materiellen Unmittelbarkeit im Zivilverfahren fällt etwas ambivalent aus. Entgegen der diesbezüglich h. M. lässt sich keines­falls sagen, dass sie überhaupt nicht zum Tragen kommen würde. Gleichwohl erfährt der Grundsatz gewisse Einschränkungen, die allerdings eher marginaler Natur sind. Eine Einschränkung erfährt der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz etwa dadurch, dass § 377 Abs. 3 ZPO – im Gegensatz zu § 250 StPO – eine „schriftliche Beantwortung der Beweisfrage“ ermöglicht. Zum einen sind die dafür erforder­ lichen Voraussetzungen aber sehr eng und orientieren sich insofern systemimmanent an Sinn und Zweck des materiellen Unmittelbarkeitsprinzips, als dass bei der „Person des Zeugen“ maßgeblich auf dessen Glaubwürdigkeit abzustellen ist. Im Übrigen wird materieller Unmittelbarkeit noch dadurch Rechnung getragen, als dass das Gericht gemäß § 377 Abs. 3 Satz 3 ZPO die Ladung des Zeugen zur unmittelbar-mündlichen Vernehmung anordnet, „wenn es dies zu weiteren Klärung der Beweisfrage für notwendig erachtet“. Eine weitere Einschränkung erfährt materielle Unmittelbarkeit des Weiteren noch dadurch, dass die Parteien – von einer entsprechenden richterlichen Hinweispflicht einmal abgesehen183 – in der Entscheidung darüber, ob sie ein unmittel­bares Beweismittel oder ein bloß mittelbares Beweismittel(surrogat) aufbieten, frei sind. Im Übrigen aber lässt sich zur materiellen Unmittelbarkeit im Zivilverfahren sagen, dass sie entgegen der h. M. durchaus zum Tragen kommt. Insbesondere im Wege des § 375 Abs. 1 ZPO – und dabei durch seinen Bezug zur freien Beweiswürdigung – wird insofern dem Gedanken materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren Rechnung getragen, sodass es nicht angeht, seine Existenz in diesem Verfahrenszweig pauschal und per se in Abrede zu stellen. Wenn man sich zudem vom Gedanken der strikten Trennung von Beweisaufnahme und -würdigung verabschiedet oder jedenfalls etwas befreit, zeigt sich, dass dieser Gedanke in jedem Falle bei der Beweiswürdigung greift, aber seine Wirkung nicht minder bereits im zeitlich früheren Stadium der Beweissammlung entfaltet. Des Weiteren ist offenbar geworden, dass erst das Zusammenspiel zwischen den Vorschriften der §§ 355, 375 ZPO und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung, wie er für den Zivilprozess in § 286 ZPO niedergelegt ist, die Gewähr dafür bietet, dass materieller Unmittelbarkeit zum Durchbruch verholfen werden kann. Insofern darf dieses Prinzip im Zivilverfahren nicht völlig in Abrede gestellt werden. Es hält vielmehr, um nochmals ein Bild von Pantle zu bemühen184, gleichsam durch die „Hintertür“ des § 286 ZPO Einzug in den Zivilprozess.

183

Vgl. hierzu in Anm. 137 (S. 219). Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 3 f.

184

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

II. Unmittelbarkeit im Verwaltungsgerichtsprozess In einem nächsten Schritt soll nunmehr der gerichtliche Verwaltungsprozess daraufhin untersucht werden, ob und in welchem Umfang er von (materieller) Unmittelbarkeit beherrscht wird. Dies erscheint insofern von Interesse, als dass es möglicherweise Rückschlüsse darauf zulässt, ob sich die soeben dargestellten – eher marginalen – Einschränkungen materieller Unmittelbarkeit im Zivilverfahren abschließend und befriedigend damit erklären lassen, dass im Zivilprozess Partei- und Dispositionsmaxime herrschen. Im Gegensatz dazu ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit – wie das Strafverfahren – vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO bestimmt in dieser Hinsicht, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht und erweist sich insofern als Pendant zu § 244 Abs. 2 StPO. Von daher scheint der Blick darauf, ob und in welcher Weise der Verwaltungsgerichtsprozess vom (materiellen) Unmittelbarkeitsgedanken durchdrungen ist, für weitere Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz besonders lohnenswert zu sein. Es zeigt sich im Übrigen noch darin, dass Rechtsprechung und Schrifttum zum Verwaltungsprozessrecht zuweilen expressis verbis auf § 250 StPO eingehen, wobei schon der Umstand für sich, dass man daraus genau gegenteilige Schlussfolgerungen zieht185, dafür spricht, dass über Geltung und Umfang des (materiellen) Unmittelbarkeitsprinzips eine große (Rechts-)Unsicherheit herrscht. 1. Rechtsprechung und Schrifttum zum Unmittelbarkeitsgrundsatz im Verwaltungsgerichtsprozess Eine Untersuchung zur Frage, ob und in welcher Weise der Verwaltungs­ gerichtsprozess de lege lata vom Unmittelbarkeitsprinzip beherrscht ist, sieht sich dabei vor die Schwierigkeit gestellt, dass man eine „ausdrückliche Normierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ver­gebens sucht.186 Eine Besonderheit liegt hierin aber nicht, weil dies, worauf Lang ebenfalls hinweist, für die anderen Prozessordnungen gleichermaßen gilt. Weil dies wiederum auf den Aspekt der materiellen Unmittelbarkeit im Besonderen zutrifft, soll zunächst aufgezeigt werden, wie sich Rechtsprechung und Schrifttum zur Verwaltungsgerichtsbarkeit in dieser Hinsicht verhalten. Dies wird dadurch etwas erschwert, als dass in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur und Literatur kaum trennscharf zwischen einzelnen Aspekten des Unmittelbar­ keitsgrundsatzes unterschieden wird. Insbesondere hinsichtlich der Terminologie wird bloß vereinzelt zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differen-

185 Vgl. VGH Mannheim VBlBW 1993, 10 einerseits und Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 5 andererseits sowie dazu sogleich näher oben im Text. 186 Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 2.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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ziert.187 Unter Hintanstellung exakter Begrifflichkeiten soll daran eine Betrachtung zur Unmittelbarkeitsmaxime in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aber nicht scheitern, zumal in der Sache sehr wohl unterschieden wird. Dies gilt in besonderem Maße für die materielle Seite des Unmittelbarkeits­ gebots. Sie wird, wie kaum anders zu erwarten, kontrovers diskutiert. Dabei fällt besonderes Augenmerk auf eine – freilich vereinzelt gebliebene – Kommentarstelle, worin auf strafprozessuale Vorschriften Bezug genommen wird. Danach soll es im Wege einer analogen Anwendung des § 250 StPO verboten sein, eine Ersetzung unmittelbarer Zeugenaussagen durch Vernehmungsprotokolle (von Behörden) vorzunehmen, wenn eine direkte Zeugenvernehmung unschwer möglich wäre.188 Daran vermag jedenfalls die (methodische) Begründung de lege lata nicht zu überzeugen. Voraussetzung einer analogen Anwendung ist das Vorliegen einer Regelungslücke. Daran fehlt es aber, weil der Gesetzgeber eine Regelung darüber getroffen hat, nach welchen Vorschriften sich die Beweisaufnahme vor Verwaltungsgerichten zu richten hat, nämlich in § 98 VwGO189. Darin werden aber gerade nicht strafprozessuale, sondern vielmehr zivilprozessuale Vorschriften für entsprechend anwendbar erklärt, sodass sich um eine andere Begründung in der Frage nach Ob und Wie materieller Unmittelbarkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bemüht werden muss. Anderenorts begnügt man sich mit der schlichten Behauptung, „dass unmittelbare Beweismittel – sofern vorhanden – den mittelbaren Beweismitteln vorzuziehen sind“190. Etwas ausführlicher wird materielle Unmittelbarkeit umschrieben und angenommen, wenn es dem Gericht verboten sein soll, dass es „seine entscheidende Überzeugung vom Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein wesentlicher Tatsachen aus mittelbaren Erkenntnismöglichkeiten (Erkenntnisquellen) gewinnt, obwohl unmittelbare zur Verfügung stünden, die eindeutige, ge­sicherte Erkenntnis bieten und deren Erhebung dem Gericht zumutbar ist“.191 Eines haben diese Thesen und Aussagen gemeinsam: Sie wirken zuweilen etwas apodiktisch und werden jedenfalls durchweg ohne nähere Begründung de lege lata vorge­ tragen. Unabhängig davon wird aber materielle Unmittelbarkeit zum Prinzip des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erhoben. An gegenteiligen Stimmen mangelt es aber ebenfalls nicht. In dieser Hinsicht ist von „elastischeren Anforderungen des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ 187 Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 3; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 11. 188 Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 5. 189 Ebenso bereits VGH Mannheim VBlBW 1993, 10. 190 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 3. Vgl. ähnlich kurz und prägnant Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 2 sowie ferner noch Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 3: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit gebietet, dass das Gericht – soweit möglich – die direkten Beweismittel verwendet. Unmittelbare Erkenntnisquellen gehen grundsätzlich indirekten vor.“ 191 Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 3.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

die Rede.192 Danach soll dem Gericht zwar einerseits die Verpflichtung auferlegt sein, das qualitativ bessere und das heißt in der Regel das unmittelbarere Beweismittel zu verwenden, ohne dass daraus andererseits zugleich ein „starres Vorrangverhältnis unmittelbarer vor den mittelbaren Beweismitteln“ resultieren soll. Erst auf der Ebene der Beweiswürdigung soll dem Unmittelbarkeitsgrundsatz insoweit eine „Ausstrahlungswirkung“ zukommen.193 Wenn überhaupt soll materielle Unmittelbarkeit danach erst im Rahmen der Beweiswürdigung zur Geltung kommen (können). Insofern kommt Lang resümierend zu einer bloß „eingeschränkten Geltung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes“194, wofür er zugleich noch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verweist. Damit ist sich der Frage anzunehmen, ob sich die Rechtsprechung tatsächlich eher contra materielle Unmittelbarkeit vereinnahmen lässt. Das Interesse daran wird bereits dadurch geweckt, dass anderenorts die Rechtsprechung dahingehend interpretiert wird, dass sie pro materielle Unmittelbarkeit tendieren soll195, wohingehen andere Autoren ausführen, dass das Bundesverwaltungsgericht die Existenz einer Beweismittelpriorität ablehnt196. Vertreter ein und derselben Auf­fassung deuten die Rechtsprechung insofern verschieden. Einig ist man sich lediglich darin, dass sie eine nähere Begründung nicht liefert bzw. nicht näher auf das Problem eingeht. Die Rechtsprechung ist in der Tat janusköpfig. Teilweise scheint sie sich sogar selbst zu widersprechen. Eine Ursache dafür ist, dass des Öfteren nicht sauber (­genug) zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differenziert wird. In­ sofern sind sachliche Unzulänglichkeiten auf terminologische Unschärfen zurückzuführen. Eine deutliche Sprache spricht demgegenüber der VGH Mannheim.197 Danach kennt das deutsche Prozessrecht einen Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit nicht. An der Aussage überrascht, dass sie verallgemeinernd für sämtliche Prozessordnungen getroffen wird. Scheinbar erkennt das Gericht dies selbst und versieht sie mit dem Vorbehalt, dass jedenfalls das in § 250 StPO enthaltene Gebot der unmittelbaren Zeugenvernehmung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht gilt. Im Übrigen wird noch konstatiert, dass der möglicherweise geringere Beweiswert eines entfernteren mittelbaren Beweismittels im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist. Wenn man einmal von dieser Einschränkung absieht, negiert das Gericht einen Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Anderenorts hatten sich Verwaltungsgerichte implizit mit der Frage zu befassen, als es um die – für den Strafprozess in § 250 StPO, für das verwaltungsgerichtliche Verfahren dagegen nicht explizit geregelte – Frage der Verwertung schriftlicher 192

Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 33. Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 4. 194 Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 22. 195 Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 20 in Fn. 40. 196 Böhm, NVwZ 1996, 427, 431. 197 Vgl. zum Folgenden jeweils VGH Mannheim VBlBW 1993, 10. 193

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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Erklärungen von Zeugen und Niederschriften früherer Zeugenaussagen ging. Die Verwertung solcher Schriftstücke soll im Verwaltungsprozess nicht zulässig sein, wenn die betreffende Person als Zeuge (nochmals) vernommen werden kann, weil das verwaltungsgerichtliche Verfahren vom Grundsatz der Unmittelbarkeit beherrscht wird und der mögliche Zeugenbeweis, solange es jedenfalls nicht besondere gesetzliche Regelungen gestatten, nicht durch einen Urkundenbeweis ersetzt werden darf, sondern vielmehr das unmittelbare Beweismittel der persönlichen Vernehmung das bloß mittelbare Beweismittel der Urkunde über Zeugenwahr­ nehmungen verdrängt.198 Solche Aussagen und Judikate scheinen durchaus vom Gedanken materieller Unmittelbarkeit beseelt zu sein. Dagegen stehen dieselbe Fragestellung betreffende Entscheidungen, in denen ein solches Prinzip negiert wird. In dieser Hinsicht ist etwa ein Urteil des OVG Köln zu verstehen. Danach „gilt auch im Verwaltungsprozess der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, so daß der Urkundsbeweis einen möglichen Zeugenbeweis in der Regel nicht ersetzen darf. Liegt dem Urkundbeweis aber eine protokollierte Zeugenvernehmung zugrunde, dann ist anerkannt, daß eine noch­ malige Vernehmung des Zeugen nicht zwingend erforderlich ist. Es steht vielmehr im Ermessen des Gerichts, ob ein bereits vernommener Zeuge nochmals gehört werden soll“.199 Im konkreten Verfahren wurde die im Arbeitsgerichtsprozess protokollierte Zeugenvernehmung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren eingeführt, obwohl der Zeuge nochmals hätte vernommen werden können. Von einem Grundsatz materieller Unmittelbarkeit bleibt dabei nicht viel übrig. Hieraus hat sich ein genereller Grundsatz entwickelt, wonach Beweisergebnis­se früherer Prozesse im Wege des Urkundsbeweises in das laufende verwaltungsgerichtliche Verfahren eingeführt und als solcher, nicht aber als Zeugenbeweis verwertet werden dürfen, ohne dass es hierfür einer Zustimmung der Verfahrensbeteiligten bedarf.200 In solchen Fällen scheint sich die wohl h. M. im verwaltungsgerichtlichen Schrifttum bestätigt zu sehen, wonach das Gebot materieller Unmittelbarkeit im Verwaltungsgerichtsprozess nicht gilt. Fraglich ist freilich, von welcher Aussagekraft solche Entscheidungen für eine Untersuchung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sind. Sie betreffen Fallgestaltungen, wie sie im Strafverfahrensrecht durch §§ 250 ff. StPO geregelt sind. Bei diesen Vorschriften handelt es sich aber bekanntlich bloß um einen Teilbereich (un-) mittelbarer Beweisführung. Für einen allgemeinen Grundsatz materieller Unmit 198 In diesem Sinne etwa BVerwG VerwRspr. 31, 882, 885 f.; VGH Kassel NJW 1984, 821, 823. Vgl. ferner noch BVerwG DVBl. 1960, 731; NVwZ 1984, 791 sowie BFHE 164, 396. 199 OVG Köln NWVBl. 1989, 378, 380. 200 BVerwG NJW 1992, 1186; DÖV 1993, 536 (Nr. 114); VGH Mannheim VBlBW 1993, 10; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 6; Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 8; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 34; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 3; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 13; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 86 Rdnr. 8; ders., BayVBl. 1999, 321, 323.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

telbarkeit sollen sie demgegenüber eher wenig aussagen.201 Wenn sie sich nicht für ein solches generelles Prinzip im Strafprozess sollen fruchtbar machen lassen können, kann – genau umgekehrt – aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen nicht der Schluss gezogen werden, dass es im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht gilt. Von daher ist eher nach Fallgestaltungen zu suchen, bei denen es um andere Konstellationen geht. In dieser Hinsicht ist ein Urteil des Bundesverwaltungs­ gerichts aus dem Jahre 1997 zu nennen.202 Es hatte darüber zu befinden, ob eine Augenscheinseinnahme durch ein einziges Mitglied des (Berufungs-203)Gerichts dem Grundsatz der Unmittelbarkeit genügt. Dabei macht es zunächst Ausführungen zur Verwertung von Zeugenaussagen im soeben geschilderten Sinne, um aber sogleich festzustellen: „Diese zum Zeugenbeweis entwickelten Grundsätze lassen sich nicht unbesehen auf das Beweismittel des Augenscheins übertragen.“ Wenige Zeilen später stößt man auf den entscheidenden Satz: „Der Grundsatz der Unmittelbarkeit verbietet lediglich, daß sich das Gericht seine Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein entscheidungserheblicher Tatsachen aus entfernteren Erkenntnisquellen verschafft, obwohl unmittelbarere zur Verfügung stehen, die bessere Erkenntnis versprechen.“ Wenngleich das Gericht im Ergebnis den Grund­satz der Unmittelbarkeit als nicht verletzt ansieht, sind seine Ausführungen eher in Richtung eines solchen Gebots materieller Unmittelbarkeit zu ver­stehen. Die verwaltungsgerichtliche Judikatur ist insofern bloß bedingt aus­ sagekräftig. Manche Aussagen sprechen dafür, dass das Prinzip materieller Unmittelbarkeit im Verwaltungsprozess ebenfalls gilt, manche sprechen eher dagegen. Eine Begründung für das eine oder das andere Ergebnis sucht man dabei durchweg vergebens, insbesondere auf der Ebene de lege lata. 2. Gesetzliche Grundlagen Der Ebene des geltenden Rechts soll sich nunmehr zugewendet werden. Dabei bleiben spezielle Einzelfragen, wie etwa die amtliche Auskunft und deren Bezug zum (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatz204, im weiteren Verlauf unerör 201

s. dazu etwa Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 123. Vgl. zu den folgenden Zitaten jeweils BVerwG NVwZ-RR 1998, 524. 203 Auf Unmittelbarkeit als Verfahrensmaxime in der verwaltungsprozessualen Berufung soll – wie schon beim Straf- und Zivilprozess – nicht eingegangen werden. Dies bedarf es schon deshalb nicht, weil in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur insofern unverkennbare Anleihen zu vergleichbaren zivilprozessualen Fragen und Konstellationen gemacht werden, etwa in der Frage, ob es in der Berufungsinstanz der erneuten Vernehmung von schon in der Vorinstanz vernommenen Zeugen bedarf, vgl. hierzu bloß BVerwG VerwRspr. 31, 882, 886. 204 Gesetzliche Regelungen zur (amtlichen) Auskunft finden sich in §§ 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO kann das Gericht „Auskünfte einholen“. Obwohl dies bereits im vorbereitenden Verfahren geschieht, können solchermaßen erhobene (amtliche) Auskünfte zu zulässigen selbstständigen Beweismitteln werden (BVerwG 202

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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tert. Solche Detailprobleme lassen, wie schon mehrfach betont, allenfalls bedingte und keinesfalls zwingende Rückschlüsse auf das allgemeine Problem der Geltung eines (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu. Insofern ist sich mehr allgemeinen Aussagen und den diesbezüglichen gesetzlichen Grundlagen anzunehmen. In dieser Hinsicht geraten die Vorschriften der §§ 96, 98 VwGO sowie noch § 87 Abs. 3 VwGO einerseits und der Untersuchungsgrundsatz gemäß § 86 Abs. 1 VwGO in seinem Zusammenspiel mit der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 VwGO andererseits in den Fokus des Interesses. a) Vorschriften zur Beweisaufnahme (§§ 96, 98, 87 Abs. 3 VwGO) Dabei soll sich zunächst speziellen Vorschriften über die Beweisaufnahme angenommen werden, bevor im Anschluss daran die tragenden Grundsätze über die gerichtliche Amtsermittlungspflicht und freie Beweiswürdigung zur Sprache kommen. Als Vorschrift über die Beweisaufnahme gerät zunächst § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO in den Blick. Er regelt die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Weise, dass das Gericht Beweis in der mündlichen Verhandlung erhebt. Daraus wird der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme abgeleitet205, ohne dass freilich klar wird, ob er sich auf seinen formellen Aspekt beschränkt oder darüber hinaus noch einen irgendwie gearteten materiellen Kern zum Inhalt hat. Als nächste Vorschrift in diesem Zusammenhang ist § 98 VwGO zu nennen, wonach auf die Beweisaufnahme vor den Verwaltungsgerichten u. a. die Vorschriften der §§ 358 bis 444 ZPO Anwendung finden, soweit die Verwaltungsgerichtsordnung nicht abweichende Vorschriften enthält. Von daher verwundert es nicht, dass man bei bestimmten Konstellationen (Richterwechsel nach Beweisaufnahme, Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle und Antrag auf erneute Vernehmung, schriftliche Zeugenvernehmung) im verwaltungsgerichtlichen Schrifttum auf verNVwZ 1986, 35; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 23; Geiger, in: Eyer­mann/Fröhler, VwGO, § 87 Rdnr. 9; Schmid, in: NK-VwGO, § 87 Rdnr. 18; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 13 mit § 96 Rdnr. 9). Die gesetzliche Legitimation dafür liefert § 96 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Er legt den Kreis der Beweismittel nicht abschließend fest („insbesondere“). In Berührung mit dem materiellen Unmittelbarkeitsprinzip kommt die amtliche oder behördliche Auskunft insofern, als dass sie die sonst denkbare Vernehmung von Behördenmitarbeitern ersetzt (Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 9; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 7; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 9). Bei § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO wird dies systemimmanent mit der von Behörden und öffentlichen Stellen ausgehenden Glaubwürdigkeit begründet [vgl. im 4. Teil, 2. Kapitel unter I. 2.]. Weil in den Motiven zu § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 VwGO auf eben diese zivilprozessuale Vorschrift verwiesen wird (BT-Drs. 11/7030, S. 27), liegt es nahe, darauf im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls zu rekurrieren. 205 BVerwG NJW 1994, 1975; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 1; Kopp/ Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 1; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 96 Rdnr. 1; Lang, in: ­NK-VwGO, § 96 Rdnr. 3; Garloff, in: Posser/Wolf, VwGO, § 96 Rdnr. 1; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/ von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 1.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

gleichbare Erwägungen und Überlegungen stößt206, wie sie in der zivilprozes­ sualen Rechtsprechung und Kommentarliteratur angestellt werden, sodass auf die diesbezüglichen Ausführungen, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, verwiesen werden kann. Des Weiteren ist auf § 87 Abs. 3 VwGO aufmerksam zu machen. Danach kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter bereits im vorbereitenden Verfahren einzelne Beweise erheben, soweit „es zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Gericht sachdienlich und von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Bei der Vorschrift handelt es sich um eine Ausnahme vom Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.207 Im Hinblick auf die Beweisprognose, die Ende 1990 durch das Vierte Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung eingeführt wurde208, wird sie aber zugleich wieder relativiert, wie schon deren im Wortlaut mit § 375 ZPO identische Formulierung zeigt. Dass in den Motiven zu § 87 Abs. 3 VwGO nicht auf § 375 ZPO, sondern stattdessen auf § 527 Abs. 2 Satz 2 ZPO verwiesen wird209, ist dabei unschädlich. Zum einen konnte nicht auf § 375 ZPO verwiesen werden, weil er zur Zeit der Neufassung von § 87 Abs. 3 VwGO eine vergleichbare Beweisprognose noch nicht zum gesetzlichen Inhalt hatte210. Im Übrigen, und darin liegt der entscheidendere Grund, unterscheiden sich die Voraussetzungen von § 527 Abs. 2 Satz 2 ZPO einerseits und § 375 ZPO andererseits in diesem Punkt überhaupt nicht. Von daher verwundert es nicht, dass – von der Frage einer Pflicht zur nochmaligen Zeugenvernehmung im Sinne von §§ 98 VwGO, 398 ZPO einmal abgesehen211 – 206 Vgl. zum Richterwechsel nach Beweisaufnahme etwa Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 29; Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 6 sowie zur Verwertung früherer Vernehmungsniederschriften und Antrag auf erneute Vernehmung bloß BVerwG VerwRspr. 31, 882, 885; NJW 1992, 1186; DÖV 1993, 536 (Nr. 114); Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 6; Kopp/Schenke, VwGO, § 96 Rdnr. 8; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 34; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 3 und zur schriftlichen Zeugenvernehmung noch Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 4. 207 Redeker/von Oertzen, VwGO, § 87 Rdnr. 9; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 87 Rdnr. 15 208 BGBl. I S. 2809. 209 BT-Drs. 11/7030 S. 27. 210 § 375 ZPO wurde erst durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2847) um die Beweisprognose ergänzt und damit mehr oder minder gleichzeitig wie § 87 Abs. 3 VwGO geändert. Die entsprechenden Reformarbeiten verliefen jedenfalls parallel – und scheinbar ohne gegenseitige Kenntnisnahme. 211 Vgl. für eine Pflicht Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 87 Rdnr. 15 a. E., wohingegen sie andere in das Ermessen des Gerichts stellen wollen, s. etwa Brink, in: Posser/Wolff, VwGO, § 87 Rdnr. 22 a. E.; Schmid, in: NK-VwGO, § 87 Rdnr. 25 a. E. Die besseren Gründe sprechen für eine Pflicht zur nochmaligen Zeugenvernehmung, wenn sich später herausstellt, dass es zur ordnungsgemäßen Bildung der richterlichen Überzeugung eines unmittelbaren Eindrucks des gesamten Kollegialgerichts bedarf. Schließlich wird schon von den Zivilgerichten das Ermessen in § 398 ZPO entsprechend reduziert [vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b)].

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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weitestgehend identische Kriterien aufgestellt werden, um beurteilen zu können, „ob von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Beim Zeugen als Beweismittel ist Grundvoraussetzung dafür, dass seine Glaubwürdigkeit außer Zweifel steht.212 Wenn dagegen der persönliche Eindruck von der Beweiserhebung ausschlaggebend ist, etwa für die Glaubwürdigkeit, hat das Kollegialgericht in toto die Zeugenvernehmung durchzuführen.213 In einem allgemeineren Sinne verlangt das Bundesverwaltungsgericht für die Anwendung des § 87 Abs. 3 VwGO, dass „das Gericht sich seine aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene Überzeugung (§ 108 VwGO) auch ohne einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von einzelnen festzustellenden Tatsachen […] verschaffen kann“214, worin es von der (Kommentar-) Literatur Zustimmung erfahren hat215. In dieser Formulierung klingt unverkennbar an, dass die Prognose eher deklaratorischer Natur ist, wohingegen der Unmittelbarkeitsgrundsatz konstitutiv im Prinzip der freien Beweiswürdigung und damit de lege lata für den Verwaltungsgerichtsprozess in § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO loziert ist. Eine weitergehende Relativierung auf dem Gebiet der Verwaltungsgerichts­ barkeit könnte der Unmittelbarkeitsgrundsatz aber durch § 96 Abs. 2 VwGO erfahren. Die Vorschrift bestimmt, dass das zur Entscheidung berufene (Prozess-) Gericht „in geeigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung durch eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter Beweis erheben lassen oder durch Bezeichnung der einzelnen Beweisfragen ein anderes Gericht um die Beweis­ aufnahme ersuchen“ kann. Vor dem Hintergrund dieses gesetzlichen Neben- und Miteinanders diverser Vorschriften erhebt sich die Frage, wie es de lege lata um den Unmittelbarkeitsgrundsatz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bestellt ist, insbesondere ob er bloß in seiner formellen Variante zur Geltung kommt oder ebenso in seinem materiellen Kern. Formelle Unmittelbarkeit kann dabei in jedem Falle nicht aus § 355 ZPO geschlussfolgert werden, weil diese Vorschrift gerade nicht über § 98 VwGO für anwendbar erklärt wird. Dessen bedurfte es aber nicht, weil dieser Aspekt des Unmittelbarkeitsprinzips bereits wegen der – zwar nicht im Wortlaut, wohl aber in 212

Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 87 Rdnr. 16 a. E. Hk-VerwR/VwGO/Porz, § 87 Rdnr. 10. 214 BVerwG NJW 1994, 1975. Der Bezug zu § 108 Abs. 1 VwGO und dessen konstitutive Bedeutung für den Unmittelbarkeitsgrundsatz bei Anwendung und Auslegung der Beweis­ prognose im Sinne von § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO klingt noch an anderer Stelle in der Rspr. an. Danach liegt ein – im konkreten Fall allerdings verneinter – Verstoß gegen § 108 Abs. 1 VwGO vor, wenn man sich beim Augenschein mit einem Vorgehen nach § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO begnügt hat, obwohl sich „eine Einnahme des Augenscheins durch sämtliche Richter aufdrängen musste“ (s. hierzu BVerwG NVwZ-RR 2001, 798, 800). 215 Brink, in: Posser/Wolff, VwGO, § 87 Rdnr. 21; Schmid, in: NK-VwGO, § 87 Rdnr. 25; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 87 Rdnr. 15. 213

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

der Sache mit § 355 ZPO identischen216 – Regelung des § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO Einzug in das geltende Verwaltungsprozessrecht gehalten hat. Insofern ist das verwaltungsgerichtliche Verfahren von formeller Unmittelbarkeit beherrscht, wie es insbesondere Rudisile nachgewiesen hat. Er umschreibt dabei – in der Sache ohne Unterschied217 – formelle Unmittelbarkeit als „Grundsatz einer Identität von beweiserhebenden und fallentscheidenden Richtern (erkennender Spruchkörper) ohne das Dazwischentreten von Personen, die die Wahrnehmung vermitteln, und damit die formelle Unmittelbarkeit. Als Gebot formuliert, verlangt die Vorschrift mithin unter dem Aspekt der formellen Unmittelbarkeit, die Identität von beweiserhebenden und fallentscheidenden Richtern bei einer durchzuführenden Beweisaufnahme zu wahren“.218 Im Übrigen aber herrscht Streit über die Bedeutung von § 96 VwGO, wie er bei Rudisile bereits unmittelbar anklingt219: „Was das (scil. die Verkörperung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit in § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO) konkret bedeutet, wird damit aber noch nicht klar. Das Gesetz verwendet den Begriff der Unmittelbarkeit nämlich nicht selbst. Daher bedarf es einer Vergewisserung und Präzisierung, in welcher Weise durch die Norm Unmittelbarkeit verlangt wird. Das setzt –

216 In diesem Sinne etwa Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 98 Rdnr. 3; Redeker/von ­Oertzen, VwGO, § 98 Rdnr. 2. 217 Vgl. zu den sachlichen Anforderungen formeller Unmittelbarkeit im 3. Teil, 6. Kapitel. 218 Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 18 m. w. N. in Fn. 32. Im Übrigen wird formelle Unmittelbarkeit im Verwaltungsprozess noch durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewährleistet: „Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.“ Er regelt damit die freie Beweiswürdigung, die – wie an früherer Stelle ausgeführt [vgl. im 3. Teil, 2. Kapitel unter I. 5. b) bzw. II.] – im Strafwie im Zivilprozess maßgeblich den Gedanken formeller Unmittelbarkeit de lege lata verkörpert. Dieser Bezug zur Beweiswürdigung wird in Kommentierungen zu § 96 VwGO ebenfalls gesehen. Die Vorschrift „führt dazu, dass sämtliche Richter, die über den Fall entscheiden, selbst Kenntnis von den verwendeten Beweismitteln genommen haben. Dies wiederum eröffnet die beste Möglichkeit für eine abschließende sachgerechte Beweiswürdigung, die entscheidend ist für die Richtigkeit der beruhenden Rechtsanwendung“ (Rudisile, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 3). Auf einen Unterschied ist aber dennoch aufmerksam zu machen: Angriffspunkt des strafprozessualen Unmittelbarkeitsbegriffs in seiner formellen Seite war insbesondere die Vermittlung von außer- und vorprozessualen Niederschriften durch das münd­liche Referat eines Berichterstatters [s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II.]. Eben dies lässt das Verwaltungsprozessrecht aber nach wie vor zu. § 103 Abs. 2 VwGO bestimmt, dass nach Aufruf der Sache zu Beginn der mündlichen Verhandlung der Vorsitzende oder der Berichterstatter den wesentlichen Inhalt der Akten vorträgt. Der Sachbericht wird auf diese Weise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie dabei verlesene Urkunden zum Inhalt der Beweisaufnahme, sodass darauf die richterliche Überzeugung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gestützt werden kann (Dolderer, in: NK-VwGO, § 103 Rdnr. 30 ff.; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 103 Rdnr. 10; Kopp/Schenke, VwGO, § 103 Rdnr. 6 mit § 108 Rdnr. 2; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 103 Rdnr. 13 f.; Brüning, in: Posser/Wolff, VwGO, § 103 Rdnr. 8; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 103 Rdnr. 5). Ob dadurch (formelle) Unmittelbarkeit verletzt ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. hierzu Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 98 Rdnr. 305), soll aber an dieser Stelle nicht weiter interessieren. 219 Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 18.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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in einem ersten Schritt – eine Analyse des Unmittelbarkeitsbegriffs voraus und erfordert – in einem zweiten Schritt – die Zuordnung des Norminhaltes zu einem Begriffsverständnis der Unmittelbarkeit.“

Von daher verwundert es nicht, dass die Frage nach der Geltung materieller Unmittelbarkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren kontrovers erörtert wird. Sie kann nicht ausschließlich durch § 96 VwGO beantwortet werden, weil diese Vorschrift – jedenfalls primär220 – formelle Unmittelbarkeit im Blick hat. Dies wird zuweilen übersehen, wenn die Vorschrift dafür herangezogen wird, „dass unmittelbare Beweismittel – sofern vorhanden – den mittelbaren vorzuziehen sind“221. Dies kann nicht aus § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO geschlussfolgert werden, weil die mittelbaren Beweismittel ebenfalls in der mündlichen Verhandlung präsentiert werden (müssen). Vielmehr müssen noch andere Vorschriften in diesbezügliche Überlegungen einbezogen werden. Soweit materielle Unmittelbarkeit im Zivilverfahren maßgeblich über § 375 ZPO in seinen Wechselbezügen mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung hergestellt wird222, könnte Gleiches für das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus § 98 VwGO folgen. Einen Verweis auf § 375 ZPO enthält die Vorschrift jedenfalls. Gleichwohl entspricht es einhelliger Auffassung, dass die Norm im Verwaltungsprozess nicht zur Anwendung kommt.223 Dabei erhebt sich die Frage, warum dies der Fall sein soll und – mehr noch – welche Konsequenzen daraus für die Geltung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu ziehen sind. Es könnte zunächst schlicht aus dem Vorbehalt in § 98 VwGO folgen, wonach die Vorschriften über die zivilprozessuale Beweisaufnahme von Verwaltungsgerichten lediglich „entsprechend anzuwenden“ sind. Diese Einschränkung wird – unter Verweis auf § 173 VwGO – dahingehend verstanden, dass die ZPO-Regelungen entsprechend anzuwenden sind, „wenn die grundsätzlichen Unterschiede 220 Kontrovers diskutiert wird noch die sog. zeitliche Beweisunmittelbarkeit. Darunter versteht man im Zivilprozess das Gebot, den zeitlichen Abstand zwischen Beweisaufnahme und Entscheidung nicht in einem Maße groß werden zu lassen, dass dadurch der unmittelbare Eindruck des Gerichts bei der Entscheidung verblasst (Pantle, Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß, S. 153 f.). Dies soll im gerichtlichen Verwaltungsverfahren nicht gelten (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 96 Rdnr. 24). Ob daran wegen §§ 116, 117 Abs. 4 VwGO nicht zu zweifeln ist, soll an dieser Stelle jedenfalls erwähnt, nicht aber weiter hinterfragt werden. 221 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 3. In der Sache wiederum richtig ist es, wenn zugleich auf die „Koppelung von Beweiserhebung und Entscheidung“ und damit auf das Zusammenspiel von Beweisaufnahme und -würdigung hingewiesen wird, wie es sogleich oben im Text noch näher aufgezeigt wird. 222 Vgl. dazu soeben unter I. 3. c) cc). 223 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 98 Rdnr. 11; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 98 Rdnr. 6; Lang, in: NK-VwGO, § 98 Rdnr. 93 (mit Nachw. zur Rspr. des BVerwG); Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 98 Rdnr. 8; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 98 Rdnr. 4 a. E.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen“.224 Als eine solche grundsätzliche Verschiedenheit wird es angesehen, dass der Verwaltungsprozess – im Unterschied zum zivilgerichtlichen Verfahren – vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht wird.225 Von daher ist zu untersuchen, ob er den Grund dafür liefert, dass § 375 ZPO nicht zur Anwendung kommen soll. Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass die Voraussetzungen von § 375 ZPO der Disposition der Parteien entzogen sind226, sodass es weniger Partei- und Dispo­ sitionsmaxime – im Unterschied zum Offizialprinzip – sind, um daraus auf die Unanwendbarkeit von § 375 ZPO in der Verwaltungsgerichtsbarkeit schlussfolgern zu wollen. Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsprinzips sprechen ebenfalls nicht dagegen, § 375 ZPO über § 98 VwGO unmittelbar zur Anwendung kommen zu lassen. Zeugen sind zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit grundsätzlich persönlich zu vernehmen.227 Dies gilt nicht bloß für das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Vielmehr liegt dieser Gesichtpunkt nicht minder § 250 StPO zugrunde.228 Im Zivil­verfahren wird der Telos von Unmittelbarkeit ebenfalls darin erblickt.229 Dabei handelt es sich allerdings weniger um einen juristischen Aspekt. Vielmehr sind dafür sozialwissenschaftliche Analysen, etwa auf dem Gebiet der Vernehmungspsychologie erforderlich und ausschlaggebend. Solche Analysen kann man aber „in allen Verfahrensarten forensisch fruchtbar machen“.230 Von daher lassen sich im Verhältnis vom Zivil- zum Verwaltungsprozess nicht „grundsätzliche Unterschiede der beiden Verfahrensarten“ ausmachen. Schlussendlich ist es aber weniger ein inhaltliches Argument als vielmehr ein schlichter methodisch-handwerklicher Grund, warum § 375 ZPO nicht gemäß § 98 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren Anwendung findet. Eines Rückgriffs auf die zivilprozessualen Vorschriften über die Beweisaufnahme bedarf es nach der Vorschrift bloß für den Fall, dass die Verwaltungsgerichtsordnung „nicht abweichende Vorschriften enthält“. Insofern wird § 375 ZPO aber als von der spezielleren Norm des § 96 Abs. 2 VwGO verdrängt bzw. ersetzt angesehen.231 Von daher sind es weniger inhaltliche Argumente und jedenfalls nicht grundsätzliche 224

Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 98 Rdnr. 1. Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 98 Rdnr. 1; Geiger, in: Eyermann/ Fröhler, VwGO, § 98 Rdnr. 1; ders., BayVBl. 1999, 321; Lang, in: NK-VwGO, § 98 Rdnr. 4 f.; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 98 Rdnr. 1; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 98 Rdnr. 1. 226 Vgl. näher im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). Dies wird freilich dadurch relativiert, dass gerichtliche Verstöße gegen § 375 ZPO der Heilung gemäß § 295 Abs. 1 ZPO unterliegen, s. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. 227 Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 3. 228 Vgl. dazu im 2. Teil, 4. Kapitel. 229 s. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 3. 230 Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 150. 231 Lang, in: NK-VwGO, § 98 Rdnr. 93 (mit Nachw. zur Rspr. des BVerwG); Bader/FunkeKaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 98 Rdnr. 11; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 98 Rdnr. 6; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 98 Rdnr. 4 a. E.; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 98 Rdnr. 8. 225

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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Unterschiede zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsprozess, warum materielle Unmittelbarkeit nicht über § 375 ZPO und seinen Interdependenzen zur freien Beweiswürdigung im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Tragen kommt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Grundsatz materieller Unmittelbarkeit im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit dennoch eine – im Vergleich zum Zivilprozess weitergehende – Einschränkung erfährt. Dies könnte angesichts von § 96 Abs. 2 VwGO der Fall sein. Danach kann das (Prozess-)Gericht „in geeigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung durch eines seiner Mitglieder als beauftragten Richter Beweis erheben lassen oder durch Bezeichnung der einzelnen Beweisfragen ein anderes Gericht um die Beweisaufnahme ersuchen“. Vor dem Hintergrund dieser Vorschrift muss geklärt werden, ob und wie sie sich auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz auswirkt. Es lässt sich nicht bestreiten, dass § 96 Abs. 2 VwGO eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsprinzips bzw. Abweichung davon ist.232 Weil es aber in sämtlichen Verfahrensordnungen Ausnahmen erfährt, ist damit noch nicht gesagt, dass materielle Unmittelbarkeit im Verwaltungsprozess größeren Relativierungen unterliegt. Ein Vorgehen nach § 96 Abs. 2 VwGO ist nämlich bloß „in geeigneten Fällen“ opportun. Insofern ist man sich unisono darin einig, dass bei dieser Eignungsbeurteilung auf § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO zurückzugreifen ist.233 Ein geeigneter Fall im Sinne von § 96 Abs. 2 VwGO ist von daher bloß gegeben, wenn „von vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne unmittel­baren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Auf diese Weise wird, wie schon an der gleichlautenden Prognose des § 375 ZPO näher aufgezeigt234, materielle Unmittelbarkeit zu einem Kriterium für die Be­ urteilung eines geeigneten Falles. Dass § 375 ZPO über § 98 VwGO nicht zur Anwendung kommen soll, ändert daran im Ergebnis nichts. Schon in der Kommentarliteratur wird darauf hingewiesen, dass die Grundsätze des § 375 ZPO bei der Auslegung des geeigneten Falles im Sinne von § 96 Abs. 2 VwGO herangezogen bzw. berücksichtigt werden (können)235, sodass jedenfalls im Ergebnis die Ersetzung bzw. Verdrängung des § 375 ZPO durch § 96 Abs. 2 VwGO ohne substanziellen Unterschied ist, weil „bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs ‚in geeigneten Fällen‘ im Wesentlichen die gleichen Grundsätze gelten, wie sie 232 Redeker/von Oertzen, VwGO, § 96 Rdnr. 2; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 10; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 12; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 9; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 11. 233 BVerwG NJW 1994, 1975; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 13; Bader/Funke-Kaiser/ Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 96 Rdnr. 11; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 96 Rdnr. 2; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 12; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 96 Rdnr. 13. Die Parallele klingt bereits in den gesetzgeberischen Motiven zu § 87 Abs. 3 VwGO an, vgl. BT-Drs. 11/7030 S. 27. 234 Vgl. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5 b). 235 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 98 Rdnr. 11; Garloff, in: Posser/ Wolff, VwGO, § 98 Rdnr. 8.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

in § 375 ZPO niedergelegt sind“.236 Das Bundesverwaltungsgericht betont ebenfalls die Übereinstimmung im Wortlaut zwischen § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO einerseits und § 527 Abs. 2 Satz 2 ZPO andererseits237, der wiederum dieselbe Prognose wie § 375 ZPO enthält. Von daher wirkt es einigermaßen müßig und jedenfalls wie ein dogmatisches Glasperlenspiel, § 375 ZPO zunächst für unanwendbar zu erklären, im Ergebnis aber dennoch auf seine Kriterien zurückzugreifen. In jedem Falle kommen sie bei Anwendung und Auslegung von § 96 Abs. 2 VwGO zum Zuge. Dabei zeigt sich, wie schon bei § 375 ZPO238, dass § 96 Abs. 2 VwGO nicht bloß als Vorschrift über die Beweisaufnahme angesehen werden kann, sondern vielmehr einen unmittelbaren Bezug zur Beweiswürdigung aufweist. Es darf nach dieser Norm nämlich bloß für den Fall vorgegangen werden, dass sich das Gericht seine gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO für die Entscheidung erforderliche Überzeugung im Rahmen der freien Beweiswürdigung selbst ohne einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von einzelnen festzustellenden Tatsachen und den hierfür aufgebotenen Beweismitteln verschaffen kann.239 Einmal mehr zeigt sich in solchen Ausführungen, dass es der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist, der de lege lata konstitutiv für materielle Unmittelbarkeit ist. b) Untersuchungsgrundsatz gemäß § 86 Abs. 1 VwGO Daneben ist noch auf § 86 Abs. 1 VwGO einzugehen, wonach das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht. Die Vorschrift erhebt auf diese Weise den Untersuchungsgrundsatz – oder Amtsermittlungsgrundsatz bzw. Inquisitionsmaxime – zum wesentlichen Grundsatz des Verwaltungsprozessrechts und ist damit von ebenso grundsätzlicher Bedeutung wie erheblicher Tragweite für das Procedere des Gerichts.240 Darauf im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz näher einzugehen, ist schon deshalb angezeigt, weil der Strafprozess ebenfalls von der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht beherrscht wird (§ 244 Abs. 2 StPO). § 86 Abs. 1 VwGO darf jedoch nicht isoliert für sich betrachtet werden. Vielmehr ist er in Beziehung zu einem anderen tragenden Prozessprinzip zu setzen. In dieser Hinsicht heißt es zuweilen etwas lapidar, dass er im Zusammenhang mit § 108 Abs. 1 VwGO und dem darin de lege lata lozierten Grundsatz der freien Be-

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Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 98 Rdnr. 6. BVerwG NJW 1994, 1975. 238 s. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. b). 239 BVerwG NJW 1994, 1975; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 13; Garloff, in: Posser/Wolff, VwGO, § 96 Rdnr. 12; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 96 Rdnr. 2. 240 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 1; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 86 Rdnr. 1; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 1; Geiger, in: Eyermann/ Fröhler, VwGO, § 86 Rdnr. 1 mit Rdnr. 2; ders., BayVBl. 1999, 321. 237

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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weiswürdigung zu sehen ist.241 Insofern soll der Untersuchungsgrundsatz aus § 86 Abs. 1 VwGO dem Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 VwGO dienen, denn die Bildung der richterlichen Überzeugung setzt eine möglichst genaue und ausreichende Erforschung des Sachverhalts voraus.242 Dazu ist zu bemerken, dass der Zivilprozess, wie es im verwaltungsgerichtlichen Schrifttum durchaus gesehen wird243, gemäß § 286 ZPO ebenfalls unter dem Aspekt der freien Beweis­würdigung entschieden wird, ohne dass er freilich vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht wäre, sondern vielmehr vom Beibringungs- und Verhandlungsgrundsatz als diametralem Gegensatz dazu. Von einem sozusagen zwingend erforderlichen Zusammenhang zwischen Untersuchungsgrundsatz und freier Beweiswürdigung kann von daher nicht die Rede sein. Darüber hinaus dürfen Interdependenzen zum materiellen Recht nicht verkannt und übersehen werden. Sie werden in Rechtsprechung und (Kommentar-)Literatur zu § 86 Abs. 1 VwGO darin gesehen, dass Inhalt und Umfang der Amtsermittlungspflicht durch die Tatbestandsmerkmale der Normen bestimmt werden, welche für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch zur Anwendung kommen. Von daher befindet das Gericht darüber, welche Tatsachen zur Entscheidung des konkreten Streitfalls nach seiner Rechtsauffassung aufklärungsbedürftig sind.244 In dieser Hinsicht bestimmt der Tatbestand der materiell-rechtlichen Anspruchs- oder Ermächtigungsgrundlage den Umfang der nach § 86 Abs. 1 VwGO erheblichen festzustellenden Tatsachen245, worin sich unverkennbare Inter­ dependenzen zwischen der Untersuchungsmaxime einerseits und dem materiellen Recht andererseits zeigen. Dieser allgemeine Bezug wird in speziellen Fallgestaltungen konkretisiert, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Diskussion zum Unmittelbarkeitsprinzip zu sehen sind. Grundsätzlich ist die Art und Weise der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung in das Ermessen des Gerichts gestellt.246 Dieses Ermessen wird indes in Konstellationen reduziert, in denen sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von der entscheidungserheblichen Tatsache verschaffen muss. Dies ist etwa der Fall, wenn die entscheidungserhebliche Norm einen Eindruck für rechtserheblich erklärt, den eine Tatsache auf andere macht. In diesen Fällen ist es erforderlich, dass sich das erkennende Gericht durch Inaugenscheinnahme selbst unmittel 241 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 2; Breunig, in: Posser/ Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 2. 242 BVerwGE 70, 222, 225; 85, 92, 94; BVerwG DVBl. 1989, 893; Kopp/Schenke, VwGO, § 86 Rdnr. 1 mit Rdnr. 5; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 20. 243 Kopp/Schenke, VwGO, § 86 Rdnr. 5. 244 BVerwGE 70, 216, 221; BVerwG NJW 1985, 393, 394; Kopp/Schenke, VwGO, § 86 Rdnr. 4; Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 86 Rdnr. 6; ders., BayVBl. 1999, 321, 322 f.; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 15 mit Rdnr. 29; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/ von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 18; Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rdnr. 8. 245 Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 29. 246 BVerwGE 2, 135, 136; Höfling/Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rdnr. 50. Vgl. ferner zur gleich lautenden Vorschrift des § 103 SGG noch BSGE 30, 192, 205.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

bar diesen Eindruck verschafft.247 Auf diese Weise wird ein unmittelbarer Bezug zwischen dem materiell-sachlichen Recht auf der einen und dem Umfang des Untersuchungsgrundsatzes auf der anderen Seite hergestellt. Damit ist freilich noch nicht gesagt, weil es sich schlicht um eine Konsequenz der – besonders im Zivilverfahren betonten248 – dienenden Funktion des Prozessrechts im Verhältnis zum materiellen Recht handeln kann249, dass der Unter­suchungsgrundsatz der gesetzliche Hort vom (materiellen) Unmittelbarkeitsprinzip ist. Weil es in seiner materiellen Variante de lege ferenda vom Primat unmittelbarer Beweismittel gegenüber Beweismittelreproduktionen ausgeht250, ist danach zu schauen, wie sich Rechtsprechung und Schrifttum zu § 86 Abs. 1 VwGO in dieser Frage verhalten. Sie sprechen eine relativ deutliche Sprache wider materielle Unmittelbarkeit in diesem Sinne. Eine Rangordnung unter den Aufklärungsmitteln soll dem Gesetz nämlich gerade nicht entnommen werden (können). Allen­ falls im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung vermag dieser Aspekt eine Rolle spielen zu können.251 In der Sache ähnlich heißt es noch, dass aus dem Gebot der vollständigen und objektiven Sachaufklärung das Verbot der Auswahl und Selektion von Beweismitteln folgt252, wie es materielle Unmittelbarkeit in der Sache aber gerade tut. In dieser Hinsicht scheint das verwaltungsgerichtliche Verfahren nicht zwingend von materieller Unmittelbarkeit beherrscht zu sein, jedenfalls nicht kraft der Untersuchungsmaxime aus § 86 Abs. 1 VwGO. Weitere Nahrung erhält diese Annahme, wenn man sich dahingehend umtut, inwiefern sich Verwaltungsgerichte bereits von anderen Institutionen (Gerichte oder 247 Rixen, in: NK-VwGO, § 86 Rdnr. 50 (Hervorhebung nicht im Original) unter Berufung auf BSG MDR 1994, 812, 813. Das BSG hatte über die Frage zu befinden, „ob sich aus der Gesichtsentstellung des Klägers eine beachtliche Minderung der Erwerbsfähigkeit ergibt“. Nachdem es zunächst ausführt, dass die Frage, „mit welchen Beweismitteln das Gericht seine Pflicht zur Amtsermittlung erfüllt“, zwar weitgehend in seinem Ermessen liegt, wozu regelmäßig die Entscheidung gehört, „ob es sich von einer rechtserheblichen Tatsache durch unmittelbare Wahrnehmung oder durch Zeugen, Sachverständige, Urkunden, Pläne und Fotografien zuverlässig informiert“. Daneben gibt es aber Fälle, „in denen sich das Gericht einen unmittelbaren Eindruck von der rechtserheblichen Tatsache verschaffen muss“, insbesondere „wenn das Gesetz nicht eine meßbare und eindeutig beschreibbare, sondern den Eindruck für rechtserheblich erklärt, den eine Tatsache auf die Allgemeinheit macht und gerade über diesen Eindruck gestritten wird“. Neben dem Beispiel einer Gesichtsentstellung nennt das BSG aus anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit noch, dass im Baurecht – und damit im Verwaltungsgerichtsprozess – über Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes gestritten wird bzw. im Wettbewerbsrecht – und damit im zivilgerichtlichen Verfahren – Verwechslungsgefahr oder Irreführung im Streit stehen. 248 Vgl. dazu an früherer Stelle im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. 1. 249 Es ist unbestritten, dass der Verwaltungsprozess ebenfalls der Verwirklichung und Durchsetzung des materiellen Rechts dient, s. hierfür lediglich Lorenz, Verwaltungsprozeßrecht, § 1 Rdnr. 2: „Das Prozeßrecht stellt keinen Selbstzweck dar, sondern ist auf die Verwirklichung des materiellen Rechts ausgerichtet, […] hat also dienende Funktion“. 250 Vgl. im 8. Kapitel unter II. 251 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 14. 252 BVerwGE 85, 92, 95; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 86 Rdnr. 7; Bader/Funke-Kaiser/ Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 8.

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Behörden) gemachte Feststellungen zu eigen machen dürfen. Danach ist die Verwertung einer im arbeitsgerichtlichen Verfahren gewonnenen und schriftlich fixierten Aussage eines Zeugen im Verwaltungsgerichtsprozess ohne Weiteres zulässig253, wohingegen es im Strafprozess bloß unter den Voraussetzungen von § 251 StPO erfolgen darf. Dies soll darüber hinaus nicht bloß für Niederschriften über gerichtliche Zeugenvernehmungen gelten. Vielmehr sollen selbst in Verwaltungsakten festgehaltene Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten vom Verwaltungsgericht zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung gemacht werden dürfen.254 In Behördenakten enthaltene Beweis- oder Ermittlungsergebnisse werden nämlich als zulässige und taugliche Aufklärungsmittel angesehen.255 In dieser Hinsicht schließt die Befugnis zur eigenständigen umfassenden (Neu-) Ermitt­lung es nicht aus, dass das Gericht die behördlichen Tatsachenerkenntnisse in eigener Verantwortung übernimmt.256 Es kann die behördlicherseits getroffenen Tatsachenfeststellungen zur Grundlage der eigenen Entscheidung machen, jedenfalls soweit sie überzeugend sind und durch den Vortrag der Beteiligten nicht in Zweifel gezogen oder sonst „erschüttert“ werden.257 Vor diesem Hintergrund wird materielle Unmittelbarkeit im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit eher nicht über den Untersuchungsgrundsatz aus § 86 Abs. 1 VwGO gewährleistet. c) Freie Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO Damit kommt unweigerlich die Frage auf, ob materielle Unmittelbarkeit im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit de lege lata ausschließlich oder jedenfalls primär durch das Prinzip der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verwirklicht wird. Um es in Erinnerung zu rufen: In der Sache soll mate­rielle Unmittelbarkeit eine Rangfolge unter den Beweismitteln dergestalt statuie­ren, dass dem sachnäheren (unmittelbaren) Beweismittel der Vorzug vor dem sachferneren, bloß mittelbaren Beweismittel zukommen, es insbesondere einen Vorrang des Originalbeweismittels vor – vom Original bloß abgeleiteten – Beweissurrogaten bzw. -reproduktionen geben soll.258 Daraufhin sind nunmehr Recht­sprechung und Schrifttum zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu untersuchen. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht vom Gedanken materieller Unmittelbarkeit beherrscht zu sein. Es ist unisono die Rede davon, dass es eine Rangordnung zwischen verschiedenen Beweismitteln regelmäßig nicht geben soll, weil sich die 253 OVG Münster NWVBl. 1989, 378, 380 sowie ferner noch sogleich die Nachw. in Anm. 259 (S. 246). 254 Geiger, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 86 Rdnr. 8. 255 BVerwGE 69, 70, 73; 74, 222, 223 unten; VGH Mannheim VBlBW 1993, 10; Bader/ Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 86 Rdnr. 13. 256 Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 86 Rdnr. 20 a. E. 257 Kopp/Schenke, VwGO, § 86 Rdnr. 8. 258 Vgl. im 8. Kapitel unter II.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung damit nicht vertragen würde.259 Aber schon die Formulierung „regelmäßig“ zeigt, dass diesbezügliche Ausnahmen und Einschränkungen durchaus denkbar sind. Aus der (Kommentar-)Literatur am intensivsten damit befasst haben sich Höfling/Rixen. Sie nehmen Einschränkungen der Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung unter dem Gebot der Rationalität dieser Überzeugungsbildung vor. Unter diesem Gesichtspunkt ist gerade der Umgang mit sog. mittelbaren Beweismitteln wichtig, wie etwa dem Zeugen vom Hörensagen, dessen Kenntnisse auf den Erzählungen des Augenzeugen beruhen. Dadurch wird die „Erkenntniskette“ wesentlich länger: Wahrnehmung des Geschehens durch den unmittelbaren Augenzeugen, Wiedergabe an den Zeugen vom Hörensagen, dessen Schilderung gegenüber dem Richter und schließlich die richterliche Wahrnehmung. Die mehrfache Möglichkeit, bei Wahrnehmung und Rekonstruktion Fehler zu machen, begründet eine geringere Zuverlässigkeit dieses mittelbaren Beweises. Der Richter muss, um nicht § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu verletzen, diese Fehleranfälligkeit bei seiner Überzeugungsbildung berücksich­ tigen.260 Darin zeigt sich, dass der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit durchaus im verwaltungsgerichtlichen Verfahren seine Beachtung erfährt. Damit stellt sich die Frage, ob dies – im vorstehenden Sinne – erst auf der Ebene der Beweiswürdigung oder schon im Rahmen der Beweisaufnahme erfolgt bzw. ob man diese beiden Stadien überhaupt derart gegeneinander „ausspielen“ sollte. Bei der Erörterung des § 86 Abs. 1 VwGO, worin der Untersuchungsgrundsatz für den Verwaltungsgerichtsprozess de lege lata loziert ist, wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass deren Kommentatoren den engen Bezug der Amtsermittlungsmaxime zum Prinzip der freien Beweiswürdigung betonen. In Rechtsprechung und Schrifttum zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO tut man es nicht minder. Er steht in Zusammenhang mit der Pflicht zur umfassenden Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen und ergänzt diesen.261 Der Grundsatz der freien Beweiswür 259

Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 14; Höfling, in: NK-VwGO, § 108 Rdnr. 46. Wenn Gleiches von Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 108 Rdnr. 9 mit Rdnr. 11 angenommen wird, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass an selber Stelle schon bei der Kommentierung des § 86 Abs. 1 VwGO die Rede davon ist, dass eine Rangordnung unter den Aufklärungsmitteln dem Gesetz nicht entnommen werden kann, dies aber im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung eine Rolle spielen kann (ebd., § 86 Rdnr. 14), ohne darauf bei der Kommentierung des § 108 VwGO freilich zurückzukommen. 260 Höfling/Rixen, in: NK-VwGO, § 108 Rdnr. 62 a. E. unter Hinweis auf die – sich mit Strafprozessrecht befassende – Entscheidung BVerfGE 57, 250, 276. Vgl. im selben Sinne ferner noch Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 108 Rdnr. 25. Ob sich dies auf einen – im Rahmen des bei § 108 VwGO ebenfalls zu beachtenden (BverwGE 47, 330, 361; Höfling, in: NK-VwGO, § 108 Rdnr. 49 mit Rdnr. 81; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 12 ff.; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 108 Rdnr. 11; Schmidt, in: Eyermann/ Fröhler, VwGO, § 108 Rdnr. 6) – Erfahrungssatz zurückführen lässt, wird später zu untersuchen sein, vgl. unter IV. 2. 261 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 108 Rdnr.1; Kopp/Schenke, VwGO, § 108 Rdnr. 4; Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 3. Dabei werden, wie schon beim Untersuchungsgrundsatz, Interdependezen der freien Beweiswürdigung im Verhältnis zum ma-

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digung wird in dieser Hinsicht verletzt, wenn dass Gericht von einem unvollständigen Sachverhalt ausgeht, selbst wenn die auf dem unvollständigen Sachverhalt basierende Beweiswürdigung als solche nicht zu beanstanden ist.262 Das Gebot freier Überzeugungsbildung verpflichtet vielmehr dazu, sich zunächst die ge­ eigneten tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, auf denen eine Überzeugungsbildung überhaupt erst möglich ist. Die richterliche Überzeugungsbildung wie die freie Beweiswürdigung setzen insoweit immer eine ausreichende Klärung und Erforschung des Sachverhalts nach § 86 Abs. 1 VwGO voraus.263 In solchen Formulierungen zeigt sich der Zusammenhang zwischen Untersuchungsgrundsatz einerseits und freier Beweiswürdigung andererseits. Von daher ist zu klären, an welcher Stelle materielle Unmittelbarkeit zu ver­ orten ist und ob man sich diesbezüglich überhaupt zwingend festlegen muss, weil die genannten grundlegenden Prinzipien, wie geschildert, ohnehin aufeinander bezogen sind. Stimmen im Schrifttum scheinen ein leichtes Übergewicht der freien Beweiswürdigung präferieren zu wollen. Nachdem man zunächst den Zusammenhang zwischen § 108 Abs. 1 Satz 1 und § 86 Abs. 1 VwGO betont und ausführt, dass das Gericht erst die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen vollständig ermitteln muss, bevor es darauf seine Überzeugung stützen darf, heißt es wortwörtlich weiter264: „Der Amtsermittlungsgrundsatz gewinnt deshalb seine Bedeutung erst im Einklang mit dem auf seiner Grundlage herbeigeführten Gesamtergebnis des Verfahrens, das wiederum die Grundlage der richterlichen Überzeugung ist.“

Wenn man diese Aussage auf materielle Unmittelbarkeit übertragen will, wird man es in der Weise tun (müssen), dass der Verstoß dagegen, etwa die Ver­nehmung des Zeugen vom Hörensagen statt des Augenzeugen, für sich betracht noch rechtlich bedeutungslos ist, wenn man in der Beweiswürdigung „bloß“ ausführt, warum man es getan hat, wozu man als Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO verpflichtet ist. Erst dadurch wird der auf der Ebene der Beweisaufnahme rechtlich noch irrelevante Verstoß gegen materielle Unmittelbarkeit zu einem (echten) Rechtsfehler im Rahmen der Beweiswürdigung. Damit ist zugleich gesagt, dass materielle Unmittelbarkeit im Verwaltungsprozessrecht de lege lata primär über den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 VwGO gewährleistet wird.

teriellen Recht nicht in Abrede gestellt, vgl. hierfür etwa Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 12.1; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 108 Rdnr. 9. 262 Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, § 108 Rdnr. 7; Breunig, in: Posser/ Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 3 a. E. 263 BVerwG NVwZ 1987, 217, 218; NVwZ 2003, 224, 225; VBlBW 1995, 136; Kopp/ Schenke, VwGO, § 108 Rdnr. 4 a. E.; Redeker/von Oertzen, VwGO, § 108 Rdnr. 3; Schmidt, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, § 108 Rdnr. 2. 264 Breunig, in: Posser/Wolff, VwGO, § 108 Rdnr. 3 (Hervorhebung nicht im Original).

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

3. Fazit Das verwaltungsgerichtliche Verfahren kennt ebenfalls den Grundsatz der (materiellen) Unmittelbarkeit. Dabei findet er weniger Beachtung im Rahmen der vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Beweisaufnahme. Vielmehr kommt er erst und primär im Rahmen der Beweiswürdigung zum Tragen. Von daher wird er für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit de lege lata durch das Prinzip der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO garantiert.

III. Unmittelbarkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit Am Ende der verfahrensvergleichenden Betrachtung soll noch auf das Ver­ fahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit eingegangen werden, und zwar nicht von ungefähr. Schließlich hat es einen tragenden Verfahrensgrundsatz mit dem Strafprozess gemeinsam. Beide Gerichtszweige sind von der Amtsermittlungsmaxime beherrscht. Dabei wird sie in einem Punkt sogar noch strikter umgesetzt. Anders als der Strafprozess, der von einer anderen Institution initiiert wird, kann ein Verfahren auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit, jedenfalls in gewissen Fällen, vom Gericht selbst in Gang gesetzt werden. Von daher erscheint es im besonderen Maße angezeigt, einmal zu untersuchen, ob und in welchem Maße sowie in welcher Weise de lege lata der Unmittelbarkeitsgrundsatz – von speziellen Vorschriften einmal abgesehen265 – in allgemeiner Hinsicht im Verfahren der freiwil­ ligen Gerichtsbarkeit verankert ist. 1. Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in FGG-Verfahren Wenn man sich der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuwendet, sieht man sich damit konfrontiert, dass sie im Herbst 2009 eine grundlegende Reform erfahren hat, die sich unmittelbar auf die vorliegend relevanten Vorschriften auswirkt. Zum bes­ 265

Exemplarisch sei in dieser Hinsicht auf die Regelungen zur persönlichen Anhörung in Kindschaftssachen hingewiesen (§§ 159 ff. FamFG). § 50b Abs. 1 FGG brachte dabei den Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz dadurch – noch stärker als sein Nachfolger in § 159 Abs. 1 FamFG – zum Ausdruck, indem er die Anhörung des Kindes vorschrieb, „wenn es zur Feststellung des Sachverhalts angezeigt erscheint, dass sich das Gericht von dem Kind einen unmittelbaren Eindruck verschafft“. Solche besonderen Vorschriften sollen aber nicht weiter untersucht werden, weil schon mehrfach an früherer Stelle aufgezeigt worden ist, dass spezielle Vorschriften allenfalls bedingte, keinesfalls aber zwangsläufige Rückschlüsse für die allgemeine Geltung des (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes innerhalb der einzelnen Verfahrensordnung zulassen. Ebenfalls ausgeklammert bleibt im Folgenden die – zuvörderst formelle Unmittelbarkeit berührende – Frage, inwiefern sich das Gericht die Ermittlungen von Behörden, etwa des Jugendamtes in Sorgerechtsverfahren (vgl. dazu nunmehr § 162 FamFG), zu Eigen machen kann, s. dazu einerseits OLG Frankfurt/M. FamRZ 1992, 206, 208 m. w. N. und andererseits Kollhosser, ZZP 93 (1980), 265, 279; Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181, 187 m. w. N.

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seren Verständnis erscheint es von daher angezeigt, zunächst einen Überblick über die Rechtslage unter Geltung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) zu bieten. Anschließend werden die Änderungen durch das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) dargestellt. Dabei wird sich zeigen (müssen), ob es zu inhaltlichen Veränderungen gekommen ist oder es sich um mehr semantische Unterschiede handelt, sodass im weiteren Verlauf bezüglich der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht mehr streng zwischen früherer und aktueller Gesetzeslage differenziert werden muss. a) Rechtslage vor der FGG-Reform vom Herbst 2009 Bis zum Herbst 2009 war das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) ge­regelt. Wenn man sich im Gesetz danach umtut, ob und auf welche Weise es de lege lata (materielle) Unmittelbarkeit im Bereich der Beweisaufnahme gewährleisten könnte, fallen zwei Vorschriften ins Blickfeld. § 15 Abs. 1 Satz 1 FGG bestimmte in dieser Hinsicht zunächst, dass die „Vorschriften der Zivilprozeßordnung über den Beweis durch Augenschein, über den Zeugenbeweis, über den Beweis durch Sachverständige und über das Verfahren bei der Abnahme von Eiden […] entsprechende Anwendung“ finden. Daneben ist auf § 12 FGG hinzuweisen, worin der Amtsermittlungsgrundsatz wie folgt normiert war: „Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranstalten und die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen.“

Damit statuierte die Vorschrift nicht bloß die Amtsermittlungsmaxime, sondern war zugleich von unmittelbarer Relevanz für die Beweisaufnahme selbst. Von daher kommt geradezu zwangsläufig die Frage auf, nach welcher Vorschrift sich die Beweisaufnahme im Einzelfall zu richten hatte, ob nach § 15 oder nach § 12 FGG. Welchen Weg das Gericht wählte, orientierte sich wiederum am Maßstab des § 12 FGG. Er ist vom BGH bereits relativ frühzeitig in seiner Rechtsprechung in einer wegweisenden Entscheidung wie folgt bestimmt und konkretisiert worden266: „In einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit – und zwar nicht nur in den von Amts wegen einzuleitenden Verfahren, sondern auch im Antragsverfahren, insbesondere auch in den sog. streitigen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit – gilt der Grundsatz der Amtsprüfung. Das Gericht hat von Amts wegen nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen (§ 12 FGG). Nach seinem pflichtgemäßen Ermessen hat das Gericht auch darüber zu befinden, ob und wieweit es eine förmliche Beweisaufnahme durchführen oder formlose Ermittlungen vornehmen soll.“ 266 BGHZ 39, 110, 113 f. (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. aus der Rspr. ferner noch BGHZ 40, 54, 57; KG NJW 1961, 2066; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1962, 173, 174; BayObLG NJW-RR 1996, 583, 584.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Das Schrifttum zur freiwilligen Gerichtsbarkeit hatte sich dieser Auffassung weitestgehend angeschlossen.267 Aus § 12 FGG wurde „geschlussfolgert, dass es dem pflichtgemäßen Ermessen des Richters überlassen bleibt, auf welche Art und Weise er den Sachverhalt aufklärt: formlos mit allen sachgemäßen Mitteln oder formal durch eine Beweisaufnahme, für die dann die Regeln der ZPO entsprechend gelten (§ 15 FGG). Er hat also die Wahl zwischen Freibeweis und Strengbeweis, und innerhalb des Freibeweises die Wahl zwischen den sachgemäßen Aufklärungsmitteln“, heißt es etwa ganz in diesem Sinne bei Baur/Wolf.268 Stimmen im Schrifttum, die daran deuteln oder zweifeln wollten, sind in der Minderheit geblieben.269 Vor dem Hintergrund dieses Meinungsbildes kam es im Herbst 2009 zu einer umfassenden FGG-Reform. b) Rechtslage nach der FGG-Reform vom Herbst 2009 Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Durch die FGG-Reform vom Herbst 2009 sieht sich die h. M. endgültig bestätigt. Dabei hat sich das gesetzliche Gefüge der einzelnen Vorschriften nicht unmaßgeblich geändert. In dieser Hinsicht handelt es sich um „einen Schwerpunkt der Reform des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit“.270 Zugleich wird die von der h. M. propagierte Wahlfreiheit – im Vergleich zum bisherigen Recht – de lege lata deutlicher herausgestrichen und betont. Damit wird, um mit Schulte-Bunert zu sprechen271, der Rechtspraxis „ein Instrumentarium an die Hand gegeben, welches klarere Abgrenzungen hinsichtlich Erforderlichkeit und Möglichkeit von Frei- und/oder Strengbeweis aufzeigt“. Das (Verfahrens-)Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit findet sich seit Herbst 2009 im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegen­heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), das im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG) am 17. Dezember 2008 verabschiedet worden ist.272 Soweit es dabei das Recht der Beweisaufnahme betrifft, erscheint es auf den ersten Blick (etwas) komplizierter geworden 267 Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 156; Zimmermann, Rpfleger 1967, 329, 331; Pillhofer, FamRZ 1982, 765, 767 – jeweils m. w. N. 268 Baur/Wolf, Grundbegriffe des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 74. 269 Für einen grundsätzlichen Vorrang des Strengbeweisverfahrens aber Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten im Erkenntnisverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S.  184 ff.; ders., ZZP 93 (1980), 265, 273 („Priorität des Strengbeweisverfahrens für die Aufklärung jedenfalls des materiellrechtlich erheblichen Sachverhalts“ – Hervorhebung nicht im Original); Richter, Rpfleger 1969, 261, 265; Pohlmann, Rpfleger 1992, 484, 485; dies., ZZP 106 (1993), 181, 209 ff. Durch die sogleich oben im Text angesprochene Gesetzesänderung ist diese Meinung de lege lata jedoch obsolet geworden. 270 Schulte-Bunert, Das neue FamFG, Rdnr. 155 (Hervorhebung nicht im Orginal). 271 Ebd. 272 BGBl. I S. 2586.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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zu sein, weil nunmehr drei Vorschriften von unmittelbarer Relevanz sind. Im Ergebnis bleibt es aber dabei, dass die bisherige Rechtslage in der Sache unver­ändert bleibt, aber klarer als bislang unmittelbar im Wortlaut des Gesetzes selbst ver­ ankert (worden) ist. § 26 FamFG erweist sich dabei als Nachfolgeregelung zu § 12 FGG, wenngleich ein Unterschied nicht zu leugnen ist. Er ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut von § 26 FamFG selbst, der wie folgt lautet: „Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tat­ sachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.“

Wenn man einmal von der sprachlich moderneren Formulierung („durchzuführen“ statt „zu veranstalten“) und der gesetzlichen Fixierung auf entscheidungs­ erhebliche Tatsachen absieht273, ist der Unterschied des § 26 FamFG zu § 12 FGG augenfällig. Die Beweisaufnahme selbst wird nicht mehr in der grundlegenden Norm zur gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht erwähnt, sondern bleibt vielmehr anderen Vorschriften vorbehalten. Dafür sind nunmehr in §§ 29, 30 FamFG Regelungen vorgesehen. Dabei regeln § 29 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 30 Abs. 1 FamFG die „Beweiserhebung“ bzw. die „förmliche Beweisaufnahme“ wie folgt: „Das Gericht erhebt die erforderlichen Beweise in geeigneter Form. […].“ „Das Gericht entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es die entscheidungserheb­ lichen Tatsachen durch eine förmliche Beweisaufnahme entsprechend der Zivilprozessordnung feststellt.“

Der Gesetzgeber stellt in den Motiven klar, dass es trotz dieser Neuregelung und deren Verhältnis zu § 26 FamFG beim bisherigen Recht bleibt. Dabei betont er zunächst, dass § 26 FamFG den Grundsatz der Amtsermittlung aus § 12 FGG übernimmt, überantwortet jedoch die Ausgestaltung im Einzelnen den Vorschriften der §§ 29, 30 FamFG.274 In den Motiven zu diesen Vorschriften findet sich darüber hinaus der Hinweis, dass Gerichten der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach geltendem Recht die freie Form der Tatsachenfeststellung gestattet ist und es insbesondere im pflichtgemäßen Ermessen liegt, ob zur förmlichen Beweisaufnahme entsprechend der Zivilprozessordnung geschritten oder sich mit dem Freibeweisverfahren begnügt wird, woran das neue Recht nicht rütteln will.275 Insofern bleibt die FGG-Reform darauf ohne Einfluss, wenngleich es sich aus §§ 29, 30 FamFG sprachlich klarer ableiten lässt. Inhaltlich ist das Recht der Beweisaufnahme im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit durch die FGG-Reform vom Herbst 2009 jedoch nicht verändert worden.

273 Vgl. dazu aber noch sogleich unter c). Nach Schulte-Bunert, Das neue FamFG, Rdnr. 148 soll sich durch das Wort „entscheidungserheblich“ inhaltlich nichts geändert haben. 274 BT-Drs. 16/6308, S. 186. 275 BT-Drs. 16/6308, S. 166 mit S. 188 und S. 189. Im selben Sinne ferner Schulte-Bunert, Das neue FamFG, Rdnr. 158.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

c) Exegese der Normen zur Beweisaufnahme in der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Hinblick auf (materielle) Unmittelbarkeit Vor dem Hintergrund dieser (in der Sache unveränderten) Rechtslage ist sich nunmehr der Frage anzunehmen, wie sich Rechtsprechung und Schrifttum zur Geltung des (materiellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der freiwilligen Gerichts­ barkeit verhalten. Dabei muss zwischen § 29 Abs. 1 Satz 1 FamFG einerseits und § 30 Abs. 1 FamFG (bzw. § 15 FGG) andererseits sowie zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differenziert werden. Im Rahmen einer förmlichen Beweisaufnahme „entsprechend der Zivilprozessordnung“ gemäß § 30 Abs. 1 FamFG versteht es sich durch diesen Verweis von selbst, dass jedenfalls insofern (formelle) Unmittelbarkeit zum Tragen kommt, wenn das Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit diesen Weg einschlägt. In diesem Sinne hält es jedenfalls das Bayrische Oberste Landesgericht, wie ein Leitsatz einer Entscheidung des Gerichts zeigt276: „Der Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gilt im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nur insoweit, als das Gericht eine förmliche Beweisaufnahme anordnet.“

Daraus folgt, dass für den Fall, dass im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine förmliche Beweisaufnahme (Strengbeweis) durchgeführt wird, der Grundsatz der Unmittelbarkeit gilt.277 Denn § 355 ZPO steht in einem untrenn­ baren Zusammenhang mit den nach § 15 FGG bzw. § 30 Abs. 1 FamFG entsprechend anzuwendenden Beweisvorschriften der ZPO.278 Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der freiwilligen Gerichtsbarkeit beurteilt sich von daher, wenn es zum Strengbeweisverfahren kommt, nicht anders als im Zivilprozess, weshalb auf die entsprechenden Ausführungen verwiesen werden kann. Von daher ist für die weitere Untersuchung zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz mehr von Interesse, wie es im Übrigen um (materielle) Unmittelbarkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit bestellt ist. Das diesbezüg­ liche Schrifttum verneint dessen Geltung deutlich überwiegend. Teilweise wird aber nicht ganz klar, ob man sich dabei von der Unterscheidung zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit leiten lässt, wenn man mehr oder minder 276

BayObLG NJW-RR 1996, 583 (Hervorhebung nicht im Original) unter Bezugnahme auf BayObLGZ 1967, 137, 147 = NJW 1967, 1867. Vgl. aus der Rspr. im selben Sinne ferner noch BayObLG FamRZ 1983, 836; FamRZ 1990, 63, 66; OLG Zweibrücken FamRZ 1989, 771. 277 Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 135; Schmidt, Handbuch der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 6 in Rdnr. 23; Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, § 10 Rdnr. 265; Briese­ meister, in: Jansen, FGG, § 15 Rdnr. 5; Wütz, Freibeweis in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 90; Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181, 186 m. w. N. in Fn. 26. 278 Musielak, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 2 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum aus dem Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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lapidar und etwas (sehr) apodiktisch anmutend behauptet, dass das Prinzip der Unmittelbarkeit bei formlosen Ermittlungen vor dem Hintergrund des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht eingreift.279 Anderenorts wird schon nicht exakt genug zwischen Unmittelbarkeit und Mündlichkeit unterschieden und dabei übersehen280, dass bereits im Schrifttum zur freiwilligen Gerichtsbarkeit selbst darauf hingewiesen wird, dass „vom Grundsatz der Unmittelbarkeit […] (theoretisch) sowohl ein nach dem Grundsatz der Mündlichkeit als auch ein nach dem Schriftlichkeitsprinzip ausgestaltetes Verfahren beherrscht sein“ kann.281 Von daher helfen solche Aussagen nicht wirklich weiter. Gelegentlich stößt man aber durchaus auf unmittelbare Aussagen zur Frage nach materieller Unmittelbarkeit im (Beweis-)Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Nach Sternal gelten weder im Frei- noch im Strengbeweisverfahren starre Regeln für die Auswahl der Beweismittel. Gleichfalls fehl am Platze sei die Annahme einer Pflicht des Gerichts, stets das „sachnächste“ Beweismittel zu benutzen.282 Ebenso sieht es Brehm in der Frage283, ob dem direkten Beweismittel der Vorzug zu geben ist vor einem Beweismittel, das bloß einen mittelbaren Schluss auf die zu beweisende Tatsache erlaubt. Ohne weitere Auseinandersetzung de lege lata wird ausgeführt, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit die mittelbare Beweisführung nicht verbietet, wohl aber – wie schon im Verfahren der streitigen Zivilgerichtsbarkeit284 – die Parteien auf Verwendung des unmittelbaren Beweis­mittels bestehen können. Solche Ausführungen lassen den unzweifelhaften Schluss zu, dass das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Grundsatz nicht von materieller Unmittelbarkeit beherrscht sein soll. Eher vereinzelt ist man dagegen der Auffassung, dass die freiwillige Gerichtsbarkeit vom Prinzip der objektiven Unmittelbarkeit durchdrungen sein soll, und zwar gleichermaßen im Streng- wie im Freibeweisverfahren.285 Unabhängig davon, ob dieser Ansicht jedenfalls im Ergebnis zugestimmt werden kann, vermag sie zumindest in der Begründung nicht zu überzeugen. Es beginnt damit, dass auf die gegenteilige h. M. nicht einmal ansatzweise hingewiesen, geschweige denn näher eingegangen wird. Eine Erörterung der lex lata vermisst man ebenfalls. Dass ein solches (methodisches) Vorgehen nicht angezeigt ist, versteht sich von selbst, sodass die Ansicht zwar erwähnt werden soll, im Übrigen aber vernachlässigt werden kann, sodass sich konstatieren lässt, dass das Schrifttum zur freiwilligen Ge 279

von König/von Schuckmann, FGG, Vor § 8 Rdnr. 33. Vgl. in diesem Sinne etwa Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 135 und in dieser Richtung ferner noch BGHZ 44, 65, 71. 281 Vgl. von König/von Schuckmann, in: Jansen, FGG, Vor § 8 Rdnr. 33 sowie im selben Sinne noch Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, § 10 Rdnr. 264. 282 Sternal, in: Keidel, FamFG, § 29 Rdnr. 17. 283 Zum Folgenden s. Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, § 10 Rdnr. 267. 284 s. dazu unter I. 3. c) aa). 285 Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181, 188 f. sowie – jedenfalls für das Strengbeweisverfahren – ebenso Wütz, Freibeweis in der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 91. 280

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

richtsbarkeit die Geltung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes (durchweg) in Abrede stellt. Aus der Rechtsprechung hat sich, wie bereits erwähnt, das Bayrische Oberste Landesgericht näher mit der Frage befasst. Während es bei förmlicher Beweisaufnahme die Geltung des Verfahrensgrundsatzes der (formellen) Unmittelbarkeit annimmt, soll er im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Übrigen nicht (zwingend) zu beachten sein.286 Das Gericht hatte über einen Fall zu befinden, in dem eine „Zeugin“ nicht förmlich vernommen worden ist, sondern vielmehr die Aufzeichnung einer früheren Aussage beigezogen worden ist, womit übrigens formelle Unmittelbarkeit gewahrt ist, weil sich das Gericht nicht bloß von der früheren Vernehmung hat unterrichten lassen, sondern sich davon vielmehr selbst durch Aktenstudium hinreichende Kenntnis verschafft hat. Einen Verstoß gegen einen Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit sieht das Bayrische Oberste Landes­ gericht hierin nicht. Dabei betont das Gericht zunächst, dass der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht zu den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen der freiwilligen Gerichtsbarkeit gehört, soweit nicht eine förmliche Beweisaufnahme erfolgt, und dass er im zugrunde liegenden Fall gewahrt ist. „Denn die beigezogene Niederschrift über die polizeiliche Vernehmung der Nichte samt Fragenkatalog der Staatsanwaltschaft wurde ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt und den Beteiligten zur Stellungnahme zugeleitet.“ Obwohl es gegen den Widerspruch eines Beteiligten erfolgt ist, hat das Bayrische Oberste Landesgericht das Verfahren des (Nachlass-) Gerichts mit diesen Worten unbeanstandet gelassen. Selbst der Aspekt der materiellen Wahrheit, wie er § 12 FGG bzw. § 26 FamFG zugrunde liegt287, soll eine förmliche Beweisaufnahme nicht nahe legen, weil sich weder konkrete Anhaltspunkte an der (objektiven) Glaubhaftigkeit der schriftlich vorliegenden Angaben der Nichte aufdrängten noch das (Nachlass-)Gericht annehmen musste, „daß erst durch Befragen der Beteiligten eine vollständige Aufklärung zu erwarten ge­wesen wäre“. Insofern bleibt von einem Grundsatz materieller Unmittelbarkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht allzu viel übrig. Insbesondere wird er nicht aus der Amtsermittlungspflicht des Gerichts gemäß § 26 FamFG (bzw. § 12 FGG) abgeleitet. Vielmehr stellen Gerichte bei deren Ausfüllung mehr auf das sachliche Recht ab, wie es etwa das OLG Köln wie folgt umschreibt288: 286

Vgl. zum Folgenden – soweit nicht anders vermerkt – jeweils BayObLG NJW-RR 1996, 583, 584 unter Bezugnahme auf BayObLGZ 1982, 384, 387. 287 Sternal, in: Keidel, FamFG, § 26 Rdnr. 12; Briesemeister, in: Jansen, FGG, § 12 Rdnr. 40 – jeweils m. w. N. 288 OLG Köln OLGZ 1989, 144, 147 m. w. N. (Hervorhebung nicht im Original). Auf einen solchen Zusammenhang zwischem materiellem und formellen (Prozess-)Recht macht bereits Habscheid, Freiwillige Gerichtsbarkeit, S. 127 aufmerksam, wenn er auf ein „weitreichendes Ermessen zur Gestaltung des Verfahrens (Verfahrensermessen)“ und ein damit korrespondierendes Entscheidungsermessen hinweist (Hervorhebungen im Original).

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

255

„Nach § 12 FGG hat zwar der Tatrichter im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Richtung und Umfang der erforder­ lichen Ermittlungen bestimmen sich indes nach den Tatbestandsmerkmalen der anzuwendenden materiellrechtlichen Vorschriften. Die Amtsermittlungspflicht nach § 12 FGG wird mit anderen Worten durch die Voraussetzungen des materiellen Rechts begrenzt.“

Diese Sichtweise hat sich der Gesetzgeber inzwischen – mehr oder minder expressis verbis – zu eigen gemacht. In den Motiven zur FGG-Reform wird der Zusammenhang zum sachlichen Recht nämlich ebenfalls betont. In allgemeiner Hinsicht heißt es zunächst, dass das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit der „Durchführung des materiellen Rechts“ dient289, wie es jede Prozessordnung als Verfahrensziel zu gewährleisten hat290. Bei der Frage wiederum, ob sich mit einer Beweiserhebung im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 FamFG begnügt werden kann oder es vielmehr zur förmlichen Beweisaufnahme gemäß § 30 FamFG kommen muss, findet sich in den Motiven noch folgender Satz291: „Eine Tatsache hat maßgebliche Bedeutung für die zu treffende Entscheidung, wenn sie als Haupttatsache den Tatbestand einer entscheidungsrelevanten Norm unmittelbar ausfüllt.“

Damit wird das materielle Recht zum Maßstab und Kriterium für das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts bei der Wahl bezüglich der Form der Beweisaufnahme. Diese Abhängigkeit hat sich im Übrigen unmittelbar im Gesetz selbst niedergeschlagen. Wenn in §§ 26, 30 FamFG von „entscheidungserheblichen Tatsachen“ die Rede ist, lässt sich dies ohne Rekurs auf das materielle Recht nicht klären. Als Resümee der Betrachtungen der Vorschriften über die Beweisaufnahme in der freiwilligen Gerichtsbarkeit lässt sich festhalten, dass sie von Rechtsprechung und Schrifttum überwiegend dahingehend verstanden werden, dass (materielle) Unmittelbarkeit nicht zu beachten ist, wenn nach § 29 Abs. 1 Satz 1 FamFG vorgegangen wird. Zugleich ist dargetan worden, dass sich Art und Weise der Tatsachenermittlung bzw. Beweisaufnahme sowie deren jeweiliger Umfang an Vorgaben und Maßstäben des materiellen Rechts zu orientieren haben. 2. Beweiswürdigung und (materielle) Unmittelbarkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Mit einer Darstellung der Vorschriften zur Beweisaufnahme im FGG-Verfahren kann es aber nicht (mehr) sein Bewenden haben. An früherer Stelle ist aufgezeigt worden, dass Unmittelbarkeit im Zivilverfahrensrecht maßgeblich durch den 289

BT-Drs. 16/6308, S. 161. s. hierzu im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. 291 BT-Drs. 16/6308, S. 190 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. im selben Sinne ferner Schulte-Bunert, Das neue FamFG, Rdnr. 160. 290

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Grundsatz der freien Beweiswürdigung gewährleistet wird.292 Dieses Prinzip hat inzwischen – im Gegensatz zum früheren Recht293 – unmittelbar Eingang in das (Verfahrens-)Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit gefunden. § 37 Abs. 1 FamFG lautet in dieser Hinsicht wie folgt: „Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem gesamten Inhalt des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.“

Die Parallele zu § 261 StPO bzw. § 286 ZPO ist unverkennbar. Von daher kann es nicht verwundern, dass sich in den Motiven zur FGG-Reform die Bemerkung findet, dass § 37 Abs. 1 FamFG diesen Regelungen entspricht.294 Weil jedenfalls § 286 ZPO materielle Unmittelbarkeit in seinen (Wechsel-)Bezügen mit den Vorschriften zur zivilprozessualen Beweisaufnahme gewährleistet295, kommt zwangsläufig die Frage auf, ob nicht Gleiches für die freiwillige Gerichtsbarkeit vor dem Hintergrund von § 37 Abs. 1 FamFG zu gelten hat. Dabei ist voranzuschicken, dass es dabei ohne Bedeutung ist, ob zum Strengoder zum Freibeweisverfahren gegriffen wird. Auf der Ebene der Beweiswürdigung ist die Wahl des Beweisverfahrens ohne Bedeutung. Keinesfalls senkt der Freibeweis die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung ab. Vielmehr sind die diesbezüglichen Voraussetzungen beim Frei- und Strengbeweis identisch.296 Vor diesem Hintergrund soll nunmehr die Frage beantwortet werden, ob materielle Unmittelbarkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit de lege lata jedenfalls über das Prinzip der freien Beweiswürdigung zu beachten ist. Dabei ist es angezeigt, wie in den Ausführungen zur Unmittelbarkeit im Zivilprozess näher ausgeführt297, die Vorschriften zur Beweisaufnahme und -würdigung einer gemeinsamen Betrachtung zu unterziehen. Wenn man es in dieser Weise hält, wird deut 292

Vgl. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5 b) sowie im 4. Teil, 9. Kapitel unter I. 3. c). Wenngleich das Prinzip der freien Beweiswürdigung für die freiwillige Gerichtsbarkeit vor der FGG-Reform vom Herbst 2009 nicht expressis verbis im Gesetz selbst loziert war, galt es ebenso wie im Zivil- und Verwaltungsgerichtsprozess und den übrigen gerichtlichen Verfahren, wobei im Schrifttum diesbezüglich explizit auf § 286 ZPO abgestellt wurde, s. hierzu aus (rechts-)historischer Perspektive lediglich Briesemeister, in: Jansen, FGG, § 12 Rdnr. 109; Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, § 11 Rdnr. 279 mit Rdnr. 304 („§ 286 ZPO analog“) und Baur/Wolf, Grundbegriffe des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 77. 294 BT-Drs. 16/6308, S. 194. Wenn die Motive an derselben Stelle darauf verweisen, dass das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit – anders als der Straf- und Zivilprozess – nicht vom Mündlichkeitsgrundsatz geprägt ist, bleibt dies für eine Untersuchung des Unmittelbarkeitsprinzips und der diesbezüglichen Bedeutung der freien Beweiswürdigung außen vor. Bereits im Schrifttum zu freiwilligen Gerichtsbarkeit selbst wird darauf hingewiesen, dass „vom Grundsatz der Unmittelbarkeit […] (theoretisch) sowohl ein nach dem Grundsatz der Mündlichkeit als auch ein nach dem Schriftlichkeitsprinzip ausgestaltetes Verfahren beherrscht sein“ kann (von König/von Schuckmann, in: Jansen, FGG, Vor § 8 Rdnr. 33 sowie im selben Sinne noch Brehm, Freiwillige Gerichtsbarkeit, § 10 Rdnr. 264). 295 s. hierzu unter I. 3. c). 296 BGHZ 40, 54, 57; BGH NJW 1997, 3319, 3320; Baur/Wolf, Grundbegriffe des Rechts der freiwilligen Gerichtsbarkeit, S. 77. 297 Vgl. dazu unter I. 3 c). 293

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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lich, dass materielle Unmittelbarkeit im (Beweis-)Verfahrensrecht der frei­willigen Gerichtsbarkeit zum Tragen kommt. § 29 FamFG schreibt vor, dass das Gericht die erforderlichen Beweise in ge­ eigneter Form erhebt. Man fühlt sich – trotz des leicht divergierenden Wortlauts – unweigerlich an § 284 Satz 2 ZPO erinnert, wonach das Gericht „Beweise in der ihm geeignet erscheinenden Art aufnehmen“ kann, wenn sich die Parteien damit einverstanden erklären. Bereits zu dieser Vorschrift wurde dargetan298, dass sie dem Unmittelbarkeitsgrundsatz keinesfalls zuwiderläuft und dabei insbesondere unter dem Vorbehalt der freien Beweiswürdigung steht. Um es in Erinnerung zu rufen: Wenn es entscheidend auf die Glaubwürdigkeit der Aussageperson ankommt, kann man sich gerade nicht damit begnügen, sie z. B. telefonisch zu befragen, sondern muss zur unmittelbar-mündlichen Vernehmung schreiten. In der Rechtsprechung zur freiwilligen Gerichtsbarkeit stößt man auf vergleichbare Überlegungen. Das Bayrische Oberste Landesgericht, sonst darauf bedacht, insofern bloß formelle Unmittelbarkeit zu betonen, gibt unmissverständlich zu erkennen, dass es eine Vernehmung durch den beauftragten Richter als nicht ausreichend erachtet, sondern vielmehr eine solche vor der vollbesetzten Kammer verlangt, wenn es entscheidend auf die Glaubwürdigkeit von Zeugen ankommt.299 Lediglich diese Form der Beweiserhebung ist – im Sinne von § 284 Satz 2 ZPO – geeignet, eine umfassende Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Rahmen der Beweiswürdigung zu erlauben. Gleiches wird man in der Sache für § 29 FamFG anzunehmen haben. Der unterschiedliche Wortlaut lässt sich dabei als bloße Semantik abtun. Damit ist gesagt, dass jedenfalls aus dem Zusammenspiel der gesetzlichen Vorschriften über Beweisaufnahme und -würdigung (§§ 29, 37 FamFG) folgt, dass materielle Unmittelbarkeit in der freiwilligen Gerichtsbarkeit durchaus zu beachten ist. 3. Fazit Als Fazit zur Frage nach der Geltung von Unmittelbarkeit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit lässt sich festhalten, dass sie nicht, jedenfalls nicht primär deshalb gilt, weil dieses Verfahren unter dem strengen Regime des Amts­ ermittlungsgrundsatzes steht. Insofern hat sich seine Gestaltung eher an den Vorgaben des materiellen Rechts zu orientieren. Dabei wird (materielle) Unmittel­ barkeit aber nicht völlig aufgegeben. Vielmehr ist sie im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu beachten.

298

s. im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 5. a) bb) (3). BayObLG JurBüro 1988, 1533, 1535 m. w. N. Vgl. in dieser Richtung ferner noch B ­ ayObLG NJW-RR 1992, 653, worin es beanstandet, dass sich das Beschwerdegericht mit dem Protokoll einer Zeugenaussage vor dem Tatgericht begnügt hat, anstatt den Zeugen persönlich zu hören, worin Pohlmann, Rpfleger 1992, 484, 485 zu Recht einen Verstoß gegen den Grundsatz der objektiven (= materiellen) Unmittelbarkeit erblickt. 299

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

IV. Materielle Unmittelbarkeit im Strafprozess Vor dem Hintergrund der vorstehend geschilderten Rechtslage zur materiellen Unmittelbarkeit in anderen Verfahrensordnungen soll sich nunmehr der Frage angenommen werden, ob und auf welche Art und Weise, insbesondere in welcher gesetzlichen Vorschrift der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner materiellen Spielart de lege lata loziert ist. 1. Materielle Unmittelbarkeit und gerichtliche Amtsaufklärungspflicht Am intensivsten mit der Frage, ob und in welcher Norm materielle Unmittelbarkeit im geltenden Recht verankert sein könnte, hat sich – jedenfalls in neuerer Zeit300 – Geppert befasst. Im Ausgangspunkt ist er der Auffassung, dass er im Gesetz keine unmissverständlich klare oder ausdrückliche Regelung in einem all­ gemeinen Sinne erfahren hat.301 Im späteren Verlauf seiner Untersuchungen widmet er sich sodann nicht sogleich der seines Erachtens einschlägigen gesetzlichen Regelung. Zunächst zeigt er vielmehr auf, dass und warum § 261 StPO, worin formelle Unmittelbarkeit geregelt ist302, dafür nicht in Betracht kommen soll. Seine diesbezügliche Begründung lautet wie folgt: „Die Entscheidung des Gesetzgebers für die Freiheit richterlicher Beweiswürdigung (§ 261 StPO) beruht auf der Erkenntnis, daß die gesetzlichen Beweisregeln früherer Zeiten mit dem Prinzip materieller Wahrheit nur schwer vereinbar sind. An die Stelle formalisierter Beweisregeln, die als quasi Gesetz gewordenes Erfahrungswissen richterliche Schlußfolgerungen auch im konkreten Einzelfall reglementieren, waren die freie richterliche Beweiswürdigung und die Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung getreten. Diese in § 261 StPO angesprochene Freiheit (‚nach seiner freien … Überzeugung‘) betrifft freilich nur das Stadium der Beweiswürdigung und damit nur den Bereich der erkenntnisrichterlichen Tätigkeit, der in Schlußfolgerungen und Bewertung vorgelegter Beweise besteht. Der Grundsatz freier Beweiswürdigung betrifft also nicht das (zeitlich frühere) Stadium der Beweisgewinnung und hat folglich mit der Frage nach Zulässigkeit und Unzulässigkeit eines Beweismittels grundsätzlich nichts zu tun.“303

300 Auf das ältere Schrifttum wird an dieser Stelle nicht mehr vertieft eingegangen, vgl. dazu die umfassende Aufarbeitung bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 50 ff. Es hat sich im Wesentlichen mit der Ebene de lege ferenda beschäftigt. Das geltende Recht kam dagegen bloß am Rande vor, wie es angesichts von § 244 Abs. 2 StPO nicht verwundern kann. Schließlich gab es diese Vorschrift in der Ursprungsfassung der (Reichs-) Strafprozessordnung überhaupt noch nicht, s. dazu später näher unter c) (aa) (2). 301 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 1. Vgl. ferner Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 46 (für formelle Unmittelbarkeit) und S. 48 oben (für materielle Unmittelbarkeit). 302 s. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel unter II. 303 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 f.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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Eine Seite weiter heißt es unter (2): „Zuverlässiges von weniger zuverlässigem Beweismaterial zu trennen, ist in einem System freier Beweiswürdigung an sich zwar grundsätzlich der freien Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts überlassen. […] Von der Frage der Beweisbewertung ist die Frage der Beweisgewinnung und -heranziehung streng zu unterscheiden. Ob ein Beweismittel überhaupt zum Beweis herangezogen werden darf, entscheidet sich im Rahmen der Beweisaufnahme, also zeitlich vor dem Stadium der Beweisbewertung.“304

Abschließend kommt Geppert zu dem Fazit, dass sich die Zulässigkeit bestimmter Beweise, vor allem der mittelbaren Beweise, nicht erst im Rahmen von § 261 StPO, sondern zeitlich früher im Stadium der Beweisheranziehung entscheidet.305 Mit dieser Begründung soll materielle Unmittelbarkeit de lege lata nicht in § 261 StPO verankert sein (können). a) Auffassung von Geppert Anschließend widmet sich Geppert der Frage, in welcher gesetzlichen Vorschrift sie stattdessen loziert ist. Sedes materiae hierfür, um es mit seinen Worten zu umschreiben, „ist insofern grundsätzlich § 244 Abs. 2 StPO, der sich mit Umfang und Notwendigkeit der Beweisheranziehung und damit auch mit der Zu­ lässigkeit der einzelnen Beweise befaßt“306. Dies formuliert er kurz darauf etwas ausführlicher mit folgenden Worten307: „In diesem Sinne verdient jene Ansicht, die die Forderung nach unmittelbarer Beweisführung als selbstverständlichen Anwendungsfall der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) versteht, Zustimmung. […] Da die sicherste Form des Beweises erfahrungsgemäß im Wege ‚unmittelbarer‘ Beweisführung erfolgt, drängt das Gebot bestmöglicher Sachverhaltserforschung grundsätzlich zu diesen ‚unmittelbaren‘ Beweisen. Aus der Sicht des § 244 Abs. 2 StPO steht jedoch nichts entgegen, sich anstelle unerreichbarer originaler Beweise mit abgeleiteten zu begnügen; unter diesen Voraussetzungen ist der erfahrungsgemäß an sich nur ‚zweit-beste‘ Beweis nach Lage der Dinge eben zum besten geworden.“

Seine Ausführungen fasst Geppert schließlich wie folgt zusammen308: „Das auf § 244 Abs. 2 StPO gestützte Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung besagt grundsätzlich nichts bezüglich Unzulässigkeit eines ‚mittelbaren‘ Beweises. Als Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht wird es jedoch gewertet werden müssen, wenn das erkennende Gericht auf die Heranziehung eines erreichbaren ‚unmittelbaren‘ Beweises verzichtet und sich stattdessen mit einem Beweissurrogat begnügt. Ob man diesen unselbständigen Anwendungsfall des § 244 Abs. 2 StPO in den Rang eines selbständigen Be 304

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 183. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 184. 306 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 184. 307 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 185. 308 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 185 f. (Hervor­ hebung im Original). 305

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

weisgrundsatzes erheben und begrifflich als ‚Unmittelbarkeitsprinzip‘ bezeichnen sollte, ist freilich eine andere Sache. Aus Gründen terminologischer Klarheit und zur Abgrenzung von dem herkömmlichen ‚Unmittelbarkeitsprinzip‘, wie es in den §§ 250 ff. StPO für einen (im einzelnen freilich umstrittenen) Teilbereich mittelbarer Beweisführung eine weitgehend verselbständigte Lösung gefunden hat, sollte man statt vom ‚Unmittelbarkeitsprinzip‘ besser vom ‚materiellen Prinzip des bestmöglichen Beweises‘ sprechen.“

Mit dieser Begründung will Geppert den materiellen Kern eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im geltenden Recht für das Stadium der Beweisaufnahme in der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO verankert wissen. b) Rechtsprechung und Schrifttum Rechtsprechung und Schrifttum haben sich in der Folgezeit den Rechtsgrundlagen zum strafprozeduralen Unmittelbarkeitsgebot in seiner materiellen Variante kaum noch näher angenommen. Exemplarisch in dieser Hinsicht ist die Untersuchung von Stüber zur „Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren“. Mit ganz wenigen Sätzen will er unter Hinweis auf Geppert dartun, dass § 244 Abs. 2 StPO „Elemente materieller Unmittelbarkeit“ enthalten und der Vorschrift, soweit es um eine im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte Rangfolge zwischen unmittelbaren und mittelbaren Beweismitteln geht, implizit eine erhebliche Bedeutung innerhalb des strafprozessualen Systems zukommen soll.309 Rechtsprechung und übriges Schrifttum halten es ebenso. Dabei ist man sich im Ausgangspunkt darin einig, dass ein weiterreichender Grundsatz dahingehend, dass allgemein bei der Beweisaufnahme das sachnächste Beweismittel benutzt werden muss, sich jedenfalls nicht § 250 StPO entnehmen lässt.310 Insofern geht man – inzwischen311 – unisono davon aus, dass die Verneh 309

Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 48. Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 3; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 23. Vgl. hierzu sowie zum Folgenden noch Großkopf, Beweissurrogate und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung, S.  57 ff. 311 Der Zeuge vom Hörensagen ist heute „bloß“ noch ein Problem der Beweiswürdigung, weil kaum noch ernsthaft befürwortet wird, dass die Strafprozessordnung, etwa in § 250 StPO, solche Zeugen schlechthin verbietet. Wenn er gleichwohl in Abhandlungen zum Unmittelbarkeitsgrundsatz immer noch umfangreich dargestellt wird, obwohl man selbst erkennt, dass es sich bei der Auffassung vom absoluten Verbot dieses Beweismittels um eine ältere Ansicht handelt (vgl. in dieser Hinsicht etwa Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 133 ff., 141 ff. mit Fn. 584), kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass es etwas zum Selbstzweck und jedenfalls ohne größeren Erkenntnis­ gewinn erfolgt. In neuerer Zeit hat sich lediglich Heissler, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Strafprozeß unter besonderer Berücksichtigung des Zeugnisses vom Hörensagen, S. 165 ff. für ein grundsätzliches Verbot des Zeugen vom Hörensagen aus § 250 StPO stark gemacht. Seinen Ausführungen sei an dieser Stelle bloß mit einer gleichzeitig erschienenen Abhandlung be­gegnet, worin die Annahme einer Unzulässigkeit des Hörensagenbeweises aus 310

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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mung des Zeugen vom Hörensagen weder diese Vorschrift selbst noch den Unmittelbarkeitsgrundsatz überhaupt verletzt.312 Darin trifft man sich mit Geppert, weil er in § 250 StPO ebenfalls nicht den Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips schlechthin erblickt313. Vielmehr wendet man sich anderen normativen Wertentscheidungen zu. Dabei rückt man – wie Geppert – die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO in den Mittelpunkt. In dieser Hinsicht soll es immer eine Frage der Aufklärungspflicht sein, ob Tatrichter eine mittelbare Beweisführung für ausreichend erachten.314 Das Gericht soll sich insbesondere selbst für den Fall mit der Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen begnügen dürfen, dass es möglich wäre, daneben den Gewährsmann zu hören.315 Gleichwohl soll sich das Gericht grundsätzlich aber um die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen bemühen müssen.316 Mehr verlangt selbst Geppert nicht. Ein Unterschied besteht gleichwohl: Während Geppert die Frage mehr oder minder ausschließlich an der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO messen will, nehmen Rechtsprechung und Schrifttum noch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung hinzu. Danach ist beim Zeugen vom Hörensagen grundsätzlich eine besonders sorgfältige Würdigung seiner Aussage erforderlich.317 In dieser Hinsicht kommt der Gesichtspunkt materieller Unmittelbarkeit zum Tragen. Das Gebot äußerster Vorsicht bei der Beweiswürdigung gilt nämlich in besonderem Maße, wenn die Zahl der Zwischenglieder in der Beweis-

§ 250 StPO abgelehnt wird (vgl. Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 50 ff., 55 ff., 65): „Eine so bedeutsame Bestimmung, wie den Ausschluß des Zeugnisses vom Hörensagen wegen gesetzlich präsumierter Ungeeignetheit oder Minderwertigkeit hätte der Gesetzgeber vermutlich eher im sachlichen Zusammenhang der den Zeugenbeweis regelnden Vorschriften, §§ 48 ff. StPO, getroffen.“ Eine solche „bedeutsame Bestimmung“ über das Verbot des Zeugen vom Hörensagen gab es etwa in Art. 65 CCC. Warum sich Löhr vom eigenen, insofern zutreffenden Ausgangspunkt aus nicht auf die Suche nach einer solchen „bedeutsamen Bestimmung […] im Zusammenhang der den Zeugenbeweis regelnden Vorschriften“ begibt, bleibt unerfindlich. Man wird in dieser Hinsicht nämlich durchaus fündig. An einem ausdrücklichen Verbot, wie in Art. 65 CCC enthalten, fehlt es jedenfalls in der Strafprozessordnung. Sie gibt vielmehr an einer Stelle – und zwar „im sachlichen Zusammenhang der den Zeugenbeweis regelnden Vorschriften“ – unmissverständlich zu erkennen, dass sie den Zeugen vom Hörensagen gerade nicht verbietet. § 69 Abs. 2 StPO erlaubt es seit jeher (s. § 68 Abs. 2 RStPO), „zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht“, Fragen zu stellen. Dadurch soll geklärt werden (können), ob der Zeuge eigene Wahrnehmungen oder von Dritten Erfahrenes bekundet, vgl. dazu bloß Senge, in: KK, § 69 Rdnr. 5; Meyer-Goßner, § 69 Rdnr. 6; Dahs, in: LR, § 69 Rdnr. 8. Deutlicher kann das Gesetz wohl nicht zum Ausdruck bringen, dass es ein Verbot des Zeugen vom Hörensagen nicht kennt. 312 BGHSt 17, 382, 384; Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 4; Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 25. 313 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 314 BGHSt 1, 373, 376; 17, 382, 384; 32, 115, 123; BGH StV 1988, 91. 315 Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 4 m. w. N. 316 BGH StraFo 2002, 353; NStZ 2004, 50. 317 Vgl. BGHSt 49, 112, 119: „sorgfältigste Überprüfung“. Vgl. ferner noch OLG Brandenburg NStZ 2002, 611; OLG Koblenz StV 2007, 520.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

führung wächst.318 Der Unterschied zu Geppert ist augenfällig. Während er für sein Ergebnis ausschließlich § 244 Abs. 2 StPO bemüht, nimmt man überwiegend noch den Grundsatz der Beweiswürdigung hinzu. Insofern ist die Rede vom „Systemzusammenhang mit § 244 Abs. 2 und § 261 StPO“319, wohingegen Geppert maßgeblich auf § 244 Abs. 2 StPO abstellt. Erst in einem zweiten Schritt soll der Grundsatz freier Beweiswürdigung eine Korrektur bei Beweisreproduktionen insofern möglich machen, als dass „der Richter des Einzelfalls auf Grund seiner Freiheit in der Beweiswürdigung solchen Beweisen möglicherweise weniger Aussagekraft beimißt“.320 In dieser Hinsicht statuiert er eine Art Rangfolge in der Behandlung mittelbarer Beweismittel zwischen der dazu primär berufenen gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht und der erst sekundär relevanten richterlichen Freiheit der Beweiswürdigung, während die h. M. sogleich beide Aspekte zueinander in Be­ ziehung setzt. c) Stellungnahme Damit läuft es auf die Frage hinaus, ob das materielle Unmittelbarkeitsprinzip erst in einer solchen Wechselwirkung zwischen gerichtlicher Amtsaufklärungspflicht einerseits und freier Beweiswürdigung andererseits zur Geltung kommt oder vielmehr – im Sinne von Geppert – de lege lata ausschließlich in § 244 Abs. 2 StPO und nicht, wie formelle Unmittelbarkeit, in § 261 StPO loziert ist. Es überrascht zunächst etwas, dass Geppert beide Aspekte verschiedenen Vorschriften zuordnet. Schließlich spricht er von „Wesen und Wirkungsweise des Unmittelbarkeitsprinzips als eines einheitlichen Beweisgrundsatzes“.321 Insofern würde es aber nahe liegen, die Maxime in einer einzigen Vorschrift gesetzlich zu verorten. Der Punkt soll aber, weil bloße Semantik, nicht weiter vertieft werden. An früherer Stelle spricht Geppert nämlich von der „eigenständigen Bedeutung und Wirkkraft eben dieser formellen Unmittelbarkeit“.322 Ob hierin ein Widerspruch zu sehen ist oder nicht, soll jedoch, wie schon erwähnt, nicht näher untersucht werden. Insofern wird es mit Geppert gehalten, wonach die terminolo­ gischen Differenzen im Bereich des „Unmittelbarkeitsprinzips nach wie vor nicht behoben sind und mehr zur sachlichen Verwirrung beitragen“323, als dass sie hilfreich sind.

318

BGHSt 34, 15, 18; Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 5. Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 23. Vgl. ferner noch Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 85 ff: „funktionaler Zusammenhang der Beweisgrundsätze“. 320 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 183 unten. 321 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. 322 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 147. 323 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 121. 319

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Noch in anderer Hinsicht wirken seine Ausführungen aber nicht ganz frei von Widersprüchen. Dies betrifft die (sachliche) Reichweite von § 261 StPO. Dies­ bezüglich führt er im Rahmen seiner Überlegungen zur materiellen Unmittelbarkeit aus, dass die Vorschrift des § 261 StPO nicht mehr die Beweisaufnahme soll betreffen können.324 Die „in § 261 StPO angesprochene Freiheit (‚nach seiner freien … Überzeugung‘) betrifft freilich nur das Stadium der Beweiswürdigung und damit nur den Bereich der erkenntnisrichterlichen Tätigkeit, der in Schluß­ folgerungen und Bewertung vorgelegter Beweise besteht. […] Von der Frage der Beweisbewertung ist die Frage der Beweisgewinnung und -heranziehung streng zu unterscheiden. Ob ein Beweismittel überhaupt zum Beweis herangezogen werden darf, entscheidet sich im Rahmen der Beweisaufnahme, also zeitlich vor dem Stadium der Beweisbewertung.“ Deshalb soll der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner materiellen Spielart de lege lata nicht in § 261 StPO loziert sein (können). Im Rahmen der formellen Unmittelbarkeit führt er dagegen – zu Recht325 – aus, dass es nicht ganz korrekt sei, wenn behauptet wird, dass § 261 StPO nicht bereits die Beweisaufnahme betreffen soll326. Warum dies nunmehr im Rahmen seiner Überlegungen zur materiellen Unmittelbarkeit nicht (mehr) gelten soll, wird in den diesbezüglichen Ausführungen von Geppert nicht klar. Möglicherweise versteht er darunter bloß deren äußeren Ablauf, nicht aber deren inhaltliche Richtigkeit. Wenn es sich in diesem Sinne verhält, wäre es allerdings wünschenswert, wenn er sich, wie er es selbst von anderen anmahnt327, um terminologische Klarheit bemüht hätte. Seine begrifflichen Unklarheiten bzw. Differenzen tragen an dieser Stelle jedenfalls zur sachlichen Verwirrung bei. Damit soll es indes nicht sein Bewenden haben. Es ist sich vielmehr der Sache selbst und damit den Argumenten anzunehmen, weshalb materielle Unmittelbarkeit nicht in § 261 StPO, sondern in § 244 Abs. 2 StPO gesetzlich verankert sein soll. Geppert meint, dass sich § 244 Abs. 2 StPO indirekt zur Frage mittelbarer Weise äußern soll.328 In seinen, sich daran unmittelbar anschließenden Ausführungen geht es aber weder um wörtliche noch um historische oder um systematische bzw. teleologische Auslegungsmuster. Er stellt vielmehr schlicht (nochmals) materielle Unmittelbarkeit als abstraktes Denk­prinzip dar und droht insofern einem Zirkelschluss zu erliegen. Nach eigenen früheren Bekundungen müsse man nämlich „scharf genug […] zwischen dem Unmittelbarkeitsgedanken als abstraktem Begriff und Denkprinzip einerseits und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz andererseits, wie er sich in die allgemeinen Verfahrens­ 324 Vgl. zum Folgenden Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 ff. 325 s. hierzu im 3. Teil, 7. Kapitel unter II. 326 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 145. 327 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 121 mit S. 162. 328 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 184 f.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

entscheidungen der §§ 261 und 244 Abs. 2 StPO einpaßt“, trennen.329 Er selbst tut es in seinen Überlegungen bezüglich zu § 244 Abs. 2 StPO jedoch nicht. Er widmet sich jedenfalls weder seinem Wortlaut noch der insofern relevanten Entstehungsgeschichte oder der Gesetzessystematik. Darum soll es nunmehr gehen. aa) Historische Argumente Geppert befasst sich zwar durchaus ausführlich mit dem Gesetzgebungsverfahren zur (Reichs-)Strafprozessordnung. Er beschränkt seine Darstellung aber auf § 250 StPO und die Ausnahmen davon in den folgenden (Verlesungs-)Vorschriften bzw. die entsprechenden Vorläuferregelungen in den einzelnen Entwürfen.330 Dies überrascht freilich, weil er darin bloß einen Teilbereich materieller Unmittelbarkeit und keinesfalls den Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips schlechthin erblickt331, wohingegen die – aus seiner Sicht – zentralere gerichtliche Amtsaufklärungspflicht und deren gesetzlichen Grundlagen in der entstehungsgeschichtlichen Entwicklung weitgehend unbeachtet bleiben. Das genaue Gegenteil wäre aber an­ gezeigt, wenn darin materielle Unmittelbarkeit gesetzlich loziert sein soll. Es bleibt abzuwarten, ob sich insofern Argumente finden (lassen).332 Die (Entstehungs-) Geschichte ist daneben aber noch in anderer Hinsicht von – vielfältigem333 – Interesse. (1) Unmittelbarkeit vor Geschworenengerichten Bei einer (rechts-)geschichtlichen Betrachtung zum strafprozessualen Unmittel­ barkeitsprinzip in seiner materiellen Variante muss der Blick nahezu zwangsläufig auf das strafgerichtliche Verfahren in Schwurgerichtssachen fallen. Es folgt dar 329

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 100 ff. 331 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 332 Vgl. zur Entstehungsgeschichte von § 244 Abs. 2 StPO sogleich unter (2). 333 Auf einen weiteren Umstand in diesem Sinne sei an dieser Stelle bloß aufmerksam gemacht. Bereits vor dem reformierten Strafprozess sprach Art. 6 CCC vom „Annemen der angegeben übelthetter von der oberkeyt vnnd amtps wegen“ oder, wie es in einer (neu-)deutschen Textausgabe in einem Klammerzusatz heißt, von der „Strafverfolgung von Amts wegen“ spricht. Danach haben Richter „sich zu erkundigen und fleißig nachzufragen“, wenn eine Übelund Missetat bekannt geworden ist. Wenngleich die Richter in der damaligen Gerichtsorganisation eine andere Funktion hatten, ist Art. 6 CCC insofern von Interesse, als dass er eine Amtsaufklärungspflicht für die Obrigkeit bereits kannte. Wenn man materielle Unmittelbarkeit als Ausfluss derselben ansehen will, sieht man sich in Erklärungsnöten, warum deren Ursprung in der Abkehr vom Inquisitionsprozess liegen soll, wenn dessen gesetzlichen Regelungen eine solche Vorschrift ebenfalls kannten. Wenn man demgegenüber primär aus der Perspektive der freien Beweiswürdigung argumentiert (s. hierzu später unter 2.), hat man diese Schwierigkeit nicht. Schließlich ist sie ohne Pendant im Inquisitionsprozess und gerade eine Errungenschaft des reformierten Strafprozesses. 330

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aus, dass er darin größeren Relativierungen als in Amts- und (sonstigen) Landgerichtsprozessen unterlag, soweit es die erweiterte Verlesungsmöglichkeit der §§ 250, 191 RStPO betraf.334 Schließlich war die gerichtliche Voruntersuchung in Schwurgerichtsprozessen gemäß § 176 Abs. 1 RStPO obligatorisch. Es wird aber zu zeigen sein, dass sie noch in anderer Hinsicht eher kaum von materieller Unmittelbarkeit beherrscht waren, jedenfalls nicht im gesetzlichen und theoretischen Ausgangspunkt davon geprägt gewesen sein müssen, wenn man materielle Unmittelbarkeit – im Einklang mit Geppert – ausschließlich als Ausfluss der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht im Rahmen der Beweisaufnahme verstanden wissen will. Die Ursache dafür liegt in der personellen Zusammensetzung und der darauf gegründeten Aufgabenverteilung dieser – von Beginn an heftiger Kritik ausgesetzten – Spruchkörper begründet. Das Schwurgericht in seiner ursprünglichsten Form setzte sich aus den (Berufs-)Richtern oder dem Gerichtshof auf der einen Seite und der Geschworenenbank oder Jury auf der anderen Seite zusammen, § 81 GVG 1877. Zur darauf basierenden Arbeitsteilung zwischen Richtern und Jury liest man in allgemeiner Hinsicht in den Motiven zu den Reichsjustizgesetzen das Folgende: „Die unterscheidende Eigentümlichkeit des Schwurgerichts liegt darin, daß bei ihm zwei äußerlich gesonderte Faktoren, der Gerichtshof und die Geschworenenbank, zur Entscheidung berufen sind, und dass jedem von beiden ein gesonderter Wirkungskreis zugewiesen ist.“335 „Der Grundgedanke der Jury“, heißt es weiter, „ist die Verteilung von verschiedenen, in dem Richteramte enthaltenen Machtbefugnissen und Obliegenheiten unter zwei selbständige Faktoren: die ständigen Richter und die Geschworenenbank“336 oder wie es ohne Unterschied in der Sache noch später heißt „auf zwei selbständige, teils miteinander, teils nebenein­ ander wirkende Faktoren: die Geschworenenbank und das Richterkollegium“.337 „In welcher Weise und nach welchen Grundsätzen die schwierige Trennung und Abgrenzung […] zur praktischen Verwirklichung gelangt, ist in der StPO geregelt“338, steht noch abschließend in der Begründung zum Entwurf des GVG. Während der Strafausspruch und damit die konkrete Strafzumessung den (Berufs-)Richtern oblag, erging der Schuldspruch auf der Grundlage des Wahrspruchs der Geschworenen, wie es unmittelbar aus § 81 GVG 1877 folgte, wonach die Jury „zur Entscheidung der Schuldfrage“ berufen ist. Sie war hierfür ausschließlich, vollumfänglich und originär zuständig.339 Zu diesem Zweck hatte sie die Beweise 334

s. dazu bereits in Anm. 161 (S. 93). Die Rechtsfindung im Geschworenengericht – Anlage 5 zu den Motiven des Entwurfs einer Deutschen Strafprozeßordnung, abgedr. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 444. 336 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 102. 337 Vorbemerkung zur Begründung der §§ 276 ff. RStPO bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 214. 338 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 102. 339 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 1, S. 102. 335

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

zu würdigen. Die (Berufs-)Richter waren hiervon ausgeschlossen und hatten sich jeder Beweiswürdigung zu enthalten. Für den Vorsitzenden hat es § 300 RStPO explizit ausgesprochen. Die Vorschrift regelte die (Rechts-)Belehrung des Vorsitzenden, welche er den Geschworenen vor deren Beratung zu erteilen hatte. Danach belehrte er sie, „ohne in eine Würdigung der Beweise einzugehen, […] über die rechtlichen Gesichtspunkte, welche sie bei der Lösung der ihnen gestellten Aufgabe in Betracht zu ziehen haben“. Der Schuldspruch und die zugrunde liegende Beweiswürdigung war vor diesem gesetzlichen Hintergrund die ureigenste Aufgabe und Funktion der Laienrichter beim Schwurgericht. Die Leitung der Hauptverhandlung und damit die Verhandlungsbefugnis lag dagegen bei den Berufsrichtern und dabei insbesondere in der Hand des Vorsitzenden. Der Abschnitt über die „Hauptverhandlung vor den Schwurgerichten“ enthält sich zwar einer ausdrücklichen Regelung hierzu. Es folgt aber aus § 276 RStPO, wonach die allgemeinen Vorschriften zur Hauptverhandlung ebenso vor den Schwurgerichten zur Anwendung kommen, soweit nicht in §§ 277 ff. RStPO ein Anderes bestimmt ist. Weil es an einer diesbezüglichen Norm fehlt, oblag die Verhandlungsleitung dem Vorsitzenden des Schwurgerichts. Hieraus folgt, dass er – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit seinen richterlichen Berufskollegen – für die Tatsachenerforschung und die Sammlung und Erhebung der Beweise zuständig war, über die, um es nochmals zu betonen, später die Geschworenen zu befinden hatten. Ob sich bei einer solchen Aufgabenteilung formelle und – mehr noch – mate­ rielle Unmittelbarkeit im theoretischen und gesetzlichen Ausgangspunkt durchsetzen konnten, muss ernsthaft bezweifelt werden. Weil formelle Unmittelbarkeit de lege lata in § 261 StPO loziert ist, soll dabei zunächst der Vorgang der Beweiswürdigung und Urteilsfindung bei den Schwurgerichten näher betrachtet werden. Dass die Geschworenen dabei an formelle Unmittelbarkeit gebunden sind, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. „Es sei eine in der Natur des Laienrichteramtes gegründete Forderung, daß der Geschworene seine Kenntnis des Sachverhalts ausschließlich aus dem Inhalt der Verhandlung schöpfe“, liest man in diesem Sinne in den Motiven.340 Damit und mit § 260 RStPO – als im Wortlaut identischen Vorläufer von § 261 StPO – hätte es an sich sein Bewenden haben können. Man hielt es aber nicht für ausreichend, wie es sehr anschaulich vom Abg. Struckmann in der abschließenden Beratung deutlich gemacht worden ist341: „Was aber ausgeschlossen sein muß, ist, daß die Geschworenen, wenn ihnen zufällig bei der Beratung ein Umstand aufstößt, diesen berücksichtigen, obwohl derselbe ein Gegenstand der öffentlichen Verhandlung gar nicht gewesen ist. Das ist ein

340

Abg. Gaupp während der ersten Beratung, s. Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 895. 341 Vgl. zum Folgenden Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 2, S. 1909 ff. (Hervorhebung nicht im Original).

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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großer Fehler bei dem ganzen Geschworneninstitut, wenn derartige Tatumstände, auf welche weder vom Verteidiger noch vom Staatsanwalt aufmerksam gemacht und über welche gar nicht verhandelt worden ist, dem Ausspruch der Geschworenen zu Grunde gelegt werden, sofern sie im Kopfe eines Geschworenen plötzlich auftauchen. Das muß im Interesse der wahren Gerechtigkeit vermieden werden.“ Dieser – an sich schon durch § 260 RStPO gebannten – Gefahr wollte man (zusätzlich noch) durch das System der Fragestellung begegnen, wie es in §§ 290 ff. RStPO niedergelegt war. In dieser Hinsicht hatten die Geschworenen – vom Gerichtsvorsitzenden entworfene (§ 290 Abs. 1 RStPO) – Fragen mit „Ja oder Nein“ zu beantworten, § 292 Abs. 1 RStPO. Am Beginn stand dabei die Hauptfrage, ob der Angeklagte schuldig ist (§ 293 RStPO). Für den Fall, dass sie mit „Ja“ beantwortet worden ist, konnten noch, soweit es darauf im jeweils konkreten Einzelfall ankam, Nebenfragen gestellt und beantwortet werden, etwa über vom (Straf-) Gesetz vorgesehene strafmildernde bzw. -schärfende Aspekte (§§ 295, 297 RStPO) bzw. die „zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht“ von Jugendlichen (§ 298 Abs. 1 RStPO). An diese Fragen waren die Geschworenen gebunden und hatten sie unter Beachtung von § 260 RStPO zu beantworten. Das System der Fragestellung sah sich jedoch vielfältiger Kritik ausgesetzt, die schon in den Motiven zur Reichsstrafprozessordnung nicht verhehlt wird.342 Zugleich wurden darin Gegenvorschläge aus ausländischen Rechtsordnungen dargeboten, die darauf hinausliefen, die Geschworenen von dem Zwange zur Fragestellung zu befreien, ihnen die Anklageformel direkt zum Spruch zu überweisen, und die richterliche Vermittelung zwischen Anklage und Spruch lediglich in die Rechtsbelehrung zu verlegen.343 Es wurde insofern an das englische System der Jury gedacht und mit dem französischen und bereits in einigen Teilen Deutschlands praktizierten Modell des Geschworenengerichts verglichen. Der entscheidende Unterschied bestand „darin, daß der Wahrspruch der englischen Jury sich unmittelbar auf die Anklage bezieht, daß somit nicht, wie in Deutschland und Frankreich, gewisse, von dem Gerichtshofe oder dessen Vorsitzenden entworfene

342

Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 221: „Die Bedenken, welche gegen das System der Fragestellung sich geltend machen, ruhen in dem Grundgedanken dieses Systems, wonach die für jede Urteilsfindung erforderliche Geistestätigkeit zwischen zwei selbständigen Faktoren (Richter und Geschworene) der Art geteilt ist, daß die Richter durch formulierte Fragen den Geschworenen eine begrenzte Bahn ziehen, innerhalb welcher diese das Recht zu suchen und ihren Spruch zu formulieren haben. Jedes Mißverständnis über den Sinn der gestellten Frage birgt die Gefahr eines fehlerhaften Spruchs, während die Gelegenheit zu Mißverständnissen dadurch gegeben ist, daß der fragende Faktor der Beratung des antwortenden nicht beiwohnt.“ Dieser missliche Umstand sollte dadurch etwas abgefangen werden (können), als dass die Geschworenen bei der Formulierung der Fragen mitwirken konnten, §§ 290, 291 RStPO. 343 Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 221 (Hervor­ hebungen nicht im Original). Dabei zeigen die hervorgehobenen Passagen, dass selbst das englische (Gegen-)Modell der Jury nicht von Unmittelbarkeit im ureigensten Sinne geprägt war.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Fragen die Vermittelung zwischen Anklage und Wahrspruch bilden“.344 Als wahrhaft unmittelbar verstanden selbst die Verfasser der Reichsstrafprozessordnung, obwohl damit die Abkehr vom Inquisitionsprozess endgültig abgeschlossen worden ist und der Unmittelbarkeitsgrundsatz als „klassisches“ Prinzip seinen Ursprung in eben dieser Abkehr hat345, das Verfahren vor den Schwurgerichten von daher nicht. Mehr noch gilt dies für materielle Unmittelbarkeit. Anhaltspunkte dafür finden sich ebenfalls in den Motiven. Bei deren Lektüre gewinnt man den Eindruck, dass materielle Unmittelbarkeit in Verfahren vor den Schwurgerichten eher vernach­ lässigt worden ist und werden konnte, wenngleich sie sich an keiner Stelle der Unmittelbarkeit in Verfahren vor den Schwurgerichten unmittelbar annehmen. Es wird aber von einem Schwurgerichtsprozess berichtet, wonach es eher nicht der Fall war. Es handelte sich um ein sog. Pressevergehen, bei dem eine Broschüre beleidigenden Inhalts von einer Zeitung in Umlauf gebracht worden ist und man deshalb über die hierfür verantwortlichen Personen zu Gericht saß. Ein späteres Kommissionsmitglied war als Verteidiger für die Angeklagten bestellt und berichtete in der zweiten Beratung des Gerichtsverfassungsgesetzes davon, dass „die Geschworenen, welchen von dem Inhalt der Broschüre – wenigstens auch im Auszug – Kenntnis gegeben und erkenntlich war“346, freigesprochen haben. Aufgrund des Einschubs wie der hervorgehobenen Passage lässt sich kaum sagen, dass dieses Verfahren von materieller Unmittelbarkeit beherrscht gewesen ist. Anderenfalls hätte den Geschworenen nämlich zum einen die komplette Broschüre zur Kenntnis gegeben werden müssen. Es folgt daraus, dass sich im Einzelfall oft erst unter Berücksichtigung der gesamten Begleitumstände und des Gesamtzusammenhangs ergibt, ob tatsächlich eine Beleidigung vorliegt und gewollt ist.347 Vor diesem Hintergrund genügt eine bloß auszugsweise Verlesung eines 344 s. zum Folgenden Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 445 f. An anderer Stelle erfährt man, dass man dem englischen Modell u. a. wegen der wesentlichen Verschiedenheit im materiellen Strafrecht zwischen England und Deutschland nicht gefolgt ist, Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 222. Der Hinweis ist insofern von Interesse, als dass noch aufzuzeigen sein wird, dass das Unmittelbarkeitsprinzip nicht bloß autonom aus der Binnensicht des (Straf-)Prozessrechts betrachtet werden darf, sondern nicht minder in seiner Abhängigkeit vom sachlichen (Straf-)Recht gesehen werden muss, s. hierzu ausführlich im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 345 Vgl. dazu näher im 1. Teil, 1. Kapitel unter II. 346 Abg. Frankenburger bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, GVG, Abt. 2, S. 1271 (Hervorhebungen nicht im Original). 347 RGSt 41, 49, 51 (Beleidigung durch Pressevergehen): „Vollends unstatthaft aber ist es für die Auslegung der Kundgebung, einzelne Bestandteile einer einheitlichen, in sich zusammenhängenden Äußerung aus dem Zusammenhange loszulösen und auf denjenigen Sinn zu erforschen, den sie abgesehen von diesem Zusammenhange und ohne Rücksicht auf denselben ergeben.“ Vgl. ferner OLG Köln NStZ 1981, 183; OLG Karlsruhe NStZ 2005, 158; BayObLG NJW 2005, 1291; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2006, 206; OLG Hamm NStZ-RR 2007, 140; Lackner/Kühl, § 185 Rdnr. 4; Zaczyk, in: NK, § 185 Rdnr. 7; Schneider, in: HK-GS, § 185 Rdnr. 18; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, § 185 Rdnr. 8; Fischer, § 185 Rdnr. 8; Regge/Pegel,

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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kompromittierenden Schriftstücks eher nicht für die erforderliche Subsumtion unter § 185 StGB. Im Übrigen konnten sich die Geschworenen Kenntnis vom Inhalt der Broschüre nicht kraft eigener Stellung und Autorität verschaffen, sondern waren – bewusst pointiert formuliert – insofern von der Gnade des Schwurgerichtsvorsitzenden abhängig. Dies führt zu einem grundsätzlichen Punkt: Es ist nämlich zu hinterfragen, ob materielle Unmittelbarkeit überhaupt beachtet werden konnte, soweit man sie in der Sache dahingehend versteht, dass „das Gericht bei Feststellung des Sachverhalts sich in die denkbar innigste, unmittelbarste Beziehung zu den erschließenden Tatsachen setzen soll“.348 Wenn man dies für den Bereich der Beweissammlung und -erhebung de lege lata aus der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht schlussfolgern will, wie es Geppert tut349, konnte materielle Unmittelbarkeit in Schwurgerichtsverfahren allenfalls eingeschränkt zum Zuge kommen und war jedenfalls nicht im gesetzlichen Ausgangspunkt angelegt. Es versteht sich zwar von selbst, dass die Beweisaufnahme ex officio zu erfolgen hatte. Sie wurde aber nicht von den Geschworenen als dem (später) entscheidenden Spruchkörper vorgenommen. Sie erfolgte vielmehr durch die (Berufs-) Richter, während die Entscheidung der Schuldfrage den Geschworenen oblag. Weil sie aber auf das Stadium der Beweisgewinnung und deren Verlauf kaum Einfluss hatten350, konnte materielle Unmittelbarkeit vor Schwurgerichten im gesetzlichen und theoretischen Ausgangspunkt keine Beachtung im eingangs genannten Sinne finden, wenn man sie für den Bereich der Beweisaufnahme ausschließlich in der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht verortet wissen will. Um es auf den Punkt zu bringen: Ob der (unmittelbare) Augenzeuge vernommen wird oder bloß der (mittelbare) Zeuge vom Hörensagen, der sein Wissen vom Augenzeugen hat,

in: MünchKommStGB, § 185 Rdnr. 9 – jeweils m. w. N. sowie noch BVerfGE 93, 266, 295 (Hervorhebungen nicht im Original): Der Sinn einer Äußerung „wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren“. Deshalb ist ein Schriftstück mit – möglicherweise – beleidigendem Umstand regelmäßig in toto zu verlesen, worin sich übrigens zeigt, dass das materielle Strafrecht bei der Anwendung strafprozessualer Regeln nicht (völlig) außer Acht gelassen werden darf, wie es an späterer Stelle noch ausführlicher aufgezeigt wird, vgl. im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 348 Bennecke-Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 249. 349 Vgl. dazu soeben unter a), S. 259. 350 Sicher konnten die Geschworenen Fragen an die Zeugen richten, §§ 276, 239 Abs. 2 RStPO. Das im Text geschilderte Ob der Beweisaufnahme lag dagegen gemäß §§ 276, 237 Abs. 1 RStPO in der Hand des Vorsitzenden. Soweit seine Leitung der Verhandlung und dabei die Aufnahme des Beweises als unzulässig beanstandet worden sind, konnte zwar gemäß § 237 Abs. 2 RStPO „das Gericht“ hierüber entscheiden. Im Falle einer Schwurgerichtssache war unter „Gericht“ aber weder das Schwurgericht als Ganzes, noch die Geschworenenbank, sondern vielmehr ausschließlich das Berufsrichterkollegium zu verstehen, wie es das Nebenein­ ander von „Gericht“ und „Geschworenen“ in verschiedenen Vorschriften, etwa §§ 309, 314, 317 RStPO, zeigt.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

oder ein inkriminiertes Schriftstück in toto oder lediglich auszugsweise verlesen wird, lag nicht in der Hand der Laienrichter. Hierüber hatten ausschließlich die Berufsrichter zu befinden. Von materieller Unmittelbarkeit dahingehend, dass sich die entscheidenden Richter in die denkbar innigste, unmittelbarste Beziehung mit der Sache zu setzen haben oder wie man diesen Gedanken noch in Worten fassen will, lässt sich angesichts dessen wohl kaum sprechen. Als Resümee lässt sich festhalten, dass materielle Unmittelbarkeit in Geschworenensachen, die damals einen nicht unbeträchtlichen Anteil an den gesamten Strafprozessen ausgemacht haben, unter diesen Vorbedingungen de lege lata nicht umfassend und keinesfalls zwingend zur Entfaltung kommen konnte, soweit es jedenfalls die Annahme vom theoretischen und gesetzlichen Ausgangspunkt betrifft, dass sie Ausfluss der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht im Rahmen der Beweisaufnahme sein soll. (2) Entstehungsgeschichte von § 244 Abs. 2 StPO Von besonderer Bedeutung für eine Untersuchung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in seiner materiellen Komponente, und zwar wegen der historischen Auslegung selbst noch für das geltende Recht, ist ferner die Ent­ stehungsgeschichte der insofern maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften. Geppert selbst befasst sich zwar durchaus sehr ausführlich mit dem Gesetzgebungsverfahren zur (Reichs-)Strafprozessordnung. Er beschränkt seine Darstellung aber auf § 250 StPO und die Ausnahmen davon in den folgenden (Verlesungs-)Vorschriften bzw. die entsprechenden Vorläuferregelungen in den einzelnen Entwürfen.351 Dies überrascht einigermaßen. Schließlich will er darin bloß einen Teilbereich materieller Unmittelbarkeit und keinesfalls den Sitz des Unmittelbarkeitsprinzips schlechthin erblicken.352 Demgegenüber bleiben die – aus seiner Sicht – zentralere gerichtliche Amtsaufklärungspflicht und deren gesetzlichen Grundlagen in der entstehungsgeschichtlichen Entwicklung weitgehend unbeachtet. Das genaue Gegenteil ist aber angezeigt, wenn man darin materielle Unmittelbarkeit gesetzlich loziert wissen will. Dabei ist die Darstellung schon deshalb erforderlich, weil man in dieser Hinsicht gelegentlich dem Irrtum erliegt, dass bereits der Gesetzgeber des Jahres 1877 die „Generalklausel des § 244 Abs. 2 StPO“ installiert hätte353. Mitnichten ist es aber der Fall, wie die folgenden Ausführungen im Einzelnen noch zeigen werden. Um unnötige Wiederholungen in Detailfragen zu vermeiden, wird dabei auf ent-

351

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 100 ff. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181. 353 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 183 in Fn. 82; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 55. 352

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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sprechende Vorarbeiten zurückgegriffen werden.354 Dessen ungeachtet soll der gesetzliche Werdegang noch einmal kurz nachgezeichnet werden. In der Ursprungsfassung der Reichsstrafprozessordnung sucht man ein explizites Bekenntnis zur gerichtlichen Pflicht, die Wahrheit zu erforschen, ver­gebens. Insbesondere ermangelte es § 244 Abs. 2 StPO. Die ursprüngliche Fassung der (Reichs-)Strafprozessordnung kannte die Vorschrift oder einen vergleichbaren Vorläufer – für den Bereich der Beweisaufnahme – noch nicht. Diesem Umstand war man sich bei Entstehung und Verabschiedung der Reichsstrafprozessordnung durchaus bewusst. Ganz in diesem Sinne äußerte sich von Mittnacht, seines Zeichens u. a. Justizminister des Königreichs Baden-Württemberg, auf der ersten Beratung im Plenum des Reichtages355: „Der Satz, daß der Strafprozeß die Herstellung der materiellen Wahrheit als oberstes Ziel sich zu setzen habe, ist im Entwurfe nirgends ausdrücklich ausgesprochen, es beherrscht ihn aber als oberstes Axiom.“

Daran ist richtig, dass es an einer unmittelbaren Aussage zur (gerichtlichen) Verpflichtung der Wahrheitserforschung in der Ursprungsfassung der Reichs­ strafprozessordnung in der Tat fehlt. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es nicht Vorschriften gab, in denen dies – für den Bereich der Beweisaufnahme356 – jedenfalls mittelbar loziert gewesen sein kann. Eine solche Pflicht gab es zunächst für präsente Beweismittel gemäß § 244 Abs. 1 RStPO, dessen sachlicher Inhalt im Wesentlichen dem heutigen § 245 Abs. 1 StPO entspricht. Dabei konnten Zeugen nicht bloß von der Staatsanwaltschaft gestellt werden. Vielmehr konnte der Vorsitzende des Gerichts gemäß § 220 354 Vgl. in dieser Hinsicht vor allem Wenner, Aufklärungspflicht, S. 7 ff.; Engels, Aufklärungs­ pflicht, S. 44 ff.; Schatz, Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung, S. 55 ff. 355 s. bei Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 497 ff., 500. 356 Weil Unmittelbarkeit primär als Beweisprinzip verstanden wird, wird sich darauf im Folgenden konzentriert. In allgemeiner Hinsicht darf indes § 153 Abs. 2 RStPO nicht unerwähnt bleiben. Sein Wortlaut braucht an dieser Stelle nicht wiedergegeben zu werden. Er entspricht nämlich – von zwischenzeitlichen Rechtschreibreformen abgesehen – wortlautgetreu dem heutigen § 155 Abs. 2 StPO, wonach die Gerichte bei der Untersuchung und Entscheidung bloß an die Grenzen der Anklage gebunden, innerhalb dieser Grenzen aber „zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigt und verpflichtet sind“. Während man aus der Berechtigung noch auf ein Ermessen hinsichtlich des Umfangs der gerichtlichen Tätigkeit schließen könnte, verbietet es sich aber angesichts dessen, dass mit der Berechtigung eine entsprechende Verpflichtung korrespondiert. Insofern statuierte § 153 Abs. 2 RStPO eine gerichtliche Amtsaufklärungspflicht. Sein Nachfolger, § 155 Abs. 2 StPO, ist zwar bis heute unverändert geblieben. Dennoch steht sein Pendant in § 244 Abs. 2 StPO deutlich mehr im Fokus des wissenschaftlichen Interesses (s. zur Vernachlässigung des § 155 Abs. 2 StPO etwa Meyer-Goßner, NJW 1970, 415; Krüger, NJ 2004, 295, 298 in Fn. 22 sowie Maul, Peters-Festgabe, S. 47, der in seinem umfassenden Katalog der gesetzlichen Vorschriften über die strafprozessuale Aufklärungspflicht § 155 StPO unerwähnt lässt). In rechtsgeschichtlicher Perspektive sollte dies aber einmal überdacht werden. Wenn es überhaupt eine Regelung zur gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht in der Reichsstrafprozessordnung gab, war dies gerade nicht § 244 Abs. 2 StPO, sondern vielmehr § 153 Abs. 2 RStPO als Vorläufer des heutigen § 155 Abs. 2 StPO.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

RStPO im Zwischenverfahren „auch von Amtswegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen“, wie es nunmehr in § 221 StPO vorgesehen ist. Wenn es zu einer solchen Ladung kam oder die Beweismittel sonst in der Hauptverhandlung präsent waren, hatte sich die Beweisaufnahme darauf zu erstrecken. In dieser Hinsicht sah § 244 Abs. 1 RStPO unmissverständlich eine gerichtliche Amtsaufklärungspflicht vor. § 244 Abs. 2 RStPO wiederum traf eine davon abweichende Regelung, und zwar folgenden Inhalts: „In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf er­ hobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.“

Für die im Gesetz genannten Fälle scheint damit wieder ein Ermessen des Gerichts hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme statuiert worden zu sein. In der Folgezeit wurde durch eine Vielzahl von Änderungen daran festgehalten, wenngleich sich die Arten von Verfahren, bei denen die Vorschrift zur Anwendung kam, immer etwas variiert hat.357 Den (traurigen) Höhepunkt bildet dabei die Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 1932. Danach bestimmte das Gericht in Verfahren vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und vor dem Landgericht in der Berufungsinstanz „nach freiem Ermessen den Umfang der Beweisaufnahme“.358 Wie die hervorgehobene Passage zeigt, spricht diese Fassung bei unbefangener und isolierter Betrachtung gegen eine allumfassende gerichtliche Amtsaufklärungspflicht in (bestimmten) Strafsachen. Damit ist es aber noch nicht getan. Vielmehr muss der Blick noch auf eine weitere Vorschrift gelenkt werden. In dieser Hinsicht wird an § 243 Abs. 3 RStPO gedacht, der bei Verabschiedung der Reichsstrafprozessordnung folgenden Wortlaut hatte: „Das Gericht kann auf Antrag oder von Amtswegen die Ladung von Zeugen und Sach­ verständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.“

Aus den Worten „von Amtswegen“ könnte man auf den ersten Blick meinen, dass die Vorschrift eine strikte Bindung des Gerichts an die Pflicht zur Amtsaufklärung vorsieht. Andererseits räumt sie zugleich Ermessen ein, indem sie bloß von einem Können spricht („kann“), nicht aber ein Muss vorsieht, wie es die heutige Regelung des § 244 Abs. 2 StPO tut („hat“). Überhaupt ist fraglich, auf 357 Vgl. zum gesetzlichen Werdegang von § 245 Abs. 2 StPO näher Schatz, Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung, S. 93 ff., 99 ff. Ein Abdruck der einzelnen Vorschriften findet sich bei Wenner, Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO, S. 12 ff. sowie bei Engels, Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO, Anhang A (S. 165 ff.). 358 Art. 3 § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 1932 (RGBl. I S. 285).

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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welchen Aspekt sich die Vorschrift unmittelbar bezog. Die Vorschrift regelte lediglich die Befugnisse des Vorsitzenden im Verhältnis zum (übrigen) Richterkollegium. Die Reichsstrafprozessordnung sah vor, ohne dass sich daran etwas geändert hätte (§ 214 StPO), dass der Gerichtsvorsitzende bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung die Zeugen lädt. Im Laufe der weiteren Beratung in der Kommission kam die Frage auf359, ob „die diskretionäre Befugnis des Vorsitzenden zur Ladung von Zeugen habe ausgeschlossen werden sollen“, wenn sich das entsprechende Bedürfnis erst während der Hauptverhandlung zeigt. Dabei bestand Konsens, „dem Vorsitzenden die Ladungsbefugnis während der Hauptverhandlung versagen“ zu wollen, ohne dem Gericht als solchem dieses Recht abzuschneiden. Insofern soll „die Ladungsbefugnis dem Gericht, nicht dem Vorsitzenden eingeräumt“ werden. Von daher ging es bei § 243 Abs. 3 RStPO lediglich um die Abgrenzung eher formaler Kompetenzen innerhalb des Richterkollegiums. Vor diesem Hintergrund geht es schlechterdings nicht an, die Vorschrift sozusagen als (legitimen) Vorläufer von § 244 Abs. 2 StPO ansehen zu wollen. Eine im vorliegenden Zusammenhang einschneidende Änderung erfuhr die Reichsstrafprozessordnung erst durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935.360 § 244 Abs. 2 RStPO erhielt dadurch folgenden – in der Sache bis heute unverändert fortgeltenden361 – Wortlaut: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit not­wendig ist.“

Damit mussten fast fünfzig Jahre seit Verabschiedung der Reichsstrafprozessordnung vergehen, ehe – ausdrücklich362 – eine auf die Beweisaufnahme bezogene allumfassende, insbesondere in sämtlichen Strafverfahren und Instanzen geltende 359 s. zum Folgenden Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S.  844 ff. 360 RGBl. I S. 844. 361 Seinen bis heute fortgeltenden Wortlaut erhielt § 244 Abs. 2 StPO durch das sog. Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 455 ff., 629). 362 An dieser Stelle soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass damit bloß § 155 Abs. 2 StPO für den Bereich der Beweisaufnahme nochmals gesetzlich niedergelegt und konkretisiert worden ist. Es wurde lediglich bereits geltendes (Richter-)Recht schriftlich fixiert, das zum Inhalt hatte, die Beweisaufnahme unter die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht zu stellen, die wiederum aus § 155 Abs. 2 StPO abgeleitet wurde (vgl. zum Ganzen näher Wenner, Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO, S. 15 ff. sowie insbesondere Schatz, Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung, S. 112 bei und in Fn. 517 mit S. 61 Fn. 221 – jeweils m. w. N.), wie es der Gesetzgeber des Jahres 1935 im anderen Zusammenhang übrigens expressis verbis einräumt (s. Niethammer, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 141, 166). Im Übrigen gingen davon schon die Verfasser der Reichsstrafprozessordnung aus (s. hierfür Hahn/Mugdan, Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, StPO, Abt. 1, S. 192). Auf das Verhältnis von § 155 Abs. 2 und § 244 Abs. 2 StPO zueinander soll an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen werden, weil Geppert auf § 244 Abs. 2 StPO fokussiert, ohne dabei § 155 Abs. 2 StPO im Ansatz zu erkennen oder zu erwähnen.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Amtsaufklärungspflicht des Gerichts statuiert worden ist. Unter historischen Prämissen fällt es in dieser Hinsicht etwas schwer, § 244 Abs. 2 StPO als Hort materieller Unmittelbarkeit anzuerkennen. Denn es geht kaum zusammen, dass dieses Prinzip seinen Ursprung in der Abkehr vom Inquisitionsprozess haben soll363, welche durch die Reichsstrafprozessordnung abgeschlossen wurde, ohne dass sie § 244 Abs. 2 StPO bereits zum unmittelbaren Inhalt hatte. Dies weckt Bedenken, darin den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz de lege lata verankern zu wollen. (3) Fazit Das Fazit zur Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Vorschriften zur gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht muss ernüchternd ausfallen, wenn man darin materielle Unmittelbarkeit für den Bereich der Beweisaufnahme gesetzlich loziert wissen will. Schließlich kannte die Ursprungsfassung der Reichsstrafprozessordnung eine § 244 Abs. 2 StPO vergleichbare Vorschrift überhaupt (noch) nicht. Dies bestärkt die Vorbehalte dagegen, dass materielle Unmittelbarkeit de lege lata ausschließlich in § 244 Abs. 2 StPO niedergelegt sein soll. bb) Systematische Argumente Systematische Überlegungen bestärken diesen Verdacht, wenngleich diesbezüglich auf den ersten Blick das Gegenteil der Fall zu sein scheint. Man könnte nämlich meinen, einen Zusammenhang zwischen § 244 Abs. 2 StPO, gericht­licher Amtsaufklärungspflicht und materiellem Unmittelbarkeitsgrundsatz daraus ab­ leiten zu können, dass die Verlesungsmöglichkeiten des § 251 StPO anerkanntermaßen Ausnahmen von materieller Unmittelbarkeit sind und unter dem Vorbehalt von § 244 Abs. 2 StPO stehen, um dadurch dem Grundsatz des § 250 StPO im Einzelfall wieder zur Geltung zu verhelfen. Ein solcher Schluss wäre indes voreilig gezogen. Dabei lässt sich sogar eine (radikale) Lösung dergestalt vorstellen, dass man die Verlesungsvorschriften der §§ 251 ff. StPO vom Vorbehalt des § 244 Abs. 2 StPO ausnimmt, ohne dass sich dadurch zwangsläufig an den praktischen Konsequenzen etwas ändern müsste. Dafür bietet sich eine Parallele zum Verwaltungsrecht an. Es ist in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur unumstritten, dass sich das vom Gesetz eingeräumte Ermessen bei seiner Ausübung durch Behörden am jeweiligen Gesetzeszweck der Ermächtigung zu orientieren hat.364 Dies folgt nicht erst aus § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Darin ist zwar vorgesehen, dass eine Behörde das vom Gesetzgeber eingeräumte Ermessen bei der Ermes 363

s. dazu im 1. Teil, 1. Kapitel unter II. BVerwGE 22, 215, 218; 116, 128, 143 – jeweils m. w. N.

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9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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sensausübung „entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben“ hat. Die Vorschrift ist aber eher deklaratorischer Natur. In dieser Hinsicht heißt es etwa im Schrifttum, dass die Verpflichtung von Behörden, das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben, für eine an Recht und Gesetz orientierte Verwaltung selbst ohne die Klarstellung in § 40 VwVfG besteht.365 Unmittelbar konstitutiv ist damit der Gesetzeszweck selbst. In dieser Hinsicht könnte man bei §§ 251 ff. StPO argumentieren, dass sich das gerichtliche Ermessen nicht am Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO, sondern vielmehr (system-)immanent unmittelbar an der jeweiligen Verlesungsvorschrift und deren Telos unter Einbezug von Sinn und Zweck des § 250 StPO zu orientieren hat. Praktische Konsequenzen resultieren daraus sicher nicht. Wohl aber lässt sich dadurch der eingangs dargestellte Zusammenhang auf- und durchbrechen. Selbst wenn man sich nicht zu diesem (radikalen) Schritt entschließen kann und die Verlesungsvorschriften nicht internen Grenzen unter­werfen, sondern vielmehr unter den (eher externen) Vorbehalt des § 244 Abs. 2 StPO stellen will, kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass er deshalb zwangsläufig oder sogar zwingend der gesetzliche Hort für materielle Unmittelbarkeit ist. § 244 Abs. 2 StPO ist nämlich nicht bloß in dieser Hinsicht zu beachten, sondern gleichermaßen in anderen prozessualen Zusammenhängen, etwa bei der Frage, ob ein Zeuge gemäß § 59 StPO vereidigt wird366. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Das Gros der Prozessvorschriften sowie deren Auslegung und An­ wendung in concreto werden von § 244 Abs. 2 StPO überlagert.367 Der BGH hat es bereits früh in seiner Rechtsprechung auf den Punkt gebracht, wonach die Handhabung aller Verfahrensvorschriften unter dem beherrschenden Grundsatz des § 244 Abs. 2 StPO steht.368 Wenn die Vorschrift in dieser Hinsicht bei einer Vielzahl von Normen des Strafverfahrensrechts zu berücksichtigen ist, kann aus seiner Beachtung bei § 251 StPO nicht der Schluss gezogen werden, dass deshalb der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz de lege lata in der gerichtlichen Amts­ aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO verankert sein muss. Ein Weiteres gilt es in diesem Zusammenhang zu bedenken: Die Pflicht, ein bestimmtes tatsächliches Geschehen zu ermitteln und auf seine strafrechtliche Relevanz zu untersuchen, besteht nicht bloß für das Gericht im Hauptverfahren. Bereits im Ermittlungsverfahren ist sie de lege lata normiert. Gemäß § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft „verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten ein 365

Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40 Rdnr. 53. Vgl. in dieser Richtung ferner noch Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rdnr. 73 (Hervorhebung nicht im Original): „§ 40 stellt klar, dass Behörden von einer Ermächtigung, nach ihrem Ermessen zu handeln, nur nach Maßgabe des Gesetzeszwecks Gebrauch machen dürfen […].“ 366 Ignor/Bertheau, in: LR, § 59 Rdnr. 10; Peglau/Wilke, NStZ 2005, 186, 188 und früher bereits Rieß, NJW 1975, 81, 84 oben. 367 Vgl. dafür bloß die Zusammenstellung bei Krehl, in: KK, § 244 Rdnr. 40 m. w. N. 368 BGHSt 1, 94, 96 (Hervorhebung nicht im Original) sowie später noch BGHSt 23, 176, 187.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

zuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen“. Flankiert wird die Regelung von § 160 Abs. 1 StPO. Danach hat die Staatsanwaltschaft „zur Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen“. Durch das Zusammenspiel beider Vorschriften wird sie – de jure – zur „Herrin des Vorverfahrens“ gemacht.369 Dies ist ferner noch in Nr. 1 RiStBV niedergelegt, wonach das vorbereitende Verfahren in den Händen des Staatsanwalts liegt. An gleicher Stelle wird dieser Grundsatz aber bereits wieder abgeschwächt. Nach Nr. 3 Abs. 1 RiStBV soll er lediglich „in bedeutsamen oder in rechtlich oder tatsächlich schwierigen Fällen den Sachverhalt vom ersten Zugriff an selbst aufklären, namentlich den Tatort selbst besichtigen, die Beschuldigten und die wichtigen Zeugen selbst vernehmen“, während er im Übrigen die Behörden und Beamten des Polizeidienstes mit den Ermittlungen beauftragen darf (Nr. 3 Abs. 2 RiStBV), wie es schon § 161 Abs. 1 StPO vorsieht. Danach ist die Staatsanwaltschaft zu dem in § 160 Abs. 1 StPO bezeichneten Zweck befugt, „Ermittlungen jeder Art entweder selbst vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen“. Inzwischen sind eigene Ermittlungen durch die Polizei zur Regel geworden. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird diese Entwicklung mit Sorge betrachtet und ein Machtverlust bei der Staatsanwaltschaft bzw. ein entsprechender Machtzuwachs bei der Polizei beklagt.370 Dabei kommen viele Faktoren zusammen, wobei der Unmittelbarkeitsgrundsatz seinen Teil dazu beigetragen hat. Solange bloß richterliche Protokolle verlesbar waren und weil eine richterliche Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren – vom praktisch kaum vorkommenden Fall des § 163 Abs. 2 Satz 2 StPO – nicht von der Polizei, sondern bloß von der Staats­ anwaltschaft beantragt werden kann (§ 162 StPO), ist eine Sachnähe der Staats­ anwaltschaft unabweisbar erforderlich (gewesen), wohingegen darauf eher verzichtet werden kann, wenn selbst polizeiliche Vernehmungsprotokolle verlesen werden dürfen. Mit der angesprochenen Sachnähe wird der Bogen wieder zum (materiellen) Unmittelbarkeitsprinzip geschlagen. Wenn es aus der Amtsaufklärungspflicht folgen soll, müsste es im Hinblick auf §§ 152 Abs. 2, 160 StPO bereits im Vorverfahren in der Weise zur Geltung kommen (müssen), als dass die Staatsanwaltschaft regelmäßig selbst ermittelt. Die Realität sieht freilich anders aus. Danach trifft sie – auf eher mittelbare Weise371 – eine Abschlussentscheidung auf Basis der

369 Vgl. zu dieser gebräuchlichen Formulierung bloß Beulke, in: LR, § 152 Rdnr. 2 sowie BGHSt 51, 285, 295. 370 Vgl. dazu bloß Lilie, ZStW 106 (1994), 625 ff.; ders., ZStW 111 (1999), 807 ff. Besonders bezeichnend ist es dabei, wenn von Seiten der Staatsanwaltschaft zugelassen wird, dass die Polizei weitestgehend „autark“ ermittelt (Zitat aus BGHSt 51, 285, 295). 371 Weigend, Eisenberg-Festschrift, S. 657, 666 erkennt dies und leitet aus solchen Kom­ promissen der Rechtsordnung ab, „dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz ein generelles Opti­ mierungsgebot enthält, das aber gegenüber anderen Interessen zurückgestellt werden kann“.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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von der Polizei gefertigten Vernehmungsprotokolle und Sachberichte. Man könnte nunmehr zwar anführen, dass eben diese Praxis von Rechts wegen hingenommen wird, weil es § 161 Abs. 1 StPO der Staatsanwaltschaft überlässt, „Ermittlungen jeder Art entweder selbst vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen“. Die diesbezügliche Entscheidung unterliegt zwar einem Ermessen, das aber keinesfalls völlig frei und ungebunden ist, wie schon Nr. 3 Abs. 1 RiStBV zeigt. Vielmehr unterliegt sie der (staatsanwaltschaftlichen) Amtsaufklärungspflicht. Im Schrifttum ist insofern die Rede davon, dass nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist, ob die Staatsanwaltschaft eigene Ermittlungen vornimmt oder damit vielmehr die Behörden und Beamten des Polizeidienstes beauftragt372, ohne dass die dafür maßgebliche Rechts­ vorschrift genannt wird. Dies kann aber – schon wegen der textlichen Verknüpfung in § 161 StPO – bloß die Norm des § 160 StPO und damit die allgemeine (staatsanwaltschaftliche) Amtsaufklärungspflicht sein. Wenn sie zugleich noch der Hort der (materiellen) Unmittelbarkeit wäre, wären Ermittlungen durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes regelmäßig nicht möglich, wodurch diese Variante des § 161 Abs. 1 StPO ad absurdum geführt worden wäre. Weil aber dies wiederum absurd ist, liegt vielmehr die Annahme nahe, dass materielle Unmittelbarkeit gerade nicht als Ausfluss der (gerichtlichen) Amtsaufklärungspflicht anzusehen und damit de lege lata nicht in § 244 Abs. 2 StPO loziert sein kann. Der vorgenannten Argumentation lässt sich nicht entgegenhalten, dass Unmittelbarkeit bloß ein Verfahrensprinzip der Hauptverhandlung sein soll.373 Dabei wird nämlich nicht klar, ob sich die Aussage auf formelle Unmittelbarkeit beschränkt oder ferner auf den materiellen Kern des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes erstreckt. Ferner wird nicht deutlich, ob damit auf die Ebene de lege lata oder de lege ferenda angespielt wird. Wenn man aber, wie es Geppert zu Recht einfordert, zwischen beiden Ebenen unterscheiden muss374, um anschließend die „materielle“ Unmittelbarkeit als abstraktes Denkprinzip de lege lata in § 244 Abs. 2 StPO zu verankern375, kann durchaus der Frage nachgegangen werden, wie es um die Konsequenzen einer solchen Sichtweise, insbesondere bei sachlich identischen Vorschriften zur Amtsaufklärungspflicht, bestellt ist. Weil sie sich, wie gezeigt, bei den Parallelregelungen im Vorverfahren mit der gesetzlichen Konzeption des Ermittlungsverfahrens eher nicht verträgt, kommen Zweifel auf, ob materielle Unmittelbarkeit tatsächlich in § 244 Abs. 2 StPO normiert sein kann. 372 Erb, in: LR, § 161 Rdnr. 44. Vgl. in dieser Richtung bereits Lautz, in: Gürtner (Hrsg.), Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 96, 107 (Hervorhebungen nicht im Original): Der Staatsanwalt „soll […] jedenfalls in allen Strafsachen von besonderer Bedeutung die wichtigen Ermittlungen selbst vornehmen, insbesondere den Beschuldigten selbst anhören und sich von den wesentlichen Beweisen einen unmittelbaren Eindruck verschaffen.“ 373 s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 1. 374 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162. 375 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 162 ff., 181 ff.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Dafür sprechen schlussendlich noch – vergleichende376 – Betrachtungen zu anderen Verfahrensordnungen. Obwohl etwa der Verwaltungsgerichtsprozess wie die freiwillige Gerichtsbarkeit vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht sind, wird er in Rechtsprechung und Schrifttum gerade nicht als der Garant für materielle Unmittelbarkeit ausgemacht. Umgekehrt wird im Zivilprozess die Geltung von materieller Unmittelbarkeit zwar geleugnet, wie aufgezeigt aber zu Unrecht, obwohl dieser Gerichtszweig maßgeblich von Partei- und Dispositionsmaxime bestimmt wird. Dies bestärkt die schon anderweitig genährten Zweifel, materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme als Ausfluss der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO begreifen zu wollen. d) Fazit Es geht nicht an, materielle Unmittelbarkeit de lege lata in § 244 Abs. 2 StPO loziert sehen zu wollen. Dagegen sprechen bereits historische Argumente, ins­ besondere weil die Reichsstrafprozessordnung, obwohl sie den Übergang zum reformierten Strafprozess beendet hatte und man gerade in der Abkehr vom Inquisitionsprozess die Geburtsstunde des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes erblickt, die Vorschrift nicht kannte. Im Übrigen sind systematische Argumente anzuführen. Es leuchtet schwerlich ein, materielle Unmittelbarkeit als durch die gerichtliche Amtsaufklärungspflicht gewährleistet anzusehen, wenn sie in anderen Gerichtszweigen diese Funktion gerade nicht hat bzw. haben soll und umgekehrt 376 Auf rechtsvergleichende Aspekte soll an dieser Stelle verzichtet werden. Geppert spart sie in seinen Überlegungen dagegen nicht aus. Sie lassen aber keinesfalls den zwingenden Schluss zu, materielle Unmittelbarkeit de lege lata als Ausfluss der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO anzusehen, sondern weisen sogar eher in eine andere Richtung. Geppert stellt in dieser Hinsicht das Beweisrecht des englischen Strafverfahrens dar. Dabei widmet er sich der sog. „hearsay rule“ als Unterfall der sog. „best evidence rule“ (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 30 ff.). Nach der „hearsay rule“ sind alle schriftlichen oder mündlichen Zeugenaussagen, welche die Weitergabe fremder Tatsachenwahrnehmungen zum Inhalt haben und die Wahrheit der mitgeteilten Tatsachen erweisen sollen, grundsätzlich unzulässig (Definition aus Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 36 m. w. N.). Eben diese „hearsay rule“ nimmt er später dafür in Anspruch, dass sedes materiae für die Zulässigkeit mittelbarer Beweise nicht erst § 261 StPO, sondern vielmehr bereits zeitlich früher das Stadium der Beweisheranziehung und damit grundsätzlich § 244 Abs. 2 StPO sein soll (Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 184). Dabei wird aber nicht darauf eingegangen, ob und wie es sich damit verträgt, dass der englische Strafprozess, wie von Geppert selbst erkannt, eine Art von Parteien-Prozess zwischen dem Vertreter der Anklage und der Beschuldigtenseite ist (ebd., S. 26) und damit die Beweisaufnahme – im Gegensatz zu § 244 Abs. 2 StPO – Sache der Parteien (ebd., S. 30). Insofern ist sein Schluss vom englischen Beweisrecht auf den Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren keinesfalls zwingend. Vielmehr lässt er sogar eher den Schluss zu, dass das Prozessprinzip unabhängig von der Form der Beweisaufnahme gilt und damit zwangsläufig auf andere Art und Weise, insbesondere durch andere Rechtsvorschriften zur Geltung kommen muss.

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im Zivilprozess, obwohl nicht davon, sondern vielmehr vom genauen Gegenteil (Partei- und Dispositionsmaxime) beherrscht, materielle Unmittelbarkeit durchaus ebenfalls zum Tragen kommt. Von daher kann dieser Grundsatz eher nicht § 244 Abs. 2 StPO zugeschrieben werden, sodass sich nach einer anderen gesetzlichen Vorschrift umzutun ist, in der er de lege lata loziert sein könnte. 2. Materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) Damit kommt die Frage auf, ob man insofern nicht den Grundsatz der freien Beweiswürdigung in den Blick zu nehmen hat. Dafür könnte insbesondere der Umstand sprechen, dass er, worauf schon anderenorts expressis verbis hingewiesen worden ist, sämtlichen Verfahrensordnungen immanent ist.377 Dabei haben die bisherigen Überlegungen gezeigt, dass gerade er für materielle Unmittelbarkeit in den einzelnen Gerichtszweigen sorgt. Im Übrigen hielt er im Strafverfahren – deutschlandweit – erstmals mit § 260 RStPO, und zwar seither unverändert, seinen Einzug. Dies ist deshalb besonders zu erwähnen, weil die Reichsstrafprozessordnung den Übergang zum reformierten Strafprozess beendete und der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz seine Entstehung bekanntlich gerade der Abkehr vom Inquisitionsprozess verdankt. Damit kann es freilich nicht sein Bewenden haben und es ist vielmehr näher auf die Bedeutung der Vorschrift im gesetzlichen Beweissystem einzugehen. Im Schrifttum ist man sich eines diesbezüglichen Zusammenhangs zwischen § 244 Abs. 2 StPO einerseits und § 261 StPO andererseits durchaus bewusst. In dieser Hinsicht ist etwa von einem „Systemzusammenhang“ die Rede.378 Anderenorts spricht man – in der Sache ohne Unterschied – vom „funktionale(n) Zusammenhang der Beweisgrundsätze“.379 Teilweise äußert man sich etwas vorsichtiger dahingehend, dass „Beweiswürdigungsprinzipien Fernwirkungen auf die Grundsätze zur Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme haben“.380 Das Bundesverfassungsgericht spricht im Zusammenhang mit den Verlesungsvorschriften in dieser Richtung von der ausgleichenden Funktion bzw. dem Regulativ der freien 377

Hanack, JuS 1977, 727; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 3. Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 23. Vgl. ferner noch Krehl, in: KK, § 244 Rdnr. 29 a. E.: „Das Aufklärungsgebot ist der rechtliche Rahmen, welcher der Freiheit individueller richterlicher Überzeugungsbildung die Legitimität rationaler Begründung verleiht; es ist in­ soweit die Maxime, die das ‚Schöpfen aus dem Inbegriff der Verhandlung‘ (§ 261 StPO) erst er­möglicht.“ 379 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 33 sowie ferner Hanack, JuS 1977, 727, wonach § 261 StPO selbstverständlich in enger Sachbeziehung zur gerichtlichen Aufklärungspflicht zu verstehen ist. Selbst Geppert, auf dessen Auffassung sogleich oben im Text eingegangen wird, versteht die freie Beweiswürdigung an anderer Stelle als „­logische Weiterführung der Amtsaufklärungspflicht“, Geppert, JURA 2004, 105. 380 Kunert, GA 1979, 401, 403 (Hervorhebung im Original). 378

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Beweiswürdigung.381 Dabei wird sich aber jeweils mehr der Ebene de lege ferenda zugewendet, ohne dass hinterfragt wird, ob ein solcher Zusammenhang seinen Niederschlag im geltenden Recht gefunden hat. Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, wie es darum bestellt ist. Voraussetzung dafür ist, dass § 244 Abs. 2 StPO bereits eine Aussage über seine Bedeutung für die spätere Beweiswürdigung trifft – und umgekehrt § 261 StPO schon bei der Beweisaufnahme seine Relevanz zeitigt. Von Geppert wird dies bekanntlich deshalb nicht für möglich gehalten, weil die Vorschrift des § 261 StPO nicht mehr die Beweisaufnahme soll betreffen können.382 Die „in § 261 StPO angesprochene Freiheit (‚nach seiner freien … Überzeugung‘) betrifft freilich nur das Stadium der Beweiswürdigung und damit nur den Bereich der erkenntnisrichterlichen Tätigkeit, der in Schlußfolgerungen und Bewertung vorgelegter Beweise besteht. […] Von der Frage der Beweisbewertung ist die Frage der Beweis­gewinnung und -heranziehung streng zu unterscheiden. Ob ein Beweismittel überhaupt zum Beweis herangezogen werden darf, entscheidet sich im Rahmen der Beweisaufnahme, also zeitlich vor dem Stadium der Beweisbewertung.“ Deshalb soll der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner materiellen Variante de lege lata nicht in § 261 StPO loziert sein (können). Einmal abgesehen davon, dass er sich damit in Widerspruch zur eigenen Aussage setzt, dass es nicht ganz korrekt sei, wenn behauptet wird, dass § 261 StPO nicht bereits die Beweisaufnahme betreffen soll383, haben frühere Erörterungen gezeigt, dass § 261 StPO sehr wohl schon eine Aussage darüber trifft, nämlich deren formelle Unmittelbarkeit voraussetzt384, sodass sich der diesbezügliche Einwand von Geppert erledigt hat. Schlussendlich formuliert er das aus seiner Sicht entscheidende Argument gegen die Annahme, dass materielle Unmittelbarkeit über § 261 StPO zum Tragen kommen könnte, wie folgt385: Durchaus könne es „mangelnde Zuverlässigkeit sein, die der Beweisheranziehung entgegenstehen kann; in diesem Fall hätte das Gesetz selbst gewissermaßen in einer Art antizipierter Beweisbewertung ein negatives Qualitätsurteil ausgesprochen. Eine solche negative Auslese muß in einem Verfahrenssystem freier Beweiswürdigung freilich im Gesetz selbst zum Aus 381

BVerfGE 57, 250, 278 ff. Vgl. zum Folgenden Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 181 ff. In die gleiche Richtung weisen die Ausführungen von Meurer, KaufmannGedächtnisschrift, S. 947 ff., der scheinbar ebenfalls von einer strikten Trennung zwischen „Beweiserhebung und Beweiswürdigung“ in seinem gleichnamigen Beitrag ausgeht. 383 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 145. 384 s. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel unter II. 385 Vgl. zum Folgenden Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 183. Durch die Formulierung von Unmittelbarkeit als einer „Art antizipierter Beweisbewertung“ gibt Geppert zu erkennen, dass er eine Kollision mit dem Verbot der vorweg­ genommenen Beweiswürdigung sieht und mit der gegebenen Begründung ausschließen will. Die sogleich oben im Text folgenden Ausführungen werden aber zeigen, dass ein Verstoß gegen das Beweisantizipationsverbot selbst für den Fall nicht angenommen werden kann, dass man materielle Unmittelbarkeit als de lege lata (bloß) in § 261 StPO loziert ansieht. 382

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druck gebracht worden sein.“ Dafür wiederum soll sich die Amtsermittlungspflicht und deren gesetzliche Vorschrift eher als die freie Beweiswürdigung und die dies­ bezügliche Gesetzesnorm anbieten. Der Einwand suggeriert, dass es sich um eine echte Freiheit der Beweiswürdigung handelt. Das Verständnis der freien Beweiswürdigung hat sich in der Vergangenheit jedoch grundlegend gewandelt. Keinesfalls handelt es sich dabei (mehr) um eine unreglementierte Freiheit. In der Revisionsrechtsprechung heißt es zwar immer wieder, dass die Beweiswürdigung die originäre und ureigenste Aufgabe der Tatgerichte sei, deren inhaltliche Richtigkeit der revisionsrechtlichen Kontrolle weitestgehend entzogen und insofern bloß in engen Grenzen angreifbar sein soll.386 Bei näherer Betrachtung lässt sich aber kaum noch von einer völligen richterlichen Freiheit sprechen. Davon konnte (noch) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rede sein, als das Prinzip freier richterlicher Beweiswürdigung als eine rationaler Analyse unzugängliche und rein intuitive Gefühlsäußerung (miss-) verstanden wurde.387 Inzwischen unterliegt die freie Beweiswürdigung aber zahlreichen rationalen Maßstäben, die wiederum einer revisionsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. In dieser Hinsicht ist im Ausgangspunkt unstreitig, dass die freie Beweis­ würdigung rechtsfehlerhaft ist und der Aufhebung durch die Revisionsgerichte unterliegt, wenn sie gegen wissenschaftliche Erkenntnisse, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt388, wie schon vom Reichsgericht angenommen389. Im Zusammenhang mit materieller Unmittelbarkeit könnte man nunmehr auf den Ge 386 BGHSt 10, 208, 210; 29, 18, 20; BGH NStZ 1982, 478, 479; NStZ 1984, 180; Ott, in: KK, § 261 Rdnr. 77; Joecks, § 261 Rdnr. 4 mit Rdnr. 30; Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 3; ­Pfeiffer, § 261 Rdnr. 7 mit Rdnr. 20; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 7; Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 1; ­Hanack, JuS 1977, 727, 730; Geppert, JURA 2004, 105, 112. 387 s. in dieser Richtung insbesondere Feuerbach, Geschwornengericht, S. 118 f., 127 sowie die Nachw. zur Entstehungsgeschichte bei Krause, Peters-Festschrift, S. 323, 324 in Fn. 6. Vgl. zur Geschichte des Rechtsinstituts näher Jerouschek, GA 1992, 493, 495 ff. sowie Küper, ­Peters-Festgabe, S. 23 ff. 388 BGHSt 10, 208, 211; 17, 382, 385; 29, 18, 20; BGH NStZ 1982, 478, 479; NStZ 1984, 180; NStZ-RR 2000, 171; Schoreit, in: KK, § 261 Rdnr. 45 ff.; Joecks, § 261 Rdnr. 30; MeyerGoßner, § 261 Rdnr. 2 mit Rdnr. 38; Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 8 mit Rdnr. 50; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 44 ff. mit Rdnr. 182; Pfeiffer, § 261 Rdnr. 7 mit Rdnr. 20; Maiwald, in: AK-StPO, § 261 Rdnr. 9; Hanack, JuS 1977, 727, 730; Rieß, GA 1978, 257, 269; Geppert, JURA 2004, 105, 112. 389 RGSt 61, 150, 154 m. w. N. Das Reichsgericht schlägt dabei den Bogen zum materiellen Recht, weil es in den zugrunde liegenden Fällen jeweils um die Auslegung von Äußerungen im Hinblick auf deren strafrechtliche Relevanz ging. Dies bedarf deshalb besonderer Erwähnung, weil der darin zum Ausdruck kommende Zweck des Strafverfahrens, der Verwirklichung des materiellen Strafrechts zu dienen, etwas in den Hintergrund geraten ist, vgl. dazu bereits im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. sowie speziell im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz noch später im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. Das Urteil nimmt Meurer, Wolf-Festschrift, S. 483, 484 von daher für die Bemerkung zum Anlass, „dass ‚Erfahrung und Logik‘ […] sowohl zur Auslegung des materiellen Rechts als auch zur Interpretation der Verfahrensvorschriften herangezogen werden“ können – und müssen.

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danken kommen, diese Prozessmaxime als Erfahrungssatz begreifen zu wollen, wodurch er als de lege lata in § 261 StPO verankert angesehen werden kann. Dass er dadurch der Revision unterliegt, erklärt sich im Übrigen noch vor dem Hintergrund des § 337 Abs. 2 StPO. Unter „Rechtsnorm“ im Sinne der Vorschrift wird nicht bloß das materielle und formelle Recht verstanden. Vielmehr unterliegen Verstöße gegen die Logik, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze ebenfalls der Revision.390 Teilweise wird dieser Zusammenhang zwischen § 261 StPO einerseits und § 337 Abs. 2 StPO andererseits in Kommentierungen zur freien Beweiswürdigung expressis verbis betont, indem auf Ausführungen zum Revisionsrecht verwiesen wird.391 Im Übrigen aber herrscht Streit. Dabei gilt es, in einem ersten Schritt zu klären, ob Verfahrensprinzipien überhaupt auf Erfahrungssätzen beruhen (können). Anschließend wäre zu klären, welche Anforderungen an rechtlich relevante Erfahrungssätze gestellt werden, bevor abschließend zu untersuchen ist, ob gerade der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz diesen Voraussetzungen genügt. Erst für diesen Fall lässt er sich als de lege lata in § 261 StPO loziert ansehen. a) Prozessmaximen als Erfahrungssätze Zunächst ist sich der Frage anzunehmen, ob Verfahrensprinzipien überhaupt – sozusagen in der Sache – auf Erfahrungssätzen beruhen (können). Dafür wiederum kann an frühere Ausführungen zu den Funktionen von Prozessmaximen angeknüpft werden.392 Insofern wurde herausgearbeitet, dass sie unabhängig vom jeweils geltenden Recht Beachtung zu erfahren haben. Darin besteht eine erste Gemeinsamkeit mit Erfahrungssätzen. Sie gehen (ebenfalls) dem positiven Recht zeitlich, begrifflich und logisch voraus.393 Das Recht hat sich an diesen zu orien 390 Vgl. dazu statt aller bloß Meurer, Wolf-Festschrift, S. 483 sowie Hanack, in: LR, § 337 Rdnr. 11 m w. N. Wenn Erfahrungssätze von einigen Autoren § 244 Abs. 2 StPO entnommen werden (vgl. die Nachw. bei Meurer, a. a. O., S. 486 in Fn. 17), kann dies im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben, weil soeben aufgezeigt worden ist, dass sich materielle Unmittelbarkeit eher nicht als Ausfluss der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO begreifen lässt. 391 Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 38; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 47 in Fn. 177; Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 50. Im Folgenden wird von daher von einer Identität der Erfahrungssätze bei § 261 und § 337 Abs. 2 StPO ausgegangen und sich deshalb in den weiteren Überlegungen oben im Text auf § 261 StPO konzentriert. 392 Vgl. zum Folgenden im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 1. 393 Hanack, in: LR, § 337 Rdnr. 11 sowie die Nachw. bei Rieß, GA 1978, 257, 259 in Fn. 15. Krause, Peters-Festschrift, S. 323, 326 sieht dagegen den Streit darüber, „ob man die Regeln der Logik als dem Recht vorgelagert oder als ihm immanent ansieht“, als müßig an. Vgl. im Übrigen zur – für die folgenden Überlegungen nebensächlichen – Frage, ob Erfahrungssätze auf Normen des ungeschriebenen Rechts beruhen, Rechtsnormen gleich zu achten oder gewohnheitsrechtlich anerkannt sind, die Nachw. bei Meurer, Tröndle-Festschrift, S. 533, 544; ders., Wolf-Festschrift, S. 483, 485.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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tieren und nicht umgekehrt.394 In dieser Hinsicht besteht eine Gemeinsamkeit mit Prozessprinzipien. Deren rechtspolitische bzw. -gestaltende Funktion bedarf, wie geschildert, ebenfalls nicht eines Geltungsgrundes. Sie gelten, wie die Erfahrung, aus sich heraus und damit a priori. Insofern könnte es sich bei Prozessmaximen durchaus (zugleich) um Erfahrungssätze handeln. Auf erste Bekundungen in dieser Hinsicht stößt man bei Eb. Schmidt und Henkel. Nach Eb. Schmidt lassen Prozessgrundsätze jedenfalls „die vom Gesetzgeber aufgrund mannigfachster Erfahrungen […] gewählten Gesichtspunkte erkennen“.395 Etwas ambivalenter scheint sich Henkel auf den ersten Blick zu äußern. Seiner Ansicht nach ist „die Frage nach der ‚richtigen‘ Gestaltung des Verfahrens […] keineswegs lösbar durch eine überzeitlich logische Entwicklung von Verfahrensgrundsätzen“. Dem Zeitgeist und bloßem Zweckdenken stellt er aber die tieferen Schichten der Erfahrung gegenüber, die zwar ebenfalls zeit­gebunden sind, dennoch aber „über die Zwecksetzung des Moments hinausweisen“ und von daher die gesetzgeberische Kraft der Verfahrensgestaltung er­ geben.396 Kurz darauf bekennt sich Henkel nochmals deutlich zur Rolle der Erfahrung bei der Verfahrensgestaltung. Bei den Erwägungen über Aufbau und Gang eines Strafverfahrens spielen Erfahrungssätze eine Rolle, die sich insbesondere auf psychologische Voraussetzungen und Wirkungen menschlichen Verhaltens beziehen. Von psychologischen Erwägungen, um die Brücke zurück zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz zu schlagen, hängt es etwa ab, „ob der Richter sich sein Urteil anhand der Aktenaufzeichnungen oder auf Grund mündlicher Erörterung der Sache in der Verhandlung zu bilden hat. […] Über die Frage der besten Ausgestaltung des Verfahrens entscheidet in diesem Bereich mithin nicht die Interessenabwägung, sondern Erfahrung und Einsicht“, die freilich ebenfalls dem Wandel unterliegen (können), weil bessere Einsicht den früheren Erkenntnisstand zu überwinden und zur Verfeinerung des Erfahrungswissens zu führen ­ enkel bezeichnet solche Verfahrenssätze als „transpolitischer“ Natur397, pflegt. H weil sie nicht oder jedenfalls bloß eingeschränkt dem jeweiligen rechtspolitischen und möglicherweise stark ideologisch geprägten Zeitgeist unterliegen und dadurch den Vorrang vor bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen und Interessenabwägungen haben. Von daher lässt sich nicht daran zweifeln, dass Verfahrensprinzipien auf Erfahrungssätzen beruhen (können).

394

Grave/Mühle, MDR 1975, 274, 277. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, Rdnr. 330 (Hervorhebung nicht im Original). 396 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 84 f. (Hervorhebung im Original). 397 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 85. 395

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

b) Allgemeine Anforderungen an Erfahrungssätze im Rahmen der Beweiswürdigung Damit ist aber noch nicht gesagt, dass Prozessgrundsätze durchweg als Erfahrungssätze anzuerkennen sind. Dies wird man vielmehr für jedes einzelne Prozessgebot selbstständig zu untersuchen haben. Damit ist zunächst als Vorfrage zu klären, welche Anforderungen überhaupt an Erfahrungssätze zu stellen sind, damit sie von Rechts wegen relevant werden (können). Dabei handelt es sich um ein – jedenfalls begrifflich – schwieriges Unterfangen. Rechtsprechung und Schrifttum lassen es mit Blick auf Erfahrungssätze nämlich an einer allgemein anerkannten Begriffsbestimmung vermissen.398 Dass darunter nahezu zwangsläufig die ­Suche nach praktikablen Abgrenzungskriterien leiden muss, versteht sich von selbst. Wenngleich Begrifflichkeiten nicht überbewertet werden sollten, ist darauf gleichwohl – jedenfalls in der gebotenen Kürze – einzugehen, zumal bereits die Terminologie verschiedentlich zu erkennen gibt, worin taugliche Abgrenzungsmerkmale ausgemacht werden (sollen). Teilweise wird verlangt, dass es sich um „gesicherte Erfahrungssätze“ handelt.399 Anderenorts ist demgegenüber bloß von „Erfahrungssätzen des täglichen Lebens“ oder schlicht von der „Lebenserfahrung“ die Rede.400 Solche eher allgemein gehaltenen Aussagen sehen sich aber damit konfrontiert, dass die „allgemeine Lebenserfahrung“ als solche kein Maßstab für die revisionsrechtliche Nachprüfung ist.401 Teilweise wird es – wohl vor diesem Hintergrund – mit der Einschränkung versehen, dass es sich jedenfalls um „dem Zweifel enthobene Tatsachen der Lebenserfahrung“ handeln muss.402 Damit soll es – in terminologischer Hinsicht – sein Bewenden haben und sich vielmehr um die sachlichen Voraus­ setzungen für von Rechts wegen beachtliche Erfahrungssätze bemüht werden. In dieser Hinsicht muss differenziert werden: Es gibt (allgemeine) Erfahrungssätze, denen Gerichte „eine unbedingte, jeden Gegenbeweis mit anderen Mitteln ausschließende Beweiskraft“ zusprechen (müssen), wenn sie Allgemeinheit beanspruchen.403 Dies wiederum ist der Fall, wenn sie empirisch aus der Beob­ achtung und Verallgemeinerung gewonnene Einsichten enthalten, die zu schlechthin zwingend verbindlichen Schlussfolgerungen führen, weil sie im praktischen Anwendungsbereich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit

398

Vgl. dazu – neben den folgenden Zitaten – insbesondere noch Meurer, Wolf-Festschrift, S. 483, 493 mit Nachw. zur uneinheitlichen Rspr. in Fn. 36. 399 Pfeiffer, § 261 Rdnr. 7 (Hervorhebung nicht im Original). 400 BGHSt 17, 382, 385; 29, 18, 20; Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 38; Pfeiffer, § 261 Rdnr. 20. Vgl. ferner noch Fezer, StV 1995, 95, 97: „Allgemeinster Erfahrungssatz bleibt die allgemeine Lebenserfahrung.“ 401 BGH vom 4.11.1981 – 2 StR 443/81. 402 Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 2. 403 BGHSt 29, 18, 21; Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 9.

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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gelten.404 Eine Stufe darunter gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die auf gutachterlich erläuterten Wahrscheinlichkeitsaussagen beruhen und deren Beweiswert in erster Linie von möglichen Fehlerquellen abhängt.405 Schließlich gibt es noch – wie (gewöhnliche) Indizien zu behandelnde – Einsichten, die zwar allgemeiner Lebenserfahrung entsprechen, denen aber ein bestimmtes wissenschaftlich begründbares Maß an Wahrscheinlichkeit nicht zukommt.406 Gleichwohl muss sie der Richter beachten und darf in dieser Hinsicht einerseits nicht ohne Grund davon abweichen, andererseits aber ebenso nicht unter Verweis auf einen solchen Erfahrungssatz die mögliche Ausnahmesituation des konkreten Falls vorschnell ausblenden und missachten.407 Insofern muss strikt zwischen Erfahrungssätzen auf der ersten Stufe, die schlechthin zwingende Folgerungen enthalten, und solchen auf den Ebenen darunter unterschieden werden, deren Gültigkeit im Einzelfall anhand weiterer Beweisanzeichen zu prüfen ist.408 Der BGH hat den Unterschied einmal mit dem Begriffspaar von absoluten und relativen Erfahrungssätzen umschrieben.409 Vereinzelt setzt man sich gegen diese (begriffliche) Differenzierung zur Wehr und meint, dass die Erkenntnisse auf den unteren (Abstraktions-) Ebenen besser nicht als Erfahrungssätze im Sinne des Revisionsrechts zu bezeichnen sind.410 Teilweise wird diametral dazu noch stärker differenziert und zwischen einfachen Erfahrungssätzen, Erfahrungsgrundsätzen und Erfahrungsgesetzen differenziert411, ohne dass sich wirklich inhaltliche Unterschiede zu anderen Definitionen ausmachen lassen. Überhaupt kann die terminologische Frage, wie es im Folgenden gehalten werden soll, eher vernachlässigt werden, solange man sich jedenfalls der sachlichen Unterschiede und der daran anknüpfenden divergierenden Behandlung von Rechts wegen bewusst ist.412 An sachlich-inhaltlichen Vorgaben muss sich nunmehr der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz messen lassen, um daraus die Schlussfolgerung ziehen zu können, dass er als Erfahrungssatz zum – revisionsrechtlich nachprüfbaren – Bestandteil der Beweiswürdigung wird, woran wiederum die Fest­ stellung knüpft, dass er de lege lata in § 261 StPO loziert ist.

404

BGHSt 31, 86, 89; Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 9; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 46; Geppert, JURA 2004, 105, 108. 405 Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 9. 406 Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 9 mit Rdnr. 39. 407 Fezer, StV 1995, 95, 97. 408 Pfeiffer, § 261 Rdnr. 13; Ott, in: KK, § 261 Rdnr. 48; Fezer, StV 1995, 95, 97; ­Geppert, JURA 2004, 105, 108. 409 BGH StV 1993, 572. Herdegen, Hanack-Festschrift, S. 311, 322 differenziert, ohne dass vollends klar wird, worin der Unterschied liegen soll, zwischen Erfahrungsgrundsätzen und einfachen Erfahrungssätzen. Im Ergebnis läuft dies wohl auf die oben im Text gemachte Unterscheidung hinaus. 410 Mayer, NStZ 1991, 526 (Hervorhebung im Original). 411 Meurer, Wolf-Festschrift, S. 483, 493 ff. 412 Ebenso bereits Gollwitzer, in: LR, § 261 Rdnr. 47.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

c) Materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung Nachdem nunmehr Voraussetzungen und Abgrenzungskriterien für von Rechts wegen beachtliche Erfahrungssätze herausgearbeitet sind, gilt es abschließend noch zu untersuchen, ob materielle Unmittelbarkeit den diesbezüglichen Anforderungen genügt. Am ehesten lässt sich seine Aussage, dass – im Bereich des Personalbeweises – dem Originalbeweismittel der Vorzug vor der Beweisreproduktion, sei es durch Vernehmungsniederschrift oder durch Zeugnis vom Hörensagen, zu gebühren hat413, als Erfahrungssatz auf unterster Stufe rubrifizieren. Dieser Frage soll im Folgenden näher nachgegangen werden. Um es in Erinnerung zu rufen: Es handelt sich dabei um – wie (gewöhn­ liche) Indizien zu behandelnde – Einsichten, die zwar allgemeiner Lebenserfahrung entsprechen, denen aber ein bestimmtes wissenschaftlich begründbares Maß an Wahrscheinlichkeit nicht zukommt.414 Solchermaßen abgeleitete Erfahrungssätze bestehen insbesondere im Hinblick auf menschliches Verhalten415, etwa mit Blick auf die – durch Unmittelbarkeit überhaupt erst ermöglichte416 – Beurteilung von Glaubwürdigkeitskriterien, die ohnehin mehr oder weniger gesichertes Erfahrungswissen wiederspiegeln417. Es handelt sich um Erfahrungen, die innerhalb der Strafjustiz im Umgang mit Aussagepersonen entstanden und entweder in jedem Richter als persönliches Erfahrungswissen vorhanden sind oder aber – auf breiterer Basis – über wissenschaftliche Untersuchungen gewonnen werden.418 Wenn der Richter aus solchen und vergleichbaren Regeln Schlussfolgerungen für den konkreten Fall ziehen möchte, kann er zwar die – nach der Lebenserfahrung eher unwahrscheinlichere – Abweichung vom Erfahrungssatz annehmen, muss jedoch für die revisionsrechtliche Nachprüfung die Gründe darlegen, warum er von der Ausnahme ausgeht.419 In dieser Hinsicht soll sich nunmehr danach umgetan werden, ob Rechtsprechung und Schrifttum dahingehende Aussagen bezüglich eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf der Ebene der Beweiswürdigung treffen. In dieser Hinsicht wird man zunächst insofern fündig, als dass Tatgerichte von Revisionsgerichten beim Zeugen von Hörensagen dahingehend angehalten werden, in den Urteilsauführungen erkennen zu lassen, dass sich das (Tat-)Gericht dieses Umstands bewusst war.420 Danach ist beim Zeugen vom Hörensagen grund 413

Vgl. dazu im 8. Kapitel unter II. Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 9 mit Rdnr. 39. 415 Maiwald, in: AK-StPO, § 261 Rdnr. 15. 416 s. zu diesem Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 417 Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 27n a. E.; Fezer, StV 1995, 95, 97. 418 Fezer, StV 1995, 95, 97. 419 Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 47 a. E.; Maiwald, in: AK-StPO, § 261 Rdnr. 15 a. E. 420 BGH StV 1982, 509; Geppert, JURA 2004, 105, 111 – jeweils m. w. N. 414

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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sätzlich eine besonders sorgfältige Würdigung seiner Aussage erforderlich.421 Dieses Gebot äußerster Vorsicht bei der Beweiswürdigung gilt in besonderem Maße, wenn die Zahl der Zwischenglieder in der Beweisführung wächst.422 Wie die Formulierung vom Gebot zeigt, haben Tatgerichte mittelbaren Beweisen im Ausgangspunkt grundsätzlich eine geringere Aussagekraft beizumessen, wenngleich es – ganz im Sinne eines (bloß) relativen Erfahrungssatzes – letztendlich immer eine Frage des konkreten Einzelfalls bleibt.423 Wenn man ferner bedenkt, dass Abweichungen von der Regel der Darlegung in den Urteilsgründen zum Zwecke der revisionsrechtlichen Nachprüfung bedürfen, lassen sich solche Aussagen durchaus im Sinne eines Erfahrungssatzes von materiell verstandener Unmittelbarkeit interpretieren. Freilich wären entsprechende Darlegungspflichten erst die Konsequenz eines solchen Erfahrungssatzes, können diesen aber nicht unmittelbar selbst konstituieren. Man würde – mit anderen Worten – Ursache und Wirkung mit­einander vertauschen, sodass nach anderen Belegen dafür, dass materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz bei der Beweiswürdigung zu beachten ist, Ausschau gehalten werden muss. Diesbezüglich stößt man auf eine Entscheidung des BGH in einem Mord­prozess. In prozessualer Hinsicht bestand beim Tatmotiv eine Diskrepanz zwischen der im Ermittlungsverfahren durchgeführten und protokollierten Beschuldigtenvernehmung und der mündlichen Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Die mündliche Einlassung hielt das Tatgericht u. a. deshalb für unglaubhaft, weil der früheren Erklärung (im Vorverfahren) nach allgemeinen Erfahrungssätzen der Vorzug gegenüber der anderen, sprich späteren (in der Hauptverhandlung) gebühren soll. Der BGH ist dem Tatgericht darin nicht gefolgt, weil sich diese Frage nicht mit einem allgemeinen Erfahrungssatz beantworten lässt. Vielmehr lässt er anklingen, dass er eher zur gegenteiligen Annahme – im Sinne eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes – neigt, weil schließlich die Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren nicht mit dessen eigenen Worten wiedergegeben werden424, ohne sich dadurch expressis verbis zu materieller Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung bekennen zu wollen. Das Beispiel sieht sich im Übrigen und unabhängig davon noch mit dem Makel behaftet, dass umstritten ist, ob und inwiefern die Einlassung des Angeklagten vom (materiellen)

421 BGHSt 49, 112, 119: „sorgfältigste Überprüfung“. Vgl. ferner noch OLG Brandenburg NStZ 2002, 611; OLG Koblenz StV 2007, 520. 422 BGHSt 17, 382, 385; 34, 15, 18; Meyer-Goßner, § 250 Rdnr. 5. 423 Vgl. in dieser Richtung bereits Sander/Cirener, in: LR, § 250 Rdnr. 27. Dies wird von ­Geppert etwas verkannt. Danach soll zwar der Grundsatz freier Beweiswürdigung eine Korrektur bei Beweisreproduktionen durchaus möglich machen können, aber bloß für den Fall, dass „der Richter des Einzelfalls auf Grund seiner Freiheit in der Beweiswürdigung solchen Beweisen möglicherweise weniger Aussagekraft beimißt“, vgl. Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 183 unten (Hervorhebung im Original). Diese Aussage sug­geriert eine Freiheit der Beweiswürdigung, die es in dieser Form, wie geschildert, nicht gibt. 424 BGH StV 1981, 605.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

Unmittelbarkeitsgrundsatz erfasst ist425, sodass nach weiteren Belegen für die Annahme zu schauen ist, dass materielle Unmittelbarkeit ein – und sei es bloß eingeschränkt revisionsrechtlich nachprüfbarer – Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung ist. Damit hat sich der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 1962 befasst. Es ging dabei um einen Zeugen vom Hörensagen, konkret um die Zeugenaussagen von Vernehmungsbeamten über die Angaben anonymer Gewährsleute (­V-Leute).426 Nachdem der BGH die Aufklärungsrüge und damit die Behauptung der Verletzung der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO als nicht durchgreifend ansieht, widmet er sich anschließend der Frage, ob sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung der Grenzen seiner Überzeugungsbildung bewusst gewesen ist und sie gewahrt hat. Dies wäre nicht der Fall (gewe­ sen), „wenn es sich mit den Erfahrungen des Lebens, mit den Gesetzen der Wissenschaft und der Logik, insbesondere mit der Zeugenpsychologie in Widerspruch gesetzt oder die sich hieraus ergebenden Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hätte“.427 Die Ausführungen im Anschluss daran lassen erkennen, dass der BGH mit Blick auf materielle Unmittelbarkeit dahin tendiert, darin Erfahrungen des Lebens verkörpert zu sehen. Danach besteht beim Zeugen vom Hören­ sagen „zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht“.428 Von daher bedarf es „sorgfältigster Prüfung der von den Vernehmungsbeamten wiedergegebenen Aussagen“. Eine Feststellung kann darauf bloß für den Fall gestützt werden, dass „diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt worden sind“429, worin sich die einem relativen Erfahrungssatz eigentümliche Charakteristik zeigt, dass er erst durch weitere Beweisanzeichen seine Beachtung im Einzelfall er-

425

Vgl. dazu im 3. Teil, 7. Kapitel. BGHSt 17, 382. Vgl. zu diesbezüglichen Fragen im Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz die Nachw. bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 258 ff., 283 ff.; Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130 ff., 156 ff. Darauf soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, denn schließlich dürfte die Beweisführung mittels V-Leute eher die Ausnahme darstellen, sodass man sich insofern vielleicht den Weg zu grundsätzlichen Aspekten des Unmittelbarkeitsprinzips selbst versperrt, wenn man (sich) darauf zu sehr konzentiert und fokussiert. 427 BGHSt 17, 382, 385 (Hervorhebung nicht im Original). Im Übrigen ist seine Linie eher uneinheitlich. In BGHSt 1, 373, 376 spricht er davon, dass sich dies „nach den Regeln über die Beweisaufnahme und nach § 244 Abs. 2 StPO“ bestimmen soll, wonach Unmittelbarkeit selbst nicht in § 244 Abs. 2 StPO unmittelbar gesetzlich loziert sein kann, will er sich nicht den Vorwurf einer Tautologie einhandeln. In BGHSt 6, 209, 210 ist die Rede davon, dass insofern „allenfalls ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht vorliegen“ kann. 428 BGHSt 17, 382, 385 (Hervorhebung nicht im Original). Nicht von ungefähr bemüht ­Geppert, JURA 2004, 105, 111 insofern das Kinderspiel „Stille Post“ als durchaus vergleichbare Parallele. 429 BGHSt 17, 382, 386. 426

9. Kap.: Materielle Unmittelbarkeit de lege lata

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fährt430. Wenngleich der BGH sich – im Unterschied zu späteren Ausführungen von Fezer431 – damit (noch) nicht expressis verbis dazu bekennt, dass materielle Unmittelbarkeit auf einem diesbezüglichen Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung beruht, bedarf es an sich nicht allzu großen Mutes, diesen konsequenten Schritt auf dem Weg dahin zu Ende zu gehen, diesen Grundsatz als de lege lata in § 261 StPO verankert anzusehen. Das Schrifttum äußert sich eher unbewusst dahingehend, dass man Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz ansehen könnte. In dieser Hinsicht spricht man zunächst von Unmittelbarkeit als dem Postulat möglichst kurzer Schlussketten, das als „Klugheitsregel“ allgemein anerkannt sei. Im Anschluss an diese Erkenntnis wirft man aber sogleich wieder die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen diese allgemein anerkannte Leitidee von bloßer „Klugheitsregel“ zu verbindlicher „Rechtsregel“ wird.432 Den durchaus nicht fern liegenden Schluss, dass Unmittelbarkeit bei einer solchen Charakterisierung als Erfahrungssatz und damit als „Rechtsnorm“ im Sinne von § 337 Abs. 2 StPO bzw. beachtenswert bei der Beweiswürdigung anzusehen ist, sieht und zieht man dagegen nicht. Anderenorts wird man dagegen deutlicher. Es ist die Rede davon, dass Unmittelbarkeit eine „selbstverständliche prozessuale Regel“ bzw. einen „selbstverständlichen prozessualen Satz“ darstellen soll.433 An anderer Stelle heißt es, dass das Verfahrensprinzip der Unmittelbarkeit vom gesunden Menschenverstand geboten sei434, womit man sich völlig von juristischen Überlegungen löst und ausschließlich auf die menschliche Erfahrung abstellt. Wenn man sich dessen vergewissert, bedarf es bloß noch eines kleinen Schritts, um materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz anzuerkennen und damit als de lege lata in § 261 StPO loziert anzusehen.

430 Ott, in: KK, § 261 Rdnr. 48; Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 46; Albrecht, NStZ 1983, 486, 490. 431 Nach Fezer, StV 1995, 95, 97 hat „die Aussagepsychologie eine Fülle von Erfahrungssätzen entwickelt“, wobei es neben allgemeinen Regeln „noch weitere spezielle bzw. kon­ kretisierte Erfahrungsregeln, besondere personelle oder Wahrnehmungssituationen betreffend, so etwa […] für den mittelbaren Zeugen (‚Zeugen vom Hörensagen‘)“ gibt. 432 Rupp, Beweis im Strafverfahren, S. 126 ff., 128; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 130. Vgl. ferner noch Rieck, Substitut oder Komplement?, S. 133 m. w. N. in Fn. 103: Beim Unmittelbarkeitsprinzip „handelt es sich um ein abstrakt begriffliches Denkprinzip, oder klarer, um verschiedene, auf die Optimierung der strafprozessualen Beweisgewinnung gerichtete Erfahrungssätze“. 433 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 47; Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozessordnung, S. 13 mit S. 74 (Hervorhebungen nicht im Original). 434 Staud, DJ 1934, 512.

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4. Teil: Materielle Unmittelbarkeit

3. Fazit Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass materielle Unmittelbarkeit de lege lata vollends erst durch § 261 StPO verwirklicht wird, die Vorschrift jedenfalls – entgegen Geppert – insofern nicht ausgeblendet werden darf. Dabei ist zugleich deutlich geworden, dass der Systemzusammenhang dieser Vorschrift zu § 244 Abs. 2 StPO bzw. der funktionale Zusammenhang dieser Beweisgrundsätze nicht bloß in der Sache besteht, sondern ebenso seinen Niederschlag im geltenden Recht gefunden hat. Dafür muss er nicht in der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO verortet werden. Vielmehr findet er als (relativer) Erfahrungssatz, ohne dass sich daran große praktische Konsequenzen knüpfen würden435, im Grundsatz der freien Beweiswürdigung seine Verankerung, die insofern eine Einschränkung erfährt. Von daher und aus den anderen im Einzelnen herausgearbeiteten Gründen sprechen die besseren Gründe dafür, den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz de lege lata nicht in § 244 Abs. 2 StPO zu verorten, sondern – gemeinsam mit formeller Unmittelbarkeit und in einem verfahrensübergreifenden Sinne – im Grundsatz der Freiheit der Beweiswürdigung und damit für das Strafprozessrecht in § 261 StPO.

435 Eine praktisch sicher nicht zu vernachlässigende Konsequenz würde ein solcher Para­ digmenwechsel weg von § 244 Abs. 2 StPO hin zu § 261 StPO allerdings für die Begründung einer Revision und deren Erfordernisse haben. Während die sog. Aufklärungsrüge § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unterliegt (vgl. dazu bloß Krehl, in: KK, § 244 Rdnr. 215 ff. m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum), werden Erfahrungssätze als mit der (allgemeinen) Sachrüge angreifbar angesehen (s. hierfür etwa Hanack, in: LR, § 337 Rdnr. 170 ff., 175 f. m. w. N.).

5. Teil

Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz Im abschließenden Teil sollen nunmehr noch Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz angestellt werden. Dabei knüpfen diese unmittelbar an die vorherigen Ausführungen an. Es versteht sich wohl von selbst, dass eine Reform ungleich schwieriger wäre, wenn (materielle) Unmittelbarkeit – anders als vorstehend befürwortet – primär oder sogar ausschließlich in der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO loziert wäre. Wenngleich sie sich Erosionen seitens der Praxis ausgesetzt sieht und in dieser Hinsicht von einer „Krise des Amtsermittlungsgrundsatzes“ die Rede ist1, wäre eine gesetzliche Änderung dieser Vorschrift rechtspolitisch sicher nicht durchzusetzen. Dies sieht sich unmittelbar durch die gesetzliche Regelung zur verfahrensbeendenden Verständigung bestätigt. Gemäß § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO bleibt § 244 Abs. 2 StPO davon nämlich unberührt. Damit kann es freilich nicht sein Bewenden haben. Vielmehr müssen Reformüberlegungen zum strafprozessrechtlichen Unmittelbarkeitsprinzip in einen größeren Zusammenhang eingebettet werden. Insofern geht es zunächst um die Frage, ob die Verfahrensmaxime Eingang in übergeordneten Rechtsnormen gefunden hat. Wenn es sich in diesem Sinne verhalten würde, wären Reformen und Gesetzes­ novellen entweder überhaupt nicht möglich oder aber müssten jedenfalls die höherrangigen Vor- und Maßgaben beachten. Daneben dürfen Reformbestrebungen aber nicht das sachliche Substrat von Verfahrensgeboten vernachlässigen. Gesetze lassen sich nämlich ohne weiteres ändern, wohingegen sachliche Prinzipien selbst ohne diese gelten und durch Gesetze zugleich nicht modifiziert werden können. Wenn weder übergeordnetes Recht noch sachliche Erwägungen gegen eine (mögliche) Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes sprechen, wäre in einem letzten Schritt zu untersuchen, von welchen Kriterien sich eine solche Reform leiten lassen könnte und – mehr noch – leiten lassen müsste.

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Gössel, Böttcher-Festschrift, S. 79 ff.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

10. Kapitel

Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht Im Rahmen von Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz hat man sich jedoch zunächst damit auseinander zu setzen, ob dabei Vorgaben höherrangiger Rechtsquellen zu beachten wären. Sie könnten vom Verfassungsrecht oder von der Menschenrechtskonvention statuiert werden. Von daher stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die Unmittelbarkeitsmaxime in diesen beiden Rechtsgebieten loziert ist.

I. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Grundgesetz Dabei wird mit dem nationalen Verfassungsrecht begonnen. Dies ist keinesfalls selbstverständlich. Vielmehr könnte es die sog. autonome Auslegung der Menschenrechtskonvention, wonach deren Begriffe unabhängig von den in einzelnen Rechtsordnungen verwendeten Begriffen verstanden werden (sollen)2, nahe legen, sich zuvörderst dem Konventionsrecht zuzuwenden. Völlig unabhängig, wie solche Formulierungen suggerieren möchten, stehen Konventions- und nationales (Verfassungs-)Recht indes nicht nebeneinander. Insofern bestehen gewisse Interdependenzen zwischen beiden Rechtsgebieten, auf die sogleich noch zu sprechen kommen sein wird. Des Weiteren sprechen pragmatische Gründe dafür, sich zunächst mit dem Verfassungsrecht zu befassen. Insofern sind normenhierarchische Aspekte anzuführen. Wenngleich es nicht unumstritten ist3, wird die Menschenrechtskonvention – de lege lata4 – weitaus überwiegend „nominell unterhalb des Verfassungsrechts angesiedelt“5. Nach h. M. in Rechtsprechung und Schrifttum steht sie bloß im Rang eines einfachen Bundesgesetzes.6 Angesichts dessen liegt es nahe, das Verfassungsrecht vor dem Konventionsrecht abzuhandeln. Überdies muss unter pragmatischen Prämissen bedacht werden, dass „ein einheitliches Strafverfahren der Europäischen Union, wenn es denn überhaupt zu er-

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Renzikowski, Keller-Gedächtnisschrift, S. 197, 200 m. w. N. in Fn. 14. Vgl. dazu im Einzelnen näher Staebe, JA 1996, 75, 78 ff.; Weigend, StV 2000, 384, 386 f.; Eisele, JA 2005, 390 f. sowie umfassend Sternberg, Rang von Menschenrechtsverträgen im deutschen Recht, S. 111 ff. 4 Ambos, ZStW 115 (2003), 583, 588 f. plädiert de lege ferenda für einen Verfassungsrang. 5 Papier, EuGRZ 2006, 1. 6 BVerfGE 10, 271, 274; 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 315 ff.; BGHSt 45, 321, 329; Meyer-Goßner, Vor Art. 1 MRK Rdnr. 3; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 868; Eisele, JR 2004, 12, 13 Fn. 18; ders., JA 2005, 390 f. – jeweils m. w. N. – sowie ferner noch die umfassenden Nachw. bei Sternberg, Rang von Menschenrechtsverträgen im deutschen Recht, S. 38 ff. 3

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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warten ist, noch in weiter Ferne liegen dürfte“7, wenngleich nicht verhehlt werden kann, dass der sog. Lissabon-Vertrag den EU-Institutionen einen beträchtlichen Kompetenzzuwachs im Bereich der Strafrechtspflege gebracht hat, Art. 82 ff. ­AEUV.8 Wenn es freilich einmal zu einem gesamteuropäischen Strafverfahrensrecht kommt, muss das deutsche Strafverfahrensrecht seinen Beitrag zu dessen Entstehung und Entwicklung leisten (können). Dies erfordert aber wiederum, dass man „in der rechtsvergleichenden Diskussion die Herausarbeitung der spezifischen Elemente des tradierten deutschen Strafprozesses“ beherrscht.9 Es hilft mit anderen Worten der Entstehung und Entwicklung einer europäischen Strafrechtspflege relativ wenig, wenn man – sozusagen – nicht einmal seine Hausaufgaben gemacht hat und sich nach wie vor nicht über die innerstaatlichen (­verfassungs-) rechtlichen Grundlagen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Klaren ist. Hierin liegt ein weiterer (pragmatischer) Gesichtspunkt dafür, sich zunächst dem nationalen Verfassungsrecht zuzuwenden. Der zuletzt genannte Aspekt ist (noch) von gleichsam dogmatischer Relevanz. Er steht in unmittelbaren Zusammenhang zur sog. autonomen Interpretation des Konventionsrechts, wenngleich es auf den ersten Blick vielleicht etwas Verwunderung hervorruft. Schließlich soll diese Auslegung gebieten, das Konventionsrecht unabhängig vom nationalen (Verfassungs-)Recht auszulegen.10 Wenn es sich derart strikt verhalten würde, wären die „spezifischen Elemente des tradierten deutschen Strafprozesses“ im Verhältnis zum Konventionsrecht von allenfalls unter­ geordneter und jedenfalls nachrangiger Bedeutung. Das Konventionsrecht wird aber keinesfalls völlig unabhängig von nationalen Rechtsordnungen interpretiert. Seine Begriffe werden zwar autonom, nicht aber ohne Beziehung zu nationalen Rechtsordnungen verstanden.11 Sie haben zwar eine eigenständige Bedeutung. Gleichwohl ist, worauf der Straßburger Gerichtshof durchaus hinweist, das Recht des betroffenen Staates in diesem Zusammenhang nicht ohne Belang.12 In dieser Hinsicht beschreibt die sog. autonome Auslegung einen Interpretationsvorgang, welcher die Systematik des Vertrages, seine Zielsetzung sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen berücksichtigt13, wofür wiederum ein wertender (Rechts-)Vergleich stattzufinden hat14. Ein solcher hat wiederum zwangsläufig am nationalen Recht anzusetzen.

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Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 454. Vgl. dazu – in materiellstrafrechtlicher Hinsicht – etwa Krüger, HRRS 2012, 311 ff. 9 Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 459; ders., ZIS 2009, 466, 480. 10 Renzikowski, Keller-Gedächtnisschrift, S. 197, 200 m. w. N. in Fn. 14. 11 Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Einf., Rdnr. 9. 12 EGMR EuGRZ 1978, 407, 415 (Ziff. 89). 13 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rdnr. 9. 14 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rdnr. 11; Frowein, in: ders./ Peukert, EMRK, Einf., Rdnr. 9. 8

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

Noch in anderer Hinsicht sind nationale Rechtsordnungen in gewisser Weise dem Konventionsrecht vorgreiflich.15 In bewusster Anlehnung an die Wiener Vertragskonvention orientiert sich der Straßburger Gerichtshof bei der Auslegung der Menschenrechtskonvention an von den Vertragsstaaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Dies verbindet er mit einem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Konvention. Danach hat der Rechtsausschuss der Beratenden Versammlung des Europarats vorausgesehen, dass die Organe des Europarats, insbesondere der Gerichtshof bei seiner Rechtsprechung, zwangsläufig solche Grundsätze anwenden würden, weshalb es als unnütz erachtet wurde, dies in einer Konventionsbestimmung ausdrücklich festzulegen. Um wiederum feststellen zu können, ob und welche Rechtsgrundsätze allgemein anerkannt sind, hat man primär am nationalen Recht anzusetzen. Damit scheint ein Konflikt zwischen der sog. autonomen Interpretation des Konventionsrechts und den vorstehenden Überlegungen zu bestehen. Es ist aber allenfalls ein scheinbarer Konflikt, der sich überdies ohne weiteres auflösen lässt. Wenn ein (Rechts-)Grundsatz, etwa das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip, in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten allgemein anerkannt ist, findet er bei der Auslegung des Konventionsrechts im geschilderten Umfang seine Berücksichtigung. Der gegenteilige Schluss, dass er deshalb, weil er in (einzelnen) innerstaatlichen Rechtsordnungen nicht de lege lata verankert ist, zugleich nicht aus dem Konventionsrecht abgeleitet werden kann, ist dagegen unzulässig. Vielmehr kann es insofern, aber eben erst in dieser Hinsicht, aus einer autonomen Interpretation der Menschenrechtskonvention folgen. In jedem Falle muss man sich zuvörderst mit dem nationalen (Verfassungs-)Recht befassen, das jedenfalls in der zuerst geschilderten Hinsicht das Konventionsrecht in gewisser Weise präjudiziert. Hierin liegen die gleichsam pragmatischen wie dogmatischen Gründe dafür, sich zunächst damit zu befassen, ob und in welchem Umfang der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz eine Verankerung im Grundgesetz erfährt und wie sich Rechtsprechung sowie verfassungs- und (straf-)prozessrechtliches Schrifttum zu dieser Frage äußern. 1. Meinungsstand Unsere Verfassung wird nach der Aufgabenverteilung unter den Verfassungsorganen, wie sie das Grundgesetz vorsieht, zuvörderst vom Bundesverfassungsgericht interpretiert. Es erweist sich, um einen – zuweilen als missverständlich kritisierten16 – bildhaften Vergleich aufzugreifen, als „Hüter der Verfassung“.17 Von 15

Vgl. zum Folgenden EGMR EuGRZ 1975, 91, 96 f. (Ziff. 35). Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rdnr. 3. 17 BVerfGE 1, 184, 195 ff.; 2, 124, 131; 6, 300, 304; 40, 88, 93. 16

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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daher liegt es nahe, bevor auf (abweichende) Stimmen in der Literatur eingegangen werden soll, seine Rechtsprechung daraufhin zu untersuchen, ob sie Aussagen zur verfassungsrechtlichen Fundierung und Verankerung der (strafprozessualen) Unmittelbarkeitsmaxime trifft. a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht sah sich bereits frühzeitig mit der Frage konfrontiert, ob und wie das strafprozessrechtliche Unmittelbarkeitsprinzip in der Verfassung loziert sein könnte. In BVerfGE 1, 418 äußert es sich dazu in einem Leitsatz zunächst wie folgt: „Die Vorschriften der StPO (§§ 250, 251) über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme geben dem Angeklagten kein Grundrecht, so daß aus einer Verletzung dieser Vorschriften eine Verfassungsbeschwerde nicht hergeleitet werden kann.“

In den Gründen führt das Gericht dazu aus18, dass die Annahme falsch ist, „das Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör umfasse bestimmte Beweisregeln, insbesondere das Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme, d. h. das Verbot, die Aussage einer Person über ihre Wahrnehmungen durch Verlesung eines Vernehmungsprotokolls oder einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen. Art. 103 GG gibt dem Beteiligten grundsätzlich nur ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sach­verhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Das nicht in der Verfassung, sondern in der StPO – §§ 250, 251 – geregelte Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme ist kein Grundrecht, so daß selbst gegen seine Verletzung keine Verfassungsbeschwerde gegeben wäre, es sei denn, die Verletzung wäre derart schwerwiegend, daß dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernstlich beeinträchtigt würde.“ Diese Rechtsprechung hat es in einer späteren Entscheidung bestätigt. Darin führt es aus, dass – der damalige19 – § 251 Abs. 2 StPO weder als Norm noch in der Anwendung im konkreten Fall das Grundrecht auf rechtliches Gehör oder den verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verletzt. Wortwörtlich heißt es in der Begründung dazu20, dass Art. 103 Abs. 1 GG lediglich gewährleistet, „daß der Angekl. im Strafverfahren Gelegenheit erhält, sich zu dem einer Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt grundsätzlich vor deren Er 18

BVerfGE 1, 418, 429. Die Reihenfolge des § 251 StPO wurde durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004 (BGBl. I S. 2198) der Realität insofern angepasst, als dass die Verlesung nichtrichterlicher Vernehmungsprotokolle den weitaus häufigeren Anwendungsfall von § 251 StPO darstellt. 20 BVerfGE 57, 250, 278 (Hervorhebung nicht im Original) unter Berufung auf BVerfGE 1, 418, 429. 19

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

laß zu äußern und damit das Gericht in seiner Willensbildung zu beein­flussen. […] Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt indessen weder ein Recht auf ein bestimmtes Beweismittel noch auf bestimmte Arten von Beweis­mitteln.“ An dieser Rechtsprechung hat das Gericht in der Folgezeit festgehalten21, insbesondere in einem Kammerbeschluss aus dem Jahre 200722. Primär ging es dabei zwar um „den in § 355 ZPO verankerten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“. Das Gericht nimmt aber einen prozessordnungsübergreifenden Standpunkt ein und führt in dieser Hinsicht aus: Das „Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme ist selbst kein Grundrecht, so dass auch eine nach der jeweiligen Prozessordnung relevante Verletzung noch nicht die Verfassungs­beschwerde begründet. Dies gilt im strafprozessualen Kontext, mehr aber noch im Bereich der Zivilprozessordnung, wo der Grundsatz der Unmittelbarkeit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Parteidisposition unterliegt. Es ist daher eine Frage des Einzelfalls, ob eine gegebene Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes derart schwer­wiegend ist, dass dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernsthaft beeinträchtigt wird.“

Als Fazit lässt sich festhalten, dass in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, soweit es um Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme geht, lediglich der Anspruch auf ein faires Verfahren als im Einzelfall tangiert angesehen wird und von daher erst dessen Verletzung das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nach sich zieht, und zwar unabhängig davon, welche Verfahrensordnung in Rede steht. Ein Unmittelbarkeitsgrundsatz an sich oder jedenfalls dessen Kern und Wesens­gehalt, sei es im Strafverfahren, sei es im Bereich der Zivilprozessordnung, wird da­gegen nicht vom Grundgesetz garantiert bzw. in den Rang eines Verfassungsguts e­ rhoben.

21 Man könnte auf den ersten Blick noch BVerfGE 110, 1 dazu zählen. Das Gericht nimmt darin keinen Anstoß daran, dass die Vorschrift des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB „den für die strafrechtliche Gewinnabschöpfung erforderlichen Nachweis einer deliktischen Vermögenserlangung [erleichtert], indem sie auf die Feststellung einer konkreten Herkunftstat verzichtet und dem Tatrichter in weitem Umfang eine nur mittelbare Beweisführung erlaubt“ (BVerfGE 110, 1, 27 – Hervorhebung nicht im Original). Die Passage erklärt sich aber vollends erst vor dem Hintergrund der – zur verfassungsgerichtlichen Prüfung anstehenden – materiell-rechtlichen Norm des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB, wonach es für die Anordnung des erweiterten Verfalls von Gegenständen genügt, dass „die Umstände die Annahme rechtfertigen, dass diese Gegenstände für rechtswidrige Taten oder aus ihnen erlangt worden sind“. Mit einem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz hat die Entscheidung allenfalls insofern zu tun, als dass es wieder stärker ins Bewusstsein verankert gehört, dass prozessuale Normen vor dem Hintergrund der (jewei­ligen) materiell-rechtlichen Regelungen zu interpretieren sind, vgl. dazu an späterer Stelle im 11. Kapitel unter II. 22 BVerfG NJW 2008, 2243.

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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b) Stimmen aus der verfassungs- und (straf-)prozessrechtlichen Literatur Das verfassungs- und (straf-)prozessrechtliche Schrifttum teilt den Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts. Weitaus überwiegend schlägt man sich auf seine Linie, ohne dabei allerdings näher darzutun, warum der (strafprozessuale) Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht verfassungsrechtlich verankert sein soll. Im zivilwie verwaltungsprozessualen Schrifttum spricht man dem Unmittelbarkeitsprinzip ebenfalls Verfassungsrang ab.23 Dabei bedarf besonderer Erwähnung, dass dies mit der Entscheidung BVerfGE 1, 418 belegt wird24, bei der es aber bekanntlich um das strafprozessuale Unmittelbarkeitsgebot ging. Insofern scheint man, wie bereits das Bundesverfassungsgericht, einen prozessordnungsübergreifenden Ansatz verfolgen zu wollen. In jedem Falle wird der Unmittelbarkeitsmaxime die verfassungsrechtliche Anerkennung versagt. Die gegenteilige Position wird freilich ebenfalls eingenommen. Schorn hat sich der Frage nach dem „Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren“, soweit es das Strafprozessrecht betrifft25, näher angenommen. Wie bereits der Titel seiner Abhandlung zeigt, bemüht er für seine Prämissen primär die Unantastbarkeit der Menschenwürde, wie sie in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG positiv-rechtlich garantiert ist. Schorn bezeichnet sie „für den Bereich des Strafprozesses als dessen Magna Charta, als Grundgesetz des Strafverfahrens“.26 Sie soll dabei besonderen Ausdruck in den Prozessprinzipien der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit gefunden haben.27 Dabei sieht er die Würde des Angeklagten und das sich daraus ergebende Recht auf rechtliches Gehör vor allem im Grundsatz der Unmittelbarkeit gewahrt.28 Aus diesem Wechselspiel zwischen Art. 1 GG und dem verfassungsmäßig garantierten Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), „das wiederum in der Unantastbarkeit der Menschenwürde begründet ist“29, schlussfolgert Schorn auf die grundgesetzliche Gewährleistung eines strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Anhänger hat er darin allerdings nicht gefunden. Vielmehr geht man, wie bereits geschildert, überwiegend davon aus, dass die Maxime nicht unmittelbar selbst im Verfassungsrecht loziert ist. 23

Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 368; Saenger, ZZP 121 (2008), 139, 153; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 4. Stadler, ZZP 110 (1997), 137, 146 spricht – im gleichsam umgekehrten Sinne – davon, dass es ein „verfassungsrechtliches Verbot mittelbarer Beweismittel“ nicht gibt. 24 Heinrich, in: MünchKommZPO, § 355 Rdnr. 1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359, 368; Saenger, ZZP 121 (2008), 139, 153 Fn. 110; Lang, in: NK-VwGO, § 96 Rdnr. 4. 25 Für das arbeitsgerichtliche Verfahren ähnlich Ziemann, in: Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), Kommentar zum Arbeitsrecht, ArbGG, § 58 Rdnr. 5, wonach ein „Recht auf Beweis“ verfassungsrechtlich zu gewährleisten und aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) herzuleiten sein soll und das Recht auf Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme beinhalte. 26 Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 17. 27 Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 54. 28 Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 63. 29 Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 64.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

2. Auseinandersetzung Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit diesen divergierenden Meinungen könnte man versucht sein, sich sogleich unmittelbar des Verhältnisses zwischen Verfassungs- und Strafprozessrecht anzunehmen. Dies soll noch kurz zurück­ gestellt werden und sich zunächst einer anderen (Vor-)Frage angenommen, deren Bezug zum vorliegenden Problem aber unmittelbar einsichtig ist. a) Materielles Strafrecht und Verfassungsrecht An früherer Stelle wurde aufgezeigt, dass ein (Haupt-)Zweck des Strafverfahrens darin besteht, die Anwendung des materiellen Strafrechts sicherzustellen und zu gewährleisten.30 Aus dieser Abhängigkeit des Strafprozessrechts und seiner dienenden Funktion gegenüber den materiellen Strafgesetzen folgt, dass ver­ fassungsrechtliche Vorgaben für das Strafprozessrecht und seine Verfahrensprinzipien sicher eher möglich und denkbar erscheinen, wenn schon das materielle Strafrecht selbst solchen Maßgaben unterliegen würde. Unmittelbare Interdependenzen zwischen Verfassungs- und Strafrecht sind aber äußerst marginal. Unmittelbar augenfällig sind sie noch bei Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach das Verbot des Angriffskriegs unter Strafe zu stellen ist, sowie beim Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG31. Davon abgesehen lassen sich sonstige unmittelbar ableitbare Maßstäbe für materielle Strafgesetze dem Grundgesetz allerdings nicht entnehmen. Vielmehr gilt es, sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass „das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft vom Verfassungsrecht in ein enges Korsett eingeschnürt werden“.32 Dies sieht sich schon dadurch bestätigt, dass die – theoretisch denkbaren – verfassungsrechtlichen Hürden eher geringe praktische Konsequenzen für das Strafrecht zeitigen. Als eine Schranke für den Strafgesetzgeber wird von Bestrebungen, die eine stärkere Anbindung des Strafrechts an das Verfassungsrecht befürworten, ins­ besondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dabei wiederum maßgeblich das Übermaßverbot als dessen dritte Stufe angeführt.33 Aber schon eine Durchsicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass an dieser Hürde

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s. im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. Vgl. dazu etwa Krüger, NStZ 2011, 269 ff. m. w. N. 32 Arzt bei Julius, ZStW 111 (1999), 889, 894. 33 In diesem Sinne etwa Paulduro, Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, S. 109 ff., 117 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 163; Appel, Verfassung und Strafe, S. 206 f., 354 f., 390; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 101 ff., 119 ff., 161 ff. Vgl. zu den im Einzelnen leicht unterschiedlichen Begründungen näher die Darstellung bei Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 81 ff. sowie zum Ganzen ferner noch Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 22 ff., 38 ff. 31

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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noch keine Strafnorm gescheitert ist.34 In den praktischen Konsequenzen wird dies durchaus zugestanden. Lagodny etwa kommt nach seiner umfassenden Untersuchung zum „Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte“ zu der Erkenntnis, dass „die Grundrechte dem Strafgesetzgeber wenig verbindliche Schranken“ setzen.35 Dies scheint er aber wohl bloß in den praktischen Schlussfolgerungen anzuerkennen wollen, wohingegen er in seinem theoretischen Ausgangspunkt den Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durchaus eine strafbarkeitslimitierende Funktion bzw. jedenfalls eine sog. Impulsfunktion zu­sprechen will.36 Damit kommt unweigerlich die Frage auf, wie man dies mit der praktischen Bedeutungslosigkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips für den Bereich des Strafrechts in Einklang bringen will. Es soll darin begründet sein, dass sich das Bundes­verfassungsgericht in dieser Hinsicht durch weitgehend richterliche Selbstbeschränkung auszeichnen soll.37 Aber schon an früherer Stelle ist aufgezeigt worden, dass dies für das Übermaßverbot als dritte Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und – vermeintliche – Schranke für das Strafrecht und den Strafgesetzgeber gerade nicht gilt.38 Seine nicht bloß praktisch, sondern vielmehr bereits im theoretischen Ausgangspunkt begründete beschränkte Funktion folgt schlicht aus den inhaltlichen Vorgaben des Übermaßverbots. Es gebietet, dass der Eingriff in ein Grundrecht nicht außer Verhältnis zum an­gestrebten Zweck stehen darf.39 Dabei ist es erst verletzt, wenn die betroffenen Interessen der Grundrechtsträger gegenüber den mit dem staatlichen Eingriff verfolgten Belangen „ersichtlich wesentlich schwerer wiegen“40, etwa weil 34 s. dazu Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 87 f. in der Auseinandersetzung mit Paulduro, Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, S. 432 f. 35 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 511. Vgl. ferner noch Appel, Verfassung und Strafe, S. 597, wonach sich „die Frage, wie viel Strafrecht sinnvoll und politisch wünschenswert ist, […] unter Berufung auf das Grundgesetz nicht beantworten“ lässt. 36 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 163. 37 Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, S. 161 f.; Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, S. 22. 38 Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 89 sowie ferner noch Vogel, StV 1996, 110, 113. Die Inzest-Entscheidung ändert daran nichts. Das BVerfG spricht zwar im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne davon, dass es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sei, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage verbindlich festzulegen. An gleicher Stelle betont es aber einen der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung weitestgehend entzogenen Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers expressis verbis bloß „bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren“ (BVerfGE 120, 224, 240 – Hervorhebung nicht im Original). In dieser Hinsicht bewegt sich die Entscheidung ganz auf der bisherigen Linie des Gerichts. 39 BVerfGE 65, 1, 54; 80, 297, 312; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rdnr. 154 – jeweils m. w. N. 40 BVerfGE 44, 353, 373 (Hervorhebung nicht im Original).

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

der Gesetzgeber ein nach Art und/oder Maß schlechthin unangemessenes Mittel zur Erreichung des erstrebten Zwecks gewählt hat41. Aus der Perspektive des Verfassungsrechts prüft man von daher nicht, wie es Paulduro als Befürworterin einer stärkeren Anbindung des Strafrechts an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz annimmt42, ob der Gesetzgeber ein angemessenes Mittel gewählt hat, um sein Ziel zu erreichen oder jedenfalls erreichen zu können, sondern fragt – gleichsam negativ43 – ob Mittel und Zweck in einem unangemessenen Verhältnis zueinander stehen. Dies darzutun, ist ein eher schwieriges Unterfangen, worin sich zeigt, dass das Übermaßverbot nicht bloß praktisch eine eher leicht zu nehmende Hürde für den Strafgesetzgeber ist. Es kann schon von seinen theoretischen Prämissen aus kaum Schranken errichten.44 Weder in den praktischen Konsequenzen noch im theoretischen Ausgangspunkt lässt sich eine allzu starke Anbindung des Strafrechts an das Verfassungsrecht unter gleichzeitiger Vernachlässigung originär strafrechtsdogmatischer Fragen befürworten. Das Verfassungsrecht, insbesondere wie es vom Bundesverfassungsgericht interpretiert wird, trägt von daher unmittelbar selbst eher wenig zur Grenzziehung des Strafrechts bei. Gleichwohl mangelt es nicht an Versuchen innerhalb der Strafrechtsdogmatik, das Verfassungsrecht wenn schon nicht von außen an das Strafrecht heranzutragen, wenigstens durch strafrechtsdogmatische Argumentationsfiguren zu einer immanenten Grenze für den Strafgesetzgeber werden zu lassen. Exemplarisch in dieser Hinsicht sind naturalistische Rechtsgutstheorien, die von einem überpositiven und dem Gesetzgeber vorgegebenen Rechtsgutsbegriff aus­ gehen45, wobei zum Teil wiederum die Verfassung bemüht wird. Sie klingt etwa bei Roxin an, wenn er unter Rechtsgütern alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen versteht, „die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind“.46 An späterer Stelle stimmt er Befürwortern einer verfassungsrechtlichen Rezeption des Rechtsgutsbegriffs und seiner Bedeutung für das Übermaßverbot zu47, ohne diesen Ge­ danken aber überbewerten zu wollen. Vielmehr sind aus dem Rechtsgutskonzept gewonnene Ergebnisse verfassungsrechtlich fundierte kriminalpolitische Postulate, welche der Gesetzgeber beachten muss, diesen aber nicht zwingen.48 Auf

41

BVerfGE 90, 145, 173 (Hervorhebung nicht im Original). Paulduro, Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, S. 112, 117, 120 und öfters. 43 Darauf weist schon zutreffend Kuhlen, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzu­messung und Strafprozeß, S. 77, 84 hin. 44 Vgl. hierzu bereits Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 90 f. 45 Nachw. hierzu bei Weigend, in: LK, Einl. Rdnr. 7. 46 Roxin, AT I, § 2 Rdnr. 7. 47 Ebd., Rdnr. 92. 48 Ebd., Rdnr. 94. Ebenso Sternberg-Lieben, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsguts­ theorie, S. 79 f. 42

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solche – gleichsam mittelbare – Art und Weise will man das Strafrecht an verfassungsrechtliche Zügel legen. Solche Bemühungen überzeugen indes nicht. Dabei muss an dieser Stelle nicht auf sämtliche Einwände gegen einen systemtranszendenten Rechtsgutsbegriff eingegangen werden.49 Es genügt vielmehr darzutun, dass strafrechtliche Rechtsgutstheorien nicht von verfassungsrechtlicher Relevanz sind. Dies wiederum hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Inzest-Entscheidung getan. Es führt darin aus, dass strafrechtliche Rechtsgutslehren von Verfassungs wegen nicht imstande sind, den Gesetzgeber unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers anerkannte Rechtsgüter einzuengen. Eine solche Grenze findet sich vielmehr „nur in der Verfassung selbst“.50 In dieser Hinsicht nennt es insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, woran die Pönalisierung des Inzests jedoch nicht scheitern soll51, wie es angesichts seiner soeben dargestellten beschränkten Wirkung nicht verwundert. Insofern ist das Strafrecht weder unmittelbar über das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch mittelbar über den Rechtsgutsbegriff an zwingende und keinesfalls an enge Vorgaben der Verfassung gebunden, sodass aus der Funktion des Strafprozesses, dem materiellen Strafrecht zur Durchsetzung zu verhelfen, nicht zwangsläufig geschlossen werden kann, dass Prozessprinzipien unter Einschluss des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes eine Rechtsquelle von verfassungsrechtlicher Qualität haben müssen. b) Strafprozessrecht und Verfassungsrecht Obwohl das materielle Strafrecht von daher kaum verfassungsrechtlichen Vorgaben unterliegt, ist damit noch nicht zwangsläufig gesagt, dass Gleiches für das Strafprozessrecht gilt. In der Strafprozesslehre befürwortet man vielmehr einen – eher noch wachsenden – Einfluss des Verfassungsrechts auf das Strafverfahren(srecht). In diesem Sinne wird Strafprozessrecht als „Seismograph der Verfassung“52, als „angewandtes Verfassungsrecht“ angesehen53. Seine Rechtsquellen, die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, werden ganz in diesem Sinne als „Ausführungsgesetze des [Bonner] Grundgesetzes“ bezeichnet.54 Anderenorts äußert man sich dagegen etwas kritischer. Es seien manche strafprozessualen Strukturelemente und Grundprinzipien „teilweise – in einer nicht ganz unpro­ blematischen Weise – verfassungsrechtlich fundiert worden“.55 Pointierter ist an 49

Vgl. hierzu Krüger, Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 62 ff. BVerfGE 120, 224, 241 f. (Inzest-Entscheidung). 51 BVerfGE 120, 224, 249 ff., 252. 52 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 2 Rdnr. 1. 53 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd. III/2, S. 909, 966. Diese Formulierung findet sich noch in BGHSt 19, 325, 330 und BVerfGE 32, 373, 383. 54 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Grundrechte, Bd. III/2, S. 909, 910. 55 Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 446. 50

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

späterer Stelle von einer „verfassungsrechtliche(n) Metadogmatik“ die Rede.56 Bei aller Skepsis wird die verfassungsrechtliche Entwicklung aber nicht völlig ausgeblendet. Vielmehr heißt es zum Abschluss, dass die verfassungsrechtliche Entwicklung „stärker, klarer und unter einheitlichen Gesichtspunkten integriert werden“ sollte.57 Rieß schwebt dabei scheinbar ein strafprozessrechtsimmanenter Weg vor, wenn er von der Integration dieser Entwicklung seitens der Wissenschaft, der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Gesetzgebers spricht, die wohl innerhalb der „Strukturelemente des tradierten Prozessrechts und deren funktionellen Zusammenhänge“ erfolgen soll, von denen er unmittelbar zuvor spricht. Der Trend, das Strafprozessrecht mehr oder minder eng an das Verfassungsrecht binden zu wollen, ist von daher selbst unter (vorsichtigen) Kritikern zu beobachten. Dies beschränkt sich keinesfalls auf das geschriebene Strafprozessrecht, sondern hat seine – mehr oder minder ungeschriebenen – Prinzipien ebenfalls erreicht. Es zeigt sich darin, dass man dem Unmittelbarkeitsgebot als „klassisches“ Prinzip eine Fülle „moderner“ verfassungsrechtlicher Prozessprinzipien gegenüberstellt.58 Der BGH spricht ebenfalls von einem aus der Verfassung abgeleiteten allgemeinen Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren mit den Ausprägungen, „die dieses Prinzip in den Verfahrensgrundsätzen des Straf­prozeßrechts gefunden hat“.59 Auf diese Weise will man – mehr oder minder unausgesprochen – die Prozessprinzipien zumindest zum Teil verfassungsrechtlich fundiert wissen. c) Unmittelbarkeitsgrundsatz und Menschenwürde (Art. 1 GG) Ob es sich beim strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz in diesem Sinne verhält, soll nunmehr untersucht werden, soweit es die Menschenwürde als denkbare verfassungsrechtliche (Rechts-)Grundlage für dieses Verfahrensprinzip betrifft. Dabei ist im Ausgangspunkt sicher unbestreitbar, dass die Menschenwürde durch Art. 1 Abs. 1 GG zum Bestandteil des (Straf-)Verfahrensrechts geworden ist.60 Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht ernsthaft in Abrede stellen, dass etwa § 136a StPO vom Gedanken der Unantastbarkeit der Menschenwürde ge­tragen ist. Eine andere Frage ist, ob sich (übergeordnete) Prozessprinzipien auf eine grundgesetzliche Verankerung, etwa in den Grundrechten und dabei vor allem im – als „materiellem Hauptgrundrecht“ bezeichneten61 – Art. 1 GG, zurückführen lassen. Ganz in diesem Sinne hat es Eb. Schmidt gesehen: Den „Prozeßgrundsätzen ge 56

Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 457. Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 459 (Hervorhebung nicht im Original). 58 Vgl. insbesondere Kühne, in: LR, Einl. Abschn. I, Rdnr. 9 ff. einerseits und Rdnr. 71 ff. andererseits sowie ferner noch Schmoll, Videovernehmung kindlicher Opfer im Strafprozeß, S. 226. 59 BGHSt 43, 195, 204. 60 Peters, Strafprozeß, S. 20. 61 Nipperdey, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 2. Bd., S. 1, 12. 57

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ben die Grundrechte Folie und Gestalt“.62 Im Ergebnis sprechen freilich die besseren Gründe gegen einen solchermaßen begründeten Zusammenhang zwischen (Straf-)Prozessprinzipien einerseits und Grundrechten andererseits. Wenn man sich dieser Frage annimmt, muss sich zunächst noch einmal des Sinn und Zwecks von Prozessmaximen überhaupt vergewissert werden. Sie sollen, wie es an früherer Stelle aufgezeigt worden ist63, eine Mittlerfunktion zwischen den Funktionen des Strafverfahrens einerseits und den gesetzlichen Detailbestimmungen andererseits wahrnehmen.64 Weil wiederum eine Funktion des Strafprozesses darin gesehen wird, die Menschenwürde und sonstigen Grundrechte des Beschuldigten zu achten und zu wahren65, bedarf die These von Schorn, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 1 GG erfahren soll, einer näheren Betrachtung als es bislang geschehen ist. Dabei wiederum muss die – soeben geschilderte – Ebene de lege ferenda sauber und strikt von der Untersuchung de lege lata getrennt werden. Bei der Beschäftigung mit dem geltenden (Verfassungs-)Recht darf dabei im Ausgangspunkt das Folgende nicht außer Acht gelassen werden: Wenn man den Unmittelbarkeitsgrundsatz positivrechtlich unmittelbar in Art. 1 GG selbst loziert sehen will, würden Ziel (Schutz der Menschenwürde) und Mittel (Unmittelbarkeitsprinzip) miteinander verschmelzen und dieselbe verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage haben. Davon geht aber ersichtlich nicht einmal die Verfassung aus. Sie gibt in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG die Unantastbarkeit der Menschenwürde als verfassungsrechtlich verbindliches Ziel aus und überantwortet die Mittel, sie zu achten und zu schützen, im Übrigen in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der staatlichen Gewalt. Diese Vorschrift wirft die Frage auf, durch welche Art von Handeln der Staat die Verheißung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde umzusetzen hat.66 In diesem Duktus wäre der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz das „Handeln der staat­ lichen Gewalt“. Dies wird damit zu einer Aufgabe des einfachen Rechts, das insofern einem verfassungsrechtlichen Ziel dient, ohne dass die Mittel bzw. die Art von Handeln dadurch selbst in Verfassungsrang erhoben werden. Hierin liegt ein erster Grund, den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht unmittelbar in Art. 1 GG selbst verankert zu sehen. Des Weiteren sprechen eher pragmatische Gesichtspunkte dagegen. In dieser Hinsicht erhebt sich zunächst die Frage, ob und welchen praktischen Gewinn die Anbindung und Rückkopplung von (Straf-)Prozessprinzipen an Art. 1 GG versprechen könnte. Der Ertrag in dieser Hinsicht ist überaus dürftig. Es folgt aus der wenig griffigen Dürig’schen Formel zum Inhalt der Menschenwürde, auf die Rechtsprechung und Schrifttum zu Art. 1 GG nach wie vor rekurrieren. Danach ist 62

Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I, Rdnr. 279. Vgl. dazu im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 64 s. hierzu die Nachw. im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 1. 65 Vgl. im 1. Teil, 2. Kapitel unter III. 66 Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rdnr. 29 a. E. 63

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

die Menschenwürde „getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.67 Es verbietet sich vor dem Hintergrund der Menschenwürde, „den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen“.68 Es kann angesichts dieser inhaltlichen Aussagen der Objektformel nicht verwundern, dass sie von Skeptikern als „wenig fassbar“ angesehen69, anderenorts sogar als „Leerformel“ abgetan wird70. Die Befürworter dieser Formel, allen voran das Bundesverfassungsgericht, verschließen sich solchen Bedenken keinesfalls. Sie könne aber jedenfalls den Weg weisen. Eine solche allgemeine Formel wie die, dass der Mensch nicht zum Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden dürfe, könne lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle von Verletzungen der Menschenwürde gefunden werden.71 Diesen verfassungsrechtlichen Befund über Umfang und Inhalt der Menschenwürdegarantie hat man sich vor Augen zu halten, wenn deren Einfluss auf das Straverfahren(srecht) untersucht werden soll. Es ist sicher – selbst ohne § 136a StPO – ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn Aussagen durch Folter herbeigeführt werden (dürften). Dass die Menschenwürde aber den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz gebietet, damit der Angeklagte nicht zum Objekt gemacht wird, lässt sich dagegen ebenso leicht behaupten, aber – vor dem geschilderten verfassungsrechtlichen Hintergrund – ungleich schwerer begründen. Darin liegt ein erstes Indiz dafür, dass er nicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG loziert ist. Ein entscheidender Einwand kann darin allerdings noch nicht gesehen werden. Eng damit verknüpft ist jedoch ein weiteres Argument, das unmittelbar mit der Objektformel zu tun hat und wider die verfassungsrechtliche Verankerung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Art. 1 GG spricht. Dabei geht es mehr um die Konsequenzen und Weiterungen der gegenteiligen Sichtweise. Es desavouiert die Menschenwürde, wenn man detaillierte Einzelfragen nahezu durchweg auf bzw. durch Art. 1 GG zurückführen und beantwortet wissen will. Es löst einerseits nicht zwangsläufig das Problem als solches, weil die Vorgaben des Art. 1 GG wegen der kaum griffigen Objekt-Formel konkrete Schlussfolgerungen für die Praxis, wie vorstehend geschildert, eher nicht zulassen. Zugleich führt ein solches Vorgehen keinesfalls zur praktischen Aufwertung dieser grundlegenden Verfassungsnorm, sondern droht diese vielmehr eher abzuwerten. Verfassungsrechtlich gibt es in dieser Hinsicht verschiedene Szenarien: Man könnte die Menschenwürde in einem engen Sinne verstehen. Wenn man dies tut, kann man zugleich daran festhalten, dass sie einer Abwägung nicht zugänglich ist und damit ein jeder Eingriff in deren (engen) Schutzbereich per se verfassungswidrig ist und nicht einmal ausnahmsweise legitimiert werden kann. Wenn man 67

Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rdnr. 36. BVerfGE 9, 89, 95; 27, 1, 6; 45, 187, 228; 50, 166, 175; 72, 105, 116; 87, 209, 228. 69 Leisner, BayVBl. 1979, 518, 521. 70 Hoerster, JuS 1983, 93, 95. 71 BVerfGE 30, 1, 25. 68

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dagegen ein jedes Detailproblem in Art. 1 GG verankert wissen und zugleich daran festhalten wollte, dass die Vorschrift abwägungsfest ist, würde dies dazu führen, dass gesetzgeberische Reformen zur Lösung des Problems kaum noch möglich wären. Angesichts einer sich rasant entwickelnden Gesellschaft müsste dies aber über kurz oder lang unweigerlich in eine Sackgasse münden. Die Alternative dazu wäre freilich, Art. 1 GG verstärkt für Einzelprobleme zu öffnen und zugleich einer Abwägung zugänglich zu machen, wie es zunehmend befürwortet wird72. Solchen Tendenzen leistet man Vorschub, wenn man der Vorschrift allzu viel an Detailproblemen aufbürdet. Zugleich muss man, wenn man es gleichwohl tun will, in einen Abwägungsprozess flüchten, weil die andere – soeben geschilderte – Alternative ebenfalls nicht erstrebenswert ist. Die Lozierung eines jeden Problems in der Menschenwürde muss von daher zwangsläufig dazu führen, dass einer mit Unwäg­ barkeiten verbundenen Abwägung bei Art. 1 GG Tür und Tor geöffnet wird. Dies wiederum ist ein allzu hoher Preis und spricht von daher gegen eine solche Sichtweise und deren – vorstehend geschilderten – misslichen Konsequenzen. Wenn es bislang eher pragmatische Gründe waren, die gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Art. 1 GG angeführt wurden, soll dies nicht heißen, dass es an rationaleren Argumenten dafür fehlen würde. In dieser Hinsicht spricht zunächst die historische Betrachtung dagegen. Wenn es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einerseits und Art. 1 GG andererseits geben würde, hätte das Unmittelbarkeitsprinzip erst mit Inkrafttreten des Grundgesetzes seinen Einzug in den Strafprozess halten dürfen. Bekanntlich hat es aber als klassische Verfahrensmaxime maßgeblich die Abkehr vom schrift­lichen Inquisitionsprozess geprägt73, die etwa 100 Jahre vor der Festschreibung der Menschenwürde als Verfassungsprinzip begann. Konstitutiv kann Art. 1 GG für das (straf-) prozessuale Unmittelbarkeitsgebot von daher keinesfalls sein. Während man vorgenannte Argumente vielleicht noch als nicht durchschlagend abtun kann, spricht ein letzter Aspekt entscheidend dafür, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht unmittelbar im Verfassungsrecht selbst loziert sein kann, insbesondere soweit es Art. 1 GG betrifft. Keinesfalls kommt die Norm nämlich bloß im Strafprozess zur Anwendung, sondern nicht minder in anderen gerichtlichen Verfahren wie in der gesamten Rechtsordnung überhaupt. Schließlich handelt es sich um eine „für alle Rechtsgebiete […] einheitlich bindende Richtlinie“.74 Während es an der Richtigkeit dieser Aussage nicht den geringsten Zweifel gibt, verwundert es etwas, dass Schorn aber dennoch meint, dass die Menschenwürde in den Prozessprinzipien der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit der Strafverhandlung einen „besonderen Ausdruck“ ge-

72

Vgl. hierzu etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rdnr. 54. s. dazu im 1. Teil, 1. Kapitel unter II. 74 BayVerfGH, VerwRspr. 1, Nrn. 1 und 84 (Hervorhebung nicht im Original). 73

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

funden hat75. Die universale Geltung der Menschenwürde in sämtlichen Rechts­ gebieten verbietet eine solche Annahme. Wenn Schorn etwa Mündlichkeit der strafgerichtlichen Hauptverhandlung aus Art. 1 GG ableiten will76, müsste Gleiches im Zivilprozess gelten und damit die Regelung des schriftlichen Vorverfahrens gemäß § 276 ZPO dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit anheimfallen. Man könnte ebenso umgekehrt argumentieren, dass deshalb, weil diese zivilprozessuale Vorschrift – bei universaler Geltung der Menschenwürdegarantie – mit Art. 1 GG vereinbar ist, nicht zwangsläufig am Prinzip der Mündlichkeit im Straf­prozess festgehalten werden muss. Wenn die „für alle Rechtsgebiete […] einheitlich bindende Richtlinie“ des Art. 1 GG tatsächlich den (strafprozessualen) Unmittelbarkeitsgrundsatz beinhalten würde, sind solche Unterschiede nicht hinnehmbar. Dass es sie gibt, spricht vielmehr dagegen. Dieser Standpunkt wird vom Bundesverfassungsgericht geteilt. Es gesteht durchaus zu, dass einfachrechtliche Unterschiede der jeweiligen Prozess­ordnungen mit Blick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz bestehen können, verneint im Übrigen aber, dass er sich für sämtliche Verfahrensordnungen aus dem Grundgesetz und dabei insbesondere den Grundrechten ergeben kann. Vielmehr ist es eine – wiederum im Straf- wie im Zivilprozess gleichermaßen zu behandelnde – „Frage des Einzelfalls, ob eine gegebene Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes derart schwerwiegend ist, dass dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernstlich beeinträchtigt wird“.77 Vor dem Hintergrund, dass das Grundgesetz selbst nicht zwischen den einzelnen Verfahrensordnungen differenziert, ist dem Gericht darin beizupflichten. Es ist diese prozessordnungs- bzw. verfahrensübergreifende Wirkung der Menschenwürde wie des Grundgesetzes überhaupt, die dafür spricht, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht mit konstitutiver Wirkung im Verfassungsrecht verankert sein kann. Insbesondere ist Art. 1 GG wegen seiner universellen Geltung in sämtlichen Rechtsgebieten nicht in der Lage, auf den Strafprozess und seine Prinzipien beschränkte Aussagen zu treffen. Damit ist zugleich gesagt, dass verfassungsrechtliche Überlegungen bei einer Reform des strafprozessrechtlichen Unmittelbarkeitsgebots weitgehend außen vor bleiben können.

II. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Menschenrechtskonvention Im Rahmen einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes könnten sich aber aus der Menschenrechtskonvention gewisse Vorgaben für das nationale Recht ergeben. Damit stellt sich die Frage, ob dieses Prinzip darin ver­ 75

Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 54 (Hervorhebung nicht im ­Original). 76 Schorn, Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, S. 61. 77 BVerfG NJW 2008, 2243.

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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ankert ist. Als denkbare Rechtsquelle für eine strafprozessuale Unmittelbarkeits­ etracht. maxime innerhalb des Konventionsrechts kommt lediglich Art. 6 MRK in B 1. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Konfrontationsrecht Dabei stellt sich zunächst die Frage, in welchem Verhältnis der Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d) MRK steht, wonach der Angeklagte das Recht hat, „Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen“. Eine gewisse Parallelität wird im Schrifttum nicht geleugnet.78 Eine durchaus enge Verbindung und Wechselwirkung zwischen Konfrontationsrecht und Unmittelbarkeitsprinzip macht etwa Cornelius aus, indem er seine Ausnahmen nach § 251 StPO im Zusammenhang mit dem Recht auf Konfrontation sehen will.79 Er weist insofern zunächst darauf hin, dass „selbst bei Vorliegen eines Ersetzungsgrundes nach § 251 StPO aus Gründen der Amtsermittlung eine Herbeischaffung des unmittelbaren Beweismittels erforderlich sein kann“. Anschließend heißt es weiter, dass sich diese Konsequenz „zusätzlich aus einer ansonsten möglichen Verletzung des Konfrontationsrechts ergeben [kann]. Denn wenn die Verteidigung im gesamten Verfahren keine Gelegenheit zu einer Befragung eines Belastungszeugen hatte und wenn sich das Gericht gerade auf diese Zeugenaussage alleine oder entscheidend stützen möchte, wird das Unmittelbarkeitsprinzip soweit verstärkt, dass selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 251 StPO nicht auf eine unmittelbare Zeugenvernehmung verzichtet werden kann. Dann sperrt das Recht auf Konfrontation einen Rückgriff auf die Ausnahmevorschriften zum Unmittelbarkeitsprinzip. In der Praxis ist somit neben einer Prüfung der Voraussetzungen des § 251 StPO zu untersuchen, ob bei Ersetzung einer Zeugenaussage durch einen Urkundenbeweis eine Verletzung des Konfrontationsrechts gegeben ist.“ Die besseren Gründe streiten aber dafür, beide Aspekte eher auseinander­ zuhalten. Keinesfalls geht es an, den Unmittelbarkeitsgrundsatz als vollständig durch das Konfrontationsrecht gewährleistet anzusehen – oder umgekehrt. Es folgt schlicht daraus, dass Unmittelbarkeit als Maxime der Hauptverhandlung verstanden wird80, wohingegen das Konfrontationsrecht bloß zu irgendeinem Zeitpunkt des gesamten Strafverfahrens gewährleistet sein muss81. Von daher darf das Konfrontationsrecht nicht darüber hinwegtäuschen, dass der strafprozessuale mittelbarkeitsgrundsatz daneben seine Berechtigung behält. Beide Aspekte Un­ sind miteinander verschränkt, ohne dass einer vollständig im anderen aufgehen 78

Schädler/Jakobs, in: KK, Art. 6 Rdnr. 24. Vgl. hierzu und zum Folgenden Cornelius, NStZ 2008, 244, 248 (Hervorhebung nicht im Original). In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Velten, StV 2007, 97, 99. 80 s. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 81 Vgl. hierfür statt aller bloß Meyer-Goßner, Art. 6 MRK Rdnr. 22 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum (Anhang 4). 79

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

würde.82 Die Beweisführung eines deutschen Strafgerichts muss von daher beiden Gesichtspunkten genügen. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wird aber weder durch das Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 lit. d) MRK obsolet noch ist er darin in einem vollumfänglichen Sinne enthalten. 2. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Art. 6 Abs. 1 MRK Art. 6 Abs. 3 MRK und seine Aufzählung sind aber ausweislich seines Wortlauts keinesfalls abschließend oder erschöpfend („mindestens“). Damit könnte man auf den Gedanken kommen, dass ein Unmittelbarkeitsgrundsatz seinen konventionsrechtlichen Niederschlag in Art. 6 Abs. 1 MRK gefunden hat. Kühne hat sich, soweit es Unmittelbarkeit und damit eng verwandte Prozessgrundsätze (Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Konzentrationsmaxime) betrifft, dahingehend eingelassen83, dass „die grundsätzliche Geltung eines Teils dieser Maximen […] als Menschenrechte anerkannt“ sein soll und nennt Art. 6 Abs. 1 MRK als primäre Rechtsquelle dafür. Dagegen sind aber bereits rechtstatsächliche Befunde anzuführen und nicht minder normative Einwände zu erheben. In rechtstatsächlicher Hinsicht ist auf die Regelungen zur Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands hinzuweisen.84 Insofern gibt es zwar in der Tat neben Deutschland weitere Konventions­ staaten, die – durchweg unter Zulassung von Ausnahmen – eine vergleichbar vom Unmittelbarkeitsprinzip getragene Beweisaufnahme in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung kennen (England und Wales, Italien, Österreich, Portugal und Schweden). Teilweise, nämlich in Frankreich, hält man es bloß in Schwurgerichtssachen durch, während sich bei unteren Gerichten die Praxis zumeist mit der Verlesung von Vernehmungsprotokollen begnügt, ohne dass die Zeugen nochmals

82 Paeffgen, in: SK-StPO, Art. 6 MRK Rdnr. 166 geht ebenfalls von einer Wesensverschiedenheit zwischen Konfrontationsrecht einerseits und Unmittelbarkeitsgrundsatz andererseits aus. 83 s. zum Folgenden Kühne, in: LR, Einl. Abschn. I, Rdnr. 54 a. E. mit Rdnr. 44 ff. Für das arbeits­gerichtliche Verfahren ähnlich Ziemann, in: Henssler/Willemsen/Kalb (Hrsg.), Kommentar zum Arbeitsrecht, ArbGG, § 58 Rdnr. 5, wonach ein „Recht auf Beweis“ aus Art. 6 Abs. 1 EMRK herzuleiten sein soll und das Recht auf Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ­beinhalte. 84 Vgl. zum Folgenden die einzelnen Länderberichte bei Perron (Hrsg.), Die Beweis­ aufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, passim. Die sich diametral gegenüberstehenden Regelungen zur Unmittelbarkeit bzw. Mittelbarkeit der Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands legen die Vermutung nahe, dass der Ertrag einer rechtsvergleichenden Betrachtung eher bescheiden ausfällt zum damit verbundenen Aufwand und damit eher nicht weiter- und zielführend ist. Es klingt im abschließenden rechtsvergleichenden Querschnitt von Perron in gewisser Weise an (ebd., S. 549, 574), wenn konstatiert wird, dass die Ausnahmen und Lockerungen vom Unmittelbarkeitsprinzip mehr oder minder gleichermaßen in instruktorischen und adversatorischen Verfahrensordnungen anzutreffen sind.

10. Kap.: Unmittelbarkeitsgrundsatz und höherrangiges Recht

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gehört werden.85 Damit lässt sich konstatieren, dass manche Konventionsstaaten durchaus eine überwiegend vom Unmittelbarkeitsgebot getragene Beweisaufnahme vorsehen, die freilich ausnahmslos von Ausnahmen durchsetzt ist. Im krassen Gegensatz dazu steht Holland, ebenfalls Konventionsstaat. Einen Unmittelbarkeitsgrundsatz kennt das Strafverfahren der Niederlande gerade nicht. Es genügt vielmehr eingeschränkte Unmittelbarkeit. In der Hauptverhandlung werden eher selten Zeugen vom Richter vernommen. Bezüglich der Zeugen­ vernehmungen hat sich der Schwerpunkt vielmehr vom Haupt- hin zum Vorverfahren verschoben. Dies zeigt sich in der Möglichkeit, Polizeiprotokolle unmittelbar und direkt als Beweismittel zu verwerten, ohne den Zeugen oder Polizeibeamten zur Hauptverhandlung laden zu müssen. Die Hauptverhandlung dient damit im Prinzip bloß der Bestätigung des Untersuchungsverfahrens. Das Gericht stützt seine Beweisaufnahme dabei weitgehend auf die in den Akten enthaltenen schriftlichen Vernehmungsprotokolle. Die Hauptverhandlung in den Niederlanden ist damit in erster Linie dazu bestimmt, das in den Akten gesammelte Material zur Diskussion zu stellen.86 Freilich kann es mit dem Hinweis auf Holland nicht sein Bewenden haben. Denn schließlich – jedenfalls rein theoretisch – könnte dessen Regelung einer bloß mittelbaren Beweisaufnahme in seinem Strafverfahrensrecht gegen ein Unmittelbarkeitspostulat aus Art. 6 Abs. 1 MRK sprechen, sofern es sich daraus normativ ableiten lässt. Es sprechen aber ebenso methodische wie normative Gründe dagegen, ein strafprozessuales Unmittelbarkeitsprinzip de lege lata in Art. 6 Abs. 1 MRK loziert zu sehen. Sie decken sich – weitestgehend87 – mit jenen Argumenten, die bereits gegen eine innerstaatliche Verankerung dieser Verfahrensmaxime im Verfassungsrecht erhoben wurden. Ein erster normativer Grund gegen die Annahme einer Verankerung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Art. 6 MRK 85 Barth/Koch, Länderbericht Frankreich, in: Perron (Hrsg.), Die Beweisaufnahme im Strafverfahrens­recht des Auslands, S. 89, 107. 86 s. zum Ganzen van de Reyt, Länderbericht Niederlande, in: Perron (Hrsg.), Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 283, 299. Wenn für den Umstand, dass zumeist sogar bloß eine Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts der einzelnen Niederschriften zur Diskussion gestellt wird, als Rechtfertigung angeführt wird, dass schließlich sämtlichen Prozessbeteiligten infolge einer systematischen Vervielfältigung der Akten sämtliche Unterlagen zugänglich sind, ist auf die deutsche Rechtslage zu verweisen, nach der es trotz §§ 147 Abs. 1, 199 Abs. 2 Satz 2 StPO einer grundsätzlich unmittelbaren Zeugenvernehmung gemäß § 250 StPO bedarf und im Ausnahmefall des § 251 StPO das Protokoll im vollen Umfang verlesen werden muss und eine teilweise Verlesung (im Originalwortlaut) lediglich mit Zustimmung der Prozessbeteiligten zulässig ist, vgl. BGH NStZ 1988, 283. Darin zeigt sich einmal mehr, dass eine rechtsvergleichende Betrachtung des Unmittelbarkeitsprinzips mehr zum Selbstzweck erfolgen würde, als dass man sich davon wirklich neue weiterführende Erkenntnisse erhoffen sollte. 87 Neben den sogleich oben im Text angesprochenen Punkten ist zusätzlich noch darauf hinzuweisen, dass Art. 6 MRK seine Wirkung bereits im Ermittlungsverfahren entfaltet (s. dazu bloß Schädler/Jakobs, in: KK, Art. 6 Rdnr. 11 m. w. N.). Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wird dage­ gen in seiner zeitlichen Reichweite als „Beweisgrundsatz“ auf die Hauptverhandlung beschränkt.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

ist im historischen Ablauf und der zeitlichen Reihenfolge zu sehen. Wie an früherer Stelle bereits aufgezeigt, hat das Unmittelbarkeitsprinzip seinen Ursprung in der Abkehr vom schriftlichen Inquisitionsprozess.88 Während dies bereits im 19. Jahrhundert begann und mit der Reichsstrafprozessordnung einen endgültigen Abschluss fand, wurde die Menschenrechtskonvention für Deutschland erst im Jahre 1952 verbindlich89. Vor diesem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund kann Art. 6 Abs. 1 MRK jedenfalls nicht konstitutiv für einen (straf-)prozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz sein. Im Übrigen ist Art. 6 Abs. 1 MRK in seiner Reichweite keinesfalls auf den Strafprozess beschränkt. Er gilt vielmehr in gerichtlichen Verfahren auf anderen Rechtsgebieten ebenso. Dass Art. 6 Abs. 1 MRK etwa in zivilgerichtlichen Verfahren ebenfalls gilt, folgt aus seinem unmissverständlichen Wortlaut, wonach er bei Entscheidungen über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ ebenso Anwendung findet. Deshalb ist anerkannt, dass die Vorschrift in sämtlichen Gerichtszweigen zu beachten ist.90 Spätestens an dieser Stelle muss man sich dagegen zur Wehr setzen, allzu viel an Prinzipien für den Strafprozess aus Art. 6 Abs. 1 MRK ableiten zu wollen. Vor diesem Hintergrund sollte vielmehr Vorsicht geboten sein, Art. 6 Abs. 1 MRK spezielle und insbesondere auf das Strafverfahren beschränkte Aussagen entnehmen zu wollen. Es sollte deutlich geworden sein, dass man Art. 6 MRK und seine Bedeutung für strafverfahrensrechtliche Maximen nicht überbewerten darf, weshalb er bei einer Untersuchung zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht allzu sehr und keinesfalls ausschließlich in den Vordergrund gerückt werden darf.

III. Fazit Aus gleichermaßen historischen wie systematischen Gründen ist Art. 6 Abs. 1 MRK im Rahmen von Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz weitestgehend von eher untergeordneter Bedeutung. Ein Weiteres kommt hinzu: Es muss bei der aktuellen Rechtslage bedacht werden, dass zum einen „ein einheitliches Strafverfahren der Europäischen Union, wenn es denn überhaupt zu erwarten ist, noch in weiter Ferne liegen dürfte“.91 Wenn es freilich einmal zu einem gesamteuropäischen Strafverfahrensrecht kommt, muss das deutsche Strafprozessrecht seinen Beitrag zu dessen Entstehung und Entwicklung leisten (können). Dies erfordert, dass man „in der rechtsvergleichenden Diskussion die Herausarbeitung der spezifischen Elemente des tradierten deut 88

Vgl. näher im 1. Teil, 1. Kapitel unter II. BGBl. II S. 685, 953. 90 Schädler/Jakobs, in: KK, Art. 6 Rdnr. 6 ff. m. w. N. 91 Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 454. 89

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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schen Strafprozesses“ beherrscht.92 Hierfür wiederum bedarf es zuvor einer gründlichen Analyse der nationalen Rechtslage und der damit verbundenen inhaltlichen ­Probleme. Das Verfassungsrecht kann dabei gleichfalls weitgehend außen vor gelassen werden. Schließlich hat sich gezeigt, dass es eine unmittelbare Rechtsgrundlage für ein (strafprozessrechtliches) Unmittelbarkeitsprinzip nicht bereithält. Dadurch werden seine Vorgaben freilich nicht völlig bedeutungslos. Vielmehr fließen sie im Wege der verfassungskonformen Auslegung in die Anwendung und Interpretation des einfachen Strafprozessrechts ein. Auf diese Weise – und nicht durch unmittelbaren Rückgriff auf die Verfassung selbst – kann die verfassungsrechtliche Entwicklung „stärker, klarer und unter einheitlichen Gesichtspunkten integriert werden“, wie es sich etwa Rieß wünscht.93 Eine solche strafprozessrechtsimmanente Sichtweise der Prozessprinzipien hat sich zuvörderst an den strafprozessualen Vorschriften selbst und den dahinter stehenden sachlich-logischen Gedanken zu orientieren. Von daher soll im weiteren Verlauf der Untersuchung darauf das Hauptaugenmerk gelegt werden, soweit es die (Reform-)Diskussion um den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz betrifft.

11. Kapitel

Sachliche Überlegungen im Rahmen einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes Nachdem aufgezeigt worden ist, dass weder Verfassungs- noch Konventionsrecht einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes entgegenstehen, stellt sich nunmehr die Frage, wie es sich mit sachlichen Überlegungen in dieser Hinsicht verhält. Sie dürfen bei Gesetzesreformen schlichtweg deshalb nicht (völlig) ausgeblendet werden, weil sachliche Prinzipien durch Gesetze überhaupt nicht verändert werden können, sondern vielmehr ohne diese Geltung beanspruchen.

I. Aspekt der (besseren) Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei unmittelbarer Vernehmung durch das erkennende Gericht Damit kommt die Frage auf, ob nicht deshalb am strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz festzuhalten ist, weil das erkennende Gericht bloß auf diese Weise – oder aber jedenfalls (deutlich) besser als bei der Verlesung von Verneh-

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Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 459. Rieß, Eser-Festschrift, S. 443, 459.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

mungsprotokollen94 – die Glaubwürdigkeit der Aussageperson sachgemäß zu würdigen vermag. Bekanntlich wird darin der (maßgebliche) Sinn und Zweck dieses Verfahrensprinzips erblickt.95 Dies hätte sich freilich erledigt, wenn die Beurteilung der Glaubwürdigkeit nicht zwangsläufig die Wahrnehmung einer unmittelbar-mündlichen Aussage und des damit verbundenen (nonverbalen) Verhaltens der Aussageperson erfordert. 1. Gesetzliche Regelungen Der Gesetzgeber gibt unmissverständlich zu erkennen, dass er das (äußere) Verhalten während der Zeugenaussage für relevant hält. Anders kann man es schlechterdings nicht erklären, dass § 375 Abs. 1 ZPO die Möglichkeit der kommissa­ rischen Vernehmung unter den Vorbehalt stellt, dass „das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. An dieser – im Jahre 1990 eingefügten – Einschränkung hielt der Gesetzgeber in der Folgezeit (während der ZPOReform von 2001) fest.96 In § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO ist sie ebenfalls vorgese 94 Der Nachteil eines solchen Vorgehens wird darin erblickt, dass man Beweissurrogaten und dabei insbesondere der Reproduktion persönlicher Beweismittel, wozu die Niederschrift über eine (frühere) Vernehmung im Verhältnis zur selben anzusehen ist, einen geringeren Beweiswert zuspricht. Dies soll sich wiederum dadurch erklären (lassen), dass der Beweisvorgang bei abgeleiteten Beweisen im Vergleich zur normalen Beweisführung bei originären Beweismitteln einen weiteren Schritt verlangt (vgl. zum Folgenden bloß Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 167 ff. m. w. N.). Im Normalfall sind bloß zwei Schritte erforderlich. In einem ersten Schritt nimmt der Richter den Inhalt des jeweiligen Beweismittels sinnlich wahr, um es anschließend (im zweiten Schritt) auf seine Beweiskraft zu prüfen, wofür man etwa bei einem Zeugen seine Aussage auf Glaubhaftigkeit und die Person des Zeugen auf seine Glaubwürdigkeit überprüft. Wenn man diese zwei Schritte auf die (mittelbare) Beweisführung mit abgeleiteten Beweismitteln überträgt, ist damit bloß erwiesen, dass das mittelbare Beweismittel den Inhalt des originären Beweismittels inhaltlich (un-)zutreffend wiedergibt. Ob der reproduzierte Originalbeweis seinerseits aber entsprechend beweiskräftig bzw. (un-)wahr ist, bedarf eigener weiterer Prüfung. Dieser dreistufige Beweisvorgang sieht sich nunmehr zunächst auf der zweiten Ebene Bedenken ausgesetzt. Problematisch soll nämlich sein, ob das Vernehmungsprotokoll den Inhalt der früheren Aussage zutreffend wiedergibt. Dies führt zum Problem der inhaltlichen Qualität von Vernehmungsniederschriften. Sie wird in mehr­facher Hinsicht bezweifelt (s. dazu bloß Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 170 ff. m. w. N.). Selbst wenn diese Einwände entkräftet werden (könnten), kommt es auf der abschließenden Stufe der Beweisführung durch abgeleitete Beweismittel aber noch zu einem weiteren Problem. Selbst wenn sich nämlich bei entsprechender Qualität dieser Protokolle hinreichend sicher feststellen lässt, dass protokollierte und tatsächlich gemachte Aussage übereinstimmen, ist damit noch nichts über den Beweiswert der Aussage selbst gesagt. Sie zu würdigen, sieht sich bei der Beweisführung mittels Protokollen vor die Schwierigkeit gestellt, dass es dem Gericht am persönlichen Eindruck von der Aussageperson fehlt. Von daher soll sich im Folgenden auf diesen Punkt konzentriert werden. 95 Vgl. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 96 Vgl. zu historischen Entwicklung von § 375 ZPO näher im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. 2.

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hen. Dagegen kann nicht vorgebracht werden, dass sich Zivil- und Verwaltungsgerichtsverfahren einerseits und Strafprozess andererseits insofern unterscheiden würden. Vernehmungspsychologische Fragen stellen sich vielmehr in sämtlichen Gerichtsverfahren gleichermaßen.97 Damit hält der Gesetzgeber nonverbales Aussageverhalten für beweisrelevant. 2. Rechtsprechung zu non-verbalem Aussageverhalten Wenn man die Rechtsprechung bezüglich der Frage, ob und in welchem Maße nonverbales Aussageverhalten bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen zu gewichten ist, durchforstet und lichtet, fällt der Blick zunächst auf die kommissarische Vernehmung und die damit korrespondierenden Verlesungsvorschriften. Insofern nimmt die strafgerichtliche Judikatur an, dass der (Haupt-)Belastungszeuge in der Regel erscheinen muss und nicht kommissarisch vernommen werden darf. Dies wird damit begründet, dass sich das (verurteilende) Gericht in solchen Fällen selbst von der Glaubwürdigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage überzeugen muss.98 Es kommt in solchen Konstellationen nämlich maßgeblich auf die Glaubwürdigkeit der Aussageperson an, weshalb sich das Tatgericht im Interesse einer erschöpfenden Sachaufklärung nach Möglichkeit einen persönlichen Eindruck von dieser Person verschaffen muss.99 Wenngleich noch nicht gesagt wird, worin gerade der Vorteil für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung erblickt wird, tendiert die Rechtsprechung dazu, einen solchen bei der un­ mittelbar-persönlichen Vernehmung im Verhältnis zur bloßen Verlesung des Protokolls über eine frühere Vernehmung anzunehmen.

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In diesem Sinne bereits Bachmann, ZZP 118 (2005), 133, 150. BGH bei Holtz, MDR 1979, 989, 990; OLG Düsseldorf NJW 1991, 2781, 2782. Interessant ist die Betonung auf den „Belastungszeugen“. Dass er regelmäßig selbst gehört werden muss, lässt sich sicher mit der Schutzfunktion des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zugunsten des Angeklagten erklären, vgl. hierzu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 99 OLG München StV 2006, 464. Vgl. zur „Wichtigkeit des persönlichen Eindrucks“ der Aussageperson als Glaubwürdigkeitsaspekt im Zusammenhang mit § 223 StPO ferner noch BGH NStZ 1981, 271; StV 1989, 468; StV 1993, 232 sowie BGHSt 45, 354, worin es um die Frage geht, auf welche Weise persönliche Wahrnehmungen des beauftragten Richters über eine kommissarische Zeugenvernehmung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden können, weil das nonverbale Verhalten des – auswärtig – vernommenen Zeugen, etwa sein Erscheinungsbild, seine Körpersprache, zögernde oder flüssige Aussage sowie erkennbare Emotionen des Zeugen, für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit von Bedeutung sein können. 98

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a) Glaubwürdigkeit und blinder Richter Eine deutlichere Sprache vermittelt die Rechtsprechung – inzwischen und nach anfänglichem Schwanken100 – in der Frage der Mitwirkung von blinden Richtern in der Tatsacheninstanz. Regelmäßig nimmt sie einen diesbezüglichen Ausschluss blinder Richter an.101 Es sei nämlich der Grundsatz der Unmittelbarkeit betroffen, weil zum Inbegriff der Verhandlung zwingend optische Eindrücke gehören, wie etwa Haltung und Reaktionsweisen der Prozessbeteiligten. Solche Eindrücke sind von maßgebender Bedeutung. Es sind nicht bloß die Aussagen als solche „der für die Urteilsfindung erforderlichen Überzeugungsbildung zugrunde zu legen, sondern der Gesamteindruck, den sie vor Gericht hinterlassen. Hierbei kommt es gerade auf den unmittelbaren Eindruck an, den der Richter bei der Verhandlung gewinnt. Die Strafprozeßordnung legt das entscheidende Gewicht für die Urteilsfindung auf die dem Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz unterliegende Hauptverhandlung und nicht auf die im schriftlichen Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse.“ Mit solchen Formulierungen hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung die Bedenken des Schrifttums expressis verbis zu eigen gemacht. In der Literatur sind nämlich bereits frühzeitig Bedenken gegen die Mitwirkung blinder Richter in der strafgerichtlichen Tatsacheninstanz laut geworden. Danach „spielt der Gesamteindruck, den ein Zeuge oder Angeklagter vor Gericht macht, wie er erscheint und sich benimmt, sein Mienenspiel und seine Gesten und der 100 Die Entwicklung wird nachgezeichnet bei Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im Strafverfahren, S. 147 ff. sowie Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 79 ff. – jeweils m. w. N. Differenzierend verhält sich das OLG Zweibrücken, wonach ein blinder Richter jedenfalls Vorsitzender einer (großen) Berufungsstrafkammer sein kann, vgl. OLG Zweibrücken MDR 1991, 1083; NStZ 1992, 50 und aus ausschließlich verfassungsrechtlicher Perspektive dazu BVerfG NJW 1992, 2075. Fezer, NStZ 1988, 375 (Hervorhebung im Original) ist hingegen der Auffassung, dass von BGHSt 35, 164 „zwangsläufig alle blinden Richter sowohl in der ersten als auch in der Berufungsinstanz erfaßt“ werden, weshalb davon auszugehen ist, dass „etwa auch eine Berufungskammer nicht vorschriftsmäßig besetzt ist, wenn auch nur ein Beisitzer blind ist“. BGHSt 35, 164, 170 streicht dagegen heraus, dass die aufgestellten Grundsätze besonders bedeutsam sind in Verfahren, „in denen das Gesetz nur eine Tatsacheninstanz vorsieht“ (Hervorhebung im Original). Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 100 wiederum hält die vom OLG Zweibrücken ohne „nähere Begründung“ vorgenommene Differenzierung für „zwar formell legitim, aber inhaltlich zweifelhaft“, ohne freilich dafür wiederum eine nähere Begründung zu liefern. Sämtliche Argumentationen gehen aber am vielleicht entscheidenden Punkt vorbei: Anders als im Hauptverfahren vor dem erstinstanzlichen Strafgericht kann in der Berufung gemäß §§ 324, 325 StPO deutlich großzügiger von der Möglichkeit der Verlesung Gebrauch gemacht werden. Weil bei der Verlesung, bei der es auf visuelle Aspekte naturgemäß nicht ankommen kann, wiederum formelle Unmittelbarkeit gewahrt ist, hat die Differenzierung des OLG Zweibrücken im Ausgangspunkt durchaus etwas für sich. 101 Vgl. zum Folgenden BGHSt 35, 164. In anderen Gerichtszweigen sieht man es weitest­ gehend ebenso, s. dazu den Überblick bei Schulze, MDR 1988, 736 ff. sowie die dies­bezüglichen Zitate in BGHSt 35, 164, 168. Nach BSGE 23, 184, 188; 32, 201, 202 ist etwa „das äußere Verhalten für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Beteiligten oder Zeugen von Bedeutung“.

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gleichen mehr eine wichtige Rolle für die Glaubwürdigkeit“.102 In dieser Hinsicht können Haltung und Reaktionsweisen der Prozessbeteiligten für die Beweiswürdigung bedeutsam werden.103 Denn die Beurteilung einer Aussage hängt nicht ausschließlich vom Inhalt und der akustisch wahrnehmbaren Art und Weise ab, wie sie formuliert wird.104 Die Glaubwürdigkeit von Zeugen wird daneben noch wesentlich durch das persönliche Kennenlernen der Zeugen vor Gericht und durch deren Reagieren auf richterliche Fragen beeinflusst.105 Dabei sei man sich der Probleme der Zeugenpsychologie in immer stärkerem Maße bewusst.106 Weil es für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von außerordentlich großer Bedeutung sei107, könne eine gerechte Bewertung ohne Sehvermögen kaum erfolgen. Ebenso hält es das Bundesverfassungsgericht108: Danach ist die Streichung eines blinden Laienrichters aus der Schöffenliste wegen seiner Blindheit unter Hinweis auf den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dieses Prinzip „verlange es, dass sich jedes Mitglied des Spruchkörpers selbst und unmittelbar einen – auch optischen – Eindruck von den Verfahrensbeteiligten machen könne“. Mit diesen Worten schließt sich das Gericht der h. M. an. Noch deutlicher wird es, wenn es im Sachverhalt die Annahme der angegriffenen landgerichtlichen Entscheidung aufgreift und unbeanstandet lässt, wonach es der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz gebietet, „dass sich ein Schöffe einen eigenen, auch optischen Eindruck von den Verfahrens­beteiligten, insbe 102 Wimmer, JZ 1953, 671, 672 in seiner Anmerkung zu BGHSt 4, 191. Davon hat sich BGHSt 5, 354, 355 f. jedenfalls insofern beeindruckt gezeigt, als dass „zuzugeben ist, [dass] nur mit den Augen wahrnehmbare Umstände, wie z. B. der äußere Eindruck, das Erbleichen oder Erröten, das Mienenspiel oder die Gebärden eines Angeklagten oder Zeugen, gelegentlich für die Entscheidung über die Wahrheit oder Unwahrheit von Tatsachen von Bedeutung sein können“, ohne deshalb von BGHSt 4, 191 abzurücken, wonach die Mitwirkung eines blinden Richters als Beisitzer in einem Kollegialgericht, das als Tatgericht entscheidet, nicht den Grundsatz der Unmittelbarkeit verletzt. 103 Eb. Schmidt, JZ 1970, 337, 340. 104 Fezer, NStZ 1987, 335, 336. 105 Schorn, JR 1954, 298, 299. 106 Siegert, NJW 1957, 1622. 107 Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 148. Vgl. ferner noch Dahs/Dahs, Revision im Strafprozess, Rdnr. 154: „Der überaus komplexe Vorgang der beweiswürdigenden Überzeugungsbildung bezieht notwendig eine Fülle optischer Wahrnehmungen, z. B. bei der Vernehmung von Zeugen, ein.“ 108 Vgl. zum Folgenden BVerfG NJW 2004, 2150. Darauf bezieht sich BGH NStZ-RR 2011, 349, worin der Ausschluss blinder Richter erneut als unvereinbar mit dem Unmittelbarkeitsprinzip angesehen wird. Konkret ging es um die Beteiligung eines nicht der deutschen Sprache mächtigen Laienrichters vor der Neuregelung des § 33 Abs. 1 Nr. 5 GVG. Schon davor be­inhaltete die Mitwirkung eines solchen Schöffen eine Gesetzesverletzung, nämlich einen Verstoß gegen den in § 261 StPO verankerten Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit. Er verlangt, „dass der erkennende Tatrichter Prozessabläufe akustisch und optisch wahrnehmen“ kann. Dies liegt ganz auf der Linie der bisherigen Rspr. Zugleich leitet der BGH in diesem Urteil aus dem Unmittelbarkeitspostulat noch das Erfordernis einer Kommunikation der Kollegialrichter untereinander ab. Wegen der Neuregelung in § 33 Abs. 1 Nr. 5 GVG braucht darauf nicht (mehr) eingegangen zu werden.

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sondere von ihren Reaktionen, ihrer Mimik und Gestik, machen könne“. In dieser Hinsicht lässt sich nicht daran zweifeln, dass nonverbalem Verhalten eine (gewisse) Bedeutung beigemessen wird. b) Glaubwürdigkeit und Videovernehmung In die gleiche Richtung weist eine Entscheidung aus dem Jahre 1999. Darin betont der BGH, dass „der Eindruck, den ein möglicher Entlastungszeuge bei seiner Vernehmung – […] nonverbal durch sein Auftreten – vermittelt, für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage […] von Bedeutung“ sein kann.109 Dafür sollen u. a. „das Erscheinungsbild des Zeugen, Körpersprache, zögernde oder flüssige Aussage oder erkennbare Emotionen des Zeugen“ von Belang sein.110 Zur Live-Vernehmung per Video äußert sich der BGH im selben Sinne: „Zu berücksichtigen wird […] sein, dass sich eine auf Distanz befragte Person dem durch Frage und Antwort entstehenden Spannungsverhältnis wird eher entziehen können, als in direktem Kontakt in ein und demselben Raum. Durch die technisch bedingte Distanz wird es zudem schwieriger sein, im Vorfeld der Aussage Hemmungen abzubauen, Vertrauen zu erwecken und sich selbst einen hinreichenden Eindruck von der individuellen Eigenart der Auskunftsperson und ihrem non-verbalen Aussageverhalten zu verschaffen“.111 Damit hält die Rechtsprechung – mit weitgehender Billigung des Schrifttums112 – das äußere Verhalten der Aussageperson für relevant, wenn es um den Einsatz von Videotechnik geht. c) Polygrapheneinsatz Auf den ersten Blick dagegen scheint die Rechtsprechung des BGH zum Einsatz der Polygraphie im deutschen Strafverfahren zu sprechen. Insofern heißt es im diesbezüglichen (Grundsatz-)Urteil aus dem Jahre 1998, dass es „nach einhelliger wissenschaftlicher Meinung nicht möglich ist, eindeutige Zusammenhänge zwischen kognitiven und emotionalen Zuständen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen“.113 Es wäre aber voreilig, 109 BGHSt 45, 354, 357. Vgl. zur Relevanz von nonverbalen Ausdrucksformen bei der verhaltensorientierten Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Zusammenhang mit Videovernehmungen umfassend Rieck, Substitut oder Komplement?, S. 157 ff., 181 ff. 110 BGHSt 45, 354, 360. 111 BGHSt 45, 188, 196 (Hervorhebung nicht im Original). 112 s. etwa Hussels, ZRP 1995, 242, 243; Laubenthal, JZ 1996, 335, 314; Fischer, JZ 1998, 816, 820; Hofmann, NStZ 2002, 569, 571; ders., StraFo 2004, 303, 304 – jeweils m. w. N. Vgl. zur Kritik aus dem Schrifttum sogleich unter 2. 113 BGHSt 44, 308, 316. Das Urteil wurde bestätigt durch BGH NStZ 2011, 474. Sofern daran im Schrifttum Kritik geübt wird, weil es durchaus einen „Zusammenhang von mittels des Polygraphen gemessenen Körperreaktionen mit einem bestimmten Verhalten“ geben soll (vgl. dazu Putzke, ZJS 2011, 557, 560; ders./Scheinfeld/Klein/Undeutsch, ZStW 121 (2009), 607,

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daraus den Schluss ziehen zu wollen, dass nonverbales Aussageverhalten nunmehr nicht mehr von Belang sein soll. Es zeigt sich schon daran, dass im Urteil von 1998 Bezug genommen wird auf eine frühere Entscheidung desselben Strafsenats aus dem Jahre 1954, wonach die Verwertung eines Lügendetektortests – im Gegensatz zu offen hervortretenden Ausdrucksbewegungen – unzulässig ist.114 Danach wird inneren bzw. äußerlich nicht wahrnehmbaren Vorgängen und Körperreaktionen der Beweiswert abgesprochen, nicht aber, wie der Einschub zeigt, äußeren Eindrücken und damit nonverbalem Verhalten. Die Entscheidung von 1998 knüpft daran unmittelbar an, wenn der BGH darin ausführt, dass „vom Gericht auch sonst vom Willen nicht steuerbare Ausdrucksvorgänge eines Beschuldigten, die es ohne technische Hilfsmittel wahrnehmen kann (z. B. starke Schweißbildung, Erröten, Sprechstörungen oder andere Orientierungs-, Anstrengungs- und Verlegenheitsreaktionen) verwertet werden“ dürfen.115 In solchen Formulierungen klingt unmissverständlich an, dass nonverbales Aussageverhalten eine Rolle bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung spielt bzw. spielen kann. Als Fazit der vorstehenden Betrachtungen lässt sich nicht daran zweifeln, dass die strafgerichtliche Judikatur dem nonverbalen Verhalten von Aussagepersonen eine (gewisse) Bedeutung zuspricht, wenn es darum geht, deren Glaubwürdigkeit im Rahmen der Beweiswürdigung zu beurteilen. 3. Auseinandersetzung mit dem Schrifttum zur (Un-)Beachtlichkeit von non-verbalem Aussageverhalten Das juristische Schrifttum ist gespalten, soweit es um die Frage geht, ob man der Körpersprache gewisse (mehr oder minder zuverlässige) Glaubwürdigkeitssymptome entnehmen kann. Insbesondere im Rahmen der Auseinandersetzung um die Mitwirkung blinder Richter positioniert man sich sehr deutlich in diesem Sinne.116 Wenn man einmal von dieser speziellen Problematik absieht, haben sich in allgemeiner Hinsicht insbesondere Bender/Nack mit vorliegender Frage näher befasst und sich zu diesem Zweck mit aussagepsychologischer Literatur ausein­ andergesetzt. 621 ff., 624 ff.), kommt es darauf aus den sogleich oben im Text ausgeführten Gründen nicht an. Vgl. im Übrigen zu Parallelen zwischen Polygraphie und Glaubwürdigkeitsaspekten Schüssler, Polygraphie im deutschen Strafverfahren, S. 145 ff., 160 ff. m. w. N. Vergleichbare (rechtliche) Fragen stellen sich bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Strafverfahren mittels hirnbildgebender Verfahren, vgl. dazu Seiterle, Hirnbild und „Lügendetektion“, S. 74 ff., 100 ff. Es steht nicht zu erwarten, dass die Antworten des BGH darauf anders ausfallen als zum Poly­ graphentest. 114 BGHSt 44, 308, 309 f. unter Hinweis auf BGHSt 5, 332, 335 f. 115 BGHSt 44, 308, 316. 116 Vgl. soeben unter 2. a), S. 314 ff.

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Im Folgenden soll es dabei weniger um die einzelnen – von Bender/Nack als Warnsymptome bezeichneten117 – Beobachtungen aus Anlass von Vernehmungsbzw. Befragungssituationen gehen, als vielmehr darum, welche Relevanz sie insofern haben sollen bzw. haben können. Bender/Nack schicken dabei voran, dass entsprechende Merkmale der Körpersprache, wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und körperlicher Zustand, Blickkontakt und die (vom Sprecher bevorzugte innere) Distanz zum Hörer, im Grunde nicht die Lüge als solche entlarven (können), sondern zunächst einmal bloß seelische Zustände wiedergeben, etwa Angst, Nervosität, Verlegenheit oder Anspannung bzw. Konzentration. Daher sollte man nicht von „Lügensymptomen“ reden, sondern lediglich von „Warnsymptomen der Körpersprache“, weil sie durch Lüge veranlasst sein können, nicht aber veranlasst sein müssen, sondern ebenso ganz andere Gründe haben können.118 Gleichwohl geben Körpersymptome grundsätzlich Anlass zu besonderer Aufmerksamkeit.119 Schlussendlich räumen Bender/Nack noch unumwunden ein, dass es sich bei den „Warnsymptomen der Körpersprache“ keinesfalls um empirisch gesicherte Kriterien in foro handelt. Gleichwohl hätten sie für die Glaubwürdigkeitszeichen der Körpersprache immerhin schon derart viele Bestätigungen gefunden, um sie jedenfalls als „informierte Hypothesen“ klassifizieren zu können.120 An späterer Stelle setzen sie sich bloß noch kurz mit körpersprachlichen Signalen und Auffälligkeiten in Aussagesituationen auseinander121, um zunächst zu konstatieren, dass sie kaum zuverlässig zu deuten sind, weil sie mannigfaltige Ursache haben können. Zum Schluss wird aber wieder betont, dass etwas anderes gilt, wenn körpersprachliche Symptome mit verbalen Auffälligkeiten verbunden sind. Insofern sollte man die Körpersprache nicht unbeachtet lassen. In ebensolcher Weise wird im aussagepsychologischen Schrifftum vorgegangen. Arntzen, der sich intensiv mit der Psychologie der Zeugenaussage befasst hat, spricht einzelnen Glaubhaftigkeitsmerkmalen für sich den vollen Beweiswert ab und verneint insofern die Existenz direkter, „nicht defizienter“ Symptome der Unglaubhaftigkeit und damit das Vorhandensein eindeutiger „Lügensymptome“.122 Einen aussagepsychologischen Beweiswert, wenngleich er nicht frei von Fehlerquellen ist, misst Arntzen dabei der ungesteuerten Aussageweise zu, die im Zusammenhang mit anderen Glaubhaftigkeitskriterien zum Glaubhaftigkeitsmerkmal werden kann. Dabei wiederum spielen nonverbale Verhaltenselemente sehr wohl eine Rolle. Ausdrucksmäßig wahrt der ungesteuert Aussagende, wenn er frei 117 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. I, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 2. Aufl., Rdnr. 209. 118 Ebd., Rdnr. 206. 119 Ebd., Rdnr. 207. 120 Ebd., Rdnr. 208. Vgl. zur Kongruenz zwischen verbalem und nonverbalem Verhalten während der Aussage ferner noch die Nachw. bei Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 67. 121 s. zum Folgenden Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl., Rdnr.  217 f. 122 Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 22 mit S. 109.

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von Hemmungen ist, nämlich einen ungezwungenen Blickkontakt und eine ebensolche Mimik. Selbst bei impulsiven, antriebsstarken Zeugen zeigt sich ein ungesteuertes Aussageverhalten auf einem besonders weiten Ausdrucksfeld, wodurch jede Verstellung erschwert wird. Dabei führt der Mangel an Steuerung bei solchen Zeugen nicht bloß zu regen mimischen, sondern geradezu zu pantomimischen Ausdrucksweisen – vor allem zum unwillkürlichen Demonstrieren von Abläufen, noch bevor die verbale Beschreibung gelingt. Schlussendlich weist Arntzen noch auf Bender/Nack hin, wonach die natürliche Mimik und Gestik des Zeugen besonders aufschlussreich ist, wenn sie beim Übergang zwischen unverfänglichen Themen und relevanten Fragen unverändert bleibt.123 Eine gewisse Relevanz nonverbaler Ausdrucksformen, und sei es bloß mittelbar im Zusammenhang mit weiteren Begleiterscheinungen der Aussage, wird insofern von Seiten der Aussagepsychologie durchaus zugestanden. In vergleichbarer Weise handhabt Undeutsch die „Verwertbarkeit unwillkürlicher Ausdruckserscheinungen bei der Aussagewürdigung“ in seinem gleich­ namigen Aufsatz.124 Im Ausgangspunkt charakterisiert er die unwillkürlichen Ausdruckserscheinungen während des Sprechvorgangs als von großer Bedeutung. Das Lügen soll mehr Aufmerksamkeit, Konzentration bzw. Anspannung als die wahrheitsgemäße Schilderung eigener Erlebnisse verlangen, weil es mit dem Risiko behaftet ist, entdeckt und überführt zu werden. Von daher sei die innere Zuständlichkeit des derart Aussagenden durch intentionale Gespanntheit und emotionale Erregtheit gekennzeichnet. Diese charakteristischen Züge spiegeln sich wiederum im Ausdrucksbild der Aussageperson wider, und zwar unbeabsichtigt. In dieser Hinsicht lassen sich beobachtbare Abweichungen des Ausdrucksbildes vom ungezwungenen, freien, natürlichen Sichgeben machen. Dabei treten Äußerungen von intentionaler Gespanntheit und emotionaler Erregtheit auf den verschiedensten Ausdrucksfeldern zugleich in Erscheinung: in der Gesichtsmimik, in der Pantomimik, in der Sprechmimik und in den vegetativ gesteuerten und darum unwillkür­ lichen körperlichen Begleiterscheinungen. Dagegen formiert sich Widerstand im rechtswissenschaftlichen Schrifttum. Danach soll das äußere Verhalten von Zeugen nicht generell, sondern allenfalls von untergeordneter Bedeutung sein, wenn eine entsprechende Aussagekraft nicht sogar gänzlich in Abrede gestellt wird. Von Lagodny etwa wird – als Argument für seine Forderung nach einem sog. „Konservenprozess“ – vorgetragen125, dass empirische Untersuchungen im Rahmen der Vernehmungspsychologie zu dem völlig überraschenden Ergebnis geführt hätten, dass äußeres Verhalten höchst unzuverlässige Glaubwürdigkeitskriterien liefert. Vielmehr sollen rein verbale Merkmale verlässlicher als visuelle sein. Weil bestimmtes äußeres Verhalten fast immer meh 123

Vgl. zum Ganzen Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, S. 71 ff. Undeutsch, ZStW 87 (1975), 650 ff. 125 Vgl. dazu und zum Folgenden Lagodny, in: ders. (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 167, 178 f. 124

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rere Ursachen haben kann und bislang aufgestellte Glaubwürdigkeitskriterien noch nicht empirisch verifiziert werden konnten, soll einer Studie gefolgt werden, wonach die Verwertbarkeit und Verlässlichkeit solcher äußeren Merkmale während einer Aussage als „äußerst begrenzt“ angesehen werden müssen und bei der Interpretation äußerer Anzeichen als Lügensymptome „größte Vorsicht geboten“ sein soll. Anderenorts springt man Lagodny bei. Es wird ganz in seinem Sinne aus­geführt, „dass – entgegen der herkömmlichen Vorstellung – visuell wahrgenommenes, nonverbales Verhalten bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung ohnehin oftmals irreführend ist, weil es zahlreiche Ursachen haben kann. Die Bedeutung von Mimik und Gestik für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit durch das Gericht werde trotzdem noch immer überschätzt.“126 Im selben Sinne äußert sich schließlich noch KilianHerklotz, wonach die Beachtlichkeit nonverbalen Verhaltens bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung als „zweifelhaft“ angesehen wird, weil aus psychologischer Sicht hinreichend bekannt sein soll, dass nach dem heutigen Wissensstand die Körpersprache gerade keine zuverlässigen Rückschlüsse erlaubt.127 Dabei räumt sie selbst ein, dass unbestritten ist, dass sich Gefühle im Gesichtsausdruck sowie in Gestik, Körperhaltung, Stimmqualität und Sprechweise widerspiegeln.128 Schlussendlich verhehlt aber selbst Kilian-Herklotz nicht, wenngleich an versteckter Stelle, dass es weiterer Studien bedarf, um das Ausdrucksverhalten als Indikator bei der Frage nach der Beurteilung der Aussagequalität gänzlich abzulehnen.129 Bis dahin gilt aber, worauf gleich näher eingegangen wird, vielleicht das Gebot, nonverbale Ausdrucksformen jedenfalls zur Kenntnis zu nehmen und im Einzelfall gegebenenfalls in die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einzustellen, wenn man das – nirgends bestrittene – Gebot erschöpfender Beweiswürdigung ernst und beim Wort nehmen will. Damit ist man bereits mitten in der Auseinandersetzung um die (Un-)Beachtlichkeit nonverbalen Aussageverhaltens im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbeurteilung. Wenn man sich daran als Jurist beteiligen will, gerät man nahezu zwangs­läufig in Dilemmata. Zum einen ist es, worauf schon Schneider treffend hingewiesen hat, „für viele Juristen eine unbequeme und mißliebige Tätigkeit […], in das Refugium der Psychologie einzudringen und gewissermaßen Neuland zu betreten“.130 Des Weiteren vermittelt die Aussagepsychologie selbst ein sehr indifferentes und 126

Stüber, Entwicklung des Prinzips der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 97 f. Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 202 f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. im selben Sinne ferner Köhnken, StV 1995, 376, 379 sowie schlussendlich noch Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung von Auslandszeugen, S. 251: „Das nonverbale Aussageverhalten, also Gestik, Mimik und Körperhaltung des Zeugen während der Aussage, spielt hingegen eine untergeordnete Rolle und liefert gerade kaum brauchbare Rückschlüsse zur Bewertung der Aussage.“ 128 Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 202 f. 129 Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 213 in Fn. 92 (Hervorhebung nicht im Original). 130 Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 3. 127

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ambivalentes Bild zur Relevanz nonverbalen Aussageverhaltens. Insbesondere Schneider hat sich ausführlich mit der Glaubwürdigkeitsbeurteilung aus juristischkriminologischer bzw. forensisch-psychologischer Sicht befasst und zu diesem Zweck Praktikerstudien und Erkenntnisse der Aussagepsychologie zusammengeführt.131 Am Ende seiner diesbezüglichen Betrachtung kritisiert er insbesondere die „fehlende empirische Erforschung der nonverbalen Begleiterscheinungen“.132 Im weiteren Verlauf widmet sich Schneider solchen empirischen Befunden zu Begleiterscheinungen der Täuschung und konstatiert tatsächlich statistisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen der Glaubwürdigkeit von Äußerungen und einer Reihe von (z. T. nonverbalen) Verhaltensweisen, um aber gleichzeitig zu resümieren, dass es sich dennoch bloß um Durchschnittswerte handelt und die aufgeführten Verhaltenskorrelate weder bei jedem Täuschenden noch bei jeder Täuschung vorkommen.133 Aber selbst wenn man in empirisch-statistischer Hinsicht validere Daten hätte, gilt es immer noch zu bedenken, dass Richter in sämtlichen Gerichtszweigen gerade nicht nach (Beweis-)Regeln, sondern vielmehr nach freier Beweiswürdigung entscheiden und dabei bloß durch normative Gesichtspunkte beschränkt sind. Wenn man die bisherige Diskussion Revue passieren lässt, kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sich die Diskussion zu sehr an den Polen bewegt. Weder überzeugt die Abstinenz von (Straf-)Juristen mit Blick auf Erkenntnisse der Aussagepsychologie noch geht es an, dass diese Wissenschaft die normativen Hintergründe richterlicher Entscheidungsfindung ausblendet. Beides etwas näher zusammenzubringen, soll nunmehr versucht werden. Das juristische Schrifttum äußert sich, wenn es überhaupt auf die Frage näher eingeht, eher ambivalent zu aussage- und vernehmungspsychologischen Aspekten. Dabei konzentriert man sich wiederum darauf und vernachlässigt (allzu sehr) die normativen Gesichtspunkte. Teilweise belässt man es bei der lapidaren Aussage, dass der Tatrichter die erforderliche Sachkunde auf dem Gebiet der Aussagepsychologie haben muss.134 Er muss, heißt es an anderer Stelle etwas ausführlicher135, kraft seiner eigenen Menschenkenntnis unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und der Erkenntnisse der Aussagepsychologie ein eigenes Bild von der Aussagefähigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen zu gewinnen suchen. Er muss sich aufgrund des äußeren Eindrucks vom Zeugen, seines Aussageverhaltens und weiterer insofern relevanter Umstände, wie Persönlichkeitsstruktur, Alter, kognitive Fähigkeiten und Geisteszustand, sowie seiner affektiven Einbindung in das Geschehen darüber schlüssig werden, inwieweit die Wahrnehmungen des Zeugen bzw. seine 131

Ebd., S. 60 ff., 70 ff., 102 ff. Ebd., S. 125 f. 133 Ebd., S. 195 ff., 201 unten. 134 Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 4; Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 202 oben. 135 Vgl. zum Folgenden Sander, in: LR, § 261 Rdnr. 81b mit Nachw. zu Rspr. und Schrifttum bezüglich einzelner relevanter Umstände. 132

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

Schilderungen darüber verlässlich sind und er diesen unter Berücksichtigung des übrigen Beweisergebnisses Glauben schenken will. Anderenorts äußert man sich dagegen deutlicher vorsichtiger zur Zuverlässigkeit von aussage- und vernehmungspsychologischen Glaubwürdigkeitskriterien.136 Danach würden Zweifel bestehen, ob eine aussagepsychologische Kriteriologie diagnostisch sichere Instrumente liefern kann. Die eigenen Bedenken zerstreut man aber zugleich wieder (etwas), indem man selbst einräumt, dass die Kriterien ohnehin mehr oder weniger gesichertes Erfahrungswissen beinhalten, sodass weniger deren aussagepsychologischer Wert an sich als vielmehr deren undifferenzierte Anwendung auf den Einzelfall problematisch erscheint. Es fehlt aber ebenso wenig an Stimmen, die sich aus prinzipiellen Gründen sehr deutlich gegen die Beachtlichkeit nonverbalen Aussageverhaltens wenden, es zumindest für überbewertet halten. Kölbel zufolge soll „sich der Glaube an die körperhermeneutische Erkennbarkeit der Lüge als wirklichkeitsfremdes Ideal“ erweisen, das nach seinem abschließenden Fazit freilich als „irrationaler Bestandteil der freien Beweiswürdigung bleiben wird“.137 Nach Reichenbach, dessen Worte im Original wiedergegeben werden sollen138, gibt es inzwischen „eine geänderte Einschätzung dessen, was für die Glaubwürdigkeitsprüfung eines Zeugen entscheidend ist: Es gehe heute mehr um eine methodische Analyse des Aussageinhalts dahin, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entsprechen.“ Bei Lektüre dieser Zeilen kommt unweigerlich die Frage auf, warum dies erst „heute“ gelten soll. Im Prinzip ging es darum wohl schon immer. Überdies überzeugt es keinesfalls, wenn Reichenbach für die „geänderte Einschätzung“ die Gesetzesänderung durch § 247a StPO anführen will.139 Bei der Simultanvideovernehmung sind schließlich optische Eindrücke möglich, deren Relevanz von Reichenbach vehement in Abrede gestellt wird. Denn schließlich würde man „die Bedeutung des optischen Eindrucks für die Beweiswürdigung überschätzen“ bzw. habe „die Bedeutung optischer Eindrücke für die Bewertung etwa von Zeugenaussagen oder Einlassungen des Angeklagten wesentlich abgenommen“.140 Dass man etwas überschätzt, das inzwischen wesentlich abgenommen haben soll, heißt aber nicht, dass man es gleich wieder völlig unterschätzen sollte, weil es schließlich nach wie vor im Ansatz eine Rolle spielen kann, weil wesentliche Abnahme nicht mit völligem Bedeutungsverlust gleichzusetzen 136

Vgl. zum Folgenden Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 27 a. E. und ferner noch Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 1469: „Die Strafrechtspraxis [sollte] bei der Anwendung spezieller Glaub­ würdigkeitskriterien Skepsis walten lassen, so weit zweifelhaft bleibt, inwieweit die einschlägigen Kriteriologien ihren Anspruch als glaubwürdigkeitsdiagnostisches Instrument einlösen können.“ 137 Kölbel, GA 2006, 469, 488 ff. 138 Reichenbach, NJW 2004, 3160, 3161. 139 Reichenbach, NJW 2004, 3160, 3161. 140 Reichenbach, NJW 2004, 3160, 3162.

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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ist. Damit desaouviert sich Reichenbach bereits in gewisser Weise selbst und ist – angesichts der nicht wirklich überzeugenden Parallele zu § 247a StPO – überdies nicht ganz frei von (Selbst-)Widersprüchen. Einen vergleichbaren Standpunkt nimmt Schulze ein. Wenn er – mit Blick auf die Mitwirkung blinder Richter – zunächst ausführt, dass „nicht jeder Richter auch das Erröten oder Erbleichen eines Zeugen oder Angeklagten, seine Mimik und Gestik […] zu sehen braucht“141, ist zu entgegnen, dass sich ein jeder Richter bei der Beweisaufnahme darum jedenfalls weitestgehend im Sinne größtmöglichster Konzentration bemühen sollte. Dazu wiederum gehört142, „dass er mit der gebotenen Aufmerksamkeit zuhört und alles vermeidet, was nicht zur Sache gehört und ihn ablenken könnte“. Daneben führt Schulze aus143, dass er sich nicht daran erinnern könne, „jemals in einem Urteil gelesen zu haben, eine Aussage müsse ausgerechnet deshalb als unglaubwürdig angesehen werden, weil der Vernommene bleich oder rot geworden ist. Danach können solche Umstände […] das Gericht zwar veranlassen, besonders kritisch zu fragen. Dagegen scheinen sie im Allgemeinen nicht dazu zu führen, die Glaubwürdigkeit einer Aussage erst im nachhinein zu bezweifeln.“ Damit desaouviert er sich aber in gewisser Weise selbst. Zunächst ist zu entgegnen, dass Körpersymptome vielleicht nicht im Allgemeinen von Relevanz sind. Dies schließt aber nicht aus, dass sie es im Speziellen sehr wohl sein können. Im Übrigen gesteht Schulze, wenngleich sicher unbewusst, sogar selbst zu, dass nonverbales Verhalten insofern von Relevanz ist, als dass es dem Gericht einen Anlass zu kritischen Nachfragen geben kann. An späterer Stelle wird dieser Aspekt von Schulze selbst geradezu konterkariert. Er charakterisiert insofern – gegenüber vorschnellen Urteilen aufgrund der äußeren Erscheinung – das Erfassen von Attributen über einen längeren Zeitraum und ein prüfendes Abwägen der Informationen allgemein als einen Vorteil, „soweit nicht ein besonderer Druck besteht, schnell zu einer Beurteilung zu kommen“.144 Aber darauf kann es nach Schulze gerade ankommen, wenn er meint, dass das Erbleichen oder Erröten das Gericht – und zwar in der gerade laufenden Zeugenvernehmung – zumindest veranlassen kann, „besonders kritisch zu fragen“.145 Ein gewisser (Selbst-)Widerspruch lässt sich wohl nicht leugnen. Des Weiteren kann man einen Anlass zu (kritischen) Nachfragen als Gericht bloß sehen, wenn man dafür die Körpersprache des Zeugen sieht. Das lediglich akustisch Wahrgenommene kann dies nicht ersetzen. Erst die Korrelation von verbalen Auffälligkeiten mit körpersprachlichen Symptomen – ganz im Sinne von

141

Schulze, MDR 1988, 736, 738. Vgl. zum Folgenden bloß Ott in KK, § 261 Rdnr. 20 mit Nachw. zur Rspr. 143 Vgl. zum Folgenden Schulze, MDR 1988, 736, 739 (Hervorhebungen nicht im Original). 144 Schulze, MDR 1995, 670, 672. 145 Schulze, MDR 1988, 736, 739. 142

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

Bender/Nack/Treuer146 – ermöglicht ein solch kritisches Nachfassen des Gerichts. Dabei kann man zum einen hinsichtlich des Aussageinhalts kritisch nachfragen. Man kann ferner zu den Warnzeichen selbst Fragen stellen. Der Richter kann etwa den Zeugen fragen, ob es eine anatomische oder sonstige nicht innerpsychische Ursache für sein Schwitzen, Erröten, Erbleichen etc. geben könnte – und bekommt darauf eine Antwort. Voraussetzung dafür ist aber, dass körpersprachliche Signale überhaupt wahrgenommen werden (können). Damit kann man Schulze bis dahin nicht beipflichten. An anderer Stelle sieht er seine These, dass blinde Richter die Glaubwürdigkeit im Ergebnis ebenso wie nichtblinde Richter beurteilen können, durch eine blindenpädagogische Studie bestätigt, weil sie ausführt, dass die eigene Wahrnehmung fremder Personen ein komplexer und vielschichtiger Vorgang ist. Dadurch werde „deutlich, dass das optisch wahrnehmbare Erscheinungsbild einer Person, das Blinden nicht wie Sehenden zugänglich ist, nur einen Faktor unter vielen anderen darstellt“.147 Damit knüpft er an frühere Überlegungen dahingehend an, dass er sich nicht daran er­innern könne, „jemals in einem Urteil gelesen zu haben, eine Aussage müsse ausgerechnet deshalb als unglaubwürdig angesehen werden, weil der Vernommene bleich oder rot geworden ist“.148 Damit spricht er weniger auf die (optische) Wahrnehmbarkeit nonverbalen Verhaltens an und für sich an, als vielmehr auf dessen mögliche Relevanz für die Beweiswürdigung – und negiert sie mehr oder minder in toto. Insofern kommt bei Schulze aber zu kurz, dass die Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Rahmen der Beweiswürdigung ein (hoch-)komplexer Vorgang ist, bei dem es eher selten „ausgerechnet“ bloß auf einen Aspekt ankommt. Ganz im Gegenteil: Wenn man sich in der Beweiswürdigung insgesamt – und dazu zählt die Glaubwürdigkeitsbeurteilung – allzu sehr auf einen Aspekt oder ein Beweismittel kapriziert, kann dies in Konflikt mit der Pflicht geraten, die erhobenen Beweise auf Basis einer fundierten Tatsachengrundlage erschöpfend zu würdigen.149 Gleiches gilt für die Würdigung von Zeugenaussagen, die wie jeder andere Schritt der Beweisführung unter dem Gebot erschöpfender Beweiswürdigung steht.150 Dies verlangt nach einer eigenverantwortlichen Bewertung von Aussagefähigkeit und Glaubwürdigkeit unter Abwägung der sämtlich dafür relevanten Umstände.151 Damit darf es per se gerade nicht „ausgerechnet“ auf einen einzigen Aspekt ankommen, weil einzelne Gesichtspunkte gerade nicht isoliert betrachtet werden dürfen, will man beim Wort („erschöpfend“) genommen werden. Ausgehend von dieser Prämisse lassen sich weitere normative Kriterien dahingehend auffinden, dass man sich bei der Frage nach der (Un-)Beachtlichkeit 146

Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl., Rdnr. 218. Schulze, MDR 1995, 670, 672. 148 Vgl. zum Folgenden Schulze, MDR 1988, 736, 739 (Hervorhebungen nicht im Original). 149 Julius in HK, § 261 Rdnr. 20 ff. m. w. N. 150 Brause, NStZ 2013, 129, 133 m. w. N. 151 Julius in HK, § 261 Rdnr. 27 ff. m. w. N. 147

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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nonverbalen Verhaltens nicht primär und keinesfalls ausschließlich von aussage­ psychologischen Studien und Erkenntnissen leiten lassen darf. Eingang in die strafgerichtliche Praxis haben sie insbesondere in Gestalt sog. Glaubhaftigkeitsgutachten erlangt. Dabei geht es zum einen um die inhaltlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten. Daneben ist Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen des Öfteren die Frage gewesen, unter welchen Voraussetzungen ein aus­ sagepsychologisches Gutachten von Amts wegen einzuholen ist bzw. ein darauf gerichteter Beweisantrag abgelehnt werden kann. Mit den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) hat sich insbesondere BGHSt 45, 164 befasst. Dabei stellt der BGH am Anfang seiner Überlegungen klar, dass – schon wegen des Begriffs vom Glaubhaftigkeitsgutachten – Gegenstand einer solchen Begutachtung nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft ist. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob zu einem bestimmten Geschehen gemachte Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlich Erlebten der begutachteten Person entsprechen. Im weiteren Verlauf widmet sich der BGH konkret den wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten. Dabei führt er Merkmale auf (z. B. logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderungen ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente), die zur Durchführung der Analyse der Aussagequalität zusammengestellt werden müssen und denen als aussageimmanente Qualitätsmerkmale eine indizielle Bedeutung für die Entscheidung zukommen kann, ob die Angaben der Aussageperson auf tatsächlichem Erleben beruhen. Dabei wird aber betont, dass ein zwingender Schluss von einem (einzigen) festgestellten Merkmal auf die Glaubhaftigkeit von Angaben der untersuchten Person keinesfalls möglich ist. Vielmehr kann eine dahingehende gutachterliche Schlussfolgerung erst dadurch eine beträchtlich höhere Aussagekraft und einen damit korrespondierenden Indizwert für die Glaubhaftigkeit zu beurteilender Angaben erlangen, „wenn sie aus der Gesamtheit aller Indikatoren abgeleitet wird“. Auf dieser Linie bewegt sich die Rechtsprechung hinsichtlich der wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten. Deutlich öfters sah sich der BGH mit der Frage konfrontiert, ob es eine Pflicht von Tatgerichten gibt, solche Gutachten von Amts wegen einzuholen oder jedenfalls auf einen entsprechenden Beweisantrag hin. Erst Anfang 2013 hat er sich damit wieder befasst gesehen und die bisherige Linie der Rechtsprechung konse­quent fortgesetzt.152 Danach ist die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeu-

152

BGH, Beschl. vom 8.1.2013 – 1 StR 602/12 und zuvor bereits BGH NStZ-RR 2006, 241; NStZ-RR 2006, 242, 243; NStZ 2010, 51, 52. Vgl. zur Problematik ferner Fischer, NStZ 1994, 1 ff.; ders., Widmaier-Festschrift, S. 191 ff.; Kett-Straub, ZStW 117 (2005), 354 ff.; Brause, NStZ 2013, 129 ff. – jeweils m. w. N.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

genaussagen – wie generell die Beweiswürdigung153 – grundsätzlich originäre Aufgabe des Tatgerichts. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter insofern über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, welche für die Beurteilung von Aus­ sagen selbst bei schwieriger und komplizierter Beweislage erforderlich ist, und dass sie diese Sachkunde den beteiligten Laienrichtern vermitteln können. Die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen ist von daher erst geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatrichters zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht. Solche Umstände können gegeben sein, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Erinnerungsfähigkeit einer Beweisperson aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen eingeschränkt ist oder dass besondere psychische Dispositionen oder Belastungen die Zuverlässigkeit der Aussage in Frage stellen könnten, und dass für die Feststellung solcher Faktoren und deren möglichen Einflüsse auf den Aussageinhalt eine besondere, wissenschaftlich fundierte Sachkunde erforderlich ist, über welche Tatrichter im konkreten Fall nicht verfügen. Wenn man diese Grundsätze Revue passieren lässt, folgt daraus, dass die Glaubhaftigkeitsbewertung von Zeugenaussagen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis steht. Regelmäßig ist es originäre Aufgabe der Instanzrechtsprechung selbst, die sich aussagepsychologischen Sachverstands bloß bei besonderen Umständen im Ausnahmefall bedienen darf und bedienen muss. Wenn Tatgerichte einen solchen Ausnahmefall annehmen, muss das daraufhin eingeholte Glaubhaftigkeitsgutachten wiederum in der Gesamtheit seiner aussageimmanenten Qualitätsmerkmale und Indikatoren gewürdigt werden. Unabhängig davon, in welchem Verhältnis Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit zueinander stehen154, lassen sich aus den vorangestellten Ausführungen folgende Schlüsse für vorliegende Frage ziehen: Wenn bei Glaubhaftigkeitsgutachten eine umfassende Gesamtabwägung erforderlich ist, gilt dies bei der Glaubwürdigkeitsprüfung ebenfalls. Ebenso wie bei aussagepsychologischen Begutachtungen darf dabei zwar nicht von einem festgestellten (nonverbalen) Merkmal ein zwingender Schluss auf die (Un-)Glaubwürdigkeit gezogen werden. Darauf weisen etwa Bender/Nack/Treuer hin, wonach körpersprachliche Signale nicht unbeachtet bleiben sollten, sobald sie mit verbalen Auffälligkeiten verbunden sind.155 Einen nicht unwesentlichen Teil insofern, nämlich die Körpersprache dagegen völlig aus 153

Vgl. dafür bloß BGH NStZ 2010, 51, 52; NStZ-RR 2013, 461. Vgl. dazu etwa Schneider, Nonverbale Zeugnisse gegen sich selbst, S. 13 ff.; KilianHerklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 201; KettStraub, ZStW 117 (2005), 354, 364 – jeweils m. w. N. Um Missverständnissen gleich zu begegnen: An dieser Stelle soll nicht einer Glaubwürdigkeit im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft das Wort geredet werden, wie sich schon unverkennbar daran zeigt, dass es um nonverbales Verhalten in einer konkreten (Aussage-)Situation geht. 155 Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Rdnr. 218. 154

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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zublenden, gerät aber in Konflikt mit dem Gebot einer umfassenden Gesamtwürdigung und -abwägung. Beim persönlichen Eindruck handelt es sich schließlich um einen nicht unwesentlichen Teil der Beweiswürdigung, der nicht ausgeblendet werden darf.156 Im Übrigen sollen Glaubhaftigkeitsgutachten die Ausnahme bleiben, zudem zumeist bloß bei bestimmten (Sexual-)Delikten. Von daher erscheint bereits fraglich, ob man die in Ausnahmefällen aus Glaubhaftigkeitsgutachten gewonnenen aussagepsychologischen Erkenntnisse auf sämtliche Zeugenaussagen in strafgerichtlichen Verfahren übertragen und insofern verallgemeinern kann. Wenn man nunmehr unter Hinweis auf aussagepsychologische Studien bezüglich der (vermeintlichen bzw. bloß möglichen) Unbeachtlichkeit nonverbalen Verhaltens für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung die persönliche Einvernahme per se als unbeachtlich abtut, würde es damit bei der Glaubwürdigkeitsprüfung zu einer geradezu apodiktischen Verallgemeinerung kommen, gegen die man sich bei der Glaubhaftigkeitsbewertung vehement wehrt. Dies gilt es zu bedenken, wenn man aussagepsychologische Erkenntnisse zu nonverbalen Verhaltensweisen von juristischer Seite in dem Sinne verallgemeinern will, dass sie generell irrelevant sind und damit zugleich die unmittelbar-persönliche Vernehmung in der Hauptverhandlung. Abschließend sieht Schulze die Unbeachtlichkeit nonverbalens Aussageverhaltens deshalb als „sachgerecht“ an, weil das Erröten und dergleichen durchaus eine andere Ursache haben könnte als gerade das Bewusstsein des Vernommenen, die Unwahrheit zu sagen.157 Im Ausgangspunkt scheint man sich dafür auf entsprechende vernehmungspsychologische Studien stützen zu können. Nach einer – von Lagodny bemühten – Untersuchung soll es sich derart verhalten158, dass „äußeres Verhalten höchst unzuverlässige Glaubwürdigkeitskriterien ergibt“. Solche sollen vielmehr ausschließlich aus dem Inhalt der Aussage selbst gewonnen werden (können). Diese Auffassung vermag indes nicht zu überzeugen. Dabei ist schon auf den schlichten Umstand hinzuweisen, dass ein sicher nicht zu unterschätzendes Merkmal für die Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung völlig außen vor bleiben würde, wenn man frühere Vernehmungen im Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung bloß noch verlesen oder vorspielen würde. Ob die Aussage von Konstanz (Übereinstimmung der Aussage in zeitlich getrennter Befragung) ge­ tragen ist159, lässt sich lediglich durch zweifache Vernehmung der Aussageperson klären. Dieser Aspekt würde bei einer völligen Preisgabe des Unmittelbarkeitsgrundsatzes obsolet werden. 156

Brause, NStZ 2013, 129. Schulze, MDR 1988, 736, 739. 158 Vgl. zum Folgenden Lagodny, in: ders. (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 167, 178 mit Fn. 26. Ob es wissenschaftlich fundiert ist, sich auf eine Studie zurück­ zuziehen, obwohl im selben Sammelband von diversen anderen vernehmungs- und aussage­ psychologischen Studien berichtet wird (Kilian-Herklotz, a. a. O., S. 195, 205 ff. und dazu bereits soeben), kann dahingestellt bleiben, weil die Auffassung von Lagodny schon aus anderen – sogleich oben im Text erörterten – Gründen nicht zu überzeugen vermag. 159 Vgl. dazu bloß Julius, in: HK, § 261 Rdnr. 28 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. 157

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

Im Übrigen ist schon der Ausgangspunkt von Lagodny verfehlt. Es mutet bereits etwas merkwürdig an, dass er eben diese Studie dafür in Anspruch nimmt, dass ein „Konservenprozess“, wie er es nennt, im Hinblick auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen keine Probleme aufwerfen soll. Unter „Konservenprozess“ versteht er eine videogestützte Hauptverhandlung, in deren Verlauf die im Ermittlungsverfahren auf Video festgehaltenen Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen abgespielt werden, von Lagodny selbst etwas lakonisch als „Hauptverhandlungskino“ bezeichnet.160 Merkwürdig ist es deshalb, weil bei der – von Lagodny als Beleg für seine Forderung angeführten – Studie im Rahmen der Vernehmungspsychologie die Lügenversion im Fernsehen, sprich per Video, seltener erkannt worden ist, als wenn sie im Radio bzw. über Zeitung verbreitet worden ist.161 Wenn überhaupt könnte man daraus wegen des letztgenannten Aspekts auf eine Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten drängen. Die Studie taugt aber selbst dafür nicht. Sie weist nämlich einen gravierenden Unterschied zu (polizeilichen) Vernehmungsprotokollen auf. Während das falsche Interview in der Studie mit den Worten der Aussageperson und ungekürzt abgedruckt worden ist, sind Vernehmungsprotokolle nicht selten – gleichsam redaktionell bearbeitet – im Polizeijargon gehalten. Schließlich ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Ob es überhaupt einer Beweiswürdigung und einer diesbezüglichen Einschätzung zugängliches non-verbales Verhalten gibt, wird dem erkennenden Gericht lediglich durch eine persönliche Vernehmung gegenwärtig. Die Gefahr, dass es solches Verhalten überbewertet, ist dadurch gebannt, dass Tatrichter die erforderliche Sachkunde auf dem Gebiet der Aussagepsychologie haben (müssen).162 Dies schließt es ein, sich mit aussage- und vernehmungspsychologischen Studien zu befassen, die nonverbalem Aussageverhalten die Relevanz für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung absprechen wollen. Erst eine differenzierte Auseinandersetzung damit wie mit nonverbalen Ausdrucksweisen überhaupt ermöglicht eine erschöpfende Beweiswürdigung, an deren Erfordernis nirgends gezweifelt wird. Dafür wiederum ist am Unmittelbarkeitsgrundsatz festzuhalten. Abschließend lässt sich eine Kontrollüberlegung anstellen, die endgültig dafür spricht, an der unmittelbar-persönlichen Zeugenvernehmung festzuhalten bzw. sie jedenfalls nicht wegen der behaupteten Unbeachtlichkeit nonverbalen Verhaltens als entbehrlich anzusehen. Dabei soll im Ausgangspunkt nochmals Kilian-­ Herklotz bemüht werden, die einerseits zwar die Beachtlichkeit nonverbalen Verhaltens bei der Glaubwürdigkeitsprüfung als „zweifelhaft“ ansieht, andererseits aber, wenngleich an versteckter Stelle, selbst betont, dass es weiterer Studien be 160

Lagodny, in: ders. (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 167, 173. Ebd., S. 178 in Fn. 26. 162 Vgl. dazu bloß BVerfG NJW 2003, 1443 sowie aus dem Schrifttum etwa Meyer-Goßner, § 261 Rdnr. 4; Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 202 oben. 161

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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darf, um das Ausdrucksverhalten als Indikator bei der Frage nach der Beurteilung der Aussagequalität gänzlich abzulehnen.163 Damit ist die Aussagepsychologie von einem non liquet beherrscht und es stellt sich die Frage, wie die Jurisprudenz damit als normativ-wertende Wissenschaft umgeht. Dafür kann man sich wiederum zwei Szenarien vorstellen: Wenn man unter Hinweis auf kritische Studien zur Zuverlässigkeit nonverbaler Elemente bei der Glaubwürdigkeitsprüfung de lege ferenda auf die unmittelbar-persönliche Zeugenbefragung verzichten wollte, ist wegen der gegenteiligen Studien keinesfalls sicher, dass man – aussagepsychologisch betrachtet – richtig handelt, verletzt aber normativ in jedem Falle das Gebot erschöpfender Beweiswürdigung. Von daher ist das andere Szenario normativ überzeugender, nämlich am Unmittelbarkeitsprinzip bei der Zeugenvernehmung festzuhalten, um dabei einen Eindruck vom nonverbalen Verhalten zu bekommen, um es – im Einzelfall – nach wertender Gesamtbetrachtung in sein richterliches Urteil einfließen lassen zu können. 4. Fazit Die Betrachtung hat offenbar werden lassen, dass nonverbales Aussageverhalten für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen im Rahmen der Beweiswürdigung von Relevanz sein kann, und sei es bloß mittelbar im Verbund mit anderen Kriterien, die aber nicht losgelöst nebeneinander betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr miteinander korreliert werden müssen. Von daher ist im Grundsatz und Ausgangspunkt am Unmittelbarkeitsprinzip festzuhalten und seine totale Preisgabe demgegenüber abzulehnen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass sich eine (behutsame) Fortentwicklung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Sinne weiterer Ausnahmen nicht auf andere Art und Weise begründen lässt.

II. Der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz in seinem Verhältnis zum materiellen Strafrecht Wenngleich vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen am strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzip grundsätzlich festzuhalten ist, kann daraus nicht zwangsläufig geschlussfolgert werden, dass er nicht jedenfalls eine behutsame Reform erfahren kann. Dabei ist zunächst zu klären, an welchem Ziel sie sich zu orientieren hätte. Wenn Verfahrensmaximen, wie eingangs geschildert164, eine Mittlerfunktion zwischen gesetzlichen Detailregelungen einerseits und Zielen und Zwecken des Strafverfahrens andererseits wahrnehmen (sollen), liegt es nahe, 163 Kilian-Herklotz, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 195, 213 in Fn. 92 (Hervorhebung nicht im Original). 164 Vgl. im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 1.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

diese zum Maßstab für eine Reform der strafprozessrechtlichen Unmittelbarkeitsmaxime zu machen. Ganz in diesem Sinne heißt es etwa bei Schatz165: „Die von der Strafprozeßordnung zur Verfügung gestellten Rechtsinstitute und Einzel­ befugnisse stehen nicht als isolierte Regelungen für sich allein, sondern sind in den größeren Sinnzusammenhang der Institution Strafverfahren eingebettet. Sie sind deshalb teleologisch auf die Ziele des Strafverfahrens bezogen: Die einzelnen strafprozessualen Rechte sind nicht um ihrer selbst willen gewährt, sondern dazu bestimmt, mittelbar oder unmittelbar Auf­gaben des Strafverfahrens zu verfolgen, d. h. instrumentell den Verfahrenszielen zu dienen.“

Damit rücken die – eingangs dargestellten166 – Funktionen des Strafverfahrens (wieder) in den Blickpunkt des Interesses. Wenn in diesem Zusammenhang die Erforschung und Ermittlung der (materiellen) Wahrheit als Verfahrensziel und -zweck genannt wird167, hat dies allerdings außer Betracht zu bleiben, und zwar aus zweierlei Gründen. Dieses Ziel wird zum einen immer bloß mit der Maßgabe ausgegeben, dass es eine Wahrheitsfindung nicht um jeden Preis gibt.168 Insofern handelt es sich um ein eher relatives Ziel des Strafprozesses, weil es dadurch von vornherein einer Abwägung zugänglich gemacht wird. Rational nachvollziehbare Wertungen und Ergebnisse sind vor diesem Hintergrund eher nicht zu erwarten. Des Weiteren ist dargetan worden, dass es sich bei der Erforschung und Ermittlung der Wahrheit lediglich um ein Zwischenziel zur Erreichung eines übergeordneten Zwecks handelt.169 Damit ist zugleich gesagt, dass sich Reformbemühungen nicht bloß an diesem Zwischenziel orientieren sollten, sondern zuvörderst am ­hehren Zweck. 1. Systematische Überlegungen Wie dieser beschaffen sein könnte, hat das OLG Köln in einer Entscheidung auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit wie folgt umschrieben170: „Nach § 12 FGG hat zwar der Tatrichter im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Richtung und Umfang der erforder­ lichen Ermittlungen bestimmen sich indes nach den Tatbestandsmerkmalen der anzuwendenden materiellrechtlichen Vorschriften. Die Amtsermittlungspflicht nach § 12 FGG wird mit anderen Worten durch die Voraussetzungen des materiellen Rechts begrenzt.“

165

Schatz, Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung, S. 188 m. w. N. s. im 1. Teil, 2. Kapitel. 167 Vgl. im 1. Teil, 2. Kapitel unter II. 168 BGHSt 14, 358, 365; 31, 304, 309; 38, 214, 220; 52, 11, 17 (Rdnr. 20 a. E.). Vgl. aus dem Schrifttum im selben Sinne bloß Stock, Mezger-Festschrift, S. 429, 446 f.; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 8 a. E.; Krey, Strafverfahrensrecht I, § 2 Rdnr. 35; Paulus, in: KMR, § 244 Rdnr. 484; Ahlf, in: Lagodny (Hrsg.), Strafprozess vor neuen Herausforderungen, S. 113, 114. 169 s. im 1. Teil, 2. Kapitel unter II. 170 OLG Köln OLGZ 1989, 144, 147 m. w. N. (Hervorhebung nicht im Original). 166

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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Auf diese Weise wird das materielle Recht zum Bezugspunkt der Beweisaufnahme gemacht. Weil sich (materielle) Unmittelbarkeit insbesondere als Verfahrensprinzip der Beweiserhebung versteht, liegt es nahe, den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einmal aus dem Blickwinkel des materiell-sachlichen Strafrechts zu betrachten bzw. diese Perspektive jedenfalls nicht völlig aus dem Blickfeld geraten zu lassen. Im Zivilverfahren ist dies durchaus geläufig. Insofern ist vom Grundsatz der materiellrechtsfreundlichen Auslegung prozessrechtlicher Vorschriften die Rede. Er besagt, dass bei der Anwendung des Zivilverfahrensrechts möglichst die­jenige Auslegung der prozessualen Vorschriften zu wählen ist, welche dem materiellen Recht am besten entspricht. Dies folgt aus der dienenden Funktion des (Zivil-)Prozesses.171 Im Folgenden soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Umfang sich dieser Gedanke bei einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes fruchtbar machen lässt. Dabei soll die These an den Beginn der weiteren Überlegungen gestellt werden, dass insofern eine (Rück-)Koppelung des Instituts wie einzelner seiner gesetzlichen Detailregelungen an das materielle Strafrecht zu erfolgen hat bzw. dieses bei einer entsprechenden Reform zu beachten ist. Der denkbare Einwand, dass Straf- und Zivilverfahren unterschiedliche Zwecke verfolgen würden, spricht dabei nicht gegen eine solche Betrachtungsweise. In einem Punkt gleichen sich nämlich sämtliche Prozessordnungen: Sie dienen durchweg der Anwendung und Durchsetzung des materiellen Rechts.172 Dass es gerade diese Gemeinsamkeit ist, die dazu geführt hat, „daß die Verfahrensordnungen fast nur noch unter der Perspektive ihres verschiedenen inneren Gefüges gesehen werden, und daß jeder Prozeßordnung ihre allgemeinen Prozeßgrundsätze zugrundegelegt werden, die weitgehend von der Aufgabe der Durchsetzung des jeweiligen materiellen Rechts bestimmt sind und nicht von etwaigen Gemeinsamkeiten des Prozeßrechts“173, überrascht in der Tat einigermaßen. An sich würde man von einer Gemeinsamkeit, ohne dass gleich einer allgemeinen Prozessrechtslehre das Wort geredet werden soll, das genaue Gegenteil erwarten. 2. Historische Überlegungen Überdies sieht man sich durch einen Blick in die Strafrechtsgeschichte bestätigt, dass jedenfalls der primäre Zweck des Strafprozesses darin besteht, dem materiellen Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Zunächst gab es in der Epoche germanischen Rechtsdenkens etwa überhaupt bloß ein sog. materielles Ver­ 171

Vgl. hierfür Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, Vor § 1 Rdnr. 92 ff.; Prütting, in: Wieczorek/ Schütze, ZPO, Einl. Rdnr. 111; Schumann, Larenz-Festschrift, S. 571 ff. 172 Vgl. für das Strafverfahren die Nachw. im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. 173 Fezer, Funktion der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß und im Strafprozeß, S. 2.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

brechensbekämpfungsrecht. Eine staatliche Strafrechtspflege gab es dagegen im germanischen Rechtsgang (noch) nicht. Vielmehr oblag es dem durch eine Missetat Verletzten, sich mit dem Täter ohne jede Mitwirkung des Staates im Wege der Rache oder Fehde auseinanderzusetzen.174 In der Folgezeit kam es in der Epoche mittelalterlichen Rechtsdenkens zur Herausbildung eines materiellen Strafrechts und der Entwicklung des peinlichen Strafensystems. Dieser Übergang vom Kompositionensystem zum System der peinlichen Strafen hat sich im 11. bis 13. Jahrhundert vollzogen.175 Er blieb keinesfalls auf das materielle Strafrecht beschränkt, sondern ergriff ebenso die Verhältnisse im Bereich der Gerichtsbarkeit und damit die Strafrechtspflege. Diese Entwicklung vollzog sich aber erst im 13. bis 16. Jahrhundert176, und zwar erst nachdem man erkannt hatte, dass der zunächst weiterhin praktizierte germa­ nische Rechtsgang im Grunde genommen dem peinlichen Strafrecht, das sich mit den Landfrieden in Deutschland einbürgerte, nicht mehr adäquat war177. In dieser Hinsicht waren die Umwälzungen auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts vorgreiflich. Das jeweilige Strafprozessrecht ist – zeitlich versetzt und verzögert – daran angepasst worden. Ganz in diesem Sinne spricht Eb. Schmidt mit Blick auf die Epoche mittelalterlichen Rechtsdenkens von „neuen Verfahrensmethoden, die das peinliche Strafrecht erfordert“178 – und nicht umgekehrt. Die Neuzeit war im Prinzip von diesem Gedanken ebenfalls beherrscht. Ganz in diesem Sinne betont etwa Rieß, dass man sich in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland auf politischer Ebene darin einig war, „dass einer großen Strafrechtsreform der Vorrang zukommen und die StPO-Reform dem nachfolgen müsse“,179 wozu es aber (leider) nicht mehr kam, weil sich die Strafrechtsreform in der Vorbereitung wie in der Realisierung länger als erwartet hinzog. Von daher greift es etwas zu kurz, wenn Kühne meint, dass das noch aus der Anfangszeit des reformierten Strafprozesses stammende und zum Teil noch heute unkritisch übernommene Verständnis vom Verfahrensrecht als Hilfsdisziplin des materiellen Rechts unzutreffend und die damit einhergehende relative Geringschätzung des Prozessrechts völlig unangebracht ist.180 Keinesfalls entwickelte sich dieses Verständnis, wie soeben geschildert, erst im reformierten Strafprozess. Vielmehr zieht sich die Abhängigkeit des Strafprozessrechts und seiner Institute vom materiellen Strafrecht eher wie ein „roter Faden“ durch die Strafrechtsgeschichte. Sie zeigte sich in der Constitutio Criminalis Carolina insofern besonders anschaulich, als dass in diesem Gesetzeswerk strafverfahrensrechtliche und materiell-sachliche Regelungen sozusagen „unter einem Dach“ vereint waren. 174

Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 27. Ebd., § 76. 176 Ebd. 177 Ebd., § 71. 178 Ebd., § 76. 179 Rieß, ZIS 2009, 466, 469. 180 Kühne, in: LR, Einl., Abschn. B Rdnr. 9. 175

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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Dass dies in modernen Gesetzgebungen nicht mehr der Fall ist, hat der Entwicklung einer Emanzipation des Strafverfahrensrechts vom materiellen Strafrecht sicher Vorschub geleistet. Die äußerlich formale Trennung in verschiedenen Gesetzen vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass ein unmittelbar-innerer Zusammenhang zwischen Straf- und Strafprozessrecht dergestalt besteht, als dass es im Strafverfahren zur Anwendung des jeweiligen materiellen Strafrechts kommt. Dies bei einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrund­ satzes – wieder stärker als bislang – in den Mittelpunkt zu rücken, kommt angesichts dessen nicht von ungefähr. 3. Unmittelbarkeit und materielles Strafrecht Dabei bieten sich im Ausgangspunkt wiederum zwei denkbare Anknüpfungspunkte an, und zwar die Tatbestands- oder die Rechtsfolgenebene. Aus historischen Gründen liegt es nahe, sich zunächst der Rechtsfolgenseite und dabei der Frage anzunehmen, ob und in welchem Umfang sie Maßstäbe für eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes setzen könnte, bevor anschließend noch untersucht werden soll, welchen Beitrag die Tatbestandsebene dazu leisten kann. a) Unmittelbarkeit und Rechtsfolgenebene Löhr gebührt das Verdienst, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass unmittelbare Berührungspunkte zwischen dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz einerseits und der Ebene von Strafrahmen und -zumessung andererseits bestehen. Dabei verhehlt sie zunächst ebenfalls nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen dem materiellen Strafrecht und der Ausgestaltung des Straf­ prozesses gibt. Danach stellt zwar das Strafverfahrensrecht durchaus eine eigene Ordnung dar, wird aber weitgehend von außerprozessualen, allgemeinen Wert­ erwägungen beherrscht. Wörtlich heißt es anschließend: „Als ständig neu sich vollziehender Vorgang dient das Strafverfahren der Durchsetzung und Bewährung des materiellen Strafrechts.“181 Dabei zeigt sie selbst im Rahmen der (Entstehungs-)Geschichte des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes einen solch unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesem Prinzip einerseits und dem materiellen Strafrecht andererseits auf. In den geschichtlichen Grundlagen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit beschränkt sich Löhr nicht darauf, bloß die – ohnehin schon allseits bekannten – Gefahren und Mängel des schriftlich-mittelbaren Inquisitionsprozesses darzustellen, sondern spricht noch einen Punkt an, der nicht minder von Interesse ist. Sie 181

Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 157.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

weist darauf hin, dass es zu einer Wandlung der Strafgesetzgebung kam, „durch die das richterliche Ermessen in Bezug auf die Strafdrohung beträchtlich erweitert wurde. Hierdurch entstand die Notwendigkeit, den Grad der Schuld und die Person des Angeklagten eingehend zu prüfen und zu würdigen. Dazu waren die Akten des schriftlich-mittelbaren Verfahrens aber nicht ausreichend, und so wuchs auch bei den Richtern das unabweisbare Bedürfnis, die Angeklagten und die Zeugen selbst zu sehen, zu hören, sie zu befragen“.182 Es war diese geschilderte „Wandlung der Strafgesetzgebung“ auf der Strafrahmenebene, die dazu zwang, zu einem mündlich-unmittelbaren Strafverfahren überzugehen. In dieser Hinsicht war es aber weniger ein prozessimmanenter Grund als vielmehr das materielle Strafrecht selbst, das dazu führte, dass die strafprozessuale Unmittelbarkeitsmaxime Einzug hielt. Damit stellt sich die Frage, ob die Rechtsfolgenebene einen Maßstab für eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes bieten könnte. Man verwirft den Gedanken freilich relativ schnell. Zu beobachten ist nämlich, ins­ besondere im Zuge des 6. StrRG, der „zunehmende Gebrauch einer enormen Spreizung vieler Strafrahmen“183. Wenn man daran festhalten will, wovon aus rechtspolitischer Perspektive wohl auszugehen ist, geht es nicht an, Forderungen nach weiteren Lockerungen und Durchbrechungen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips zu erheben. Beides geht nicht zusammen, jedenfalls nicht vor der historischen Kulisse, vor der es zu diesem Gebot gekommen ist. Weil eine Straffung der Strafrahmen rechtspolitisch eine eher unrealistische Forderung ist, muss man es entweder beim gesetzlichen status quo von Unmittelbarkeit belassen, welcher die Rechtsfolgenebene durchaus unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat als Differenzierungsgrund kennt184, oder aber man begründet eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und damit einhergehende weitere Ausnahmen davon auf andere Art und Weise. b) Unmittelbarkeit und Tatbestandsebene Damit gerät die Tatbestandsebene in den Blickpunkt des Interesses: Sie bietet, um das Ergebnis vorwegzunehmen, durchaus entsprechende Anknüpfungspunkte, wie zunächst die Behandlung einiger spezieller Fragen- und Problemkreise durch Rechtsprechung und Schrifttum zeigen soll. Dabei handelt es sich um Konstel­ lationen, bei denen der Beweis über eine entscheidungserhebliche Tatsache durch Personal- wie durch Sachbeweis erbracht werden könnte. Damit stellt sich zwangs-

182 Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 32 (Hervorhebung nicht im Original) unter Verweis auf Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschwornengericht, S. 11. 183 Bussmann, StV 1999, 613, 614 (Hervorhebung im Original). 184 Vgl. dazu im 2. Teil, 5. Kapitel unter II. 2. b).

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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läufig die Frage, auf welches Beweismittel vorrangig zuzugreifen ist und ob sich eine solche Hierarchie bloß nach §§ 250 ff. StPO oder – kumulativ bzw. alternativ – anhand der sachlichen Vorgaben des materiellen Strafrechts beurteilt. Es geht um Schriftstücke mit strafbarem Inhalt, etwa einen beleidigenden Brief oder einen solchen, der einen anderen zu einer Straftat veranlassen soll, und deren Einführung in den Strafprozess. Dies ist durch deren Verlesung möglich oder dadurch, dass der Empfänger als Zeuge gehört wird. Insofern handelt es sich dabei durchaus um ein Problem, das im unmittelbaren Zusammenhang mit dem strafprozeduralen Unmittelbarkeitsgebot steht. Schließlich steht dahinter der Gedanke des bestmöglichen Beweises.185 Es gibt dem Gericht auf, „von mehreren möglichen Beweiswegen immer den besten“ zu wählen.186 Die Frage ist allerdings, worin der beste Beweisweg bzw. das bestmögliche Beweismittel in solchen Konstellationen zu sehen ist. Am Ergebnis, dass der erste Weg zu wählen ist und das inkriminierte Schriftstück selbst zu verlesen ist, dürften kaum Zweifel bestehen. Zu hinterfragen ist indes die Begründung dafür. Als Prinzip der Benutzung des bestmöglichen (Original-)Beweismittels soll Unmittelbarkeit die Wahrnehmung der Dispositivurkunde (z. B. des beleidigenden Flugblattes oder sonstigen Schriftstückes) durch den Richter selbst anstelle seiner inhaltlichen Wiedergabe durch den Leser als Zeugen verlangen.187 Während man hierin im Ergebnis sicher zustimmen kann, überzeugt die Begründung dafür weniger. Grund für die Lektüre des kompromittierenden Schriftstücks durch das Gericht selbst soll es sein, dass es der zuverlässigste Weg zur Ermittlung der Wahrheit sei, und damit ein gleichsam prozessimmanenter Grund. Es überzeugt aber bereits deshalb nicht, weil die Erforschung der Wahrheit, wie geschildert188, lediglich ein Zwischenziel ist. Wenn man dagegen mehr die Anwendung und Durchsetzung des materiellen Rechts als hehre Funktion des Strafverfahrens betont, wird deutlich, dass sich das Ergebnis aus der Perspektive der materiell-sachlichen Strafgesetze (besser) begründen lässt. aa) Beleidigendes Schriftstück Als erstes Beispiel in dieser Hinsicht wird ein beleidigendes Flugblatt oder ein ebensolcher Brief genannt. Wenn man den betreffenden Adressaten, d. h. das Opfer des entsprechenden Ehrverletzungsdelikts als Zeugen vernehmen würde, wäre seine Wiedergabe des Briefinhalts eventuell subjektiv „gefärbt“. Es ist aber an­ 185

Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S. 127 mit S. 130. Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 33; von Hippel, Strafprozeß, S. 315. 187 Vgl. dazu und zum Folgenden Löhr, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeßrecht, S. 18; Geppert, Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, S.  127 f. m. w. N. 188 s. im 1. Teil, 2. Kapitel unter II. 186

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

erkannt, dass es bei § 185 StGB gerade nicht darauf ankommt, wie der Empfänger, sondern wie ein unbefangener und verständiger Dritter die Äußerung versteht.189 In dieser Hinsicht ist es eine tatbestandliche (Auslegungs-)Frage, die Anlass zur Verlesung kompromittierender Schriftstücke gibt. Im Übrigen könnte es die Vernehmung des Beleidigungsopfers mit sich bringen, dass es Passagen aus dem Zusammenhang reißt. Es ist jedoch unbestritten, dass – möglicherweise – ehrverletzende Äußerungen nicht aus deren Kontext heraus­ gelöst werden dürfen.190 Von daher sind es materiell-rechtliche Gründe, warum ein Schriftstück als denkbares Tatmittel der §§ 185 ff. StGB durch Verlesen in den Prozess eingeführt werden muss, solange es als Beweismittel vorhanden ist, und nicht dadurch, dass man den Adressaten vernimmt. Ein Verständnis von (materieller) Unmittelbarkeit – im Sinne einer Hierarchie oder Rangfolge der denkbaren Beweismittel191 – erschließt sich in dieser Hinsicht erst für den Fall (vollends), dass man das materielle Strafrecht in seine Überlegungen einbezieht. bb) Anstiftung durch Schriftstück Gleiches gilt für ein ähnliches in diesem Zusammenhang gebrachtes Beispiel: Es kann nicht besser als mit den Worten von Maas umschrieben werden, der es selbst bei der Diskussion um den „Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozeßordnung“ in seiner gleichnamigen Dissertationsschrift gebildet hat192: „Die Tatsache z. B., daß jemand einen anderen zur Begehung eines Verbrechens angestiftet hat, kann gar nicht unmittelbarer bewiesen werden, als dadurch, daß man den vorliegenden Brief, in dem dies geschehen, zum Beweis heranzieht und sich nicht etwa mit dem Zeugnis derer zufrieden gibt, die den Brief gelesen haben.“

189 BGHSt 3, 346, 347; 16, 49, 53; 19, 235, 237; OLG Düsseldorf NJW 1989, 3030; ­Fischer, § 185 Rn. 8; Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, § 185 Rdnr. 9; Regge/Pegel, in: M ­ ünchKommStGB, § 185 Rdnr. 9. 190 RGSt 41, 49, 51 (Beleidigung durch Pressevergehen): „Vollends unstatthaft aber ist es für die Auslegung der Kundgebung, einzelne Bestandteile einer einheitlichen, in sich zusammenhängenden Äußerung aus dem Zusammenhange loszulösen und auf denjenigen Sinn zu erforschen, den sie abgesehen von diesem Zusammenhange und ohne Rücksicht auf denselben er­ geben.“ Vgl. ferner OLG Köln NStZ 1981, 183; OLG Karlsruhe NStZ 2005, 158; ­BayObLG NJW 2005, 1291; OLG Düssseldorf NStZ-RR 2006, 206; OLG Hamm NStZ-RR 2007, 140; Lackner/Kühl, § 185 Rdnr. 4; Zaczyk, in: NK, § 185 Rdnr. 7; Schneider, in: HK-GS, § 185 Rdnr. 18; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, § 185 Rdnr. 8; Fischer, § 185 Rdnr. 8; Regge/ Pegel, in: MünchKommStGB, § 185 Rdnr. 9 – jeweils m. w. N. sowie noch BVerfGE 93, 266, 295 (Hervorhebungen nicht im Original): Der Sinn einer Äußerung „wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren“. 191 Dies wird aus materieller Unmittelbarkeit geschlussfolgert, vgl. hierzu näher im 4. Teil, 8. Kapitel unter II. 192 Maas, Grundsatz der Unmittelbarkeit in der Reichsstrafprozessordnung, S. 57.

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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Im Ergebnis ist diese unbestrittene Konsequenz sicher zu begrüßen. Hierfür sprechen schon praktische Erwägungen. Insofern ist zu verinnerlichen, dass es sich bei dem Zeugnis derer, welche den Brief gelesen haben, um die Haupttäter handeln könnte. Sie scheiden, wenn sie mitangeklagt sind, sowieso als Zeugen von vornherein aus. Aber selbst wenn es sich um unbeteiligte Dritte oder um den Fall handelt, dass der Haupttäter bereits rechtskräftig verurteilt und nunmehr Zeuge im Verfahren gegen den Anstifter sein sollte, sind es materiell-rechtliche Gründe, die Anlass geben, von seiner Vernehmung Abstand zu nehmen, sondern stattdessen den Brief selbst zu verlesen. Ein großes Problem im Bereich der Anstiftung ist die Bestimmtheit des Anstiftervorsatzes. Sie stellt sich bei eher allgemein gehaltenen Aussagen, wie „eine Bank oder eine Tankstelle machen“.193 Ob sie den Anforderungen einer Anstiftung genügen, war und ist höchst umstritten. Nach einer Ansicht reicht es, wenn in der Vorstellung des Anstifters außer einem bestimmten Tatbestand die „wesentlichen Dimensionen des Unrechts“ fixiert sind, wie sie sich „durch Auslegung des Verhaltens des Anstifters aus dem Gesamtbild der Anstiftungssituation“ ergeben.194 Dass dies im Falle einer Anstiftung durch einen Schriftsatz zwingend dessen Wiedergabe selbst verlangt, bedarf wohl nicht einer näheren Begründung. Aber selbst die gegenteilige h. M. in dieser Frage dürfte aus materiell-recht­ lichen Gesichtspunkten darauf nicht verzichten. Danach muss sich der Vorsatz des Anstifters auf die Ausführung einer zwar nicht in allen Einzelheiten, wohl aber in den wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Tat beziehen. Es ist zu verlangen, dass die Tat nicht bloß nach Tatbestandstypus und allgemeinen Gattungsmerkmalen des Tatobjekts festgelegt ist, sondern in der Vorstellung des Anstifters im jeweiligen tatbestandlichen, freilich noch nicht bis ins Detail ausgeführten Bild als wenigstens umrisshaft individualisiertes Geschehen erscheint. Der Vorsatz des Anstifters muss, ohne sämtliche Einzelheiten der auszuführenden Haupttat zu erfassen, jedenfalls soviel von den sie kennzeichnenden Merkmalen enthalten, dass die Tat selbst als konkret-individualisierbares Geschehen erkennbar ist.195 Wenngleich immer die Rede vom Vorsatz des Anstifters ist, darf nicht übersehen werden, dass die Anstiftungshandlung ein starkes Indiz liefern wird, über welche Merkmale der Tat und deren Umrisse sich der Anstifter bereits Ge 193

Um eben diese Formulierung ging es in der grundlegenden Entscheidung BGHSt 34, 63. Roxin, JA 1979, 169, 172 (Hervorhebung nicht im Original). 195 BGHSt 34, 63, 66 ff. m. w. N. Dass diese Ansicht zutreffend ist, folgt übrigens aus einem arg. e contrario zu § 30 StGB. In § 30 Abs. 1 StGB wird die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen unter Strafe gestellt. Dass die hierfür zu verlangenden Voraussetzungen erst Recht für die vollendete Anstiftung gelten müssen, versteht sich von selbst. Gleiches gilt – wegen der identischen Strafandrohung („Ebenso wird bestraft, …“) – im Verhältnis der beiden Absätze des § 30 StGB zueinander. Für die Verbrechensverabredung wiederum ist anerkannt, dass dafür auf subjektiver Ebene zu verlangen ist, dass die präsumtiven Mittäter ein mehr oder minder scharf umrissenes Vorstellungsbild vom verabredeten Verbrechen haben. Gleiches ist aus den genannten Gründen für den Anstifter zu verlangen, vgl. hierzu näher Krüger, JA 2008, 492, 496 ff. 194

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

danken gemacht hat. Wenn sie schriftlich erfolgt ist, versteht es sich vor diesem Hintergrund von selbst, dass das entsprechende Schriftstück zu verlesen und nicht der Haupttäter über das Gelesene zu vernehmen ist. Es folgt aus den Vorgaben des materiellen Rechts, dessen Feststellung und Durchsetzung ein Strafverfahren in jedem Einzelfall dient. cc) Betrug durch reißerische Werbung Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang stellt die Frage dar, unter welchen Voraussetzungen reißerische Reklame und ähnliche Anpreisungen unter den Betrugstatbestand des § 263 StGB fallen (können). In der Rechtsprechung stößt man insofern auf den sog. Haarverdicker- bzw. Fettabschmelz-Fall: Der Angekl. vertrieb diverse kosmetische Präparate, darunter Haarverdicker und Abmagerungspillen, in Kenntis um deren Wirkungslosigkeit. Gleichwohl pries er den Haarverdicker mit der Aussage an, dass er das Haar in nicht einmal 10 Minuten verdoppeln würde. Bei der Schlankheitspille müsse man sogar reichlich essen, damit die ungeheure Fettabschmelzkraft mit genügend Nahrung ausgeglichen werde. Der BGH sah darin eine betrügerische Täuschung im Sinne von § 263 StGB, weil der Angekl. trotz marktschreierischer Reklame in den Anzeigen nicht bloß ein persönliches Werturteil abgegeben, sondern vielmehr über der Nachprüfung zugängliche Tatsachen getäuscht hat.196 Ohne dieses Ergebnis hinterfragen zu wollen, soll es im Folgenden schlicht um die Frage gehen, in welchem Kontext diese materiellstrafrechtliche Problematik zur vorliegenden strafprozessualen Frage steht. Materiellrechtlich betrachtet geht es darum, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen reißerische Reklame und ähnliche Anpreisungen ein tatbestandsmäßiges Verhalten im Sinne von § 263 StGB darstellen und dabei implizit um die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil. Reißerische Werbung und vergleichbare Aufmachungen fallen bloß für den Fall unter § 263 StGB, dass konkrete Tatsachen ernsthaft behauptet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verkehrsanschauung übertriebene Anpreisungen und marktschreierische Reklame im Bereich der Werbung regelmäßig gerade nicht als ernsthafte Tat­sachenbehauptung auffasst.197 Mit der Verkehrsauffassung wird wiederum ein Bezugspunkt in den Blickpunkt des Interesses gerückt, der noch in anderem Zusammenhang eine entscheidende Rolle bei § 263 StGB spielt, nämlich bei der Frage, ob und welchen Erklärungswert ein bestimmtes Verhalten hat. Dies wird insbesondere bei der konkludenten Täuschung relevant. Ohne auf diesbezügliche Detailfragen eingehen zu wollen und zu müssen198, lässt sich wohl Einigkeit darin 196

BGHSt 34, 199, 201. Vgl. hierzu bloß die Nachw. bei Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder, § 263 Rdnr. 9 a. E. 198 s. zum Folgenden lediglich Hefendehl, in: MünchKommStGB, § 263 Rdnr. 88 sowie Tiedemann, in: LK, § 263 Rdnr. 28 ff. und aus der Rspr. etwa BGHSt 51, 165, 169 ff. Rdnr. 19 ff. (Fall Hoyzer) – jeweils m. w. N. 197

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ausmachen, dass es – solange nicht spezielle Besonderheiten im Einzelfall vorliegen – nicht darauf ankommt, welche Bedeutung der konkrete Adressat dem Verhalten beimisst. Vielmehr bestimmt sich der Inhalt einer Erklärung bzw. eines entsprechenden (Erklärungs-)Verhaltens nach der allgemeinen Verkehrsanschauung über die für verschiedene Geschäfts- und Vertragstypen charakterische Risiko­ verteilung. Maßgeblich sei, wie der Adressat der Erklärung am Maßstab eines objektivierten Empfängerhorizonts die Erklärung nach der in Bezug auf das konkrete Geschäft bestehenden Verkehrsauffassung vernünftigerweise verstehen durfte. Damit schließt sich der Kreis: Weil es gerade nicht auf den konkreten Empfänger ankommt, sondern auf einen objektivierten Empängerhorizont, ist nicht das Betrugsopfer über den aus seiner Sicht wahrgenommenen – und damit eventuell von Hoffnungen genährten und dadurch subjektiv gefärbten – Inhalt der (gedruckten) Werbung zu vernehmen. Vielmehr ist sie unmittelbar selbst zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen, und zwar durch vollständige Verlesung (oder im Selbstleseverfahren). Erst auf dieser Grundlage ist eine an objektiven Maß­ stäben vorzunehmende Auslegung dahingehend möglich, ob die reißerische Werbung einen hinreichend konkreten und ernsthaften und damit der Nachprüfung zugänglichen Tatsachenkern enthält. Parallele Erwägungen gelten beim sog. Insertionsoffertenbetrug.199 Weil es gerade nicht zum geschützten Rechtsgut des Betrugstatbestands gehört, allzu sorglose Menschen zu schützen, kommt es nicht darauf an, welchen Inhalt solche Menschen Angebotsschreiben mit typischen Rechnungsmerkmalen beimessen. Vielmehr ist entscheidend, ob „der Täter bei Versendung von Formularschreiben typische Rechnungsmerkmale – insbesondere […] das Fehlen von Anrede und Grußformel, Hervorhebung einer individuellen Registernummer, Fehlen einer näheren Darstellung der angebotenen Leistung, Aufschlüsselung des zu zahlenden Betrags nach Netto- und Bruttosumme, Hervorhebung der Zahlungsfrist […] durch Fettdruck, Beifügung eines ausgefüllten Überweisungsträgers – einsetzt, die den Gesamteindruck so sehr prägen, dass demgegenüber die – kleingedruckten – 199 Vgl. hierzu und zum Folgenden bloß BGHSt 47, 1 m. w. N. (Hervorhebungen nicht im Original). Eine durchaus vergleichbare Konstellation lag BGH NJW 2013, 1545 zugrunde, bei der unseriöse Kreditvermittler in Wahrheit nicht entstandene und zudem überhöhte Aus­ lagen dadurch geltend machten, „dass sie durch Gestaltung des Rechnungstextes bei den Kunden die Fehlvorstellung hervorrufen, die Auslagen seien in der geltend gemachten Höhe entstanden und die Kunden seien auch zur Zahlung verpflichtet“. Im Übrigen liegt in der Tatsache, dass der BGH in dieser Entscheidung für das Feststellen des betrugsrelevanten Irrtums beim Opfer – und damit eines eher tat- und weniger täterbezogenen Merkmals – „in der Regel dessen Vernehmung“ verlangt, nicht zwangsläufig ein Widerspruch bzw. unüberwindbares Hindernis zu dieser im Folgenden gemachten Differenzierung. Anders als auf diese Weise lässt sich das Merkmal halt nicht ermitteln. Zugleich zeigt der BGH einen Weg auf, nämlich über § 251 StPO, wie verfahren werden kann, wenn es eine Vielzahl gleichförmig betrogener Opfer gibt. Damit zeigt sich einmal mehr, dass die Anwendung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes – und seiner Ausnahmen – durchaus vom materiellen Recht beherrscht bzw. jedenfalls überlagert wird.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

Hinweise auf den Angebotscharakter völlig in den Hintergrund treten“. Wenn der Täter auf diese Art und Weise vorgeht, „täuscht er die Adressaten nach der objektiven Verkehrsanschauung durch die konkludente Aussage der Schreiben, dass eine Zahlungspflicht besteht“. Dabei ist für die Ermittlung der Verkehrsanschauung der objektive Maßstab des Geschäftsverkehrs heranzuziehen. Damit bedarf es gerade nicht der Einvernahme der Adressaten solcher Schreiben, sondern vielmehr werden die – möglicherweise betrügerischen – Insertionsofferten unmittelbar selbst zum Beweismittel. Einmal mehr zeigt sich, dass das materielle Strafrecht durchaus Kriterien dafür aufstellt, zu welchem Beweismittel konkret zu greifen ist, wenn mehrere zur Verfügung stehen.

dd) Fazit Als Fazit lässt sich festhalten, dass bei der Frage, auf welches Beweismittel unter mehreren in Betracht kommenden zuzugreifen ist, das materiell-sachliche Strafrecht durchaus Antworten gibt. Damit ist zugleich gesagt, dass bei einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes mehr als bislang auf solche Interdependenzen zu achten ist.

4. Differenzierung nach tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne Mit den vorhergehenden Ausführungen ist zunächst bloß gesagt, dass das materielle Strafrecht überhaupt den Rahmen für eine Reform des strafprozessrechtlichen Unmittelbarkeitsprinzips bieten kann, wodurch es zugleich seine Mittlerfunktion zwischen dem Verfahrenszweck der Durchsetzung und Anwendung des materiellen Rechts einerseits und der gesetzlichen Regelung andererseits wahrnehmen kann. Ob und in welchem Maße aber innerhalb der einzelnen Detailregelungen weiter zu differenzieren ist, blieb dagegen einstweilen noch unbeantwortet. Die Antwort darauf soll nunmehr gefunden werden. Dabei ist, um das spätere Ergebnis zunächst als These voranzustellen, zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne zu unterscheiden. Als tatbezogen werden dabei im Folgenden die Umstände verstanden, die sich rein objektiv, sozusagen in einem Verfahren gegen Unbekannt, feststellen und unter das jeweilige Strafgesetz subsumieren lassen, wohingegen täterbezogen jene Merkmale sind, deren Vorliegen sich an der Person des Beschuldigten und seinem – den Tatvorwurf bildenden – Verhalten festmachen lassen bzw. insofern einen unmittelbaren Bezug haben, wie etwa das Erfordernis der Amtsträgereigenschaft für ein entsprechendes Amtsdelikt. Die daran anknüpfende These ist, dass bei täter­ bezogenen Merkmalen weitere Ausnahmen vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz und eine diesbezügliche Reform eher nicht angezeigt erscheinen,

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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wohingegen sie bei tatbezogenen Merkmalen durchaus in Betracht kommen. Diese These gilt es nunmehr zu untermauern. a) Ansätze der Differenzierung im geltenden Recht Dabei ist in einem ersten Schritt danach zu schauen, ob das geltende Strafund Strafprozessrecht bereits eine solche Differenzierung oder jedenfalls entsprechende Ansätze kennt. aa) Tat- und täterbezogene Merkmale im Strafrecht Dabei kommt es nicht von ungefähr, in dieser Hinsicht mit dem materiellen Strafrecht zu beginnen. Wenn man den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz überhaupt – mehr als bislang – aus der Perspektive des sachlichen Rechts betrachten und einer Reform unterziehen will, versteht es sich nahezu von selbst, den Blick zunächst auf die materiellen Strafgesetze zu richten, ob sie die geschilderte Unterscheidung (bereits) kennen bzw. zulassen. (1) Tat- und täterbezogene Mordmerkmale Als geradezu augenfällig in dieser Hinsicht erweist sich wiederum § 211 StGB: Bei den Mordmerkmalen erfolgt gemeinhin eine – freilich vor dem Hintergrund von § 28 StGB zu sehende200 – Einteilung in tat- und täterbezogene Mordmerkmale. Dabei versteht man die Merkmale der ersten und dritten Gruppe des § 211 StGB als täterbezogene Mordmerkmale, wohingegen die zweite Gruppe tatbezogene Merkmale enthält. Diese Unterscheidung im sachlichen Recht lässt sich im Ansatz durchaus für die vorgeschlagene Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne fruchtbar machen. Ob eine Tötung „heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln“ erfolgt ist, lässt sich zumeist allein aufgrund des äußeren Tathergangs, sprich des unmittelbaren Tötungsakts beurteilen, ohne dass es insofern eines Bezugs zum Täter bzw. Beschuldigten bedarf. Anders sieht es dagegen bei der Tötung „aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen“ aus bzw. wenn getötet worden ist, „um eine andere Straftat zu ermög­ lichen oder zu verdecken“. Das Beispiel des § 211 StGB zeigt freilich bereits eine mögliche Krux der vorgeschlagenen Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmale im prozessualen Sinne auf. Sie lässt sich bloß für den Fall konsequent durchhalten, 200

Vgl. dazu noch sogleich unter c) bb).

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

dass sich zwischen beiden Merkmalen trennscharf unterscheiden lässt und sich beide Gruppen nicht (teilweise) überschneiden. Dies aber ist jedenfalls bei bestimmten, gemeinhin als tatbezogen verstandenen Mordmerkmalen durchaus der Fall. Ausschließlich tatbezogen ist lediglich das Merkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“, wohingegen man für Heimtücke verlangt, dass man aus einer feindseligen Willensrichtung heraus tötet.201 „Grausam“ wiederum tötet, wer seinem Opfer in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke und Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen.202 Ohne subjektiven Einschlag (feindliche Willensrichtung bzw. gefühllose, unbarmherzige Gesinnung) kommen die sog. tatbezogenen Mordmerkmale der Heimtücke und Grausamkeit von daher nicht aus. Es bleibt der weiteren Untersuchung vorbehalten, wie mit solchen ambivalenten Merkmalen im prozessualen Sinne bei einer (denkbaren) Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes umzugehen ist. (2) Tat- und täterbezogene Strafzumessungsaspekte Zunächst aber noch zu einem weiteren Anwendungs- und Beispielsfall der Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im materiellen Strafrecht: Im Rahmen der Strafzumessung und der dabei relevanten Faktoren nimmt man eine solche Unterscheidung ebenfalls vor, wenngleich sie mit einem anderen Begriffspaar umschrieben wird. Als psychische Faktoren begreift man die in § 46 StGB genannten Beweggründe und Ziele des Täters sowie seine Gesinnung und seinen aufgewendeten verbrecherischen Willen. Wie schon die Hervorhebung zeigt, handelt es sich dabei um täterbezogene Aspekte im geschilderten Sinne. Als objektive Faktoren sieht man da­gegen das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die Auswirkungen der Tat im Sinne des § 46 StGB an. Dies wären tatbezogene Merkmale im prozessualen Sinne. Von daher ist § 46 StGB ein weiteres Beispiel dafür, dass das materielle Strafrecht durchaus die Unterscheidung zwischen tat- und täterbezo­ genen Merkmalen vorsieht. Dabei wird diese Differenzierung in gewisser Hinsicht vom Strafverfahrensrecht übernommen. Im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist darauf einge 201

BGHSt 9, 385, 390; 11, 139, 143; 30, 105, 119; 37, 376, 377 f.; Lackner/Kühl, § 211 Rdnr. 6a; Jähnke, in: LK, § 211 Rdnr. 46; Sinn, in: SK-StGB, § 211 Rdnr. 40; Fischer, § 211 Rdnr. 44a; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdnr. 45. Schneider, in: MünchKommStGB, § 211 Rdnr. 191 spricht insofern von einer „erstaunlichen Verengung des subjektiven Tat­ bestandes“. 202 BGHSt 3, 180, 181; BGH NJW 1971, 1189, 1190; NJW 1986, 265, 266; Lackner/Kühl, § 211 Rdnr. 10; Jähnke, in: LK, § 211 Rdnr. 55; Sinn, in: SK-StGB, § 211 Rdnr. 53; Fischer, § 211 Rdnr. 56; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdnr. 47 sowie krit. Schneider, in: MünchKommStGB, § 211 Rdnr. 129.

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gangen worden, dass sich die Verlesung des ärztlichen Attests über eine Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört, auf die durch die Tat erlittenen (mittelbaren) Auswirkungen erstrecken kann.203 Ob sich dies schon unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm selbst ergibt, kann mit Fug und Recht bestritten werden. Bei einer teleologischen und sich damit an Sinn und Zweck des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes orientierenden Auslegung ist dies allerdings ohne weiteres rational erklärbar, wenn man insofern zwischen tat- und täterbezogenen Umständen im prozessualen Sinne unterscheidet. Freilich zeigt sich zugleich wieder, dass es sich bei den „Auswirkungen der Tat“ in dieser Hinsicht um ein eher ambivalentes gesetzliches Merkmal handelt, weil sie bloß für den Fall straferschwerend berücksichtigt werden dürfen, dass sie „verschuldet“ und damit dem konkreten Täter subjektiv zurechenbar sind. Wie solche Merkmale im Rahmen einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu behandeln wären, soll einstweilen noch offen bleiben. In jedem Falle trifft § 46 StGB aber eine Unterscheidung zwischen tat- und täterbezogenen Umständen. In dieser Hinsicht kann sich eine Reform des straf­ prozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes zwar nicht an den Strafrahmen überhaupt orientieren204, wohl aber an der Strafzumessung und den diesbezüglich entwickelten Kriterien, weil sie die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen ebenfalls kennen. bb) Tat- und täterbezogene Merkmale im Strafprozessrecht Mehr noch für eine Differenzierung nach tat- und täterbezogenen Merkmalen im Rahmen einer (möglichen) Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips würde freilich sprechen, wenn nicht bloß das materiell-sachliche Strafrecht, sondern bereits unmittelbar das geltende Strafprozessrecht selbst diese Unterscheidung kennt. Dabei ist von besonderem Interesse, ob gerade jene straf­prozessualen Vorschriften, die man gemeinhin mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in Verbindung bringt, schon von dieser Unterscheidung – sicher unbewusst – geprägt sind. In der Tat lassen sich in dieser Hinsicht erste Ansätze ausmachen. (1) Verlesungsvorschrift des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO Zunächst ist dabei an § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO zu denken. Danach können Schriftstücke verlesen werden, „soweit die Niederschrift oder Urkunde das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens betrifft“. Dies soll „etwa im Bereich der Wirtschaftskriminalität (300 Betrugsfälle nach immer demselben Schema) einer 203

s. im 2. Teil, 5. Kapitel unter IV. 3. b). Vgl. dazu soeben unter 3. a).

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Entlastung und Beschleunigung der Hauptverhandlung sowie dem Schutz des Opfers vor zeitaufwendigen, aber entbehrlichen Mehrfachvernehmungen dienen“. Entbehrlich seien diese deshalb, weil der Geschädigte oft zum Tathergang und zur Person des Täters nichts beitragen, sondern lediglich dazu befragt werden kann, welcher Schaden eingetreten ist, wofür nicht in jedem Falle eine persönliche Vernehmung erforderlich ist.205 Darin zeigt sich, dass es dabei nicht um täterbezogene Aspekte im – vorliegend verstandenen – prozessualen Sinne geht. Zugleich haben frühere Überlegungen gezeigt, dass der Begriff des Vermögensschadens im Sinne von § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO in Anlehnung an das materielle Strafrecht zu interpretieren ist.206 Auf diese Weise erfolgt eine Anbindung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips an die materiell-rechtliche Tat­ bestandsebene, soweit es „das Vorliegen […] eines Vermögensschadens betrifft“. Für die Rechtsfolgenseite ist die Vorschrift aber gleichfalls von Belang. Soweit es die (genaue) „Höhe eines Vermögensschadens betrifft“, ist dieser Umstand für die Strafzumessung im Rahmen von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB relevant („Vermögensverlust großen Ausmaßes“). Von daher hat § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO einen tatbezogenen Umstand im prozessualen Sinne auf der Tatbestands- wie auf der Rechtsfolgenebene zum Gegenstand (der Verlesung). (2) Verlesungsvorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO Des Weiteren ist auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO hinzuweisen: Die Vorschrift gestattet die Verlesung von ärztlichen Attesten über Körperverletzungen, die nicht zu den schweren gehören. Weil dies am Anklagesatz und -vorwurf festgemacht werden kann207, scheint die Anwendung der Vorschrift in der Praxis kaum zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen zu können. Gleichwohl werden vielfältige Differenzierungen im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorgenommen. In jedem Falle verlesbar ist der objektive Befund des Verletzten – wie des Angeklagten208 – als solcher und die zugehörige Krankheitsgeschichte.209 Enthält das Attest darüber hinaus eine gutachtliche Äußerung, etwa über Schwere und Folgen der Verletzung, Minderung der Erwerbsfähigkeit und voraussichtliche Heilungsmöglichkei-

205 BT-Drs. 15/1508 S. 26 (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. ferner noch die gleich lautende Begründung in BT-Drs. 13/4541 S. 21. 206 Vgl. im 2. Teil, 5. Kapitel unter III. 3. 207 König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 17; Rüping, in: AK-StPO, § 256 Rdnr. 14; ­Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 28. 208 RGSt 35, 162, 163. Der sogleich näher aufzuzeigende Bezug des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum materiellen Strafrecht klingt in dieser Entscheidung bereits an, wenn das Gericht ausführt, dass dies „mit Rücksicht auf die Behauptung der Notwehr oder auf die Bestimmung des § 233 StGB […] in Betracht kommen“ kann. § 233 StGB ähnelte § 199 StGB und wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 abgeschafft (BGBl. I S. 164). 209 RGSt 19, 364, 365; BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211.

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ten, kann es insoweit ebenfalls verlesen werden.210 Wenn es dagegen nicht auf das bloße Vorhandensein der bescheinigten Körperverletzung ankommt, sondern darüber hinaus auf die Art der Verletzung, genügt die Verlesung nicht. Vielmehr muss der Arzt als Zeuge vernommen werden.211 Unzulässig ist ferner die Verlesung von Tatsachen, welcher der Arzt bei der Untersuchung ohne besondere Sachkunde festgestellt hat, etwa Angaben des Verletzten oder eines Dritten über Ursache und Herkunft der Verletzung und damit über den möglichen Tathergang.212 Eine Begründung für die unterschiedliche Reichweite der Verlesungsmöglichkeit gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im vorgenannten Sinne wird in den entsprechenden Entscheidungen manchmal bloß in Ansätzen gegeben, meistens aber überhaupt nicht. Ob die Differenzierungen bereits vom Gesetzeswortlaut vorgegeben sind, ist eher zu bezweifeln. Manches „ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 256 StPO, aber aus dessen Sinn und Zweck“.213 Dass dieser wiederum im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz steht, versteht sich von selbst. Wenn man nunmehr diesen Kontext beachtet, lassen sich die dargestellten Nuancen in der Handhabung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO durchaus auf allgemeine Aussagen zurückführen. Schon die bisherige Darstellung hat dabei offenbar werden lassen, dass das materielle Strafrecht durchaus einen Maßstab für die Reichweite der Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsprinzip bildet. Dieser Gedanke lässt sich auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO und dabei gemachte Differenzierungen übertragen. Bei den „Ursachen der Verletzung“ geht es ebenfalls um eine materiell-strafrechtliche Kategorie, nämlich um die Kausalität zwischen der Handlung des Täters bzw. Angeklagten und dem eingetretenen Erfolg, die bei § 223 StGB zu verlangen ist. Insofern stellt sich die Frage, warum zwar die erlittene Verletzung, nicht aber deren Ursache(n) zum Gegenstand der Verlesung gemacht werden können. Der Unterschied lässt sich – vor dem Hintergrund des materiellen Strafrechts – aber sehr wohl erklären. Bei der Verletzung als solcher geht es um ein sozusagen tatbezogenes Merkmal, ob nämlich überhaupt ein strafrechtlich relevanter Erfolg vorliegt. Bekanntlich fallen bloß geringfügige Beeinträchtigungen aus dem Tat-

210 RGSt 19, 364, 365; RG JW 1891, 505; RG GA Bd. 61 (1914), 350; König/Harrendorf, in: HK-GS, § 256 Rdnr. 17; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 49; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 19. 211 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211 Nr. 21; Joecks, § 256 Rdnr. 7 a. E.; MeyerGoßner, § 256 Rdnr. 19 a. E. 212 RG JW 1905, 218; BGHSt 4, 155, 156; BGH bei Dallinger, MDR 1955, 397; StV 1984, 142, 143; OLG Hamburg, StV 2000, 9, 10; Meyer-Goßner, § 256 Rdnr. 19; Diemer, in: KK, § 256 Rdnr. 8; Velten, in: SK-StPO, § 256 Rdnr. 29; Stuckenberg, in: LR, § 256 Rdnr. 49. Anders offenbar noch RG JW 1891, 505, wonach „noch diejenigen sachverständigen Schlußfolgerungen, zu denen der Arzt durch seine Besichtigung bezüglich der Fragen nach den mutmaßlichen Entstehungsursachen […] gelangt ist, als inbegriffen erachtet werden“. 213 Treffend in diesem Sinne BGHSt 33, 389, 391 zur Frage der Verlesbarkeit eines ärzt­ lichen Attests, wenn laut Anklage ein anderes Delikt idealiter mit der leichten Körperverletzung konkurriert.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

bestand des § 223 StGB heraus.214 Dies wiederum lässt sich, weil sich die Erheblichkeit objektiv nach dem (ärztlichen) Befund aus Sicht eines objektiven Dritten beurteilt215, durch bloßes Verlesen eines ärztlichen Attests klären, weil es für die Feststellung des gesetzlichen (Straf-)Tatbestands im Rahmen der §§ 223, 224, 229 StGB auf nichts weiter ankommt, als auf das bloße Vorhandensein der bescheinigten Körperverletzung selbst.216 Eines Bezugs zu denkbaren Ursachen der (un-)erheblichen Beeinträchtigung bedarf es dafür jedenfalls nicht. Anders verhält es sich, wenn die Erheblichkeitsgrenze überschritten ist und es nunmehr um die konkrete Zurechnung der Tat zum Angeklagten geht. Dabei handelt es sich um einen täterbezogenen Aspekt. Wenn man nunmehr noch in den Blick nimmt, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz den Interessen des Angeklagten dient217, liegt es nahe, die Verlesungsmöglichkeit des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im geschilderten Sinne restriktiv zu interpretieren. Freilich muss man dafür das materielle Strafrecht in seine Betrachtungen einbeziehen. Entsprechende Überlegungen lassen sich ferner in der Frage fruchtbar machen, warum ein ärztliches Attest nicht verlesen werden darf, wenn es nicht bloß um das Vorhandensein der bescheinigten Körperverletzung als solcher geht, sondern es darüber hinaus auf die Art der Verletzung ankommt, weil daraus nämlich „Rückschlüsse auf die Stärke des Angriffs und damit den Tötungs- oder nur Verletzungsvorsatz des Angekl. möglich“ sind.218 Damit wird implizit auf die Abgrenzung zwischen Tötungs- und bloßem Körperverletzungsvorsatz hingewiesen. Dabei handelt es sich unter dogmatischen Gesichtspunkten (bloß) um einen Unterfall der allgemeinen Abgrenzung des Eventualvorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit219, bei der es zu tatbestandsspezifischen Besonderheiten des bedingten Vorsatzes kommen kann, wozu insbesondere die Grenzziehung zwischen Körperverletzungs- und Tötungsvorsatz gehört220. In der Rechtsprechung hat sich diesbezüglich die sog. Hemmschwellentheorie entwickelt, wonach vor dem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle steht als vor dem Gefährdungs- oder 214

Vgl. statt aller bloß Lilie, in: LK, § 223 Rdnr. 9 m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. BGH NJW 1991, 2918, 2919. 216 BGHSt 4, 155, 156; BGH NJW 1980, 651. Etwas missverständlich ist in dieser Hinsicht RGSt 39, 286, 290, wonach im Rahmen einer Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung ungeachtet des eingetretenen (schweren) Verletzungserfolgs ein ärztliches Attest verlesen werden kann, weil „die sachverständige Feststellung deshalb nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, weil die Folge nicht ein Tatbestandsmerkmal bildet, sondern nur bei der Straf­ zumessung in Betracht kommt oder kommen kann“. Dass es überhaupt zu einer Körperverletzung gekommen ist, gehört aber ebenfalls zum Tatbestand des § 229 StGB. Vgl. zum Aspekt der Verlesbarkeit aus strafzumessungsrechtlicher Sicht aber sogleich noch oben im Text die Ausführungen zu den „verschuldeten Auswirkungen der Tat“. 217 Vgl. dazu im 1. Teil, 3. Kapitel unter I. 218 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1984, 211. 219 Überblick über die einzelnen Abgrenzungsversuche bei Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 96 ff., 102 ff. (Rspr.), 118 ff. (Schrifttum). 220 Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 110 ff. 215

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Verletzungsvorsatz.221 Im Übrigen wird eine Gesamtbetrachtung sämtlicher maßgeblicher Indizien bzw. der für und gegen bedingten Vorsatz sprechenden subjektiven und objektiven Umstände vorgenommen222, darunter die augenfällige Gefährlichkeit des Täterverhaltens223. Darüber wiederum wird die Art der Verletzung etwas aussagen (können), sodass aus materiell-strafrechtlicher Perspektive die Verlesung zu unterbleiben hat und vielmehr der Arzt als (sachverständiger) Zeuge zu vernehmen ist. Ganz auf dieser Linie liegt eine Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2007224, wonach sich die Verlesung eines ärztlichen Attests nicht mehr im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO bewegt, wenn „der Tatrichter seine Überzeugung vom Vorliegen eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes aus den in den Arztberichten mitgeteilten schweren inneren Verletzungen einschließlich des in Richtung Herz verlaufenen Stichkanals gewonnen hat“. Interdependenzen des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum materiellen Strafrecht zeigen sich ferner darin, dass mittelbare Folgen der Körperverletzung, wie Minderung der Erwerbsfähigkeit und voraussichtliche Heilungsmöglichkeit, verlesen werden können. Es handelt sich bei diesen mittelbaren Folgen um strafzumessungsrelevante Faktoren. Sie unterfallen den „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ im Sinne von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB. Dabei scheint es zwar auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein, dass die (täterbezogenen) „Ursachen der Verletzung“ – wie geschildert: zu Recht – nicht im Rahmen von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden dürfen, wohl aber die diesbezüglichen strafzumessungsrelevanten mittelbaren Folgen, obwohl von „verschuldeten Auswirkungen der Tat“ die Rede ist und damit – wie generell bei der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) – der konkrete Täter in den Blick zu nehmen ist. Bei näherer Betrachtung handelt es sich aber bloß um einen scheinbaren Widerspruch: Man muss nämlich zwischen der Frage trennen, ob es sich zunächst überhaupt um strafzumessungsrelevante „Auswirkungen der Tat“ – und damit um ein sozusagen tatbezogenes Kriterium – handelt, und erst auf der zweiten Ebene nach dem Verschulden des Täters fragen. Soweit es den ersten Aspekt betrifft, harrt zwar noch der Klärung, woran man dies festmachen will. Diskutiert wird insofern, ob

221 Vgl. dazu und zum Folgenden zusammenfassend BGHSt 57, 183 m. w. N. sowie zur Kritik an der Hemmschwellentheorie etwa Verrel, NStZ 2004, 309 ff. m. w. N. 222 s. dafür bloß Vogel, in: LK, § 15 Rdnr. 109 mit Rdnr. 65 sowie eingehend Schneider, in: MünchKommStGB, § 212 Rdnr. 4 ff., 10, 15 ff. (Fallgruppen) – jeweils m. w. N. zu Rspr. und Schrifttum. 223 Im Einzelnen ist insofern vieles streitig. Wenn man die umfangreiche sowie kaum noch über- und durchschaubare Rechtsprechungskasuistik durchforstet, lässt sie sich wie folgt zusammenfassen: Es genügt zwar nicht die bloße Inkaufnahme einer Lebensgefährdung, wie schon § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zeigt. Bei äußerst gefährlichen Verhaltensweisen liegt, ohne dass es gleich einen diesbezüglichen Erfahrungssatz geben würde, bedingter Tötungsvorsatz aber durchaus nahe. Vgl. die insofern einschlägigen Nachw. zur Rspr. bei Schneider, in: ­MünchKommStGB, § 212 Rdnr. 9 sowie Eser, in: Schönke/Schröder, § 212 Rdnr. 5. 224 BGH StV 2007, 569.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

es sich um regelmäßige Tatfolgen handeln muss225, wohingegen (außertatbestandliche) Folgen als „Auswirkungen der Tat“ auszuscheiden haben, wenn sie völlig außerhalb der verletzten Strafnorm liegen226. Ein diesbezüglicher Streit dürfte im Anwendungsbereich von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO aber kaum aufkommen. Jedenfalls ist eine (vorübergehende) Minderung der Erwerbsfähigkeit eine geradezu immanente mittelbare Folge von Körperverletzungen, sodass sie durch bloßes Ver­ lesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden kann, wohingegen die anschließende Frage, ob die (un-)mittelbaren Folgen der Tatbestandsverwirklichung vom Täter mindestens vorausgesehen werden konnten und diesem vorzuwerfen sind227, auf andere Weise, etwa durch dahingehende Einlassung des Angeklagten oder Indizien, geklärt werden muss. Insofern wirkt die unterschiedliche Handhabung von § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO keinesfalls beliebig oder sogar widersprüchlich, sondern lässt sich vor dem Hintergrund des materiellen Strafrechts in einem rationalen Sinne befriedigend erklären und rechtfertigen. cc) Fazit Als Fazit lässt sich festhalten, dass es Ansätze einer Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im Straf- wie im Strafprozessrecht gibt. Dies lässt es durchaus angezeigt erscheinen, den Gedanken weiter zu verfolgen, dass sich eine (denkbare) Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und damit eine Erweiterung seiner Ausnahmen bei tatbezogenen Merkmalen an eben dieser Unterscheidung orientieren und festmachen lässt. Freilich kann es mit dem Hinweis auf Beispiele nicht sein Bewenden haben. b) Sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen Vielmehr ist danach zu schauen, ob es einen sachlichen Grund dafür gibt, dass tatbezogene Merkmale im Rahmen des strafprozeduralen Unmittelbarkeitsgebots anders als täterbezogene Umstände behandelt werden könnten. Dabei versteht es sich von selbst, dass sich eine solche systemimmanente Lösung nicht von mehr oder minder sachfremdem Überlegungen, wie etwa (verfahrens-)ökonomischen Gründen leiten lassen darf, sondern sich zuvörderst an Sinn und Zweck von Unmittelbarkeit zu orientieren hat. 225

Fischer, § 46 Rdnr. 34; Miebach, in: MünchKommStGB, § 46 Rdnr. 94 ff. OLG Düsseldorf StV 2001, 233; Lackner/Kühl, § 46 Rdnr. 34; Stree/Kinzig, in: Schönke/ Schröder, § 46 Rdnr. 19; Horn, in: SK-StGB, § 46 Rdnr. 109 sowie – einschränkend – BGH NStZ 2002, 645 und StV 2003, 442 mit Anm. Meier. 227 BGHSt 37, 179, 180; BGH NStZ 1985, 453; StV 1987, 100; StV 1991, 64; StV 1997, 129; NStZ 2005, 156, 157; NStZ-RR 2006, 372; wistra 2006, 258. 226

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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Der erste Aspekt erschließt sich dabei nahezu von selbst, wenn man sich der dogmatischen Grundlagen erinnert und (nochmals) vergewissert. Die Prozess­ prinzipien nehmen anerkanntermaßen eine Mittlerfunktion zwischen den Funktionen und Zwecken des Strafverfahrens einerseits sowie den gesetzlichen Detailregelungen andererseits wahr.228 Wenn man sich wiederum den Zwecken des Strafprozesses nähert und zuwendet, stößt man auf die Achtung der Menschenwürde und Grundrechte des Beschuldigten als ein Ziel des Strafverfahrens.229 Von daher liegt es nahe, dass dieser Schutz – über das Unmittelbarkeitsprinzip im Rahmen seiner Mittlerfunktion – durch gesetzliche Detailregelungen im besonderen Maße gewährleistet sein muss, wenn es um täterbezogene Merkmale im vorliegend verstandenen prozessualen Sinne geht. Dagegen kann er etwas in den Hintergrund treten, wenn lediglich tatbezogene Umstände im Rahmen der prozessualen Aufklärung in Rede stehen. Der andere Aspekt, der es nahe legt bei einer Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne zu unterscheiden, ist eng mit Sinn und Zweck dieser Verfahrensmaxime verknüpft. Sie soll die Möglichkeit zur besseren Wahrheitserforschung durch eine bessere Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen und sonstigen Aussagepersonen eröffnen.230 Eine persönliche oder sonstige Beziehung eines Zeugen zum Täter spielt dabei im Rahmen der Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit anerkanntermaßen eine Rolle, wie schon die in der Sache gleichlautenden Vorschriften der §§ 68 Abs. 4 StPO, 395 Abs. 2 Satz 2 ZPO zeigen. Noch in anderer Hinsicht wird der Zeuge, der in einem persönlichen Verhältnis zum Täter steht, anders als jener Zeuge behandelt, der „bloß“ in Berührung mit der Tat steht. Während ersterer ein vollumfängliches Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 StPO hat, steht dem einer Straftat verdächtigen Zeugen bloß ein punktuelles Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO zu und darf im Übrigen nicht vereidigt werden (§ 60 Nr. 2 StPO). Als Fazit lässt sich festhalten, dass das geltende Recht die Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie deren Rechtsstellung überhaupt davon abhängig macht, ob sie in einer (persönlichen) Beziehung zum Täter bzw. Beschuldigten stehen, wohingegen ein bloßer Bezug zur Tat von der Rechtsordnung eher hingenommen wird. Freilich wäre es vermessen, nunmehr zu behaupten, dass man dabei die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Umständen im vorliegend verstandenen Sinne im Auge hat. Gleichwohl lassen die angeführten (gesetzlichen) Prämissen den Rückschluss zu, dass die Rechtsordnung mehr Obacht walten lässt, wenn es um täterbezogene Umstände in der Person des Zeugen geht. Dieser Gedanke wiederum kann auf seine Aussage und deren Inhalt dahingehend fortentwickelt werden, als dass eine Reform des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes und 228

s. im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. 1. Vgl. im 1. Teil, 2. Kapitel unter III. 230 Vgl. hierzu näher im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 229

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

die Schaffung entsprechender weiterer Ausnahmen davon eher bei tat-, dagegen weniger bei täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne angezeigt erscheint bzw. eine diesbezügliche Differenzierung und Unterscheidung jedenfalls sachliche Gründe für sich beanspruchen kann. c) Sachliche und/oder gesetzliche Kriterien für die Differenzierung Damit kommt geradezu zwangsläufig und unweigerlich die Frage auf, ob es sachliche und/oder gesetzliche Kriterien gibt, an denen sich die Unterscheidung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne festmachen lässt bzw. die Maßstab für eine gesetzliche Neuregelung liefern könnten. Im Ausgangspunkt kommen dabei verschiedene Anknüpfungspunkte in Betracht. Erst eine nähere Untersuchung wird aber zeigen (können), ob sie wirklich taugliche Abgrenzungskriterien liefern können. aa) Verbrechensaufbau als Orientierung Es liegt nahe, wenn man den strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz zuvörderst aus dem Blickwinkel des materiellen Strafrechts betrachten will, danach zu schauen, ob dieses taugliche Abgrenzungskriterien für die Unterscheidung von tat- und täterbezogenen Merkmalen bereithält. Zunächst könnte man insofern daran denken, sich am Verbrechensaufbau zu orientieren. Es wird bei näherer Betrachtung aber relativ schnell deutlich, dass es sich dabei um einen untauglichen Versuch handelt. Keinesfalls enthält etwa der objektive Tatbestand durchweg tatbezogene Merkmale im – vorliegend verstandenen – prozessualen Sinne. Dies zeigt sich schon bei den Mordmerkmalen. Ausschließlich tatbezogen ist lediglich das Merkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“, wohingegen man für Heimtücke verlangt, dass man aus einer feindseligen Willensrichtung heraus tötet.231 „Grausam“ wiederum tötet, wer seinem Opfer in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke und Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen.232 Ohne subjektiven Einschlag 231

BGHSt 9, 385, 390; 11, 139, 143; 30, 105, 119; 37, 376, 377 f.; Lackner/Kühl, § 211 Rdnr. 6a; Jähnke, in: LK, § 211 Rdnr. 46; Sinn, in: SK-StGB, § 211 Rdnr. 53; Fischer, § 211 Rdnr. 44a; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdnr. 45. Schneider, in: ­MünchKommStGB, § 211 Rdnr. 191 spricht insofern von einer „erstaunlichen Verengung des subjektiven Tat­ bestandes“. 232 BGHSt 3, 180, 181; BGH NJW 1971, 1189, 1190; NJW 1986, 265, 266; Lackner/ Kühl, § 211 Rdnr. 10; Jähnke, in: LK, § 211 Rdnr. 55; Sinn, in: SK, § 211 Rdnr. 43; Fischer, § 211 Rdnr. 56; Maurach/Schroeder/Maiwald, BT 1, § 2 Rdnr. 47 sowie krit. Schneider, in: ­MünchKommStGB, § 211 Rdnr. 130.

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(feindliche Willensrichtung bzw. gefühllose, unbarmherzige Gesinnung) kommen die sog. tatbezogenen Mordmerkmale der Heimtücke und Grausamkeit von daher nicht aus. Bei den Sonderdelikten wäre, um ein weiteres Beispiel zu bringen, die Tätereigenschaft (als Amtsträger und Garant) ohne Zweifel ein täterbezogener Umstand im prozessualen Sinne. Schlussendlich wurde schon andererorts aufgezeigt, dass es in vielfäliger Hinsicht subjektive Elemente im objektiven Tatbestand gibt.233 Ein Teil des Schrifttums nimmt etwa eine subjektive Interpretation bei § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB vor.234 Die Rechtsprechung hat im Einzelfall ebenfalls schon die (vermeintliche) Grenze zwischen objektivem und subjektivem Tat­ bestand nivelliert, und zwar beim sog. Insertionsoffertenbetrug, bei dem eine inhaltlich zutreffende Erklärung ausnahmsweise unter das tatbestandsmäßige Verhalten im Sinne von § 263 StGB fällt, „wenn der Täter die Eignung der – inhaltlich richtigen – Erklärung, einen Irrtum hervorzurufen, planmäßig einsetzt und damit unter dem Anschein ‚äußerlich verkehrsgerechten Verhaltens‘ gezielt die Schädigung des Adressaten verfolgt, wenn also die Irrtumserregung nicht die bloße Folge, sondern der Zweck der Handlung ist“.235 Die Beispiele lassen sich sicher fortsetzen. Keinesfalls ist der objektive Tatbestand damit ausschließlich tatbezogenen Merkmalen (im prozessualen Sinne) vorbehalten. Der subjektive Tatbestand hat ebenfalls nicht ausschließlich täterbezogene Aspekte zum Inhalt, jedenfalls wenn man „rechtswidrig“ in § 242 StGB im Sinne der h. M. dahingehend versteht, dass es in objektiver Hinsicht keinen einredefreien, fälligen Anspruch auf Übereignung der weggenommenen Sache gibt.236 Dabei handelt es sich um ein tatbezogenes Merkmal im prozessualen Sinne. Bereits im Tatbestand ist von daher mit der Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Tatbestand keinesfalls eine Differenzierung nach tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne verbunden. Gleiches ist bei Rechtswidrigkeit und Schuld zu beobachten: Die Rechtswidrigkeitsebene enthält mit den Rechtfertigungsgründen nicht bloß objektive und damit tatbezogene Umstände. Jedenfalls wenn man mit der vorherrschenden und inzwischen kaum noch ernsthaft bestrittenen Auffassung ein subjektives Rechtferti-

233

Vgl. etwa Stübinger, Puppe-Festschrift, S. 263 ff.: „subjektiv-objektive“ Tatbestandsmerkmale. Schünemann, NStZ 2008, 430, 433 begegnet der „Einfügung subjektiver Dispositionen des Täters in den objektiven Tatbestand“ aus strafrechtssystematischer Sicht ebenfalls ohne prinzipielle Bedenken. Gewisse Vorbehalte hat dagegen offenbar Jahn, JuS 2010, 1119, 1120. 234 s. hierzu umfassend Krüger, JA 2009, 190 ff. 235 BGHSt 47, 1, 5. 236 Vgl. aus der Rspr. grundlegend BGHSt 17, 87, 89 sowie aus dem Schrifttum etwa Eser/ Bosch, in: Schönke/Schröder, § 242 Rdnr. 59; Hoyer, in: SK-StGB, § 242 Rdnr. 102; Schmitz, in: MünchKommStGB, § 242 Rdnr. 161; Kindhäuser, in: NK, § 242 Rdnr. 116; Lackner/Kühl, § 242 Rdnr. 27; Fischer, § 242 Rdnr. 50. Die Gegenansicht versteht „rechtswidrig“ dagegen als bloßen deklaratorischen Hinweis des Gesetzgebers auf das allgemeine Verbrechensmerkmal der Rechtswidrigkeit, vgl. dazu etwa Hirsch, JZ 1963, 149, 156.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

gungselement verlangt237, wird deutlich, dass es sich dabei um ein täterbezogenes Merkmal im vorliegend verstandenen Sinne handelt. Auf der Schuldebene gibt es umgekehrt nicht bloß täterbezogene Umstände. Im Ausgangspunkt ist Schuld indes in der Tat etwas Höchstpersönliches, wie de lege lata schon § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB zeigt und sich in der Sache nicht besser als mit dem berühmten Plenarbeschluss BGHSt 2, 194, 200 umschreiben lässt: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden […]. Voraus­setzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut.“

In dieser Hinsicht könnte man dem Gedanken verfallen, dass die Schuldebene ausschließlich täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne vorbehalten ist. Mitnichten ist es aber der Fall. Die Notstandslage in § 35 StGB wäre als tatbezogenes Merkmal im prozessualen Sinne zu interpretieren, sodass sich auf der Schuldebene nicht ausschließlich täterbezogene Umstände finden (lassen). Von daher hat sich der Verbrechensaufbau insgesamt als untaugliches Abgrenzungskriterium erwiesen. Er lässt eine saubere Trennung zwischen tat- und täterbezogenen Merk­ malen im prozessualen Sinne nicht zu. bb) Maßstab des § 28 StGB Als nächstes gerät insofern § 28 StGB in den Blick. Er ist aber ebenfalls unbrauchbar, wie es relativ schnell deutlich wird. Er stellt auf „besondere persön­ liche Merkmale“ ab. Andere persönliche Merkmale (allgemeiner Natur) und damit zweifelsohne täterbezogen im – vorliegend verstandenen – prozessualen Sinne, wie etwa Vorsatz und/oder Zueignungs- bzw. Bereicherungsabsicht, werden von 237 Vgl. hierfür statt aller bloß Rönnau, in: LK, 12. Aufl., Vor § 32 Rdnr. 82 m. w. N. in Fn. 295. Die Argumente im Streit um das subjektive Rechtfertigungselement sind bekannt, sodass er an dieser Stelle nicht erneut aufgerollt werden soll, wenngleich eine Bemerkung gestattet sei. Die (Minder-)Meinung, die auf ein subjektives Rechtfertigungselement verzichtet, wirft der h. M. vor, dass sie einem Dieb, der als solcher nicht erkannt, gleichwohl aber attackiert wird, Notwehr gegen die Attacke gewähren müsste (Spendel, in: LK, 11. Aufl., § 32 Rdnr. 143). Dieses Argument spricht aber nicht zwangsläufig für diese Ansicht. Zu denken wäre nämlich an eine normativ-sozialethisch gebotene Einschränkung des Notwehrrechts, weil der Dieb seine „Notwehrlage“ durch seinen vorherigen Angriff in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat (vgl. in dieser Richtung Geppert, JURA 1995, 103, 106 m. w. N. in Fn. 45).

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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der Vorschrift dagegen nicht erfasst.238 Damit ist zugleich gesagt, dass die Vorschrift kein taugliches Mittel bei der Abgrenzung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne sein kann. cc) Fazit Gesetzliche Kriterien, an denen sich die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne abstrakt-generell festmachen lassen könnte, lassen sich von daher nicht ausmachen. Ein Problem besteht darin nicht, wenn man sich jedenfalls der damit verbundenen sachlichen Unterscheidung bewusst ist. Ersterenfalls handelt es sich um die (gesetzlichen) Merkmale einer Straftat, die ohne Bezug zu einem konkreten Beschuldigten, sozusagen in einem Strafverfahren gegen Unbekannt, festgestellt werden (können), wohingegen er für die Feststellung der täterbezogenen Merkmale unabdingbar ist. Solange man sich dieses Inhalts klar ist, kann der Makel, dass die Rubrifizierung als tat- und täter­ bezogene Merkmale vor dem Hintergrund von §§ 211, 28 StGB möglicherweise inkonsumerabel besetzt ist, sicher hingenommen werden, von der Frage, ob sich ein anderes griffiges Begriffspaar finden lässt, einmal völlig abgesehen. Einstweilen und für vorliegende Zwecke kann jedenfalls (weiterhin) vom Begriffspaar der tat- und täterbezogenen Merkmale im prozessualen Sinne die Rede sein. d) Umsetzung der Differenzierung Nachdem sich gezeigt hat, dass die Differenzierung zwischen tat- und täter­ bezogenen Merkmalen im Rahmen von (Reform-)Überlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz durchaus zu überzeugen weiß, stellt sich nunmehr die Frage, in welcher Weise die Unterscheidung konkret umzusetzen ist bzw. wäre. Dabei muss zwischen der Ebene des geltenden Rechts und gesetzgebe­ rischen Reformen unterschieden werden. aa) Umsetzung de lege lata Die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne lässt sich durchaus bereits auf der Ebene des geltenden Rechts vornehmen, und zwar insbesondere im Rahmen von § 251 StPO. Sämtliche Verle 238

Schünemann, in: LK, § 28 Rdnr. 63 m. w. N. Wenn man im Rahmen von § 28 StGB zuweilen zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen differenziert, dient dies zur besseren begrifflichen Unterscheidung und sachlichen Differenzierung im Rahmen von § 28 StGB (Nachw. und Kritik dazu bei Schünemann, a. a. O., Rdnr. 32 f.), schlägt aber nicht auf die vorliegend vorgenommene Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmale im prozessualen Sinne durch, sondern muss vielmehr im ausschließlichen Kontext mit § 28 StGB gesehen werden.

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

sungsmöglichkeiten stehen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts („kann“).239 Insofern wäre in die ohnehin vorzunehmende Abwägung als zusätzlicher Faktor noch einzustellen, ob die Verlesung der Klärung eines tat- oder täterbezogenen Merkmals im vorliegend verstandenen Sinne dient. Dies führt dazu, dass bei einem tatbezogenen Merkmal die Verlesung – bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen – eher möglich ist, wohingegen die Verlesung bei täter­bezogenen Merkmalen selbst bei allseitigem Einverständnis der Verfahrensbeteiligten zu Recht unterbleiben kann und stattdessen der Zeuge unmittelbarpersönlich vernommen wird. bb) Umsetzung de lege ferenda Der Gesetzgeber ist dagegen aufgerufen, wenn er die Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne verstärkt im Recht verankern will. Dabei bieten sich wiederum verschiedene Möglichkeiten an. Er kann auf eher behutsame Weise im Sinne einer „kleinen Reform“ die Differenzierung in §§ 250, 251 StPO verankern. Er kann aber ebenso zum großen Wurf ausholen. Eine solche „große Reform“ könnte die abschließende Behandlung der tatbezogenen Merkmale im Ermittlungsverfahren zum (End-)Ziel haben, vielleicht verbunden mit der Möglichkeit, eine Öffnungsklausel für neue Beweismittel in der Hauptverhandlung zu implementieren, wofür man sich an § 359 Nr. 5 StPO (Wieder­aufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens bei Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel) orientieren könnte, wenn die abschließende Behandlung tatbezogener Umstände im Ermittlungsverfahren als zu radikal angesehen wird. Es versteht sich von selbst, dass vorliegend nicht sämtliche (redaktionelle Folge-)Änderungen bedacht werden (können), zumal sie unterschiedlich ausfallen würden, je nachdem ob man sich für die große oder die kleine Reform entscheidet. Die „große Reform“ etwa müsste in eine komplette Neuregelung des Ermittlungsverfahrens eingebettet werden. Dabei hätte man sich, will man bei der abschließenden Behandlung bestimmter tatbezogener Merkmale die Rechte des Beschuldigten nicht zu kurz kommen lassen, der Frage zu stellen, ob es partizipatorisch auszugestalten ist.240 Ferner müsste man sich überlegen, wie es um diese Merkmale im Zwischenverfahren bestellt ist, inwiefern etwa Schöffen daran (durch ein – partielles – Akteneinsichtsrecht) zu beteiligen sind und wie man sie in die 239 Dabei wurde schon an früherer Stelle aufgezeigt, dass Maßstab dieses Ermessens nicht zwangsläufig § 244 Abs. 2 StPO sein muss [s. dazu im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 1. c) bb)], sondern sich vielmehr an Sinn und Zweck der (Prozess-)Vorschrift orientieren kann und damit an der Durchsetzung und Anwendung des materiellen Strafrechts. 240 Vgl. hierzu aus dem kaum noch überschauberen Schrifttum bloß Salditt, StV 2001, 311 ff.; Schlothauer/Weider, StV 2004, 504 ff.; Vogel, JZ 2004, 827 ff. – jeweils m. w. N. – sowie noch §§ 168f, 169b ff. AE-EV.

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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Hauptverhandlung transferiert, wofür es wegen § 261 StPO einer Regelung bedarf, will man nicht diese Vorschrift selbst ändern. Dagegen wiederum spricht, dass es sich dabei um einen tragenden Grundsatz unseres Strafverfahrensrechts handelt, der sich – anders als die gesetzliche Ausprägungen des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes – als änderungsresistent erwiesen hat und von daher unverändert bleiben sollte, zumal mögliche unmittelbare und mittelbare Konsequenzen einer Änderung von § 261 StPO nicht absehbar wären. Die „kleine Reform“ lässt sich dagegen ohne größere Folgeänderungen vollziehen und könnte sich von daher für den Gesetzgeber als rechtspolitisch geeigneter erweisen, und sei es bloß als Übergangslösung auf dem Weg zur „großen Reform“. Unabhängig davon, ob überhaupt und zu welcher Reform sich der Gesetzgeber aber entschließen sollte, müsste es zu einer gesetzlichen Regelung der sachlichen Differenzierung von tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne kommen, die präjudizierend für weitere (redaktionelle) Folgeänderungen wäre. Darauf wäre das Hauptaugenmerk zu legen, wie es in den folgenden Ausführungen ebenfalls getan werden soll. e) Vorschlag für eine gesetzliche Regelung der Differenzierung Wenn sich der Gesetzgeber für eine (grundlegende) Reform des strafprozes­ sualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf Basis der Unterscheidung von tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne entscheiden würde, müsste es zwangsläufig zu einer gesetzlichen Regelung dieser Differenzierung kommen, und zwar unabhängig davon, ob er im vorstehenden Sinne zum „großen Wurf“ ausholt oder bloß den „kleinen Wurf“ vollzieht. Ein Lösungsvorschlag in dieser Hinsicht sollte von daher, will er die rechtspolitische „Feuerprobe“ bestehen, mit einem Gesetzgebungsvorschlag verbunden werden. Dabei müsste man sich zunächst überlegen, in welcher gesetzlichen Vorschrift man die Differenzierung de lege lata loziert. Im Ausgangspunkt kommen dafür zwei Normen in Betracht. Entweder man schafft einen (neuen) § 250 Abs. 2 StPO, worin die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Pro­ tokolls oder einer schriftlichen Erklärung für den Fall erlaubt wird, dass sie der Klärung eines tatbezogenen Merkmals im prozessualen Sinne dient. Die andere Möglichkeit besteht darin, diese Ausnahme in § 251 StPO zu verankern. Wenngleich es durchaus Gründe gibt, eine Regelung in § 250 StPO vorzunehmen, sprechen im Ergebnis die überzeugenderen Argumente dafür, es in § 251 StPO zu tun. Gegen eine Regelung der Differenzierung in § 251 StPO und stattdessen für eine Lozierung derselben in § 250 StPO würde sprechen, dass sie in dogmatischer Hinsicht vorzugswürdiger erscheint. Die Ausnahmen in § 251 StPO lassen sich kaum auf eine gemeinsame Ratio zurückführen. Vielmehr wirken sie einigermaßen beliebig. Dagegen beansprucht die Differenzierung in tat- und täterbezogene Merk-

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

male – von ambivalenten Umständen zunächst noch abgesehen – für sich, konsistent zu sein. Dies würde bei einer Regelung in § 251 StPO unterzugehen drohen. Wenn man sie demgegenüber in § 250 StPO vornehmen würde, wäre sie (für den Rechtsanwender) deutlicher sichtbar. Überdies steht zu befürchten, dass § 251 StPO immer wieder Reformen und Änderungen erfahren wird. Die Befürchtung, dass dabei die Differenzierung wieder „unter die Räder kommen“ würde, lässt sich von daher nicht völlig leugnen. Diese Gefahr besteht dagegen bei § 250 StPO von vornherein nicht, weil er seit der Verabschiedung der Reichsjustizgesetze – nahe­ zu241 – unverändert geblieben ist. Dieses Argument liefert aber gerade einen entscheidenden Einwand gegen eine gesetzliche Regelung der Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne in § 250 StPO. Weil er sich – ebenso wie § 261 StPO – als weitestgehend veränderungsresistent erwiesen hat, sollte man es dabei belassen, zumal nicht abzusehen ist, ob die Neuregelung nicht einer späteren Korrektur bedarf. Wenn man diese in § 250 StPO vornehmen müsste, besteht immer die Gefahr, dass der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz erneut in grundsätzlicher Hinsicht diskutiert werden würde, während man sich bei Änderungen des § 251 StPO davon eher befreien kann. Aus eher pragmatischen Gründen sollte der Gesetzgeber angesichts dessen, wenn er sich für eine Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne entscheiden sollte, eine gesetzliche Regelung derselben in § 251 StPO präferieren. Diese wiederum sollte, weil sie, wie soeben geschildert, nicht derart beliebig wirkt, wie die sonstigen Ausnahmen vom strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz in § 251 StPO, innerhalb dieser Vorschrift an prominenter und herausgehobener Stelle loziert werden. Von daher sollte es als neue Nr. 1 in § 251 Abs. 1 StPO erfolgen. Zugleich wäre § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO zu streichen, weil er sich zu einem tatbezogenen Merkmal im prozessualen Sinne äußert. Wenn diese eine umfassende Regelung erfahren würde, wäre sie konstitutiv und § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO allenfalls noch deklaratorischer Natur, sodass er ersatzlos wegfallen könnte. Von daher könnte § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO-E schlicht wie folgt gefasst werden: „1. soweit es tatbezogene Merkmale betrifft; […].“

Das „es“ würde sich dabei sprachlich auf „die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer Urkunde“ in der – unverändert bleibenden – Einleitung des § 251 Abs. 1 StPO zurückbeziehen, sodass darauf in § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO-E verzichtet werden könnte. Eine abschließende Definition der tatbezogenen Merkmale im prozessualen Sinne könnte zwar im Gesetzestext selbst nicht unmittelbar erfolgen, weil sie sich, wie soeben geschildert, einer solchen entziehen. In dieser Hinsicht würde es aber 241 Er erfuhr lediglich eine eher redaktionelle Änderung, während er im Original wie folgt lautete: „Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist letztere in der Hauptverhandlung zu vernehmen. […].“

11. Kap.: Sachliche Überlegungen

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genügen, wenn der Gesetzgeber in den Motiven darauf hinweist, wie tatbezogene Merkmale insbesondere in Abgrenzung zu täterbezogenen Umständen zu verstehen wären. Schließlich werden solche Hinweise – im Rahmen der historischen Auslegung242 – anerkanntermaßen „von Kommentatoren und der Rechtsprechung als Quelle für die Auslegung […] bevorzugt benutzt und haben deshalb große Chance, sich durchzusetzen“243. Insofern würde zu erwarten stehen, dass sich die Rechtsanwendung daran halten würde. Die genaue Einteilung beider Gruppen und die Einordnung bestimmter einzelner gesetzlicher Merkmale von Straftatbeständen könnte der Gesetzgeber insofern der weiteren Klärung durch Wissenschaft und (Revisions-)Rechtsprechung überlassen. Damit dürfte seinerseits Genüge getan sein. Um es für den Rechtsanwender etwas plastischer zu machen, könnte es sich freilich anbieten, anstatt den bisherigen § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO gänzlich zu streichen, diese Vorschrift in der Form im neuen § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO-E aufgehen zu lassen, als dass Schadenseintritt und -umfang beispielhaft als tatbezogene Merkmale genannt werden. Für diesen Fall müsste § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO-E wie folgt lauten: „1. soweit es tatbezogene Merkmale betrifft, insbesondere das Vorliegen oder die Höhe eines Vermögensschadens; […].“

In sachlicher Hinsicht würde sich dadurch, wie soeben ausgeführt, nichts ändern, wohingegen Folgendes noch in jedem Falle zu bedenken wäre. Der Gesetzgeber sollte in den Motiven einer Änderung des § 251 StPO zugleich einen Appell an den künftigen Strafgesetzgeber richten, dass er sich bei der Schaffung neuer Straftatbestände der Zweiteilung in prozessualer Hinsicht erinnert und bereits in den Gesetzesmaterialien von neuen Strafvorschriften zu erkennen gibt, wie er es insofern zu halten gedenkt. Schließlich werden solche Hinweise – im Rahmen der historischen Auslegung244 – anerkanntermaßen „von Kommentatoren und der Rechtsprechung als Quelle für die Auslegung […] bevorzugt benutzt und haben deshalb große Chance, sich durchzusetzen“245. Insofern wird eine – in der gesetzlichen Formulierung durchaus etwas vage – Differenzierung in tat- und täter­ bezogene Merkmale im prozessualen Sinne über kurz oder lang für die Praxis handhabbar. Einer speziellen Regelung, um zu einem weiteren Punkt zu kommen, für ambivalente Merkmale, sprich solcher Umstände, die sich nicht eindeutig in die Kategorien von tat- bzw. täterbezogen einordnen lassen, wie etwa der Kausalität von mehreren erfolgsgeeigneten Handlungen verschiedener potenzieller Täter für den konkret eingetretenen Erfolg, bedarf es bei dem vorstehenden Gesetzgebungs­ 242

s. zu deren beiden Aspekten bloß Krüger, JA 2008, 492, 495. Kühl, Weber-Festschrift, S. 413, 424. 244 s. zu deren beiden Aspekten bloß Krüger, JA 2008, 492, 495. 245 Kühl, Weber-Festschrift, S. 413, 424. 243

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5. Teil: Reformüberlegungen zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz 

vorschlag nicht. Seine Formulierung gibt eindeutig zu erkennen, dass er sich bloß auf ausschließlich tatbezogene Merkmale im prozessualen Sinne bezieht, sodass er bei sonstigen Umständen nicht zur Anwendung kommen würde, sondern es vielmehr bei den bisherigen Ausnahmefällen des § 251 StPO verbleibt. Insofern halten sich – von den angedeuteten (redaktionellen) Folgeänderungen einer „großen Reform“ einmal abgesehen – die erforderlichen gesetzgeberischen Eingriffe, um die sachliche Differenzierung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne geltendes Recht werden zu lassen, in überschaubaren Grenzen. Ob darin neben den sachlichen Aspekten ein weiterer (rechtspolitischer) Reiz der vorgeschlagenen Lösung liegt, bleibt der Beurteilung durch die (rechts-)politischen Akteure vorbehalten.

Zusammenfassung Eine Untersuchung zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz hat sich zunächst mit dogmatischen Grundlagen des Strafverfahrensrechts zu befassen. Dabei muss sich in einem ersten Schritt der Funktionen von Verfahrensprinzipien bewusst gemacht werden.1 Sie dienen der Strukturierung und besseren Erfassung des Strafverfahrens, indem sie – gleichsam einer Brücke – die Verbindung zwischen dem übergeordneten Verfahrensziel des Strafprozesses und der dafür erforderlichen Vielfalt notwendiger Detailregelungen herstellen.2 Insofern ist die Rede von Grundsätzen mittlerer Reichweite und der Mittlerfunktion von Prozessmaximen zwischen Verfahrensziel und (gesetzlicher) Detailaussage. Es handelt sich um „vorwiegend als inhaltliche Konstitutionsprinzipien mittlerer Reichweite des jeweiligen Verfahrensrechts zu verstehende Prozessmaximen“3, wie es etwa Rieß sehr anschaulich und plastisch formuliert hat. Weitergehende Betrachtungen in dieser Hinsicht zeigen, dass Unmittelbarkeit diese Mittlerfunktion wahrnimmt, wohingegen andere Ziele des Strafverfahrens scheinbar ohne Einfluss auf seine Handhabung de lege lata et ferenda sind oder aber in dieser Hinsicht jedenfalls bislang nicht genannt werden. Soweit es Erforschung und Ermittlung von Wahrheit betrifft4, nimmt der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz diese, seine Mittlerfunktion dadurch wahr, als dass er die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person (besser) ermöglicht5, woran – entgegen anders lautender Stimmen – festzuhalten ist, jedenfalls de lege lata vom Gesetzgeber festgehalten wird6. In anderer Hinsicht scheint er eine solche Mittlerfunktion nicht zu haben. Obwohl man – mit unterschiedlichen Gewichtungen und Nuancen – die Verwirklichung des materiellen Strafrechts durchweg als einen Sinn und Zweck des Strafverfahrens(rechts) ansieht7, wird die Unmittelbarkeits­maxime insofern nicht weiter bemüht bzw. thematisiert. Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Rechts zu sichern, obliegt aber nicht bloß dem Strafprozess(recht). Dieser Gedanke beherrscht nicht minder die anderen Verfahrensordnungen. Im Übrigen handelt es sich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen keinesfalls um eine ausschließ 1

Vgl. dazu im 1. Teil, 1. Kapitel unter I. Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382; Kühne, in: LR, Einl., Abschn. I Rdnr. 1. 3 Rieß, Rebmann-Festschrift, S. 381, 382 ff., 385. 4 Vgl. dazu im 1. Teil, 2. Kapitel unter II. 5 s. hierzu im 1. Teil, 3. Kapitel unter II. 6 Vgl. dafür im 5. Teil, 11. Kapitel unter I. 7 Vgl. dazu im 1. Teil, 2. Kapitel unter I. 2

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Zusammenfassung

lich Strafgerichten vorbehaltene Aufgabe. Von daher liegt es nahe, sich einmal in Rechtsprechung und Schrifttum zu anderen Gerichtszweigen danach umzutun, ob und in welchem Umfang sie vom Unmittelbarkeitsgedanken beherrscht sind, insbesondere in welcher Vorschrift er de lege lata seine Verankerung im jeweiligen Verfahrensrecht erfahren hat.8 Dieser Punkt ist bei der Untersuchung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes bislang deutlich zu kurz gekommen. Ein prozessordnungs- bzw. verfahrensübergreifender Ansatz fördert dabei zu Tage, dass Unmittelbarkeit – formell wie materiell – in sämtlichen Verfahrens­ ordnungen zum Tragen kommt. Primär erfolgt es über die Beweiswürdigung, wohingegen die Frage, ob der entsprechende Gerichtszweig von der Partei- und Dispositionsmaxime oder vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht ist, insofern ohne Belang bzw. von jedenfalls untergeordneter Bedeutung ist. Dies sieht sich durch weitere Betrachtungen zur materiellen Unmittelbarkeit im Strafprozess bestätigt.9 Während historische wie systematische Gründe dagegen sprechen, sie als de lege lata in § 244 Abs. 2 StPO loziert anzusehen, führen Überlegungen zu § 261 StPO dazu, materielle Unmittelbarkeit darin als revisiblen Erfahrungssatz verankert anzusehen. Ausgehend von der – in anderen Verfahrensordnungen und im Bewusstsein des diesbezüglichen Schrifttums stärker verankerten – Erkenntnis, dass das Verfahrensrecht zwar nicht auschließlich, wohl aber zuvörderst der Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen hat, wird in einem abschließenden Teil noch aufgezeigt, wie das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip seine Mittlerfunktion in dieser Hinsicht de lege lata et ferenda stärker als bislang wahrnehmen könnte. Dabei wird – basierend auf Überlegungen zu §§ 251, 256 StPO – eine Unterscheidung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne aufgezeigt.10 Ersterenfalls handelt es sich um die (gesetzlichen) Merkmale einer Straftat, die ohne Bezug zu einem konkreten Beschuldigten, sozusagen in einem Verfahren gegen Unbekannt, festgestellt werden können, wohingegen er für die Feststellung der täterbezogenen Merkmale unabdingbar ist. Solange man sich dieses Inhalts klar ist, kann der Makel, dass die Rubrifizierung als tat- und täterbezogene Merkmale vor dem Hintergrund von §§ 211, 28 StGB möglicherweise inkonsumerabel besetzt ist, sicher hingenommen werden, von der Frage, ob sich ein anderes griffiges Begriffspaar finden lässt, einmal völlig abgesehen. Die Untersuchung hat mehrfach gezeigt, dass Begrifflichkeiten der sach­ lichen Durchdringung diverser Probleme zuweilen eher hinderlich sind, sodass die Etikettierung und Rubrifizierung mit einem Begriffspaar von untergeordneter bzw. nebensächlicher Bedeutung ist, solange man sich in der Sache der inhaltlichen Differenzierung bewusst ist. 8

s. hierfür im 3. Teil, 7. Kapitel unter I. sowie im 4. Teil, 9. Kapitel unter I. bis III. Vgl. dazu im 4. Teil, 9. Kapitel unter IV. 2. 10 Vgl. im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 4. 9

Zusammenfassung

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Abschließend wird noch die Umsetzung dieser Differenzierung im (zukünftigen) Recht aufgezeigt. Zunächst wird dabei klargestellt, dass höherrangiges Recht einer diesbezüglichen Reform nicht entgegensteht. Gleichsam historische wie systematische Gründe sprechen dagegen, einen (besonderen) strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz unmittelbar verfassungs- bzw. konventionsrechtlich zu verankern.11 Bei der Implementierung der Unterscheidung zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen im prozessualen Sinne gilt es schlussendlich noch zu bedenken, dass sie bereits im geltenden Recht erfolgen kann12, überdies aber gesetzgeberische Reformen erforderlich macht. Dabei gibt es je nach Umfang der Reform – oder nach dem diesbezüglichen Mut des Reformgesetzgebers – unterschiedlichste Folgerungen und Konsequenzen zu beachten.13 Für die „kleine Lösung“ wird dabei ein Gesetzesvorschlag präsentiert, wohingegen weitergehende Reformen noch eingehenderer Untersuchungen bedürften. Die diesbezüglich gegebenen Hinweise verstehen sich als erste Schritte auf diesem (sehr weiten) Weg. Als Fundament fußen sie aber in jedem Falle darauf, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz seine Berechtigung hat und von daher, um ein geflügeltes Wort von Eser aufzugreifen14, nicht auf der „Müllhalde“ der Strafrechtsgeschichte entsorgt ­gehört. In dieser Hinsicht verstehen sich die vorstehenden Überlegungen als behutsame Fortentwicklung des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Rahmen seiner Mittlerfunktion zwischen gesetzlicher Detailaussage und Aufgabe des Strafverfahrens unter Beachtung eben dieser – materiellrechtsfreundlichen und dienenden – Funktion des Strafverfahrensrechts. Insofern handelt es sich eher um ein Plädoyer auf das Unmittelbarkeitsprinzip, keinesfalls aber um seine Sterbe­ urkunde.

11

Näher dazu im 5. Teil, 10. Kapitel. s. im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 4. d) aa). 13 Vgl. dazu im 5. Teil, 11. Kapitel unter II. 4. d) bb). 14 Eser, ZStW 104 (1992), 361, 395 f. 12

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Sachverzeichnis Abgeordneter  67 ff. Abwesenheit –– Sachverständiger  112 ff. –– Zeuge  88 ff., 95 ff., 144 ff., 200 ff., 235 ff. Akteneinsichtsrecht von Schöffen  173 ff. Amtsaufklärungspflicht  90 ff., 107, 112, 117, 242 ff., 247, 249, 253, 258 ff. Anklagevorwurf  102, 117 ff. ärztliche Atteste  114 ff., 344 ff. Aussageverhalten  311 ff., 317 ff. Behörde  80 ff., 108 ff., 204, 231 Berufung  181 ff. Beweisantrag  203, 213, 219 Beweisaufnahme  56 ff., 127 ff., 235 ff., 248 ff. Beweiswürdigung  60 ff., 65, 130 ff., 163 ff., 220 ff., 245 ff., 255 ff., 279 ff. blinder Richter  314 ff., 317 ff. Blutalkoholkonzentration 122 Bundespräsident  67 ff. Constitutio Criminalis Carolina  48, 332 DDR  32 ff. ehrenamtliche Richter siehe Schöffen Erfahrungssätze  282 ff. Ermittlungsverfahren siehe Vorverfahren freiwillige Gerichtsbarkeit  248 ff. Funktionen des Strafverfahrens  40 ff. Glaubhaftigkeit  92, 313 ff., 317 ff. Glaubwürdigkeit –– Beurteilung  60 ff., 76 ff., 92, 311 ff. –– non-verbales Verhalten  313 ff. Grundrechte  53 ff., 292 ff. Gutachten –– einer Behörde  109 ff. –– bzgl. Glaubwürdigkeit  323 ff. –– eines Sachverständigen  112

Haftsachen  185 ff. Handelsrichter  149 ff. Heilung  154 ff. Hinweispflicht 219 Konfrontationsrecht 307 Kosten(aufwand) 88, 93, 109, 112, 115, 146 Laienrichter siehe Schöffen Lüge  318 ff. Lügendetektor  316 f. Menschenrechtskonvention  306 ff. Menschenwürde  53 ff., 302 Mündlichkeitsgrundsatz 22 non-verbales Verhalten siehe Glaubwürdigkeit NS-Zeit  30 ff., 47 öffentliche Behörde siehe Behörde Offizialmaxime  218, 240 Offizialverfahren  160 f. Opferzeugen  97 ff. Parteimaxime  217 f. Polizei  276 f. Polygraph siehe Lügendetektor Prozessmaximen –– DDR  32 ff. –– Funktionen  27 ff. –– klassische vs. verfassungsrechtliche~  38 ff. –– NS-Zeit  30 ff. –– rechtspolitische Dimension  29 ff. Sachkunde  113 f., 118, 152, 321, 326 ff. Sachverständiger  112 ff. Schöffen  173 ff., 264 ff. Schriftstück –– Anstiftung  336 f. –– Beleidigung  268 f., 335 f.

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Sachverzeichnis

–– Betrug 338 Selbstleseverfahren 179 Strafbefehlsverfahren  24, 51 f. Tonbandaufnahme  21, 95 Unmittelbarkeit –– Ausnahmen  66 ff., 143 ff. –– formelle ~  125 ff. –– freiwillige Gerichtsbarkeit  248 ff. –– Funktionen  55 ff. –– Geschworenengerichte  264 ff. –– materielle ~  194 ff. –– Strafprozess  170 ff., 258 ff. –– Verwaltungsprozess  230 ff. –– Zivilprozess  132 ff., 198 ff. Urkundenbeweis  214, 233 Verfahrensmaxime siehe Parteimaxime Verfahrensprinzipien siehe Prozessmaximen

Verlesung –– von ärztlichen Attesten  114 ff. –– von Behördenerklärungen  109 ff. –– von Routinegutachten  122 –– von Sachverständigengutachten  112 f. Vernehmungspsychologie  313 ff., 317 ff. Verwaltungsprozess siehe Unmittelbarkeit Videovernehmung  95 ff., 316 V-Mann 21 Vorverfahren  58 ff., 182 f., 276 Wahrheit, materielle  49 ff., 60 ff., 65 Wahrheitserforschung siehe Amtsaufklärungspflicht Zeuge –– Glaubwürdigkeit  60 ff., 311 ff. –– Person (Zivilprozess)  202 –– Zeugenpsychologie  288, 317 ff. Zivilprozess siehe Unmittelbarkeit