Unechte Korrespondenzen: Band 1: 1860-1865. Band 2: 1866-1870 [Reprint 2011 ed.] 9783110890075, 9783110140767

From 1860 to 1870, Fontane worked on the Neue Preußische Zeitung, the so-called "Kreuzzeitung" in Berlin. His

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Table of contents :
Zur Einführung
1860
1861
1862
1863
1864
1865
Unechte Korrespondenzen 1866 — 1870
1866
1867
1868
1869
1870
Anhang
Glossen zu englischen Presseberichten
Leitartikel
Feuilletonistische Beiträge
Editorische Notiz
Abkürzungsverzeichnis
Personenverzeichnis
Periodikaverzeichnis
Abbildungsnachweis
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Unechte Korrespondenzen: Band 1: 1860-1865. Band 2: 1866-1870 [Reprint 2011 ed.]
 9783110890075, 9783110140767

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Theodor Fontane Unechte Korrespondenzen 1860-1865

w

Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von

Luise Berg-Ehlers Helmuth Nürnberger Henry Η. H. Remak

Band 1.1

Walter de Gruyter Berlin · New York 1996

Theodor Fontane Unechte Korrespondenzen 1860-1865

Herausgegeben von

Heide Streiter-Buscher

Walter de Gruyter Berlin · New York 1996

®

G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über H a l t b a r k e i t erfüllt.

Die Deutsche

Bibliothek



ClP-Einheitsaufnahme

Fontane, Theodor: Unechte Korrespondenzen / T h e o d o r Fontane. Hrsg. von Heide Streiter-Buscher. — Berlin ; New York : de Gruyter. N E : Streiter-Buscher, Heide [Hrsg.] 1 8 6 0 - 1 8 6 5 . - 1995 (Schriften der Theodor-Fontane-Gesellschaft ; Bd. 1,1) ISBN 3-11-014076-4 N E : Theodor-Fontane-Gesellschaft: Schriften der T h e o d o r - F o n tane-Gesellschaft

© Copyright 1 9 9 5 by Walter de Gruyter & C o . , D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin, unter Verwendung von: H o r s t J a n s s e n , D e r „mittlere" Fontane (Aquarell und Zeichnung)

Inhalt

Band 1 Unechte Korrespondenzen I860—1865 Zur Einführung

1

186 0

71

186 1

100 182

1862 1863 186 4 1865

281 310 432

Band 2 Unechte Korrespondenzen 1866 — 1870 1866 186 7 1868 1869 187 0

613 739 827 876 977 Anhang

Glossen zu englischen Presseberichten . . . . Leitartikel Feuilletonistische Beiträge

1033 1138 1173

Editorische Notiz Abkürzungsverzeichnis Personen Verzeichnis Periodikaverzeichnis Abbildungsnachweis

1183 1187 1188 1262 1273

Z u r Einführung Denk daran, daß es in gleicher Weise Zeichen eines freien Geistes ist, seine Ansicht zu ändern wie dem zu folgen, der uns eines Bessern belehrt. Denn die Handlung, die gemäß deinem Willensantrieb und deinem Urteil, ja überhaupt gemäß deinem Geist erfolgt, ist deine eigene Tat. M a r c Aurel Selbstbetrachtungen

VIII, 16

Der Weg zur „Kreuzzeitung" Im J a n u a r 1859 kehrte der preußische Presseagent T h e o d o r Fontane nach mehrjährigem London-Aufenthalt von der T h e m s e an die Spree zurück. Anderthalb J a h r e später engagierte ihn die konservative „Neue Preußische Z e i t u n g " in Berlin, allgemein „Kreuzzeitung" genannt 1 , als Redakteur ihres englischen Artikels. Die Zeitung, Fontane ohnehin ein tägliches Lesebedürfnis, wurde für ein Jahrzehnt Mittelpunkt seiner Vormittagsstunden und Spaltenfüllen sein Brotberuf. Das Erlebnis England lag hinter dem inzwischen Vierzigjährigen, dem T h e m a England blieb er — von der Forschung bislang ungeprüft — bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr auf das engste verbunden. Fontanes Weg zur „Kreuzzeitung" war nicht vorgezeichnet, sondern die eher zufällige Folge eines Zusammentreffens verschiedener äußerer Ereignisse und existentieller Stimmungen. T h e o d o r Storm, damals als Exilierter im sächsischen Heiligenstadt lebend, bat den Literatenfreund Ende Juni 1860, ihm „mit ein paar kurzen W o r t e n " zu schreiben, was er eigentlich treibe 2 . Vierzehn Tage später erhielt er einen Lebensabriß, in

1

Um Verwechslungen mit der ebenfalls in Berlin erscheinenden „Preußischen Zeitung" zu vermeiden, legte die „Neue Preußische Zeitung" seinerzeit selbst Wert darauf, nach ihrem Titelemblem als „Kreuzzeitung" bezeichnet zu werden. Diese Bezeichnung wurde allgemein üblich und beibehalten, auch als die „Preußische Zeitung" ihr Erscheinen eingestellt hatte; sie wird im Text ausschließlich verwendet. Bei den Quellenangaben steht dafür die Abkürzung NP(K)Z.

2

Theodor Storm an F. am 28. Juni 1 8 6 0 . In: Theodor Storm — Theodor Fontane. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. In Verbindung mit der Theodor-StormGesellschaft hg. v. J a c o b Steiner. Berlin 1 9 8 1 , S. 112.

2

Zur Einführung

dem der Absender ihm seine neue bürgerliche Existenz mitteilte und zugleich die Verletztheit seiner politischen Psyche nach der Rückkehr aus London zu erkennen gab 3 : „Ging 1855 im September nach England, kam im Januar 1859 zurück. Wurde als ,reaktionsverdächtig' beiseite gesetzt, fungierte 5 / 4 Jahr als ,freier Schriftsteller' und trat dann vor etwa sechs Wochen als Redakteur des englischen Artikels bei der Kreuzzeitung ein. Der Verachtung eines freien Schleswig-Holsteiners ist er also unweigerlich verfallen. Muß sich drin finden und trägt es mit Fassung. Sie müssen denken: ,er war von je ein Bösewicht'."

Das Bekenntnis des reaktionsverdächtigen Beiseitegesetztseins, das beim unbefangenen Leser dieser Zeilen den Eindruck erwecken mußte, der neue „Kreuzzeitungs"-Redakteur gehöre zu den „Malkontenten" der im Herbst 1858 abgelösten reaktionären Regierung des Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel, stellt sich bei näherer Betrachtung und dank neuer biographischer Erkenntnisse 4 als ein Argwohn aus dem eigenen Ich dar, der Fontane beherrscht zu haben scheint, seitdem er preußischen Boden wieder betreten hatte. „Wer unter Manteuffel, wenn auch nur in kleinster und gleichgültigster Stelle gedient hatte, war mehr oder weniger verdächtig. Ich also auch", heißt es in „Von Zwanzig bis Dreißig" 5 . „Mir wurde das, kaum in Berlin wieder eingetroffen, auch gleich fühlbar, berührte mich aber so kolossal komisch, daß ich zu keinem Ärger darüber kommen konnte. ,Mußt du eine wichtige Person sein', sagte ich mir, während ich doch am besten wußte, daß ich so gut wie gar nichts geleistet hatte." Die bekenntnishaften Briefe an die Freunde aus jener Zeit vermitteln jedoch ein weniger heiteres Bild als das hier am Lebensende für die Nachwelt zur Selbststilisierung geschönte eines amüsierten Fontane. In London hatte er, je länger seine Tätigkeit als der preußischen Gesandtschaft attachierter Presseagent gedauert hatte, „das Gefühl des Gelähmtseins aller Kräfte" an sich gespürt und sich mehr und mehr — wie in anderen Krisensituationen seines Lebens — in einem nervösen Krankheitszustand befunden. 6 Die „Geistesöde, der Mangel an Zu3

4

5

6

F. an Theodor Storm, [Mitte Juli I860], In: HFA IV, 1, S. 711.

Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Briefwechsel

1858/1859. Hg. u. kom.

v. Roland Berbig. In: FBI 56, 1993, S. 4 - 3 2 . Der Tunnel über der Spree, Siebentes Kapitel. George Hesekiel. In: NFA XV, S. 256. „[...] der ganze innre Organismus ist wie gestört" schreibt F. an Wilhelm von

Merckel am 13. Juli 1858. In: Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel.

Hg. v. Gotthard Erler, 2 Bde. Berlin, Weimar 1987, Bd. 2, S. 91.

Der Weg zur „Kreuzzeitung"

3

spruch, Teilnahme und Anerkennung", die er in Briefen beklagte 7 , mußte er um so stärker empfinden, als er eine Zeitlang geglaubt hatte und wohl auch mit Recht hatte glauben können 8 , das Ministerium Manteuffel nähme an seiner Entwicklung und Verwendung im Staatsdienst „ein leises Interesse"; statt in der Rolle eines „Favoriten", sah er sich jedoch in der eines „Verbannten" 9 . Der Regierungswechsel in Preußen und die vagen Auskünfte, die er von dort über sein weiteres Schicksal als Presseagent erhielt 1 0 , festigten seinen Entschluß, seinen Vertrag mit der Zentralstelle für Presseangelegenheiten „mit Manier", was heißen sollte, „mit möglichst geringem Geldverlust" 1 1 und ohne nervenaufreibenden Affront 1 2 , vorzeitig zu lösen und nach Berlin zurückzukehren. Am 2. Dezember 1858, kurz nach den Wahlen zum preußischen Landtag (12./23. November), die den Konservativen ein vernichtendes Ergebnis gebracht hatten, reichte er sein Entlassungsgesuch ein. 1 3 Wenige Wochen später bewilligte der neue Direktor der Berliner Zentralpressestelle, Julius von Jasmund, den Antrag; die Londoner Pressestelle wurde aufgelöst, Fontanes Vertragsverhältnis 7 8

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10

11

12

13

Ebd. S. 92. Vgl. den Brief v. Friedrich Eggers an F., [14. November] 1858. In: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 8 f. F. an Wilhelm von Merckel, 25. Oktober 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (Anm. 6), Bd. 2, S. 147. Vgl. Metzels Brief an F. v. 13. November 1858, in dem es zum Schluß heißt: „Über unsere gegenwärtige Situation kann ich Ihnen durchaus nichts mehr melden, als daß wir neue Minister haben; wer sich der Zentralpressestelle annehmen, ob dieselbe in ihrer bisherigen Organisation verbleiben oder Änderungen erfahren wird, darüber wissen andere Leute mehr und Genaueres als ich selbst. Sie werden daraus Ihre Schlüsse machen können, denen ich nach keiner Richtung vorgreifen will." Zit. nach Fritz Behrend Theodor Fontane und die „Neue Ära". In: Archiv für Politik und Geschichte, Jg. 2, Bd. 3, 1924, S. 486, Anm. 1. F. an Friedrich Eggers, 17. November 1858. In: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 11. F. an s. Mutter am 20. Dezember 1858 (HFA IV, 1, S. 640): „Erfüllt man indeß meine billigen Wünsche nicht, so wird die Sache unangenehm, weil dann das berühmte preußische Hin- und Herschreiben, das Schachern und Prachern um jeden Groschen beginnt, ein trostloses und noch dazu kostspieliges Geschäft [...]." Vgl. auch F.s Brief an Henriette von Merckel, 5. Oktober 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (Anm. 6), S. 131. F. an Rudolf von Auerswald, den für die Zentralstelle für Preßangelegenheiten zuständigen Minister der Neuen Ära, 2. Dezember 1858. In: HFA IV, 1, S. 637 ff.

4

Zur Einführung

vor der Zeit durch eine einmalige Abfindung in Höhe seines bisherigen Jahresgehalts gelöst. Das Ziel, „mit M a n i e r " aus London fortzukommen, war erreicht. London war ihm in mancherlei Hinsicht, besonders aber politisch-publizistisch, „eine gute Schule" gewesen. 1 4 Jetzt sehnte er sich „nach würdigerer Umgebung und nach würdigeren A u f g a b e n " 1 5 , ohne jedoch eine irgendwie konkrete Vorstellung davon zu haben, wie diese Wünsche zu erfüllen seien. Er erwartete, daß man ihm, dem England-Erfahrenen, Avancen machen werde und „irgendeine anständige Beschäftigung irgendwo" sich schon finden lassen werde. 1 6 An eine Annäherung an die neue Regierung dachte er nicht, wenigstens zunächst nicht. Seine Londoner Briefe an die Freunde zeigen ihn weniger in parteipolitischen Abgrenzungen als in politisch-moralischen Bindungen argumentierend. „Es fällt mir gar nicht ein, mich den ,neuen Leuten', selbst wenn sie mir gefallen sollten, dienstfertig zu nähern", hatte er einen Tag vor der Regierungsübernahme durch den Prinzregenten Wilhelm (I.) Anfang Oktober 1858 an Henriette von Merckel geschrieben und auf seine „gefährdete Reputation" verwiesen, einschrän1 7 kend allerdings damals schon hinzugefügt : „Ich verschwöre solche Dinge nie, weil man nie wissen kann, wie sich's hinterher macht, aber für den Augenblick sprech ich meine vollste Überzeugung dahin aus, daß Klugheit und anständige Gesinnung in gleichem Maße fordern, der alten Fahne (wenn ich ihr auch nicht wie ein begeisterter Lützowscher Jäger, sondern nur wie ein alter Landsknecht angehört habe) treu zu bleiben." Auch wenn er „nie" ein Anhänger Manteuffels gewesen sei, so habe er dessen Regime, „ob gut oder schlecht", dafür zu danken, daß es ihn über Wasser gehalten, ihm Brot gegeben und ihm seinen Aufenthalt in England ermöglicht habe. 1 8 Außerdem traue er den „Neuen" auch nicht; 1 9 sie sollten erst zeigen, ob sie's besser zu machen verstünden 2 0 . Im noch so jungen öffentlichen politischen Leben Preußens mit seinen erst langsam heranreifenden politischen Parteiungen ist die sich hier ausspre-

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15 16 17 18 19 20

F. an Henriette von Merckel, 5. Oktober 1858. In: Die Fontanes und die Merckels (Anm. 6), S, 132. F. an Wilhelm von Merckel, 25. Oktober 1858. Ebd. S. 147. F. an Henriette von Merckel, 1. Januar 1859. Ebd. S. 178. F. an Henriette von Merckel, 6. Oktober 1858. Ebd. S. 133. F. an Wilhelm von Merckel, 25. Oktober 1858. Ebd. S. 147. F. an Henriette von Merckel, 6. Oktober 1858. Ebd. S. 133. F. an Friedrich Eggers, 20. November 1858. In: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 13.

Der Weg zur „Kreuzzeitung"

5

chende Gesinnungstreue und K o n s e q u e n z eines politischen

Charakters

b e m e r k e n s w e r t . Die Gegensätze zwischen den diffusen Parteiströmungen der n a c h r e v o l u t i o n ä r e n

Repressionsjahre

in Preußen waren

fließend,

mehr gradueller Art und eines Ausgleichs durchaus fähig. D a s politische Denken

im

Links-Rechts-Schema

durchbrochen.21

bestand

zwar,

war

aber

vielfältig

Politische Wandlungsfähigkeit war weder ungewöhn-

lich n o c h ehrenrührig. D i e Berliner Freunde, die ihre „ F a r b e " in der neuen Regierung vertreten sahen, verstanden F o n t a n e s A r g u m e n t e nicht. Verwundert w ä h n t e n sie ihn in der R o l l e des selbstgewählten „ M ä r t y r e r s " , der die C h a r a k t e r rolle „für die E h r e des großen A b g e t r e t e n e n " gewissenhaft durchspielen wollte. Sie betrachteten ihn „alle, von Lepel wissen

ließ22,

o h n e A u s n a h m e " , wie ihn Bernhard

als einen „närr'schen K e r l " und nannten seine

Fahnentreue einen „isolierten S t a n d p u n k t " . Als Friedrich Eggers

ihn

schließlich m a h n e n zu müssen m e i n t e 2 3 : „ D u bist zuletzt nicht der g r o ß e Politiker, der D u D i c h g l a u b s t " , stellte er die politisch-narzistische Psyche des Freundes infrage. Sie w a r es letztlich, die F o n t a n e hinderte, mit fliegenden Fahnen in das „ a n d e r e " Lager überzuwechseln. N o c h a b e r fehlte ihm die u n m i t t e l b a r e N ä h e zum aktuellen politischen Leben in Preußen, die einen solchen Wechsel für ihn selbst g l a u b h a f t

machen

konnte. D i e politischen

Spannungen,

die der nach Berlin

Zurückgekehrte

spürte, und die geringen Aussichten a u f eine einigermaßen

gesicherte

Existenz nährten in ihm den Verdacht, d a ß man in ihm den M a n t e u f f e l schen „ A p o s t e l " 2 4 nicht vergessen k ö n n e . Dieser A r g w o h n , der ihn noch am T a g seiner A n k u n f t in der preußischen M e t r o p o l e seinen bisherigen Vorgesetzten Ludwig Metzel „ h a l b - h e i m l i c h " 2 5 aufsuchen ließ, wurzelte in seiner von ihm selbst oft eingestandenen Soup^on-Natur, die sich in der Folgezeit fast zu einer O b s e s s i o n entwickelt zu haben scheint und

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22

13

24 25

Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1800—1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 6 1993, S. 717. Bernhard von Lepel an F., 28. November 1858. In: Theodor Fontane und Bernhard von Lepel — Ein Freundschaftsbriefwechsel, hg. v. Julius Petersen, 2 Bde, München 1940, Bd. 2, S. 249. Friedrich Eggers an F., 23.11.1858. In: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 15. F. an Friedrich Eggers, [31. Januar 1859], In: HFA IV, 1, S. 650. F. an Emilie, 19. Januar 1859. In: HFA IV, 1, S. 643.

6

Zur Einführung

die sein flatterndes politisches Selbstbewußtsein seit seiner R ü c k k e h r von England o f f e n b a r m a c h t . D a b e i hatten

sich die R e p r ä s e n t a n t e n

der

„Neuen Ä r a " ihm gegenüber nach allem, was darüber b e k a n n t ist, eher u n v o r e i n g e n o m m e n gezeigt 2 6 . F o n t a n e s Briefe und T a g e b u c h verzeichnen für die ersten W o c h e n und M o n a t e des J a h r e s 1 8 5 9 K o n t a k t e zu M e t z e l s N a c h f o l g e r Julius von J a s m u n d . Diese B e s u c h e und die e r w ä h n t e n „ E i n g a b e n " beziehen sich a u f die H ö h e der A b f i n d u n g nach seinem vorzeitigen Ausscheiden in L o n d o n und auf die M o d a l i t ä t e n der A u s z a h l u n g . 2 7 D a ß er dabei auch die Gelegenheit ergriff, sich um die Feuilletonredaktion der „Preußischen Z e i t u n g " , das Regierungsblatt der „Neuen Ä r a " , „für den Fall einer eintretenden V a c a n z " zu b e w e r b e n 2 8 , w a r durch T u n n e l f r e u n d Friedrich Eggers bewirkt w o r d e n . Eggers wollte seinen Posten als R e d a k t e u r des Feuilletons der „Preußischen Z e i t u n g " , der ihn nicht ausfüllte, aufgeben. E r hatte an F o n t a n e als seinen N a c h f o l g e r gedacht, zunächst zur Verärgerung dessen, dem er damit helfen wollte. D e n n F o n t a n e würde sich, wie er kurz nach seiner R ü c k k e h r von L o n d o n b e k a n n t e , „am liebsten als h a r m l o s e r Schulmeister und in ähnlichen Q u a l i t ä t e n "

durchschlagen,

„nur die pater f a m i l i a s - s c h a f t " treibe ihn, a u f Eggers Vorschlag einzugehen und bei seiner ungesicherten L a g e dort zuzugreifen, w o sich ihm eine Gelegenheit b i e t e . 2 9 D a s klingt nicht n a c h einem dienstfertigen Liebäugeln mit den neuen M ä c h t e n 3 0 , sondern eher n a c h der bitteren Erkenntnis, d a ß ihm die Existenzsorgen nicht die Freiheit zu einem wirtschaftlich ungebundenen L e b e n ließen. In dieser Situation suchte er die N ä h e zur neuen Regierung, weil er nur dort als politischer J o u r n a l i s t , als der er sich verstand, eine C h a n c e für seine Verwendung — und d a r a u f

26

27

28

29 30

Roland Berbig in seiner Einleitung zu: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 5. Die drei aus dieser Angelegenheit erhaltenen F.-Briefe an Julius von Jasmund befinden sich im GStA Merseburg, Akte: Staats-Ministerium. Central-Stelle für Press-Angelegenheiten. Acta betreffend: die Beschäftigung des Schriftstellers Theod. Fontane hierselbst bei der Redaction der Preußischen/,Adler / Zeitung, resp. der Central-Preßstelle vom 27. Jan. 1851 bis 1898. Registr: Deutsches Zentralarchiv, Hist. Abt. II, 2.3.35 Nr. 45, Bl. 7 7 - 7 8 ( = Nr. 1); 80 ( = Nr. 2); 85 ( = Nr. 3). F. an Friedrich Eggers, [31. Januar 1859]. In: Theodor Fontane und Friedrich Eggers (Anm. 4), S. 22. F. an Friedrich Eggers, [22. Januar 1859]. Ebd. S. 21. So Berbig, ebd., S. 7.

Der Weg zur „Kreuzzeitung"

7

kam es ihm offenbar an — „innerhalb der politischen Sphäre" 3 1 sah. Seine politische Psyche blieb mehrdeutig: Moralisch fühlte er sich der Ära Manteuffel verpflichtet, politisch hielt er auch weiterhin die Traditionen Altpreußens hoch, die die Reaktions-Ära auf ihre Fahne geschrieben hatte, und zugleich empfand er Sympathien für das neue gemäßigtliberale Ministerium, auch wenn er gegenüber dessen Durchsetzungsfähigkeit und Dauer skeptisch blieb. Als er nach fast viermonatigem Bemühen Paul Heyse gestand, daß er beruflich noch immer keine festen Anknüpfungspunkte gefunden habe, meldete sich erneut sein Argwohn: Man habe sich „mehr denn sonderbar" gegen ihn benommen und ihn dadurch, „aus persönlichen Motiven", einer Partei entfremdet, zu der er „eigentlich gehöre" und der er „auch jetzt noch das Zugeständnis größrer Respektabilität mache." 3 2 Ende Juli schließlich, als er — wiederum durch Friedrich Eggers Vermittlung — in den Kreis der Vertrauenskorrespondenten des Literarischen Büros des Staatsministeriums aufgenommen worden und dessen neuem Leiter Max Duncker unmittelbar zugeordnet war, schien das erstrebte Ziel erreicht — aber nicht auf lange. Sein journalistischer faux pas, die in „Von Zwanzig bis Dreißig" nur verschlüsselt angedeutete Verletzung des Amtsgeheimnisses durch eine vorzeitige Veröffentlichung in den „Hamburger Nachrichten", die.den Prinzregenten verärgert hatte, führte — offenbar auf dessen „Befehl" 3 3 — zu einem ernsten Verweis Fontanes, zu dessen Ausschluß aus dem Kreis der Vertrauenskorrespondenten — der Prinzregent ließ sich schriftlich davon unterrichten — und zur Auflösung des Anstellungsverhältnisses zum 1. Januar 1860. Nicht sofort scheint Fontane die ganze Tragweite seiner journalistischen Voreiligkeit wirklich erkannt zu haben. Im ersten Impuls spricht er von der „Entgegennahme eines kleinen liebenswürdigen Rüffels" 3 4 und offenbart damit, wie wenig er sich auf die im politischen Journalismus steckende Brisanz verstand und wie schwer es seiner weniger politischen als ästhetischen Natur damals fiel, „sich in die politischen Tagesfragen

31 32 33

34

F. an s. Mutter, 3. März 1859. In: HFA IV, 1, S. 656. F. an Paul Heyse, 13. Mai 1859. In: HFA IV, 1, S. 671. Vgl. Dunckers Schreiben an den Prinzregenten vom 16 November 1859. In: Fritz Behrend Theodor Fontane und die „Neue Aera" (Anm. 10), S. 494. F. an Emilie, 14. September 1859. In: HFA IV, 1, S. 679. In sein Tagebuch schreibt er am selben Tag: „Kleiner Rüffel wegen vorzeitiger Mitteilungen über die ,Schwerinsche Antwort'." In: GBFA Tagebücher II, S. 272.

8

Zur Einführung

vollständig h i n e i n z u v e r s e t z e n " 3 5 . E r hatte seine J o u r n a l i s t e n k a r r i e r e auf ein neues politisches Bein gestellt, w a r mit E n g a g e m e n t bei der S a c h e gewesen und h a t t e sich bei seinem Übereifer nichts gedacht. So schlidderte er arglos in diese Affäre hinein und w a r u n a n g e n e h m berührt, als ihm seine Indiskretion b e w u ß t g e m a c h t wurde. „Ich dachte, m a n würde mir A n t r ä g e m a c h e n , — da haben wir nun die B e s c h e r u n g " 3 6 . E r n e u t sah er sich abgelehnt, wenn auch dieses M a l aus eigenem Verschulden. Und wiederum scheint er sich als journalistischer R e p r ä s e n t a n t des k o n s e r v a t i v - m o n a r c h i s c h e n Preußen zurückgesetzt gefühlt zu h a b e n . D e r Stachel saß tief. Er reagierte narzistisch g e k r ä n k t und bezeichnete sich nun als „ w a c k r e n R e a k t i o n ä r " 3 7 . Von da aus w a r der Schritt zum Eintritt in die konservative „ K r e u z z e i t u n g " nicht m e h r g r o ß und nur noch eine Frage der Gelegenheit. Als sie sich ihm g e b o t e n h a t t e und er bereits seit über zwei M o n a t e n R e d a k t e u r der „ K r e u z z e i t u n g " war, wird im Staatsministerium derselbe M a x D u n c k e r , der ihn hatte entlassen müssen, über ihn s c h r e i b e n 3 8 : „Seine schriftstellerische Befähigung, sein geordnetes und sittlich reines L e b e n , seine gute G e s i n n u n g und seine auf die Seele gerichteten Bestrebungen haben seitens des literarischen Bureaus i m m e r volle A n e r k e n n u n g g e f u n d e n . " Diese w o h l w o l l e n d e B e m e r k u n g steht im Z u s a m m e n h a n g mit Fontanes G e s u c h um eine staatliche Unterstützung für seine L o k a l f o r s c h u n g e n zu seinen „Wanderungen durch die M a r k B r a n d e n b u r g " und mit den Überlegungen des Kultusministers der „Neuen Ä r a " , August von Bethm a n n - H o l l w e g , Fontane für das wissenschaftliche B e i b l a t t , das als Beilage zur „Preußischen Z e i t u n g " geplant war, heranzuziehen. Erst D u n ckers H i n w e i s , d a ß F o n t a n e inzwischen bei der „ K r e u z z e i t u n g " beschäftigt sei, löste jenes „ V e r h ö r " über seine „ Z e i t u n g s - B e z i e h u n g e n " aus, das F o n t a n e in seinem T a g e b u c h e r w ä h n t h a t . 3 9 D u n c k e r s d a n a c h verfaßter Briefentwurf, der erhalten i s t 4 0 , m a c h t deutlich, d a ß der erbetenen R e 35

36 37

3S 39 40

Äußerung des preußischen Gesandten in London, Albrecht Graf Bernstorff, am 16. Dezember 1856, zit. nach Charlotte Jolles, Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, 2 1988, S. 180, Anm. 205. F. an Emilie, 14. September 1859. In: HFA IV, 1, S. 679. F. an Wilhelm Wolfsohn, 8. Dezember 1859. In: Theodor Fontanes Briefwechsel mit 'Wilhelm Wolfsohn, hg. v. Christa Schultze, Berlin, Weimar 1988, S. 160. Briefentwurf v. 13. August 1860. In: GStA Merseburg (wie Anm. 27), Bl. 100. F. am 23. Oktober 1860. In: GBFA Tagebücher II, S. 275. Briefentwurf vom 30. Oktober 1860. In: GStA Merseburg (wie Anm. 27), Bl. 103.

Der Weg zur „ K r e u z z e i t u n g "

9

muneration nicht die politische Gesinnung des Literaten Fontane im Wege gestanden hat, sondern daß es die fortwährend „feindselige Haltung" der „Kreuzzeitung" zur Regierung war, die die Unterstützung eines Mitarbeiters gerade eines derart oppositionellen Blattes aus Staatsmitteln nicht opportun erscheinen ließ. D a ß ihm diese Unterstützung schließlich doch gewährt wurde, spricht dafür, wie unbegründet Fontanes Argwohn war, sich als Manteuffel-„Apostel" im Ministerium abgestempelt zu sehen. Da er selbst aber in diesem Denken befangen war, schien ihm der Weg zur „Neuen Ära" versperrter, als er es allem Anschein nach in Wirklichkeit gewesen ist. Fontanes Feuilleton-Beziehungen zur „Vossischen Zeitung" waren seit August 1859 und die zur „Preußischen Zeitung" seit September 1859 unterbrochen. Was lag da näher, als die N ä h e zu jenem konservativen Blatt zu suchen, das seine Feuilleton-Beiträge seit Juli 1859 am bereitwilligsten aufgenommen hatte und zudem den Vorzug besaß, keinen Anstoß an seiner „Manteuffel-Vergangenheit" nehmen zu können. Es war ein überlegter Schritt, bedingt durch das „Einmaleins des täglichen Brotes" und gefördert durch seine verletzte Psyche. Im März 1850, als in der Erfurter Augustinerkirche das Unionsparlament getagt hatte, in dem die „Kreuzritter" Julius Stahl, O t t o von Bismarck, Hans Kleist von Retzow und Ludwig von Gerlach als Vertreter der äußersten Rechten saßen, lenkte der Berliner Korrespondent der demokratischen „Dresdner Zeitung" das Interesse der Leser auf die „Kreuzzeitung" 4 1 : „Sie blüht noch nach wie vor", heißt es darin, „es blüht der phrasenreiche, im Bibelton gehaltene Stil ihres Leitartikelschreibers, des Assessors und Irvingianers Wagener; es blüht, mit Hilfe der Demokratie, die ohne Kreuzzeitung nicht leben und nicht lachen kann, auch die Zahl ihrer Abonnenten; nur eines blüht nicht — ihre Z u k u n f t . " Ein Jahrzehnt später war der Verfasser dieser Zeilen — „mit den Jahren ehrlich und aufrichtig conservativer" geworden 4 2 — selbst einer der Redakteure dieser Meinungsführerin der rechten Presse in Preußen und bemüht, für ihre weitere Z u k u n f t zu schreiben. Das Tunnelmitglied George Hesekiel hatte Fontane — nach dem diesem Literatenfreund eigens gewidmeten Kapitel in „Von Zwanzig bis

41 42

Κ Berlin, 23. M ä r z 1850. In: H F A III, 1, S. 66. F. an Paul Heyse, 28. J u n i 1860. In: HFA IV, 1, S. 709.

Zur Einführung

10

D r e i ß i g " — aus seiner „ m e h r oder weniger bedrücklichen L a g e " b e f r e i t 4 3 und die „ g e s c h ä f t l i c h e " Beziehung zur „ K r e u z z e i t u n g " für ihn hergestellt. Bei diesem Hesekiel-Kapitel lohnt es sich kurz zu verweilen, da es eine besondere Stellung im G e s a m t z u s a m m e n h a n g der A u t o b i o g r a p h i e Fontanes e i n n i m m t .

Das

Hesekiel-Kapitel

Fontanes zehnjährige Z u g e h ö r i g k e i t zur R e d a k t i o n der „Kreuzzeitung" g e h ö r t zu den von den B i o g r a p h e n a m meisten vernachlässigten

Ab-

schnitten in seinem L e b e n . Seine politischen G r u n d p o s i t i o n e n und die preußisch-patriotischen

Bekenntnisse dieser J a h r e h a r m o n i e r e n

wenig

mit dem Bild des Dichters des V o r m ä r z und des R o m a n c i e r s des wilhelminischen Kaiserreichs. D i e F o n t a n e - F o r s c h u n g fand sich hierin in stillschweigendem Einverständnis, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. M a n hielt sich an das Ästhetisch-Literarische, an die in der „ K r e u z z e i t u n g " publizierten Feuilletonbeiträge, zu denen Erstveröffentlichungen von Kapiteln der „ W a n d e r u n g e n " , einige h u r r a p a t r i o t i s c h e Ged i c h t e 4 4 sowie eine Vielzahl von R e z e n s i o n e n ,

Vortragsbesprechungen

und Kunstaustellungsberichten g e h ö r e n , die von einem beeindruckenden Arbeitspensum zeugen. D e r politische R e d a k t e u r und dessen tagespolitische Arbeiten blieben ausgespart. D a b e i hätte das Forschungsinteresse n a c h J a h r e n k o n t r o v e r s e r Diskussion über Fontanes Konservatismus gerade in seinen politischen Artikeln für die „ K r e u z z e i t u n g " eine Interpre-

43

44

Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 256. (Sofern nicht anders vermerkt, stammen im folgenden alle Zitate aus dem Hesekiel-Kapitel in Von Zwanzig bis Dreißig.) Außer dem Gedicht „Einzug", dessen Erstveröffentlichung in der „Kreuzzeitung" Nr. 289 v. 9.12.1864 bereits bekannt ist, vgl. AFA Gedichte /, Anm. zu S. 593, erschien in der Beilage der „Kreuzzeitung" Nr. 109 v. 12.5.1864 erstmalig auch, unter vollem Namen, „Der Tag von Düppel" mit den in AFA Gedichte /, Anm. zu S. 229 verzeichneten Varianten. Die Veröffentlichung des Gedichtes „Einzug. 20. September 1866." erschien ebenfalls erstmalig in der Beilage der „Kreuzzeitung" Nr. 246 v. 21.10.1866, wiederum unter vollem Namen und mit dem Klammerzusatz unter der Überschrift: „Ich kann dies vortreffliche Gedicht erst jetzt abdrucken, weil ich es erst nach meiner Rückkehr von einer Reise kennen gelernt. Dr. Beutner." Die Varianten zum Abdruck in F.s Der Deutsche Krieg von 1866, Berlin 1871, Bd. 2, S. 332, entsprechen denjenigen der in AFA Gedichte I, Anm. zu S. 239 angegebenen.

Das Hesekiel-Kapitel

11

tationsquelle finden können. Statt dessen hielt man daran fest, Fontane „zu keiner Zeit politisch so wenig in Anspruch g e n o m m e n " zu sehen wie in diesen Jahren 4 · 5 . Spät erst wurden diese Verdrängungen und Versäumnisse der Forschung zur Sprache g e b r a c h t . 4 6 Erheblichen

Anteil

an

dieser

wissenschaftlichen

Vernachlässigung

wird man Fontane selbst zuschreiben müssen. Im Februar 1 8 9 6 , als er Julius Rodenberg einige Kapitel seiner Erinnerungen „Der Tunnel über der Spree" zum Vorabdruck in der „Deutschen R u n d s c h a u " angeboten hatte, sprach er ihn besonders auf das noch ausstehende George Hesekiel-Kapitel an, das sein „ganzes Kreuzzeitungsleben" behandle und das er vorzugsweise vorab veröffentlicht sehen w o l l t e . 4 7 Dieses „Kreuzzeitungsleben" steckt bei näherer Betrachtung voller Ungereimtheiten und scheint allein zum Z w e c k e der Stilisierung eines rückblickend als retuschierungsbedürftig

empfundenen

Vergangenheitsbildes

geschrieben

worden zu sein. D a s betrifft auch die darin geschilderte humorvolle und oft zitierte Vorstellungsszene — das Gespräch spart Fontane wohlweislich aus — bei der „Kreuzzeitung" 4 8 : „Der Chefredakteur der Kreuzzeitung fragte bei mir an, ob ich die Redaktion des englischen Artikels übernehmen wolle. Noch ein wenig unter den Gruselvorstellungen stehend, die sich, von 1848 her, an den Namen ,Kreuzzeitung' knüpften, war ich unsicher, was zu tun sei, beschloß aber, wenigstens mich vorzustellen. Ein bloßer erster Besuch konnte ja den Kopf nicht gleich kosten. Immerhin hatte die Sache was von der Höhle des Löwen. Vier Uhr war Sprechstunde. Pünktlich erschien ich in der Bernburger Straße, wo der Chefredakteur der Kreuzzeitung schräg gegenüber der Lukaskirche wohnte. Matthäi wäre wohl besser gewesen, aber Lukas war auch gut. Endlich in der zweiten Etage glücklich angelangt, zog ich die Klingel und sah mich gleich darauf dem Gefürchteten

45 46

47 48

Unter dem Titel „Einzug in Berlin (20. September 1866)" erschien das Gedicht (mit einigen leichten Varianten) in einer Buchedition zuerst in Ernst Fürste, Der Tag von Königgrätz. Seine Feier in der Schule, Magdeburg 1867, S. 3 8 - 3 9 . Oft gebrachtes Zitat nach Jolles (Anm. 35), S. 145. Eindringlich durch Peter Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bermerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam (Beiträge aus der Deutschen Staatsbibliothek, Nr. 6), S. 1 - 3 9 , bes. S. 15ff. F. an Julius Rodenberg, 17. Februar 1896. In: HFA IV, 4, S. 534. Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 257 f.

12

Zur Einführung

gegenüber. Er war aus seinem Nachmittagsschlafe kaum heraus und rang ersichtlich nach einer der Situation entsprechenden Haltung. Ich hatte jedoch verhältnismäßig wenig Auge dafür, weil ich zunächst nicht ihn, sondern nur sein unmittelbares Milieu sah, das links neben ihm aus einem mittelgroßen Sofakissen, rechts über ihm aus einem schwarz eingerahmten Bilde bestand. In das Sofakissen war das Eiserne Kreuz gestickt, während aus dem schwarzen Bilderrahmen ein mit der Dornenkrone geschmückter Christus auf mich niederblickte. Mir wurde ganz himmelangst, und auch das mühsam geführte Gespräch, das anfänglich wie zwischen dem Eisernen Kreuz und dem Christus mit der Dornenkrone hin und her pendelte, belebte sich erst, als die Geldfrage zur Verhandlung kam. London hatte mich nach dieser Seite hin etwas verwöhnt, und ich sah mit Schmerz die Abstriche, die gemacht wurden. Als so zehn Minuten um waren, stand ich vor der Frage: ,Ja' oder ,Nein'. Und ich sagte: ,Ja'. Nicht leichten Herzens. Aber vielleicht gerade weil es ein so schwerer Entschluß war, war es auch ein guter Entschluß, aus dem mir nur Vorteile für mein weiteres Leben erwachsen sind." D i e B i o g r a p h e n haben diese Szene oft und gern als historisch zitiert, o h n e daran zu denken, d a ß ihr Verfasser in seiner späten A u t o b i o g r a p h i k gerade mit dem A n e k d o t i s c h e n und besonders mit dem A n e k d o t i s c h e n in eigener S a c h e höchst absichtsvoll umgegangen ist und dadurch das Bild wesentlich mitgeprägt h a t , das er der N a c h w e l t von sich hinterlassen wollte. Z w a r m ö c h t e man jene scheinbar leichthin eingewebten humorvollen

Inszenierungen

und

plaudernden

Ausmalungen

in

seiner

A u t o b i o g r a p h i e nicht missen, m u ß sie aber hinsichtlich ihrer historischen Bürgschaft kritisch prüfen. Bereits 1 9 0 2 m a c h t e die „Kreuzzeitung" ihre Leser auf das W i d e r sprüchliche dieser Vorstellungsszene a u f m e r k s a m , die den Eindruck vermittelt, als h a b e F o n t a n e bis zu seinem Eintritt in die R e d a k t i o n noch keinen persönlichen K o n t a k t zu C h e f r e d a k t e u r T u i s k o n Beutner g e h a b t . Zum

Beweis veröffentlichte

sie „eine A n z a h l "

(heute

verschollener)

Briefe Fontanes an Beutner aus den J a h r e n 1 8 5 6 bis 1 8 5 9 4 9 . D a ß es in diesen J a h r e n auch bereits zu persönlichen Begegnungen mit Beutner g e k o m m e n war, läßt sich in T a g e b u c h a u f z e i c h n u n g e n aus den J a h r e n 1 8 5 6 und 1 8 5 7 ebenfalls nachlesen.

49

50

50

NP(K)Z, Nr. 377, 14.8.1902; Nr. 379, 15.8.1902; Nr. 381, 16.8.1902, anonym. Tagebucheintragung 26. September 1856: „Nachmittag's zu Dr. Beutner (Briefe zugesagt aus Paris und London)."; Vgl auch die Eintragung vom 15. April 1857. In: GBFA Tagebücher I, S. 172 u. 239.

Das Hesekiel-Kapitel

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Wie hier so h a t F o n t a n e a u c h in a n d e r e n Teilen seiner a u t o b i o g r a p h i schen E r i n n e r u n g s a r b e i t alles g e t a n , das n a c h t r ä g l i c h e Interesse a n sein „ K r e u z z e i t u n g s l e b e n " gar n i c h t erst a u f k o m m e n zu lassen, u n d f ü r diesen Teil seiner B i o g r a p h i e vorsorglich selbst Regie g e f ü h r t , u m seiner Rolle eine gänzlich u n t e r g e o r d n e t e B e d e u t u n g z u z u s c h r e i b e n . Dies ges c h a h auf eine s u b l i m e Weise, i n d e m er seine r e d a k t i o n e l l e I n a n s p r u c h n a h m e weit h e r u n t e r g e s p i e l t u n d von dieser Zeit als von seinen „allcrgliicklichsten" J a h r e n g e s p r o c h e n u n d b e t o n t h a t , d a ß das Leben auf der R e d a k t i o n u n d d a s „ n e b e n h e r l a u f e n d e " gesellschaftliche Leben ein „sehr a n g e n e h m e s " gewesen sei: „Es waren auf England hin angesehen, stille Zeiten, alles Interesse lag hei Frankreich oder bei lins seihst, und so kam es, daß zeitweilig jeden Morgen der Chefredakteur an meinen Platz trat und mir mit seiner leisen Stimme zuflüsterte: ,Wenn irgend möglieh, heute nur ein paar Zeilen; je weniger, desto besser.' Ich war immer ganz einverstanden damit und hatte bequeme Tage. Zuletzt freilich wurde mir das bloße Stundenabsitzen langweilig, und ich trat — ein kleiner Streit kam hinzu — meinen Rückzug von der Zeitung an.'"' 1 Die F o r s c h u n g h a t diese Sätze stets z u m N e n n w e r t g e n o m m e n , o h n e d a r ü b e r zu r e f l e k t i e r e n , d a ß d a s Bild des u n t e r b e s c h ä f t i g t e n F o n t a n e , d e r zeitweise täglich mit nichts a n d e r e m b e f a ß t gewesen sein will als mit „ n u r ein p a a r Z e i l e n " u n d dessen R e d a k t i o n s z e i t e n sich ein J a h r z e h n t lang in b e q u e m e r L a n g e w e i l e d a h i n g e s c h l e p p t h a b e n sollen u n d d a s f ü r ein J a h r e s g e h a l t von z u n ä c h s t 900 T a l e r n , a b April 1864 d a n n 1000 Talern, d a ß dieses Bild w e n i g R e a l i t ä t s w e r t besitzt u n d allen brieflichen Z e u g n i s s e n w i d e r s p r i c h t , die w i r a u s jener Z e i t k e n n e n u n d in d e n e n n a c h z u l e s e n ist, wie sehr F o n t a n e d u r c h seine R e d a k t i o n s a r b e i t in A n s p r u c h g e n o m m e n w a r . ' ' 2 N a t ü r l i c h blickten g e r a d e die i n t r a n s i g e n t e n

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λ2

Von Zwanzig bis Dreißig. In: ΝΕΑ XV, S. 261. Zum Streit war es wegen Vernachlässigung des Skandinavien-Artikels gekommen (vgl. unten Anm. 94). Die Redaktionszeiten der „Kreuzzeitung" (damals ein Abendblatt) waren von 9 bis 14 Uhr. Die mit F. offenbar vereinbarten täglichen drei Arbeitsstunden von 9/2 bis 12'/2, vgl. Es Brief an Emilie v. 4. Juni 1862 (HFA IV, 2, S. 66), reichten oft nicht aus. Es gibt zahlreiche Belege, daß er bis 14 Uhr auf der Redaktion festgehalten wurde: vgl. seine Briefe an Wilhelm Hertz v. 3.10.1860, 30.3.1861, 20.5.1863 (FHe, S. 17, 31, 88); ferner die Briefe an Wilhelm Hertz v. 9.10.1861 (FHe, S. 49), an Elise Fontane v. 31.7.1865 (HFA IV, 2, S. 141 f.), an die Mutter v. 29.5.1869 (HFA IV, 2, S. 233), an Emilie v. 26.11.1869 (HFA IV, 2, S. 270). Hesekiel spricht in einem Brief an F. v. 26.12.1863, auf die Redaktion der „Kreuzzeitung" anspielend, von „jenen

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Z u r Einführung

altpreußisch gesinnten Konservativen, die besonders zu Beginn der 60er Jahre noch großen Einfluß auf ihr Parteiorgan ausübten, in erster Linie auf Frankreich als Land der Revolutionen und des Militärdespotismus. Gleich an zweiter Stelle aber rangierte England, an dessen konstitutionell-monarchischer Verfassung die Licht- und Schattenseiten des Parlamentarismus exemplarisch betrachtet werden konnten. Erst in dem Maße, in dem gegen Ende des Jahrzehnts Frankreich als schwerwiegender außenpolitischer Gegner Preußens die Aufmerksamkeit der Bismarckschen Politik auf sich gelenkt hatte und Großbritannien durch seine innenpolitischen Probleme absorbiert war, verlor die Großbritannienspalte an Raum und Gewicht. Nun wird die Devise „je weniger, desto besser" Gültigkeit gehabt haben. Nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion spricht Fontane offen von der „Brutalität, die darin liegt, unsere Freiheit und unsere geistigen Kräfte auszunutzen", und davon, daß die „Kreuzzeitungs"-Stellung „mit all ihren Meriten im kleinen Styl" eigentlich eine „Tortur" für ihn gewesen sei, eine „Tretmühle", eine „Lahmlegung" seiner Kräfte. 5 3 Das klingt nicht nach „bequemen", „stillen" Zeiten. Gewiß, Rückschauen des Alters sind oft mehr ein Ausdruck der Wünsche und Meinungen der schreibenden Gegenwart als ein getreues Abbild der beschriebenen Vergangenheit. Trotzdem drängt sich die Frage auf, w a r u m Fontane, dem die innere Freiheit den Erscheinungen des Lebens gegenüber immer Richtschnur sein wollte, in seiner Altersbiographie diese Geistesfreiheit vermissen läßt und in verharmlosender Art dort seine Retusche vornimmt, wo die eigene politische Entwicklung ganz anderen Linien gefolgt war, als Anfang und Ende dieses Lebens es ahnen lassen. Gerierte er sich damit nicht ebenso unfrei wie die epigonenhafte Gesellschaft, in der er lebte und gegen die er in seinem Erzählwerk angeschrieben hat? Eines der Motive für diesen Widerspruch liegt zweifellos in Fontanes tatsächlichem Engagement für die politischen Ziele des konservativen Parteiblattes im allgemeinen und für die Politik der Konservativen im besonderen. Sein in Von „Zwanzig bis Dreißig" mehrmals auffällig betontes „erstes und letztes Auftreten als Politiker", bezogen auf seine demokratische Wahlmannkandidatur zum preußischen Landtag im Früh-

Räumen [...], wo es eben so oft an Zeit als an Raum fehlt" (Hs im TheodorFontane-Archiv, Potsdam: St 67, 14). « F. an Emilie, 13. Mai 1870. In: DüW I, S. 340.

D a s Hesekiel-Kapitel

15

jähr 184 8 5 4 , ist ein Indiz dafür, daß er in seinen späten Jahren sein zweites Auftreten als Politiker im Frühjahr 1862 nicht mehr aufgedeckt sehen wollte. An entlegener Stelle, im Sonntagsblatt der „Kreuzzeitung" vom 31. Dezember 1922, wurden schon vor über 70 Jahren 22 Worte aus Fontanes verschollenem Tagebuch von 1862 publiziert, die ein Ereignis aus seinem „verschwiegenen" Leben enthalten, dessen Hintergrund erst vor einigen Jahren gelüftet werden konnte. Anläßlich der Wahlmänner-Wahl zum preußischen Landtag Ende April 1862 erwähnt Fontane darin den „glänzenden Sieg der Demokraten" und fügt hinzu: „Ich erhalte unter den Konservativen die meisten Stimmen, 26, darunter eine für Herrn Phaniom 5 5 ; das hat man davon!" Für Alfred Merbach, der diese Tagebuchnotiz damals veröffentlicht hat, war „nicht recht ersichtlich, um was es sich dabei handelte" 5 6 . Der Vorgang geriet in Vergessenheit, bis der Zufall Hubertus Fischer aus dem Nachlaß des Freiherrn von Ledebur einen Wahlzettel der Konservativen anläßlich der Urwahl zum Abgeordnetenhaus am 28. April 1862 in die H a n d spielte, auf dem den Berlinern des 139. Urwahlbezirks unter der Balkenüberschrift „Mit Gott für König und Vaterland!" für die dritte Wahlklasse „Herr Fontane" als Kandidat empfohlen wurde. 57 Fontane — ein feudaler Wahlmann in mit 1725 Seelen einem der größten Urwahlbezirke Berlins? Aussagekräftige briefliche Zeugnisse des Dichters über dieses Ereignis sind nicht überliefert. Wer den geschilderten Hintergrund kennt, dem erschließen sich aus einigen Briefen zwar interessante Mitteilungen 5 8 , doch bleibt weiterhin im Dunkeln, welche Rolle Fontane bei dieser Wahl tatsächlich gespielt hat. Ganz unbedeutend scheint sie nicht gewesen zu sein, wußte doch 54

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57

5S

Von Zwanzig bis Dreißig, Fritz, Fritz, die Brücke kommt, Viertes Kapitel. In: NFA XV, S. 3 5 4 ff. C h a r l o t t e Jolles entzifferte diesen N a m e n in ihren Exzerpten aus den verschollenen T a g e b ü c h e r n als „ P h a n t o n e " . In: GBFA Tagebücher 11, S. 276. Z u r Lesart vgl. H u b e r t u s Fischer, „Mit Gott für König und Vaterland!". Zum politischen Fontane der jähre 1861 his 1863. 2. Teil, in: FBI 59, 1995, S. 7 4 ff. Alfred M e r b a c h , Theodor Fontanes Mitarbeit an der „Kreuz-Zeitung". In: N P ( K ) Z Beilage zu Nr. 579 v. 24.12.1922 u. Beilage zu Nr. 587 v. 31.12.1922 (dort auch d a s Z i t a t ) . Vgl. H u b e r t u s Fischer, Selbstanzeige: Gegen-Wanderungen. In: FBI 43, 1987/ 1, S. 511—514. Vgl. H u b e r t u s Fischer, „Mit Gott für König und Vaterland!" Zum politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863. In: FBI 58, 1994 S. 6 2 - 8 8 u. FBI 59, 1995, S. 5 9 - 8 4 .

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Handzettel der Konservativen anläßlieh der Urwahl z u m preußischen A b g e o r d n e t e n h a u s am 28. April 1862

17

D a s Hesckiel-Kapitel

d i e N a t i o n a l z e i t u n g in i h r e r M o r g e n a u s g a b e v o m 13. A p r i l 1 8 6 2 f o l g e n d e s zu b e r i c h t e n : „F.s w e r d e n in m a n c h e n Bezirken namentlich g a n z e Stöße der b e k a n n t e n Flugblätter aus der H i c k e t h i e r ' s c h e n O f f i z i n in der u n g e z w u n g e n s t e n Weise verbreitet, indem m a n sie den e r s t a u n t e n Wählern aller Farben zu beliebigem G e b r a u c h e in die W o h n u n g sendet. Einem solchen dicken Paket, das uns zur Ansicht zugeht, ist ein Begleitschreiben beigelegt, nach welchem es sich jetzt nicht m e h r u m präzisere P r o g r a m m e , s o n d e r n n u r noch um den einzigen g r o ß e n G e d a n k e n h a n delt: ,alle Konservativen, d. h. Alle, welche die destruktiven und zersetzenden Tendenzen der D e m o k r a t i e v e r w e r f e n , um eine Allen gemeinschaftliche Fahne zu s a m m e l n ' . Die Unterzeichneten g e h ö r e n n u n freilich fast sämtlich dem d u r c h den ministeriellen Erlaß a u f g e r u f e n e n B e a m t e n s t a n d e an und z w a r einer gewissen in Berlin b e s o n d e r s zahlreich vertretenen Kategorie desselben. D a s Schreiben trägt folgende N a m e n : Freih. v. Ledebur, D i r e k t o r ; G. B e r g m a n n , G e h . Sekretär; Fontane, Schriftsteller; G . v. P u t t k a m m e r , Polizei-Lieutenant; G r u n d m a n n , G e h . Registrator; B r a n d t , G e h . Kanzlei-Rat; Dennerlein, G e h . Sekretär; D a n e , Kanzlei-Rat." Die e r w ä h n t e n Flugblätter, die der Preußische Volksverein herausgab, trugen Titel wie „Liebe Freunde und Parteigenossen!", „An Euch,

Ihr

p r e u ß i s c h e n M ä n n e r " , „An die H a n d w e r k e r P r e u ß e n s " , „An die W ä h l e r a l l e r P a r t e i e n " , „ W a s b e d e u t e t d e r H a g e n s c h e A n t r a g ? " , „ W e r soll r e g i e r e n ? " , „ S c h a f f t E u c h ein besseres S t e u e r s y s t e m a n ! " , „ S c h a f f t E u c h eine k ü r z e r e Dienstzeit!", „Schafft Euch eine billigere Justiz!". D a s

letztere

F l u g b l a t t w a r h e f t i g u m s t r i t t e n u n d h a t t e n o c h ein g e r i c h t l i c h e s N a c h s p i e l . Was die Konservativen d a m a l s unter „destruktiven und Tendenzen

der

Demokratie"

verstanden,

beantwortet

zersetzenden

ein

Leitartikel

L u d w i g v o n G e r l a c h s , b e t i t e l t „ W a s ist F o r t s c h r i t t ? " , e r s c h i e n e n in d e r „Kreuzzeitung" a m 23. April 1862, wenige Tage vor der U r w a h l . 5 9 Darin h e i ß t es: „Wir wollen nicht·. J u d e n als O b r i g k e i t e n und Lehrer — nicht Privilegierung des Wuchers — nicht Zivil-Ehe statt der kirchlichen Ehe — nicht U m s t u r z , w o h l aber R e f o r m , w o sie nötig sind, unserer G e m e i n d e - , Kreis- und Provinzialverfassungen — nicht Z e r s t ö r u n g des H e r r e n h a u s e s — nicht, d a ß der König a b h ä n g i g sei, s o n d e r n d a ß er König sei. Wir wollen auch nicht, d a ß Steuern und Gesetze o h n e die L a n d e s v e r t r e t u n g ü b e r das Land ergehen; das ist b o n a p a r t i s c h e s , aber nicht preußisches, nicht deutsches Recht, — wir wollen nicht·, die Alleinherrschaft bezahlter Schreiber und Juristen. Sondern w i r wollen: Ein selbständiges, mächtiges K ö n i g t u m , gestützt auf eine L a n d e s v e r t r e t u n g , in welcher alle Selbständigkeiten des Landes nach M a ß g a b e ihres w a h r e n G e w i c h t s zu Worte k o m m e n , Erhalt u n g des Rechts der L a n d e s v e r t r e t u n g , wie es v e r f a s s u n g s m ä ß i g feststeht in Be59

N P ( K ) Z Nr. 94, 23. April 1862.

18

Z u r Einführung

Nur mit der größten Anstrengung gehen aus der Wahlurne einige feudale Wahlmänner hervor [Fontane ist als 4. Figur v. r. zu erkennen]

ziehung auf neue Gesetze, neue Steuern und Kontrolle des Staatshaushalts, altpreußische Sparsamkeit dieses Haushalts — Selbstregierung in Innung, Gemeinde, Kreis und Provinz, so daß jedem sein Recht wird, — christliche Ehe, christliche Schule, christliche Obrigkeit, christliche Kirche — neue Gesetze nur w o sie nötig sein, Recht und Gerechtigkeit zu schützen und dringende Bedürfnisse zu befriedigen — ein, wie bisher, tapferes und treues Heer, befehligt vom Könige, — Treue und Glauben in Deutschland, — und dasjenige Ansehen in E u r o p a , welches Preußen als G r o ß m a c h t haben muß, und welches Preußen durch den gewissenhaften Schutz jedes guten Rechts in seinem Innern und in Deutschland (aber auch nur dadurch) unfehlbar erobert. D a s nennen wir Fortschritt!" D e r „ K l a d d e r a d a t s c h " , im Berlin der Z e i t das bei w e i t e m s t ä r k s t e B l a t t u n d in d e r E i n s c h ä t z u n g d e s B e r l i n e r „eine

Art

von

literarischer

Macht"60,

veröffentlichte

auflagen-

Polizeipräsidiums bereits

am

27.

April, einen T a g vor der U r w a h l , eine K a r i k a t u r mit der Bildunterschrift: „ N u r mit der g r ö ß t e n A n s t r e n g u n g gehen aus der W a h l u r n e einige feud a l e W a h l m ä n n e r h e r v o r . " U n s c h w e r ist d a r a u f F o n t a n e als W a h l m a n n zu e r k e n n e n , w i e e r s i c h an d e n F ü ß e n s e i n e s V o r d e r m a n n e s f e s t h ä l t u n d mit hängenden R o c k s c h ö ß e n vom Boden abgehoben hat, um mit

dem

r e c h t e n F u ß d i e W a h l u r n e zu e r k l i m m e n .

„ [ . . . ] der Kladderadatsch ist durch 3 3 0 0 0 Abonnenten eine Art von literarischer M a c h t " — aus den vertraulichen Berichten des Polizei-Präsidiums in Berlin vom 1 7 . 1 . 1 8 6 0 . In: G S t A Merseburg, Akte R . 7 7 5 4 A Vol 2, Bl. 2 8 9 .

Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

19

Wie es zu dieser W a h l m a n n k a n d i d a t u r kam, läßt sich nur vermuten. Die allgemeine Stimmung bei den Konservativen nach den seit 1858 immer empfindlicheren Wahlniederlagen in Folge war gedrückt. Das drohende erneute Wahldebakel einte die Fraktionen der Konservativen. Wiederholt und auf das dringendste ersuchte die „Kreuzzeitung" ihre Leser und Parteigenossen, „sich mit aller Hingebung und Energie bei den bevorstehenden Wahlen zu beteiligen"61. Aufrufe solcher Art sowie der bei solchen Ereignissen wirkende Korpsgeist, vielleicht auch eine gewisse Opferbereitschaft, mögen Fontane bestimmt haben, sich trotz der ungünstigen Wahlprognosen als Wahlmann aufstellen zu lassen. Seine Tagebuchbemerkung „das hat man davon!" spricht für sich. Große Chancen wird er sich nicht ausgerechnet haben. Denn nebenher schmiedete er Reisepläne. Drei Tage vor der Wahl stand die Route nach Kossenblatt über Fürstenwalde, Müncheberg und Buckow fest 6 2 , die ihn von Berlin fernhielt, als die Wahlmänner am 6. Mai 1862 das preußische Abgeordnetenhaus zu wählen hatten; an dieser Wahl hätte er im Falle eines persönlichen Erfolges teilnehmen müssen. Sucht man nach weiteren Gründen für Fontanes Bedürfnis, die Erinnerungen an sein „Kreuzzeitungstum" rückblickend einer späten Selbstzensur zu unterziehen, wird man die Geschichte der „Kreuzzeitung" berücksichtigen müssen und ihr angeschlagenes Erscheinungsbild zur Zeit der Niederschrift seiner Autobiographie.

Die „Kreuzzeitung"

und ihr

Redakteur

Im Revolutionsjahr 1848 zur Sammlung aller preußischen konservativmonarchischen Kräfte gegen die revolutionäre Bewegung gegründet, war die „Kreuzzeitung" von Anbeginn Sprachrohr des ständisch-gesinnten orthodox-konservativen ostelbischen Landadels. Noch vor der Parteig r ü n d u n g erschienen, hatte sie den Anstoß gegeben, aus einer „anfangs hauptsächlich royalistischen Vereinigung die konservative Partei mit ihren auf feste politische, kirchliche, wirtschaftliche und soziale Ziele gerichteten Bestrebungen" zu schaffen. 6 3 „Kreuzzeitung" und „Kreuzzei-

61 62 63

NP(K)Z, Nr. 98, 27.4.1862: Leitartikel: „Zur Wahl!" F. an Mathilde von Rohr, 26. April 1862, Briefe Propyläen, III, S. 28. Aus der Geschichte der Kreuzzeitung. In: NP(K)Z, 30.6.1898, anonym.

20

Zur Einführung

t u n g s p a r t e i " galten seither vor allem der liberalen Presse als S y n o n y m e , u n d der sie t r a g e n d e p r e u ß i s c h - o s t e l b i s c h e L a n d a d e l , s p ö t t i s c h „ K r a u t j u n k e r " g e n a n n t , erschien den Z e i t g e n o s s e n als „der d i r e k t e s t e G e g e n satz der w a h r e n , h o c h h e r z i g e n A r i s t o k r a t i e " 6 4 . M a n b e k a n n t e sich u n t e r d e m E i n f l u ß des R e c h t s p h i l o s o p h e n Julius Stahl zur m o n a r c h i s c h e n Verf a s s u n g , die d e m König die f ü h r e n d e M a c h t im S t a a t e i n r ä u m t , u n d s p r a c h sich gegen eine w e i t g e h e n d e p a r l a m e n t a r i s c h e M i t g e s t a l t u n g der Politik u n d gegen eine A u s w e i t u n g der B ü r o k r a t i e a u s . D e r W a h l s p r u c h „ V o r w ä r t s mit G o t t f ü r König u n d V a t e r l a n d " , zur Z e i t d e r B e f r e i u n g s kriege W a h l s p r u c h eines g a n z e n Volkes, w u r d e d a s B a n n e r d e r „ K r e u z z e i t u n g " bis in die z w a n z i g e r J a h r e dieses J a h r h u n d e r t s . A m 31. J a n u a r 1939 stellte sie ihr Erscheinen ein. Als A k t i e n g e s e l l s c h a f t w i r t s c h a f t l i c h sich selbst t r a g e n d , w a r d a s Blatt prinzipiell u n a b h ä n g i g von K r o n e u n d R e g i e r u n g . Im L a u f e ihrer G e schichte b e g a b sie sich m a l in den u n m i t t e l b a r e n E i n f l u ß b e r e i c h der S t a a t s m a c h t , mal s t a n d sie in s c h r o f f e m G e g e n s a t z zu ihr. Die P e r s ö n lichkeiten der jeweiligen C h e f r e d a k t e u r e — stark in ihrer P o s i t i o n als H a u p t a k t i o n ä r e — p r ä g t e n die politische T e n d e n z des Blattes, k a m p f f r e u d i g die e i n e n , g e m ä ß i g t die a n d e r e n . Im P r o u n d C o n t r a d e r Stellungn a h m e n F o n t a n e s zur „ K r e u z z e i t u n g " sind diese P h a s e n ablesbar. Als F o n t a n e zwischen H e r b s t 1894 u n d F r ü h j a h r 1896 seine E r i n n e r u n g e n n i e d e r s c h r i e b , h a t t e die „ K r e u z z e i t u n g " einen T i e f p u n k t ihrer G e s c h i c h t e erreicht. Im F r ü h j a h r 1895 w a r jener b e r ü c h t i g t e „Scheiterh a u f e n b r i e f " p u b l i k g e w o r d e n , mit d e m H o f p r e d i g e r Adolf

Stoecker

1888 den d a m a l i g e n C h e f r e d a k t e u r , den H o c h k o n s e r v a t i v e n

Freiherrn

W i l h e l m von H a m m e r s t e i n - G e s m o l d , b e w o g e n h a t t e , gegen B i s m a r c k s Kartellpolitik zu agitieren u n d z i e l b e w u ß t auf eine E n t f r e m d u n g zwischen d e m d a m a l i g e n Prinzen W i l h e l m , der sich bereits in der Rolle des s p ä t e r e n Kaisers s a h , u n d B i s m a r c k h i n z u w i r k e n . D u r c h die E n t h ü l l u n g w u r d e mit e i n e m M a l o f f e n b a r , w e l c h e Rolle in diesem „ g r o ß e n t a k t i schen Spiel von V e r s c h w ö r u n g u n d I n t r i g e " 6 5 die u n t e r H a m m e r s t e i n ä u ß e r s t k ä m p f e r i s c h e „ K r e u z z e i t u n g " d u r c h ihre

„Anti-Kartell-Front"

gespielt u n d d a d u r c h d e n schließlichen Sturz B i s m a r c k s m i t g e f ö r d e r t h a t t e . A u c h an d e m Sturz C a p r i v i s im O k t o b e r 1894 w a r sie n i c h t u n -

64 65

„Augsburger Allgemeine Zeitung", 25.12.1862. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866—1918, Bd. II, Machtstaat der Demokratie, München 2 1993, S. 335.

vor

D i e „ K r c u / . z c i t u n g " u n d ihr R e d a k t e u r

21

maßgeblich beteiligt gewesen, da sie den „Antisozialistenkurs" des Kaisers heftig b e f ü r w o r t e t und dessen Staatsstreichpolitik unterstützt hatte. Die „Kreuzzeitung" b e k ä m p f t e besonders in jenen J a h r e n jede Politik, die den christlichen Staat u n d T h r o n in G e f a h r bringen könnte, pflegte einen immer extremeren Antisemitismus und f ü h r t e eine immer schärfere Sprache gegen die Sozialdemokratie. Sie verspielte d a d u r c h auch ihre Rolle als f ü h r e n d e s O r g a n der Deutschkonservativen. Empfindlichen Ansehensverlust erlitt sie zudem durch den von der Öffentlichkeit stark beachteten S k a n d a l p r o z e ß H a m m e r s t e i n s , der 1895 seines Amtes als C h e f r e d a k t e u r e n t h o b e n und wegen Betrugs und U r k u n d e n f ä l s c h u n g zu drei J a h r e n Z u c h t h a u s verurteilt w u r d e . Die Vermutung liegt nahe, d a ß Fontane es auch vor diesem aktuellen H i n t e r g r u n d f ü r r a t s a m hielt, in einem späten a u t o b i o g r a p h i s c h e n Balanceakt zwischen O f f e n h e i t und Verschweigen, zwischen h a r m l o s e r Plauderei und b e w u ß t inszenierter Verschleierung politischen Abstand von der „Kreuzzeitung" zu d e m o n strieren, auch wenn er sich ihr einst als „eine Zierde, ein kleiner Stolz" 6 '' zugehörig gefühlt hatte. jVtit dem Eintritt in die „Kreuzzeitungs"-Redaktion n a h m Fontane einen Beruf auf, der nicht besonders angesehen w a r und k a u m persönliche A c h t u n g einbrachte. Die Bezeichnung „ R e d a k t e u r " galt als Titel, der sich zumeist auf f e d e r g e w a n d t e Schöngeister bezog, die nicht in erster Linie politische Köpfe zu sein b r a u c h t e n , sondern sich vor allen Dingen aufs p o p u l ä r e Schreiben verstehen m u ß t e n , um die Tagesberichterstattung aus den verschiedenen Z i t a t m e n g e n , die täglich einliefen und die es auszuwählen und entsprechend zu p a r a p h r a s i e r e n galt, lesegerecht zuzubereiten. Die d a m a l s sich z u n e h m e n d a u s w i r k e n d e Technisierung und industrielle V e r m a r k t u n g der Tagespresse rückte die persönliche Bedeutung des fast immer im A n o n y m e n bleibenden R e d a k t e u r s weit in den H i n t e r g r u n d . D a s Publikum w a r „nur zu sehr geneigt", wie die WeserZ e i t u n g im Juni 1861 bedauerte, „seine A u f m e r k s a m k e i t auf die Teleg r a m m e , lithographischen Korrespondenzen und D a m p f p r e s s e n zu k o n zentrieren und im A n s t a u n e n dieser mechanischen V e r v o l l k o m m n u n g das persönliche Verdienst des journalistischen Arbeiters zu ü b e r s e h e n " . 6 7 Im Gegensatz zu England, w o der R e d a k t e u r sozial h ö h e r gestellt w a r

66 67

F. a n E m i l i e , 11. M a i 1 8 7 0 . In: H F A IV, 2, S. 3 0 8 . Weser-Zeitung, 30.6.1861.

22

Zur Einführung

und Z u g a n g zu gesellschaftlichen Z i r k e l n von E i n f l u ß hatte, führte zudem der politische Zeitungsschriftsteller in D e u t s c h l a n d , wie Julius D u b o c noch 1 8 8 3 in seiner „ G e s c h i c h t e der englischen P r e s s e " a n a l y s i e r t e 6 8 , „den K a m p f ums Dasein meistens in der schwersten F o r m " . Materiell ungenügend gestellt, sei er durch keine Pensionsberechtigung, keine andere Altersversorgung oder irgendeine p r o p h y l a k t i s c h e M a ß r e g e l in seiner gebrechlichen Existenz geschützt, verzichte er von vornherein auf jede äußerlich ansehnliche Stellung wie auf die M ö g l i c h k e i t , sich im Leben e m p o r z u a r b e i t e n . O b g l e i c h Schriftsteller, entgehe ihm durch die Ano n y m i t ä t seines Schaffens die Befriedigung, müsse er sich meistens mit einigen

flüchtigen

Kulissenblicken auf die politische S c h a u b ü h n e begnü-

gen. Im großen und ganzen trifft diese Einschätzung auch auf die R e dakteure der „ K r e u z z e i t u n g " zu. Auch für sie w a r zur Z e i t der M i t a r b e i t Fontanes die Pensionsfrage ungeregelt. G e r a d e darüber hat sich F o n t a n e bekanntlich nach zehnjähriger M i t a r b e i t e m p ö r t und letztlich aus diesem G r u n d e seine Stelle a u f g e g e b e n . 6 9 In einem entscheidenden Punkt aber unterschied sich die „ K r e u z z e i t u n g " von anderen Tageszeitungen Z e i t : Als Parteiorgan w a r sie eng mit dem

der

politisch-gesellschaftlichen

Leben der konservativen Partei verquickt, an dem die M i t a r b e i t e r der Z e i t u n g u n m i t t e l b a r Anteil n a h m e n . In F o n t a n e s E r i n n e r u n g w a r das gesellige L e b e n der „ K r e u z z e i t u n g s " - L e u t e „das d e n k b a r angenehmste, weil alles, was zum Bau gehörte, nicht b l o ß politisch oder redaktionell, sondern auch gesellschaftlich m i t z ä h l t e " 7 0 . Neben dem „Cercle i n t i m e " , der sich beim C h e f r e d a k t e u r privat t r a f („ein S i c h v e r s a m m e l n im Familienkreise"

68

69

70

— „alles mehr P r i v a t s a c h e " ) und neben den offiziellen

Julius Duboc, Geschichte der englischen Presse. Nach ]. Grant's Newspaper Press, frei bearbeitet, Hamburg 1883, S. X X . In einem Brief an Mathilde von Rohr rechtfertigt F. seine Kündigung: „Die unmittelbare Veranlassung war unbedeutend, das Maß war aber voll und so lief es über. Die Unfreiheit, die Dürre, die Ledernheit des Dienstes fingen an mir unerträglich zu werden, vor allem aber empörte mich mehr und mehr der Umstand, daß man nie und nimmer für gut fand, die wichtige Pensionsfrage auch nur leise zu berühren. Ich sagte mir also, das geht noch so 10 Jahr, dann sehnt man sich nach einer jüngeren Kraft, behandelt Dich schlecht und zwingt Dich Deine Stelle zu quittieren; dem komme ich lieber zuvor, jetzt kanns noch glücken; und danach hab ich gehandelt." In: HFA IV, 2, S. 3 1 1 . Vom Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 261,

Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

23

Repräsentations-„Festessen" (anläßlich eines königlichen Geburtstages oder eines Berlin-Besuchs auswärtiger Mitarbeiter und Parteifreunde) zählt Fontane die sogenannte „politische Ressource" zur wichtigsten Reunion des Blattes. Sie verfolgte den Zweck, „in jedem Redaktionsmitgliede das Gefühl einer besonderen Zugehörigkeit zu wecken oder, w o es schon da war, zu steigern. Keiner sollte sich als Lohnschreiber empfinden. Also Umwandlung des Hörigen in einen Freien" 7 1 . D a s Ziel war, die Redakteure mit der „gesamten O b e r s p h ä r e " der Konservativen in Kontakt zu bringen. Fontane schreibt zwar, daß diese „politische Ressource" kaum einen Winter Bestand gehabt habe, erinnert sich der Zusammenkünfte aber „mit einem ganz besonderen Vergnügen". Hier wie bei allen anderen gesellschaftlichen Festlichkeiten der Redaktion konnte er sich nach Jahren der Isolation in England nah und zugehörig zur politischen Sphäre in Preußen fühlen und Einblicke in politisches Denken und Handeln gewinnen, die er als lehrreich empfunden haben wird. Sie haben ihn um jene Erfahrungen bereichert, die ihn zum Zeitund Gesellschaftskritiker heranreifen ließen, der — wie in seinem späteren Romanwerk — immer auch das politisch Wirkmächtige im Blick hatte. Über den Geist, der in den R e d a k t i o n s r ä u m e n 7 2 herrschte und der ihm seinen Beruf als Redakteur angenehm gemacht hat, schreibt er: „Mit Vergnügen denk' ich an den trotz vieler Reibereien und persönlicher Gegensätze doch immer kamerdaschaftlichen Ton z u r ü c k " 7 3 , und etwas später: „Von dem sprichwörtlichen ,Der schwarze Mann k o m m t ' , wovor ich ganz aufrichtig gebangt hatte, war keine Rede; nichts von Byzantinismus, nichts von Muckertum. Alles verlief eher umgekehrt. Stärkste Wendungen, auch gegen Parteiangehörige, fielen beständig und von jener erquicklichen Meinungsfreiheit [...] wurde der weiteste Gebrauch gemacht." Eine „ O b e r r e d a k t i o n " , die ihm das Leben sauer gemacht und

71

72

73

Ebd., S. 269. Vgl. dazu Ludwig v. Gerlachs Leitartikel „Die konservative Presse". In: N P ( K ) Z , Nr. 19, 23.1.1862. Verlag und Expedition der „Kreuzzeitung" waren bis zum 25. September 1864 in der Dessauerstr. 5 untergebracht, vom 26. September 1864 an in der Hirschelstr. 4, die im April 1868 in Königgrätzer Str. 15 umbenannt wurde. Fontane wohnte bereits seit dem 1. Oktober 1863 in der Hirschelstr. 14, der späteren Königgrätzer Str. 25, und damit in unmittelbarer N a c h b a r s c h a f t zur Redaktion. Von Zwanzig bis Dreißig. In: N F A XV, 261.

24

Zur Einführung

Tuiskon Beutner

seiner ganzen Natur nach dem Ausharren auf diesem Posten ein frühes Ende bereitet hätte, scheint es nicht gegeben zu haben. Tuiskon Beutner, von 1854 bis 1872 Chefredakteur der „Kreuzzeitung", hatte evangelische Theologie studiert und war Hauslehrer gewesen. Seinen „Hundeposten" 7 4 , wie Fontane meint, übte er „wie andre m e h r " 7 5 aus. Er war kein Politiker im eigentlichen Sinne; ihm fehlte der für die aktuellen Fragen der Zeit notwendige Spürsinn, besonders auf dem für den Landadel wichtigem wirtschaftspolitischem Gebiet. Der po74 75

F. an Emilie, 2. Dezember 1869. In: HFA IV, 2, S. 281. Segeletz. Geh. R. H . Wagener. In: AFA Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Dörfer und Flecken im Lande Kuppin. Unbekannte und vergessene Geschichten aus der Mark Brandenburg I, hg. v. G o t t h a r d Erler unter M i t a r beit v. Therese Erler, Berlin 2 1992, S. 215.

Die „Kreu/.zeitung" und ihr R e d a k t e u r

25

D e r Kreuzzeitung aber steigt die „Milch der legitimen D e n k a r t " in den Kopf, u n d sie verfällt in Annexionsscheu mit Garibaldifieber. O n k e l Spener w i r d in M i t l e i d e n s c h a f t gezogen

litisch-dialektische Stil des Blattes unter seinem Vorgänger H e r m a n n Wagener, eine M i s c h u n g von scharfer Polemik, kalter Ironie und geistigem H o c h m u t , der das Image der A n f a n g s j a h r e der „Kreuzzeitung" geprägt hatte, w u r d e unter Beutner m o d e r a t e r , ausgleichender. So gehörte das Blatt besonders seit der „ N e u e n Ä r a " zu den z w a r i m m e r noch von liberaler u n d d e m o k r a t i s c h e r Seite heftig angegriffenen Presseorganen, w a r aber k a u m mehr von politisch maßgeblicher Bedeutung. Selbst der „ K l a d d e r a d a t s c h " verlor sein zu Wageners Zeiten oft u n d gern geäußertes Interesse an der satirischen V e r h ö h n u n g der hochkonservativen Prinzipien u n d beschäftigte sich in dieser Zeit n u r n o c h gelegentlich mit d e m Presseorgan der Rechten. Schon bald nach Bismarcks Regierungsantritt galt die „Kreuzzeitung" bis zur R e i c h s g r ü n d u n g — vom Blatt selbst o f t dementiert — s o w o h l national als auch international als „halboffiziös", w a r d o c h Bismarck b e k a n n t als einer der eifrigsten, der in der G r ü n d u n g s p h a s e des Blattes auf dessen H e r a u s g a b e u n d G e s t a l t u n g Einfluß g e n o m m e n hatte. Beutners Stellvertreter w a r Dr. W o l d e m a r Heffter, ein ehemaliger Gymnasiallehrer, der 45 J a h r e lang in der Schriftleitung der „Kreuzzei-

26

Z u r Einführung

An den Gerüchten von Veränderungen im Ministerio ist kein wahres Wort

Neue Preuß. Ztg.

tung" tätig war. Sein „besonderes Feld" war die Kirchenpolitik 7 6 , die im politischen Teil und in der Feuilleton-Beilage breiten Raum einnahm. Daneben gehörten zu Fontanes Zeit zur „Redaktionskaprüle" 7 7 George Hesekiel, Hermann Goedsche, Friedrich Adami und P. Fischer. Letzterer verließ das Blatt in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts. An seine Stelle ist möglicherweise jener Puckardt getreten, den Fontane in einem Brief an Ludovica Hesekiel erwähnt hat. 7 8 Hesekiel, den Fontane noch 1849 als „blonden Lügenpropheten" apostrophiert und „für einen Lump und Erzschweinehund, für einen Mucker vom reinsten Wasser" bezeichnet hatte 7 9 und dem er sich jetzt freundschaftlich verbunden fühlte, war „eine Hauptperson der Zeitung, zeitweilig die Hauptperson" 8 0 . Seine „Domäne" war der französische Artikel. Er war ein in konservativen Kreisen als literarisches Talent geschätzter Romancier und Verseschmied von ungewöhnlicher Produktivität. Wohlgelitten in der Partei, wurde er Bismarcks erster Vergil. Für Fontane 76

77 78 79 80

Alfred Merbach, Die Kreuzzeitung 1848—1923. Ein geschichtlicher blick. In: NP(K)Z, Nr. 274, 16. Juni 1923, S. 15. Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 273. F. an Ludovica Hesekiel, 19. Juli 1870. In: HFA IV, 2, S. 324. F. an Bernhard von Lepel, 18. April 1849. In: HFA IV, 2, S. 68. Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 260.

Rück-

Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

27

George Hesekiel

war er „eine ausgesprochene Persönlichkeit, ein unterhaltlicher Lebemann und vor allem ein guter K a m e r a d " 8 1 . Hermann Goedsche gehörte seit seiner unrühmlichen Rolle im Prozeß Waldeck zu den Redakteuren der weniger gediegenen Gattung. Er redigierte den berüchtigten „Berliner Z u s c h a u e r " , jene Spalte unter dem Strich auf den Seiten 2 und 3, deren Tagesneuigkeiten in ihrer unbekümmerten Vielfalt der „Kreuzzeitung" immer wieder die besondere Aufmerksamkeit der Zeitungsleser bescherte. Fontane, der Goedsche 1849 als ,,zuschauerliche[n] H a n s w u r s t " 8 2 tituliert hatte, schildert ihn im Hesekiel-Kapitel

sehr viel wohlwollender.

Er

sei alles andere

als ein

„Schreckensmensch" gewesen, sondern, „bei hundert kleinen Schwächen und vielleicht Schlimmerm, ein Mann von großer Herzensgüte" 8 3 , der mit seinen Sir J o h n Retcliffe-Romanen „eine Art Bauernfängerei" be-

82

Ebd., S. 2 7 4 . Κ Berlin, 2 3 . M ä r z 1 8 5 0 . In: HFA III, 1, S. 66; ähnlich in Κ Berlin, 13. Dezember 1 8 4 9 . Ebd., S. 4 0 .

8·'

Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 259.

81

Z u r Einführung

Hermann Goedsche

trieb, die ihn aber bestens nährte, da seine Sensationsromane zu den gelesensten der Zeit gehörten. Auch Friedrich Adami, seit 1849 als Theaterkritiker und Mitarbeiter am „Berliner Zuschauer" tätig, hatte sich bereits durch seine historischen Romane von preußisch-patriotischer Tendenz einen Ruf als Schriftsteller erworben. Die „Kreuzzeitung" druckte 1863 seine nach den Aufzeichnungen von Augenzeugen geschriebenen Erinnerungen an die patriotische Freiheitsbewegung des Jahres 1813 unter dem Titel „Vor fünfzig Jahren" auszugsweise ab. Über P. Fischer ist nicht viel bekannt. Fontane nennt ihn einen „sehr lieben, braven und höchst anständigen Menschen, obschon er aus Leipzig ist" 8 4 . Über sein Aufgabengebiet ließ sich nichts ermitteln. Größer wird dieser feste Mitarbeiterstab nicht gewesen sein. 8 5 Im schmalen Hesekiel-Nachlaß ist ein Blatt erhalten, überschrieben „Ein Tag im Redaktionslocal einer Zeitung" 8 6 , das den szenischen Hinweis 84 85

86

F. an Wilhelm Hertz, 24. Dezember 1862. In: FHe S. 84. Vgl. auch F.s Gedicht „ Z u m ,Pfefferkuchenabend' bei Beutners, 29. Dezember 1863": „Sie saßen plaudernd bei Brot und Wein, / Sieben Freunde und Genossen, ...", AFA Gedichte III, S. 174. Staatsarchiv Goburg, Nachlaß Hesekiel, Nr. 3.

Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

29

Friedrich Adami

trägt: „ D i e Szene zeigt drei Z i m m e r , im l s t e n 1, im 2 . 2 , im 3 . 3 H e r r e n a m S c h r e i b t i s c h . " D a s B l a t t l ä ß t sich als a n t e q u e m 2 3 . April 1 8 7 1 datier e n . 8 7 D e r rasch h i n g e w o r f e n e , nicht in allen Teilen e n t z i f f e r b a r e T e x t vermittelt einen E i n d r u c k von der h e k t i s c h - k o n f u s e n A t m o s p h ä r e in der „ K r e u z z e i t u n g s " - R e d a k t i o n an e i n e m typischen R e d a k t i o n s t a g k u r z vor der S c h l u ß r e d a k t i o n . Es zeigt ein eingespieltes T e a m von „ C h e f " und 5 R e d a k t e u r e n , die in d u r c h e i n a n d e r s c h w i r r e n d e n Fragen

aushandeln,

wieviele Z e i l e n w e l c h e N a c h r i c h t e n h a b e n d ü r f e n , w a s u n t e r „Vermischt e s " fällt, w o letzte Fragen n o c h g e k l ä r t w e r d e n m ü s s e n , w o zugunsten w i c h t i g e r N a c h r i c h t e n anderes herausfallen soll. D a z w i s c h e n i m m e r wieder der R e d a k t i o n s d i e n e r S c h ü t z e , der irgendeine E x z e l l e n z und w e n n nicht eine s o l c h e , so d o c h einen G e n e r a l von W i t z l e b e n o d e r einen H e r r n von K n e b e l - D o b r i t z m e l d e t , e b e n jene I n f o r m a n t e n

aus M i l i t ä r -

und

H o f k r e i s e n , die dem Blatt die letzten N e u i g k e i t e n zutrugen und es zu einem wohlunterrichteten machten.

87

E i n e r d e r R e d a k t e u r e w i r f t e i n , O m a P a s c h a sei t o t und diese N a c h r i c h t b r a u c h e n o c h i h r e 12 Z e i l e n . D e r z u l e t z t als K r i e g s m i n i s t e r des o s m a n i s c h e n R e i c h e s tiitige O m e r P a s c h a s t a r b a m 1 8 . A p r i l 1 8 7 1 . D i e M e l d u n g e r s c h i e n a m 2 3 . 4 . 1 8 7 1 in d e r „ K r e u z z e i t u n g " . U m diese Z e i t d ü r f t e d i e s e r T e x t e n t s t a n den sein.

30

Z u r Einführung

Außer in Paris 8 8 scheint die „Kreuzzeitung" zwischen 1860 und 1870 keinen ständigen Korrespondenten im europäischen oder außereuropäischen Ausland gehabt zu haben. Fontane war von 1856 bis 1858 offenbar der erste Korrespondent der „Kreuzzeitung" in England gewesen. Edgar Bauer, der bis zu seiner Rückkehr nach Berlin Anfang 1861 der „Kreuzzeitung" von London aus „ab und zu" Korrespondenzen lieferte 8 9 , scheint im Verlauf dieses Jahrzehnts ohne Nachfolger geblieben zu sein. Zu dem festangestellten inneren Redaktionskreis kam noch ein größerer Mitarbeiterkreis aus der Gruppe der Zeitungsgründer sowie wechselnde Mitarbeiter aus dem zumeist ostelbischen Junkertum und dem pietistischen Milieu kirchlicher und universitärer Einrichtungen, die durch ihre Zuschriften mehr oder weniger unregelmäßig ihre Feder in den Dienst ihrer Parteipresse stellten. Blättert man heute in der großformatigen „Kreuzzeitung" von 1860 bis 1870 und folgt darin von Tag zu Tag dem Lauf dieses kriegerisch bewegten und für Preußens fernere Geschichte entscheidenden Jahrzehnts, so kann man — besonders mit Blick auf die von Fontane redigierte Großbritannienspalte und seine fingierten Korrespondentenbriefe — im nachhinein teilhaben an dem, was ihn damals als Brotberuf beschäftigt hat. Dabei ist es nicht leicht, die durch persönliche Intentionen getroffene Auswahl und Kommentierung der zeitgenössischen Ereignisse von dem zu trennen, was durch parteipolitische Direktiven der Leitung des Blattes, was durch die feudalkonservative Interessenlage der Leserschaft und was durch die Absicht, auf die öffentliche Meinung eigenen Einfluß auszuüben, bedingt war. Wer aber richtig zu lesen versteht, dem wird sich in diesen Artikeln jene europäische Gedankenwelt als Quelle offenbaren, die später so vielfach verarbeitet im Erzählwerk Fontanes eingebunden ist, die aber bisher als Teil der Biographie fehlt. Wer sich mit Art und Umfang der redaktionellen Arbeit Fontanes befassen möchte, sieht sich dem Dilemma ausgesetzt, daß sowohl die Tagebücher gerade aus dem Anfang dieses Jahrzehnts, die Aufschluß geben könnten, als auch das einst umfangreiche Redaktionsarchiv der „Kreuz-

ss

89

Vgl. Eberhard Naujoks Bismarcks auswärtige Pressepolitik und die Reichsgründung (1865-1871), Wiesbaden 1968, S. 271 f. Edgar Bauer an Peder Hjort, 23. Juli 1860. In: Edgar Bauer, Konfidentenberichte über die europäische Emigration in London 1852 — 1861, hg. v. Erik Gamby, Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Nr. 38, Trier 1989, S. 565.

Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

31

zeitung", dessen Honorarbücher die Korrespondentensiglen aufschlüsseln helfen könnten, fehlen. So bleibt nur das Wenige, Zufällige, das in den Archiven überdauert hat. Dazu gehören vier Manuskriptseiten für die „Kreuzzeitung" aus der Feder George Hesekiels aus dem Staatsarchiv Coburg. 9 0 Diese Artikel und fingierten Korrespondenzen, die nachweislich in der Auslandsspalte der „Kreuzzeitung" erschienen sind, scheinen Hesekiels letzte Arbeiten für das Blatt gewesen zu sein. Wenige Tage nach ihrem Abdruck starb er nach nur kurzer Krankheit. Für unseren Zusammenhang sind sie insoweit interessant, als sie einen Einblick in die redaktionelle Tagesarbeit gewähren. Sie enthalten nicht nur zwei „Tagesberichte" Hesekiels „aus" Frankreich, dessen redaktioneller Teil seine Domäne war, sondern auch zwei weitere fingierte, mit jeweils einem eigenen Sigle versehene Korrespondenzen „aus" Spanien und „aus" den Niederlanden. Ein und derselbe Redakteur war also für die Berichterstattung „aus" und über verschiedene Länder zuständig. Das war in jener Zeit, in der der Redaktionsstab selbst großer Zeitungen klein war, allgemein üblich. Was jeder von ihnen an seinem Tische geleistet habe, sei „sehr verschiedenwertig" gewesen, heißt es in bezug auf Hesekiel in dem ihm gewidmeten Kapitel. 9 1 Eine Vorstellung von Hesekiels redaktioneller Zuständigkeit vermittelt ein Gedicht Hermann Goedsches, betitelt „Menu zur silbernen Hochzeitsfeier unseres Freundes George Hesekiel mit der Dame Kreuz-Zeitung am 4. Oktober 1873" 9 2 , das sich in einer gedruckten Fassung im Fontane-Archiv in Potsdam fand und in dem die von Hesekiel zu bearbeitenden Länder unter kulinarischen Gesichtspunkten — Hesekiel galt als Gourmet — zusammengestellt sind. Danach hatte er außer Frankreich auch die Frankreich unmittelbar angrenzenden Staaten, einschließlich der Niederlande, ferner den gesamten südosteuropäischen Bereich, das osmanische Reich und China redaktionell zu bearbeiten. Auch Fontane war nicht nur für Großbritannien redaktionell verantwortlich, sondern auch für Mitteilungen aus den britischen Kolonialbesitzungen, ferner für Nordamerika 9 3 , für die skandinavischen Länder, 90 91 92

93

Staatsarchiv Coburg, Nachlaß Hesekiel, Nr. 3. Von Zwanzig bis Dreißig. In: NFA XV, S. 260. Zeitungsausschnittsammlung 1855—1875, Fontane-Archiv Potsdam, S. 477— 478. Vgl. ζ. B. F.s Korrespondenzen und Berichte über den Sezessionskrieg. Die Vorgänge in Nordamerika werden im wesentlichen nach Zitaten aus engl. Zeitungen kommentiert.

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Die „Kreuzzeitung" und ihr Redakteur

35

deren Artikel hauptsächlich aus der Spalte D ä n e m a r k b e s t a n d 9 4 , für das unter preußischer Verwaltung stehende polnische Gebiet 9 5 und für die Ostseeprovinzen 9 6 . Z u besonderen Anlässen lieferte er auch Korrespondenzen aus den deutschen Kleinstaaten. 9 7 Die Hesekiel-Manuskripte für die „Kreuzzeitung" machen auch offenbar, daß man sich bereits gedruckter Kurzmitteilungen aus anderen deutschen Zeitungen bediente und sie entweder unverändert übernahm oder unwesentlich ergänzte bzw. kürzte. In jedem Fall erhielten sie Überschriften, die — für das Druckbild der „Kreuzzeitung" charakteristisch — den Artikeln in eckiger K l a m m e r jeweils unmittelbar vorangestellt sind. So wurden mit Schere und Klebstoff im Anschluß an den handschriftlichen „Tagesbericht" Hesekiels, der am 13. Februar 1 8 7 4 in der „Kreuzzei-

94

95

96

97

Vgl. F.s Brief an Emilie vom 11. Mai 1870, in dem er ihr die Kündigung seiner „Kreuzzeitungs"-Stelle mitteilt: „Am Ostersonnabend hatte ich den Ärger. Er sagte mir etwas über Skandinavien' (lächerlich in sich), sprach artig, aber sehr kühl, zog Parallelen mit Hesekiel; ich kriegte das Zucken um den Mund, stand auf und empfahl mich." HFA IV. 2, S. 307. Die „kühle Standrede" (ebd., S. 308) Beutners wird sich auf eine Vernachlässigung des SkandinavienArtikels bezogen haben. Von Januar bis Mitte April waren nur 5 kurze Artikel „aus" Skandinavien erschienen, und zwar in den Ausgaben vom 2., 13., 20. März u. 6. u. 7. April 1870. Es fällt auf, daß nach F.s Kündigung die Spalte „Dänemark" fast täglich erscheint; der durch den deutsch-französischen Krieg vermehrt beanspruchte Raum macht dieser demonstrativen Merkwürdigkeit ein Ende. Vgl. die mit F.s Sigle * t * erschienenen Korrespondenzen aus Posen. An der viele Jahre hindurch geführten Spalte „Die polnische Frage", die Korrespondenzen unter verschiedenen Siglen enthält, oft auch die Berichte aus Berlin datiert, hat F. wahrscheinlich ebenfalls mitgearbeitet. Die Ereignisse in Polen sind zeitweilig auch in der Spalte „Rußland" untergebracht. Vgl. F.s Brief an Emilie v. 26. November 1869: „Mit Derschau zankte ich mich. Er sagte. ,die Mißstimmung in den russischen Ostseeprovinzen ist eine künstlich gemachte; man glaubt daran in Deutschland, in den Ostseeprovinzen selbst ist sie so gut wie gar nicht vorhanden; es ist bloßer Zeitungsschreiber· Lärm, dem alle reale Basis fehlt.' Da er noch vier, fünf mal von Zeitungsschreibern' sprach, so sagte ich ihm: ,ich sei auch einer, hätte diese Dinge zu bearbeiten und könnte ihm versichern, daß ich persönlich noch nicht in einer Zeile Lärm gemacht hätte, sondern daß es kurische und livländische Edelleute wären, die als Amateurs innerhalb der Zeitungsschreiberei diesen Lärm besorgten.'" In: HFA IV, 2, S. 271. Vermutlich hat Fontane diese unter dem Sigle F geschrieben. Diese sind in der Edition der Unechten Korrespondenzen nur exemplarisch erfaßt, und auch nur solche, die sein Sigle * f * tragen.

Zur Einführung

36

t u n g " erschienen ist, allein vier Kurzmitteilungen aus der „Kölnischen Z e i t u n g " v o m 11. Februar und ein kurzer Artikel aus der „Augsburger Allgemeinen Z e i t u n g " v o m 11. Februar 1 8 7 4 ü b e r n o m m e n . Auch der Zeitungsausschnitt für die R u b r i k „ S p a n i e n " s t a m m t aus der „Kölnischen Z e i t u n g " , und zwar v o m 10. Februar 1 8 7 4 . E n t s p r e c h e n d wird man sich auch Fontanes Arbeitsweise vorzustellen h a b e n . Sie w a r insoweit eine unselbständige, lediglich vermittelnde, die zu eigener G e d a n k e n w i e d e r g a b e keinen R a u m ließ. Vergleiche seiner Spalte mit der zeitgenössischen Tagespresse bestätigen, d a ß Artikel, die in der „Kreuzzeitung" unter „ G r o ß b r i t a n n i e n " erschienen sind, zuvor bereits wörtlich in anderen überregional bedeutenden Z e i t u n g e n publiziert worden w a r e n , und z w a r vorzugsweise in der liberalen „Kölnischen Z e i t u n g " aus d e m Verlag D u m o n t - S c h a u b e r g , für die M a x Schlesinger als E n g l a n d - K o r r e s p o n d e n t a n e r k a n n t zuverlässige Artikel lieferte, ferner in der in Berlin erscheinenden „ N a t i o n a l - Z e i t u n g " , die d a m a l s im Besitz von B e r n h a r d W o l f f war, dem G r ü n d e r des „Telegraphischen C o r r e s p o n d e n z - B u r e a u s " (W.T.B.), und auch der liberalen „Weser-Zeitung". Besonders diese drei Blätter w a r e n mit ihren N a c h r i c h t e n über G r o ß b r i tannien oft allen anderen Zeitungen um einen T a g voraus. Auch die „Augsburger Allgemeine Z e i t u n g " ,

das Blatt des Verlagshauses

von

C o t t a , dessen England-Artikel für seine sachliche Berichterstattung bek a n n t war, sowie die zweimal täglich erscheinenden gemäßigt liberalen „ H a m b u r g e r N a c h r i c h t e n " und die nach B i s m a r c k s A m t s a n t r i t t offiziöse „ N o r d d e u t s c h e Allgemeine Z e i t u n g " scheinen von F o n t a n e für seine Berichterstattungen über G r o ß b r i t a n n i e n benutzt w o r d e n zu sein. Gelegentlich g a b er bei längeren Artikeln, wenn er sie wörtlich ü b e r n o m m e n hatte, die Q u e l l e an; die Regel w a r das jedoch nicht. Was uns heute als „ M i ß b r a u c h " 9 8 erscheint, w a r d a m a l s , J a h r z e h n t e bevor

geistiges

Eigentum

durch

ein

Urheberrechtsgesetz

geschützt

wurde, eine verbreitete G e w o h n h e i t und überdies keinesfalls eine Spezialität deutscher Zeitungsschreiber. In einem Artikel der „ K r e u z z e i t u n g " wird über eine in dieser Hinsicht — wie es heißt — „sehr charakteristische G e s c h i c h t e " berichtet, die dem Unterhaltungsblatt „ D a h e i m " mit der L o n d o n e r „ T i m e s " d a m a l s passiert w a r . " „ D a h e i m " hatte im H e r b s t

98

99

Kurt Koszyk, Deutsche l'resse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse. Teil II, Berlin 1966, S. 210. „Daheim" und Times. In: NP(K)Z 231, 4.10.1866. Vermutlich ist F. der Verfasser dieses unsignierten kleinen Artikels.

Die „ K r e u z z e i t u n g " und ihr R e d a k t e u r

37

1866 einen Artikel über einen Besuch bei N i k o l a u s Dreyse, d e m Erfinder des Z ü n d n a d e l g e w e h r s , gebracht. Kurz d a r a u f w a r in der „Times" von ihrem „ o w n B e r l i n - C o r r e s p o n d e n t " eine Übersetzung dieses Aufsatzes erschienen, o h n e d a ß sie als solche kenntlich g e m a c h t w o r d e n wäre, im Gegenteil, der K o r r e s p o n d e n t h a t t e noch versichert, d a ß er das G e s p r ä c h durch E m p f e h l u n g e n h e r v o r r a g e n d e r M ä n n e r in Berlin h a b e f ü h r e n k ö n nen. „Wie g e w ö h n l i c h " , heißt es in d e m Artikel, „ d r u c k t e n u n d übersetzten n u n nicht n u r englische u n d französische Blätter diesen OriginalArtikel der T i m e s nach, sondern auch deutsche Z e i t u n g e n m a c h t e n sich dieses s o n d e r b a r e Vergnügen." Fatalerweise h a t t e auch die „Daily N e w s " von ihrem Berliner K o r r e s p o n d e n t e n am Tag zuvor denselben Artikel als unautorisierte Übersetzung erhalten. D e r „ M o r n i n g Star" h a t t e das b e m e r k t u n d die Flunkerei aufgedeckt. R e d a k t i o n des „englischen Artikels" bedeutete also zunächst, im politischen Auslandsteil des Blattes, der in der Regel auf den Seiten 2 und 3 zu finden war, die aktuellen M e l d u n g e n für die Tagesberichte der verschiedenen Spalten, speziell der über „ G r o ß b r i t a n n i e n " , aus den Nachrichten, die tagtäglich in verschiedener Gestalt eintrafen, a u s z u w ä h l e n , die schlagendsten Stellen zusammenzustellen, mit eigenen überleitenden Worten zu verbinden und — je nach A n l a ß und N o t w e n d i g k e i t — zu k o m m e n t i e r e n . In A u s w a h l und K o m m e n t i e r u n g h a t t e der R e d a k t e u r subjektive Gestaltungsmöglichkeiten, die er nutzen k o n n t e , w e n n er wollte und wenn der zur Verfügung stehende R a u m dies zuließ. Die zumeist kurzen, a m „ K o p f " und „ S c h w a n z " stehenden K o m m e n t a r e , die den C h a r a k t e r von Glossen h a b e n , sollten d e m Ganzen die richtige meinungsbildende Beleuchtung geben, sei es mit Blick auf die Direktiven der Leitung des Blattes, sei es mit Blick auf die A b o n n e n t e n s c h a f t , deren Interessenlage u n d I n f o r m a t i o n s b a s i s zu berücksichtigen war, sei es aus dem D r a n g nach eigener Interpretation, mit der nicht h i n t e r m Berge gehalten w e r d e n sollte. Diese Glossen zu englischen Presseberichten sind treffend u n d o f t mit H u m o r gewürzt formuliert, m a n c h m a l pointiert, gelegentlich auch einmal scharf. Sie wollen nichts weiter sein als R a n d b e m e r k u n g e n eines — wie F o n t a n e sich selbst einmal g e n a n n t hat — „ h a r m l o s e n K o r r e s p o n d e n t e n " 1 0 0 . Der A n h a n g bietet eine Auswahl solcher unter „ G r o ß b r i t a n n i e n " erschienener Glossen, die f ü r die FontaneForschung biographisch-politisch von Interesse sein d ü r f t e n .

100

Vgl. Κ L o n d o n 15. O k t o b e r 1864.

38

Z u r Einführung

Mit einer dieser Glossen handelte sich Fontane zu Lasten des „Kreuzzeitungs"-Verlegers Ferdinand Heinicke einen Presseprozeß ein. Dies geschah kurz nach der Landtagswahl im Frühjahr 1862, als das neue Ministerium strenger gegen Zeitungen vorging, die Artikel brachten, in denen Beleidigungen von Ministern oder anderer politischer Beamter enthalten waren oder die sich in „aufrührerischer Absicht" gegen Einrichtungen des Staates und Anordnungen der Obrigkeit aussprachen. Fontane hatte, kurz nachdem das neugewählte preußische Abgeordnetenhaus erstmalig zusammengetreten war, unter „Großbritannien" und unter der Überschrift „,Saturday Review' und die preußischen Kammern" 1 0 1 eine Bemerkung des englischen Blattes zitiert und glossiert, gegen den die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage auf Grund des Art. 37 des Preßgesetzes erhob, nach dem dieser Artikel der englischen Zeitung wegen des „strafbaren Inhalts", der „Haß und Verachtung zu erregen imstande" sei, nicht hätte weiterverbreitet werden dürfen. Auch die Morgen-Ausgabe der „Berliner Allgemeinen Zeitung" vom selben Tage und die „Berliner Börsen-Zeitung" vom darauf folgenden Tage, die Ausschnitte aus demselben Artikel des englischen Blattes gebracht hatten, wurden wegen desselben Vergehens angeklagt. Im Prozeß vor der „Ferien-Abteilung" des Berliner Kriminalgerichts am 20. August 1862 erkannte der Staatsanwalt zwar an, daß die einleitenden und Schlußworte keine „dolose Absicht" enthielten und die „Kreuzzeitung" „gewissermaßen Partei gegen die Expektorationen der englischen Presse genommen habe", beantragte aber gleichwohl unter Berufung auf § 37 des Preßgesetzes gegen „Kreuzzeitungs"-Verleger Ferdinand Heinicke als den für die „Kreuzzeitung" nach außen Verantwortlichen „10 Tlr. Geldbuße oder entsprechende Freiheitsstrafe", dem das Gericht in seiner Urteilsentscheidung entsprach. 1 0 2 Redaktion des englischen Artikels bedeutete auch, aus dem Informationsspektrum der Nachrichtenquellen das an Alltags- und Welt-Nachrichten zusammenzustellen, in das englische Politik involviert war. Das betraf nicht nur die überseeischen Besitzungen des Inselreiches und die übrigen zu bearbeitenden Länder, sondern bezog sich auch auf das komplizierte Verhältnis Großbritanniens zur internationalen Staatenwelt, das zu kennen für den preußischen Leser von nicht geringem Belang war. Fontane hat hierzu teils eigene, teils fremde Übersetzungen aus Leitarti101

Vgl. Anhang, Glossen zu englischen Presseberichten, [London, 19. Mai]

102

Die NP(K)Z berichtete darüber in ihrer Ausgabe Nr. 195 v. 22. August 1862.

1862.

Die „ K r e u z z e i t u n g " und ihr R e d a k t e u r

39

Ferdinand Heinicke

kein u n d Korrespondenzen der „Times" beigesteuert, die sich — als solche gekennzeichnet — in der gesamten Auslandspalte der „Kreuzzeitung" wiederfinden, besonders d a n n , wenn die Stimme der englischen Politik im weltpolitischen Konzert eine wesentliche Rolle spielte. Als vielseitigste Quelle über G r o ß b r i t a n n i e n und dessen den Erdkreis u m s p a n n e n d e Politik darf m a n die „Englische C o r r e s p o n d e n z " M a x Schlesingers vermuten, gegen dessen versierte Feder Fontane einst in Lond o n anzuschreiben angetreten war. Diese Korrespondenz, die ausschließlich f ü r deutsche Z e i t u n g s r e d a k t i o n e n b e s t i m m t w a r und auch nur von diesen a b o n n i e r t w e r d e n k o n n t e , stellte N a c h r i c h t e n aus britischen Zeitungen, die für Deutschland von Belang w a r e n , in auszugsweisen Übersetzungen z u s a m m e n und lieferte d a m i t den deutschen R e d a k t i o n e n ü b e r a u s wichtiges Material, aus d e m sie nicht n u r ihren englischen Artikel (Tagesbericht) z u s a m m e n s t e l l t e n 1 0 3 , zum Teil auch u n v e r ä n d e r t abd r u c k t e n , sondern das ihnen auch I n f o r m a t i o n e n über alle anderen Län103 Vgl J a z u auch eine telegraphische Depesche L o t h a r Buchers v o m 24.3.1870: „Die l i t h o g r a p h i e r t e C o r r e s p o n d e n z , aus welcher die deutschen Z e i t u n g e n ihren englischen Artikel m a c h e n , [...]". Politisches Archiv des A u s w ä r t i g e n A m t s , Bonn, R 5363 England. Depeschen Vol. I. I. A.B.b.59 L o n d o n . Schriftwechsel.

40

Zur Einführung

der lieferte, in die englische Politik involviert war. D a m i t w a r die Schlesingersche Korrespondenz, der der R u f eines vorbildlichen und unentbehrlichen U n t e r n e h m e n s vorausging und die sich den

Zeitgenossen

„durch S a c h k u n d e , freies und scharfes Urteil und schriftstellerische Gew a n d h e i t " 1 0 4 empfahl, eine „ M a c h t " im deutschen Pressewesen.

Der

preußischen Regierung w a r sie seit jeher u n b e q u e m , da sie sich gouvernementalen Einflusses zu entziehen w u ß t e . 1 0 5 D i e als lithographiertes B l a t t versandte K o r r e s p o n d e n z

(Maße

ca.

5 0 X 60 cm) w a r einseitig beschrieben und so angelegt, d a ß die einzelnen Artikel und Spalten der Schere genügend R a u m zum Ausschneiden ließen. D e r nicht benutzte Rest landete im P a p i e r k o r b der Zeitungsredaktionen. Ein Einzelstück, das sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in B o n n erhalten hat, s t a m m t zwar nicht aus Fontanes R e d a k t e u r s zeit — es trägt das D a t u m vom 11. N o v e m b e r 1 8 7 4 1 0 6 —, dürfte aber in Art und A u f m a c h u n g gegenüber den sechziger J a h r e n

unverändert

geblieben sein. Die vier Spalten des Blattes, von denen die beiden ersten und die beiden letzten von verschiedener H a n d herrühren, bringen in Kurzfassung Artikel mit auszugsweise übersetzten Z i t a t e n zur aktuellen Politik aus englischen Z e i t u n g e n — namentlich genannt in diesem Fall „Daily N e w s " , „ G l o b e " , „ T i m e s " — sowie die neuesten H o f - und Person a l n a c h r i c h t e n , ferner N a c h r i c h t e n von der M a r i n e , aus dem kulturellen

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Heinrich Wuttke, Die Deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitungswesens, Hamburg 1866, S. 85. In einem internen Pressebericht des Auswärtigen Amts heißt es beispielsweise am 4. Februar 1876: „Die Englische Correspondenz von Max Schlesinger ist eine Macht in der deutschen Presse. Sie wird von fast allen deutschen Zeitungen gehalten und abgedruckt; die Mehrzahl ist nicht einmal auf Times abonniert und unternimmt dieser Lithographie alles, was sie ,aus' England mittheilt. Um so beachtenswerther erscheint es, daß die deutsche Regierung an dieser Engl. Correspondenz keinen Freund, wenigstens keinen zuverlässigen besitzt. Es muß noch erinnerlich sein, wie frostig — gelinde gesagt — dieselbe Schlesingersche Correspondenz die zu Gunsten der deutschen Kirchenpolitik in England stattfindenden Meetings behandelte. Man behauptet, Graf Heust habe Einfluß auf die Engl. Corresp." Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Bonn, Acta betreffend die telegraphischen Bureaus des In- und Auslandes und die Verbreitung von Nachrichten durch dieselben. R 37 I. A.A.a.33 Generalia, Telegraphische Bureaus. Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Bonn: Acta betreffend die telegraphischen Bureaus des In- und Auslandes und die Verbreitung von Nachrichten durch dieselben, R 37 I.A.A.a.33 Generalia. Telegraphische Bureaus.

Die „ K r e u z z e i t u n g " u n d ihr R e d a k t e u r

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Leben, Anekdotisches, die Wetterlage u n d zuletzt den Börsen-City-Bericht. Ein Teil dieser N a c h r i c h t e n ging wörtlich in die Ausgaben der „Kreuzzeitung" v o m 14. u n d 15. N o v e m b e r 1874 e i n . 1 0 7 Aktuelle I n f o r m a t i o n e n lieferte ferner das Wölfische Telegraphen Bureau, das Mitte der 60er J a h r e offiziös w u r d e , sowie die Express-Korres p o n d e n z des Zeitungs-Telegraphisten Reuter in L o n d o n . Von nicht unb e d e u t e n d e m Einfluß w a r die halbamtliche „ P r o v i n z i a l - C o r r e s p o n d e n z " , die seit 1863 im Q u a r t f o r m a t erschien, ursprünglich f ü r die Zeitungsred a k t i o n e n in der Provinz gedacht, aber offensichtlich auch von den überregionalen Blättern benutzt. Vom Berliner „ C e n t r a l p r e ß b u r e a u " herausgegeben, w a r sie mit Mitteilungen der literarischen Büros des Inneren und des Auswärtigen Ministeriums sowie der diplomatischen Vertretungen im Ausland versorgt und w u r d e den R e d a k t i o n e n kostenfrei überlassen. D e r Einfluß dieser u n d anderer N a c h r i c h t e n a g e n t u r e n u n d Korrespond e n z b ü r o s w a r beträchtlich. Sie w a r e n der erste Filter f ü r die Tagesmeldungen, die der R e d a k t e u r d a n n noch einmal f ü r „seine" Leserschaft filterte. Bereits Heinrich W u t t k e hat in seiner f r ü h e n Schrift über das deutsche Zeitungswesen d a r a u f hingewiesen, d a ß die „ g e w ö h n l i c h e n " Z e i t u n g e n „ihrem überwiegenden Inhalte nach nur Ausgaben zweiter H a n d " seien und es „Urzeitungen" gebe, die d e m Blick u n d d e m Urteil der Öffentlichkeit entzogen seien, und d a ß mithin die Selbständigkeit, mit der m a n c h ein Blatt prahle, „eitel B l e n d w e r k " sei, da die Redaktionen das meiste, w a s sie d r u c k t e n , „schon in b e s t i m m t e r Weise ausgew ä h l t , zusammengestellt und zurechtgemacht e m p f a n g e n " h ä t t e n . 1 0 8 Fontane, der aus früheren E r f a h r u n g e n sowohl im Literarischen Büro als a u c h mit seiner deutsch-englischen K o r r e s p o n d e n z g e w u ß t haben

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D a s System der l i t h o g r a p h i e r t e n K o r r e s p o n d e n z e n h e r r s c h t e zur d a m a l i g e n Zeit. So d ü r f t e F o n t a n e f ü r seine Berichte über D ä n e m a r k neben n o r d d e u t schen Z e i t u n g e n auch die lithographierten K o r r e s p o n d e n z e n über die nordischen Angelegenheiten, die in H a m b u r g aus dänischen Blättern in d e u t s c h e r S p r a c h e zusammengestellt w u r d e n , b e n u t z t h a b e n . Z u r Z e i t des Polenaufs t a n d e s gab es eine in polnischem Sinne schreibende d i p l o m a t i s c h e A g e n t u r in Wien und ein K o r r e s p o n d e n z b ü r o in Z ü r i c h . W ä h r e n d des Schleswig-Holsteinischen Krieges w u r d e n die R e d a k t i o n e n mit verschiedenen lithographierten K o r r e s p o n d e n z e n , so aus G o t h a (Gustav Freytag), F r a n k f u r t am M a i n , H a m b u r g , Kiel, unentgeltlich versorgt. Vgl. W u t t k e (Anm. 104), S. 83 f. W u t t k e (Anm. 104), S. 69.

ENGLISCHE CORRESPONDENT 25, UPPER BEDFORD PLACE, RUSSELL SQUARE, WC(ÄedacW

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London, 16. August

sere Ministeriellen stets zur Hand haben: ,sollen die Konservativen wirklich ins Amt kommen?' darf uns nicht länger schrecken. Wohlan, mögen sie ins Amt kommen; — was uns not tut, das ist jene Läuterung und Konsolidierung, wie wir sie wiederfinden werden, wenn wir in die Opposition eintreten. Dann wird uns das Land wieder stützen und kräftigen. Fürchten wir diesen Rücktritt, so ist uns in der nächsten Session eine völlige Demoralisierung der Partei gewiß. Scheuen wir einen Wechsel unserer Plätze, so ist es mit Wahrung unserer Prinzipien vorbei. Viele sind geneigt, ein im Lande mählich wachsendes konservatives Gefühl als Grund für die unter uns herrschende Verwirrung anzunehmen; aber ich teile diese Ansicht nicht. Es liegt an uns; wir haben unsere Prinzipien halb oder ganz verloren und müssen sie wieder erringen. Der Weg dazu geht durch die Opposition. Wenn meine Worte Wahrheit und logische Kraft enthalten, so werden sie wirken; wo nicht, so werden sie verfliegen wie Wind. Was immer aber geschehen mag, ich weiß, daß ich zu einer Versammlung gesprochen habe, in der eine freie und männliche Gesinnung ihrer Stätte hat, zu einer Versammlung, die aus diesem Geiste heraus meine Worte beurteilen wird. Ich danke dem Hause für die Geneigtheit, womit es meiner Rede gefolgt ist. (Lauter Beifall.)

Ich habe Ihnen in Vorstehendem die Hauptstellen der Rede gegeben, wie sie gesprochen worden sind, natürlich ohne deshalb für den Inhalt eintreten, ihn als einen überall berechtigten ansehen zu wollen. Cobden hat, in der Budget- und Verteidigungsfrage, die große Majorität des Volkes nicht hinter sich: das Land will diese Verteidigung und will diese Ausgaben; aber er hat darin wahrscheinlich recht, daß mit dem Gelde, wie immer in England, so auch in diesem Falle ganz unverantwortlich umgegangen ist. Was den zweiten Teil seiner Rede (Palmerston als Tory) angeht, so zeichnet er die Situation, von seinem Standpunkte aus, gewiß ganz richtig. Ich (gewiß in Übereinstimmung mit Ihnen) möchte mein Urteil dahin zusammenfassen: Palmerston ist grundverschieden in seiner innern und seiner auswärtigen Politik, oft ein Tory im Innern, fast immer ein Revolutionär nach außen hin. Aber auch das ist nichts Neues. [Nr. 185, 10. 8. 1862]

Scott Russell und der Herzog von Somerset Vergeudet oder nicht? Anklage und Verteidigung Englands Panzerflotte *t* London, 16. August Cobdens Rede vom 1. August, die ich Ihnen ausführlich mitteilte (Nr. 185), ist wie ein schwerer Stein, der, ins Wasser geworfen, noch weithin Kreise bildet und die Oberfläche kräuselt, auch wenn er selber

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längst untergegangen ist. Ein Passus seiner Rede war ein Zitat aus einer Broschüre Scott Russells, des bekannten Ingenieurs und Schiffbauers, der namentlich in Sachen des Eisenschiffbaues als große Autorität gilt. Die Ansicht, die Scott Russell in seiner Broschüre vertritt, ging dahin, daß der Marineminister, Herzog von Somerset von Schiffs- und Flotten-Angelegenheiten nichts verstehe, und daß die Admiralität, als gesamter Verwaltungskörper, seit der Bekanntwerdung und Einführung (in Frankreich) des Panzerungs-Prinzips durch nutzlosen Bau von großen Holzschiffen das Land um 30 Millionen Lstr., also um 200 Millionen Taler gebracht habe. Diese Auslassungen Scott Russells, die dadurch eine doppelte Bedeutung erhielten, daß Cobden sie in seiner Rede zitierte, haben nun in der Presse zu einer Kontroverse geführt, aus der sich allerlei lernen läßt, weshalb ich auf den schwebenden Streit hier etwas näher eingehe. Man lernt einerseits aus diesen Kämpfen (da ein Teil der Scott Russellschen Angriffe selbst von den Verteidigern der Admiralität als berechtigt zugegeben werden muß), daß, trotz aller parlamentarischen Kontrolle, in Ilium und außer Ilium genugsam gefehlt wird, und gewinnt zweitens einen vortrefflichen Einblick in den gegenwärtigen Stand der englischen Panzerflotte überhaupt, sowie in die Pläne, nach denen man später mit dieser Flotte zu operieren gedenkt. Ich lasse zunächst die Anklagepunkte folgen, die Scott Russell ganz bestimmt präzisiert in einem Briefe an die Times gegen den Marineminister erhoben hat. Diese Punkte lauten: „1) Ich klage Se. Gnaden (den Herzog v. Somerset) an, in drei Jahren 12 Millionen Lstr. für Flotten-Material ausgegeben zu haben, ohne uns dafür eine Flotte zu schaffen. 2) Ich behaupte, daß er, bei kluger und angemessener Ökonomie und unter einfachem Verfolg dessen, was, bevor er ins Amt kam, bereits in den Anfängen vorhanden war, imstande gewesen wäre, uns bis zu dieser Stunde eine Flotte von 20 „Warriors" (Panzerfregatten) zu schaffen. 3) Ich klage ihn einer gröblichen Verschleuderung (gross waste) der Staatsgelder an, indem er viele Millionen für Holz und Holzschiffe ausgab, die für Eisenschiffe unerläßlich waren. Seine einzige, selbstgewählte Entschuldigung liegt darin, daß er nicht wußte, welche Art von Eisenschiffen er bauen sollte. Ich antworte darauf, daß er wenigstens wissen mußte, welche Art von Holzschiffen er sicherlich nicht zu bauen hatte, und daß es keine genügende Erwiderung auf meine Anklage ,gröblicher Verschleuderung' ist, wenn diese Erwiderung lautet, ,er habe bei der Gelegenheit abwarten wollen, welche Art von Eisenschiffen sich als die beste herausstellen werde'. Ich klage just ihn dieses Umstandes an, nämlich: unter ruhiger Abwartung

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eines vielleicht in Z u k u n f t erscheinenden Allerbesten, inzwischen die Staatsgelder für das Allerschlechteste verschwendet zu haben. In dem Schwanke-Zustand, in dem sich Se. Gnaden befand, hätte er die Pflicht gehabt, dem Lande 12 Millionen Lstr. und dem Chef der Verwaltung (Lord Palmerston) jene Verantwortlichkeiten zu ersparen, die den Bestand des gegenwärtigen Kabinetts in Gefahr gebracht haben. In kritischen Momenten ist dem Lande nicht mit Marine-Ministern geholfen, die schwanken und nicht wissen, was zu tun sei; in solchen Momenten tun Männer not, die Kenntnis und Festigkeit mit Verwaltungstalenten höherer Art vereinigen." — So weit Scott Russell. Der Herzog von Somerset ist ein Herzog und — ein Somerset, d. h. so stolz, d a ß es ihm gar nicht einfallen kann, mit Mr. Scott Russell (der übrigens seinerseits, um einen Berolinismus zu gebrauchen, „auch nicht übel ist") einen Zeitungsstreit aufzunehmen. Er schickt deshalb einen Abgesandten (einen „Regierungs-Schiffsbaumeister", wenn ich zwischen den Zeilen richtig gelesen habe) ins Feuer, der nun seinerseits die Scott Russellschen Anklagen zu widerlegen sucht. Er gibt dreierlei zu: 1) daß für den Augenblick nur zwei Panzerschiffe zur Verwendung stehen; 2) daß der Herzog von Somerset geschwankt hat und 3) daß in dieser Zeit des Schwankens teils Holzschiffe gebaut, teils Eisenschiffe der verschiedensten Konstruktion begonnen worden sind. Aber er bestreitet, daß aus allem diesem ein Vorwurf für den Herzog herzuleiten, noch auch mit gutem Gewissen zu behaupten sei: England habe keine Panzerflotte und werde sie auch in nächster Zeit nicht haben, und zwar deshalb nicht haben, „weil (so äußerte sich Scott Russell an anderer Stelle) eine Kooperation von Panzerschiffen, die alle versuchsweise, nach verschiedenen Prinzipien gebaut seien, unmöglich sei". Es scheint in der Tat, daß Scott Russell, nach dieser Seite hin, über das Ziel hinausgeschossen ist. Wer mag dem Marineminister einen Vorwurf daraus machen, daß er, einer schwankenden Frage gegenüber, selber geschwankt hat? Eine Kooperation der nach verschiedensten Prinzipien gebauten Panzerschiffe wird aber deshalb möglich sein, weil man die Panzerung und Armierung freilich verschieden eingerichtet, für gleiche Schnelligkeit aber (und das bedingt die Kooperation) Sorge getragen hat. Tatsächlich entnehme ich dieser halboffiziellen Entgegnung noch folgendes: England wird binnen kurzem zwei Geschwader von Eisenfregatten haben, das erstere aus 6, das andere aus 9 Schiffen bestehend. Jene 6, bei sonstiger Verschiedenheit, sind so gebaut, daß sie 14 Knoten in der Stunde zurücklegen, die andern 9 Schiffe nur IVA bis 12/4. Z u m ersten Geschwader werden gehören: „Warrior",

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„Black Prince" (beide fertig), „Achilles", „ N o r t h u m b e r l a n d " , „ M i n o t a u rus" und „Agincourt" (alle vier bald fertig). Z u m zweiten Geschwader werden gehören: „Prince C o n s o r t " , „Royal Alfred", „Royal O a k " , „The O c e a n " , „Caledonia", „ H e c t o r " , „Valiant", „Defence" und „Resistance". Das sind freilich nur Flottillen von 6 und von 9 Schiffen, „aber (so schließt der Bericht) jene 6 Schiffe des ersten Geschwaders werden mächtiger sein, als 20 Linienschiffe von 100 Kanonen nach dem alten System". [Nr. 193, 20. 8. 1862]

[Militärisches] !: :i

't Wittenberg, 18. August

Se. M a j . der König trafen heute früh halb 10 Uhr auf der Anhaltischen Eisenbahn in hiesiger Umgegend ein, um eine Besichtigung der hierselbst zu den Brigade-Übungen versammelten 14. Inf.-Brigade abzuhalten. Allerhöchstdieselben verließen in der N ä h e des bei dem D o r f e Euper belegenen Exerzierplatzes den Bahnzug und begaben Sich mittels der bereitgehaltenen Equipage, geführt von dem K o m m a n d a n t e n der hiesigen Festung, Oberst v. Owstien, und dem Kreislandrat v. Jagow, zu den in Parade aufgestellten Truppen. Hierselbst stiegen Se. M a j . zu Pferde, nahmen die Parade ab und ließen verschiedene Exerzier-Übungen und M a n ö v e r ausführen. Se. M a j . geruhten über den Z u s t a n d und die Leistungen der Truppen gegen den k o m m a n d i e r e n d e n General des 4. Armee-Korps, General der Infanterie v. Schack, gegen den Divisions-Kommandeur, General-Lieutenant v. Ciesielsky, und gegen den Obersten und K o m m a n d e u r des 4. Magdeburgischen Inf.-Regts. Nr. 67, Oberst v. Gersdorff, welcher die Brigade vorführte, Allerhöchstihre besondere Z u friedenheit auszusprechen. Aus der Umgegend hatten sich, obgleich die Anwesenheit Sr. M a j . nur erst am Abend vorher bekannt geworden war, eine große Menge Zuschauer von Stadt und Land eingefunden, welche trotz des heftigen Regenwetters es sich nicht versagen wollten, Ihren König und H e r r n bei dem schönen militärischen Schauspiele zu sehen. Laute H u r r a h s der versammelten Menge empfingen und geleiteten Se. M a j . Die allgemeinste Freude erregte das sichtbare Wohlsein des Königs und die Frische und Kraft, mit welcher der Königliche Kriegsherr alle Bewegungen der Truppen begleitete. Zugleich sah man aber auch die Freude auf allen Gesichtern ausgeprägt, über die für die Leistungen der Truppen Allerhöchst ausgesprochene Zufriedenheit. Einzelne Bataillone

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des 2. Magdeb. Inf.-Regts. hatten ja seit vielen Jahren die hiesige Garnison gebildet; jetzt stehen hier das 1. und 2. Bataillon des 4. Magdeb. Inf.-Regts (Nr. 67). M a n betrachtet daher diese Truppen als alte liebe Freunde und freut sich um so mehr der ihnen zuteil gewordenen Zufriedenheit, als mancher Sohn, mancher Verwandter Anteil an diesem Lobe erworben hat. Diese Liebe, diese Sorgfalt f ü r die Truppen hat sich allenthalben auch bei ihrer A u f n a h m e in den Kantonnements der Umgegend ausgesprochen. Allenthalben herrscht bei den Wirten das beste Einvernehmen mit ihrer Einquartierung. Als nach beendetem Exerzieren Se. M a j . den Platz verlassen wollten, gewahrten Allerhöchstdieselben die Schuljugend des Dorfes Euper, welche geschmückt mit preußischen Fahnen unter Führung des Lehrers aufgestellt war. Auf Allerhöchsten Befehl durfte der Landrat Sr. Maj. den Schullehrer vorstellen, und huldreiche Worte des Landesvaters beglückten diesen und die andrängende Schuljugend. Begleitet von den Segenswünschen vieler Tausende bestiegen Se. M a j . den auf der Anhaltischen Bahn bereitgehaltenen Extrazug und kehrten nach 12 Uhr nach Berlin zurück. [Nr. 194, 21. 8. 1862]

Der Mississippi-Feldzug und das Widderschiff „Arkansas" * t * London, 27. August Der nordamerikanische Kampf n a h m (ganz besonders auch rein räumlich aufgefaßt) sehr bald nach seinem Ausbruch solche Dimensionen an, d a ß es, bei der Unvertrautheit mit der Lokalität und bei dem Nichtausreichen aller Karten, völlig unmöglich wurde, ihm in allen seinen Teilen und Verzweigungen zu folgen. So ist die Situation im wesentlichen noch. Zwei M o m e n t e indessen lassen sich, auch jetzt schon, in aller Klarheit unterscheiden: im Westen der große Kampf der M a c Clellanschen oder der sogenannten Potomac-Armee um den Besitz von Riebmond·, im Osten der große Kampf u m den Mississippi und die Ufer-Staaten, die er d u r c h s t r ö m t . Auf beiden Kriegsschauplätzen schien sich unlängst die Waage zugunsten der alten Union zu neigen: Richmond, die H a u p t s t a d t der Sezessionisten, war ernstlich bedroht und der ganze Mississippi, mit A u s n a h m e eines einzigen winzigen Punktes, befand sich in H ä n d e n der Nördlinger. Die letzten Wochen aber haben den N o r d e n wieder u m alle diese Erfolge, oder doch beinahe um alle, gebracht.

London, 27. August

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Jenen Teil der Kriegführung nun zu schildern, der speziell darauf ausging, die alte Union wieder zum Herrn des Mississippi-Tals zu machen, ist Zweck dieser Zeilen. Der Mississippi war, als der Krieg zwischen Nord und Süd ausbrach, in seinem Oberlaufe ein unionistischer, in seinem Unterlaufe ein sezessionistiscber Strom. Mit andern Worten, von St. Louis (wo der Missouri einmündet) bis Kairo (wo der Ohio einströmt) war der „Vater der Ströme" in Händen der Nördlinger; von Kairo bis New Orleans, also bis zu seiner Mündung, aber in den Händen des Südens. Es handelte sich daher für den Norden darum, die bei weitem größere und wichtigere Hälfte des Stroms, die Strecke von Kairo bis New Orleans, von den nördlicheren Flußgebieten aus wieder zu erobern. Wie immer man über General Fremont, seine Anmaßung und seine größeren oder geringeren Fähigkeiten denken mag, das Verdienst wird ihm bleiben, die Eroberung des Mississippi als unerläßlich dargetan und mit Energie und Geschick dieselbe begonnen zu haben. Er ließ zu dem Behufe in St. Louis Kanonenboote bauen, und ging, nachdem dieselben fertig waren, stromabwärts, immer das Vordringen der Flotte durch Truppen-Flankenmärsche und das Vordringen der Truppen durch flankierende Kanonenboote unterstützend. So eroberte er zuerst Columbus, dann die vielgenannte „Insel Nr. 10" (zugleich mit Neu-Madrid) endlich die wichtige Stadt Memphis. Alle diese Erfolge wären aber nur halb geblieben, wenn nicht im Washingtoner Kabinett zugleich ein Angriff von der Mündung des Mississippi her beschlossen worden wäre. Eine ganz andere und viel bedeutendere Flotten-Abteilung, als die in St. Louis gebaute Fluß-Flottille, erschien vor New Orleans, nahm diese wichtige Stadt, besetzte dieselbe durch Bundestruppen unter dem vielgenannten General Butler, und ging dann stromaufwärts. Vor Vicksburg vereinigten sich nun die beiden Unionsgeschwader, das abwärts und das aufwärts gegangene, und versuchten in gemeinschaftlicher Aktion, diesen letzten festen Punkt, der den Süd-Konföderierten auf dem ganzen Laufe des Mississippi noch geblieben war, durch Bombardement zu nehmen. Vicksburg hielt aber Stand. Dennoch wäre seine Lage binnen kurzem unhaltbar geworden, wenn nicht das plötzlich auf dem Mississippi erscheinende südunionistische Widderschiff „Arkansas" einen panischen Schrecken unter die ganze Belagerungs-Flottille getragen und den Belagerten wieder Luft gemacht hätte. Ich verweile jetzt bei Entstehung und Erscheinung dieses merkwürdigen Schiffes etwas ausführlicher. Die „New York Tribune" bringt (von

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einem Unions-Offizier vor Vicksburg) einen langen Bericht über diesen Gegenstand, den ich den nachstehenden Zeilen zugrunde lege. „Wir wußten seit Monaten, so schreibt er, daß von seiten der Südlinger ein solches Schiff gebaut werde. Der Bau desselben war auf der Werft von Memphis begonnen worden und, als Memphis sich schließlich unsern Angriffen ergeben mußte, hatten die Sezessionisten Zeit gefunden, das halbfertige Schiff stromabwärts bis Vicksburg und von dort aus in den Yazoo, einen Nebenfluß des Mississippi, zu führen, wo es wie in einem Verstecke lag und (ohne daß man es für nötig gehalten hätte, Sicherheitsmaßregeln gegen unseren Angriff zu treffen) ruhig beendigt wurde. Unser OberKommando hat sich bei dieser Gelegenheit eine schwere Versäumnis zuschulden kommen lassen. Wir hörten jeden Tag von dem ,Widderschiff im Yazoo'; wir hörten auch, daß es gebaut werde, um ähnlich wie der ,Merrimac' uns alle zu vernichten; aber keiner unserer Kommodore ordnete eine Rekognoszierung an, bis es zu spät war. Am 13. Juli hörten wir endlich, das Widderschiff (,Arkansas') sei fertig. Nun wurde eine Rekognoszierung beschlossen; am 14. um 5 Uhr morgens steuerten drei unserer Boote (ein Holzkanonenboot, ein Eisenkanonenboot und eine Panzer-Batterie) in den Yazoo hinein. Der ,Arkansas' kam ihnen bereits entgegen. Er nahm keine Notiz von unsern Schiffen, sondern setzte seine Fahrt fort. Das Holzkanonenboot stellte sich ihm endlich entgegen, wurde aber sofort derart zugerichtet, daß es zu entkommen suchte. Nun zogen sich auch unsere beiden andern Boote, welche merkten, wen sie gegenüber hatten, so rasch wie möglich zurück; aber der ,Arkansas' war schneller, holte sie ein, setzte sie außer Gefecht und tötete ihnen eine Menge Leute, ohne daß er einen Augenblick seine Fahrt eingestellt hätte. Er tat dies alles so beiläufig. Etwa gegen 6 (morgens) erschien der A r kansas' im Mississippi selbst. Wir hatten das heftige Kanonenfeuer gehört und warteten deshalb auf sein Erscheinen. Nun sahen wir ihn. Er ist halb Widder (ram), halb als Kanonenboot gebaut, d. h. er vereinigt beider Eigenschaften in sich. Es ist ein Fahrzeug von nur mäßigen Dimensionen, nur halb so groß wie unsere Kanonenboote. Es ist niedrig, flach, eisenüberdeckt, mit schrägen Seiten; nirgends andere Öffnungen als die Stückpforten. Es führt 12 große Kanonen, hat nur einen Schornstein, und sieht völlig unverwundbar aus. Es ist von hellbrauner, etwas rötlicher Farbe, genau wie die Ufer des Mississippi, so daß es, in einiger Entfernung, von dem Erdreich kaum zu unterscheiden war. Kein menschliches Wesen wurde sichtbar; aber rasch und mit großer Akkuratesse wurden die Geschütze bedient; dazwischen pfiffen die Flintenku-

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geln der Scharfschützen, die uns großen Schaden taten. Wir suchten diesen Gegner, der so keck uns entgegenkam, nun zu stellen. Wir waren 15 Kanonenboote und 7 Widder (rams); aber es ist uns nicht geglückt. Ebensowenig Notiz wie der ,Arkansas' von unsern 3 Schiffen im Yazoo genommen hatte, so wenig kümmerte er sich jetzt um uns. Er schien nur Vicksburg erreichen zu wollen, wie ein Bote, der eine wichtige Botschaft zu überbringen hat und unterwegs jeden Aufenthalt vermeiden will. Er passierte unsere ganze Linie und erwiderte im Vorbeifahren unsere Schüsse. Dabei blieb er auch hier im Vorteil. Unsere Kugeln schienen ihm wenig oder gar keinen Schaden zu tun, während die seinigen, Schuß auf Schuß, Verderben anrichteten; zum Teil auch dadurch, daß seine Kugeln in einen unserer Dampfkessel fuhren, wodurch viele von der Besatzung verbrüht wurden. Er schoß mit Kugeln vom schwersten Kaliber: eine 128pfündige fuhr in die Kabine von Kommodore Davis und blieb auf dem Kopfkissen seines Bettes liegen. Endlich hatte der ,Arkansas' unsere ganze Linie passiert, umfuhr die Halbinsel und legte sich unter die Batterien von Vicksburg, wo seine Ankunft mit ungeheurem Jubel begrüßt wurde. Unser Gesamtverlust beläuft sich auf 22 Tote und 60 Verwundete." So weit der Bericht des amerikanischen Marine-Offiziers. Nach neuesten Nachrichten hat der „Arkansas" das Schicksal des seinerzeit ebenso gefürchteten „Merrimac" geteilt. Die Besatzung hat das Schiff selbst in die Luft gesprengt. Nachdem die Unionsflottille die Position vor Vicksburg verlassen und sich flußabwärts (nach New Orleans zu) gezogen hatte, ging auch der „Arkansas" südwärts, wahrscheinlich um bei der seitdem erfolgten Rückeroberung von Baton Rouge durch die Südkonföderierten, tätig zu sein. Er hatte aber bei der Gelegenheit die ganze Linie der Unions-Flottille zum zweiten Male zu passieren und wurde diesmal, wo man besser aufpaßte, stark beschädigt. Der Kapitän ließ deshalb den „Arkansas" auf den Strand laufen und sprengte ihn in die Luft. Man hört bereits von neuen Eisen-Ungetümen, die gebaut werden. [Nr. 2 0 2 , 30. 8. 1862]

Deutsche Kunst und englische Kritik *t !| ' London, 6. September Wüßt ich nicht, daß die Kunstberichterstatter, den Herren in PrintingHouse-Square gegenüber, eine durchaus selbständige Stellung einneh-

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men, und hätt ich mich nicht oftmals mit Augen überzeugt, daß die Times (sei sie im übrigen wie sie sei) es denn doch verschmäht, politische Antipatien auch auf Gebiete zu übertragen, die mit der Politik nicht das geringste zu schaffen haben, so würde ich, angesichts eines mir eben vorliegenden Kunstberichts, in die Worte ausbrechen, daß selbst die Times nie kleinlicher, nie dünkelhafter, nie ungerechter gegen Deutschland verfahren sei, als in diesem Artikel. Ich hab es beim Lesen dieses Kunstberichts, worin zunächst die deutschen Bilder der großen Ausstellung, dann die deutschen Malerschulen überhaupt besprochen werden, in allen Fingern kribbeln gefühlt — genauso wie wenn ich einen Engländer über Waterloo sprechen und ihn zum hundertsten Male versichern höre: es sei schade, daß die Preußen gekommen wären, denn sie beanspruchten nun, einen Ruhm zu teilen, der den Engländern allein zukomme. Beiläufig, möchten doch alle diese Tapferen den letzten Band von Thiers Geschichte des Kaiserreichs 32 und nicht unsere, sondern eine französische Darstellung der Schlacht von Waterloo lesen. Aber zurück zu dieser sein-sollenden Kunstkritik. Der Berichterstatter beginnt damit, ein Dutzend Bilder aufzuzählen (übrigens ebenfalls mit vieler Kühle), die wenigstens einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hätten. Es sind dies: Pilotys „Nero"; Richters „hübsche Dame" (handsome lady); Knaus „Begräbnis im Walde"; Meyerheims „Kartoffelschälen"; Hübners „Auswanderer"; Oswald Achenbachs „Neapel"; Andreas Achenbachs „Die Bucht von Scheveningen" und Adolf Menzels „Die Schlacht bei Hochkirch". Gegen diese Aufzählung läßt sich nichts sagen; ich würde dieselben Bilder genannt haben. Ja, ich gehe weiter und bekenne, daß der englische Kritiker alles das, was da ist, mit richtigem Auge angeschaut und sein Lob wie seinen Tadel dem Vorhandenen gegenüber richtig verteilt hat. Sein Tadel gegen all die halb-romantisierenden, halb den „Nazarenern" nacheifernden Bilder, die mit schwacher Hand die Schleppe vom Königsmantel unseres Peter v. Cornelius tragen, ist nur allzu begründet. Aber ein wahrer Skandal ist es, wenn der Berichterstatter anfängt, zu generalisieren, Rückschlüsse zu machen, und anstatt den Lehrlingen einfach zu sagen: „Ihr seid Lehrlinge und werdet es bleiben", sich gegen die Meister selber richtet und die Meisterschaft derselben in Zweifel zieht. Er selbst

32

Histoire du Consulat et de l'Empire, vol. 1—20; dt. v. Biilau Geschichte Consulats und des Kaiserreichs, 2 0 Bde., Leipzig 1 8 4 5 — 1 8 6 2 .

des

L o n d o n , 6. September

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hat gefühlt, daß solch ein Ausspruch Beweise erheischt und hat einige Sätze zusammengeschleppt. Aber welche! Er gibt zunächst einen kunsthistorischen Rückblick, spricht über Cornelius, Overbeck, W. v. Schadow, Schnorr, Veit, Steinle, Kaulbach u. a.m. und ergeht sich zuletzt in folgenden Sätzen: 1) Sie sind keine Maler, denn sie können nicht malen-, sie verstehen sich weder auf Zeichnung noch auf Farbe. 2) Ein paar unmittelbare Schüler abgerechnet, sind sie unfähig gewesen, eine eigentliche Schule zu stiften. 3) Europa hat gegen sie entschieden, denn — Europa kennt sie nicht. Jeder einzelne dieser Sätze ist ein starkes Stück, und da die Kreuzzeitung (und wäre es auch nur in einem Dutzend Exemplaren) auch hier in London gelesen wird, so empfind ich es wie eine Pflicht, gegen solchen Nonsens, der die Dinge auf den Kopf stellt, zu protestieren. Die Times meint: „Die Deutschen gingen von dem G r u n d i r r t u m aus, d a ß es in der Kunst ausschließlich auf den Gedanken a n k ä m e , und d a ß neben der gedanklichen Bedeutendheit das Zeichnen- und Malen-können Nebensache sei." Der Berichterstatter befindet sich da seinerseits einfach in einem Irrtum. M a n weiß in Deutschland so gut wie irgendwo, d a ß das Wesen der bildenden Kunst eben im Bilden und Gestalten besteht. Dies ist selbstverständlich, ist unumgängliche Bedingung, wie zu einem Hause Q u a d e r n oder Steine gehören. Die Sache ist nur die: w o bei dem Berichterstatter der Times die Kunst aufzuhören scheint, da fängt sie bei unsern großen Meistern erst an. Das bloße Gestalten-können ist freilich unerläßlich, aber es ist ein M i n i m u m ; erst der große G e d a n k e schafft das große Kunstwerk. Wenn die „apokalyptischen R e i t e r " " , „Die Hek u b a " 3 4 und die „ H u n n e n s c h l a c h t " 3 5 Unica geblieben sind und nicht zur Nachfolge ermuntert haben, so hat das seinen guten G r u n d . Ehen ihre Größe wehrt ah. Auch H a m l e t und Faust sind alleinstehend geblieben. Wenn aber, wie der Times-Berichterstatter versichert, Cornelius, Over-

"

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v?

„Wessen H e r z h ä t t e n sie nicht e r s c h ü t t e r t ? " — F. ü b e r die 1845/46 entstandenen „ a p o k a l y p t i s c h e n Reiter" v. Peter v. C o r n e l i u s in seinem N e k r o l o g „Peter von C o r n e l i u s in: NFA X X I I I / 1 , S. 492. Vielleicht ist C o r n e l i u s ' G r u p p e der H e k a b e (vollendet 1830) aus dem Freskenzyklus im T r o j a n i s c h e n Saal der G l y p t o t h e k zu M ü n c h e n gemeint, die F. bei seinem A u f e n t h a l t d o r t im F r ü h j a h r 1859 gesehen haben k ö n n t e . F. zählte das 1 8 3 4 / 3 7 geschaffene G e m ä l d e Wilhelm v. K a u l b a c h s zu den „ S c h ö p f u n g e n allerersten R a n g e s " , vgl. seinen Artikel „ H e r m a n n Stilke", in: NFA X X I I I / 1 , S. 439.

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beck, Heß, Rethel und Kaulbach unbekannte Namen in Europa geblieben sein sollten, so kann die Antwort darauf nur lauten: Das wäre schade um Europa. Z u m Glück ist es anders. Die Tableaux Horace Vernets 3 6 und die abgeschlagenen Grafenköpfe Gallaits 3 7 abgerechnet (Bilder, die, ohne ihnen zu nahe treten zu wollen, das eine durch Gröblichkeit des Stoffes, die anderen als Zeitungs-Illustrationen wirken), so sind es, unter den neueren, nur deutsche Maler, die einen Weltruf erlangt haben. Wenn der ganze englische Genre-Kram dieser Tage kaum noch als Galerie-Futter Wert haben wird, werden immer noch Gemüter in tiefer Ergriffenheit vor den „apokalyptischen Reitern" verweilen und mit Bewunderung von dem Genius sprechen, der, ein Stück Kohle in der H a n d , mit Strichen und Linien eine Welt-Tragödie an die Wand schrieb. [Nr. 211, 10. 9. 1862]

William Roupell Μ. P. Ein echt englischer Prozeß *t* London, 13. September In diesem an wunderlichen Prozessen so reichen Lande hat in der letzten Zeit ein ganz apart-wunderlicher stattgefunden, der einmal durch die absonderlichen Dinge, die zur Verhandlung kamen, kaum minder aber durch die Personen, die dabei die Hauptrolle spielten, ein ganz ungewöhnliches Interesse wachgerufen hat. Die Sache ist folgende. In Lambeth (einem Teil von London, auf der Süd- oder Surray-Seite der Stadt) lebte Mr. Richard Palmer Roupell, ein sehr reicher und ziemlich exzentrischer Mann. Er besaß Landgüter, Häuser, Parks, ganze Straßen, alles zusammen zu einem Wert von 300.000 Lstr. oder 2 Mill. Taler. Er hatte übrigens von derselben Frau, die er später geheiratet hatte, zwei Arten Kinder, illegitime und legitime; die ersteren waren alle vor 1838, die anderen nachher geboren. Der älteste illegitime Sohn war William Rou-

36

57

F. d e n k t hierbei vermutlich an die g r o ß f o r m a t i g e n Schlachtenbilder in Versailles, die er 1856 gesehen h a t , vgl. s. Brief an Emilie v. 21. 10. 1856 (HFA IV, 1, S. 540). Gallaits koloristisches H i s t o r i e n g e m ä l d e „Tetes c o u p e e s " o d e r „Die Brüsseler Schützengilde erweist E g m o n t u n d H o o r n die letzten E h r e n " (1851) m a c h t e seinerzeit Furore.

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London, 13. September pell; der älteste legitime Sohn (erst 1839 geboren) hieß Richard

Roupell,

wie der Vater selbst. Dieser, der Vater, starb 1856, und man fand ein Testament vor, in welchem die nunmehrige Witwe Mrs. Roupell zur Universal-Erbin und der älteste (illegitime) Sohn William Roupell, ein gewiegter Advokat und Geschäftsmann, zum Verwalter des enormen Vermögens eingesetzt wurde. In letzterer Eigenschaft hatte er so ziemlich freie Verfügung über das Ganze. Es wird sich gleich zeigen, wie er diese Position ausnutzte. 1856 war der alte Roupell gestorben; 1857 wurde William Roupell, der traurige Held dieses Prozesses, Parlaments-Mitglied. Lambeth wählte ihn. Die Vorstädte von London sind, wie in der Regel die Vorstädte großer Residenzen, durch ihren Radikalismus ausgezeichnet und William Roupell entsprach dem tiefgefühlten Bedürfnis seiner Lambether. Es kam ihm auch gar nicht darauf an; in seinem Herzen dachte er „all nonsense". Woran ihm gelegen war, das war lediglich seine eigene Person — er wollte ein glänzendes Haus machen, gefeiert, geehrt, bewundert sein. Es begann nun ein unglaublich glänzendes Leben, wie es in englischen Romanen oft genug geschildert worden ist, bis — William Roupell eines Tages verschwand, nach Spanien ging und von dort aus anfing, seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder Richard (dem ältesten legitimen) Geständnisse zu machen. Diese Geständnisse lauteten: „Das Testament war unecht; ich hab' es geschrieben, habe auch die Unterschriften gefälscht; in dem echten Testament, das ich beseitigt habe, wurde Richard zum Universal-Erben eingesetzt. Ich habe aber nicht nur das Testament gefälscht; ich habe auch die mir eigenmächtig beigelegte Stellung als Verwalter des Vermögens mißbraucht und habe alles unter der Hand verkauft. Ich habe verkauft, was mir nie gehört hat; alle diese Verkäufe sind also ungültig und Du Bruder Richard mußt nun sehen, ob Du das, was Dein war und was ich widerrechtlich veräußert habe, durch einen Prozeß mit den Käufern wieder erobern kannst." Dieser Prozeß — und das ist das einzige, was sich gegen Richard

Roupell sagen läßt —

wurde nun wirklich angestrengt; Richard machte wirklich Miene, diejenigen, die sich für ihr gutes Geld in Besitz der verschiedenen Roupellschen Güter gebracht hatten, wieder aus diesem Besitz herauszuprozessieren, weil sein Bruder William kein Recht gehabt hätte, das zu verkaufen, was ihm nie gehört habe. Die Possessoren wollten natürlich nicht gutwillig gehen und so kam die Angelegenheit wirklich vor Gericht. Alles bei diesen Verhandlungen hing von den Aussagen William Roupells ab. Er gab in der Tat sein Versteck in Spanien auf und erschien als

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1862

Zeuge, um gegen sich selbst auszusagen und dadurch das Anrecht seines Bruders an den ganzen verloren gegangenen Roupell-Besitz zu beweisen. Natürlich tauchte der Verdacht auf, alles sei furchtbares Spiel, die Brüder seien einig, man habe es durch einen infernalischen Kniff und mittels Aufopferung der Ehre eines Familienmitgliedes auf Verdoppelung des Vermögens und Besitzes abgesehen; mindestens sei man einig, auf diese Weise das Verlorengegangene wieder zu erobern. Dieser Verdacht fiel indes zu Boden. In einer Szene voll höchsten dramatischen Interesses legte William Roupell, den Kreuz- und Querfragen des gegnerischen Advokaten willig folgend, das ganze Gewebe seiner zahllosen Fälschungen dar, und der Eindruck war der, daß von der Annahme eines Komplotts zwischen den Brüdern oder von einem Familien-Übereinkommen nicht länger die Rede sein könne. Der Prozeß wurde übrigens mitteninne abgebrochen, da es zu einem Vergleich zwischen den de facto Possessoren und Richard Roupell, dem de jure Possessor, kam. Man teilte sich in den Verlust. William Roupell (der „Bastard E d m u n d " 3 8 in dieser Tragödie) k o m m t nun wegen Fälschung vor die Assisen und wird unzweifelhaft zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt werden. [Nr. 217, 17. 9. 1862]

La saison morte. Lancashire und Lord Stanley Wer wird Primas? Nur nicht Deutsch *f* London, 26. September Der Hof auf Reisen, das Parlament geschlossen, die Lords auf Jagd in den schottischen Bergen und das Interesse an der Ausstellung längst einem Zehrfieber verfallen — so tritt London in die Herbstsaison ein. Es ist ein entschiedener Mangel an Stoff vorhanden, was Sie daraus ersehen mögen, daß seit 8 Tagen in der Times ein Krieg darüber geführt wird, ob Frösche und Kröten, die man frisch und munter in Steinkohlenblöcken gefunden hat, 6000 Jahre lang im Gestein gelebt haben können oder nicht. Die Bewohner von Lancashire werden jedenfalls nicht so lange leben und das ist am Ende ein Glück. Die Not dort ist und bleibt dieselbe. Das Gesetz, welches das Parlament noch kurz vor Schluß der Session erlassen hat und das die einzelnen Kirchspiele ermächtigt, Anleihen 38

Anspielung auf Glosters Bastard Edmund in Shakespeares King Lear.

London, 26. September

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T h e Hunting-Season: M e e t o f H e r Majesty's Staghounds at S h o t t e s b r o o k Farm

zu machen, hat sich zwar als praktisch und heilbringend erwiesen; aber das Beste, was durch alle diese Hülfen, ebenso wie durch Beisteuern und Sammlungen erreicht worden ist und erreicht werden konnte,

ist den-

noch nur das, daß das Hinsterben vor Hunger (starvation) vermieden wird. Der J a m m e r bleibt. Unter diesen Umständen mußte die Eröffnung einer Art von Arbeiter-Schule (Mechanic's Institution) in Stockport, also in einer der am schwersten betroffenen Fabrikstädte, ein ganz besonderes Interesse wecken, — eine Teilnahme, die sich auch darin zu erkennen gab, daß Lord Stanley, der älteste Sohn Lord Derbys, erschien, um eine Art von Inaugural-Rede zu halten. Er betonte vor allem den Umstand, daß der gesunde Geist der Arbeiterbevölkerung sich ganz besonders darin ausspreche, daß er nicht nur die Trübsal dieser Zeit mannhaft ertrage, sondern auch stark genug sei, mitten im Unglück durch Stiftung einer solchen „Institution" seine elastische Kraft und seinen Hoffnungsmut zu bezeigen. Diese Worte umschließen ein wohlverdientes Lob. Es gibt wohl keine zweite Fabrik-Bevölkerung in Europa, die im Gefühl

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The Cotton Famine: Operatives Waiting for their Breakfast in Mr. Chapman's Courtyard, M o t t r a m , Near Manchester

davon, daß auswärtige Verhältnisse und nicht innere Verwaltungsgebrechen einen Notstand verschulden, auch so bereit wäre, das herrschende Unglück, ohne jeglichen Versuch einer Auflehnung zu ertragen. Es zeigt das in der Tat ein Maß von klarer Erkenntnis und Selbstbeherrschung, woran höhere Gesellschaftsschichten anderer Länder sich ein Muster nehmen könnten. — Hier in London — versteht sich immer mit Ausschluß der amerikanischen Krisis, die die Gemüter nach wie vor in Spannung hält — beschäftigt sich alle Welt mit der Frage: Wer wird Primas von England, d. h. wer wird Erzbischof von Canterbury? Wer zieht ein in die verwaisten Räume von Lambeth Palace? Die Frage interessiert aus vielen Gründen, auch schon deshalb, weil der Erzbischof von Canterbury ein Gehalt von 15.000 Lstr., also von 100.000 Tlr. bezieht. Für solche Fragen hat der Engländer ein empfängliches Gemüt, auch wenn er nicht direkt dabei beteiligt ist. Es klingt ihm so angenehm im Ohr. Die Times brachte eben einen eigentümlichen, sehr geschraubten und ungewöhnlich vorsichtigen Artikel über diesen Gegenstand, der nach allen Seiten hin streichelt und Komplimente macht, im wesentlichen aber — wenn ich ihn recht verstanden habe — doch nur sagen will: „nehmt, wen ihr wollt, nur nehmt nicht den Bischof von London." Es hat dies etwas für sich. Der Bischof von London (Archibald Campbell Tait), ob durch Verdienst oder Nepotismus, sei dahingestellt, ist sehr früh — mit

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London, 11. Oktober

45 Jahren — zu hohen Ehren gelangt. Er zählt jetzt erst 50 Jahre, und die Times gibt nicht undeutlich zu verstehen, daß es für die alten Bischöfe von Winchester, Lichfield und Chester doch hart sein würde, sich gegen einen soviel jüngeren Genossen zurückgesetzt zu sehen. Nebenher deutet sie mit vieler Naivetät an, daß ein englischer Erzbischof meist 75 Jahre alt zu werden pflege, und daß es doch fast zuviel sei, einem 50jährigen Manne auf kommende 25 Jahre eine jährliche Einnahme von 15.000 Lstr. zu garantieren. Sie proponiert unter diesen Umständen die Ernennung des Erzbischofs von York zum Erzbischof von Canterbury·' und dadurch zum Primas. Dieser Vorschlag erscheint ihr aus vielen Gründen empfehlenswert, ganz besonders aber auch dadurch, daß der Yorker Erzbischof ein alter Herr ist, der nicht allzuviel Aussicht habe, die 15.000 Lstr. auf lange Zeit hin zu beziehen. — Die „Post" hat wieder ein Hühnchen mit den Deutschen zu pflücken. Diesmal gilt es zunächst ihrer Sprache, die als Weltsprache gestrichen werden soll. Die Paragraphen für das diplomatische Examen in England schreiben dem Kandidaten eine Kenntnis im Lateinischen, Französischen und Deutschen vor. Die „Post" fragt: Wozu Deutsch? Sie sucht zu beweisen, daß Spanisch und Italienisch aus vielen Gründen wichtiger sei. Das sind kleine Züge, aber sehr charakteristisch — Strohhalme, an denen man am besten erkennt, wie der Wind weht 3 9 . [Nr. 229, 1. 10. 1862]

Seht euch vor. Vergiftungsfälle Medizinal-Polizeiliches und Totenscheine Die Insel der Glücklichen Ein glatter Strom und der Katarakt :;

't* London, 11. Oktober

Großes Aufsehen macht hier ein Brief, den der berühmte Chemiker Dr. Taylor ganz vor kurzem (bei Gelegenheit eines Giftmord-Prozesses) veröffentlicht hat. Er fordert darin die Familien zur Wachsamkeit auf und

* Diese Ernennung ist inzwischen erfolgt, wie gestern gemeldet. D. Red. „A straw shows where the wind blows", engl. Sprichwort, v. F. analog häufig verwendet, ζ. Β. Aus den Tagen der Okkupation II, Straßburg, S. 316, oder Schach von Wuthenow, Ein neuer Gast (HFA I, 1, S. 602 u. 610).

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Ill

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träufelt ihnen das Gift ins Ohr, „daß sie vor Vergiftung nicht sicher seien". Es ist dieser Warn-und M a h n r u f nicht so harmlos-marktschreierisch gemeint wie das „poison in the t e a p o t " (Gift in der Teekanne) das vor etwa 10 Jahren erscholl und — behufs Anpreisung von FiltrierApparaten — die Londoner dahin belehrte, daß sie, mit Karl M o o r zu sprechen „den Tod aus hundert Quellen (voll Themsewasser nämlich) t r ä n k e n " 4 0 ; — nein, es handelt sich in diesem Fall d u r c h a u s u m keine Reklame, sondern durchaus nur um ernsten Hinweis auf die Tatsache, daß in London sehr viel Menschen vergiftet und hinterher als einfach an Schlagfluß, Dysenterie oder Cholera gestorben verzeichnet werden. Dr. Taylor f ü h r t an, d a ß ihm in seiner medizinisch-chemischen Praxis allein acht Fälle v o r g e k o m m e n wären, wo sich der Tod angeblich an der Cholera verstorbener Personen als die Folge absichtlicher, verbrecherischer Vergiftung herausgestellt habe. Die H i n z u f ü g u n g Dr. Taylors, d a ß die Entdeckung solchen Verbrechens, wenn man sich vegetabilischer Gifte bedient habe, oft sehr schwierig sei, ist nicht imstande, die ohnehin erschreckte Bevölkerung mit Trost zu erfüllen. Der berühmte Chemiker hat übrigens, meiner Überzeugung nach, durch die Veröffentlichung dieses seines Briefes mehr Angst und Sorge als wirklichen Nutzen geschaffen. Der bloße Z u r u f : „paßt auf", ist wirklich zu wenig. D a ß unter allen möglichen Krankheitsnamen nicht eben selten Vergiftungen in England v o r k o m m e n , ist leider unzweifelhaft; aber der bloße Rat, auf der H u t zu sein, gewährt eine sehr geringe Hülfe dagegen. D a ß solche Fälle hier verhältnismäßig leicht sich machen, hat in drei Dingen seinen G r u n d : erstens in der verhältnismäßigen Leichtigkeit, mit der jedweder sich jede Art von Gift verschaffen kann; zweitens in der Isoliertheit des Hauses, in der Abgeschlossenheit des ganzen Lebens, die eine Kontrolle erschwert, und drittens — der Leichtfertigkeit, Indifferenz und Pfuscherei vieler Ärzte zu geschweigen — in dem Umstände, d a ß es in London in den seltensten Fällen ein dauerndes, festgeknüpftes, menschliche Wurzeln habendes Verhältnis zwischen Arzt und Patienten gibt. Ärztlicher Rat ist hier sehr teuer: eine Guinee f ü r einen Besuch ist ein sehr k ü m m e r liches H o n o r a r ; so k o m m t es denn, d a ß unter 100 Personen 99 keinen eigentlichen Hausarzt haben, sondern im Fall schwerer E r k r a n k u n g auf gut Glück hin zu diesem oder jenem schicken. Der Arzt k o m m t , denkt

„ O h , ich m ö c h t e den O z e a n vergiften, d a ß sie den T o d aus allen Q u e l l e n saufen!" - Karl M o o r in Schillers Die Räuber (1781), 1, 2.

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London, 11. Oktober

oft mehr an sein fee ( H o n o r a r ) , als an den Patienten, verschreibt sein Rezept und findet den K r a n k e n anderntags als Leiche. Er stellt seinen Totenschein aus, gibt dem Kind einen N a m e n (wie ja auch bei uns geschieht), streicht sein fee ein und wartet auf einen ähnlichen guten Fall. So liegen die Dinge hier. Z u m Teil sind sie faktisch nicht zu ändern; Polizeivorschriften k ö n n t e n einiges helfen, aber sie widersprechen dem Geist des Volkes. — W i e Ironie m u ß es Ihnen erscheinen, wenn ich von der Besprechung einer so bedenklichen Seite des englischen Lebens zu dem landwirtschaftlichen Verein der G r a f s c h a f t Leicester übergehe, der vor einigen Tagen seine Jahressitzung hielt und sich in Trinksprüchen und Nachtischreden zu der T a t s a c h e gratulierte, d a ß England doch eigentlich die „Insel

der

Glücklichen"

sei. Vornehme und reiche Leute

waren versammelt, der Herzog von R u t l a n d , L o r d J o h n M a n n e r s und verschiedene M . P.'s. M a n b e g l ü c k w ü n s c h t e sich allen Ernstes und mit Fug und R e c h t , d a ß die diesjährige Parlamentssitzung so langweilig gewesen sei, „denn das L a n d sei zufrieden und k ö n n e auf J a h r e hinaus der gesetzgeberischen Tätigkeit des P a r l a m e n t s e n t b e h r e n " . Die T i m e s , die von diesem A c k e r b a u - M e e t i n g Notiz n i m m t , stimmt ein in diesen T o n des Genügens und schildert die Lage des Landes, wie folgt: „ D e r Streit über innere Fragen schweigt, weil nicht länger ernste

Meinungsver-

schiedenheiten o b w a l t e n . D a s H a u s der G e m e i n e n tut nichts und die N a t i o n unterstützt das P a r l a m e n t bei dieser seiner Arbeit. W i r stellen unwiderstehliche K a n o n e n und undurchdringliche Fregatten ins Feld und sind fest entschlossen, wenn irgend möglich, weder die eine noch die andere zu g e b r a u c h e n . Die Parteiführer sind einig in all und j e d e m , und zwischen den Reden eines Herzogs in Leicestershire und eines C o c k ney und Bierhauspolitikers in Finsbury ist k a u m ein Unterschied. Die frappierende Stille und G l ä t t e des politischen S t r o m e s zeigt vielleicht an, d a ß wir einem K a t a r a k t e nahe sind, aber gleichviel, für den Augenblick fließt der S t r o m ungekräuselt d a h i n . " — Diese Schilderung ist gut und sie ist auch wahr, doppelt w a h r durch den Hinweis auf einen

mög-

licherweise schon lauernden, all diese G l ä t t e und all dies G l ü c k verschlingenden Katarakt.

Im Innern des Landes lauert er nicht,

sonst hät-

ten diese Tage bitterer N o t in Yorkshire und L a n c a s h i r e etwas davon ans Licht g e b r a c h t , — aber der „ T o u r b i l l o n " k a n n den glatten S t r o m plötzlich fassen, oder der „ G o l f s t r o m des W e s t e n s " ihn in seiner T i e f e begraben. [Nr. 242, 16. 10. 1862]

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1862 Der Honorable Frederick Cadogan und der Restaurant Monsieur Veillard Englische Gesellschaft und englisches Leben

*f* London, 15. Oktober Ihre Leser werden sich vielleicht entsinnen — ich schrieb zu Anfang der Ausstellung darüber — daß das gesamte Restaurationswesen für die große „Exhibition" an zwei Personen verpachtet wurde, an einen Engländer und einen Franzosen. Der Franzose hatte das Unglück oder verstand sich schlecht auf den englischen Geschmack, gleichviel, er machte Bankerott und zahlte schließlich einen Schilling vom Pfund, oder so ungefähr. Der einzige unter allen Ansprucherhebenden, der voll befriedigt wurde, war der Honorable Frederick Cadogan, ein Gentleman, der Sohn oder Neffe des Earl Cadogan, eines selbstverständlich sehr reichen und sehr vornehmen Peers. Mr. Cadogan präsentierte ein Papier, demzufolge ihm, ehe an andere Zahlungen zu denken war, 2400 Lstr., also die hübsche Summe von 16.000 Tlr., vorweg ausgezahlt werden mußte. Natürlich waren alle andern Gläubiger wenig befriedigt durch diesen Vorzug, den der „Honorable" genoß, und schlugen deshalb Lärm in der Presse. Darauf antwortete Mr. Cadogan in einem Briefe an die Times, worin er folgende Angaben machte: „Monsieur Veillard, als er nach London gekommen sei, um die Restauration, halb oder ganz, im Ausstellungsgebäude zu pachten, habe natürlich eines guten Rats, sowie der Einführung bei verschiedenen Personen bedurft, und habe sich deshalb an ihn (Mr. Cadogan) gewandt und seine Dienste als Sekretär und Kommissionär en chef erbeten. Er, Mr. Cadogan, sei darauf eingegangen und habe als Ausgleichung von Mr. Veillard ein Jahresgehalt von 3000 Lstr., also von 20.000 Talern gefordert. Mit dieser Forderung sei Mr. Veillard einverstanden gewesen; da er, Mr. Cadogan, aber allerlei Zweifel gegen den glücklichen Ausgang der ganzen Restaurations-Entreprise unterhalten habe, so habe er, unter Herzuziehung eines Familien-Advokaten, den Kontrakt so fest und haltbar — so „wasserdicht" sagt man hier — wie möglich gemacht, zu dem Zweck, daß er mit Hülfe desselben des ausbedungenen Sekretär-Gehaltes unter allen Umständen sicher gewesen sei. Der Ausgang habe seine Befürchtungen und seine Vorsicht gerechtfertigt. Zehn Monate als Sekretär in Dienst, habe er von den jährlich ausbedungenen 3000 L. die entsprechenden 2400 L. gefordert und sie mit Hülfe des „wasserdichten" Kontrakts auch erhalten. So die Sachlage, wie sie

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London, 2 9 . Oktober

aus Mr. Cadogans eigener Darstellung hervorgeht. Wie stellt sich nun „public opinion", oder mit anderen Worten, wie stellt sich die Presse, die der öffentlichen Meinung Ausdruck gibt, dieser Angelegenheit gegenüber. Jedenfalls ganz anders als in Deutschland. Die Times verurteilt nicht das „business", das Geschäft überhaupt, sie verurteilt nur die Art der Handhabung desselben; das „was" läßt sie gelten, nur das „wie" erscheint ihr bedenklich. Sie schreibt wörtlich: „Mr. Cadogan wird still oder laut die Frage an uns richten, ob es unziemlich sei, einen Sekretariatsposten anzunehmen und sich für Verwaltung dieses Postens bezahlen zu lassen. Wir antworten ihm darauf: Sicherlich nicht. Wenn der ehrenwerte Frederick Cadogan Neigung in sich spürt, als Sekretär einer Gesellschaft oder als Kommissionär en chef irgendeines Restaurateurs in Amt und Sold zu treten, so werden wir nicht ein Wort dagegen zu sagen haben, und wenn er alles Blut der Plantagenets in seinen Adern oder einen Stammbaum hätte, der bis Noah reichte. Was wir angreifen, ist das, daß es den Anschein gewinnt, er habe sich durch Mr. Veillard nicht bezahlen, sondern bestechen lassen." Dies genügt, um den Unterschied englischer und deutscher Auffassung zu zeigen. Nicht das „Geschäft" als solches ist verpönt. Niemand nimmt Anstoß daran, daß der Sohn oder Neffe eines Lords („und wenn er alles Blut der Plantagenets in seinen Adern hätte") sich als Sekretär in die Dienste eines französischen Restaurateurs begeben hat; nur das fällt auf, daß er für diese Dienste ein bedenklich hohes, ein Verdacht erregendes Gehalt gefordert hat. Können wir uns in Deutschland denken, daß der Sohn oder Neffe Metternichs oder des Fürsten Schwarzenberg als Kommissionär en chef bei einem Ausstellungs-Restaurateur in Dienste träte? [Nr. 2 4 4 , 18. 10. 1862]

Einiges über Schotten und Iren Die Hochländer nur noch in Sage und Dichtung; der Irländer eine Wirklichkeit Ein irisches Steeple-chase * f * London, 29. Oktober Die Engländer, so geneigt sie sind, sich im Verkehr mit anderen Nationen als eine „superiore Rasse" anzusehen, üben doch gleichzeitig eine oft überraschende Bescheidenheit den beiden Volksstämmen gegenüber, die von ihnen unterjocht oder „einverleibt" worden sind, — ich meine die

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Schotten und die Iren. Die Schotten haben ihren Fundamentalsatz, „daß sie drei Finger hoch Gehirn mehr besäßen als andere Nationen", so oft wiederholt, daß die Engländer schließlich selber dieses Glaubens geworden sind und, wie sie sich, was Wissen, Schlauheit und geistige Anlage angeht, vor den Schotten mit einer Art Bereitwilligkeit beugen, so beugen sie sich in allem Körperlichen vor den Iren. Sie geben zu, daß der „Irishman" größer, stärker und, wenn auch nicht mutiger, so doch tollkühner und verwegener sei, als der Angelsachse, und selbst einen wesentlichen Teil der englischen Schönheit, den Teint, führen sie auf die Mischung mit irischem Blute zurück. Die Stellung des Engländers zum Irländer ist sehr ähnlich, wie die des Deutschen, namentlich des protestantischen Preußen zum Polen. Ziemlich in gleicher Weise, wie wir nicht anstehen, dem polnischen Adel ritterliche Gesinnung und dem polnischen Volke militärische Qualitäten zuzusprechen, so gefällt sich der Engländer darin, die Iren als ein Geschlecht von Heroen anzusehen. „Er hat sie ja doch besiegt" — das mag der stolze Hintergedanke sein, der ihn so bereitwillig loben läßt. Im übrigen ist diese Huldigung vollberechtigt; die Iren in ihren guten Exemplaren sind in der Tat ein hünenhaftes Geschlecht und, während auf dem Kontinent in der Regel die schottischen Hochländer als etwas ganz Besonderes nach dieser Seite hin gelten, flößen in England selbst die Iren einen gesteigerten Respekt ein. Dies hat einfach darin seinen Grund, daß die romantischen, viel verherrlichten Hochländer eigentlich nur noch in Sage und Dichtung existieren. Sie sind tot oder „jenseit des großen Wassers"; was jetzt noch in schottischen Regimentern den Kilt trägt und mit nacktem Knie einherparadiert, das sind eingewanderte Websters und Hopkinsons. Aber der Irländer ist noch eine Wirklichkeit im Leben wie in der Armee, und der Engländer — der es sonst an Spott dem „Paddy" gegenüber nicht fehlen läßt — behandelt ihn mit jener eigentümlichen Rücksichtsnahme, womit man einem Raufbolde aus dem Wege geht, oder eine geladene Doppelflinte in die Hand nimmt. Eine solche geladene Doppelflinte, die jeden Augenblick losgehen kann, ist nun der Irländer in der Tat; sein heißes Blut zeigt sich überall, gleichviel ob es gilt, den alten Redan in der Krim oder den allerneusten Redan im Hydepark zu stürmen, und existierte nicht schon eine furia francese, so ließe sich mit demselben Recht von einer „hibernischen Furia" sprechen. Dieser Hang zur Attaque, zum tollkühnen Vorgehen hat sich in neuster Zeit wieder glänzend bewährt und zwar auf den verschiedensten Feldern; in Irland selbst — in Belfast, Dublin und Tralee; in England — in London, Liverpool und Birkenhead. Ich

London, 29. Oktober

in

The International Steeplechase, Limerick: The Start

will a b e r nichts von diesen S c h l a c h t e n e r z ä h l e n , w o n o c h das o h n e h i n heiße Blut d u r c h einen T r o p f e n politischer T i n k t u r bis zur Fieberhitze gesteigert w u r d e , ich will Ihnen h e u t e e i n f a c h von einem irischen Steeplechase41 e r z ä h l e n , d a s vor k u r z e m in Limerick s t a t t g e f u n d e n h a t . Alle englischen Blätter, die T i m e s nicht a u s g e s c h l o s s e n , h a b e n Leitartikel d a r ü b e r g e b r a c h t u n d dies „irische P f e r d e r ü c k e n b r e c h e n " als unzivilisiert u n d u n m o r a l i s c h verurteilt; m a n sieht a b e r d e u t l i c h , d a ß diese Verurteilung eigentlich v o n einer A r t B e w u n d e r u n g diktiert ist, von der B e w u n d e r u n g vor Waghalsigkeit u n d ü b e r l e g e n e m M u t , e t w a wie w e n n wir von R a p p o , o d e r B l o n d i n o d e r d e m r o t e n F r e i b e u t e r lesen. D e r H e r g a n g (das Steeple-chase) selbst w a r f o l g e n d e r ; ich gebe den Bericht des irischen B e r i c h t e r s t a t t e r s , O b e r s t D i c k s o n , w ö r t l i c h : „ D e r A b g a n g w a r herrlich u n d m a k e l l o s (the start w a s c o r r e c t a n d b e a u t i f u l ) . Westa f ü h r t e , bis d e r Reiter, K a p i t ä n M a c C r e i g h t , f u r c h t b a r stürzte, so d a ß er f o r t g e 41

F. scheint Gefallen an dem engl. Wort gefunden zu haben; er verwendet es /.. B. in: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Die Grafschaft Ruppin, Ruppiner Schweiz: „Entzückendes Steeple-chase; das Gefühl der Fährlichkeit geht in der Wonne des Hindernisnehmens unter" (HFA II, 1, S. 340); auch in I'Adultera, Entschluß (HFA I, 2, S. 90), Graf Petöfy, 26. Kap. (HFA I, 1, S. 822).

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tragen werden mußte. Beim vierten Heck stürzte Glendinane; der Reiter, Mr. Russell, empfing einige schwere Verletzungen und befindet sich, wie wir mit Bedauern melden, in einem prekären Zustande, Glendinane selbst hatte das Kreuz gebrochen. Bandemere stürzte auch; der Reiter, Mr. Falkner, verletzte sich am Rückgrat und wurde ohnmächtig in das Waagehaus getragen. Palermo stürzte auch; der Reiter, Mr. Long, kam aber mit einigen Kontusionen davon und wird morgen hoffentlich weiter reiten können. Merrimac stürzte und blieb auf der Stelle; Romaika stürzte auch; dann stürzte Anonyma, Mr. Thompson fiel unter das Pferd, wurde aber gerettet und hatte nur einige Quetschungen empfangen. Käthe Fischer gewann endlich, unter ungeheurem Jubel, den Preis und Mr. Lloyd erhielt 400 Lstr. Tags darauf war Käthe Fischer wieder auf der Bahn und hohe Wetten wurden auf sie gemacht. Käthe führte glänzend und ihr Sieg schien unzweifelhaft. Da stürzte das tapfere kleine Tier (the gallant little mare) und brach das Kreuz. Käthe Fischer wurde allgemein bedauert." — So ist ein irisches Steeple-chase. Da darf man sich nicht wundern, wenn die „Paddies" den Hydepark-Redan stürmen und halb London in Schrecken und Staunen setzen. [Nr. 256, 1. 11. 1862]

High life und Sport. Raindeer und reindeer Was sagt Dr. Johnson und was sagt — die Welt? !; :

t · London, im November

Es trifft sich zufällig, daß ich Ihnen, seit längerer Zeit schon, immer nur über Vorkommnisse in unserem high life zu berichten habe; über Mr. Cadogan, den Lords-Sohn, der für 3000 Lstr. sich zum Sekretär und Agenten eines französischen Restaurateurs machte 4 2 , und über ein irisches Steeplechase, drin mehr Pferde den Rücken brachen, als in mancher namhaften Schlacht 43 . Auch heute berichte ich wieder über ein „Sport- und Club-Ereignis", das seit drei Tagen mehr von sich reden macht, als die amerikanische Frage, Prinzessin Alexandra und die Not in Lancashire. Die Macht, die die „Gesellschaft" über die Gemüter übt, zeigt sich dabei wieder im hellsten Licht. Thackeray erzählt im „Vanity Fair", daß am 15. Juni 1815, als die Herzogin von Richmond ihren be42 43

Vgl. Κ London, 15. Oktober 1862. Vgl. Κ London, 29. Oktober 1862.

London, im November

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rühmten Ball in Brüssel gab (der durch den Kanonendonner von QuatreBras unterbrochen wurde), die Tagesfrage nicht lautete: „Werden wir Napoleon schlagen", sondern: „Werden wir zur Herzogin geladen werden". 4 4 Dieser Hang, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen, ihr wenigstens zuzugehören, beherrscht das Gemüt des Engländers (die Damen ä la tete) mit der Macht einer Manie, und jedes kleine Vorkommnis innerhalb der „exklusiven Welt" (innerhalb der „oberen Zehntausend") wird mit einer Wichtigkeit diskutiert, von der sich diejenigen wenig träumen lassen, die da glauben, ein Engländer trage immer die Bilder von Pitt und Lord Nelson als Amuletts um den Hals und esse keine Dattel, ohne im stillen die Lösung der orientalischen Frage zu versuchen. Die Sache die jetzt schwebt, ist ein Streit zwischen vornehmen und reichen Offizieren, und die Frage, die die Gemüter erhitzt, läuft darauf hinaus: „hat eine ehrliche oder eine unehrliche Wette stattgefunden". Beiläufig bemerkt, tauchen bei diesem Streit reizende termini technici auf; die „ehrliche Wette" heißt bona fide-bet, die „unehrliche Wette" eine put up oder bubble bet (Schwindel-Wette), und eine Fünfpfundnote wird auf kürzestem Wege „ein Fünfer", a fiver, genannt. Die Geschichte selbst ist die folgende: Kapitän Stewart und Oberstlieutenant Burnaby von der Grenadier-Garde haben ein Pferd, das den Namen „Palmöl" führt. Beide sind einig, daß „Palmöl" eigentlich unanständig sei und beschließen, es raindeer (Rentier) zu nennen. Oberstlieutenant Burnaby nimmt einen Zettel und schreibt auf: raindeer. Kapitän Stewart lacht und persifliert den Oberstlieutenant, weil er raindeer schreibe; ramdeer sei falsch, aber reindeer sei richtig. Man wettet um einen „Fünfer" und trennt sich. Jedenfalls steht fest, daß Kapitän Stewart auf reindeer gewettet hat. Andern Tags sind beide Freunde (übrigens als „scharfe Wetter" längst übel bekannt) wieder im Clubhaus und Burnaby erzählt seine Wette vom Tag vorher; aber er erzählt sie unklar und spricht nur allgemein von ihrer Meinungsverschiedenheit über raindeer und reindeer. Ein Mr. Ten Broeck, eine Art „Goldfink" 4 5 wie es scheint, ist zugegen, mischt sich in das Gespräch, erklärt mit Bestimmtheit reindeer für richtig und Kapitän Stewart, der gestern ebenfalls für reindeer war, ist heute (seltsam) für raindeer und beruft sich, unter dem Lärm und Toben der andern Clubgäste, auf Johnsons Wörterbuch. Ten Broeck, der seiner Sache aufs

44 45

29. Kapitel, „Brüssel". Aus Ludwig Tiecks Fortunat, 2. Teil, I, 1: Daniel „[...] er läßt Euch ein tüchtiges Vermögen zurück, der alte Goldfink".

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Äußerste sicher ist, wettet 100 Lstr. gegen 1 Lstr.; die Wette wird notiert; Johnsons Wörterbuch wird geholt und siehe da — raindeer. Ten Broeck hat verloren und soll 100 Lstr. bezahlen. Er protestiert aber. Er versichert (unter Zustimmung vieler) von Johnsons Wörterbuch, als der entscheidenden Autorität, nichts gehört zu haben, sondern überhaupt nur von Wörterbuchs-Autorität; vier andere Wörterbücher, Walker, Richardson, Webster und Smart, (alle neuer und besser als Johnson) werden herbeigeholt und siehe da — reindeer. Der Streit gelangt nun an den SportsGerichtshof der „Unparteiischen", und der Vorsitzende dieses Gerichtshofs, Admiral Rous, entscheidet gegen Kapitän Stewart und gibt in seinem Gutachten sehr deutlich zu verstehen, daß es sich um eine bubble bet gehandelt habe, daß Burnaby und Stewart einig gewesen seien, den Goldfinken Ten Broeck zu „pflücken" und die Beute hinterher zu teilen. Alles erwogen, ist diese Annahme des Admirals nur allzu gerechtfertigt. Das Renomme der beiden Kavaliere, der Umstand, daß Stewart heute reindeer und morgen raindeer schreibt, und drittens, daß Johnson (der einzige, der für ihn spricht) als entscheidende Autorität von ihm zitiert wird — alles spricht dafür, daß Burnaby und Stewart über Ten Broecks 100 Lstr. „vorweg beschlossen hatten". Der Streit schwebt noch. Alle Clubs sind in Aufregung; alle Zeitungen bringen Briefe von Admiral Rous, von Burnaby, von Stewart, von Ten Broeck und einem halben Dutzend anderer. Einer verschanzt sich sogar hinter seiner Frau und schreibt wörtlich: „die habe es immer gesagt". Parteinahme überall. Die „strikten Leute" sind für Admiral Rous; die lebens- und wettlustigen für Burnaby und Stewart. Das Duell ist in England abgeschafft, sonst ging es ohne ein halbes Dutzend Kugeln nicht ab. Die Sache ist als Sittenbild von Belang. Lauter Gentlemen; Burnaby ein Oberstlieutenant bei der Grenadier-Garde, und doch! — [Nr. 277, 26. 11. 1862]

1863 Die seit acht Jahren währende Premierschaft des greisen Lord Palmerston, die Ende der fünfziger Jahre für nur ein Jahr durch eine Toryregierung unterbrochen war, wirkt sich weiter hemmend auf die Entwicklung innerer Reformen Großbritanniens aus. Das Regierungsprogramm von 1863 läßt auch dieses Mal vor allem die notwendige Parlamentsreform unerwähnt. So bleiben zweiundachtzig Prozent der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs weiterhin politisch rechtlos. Die parlamentarische und öffentliche Aufmerksamkeit ist indessen durch die großen außerbritischen Ereignisse in Anspruch genommen: durch den zu Beginn des Jahres ausgebrochenen Aufstand in Polen, durch die militärischen Höhepunkte von Fredericksburg und Gettysburg im nordamerikanischen Bürgerkrieg und, am Ende des Jahres, durch die den europäischen Frieden bedrohende deutsch-dänische Verwicklung im Streit um Schleswig-Holstein. Hier wie dort ist England um Neutralität und Erhaltung des europäischen Friedens bemüht. Die preußisch-russische Konvention vom Februar, die eine Entrüstung des liberalen Europas hinsichtlich der Zukunft Polens auslöst, führt — gemeinsam mit Frankreich und Osterreich — zur diplomatischen Intervention Englands am russischen Hof in Petersburg. Auf die unnachgiebigen Depeschen aus Washington, die die britische Regierung wegen des Baus von Rammschiffen in englischen Werften auf Rechnung der Konföderierten des Neutralitätsbruchs anklagen, lenkt England unter dem Eindruck des sich zusammenbrauenden Kriegsgewölks schließlich ein. Im deutsch-dänischen Konflikt verständigen sich Preußen und Österreich in ihrer Antwort auf die dänische Novemberverfassung über die Annexion Schleswigs und dessen Trennung von Holstein darauf, in Dänemark auf die Erfüllung der im Londoner Protokoll von 1852 übernommenen Verpflichtungen zu pochen. Ereignisse anderer Art sind Englands Verzicht auf das Protektorat über die Ionischen Inseln, die Griechenland unter dem jungen König Georg I. annektiert, ferner das Bombardement auf Kagosima wegen verletzter Ehre englischer Landsleute in Japan sowie der unerwartete Konflikt mit Brasilien über das ausfallende Benehmen englischer Seeoffiziere beim Landgang und deren Verhaftung durch die brasilianische Regierung, was für zwei Jahre zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen beider Länder führt. Unterdessen kämpft das Königreich Italien weiterhin mit seinen eigenen inneren Schwierigkeiten; vor allem der gefürchtete Lamarmora, erster Präfekt von Neapel, greift mit Strenge gegen das von

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der Bevölkerung mit Stillschweigen geduldete halbpolitische Brigantentum und die Umtriebe der bourbonengesonnenen Camorra durch. Die Berichterstattungen der britischen Presse über Preußens Verwicklungen in der polnischen und der schleswig-holsteinischen Frage zeigen eine durchweg antipreußische Haltung. Aus ihnen zu zitieren, wird nach Bismarcks Verschärfung des preußischen Pressegesetzes und der dadurch möglichen Zügelung der Presse für die Redakteure preußischer Zeitungen schwierig, wenn nicht unmöglich. Man beschränkt sich auf Andeutungen und Zitatfetzen, derentwegen keine Verwarnungen zu befürchten sind, und druckt im übrigen unverfängliche spaltenlange Berichte ab, so über die Hochzeit des Prinzen von Wales mit Prinzessin Alexandra von Holstein-Glücksburg, oder bringt „Entrüstungs-Komödieln]"1 aus der englischen Gesellschaft.

[Verhaftungen im Kreise Thorn] *"f* Aus dem Kreise Thorn, 13. Februar Die Aufregung wächst mit jedem Tage hier und in den Nachbarkreisen, und es sind bereits auf mehreren Gütern, auch bei Kulm und Strasburg, bedeutende Waffenvorräte gefunden und sogar ein katholischer polnischer Geistlicher durch Militär zur Haft nach Kulm gebracht worden. Die deutschen Gutsbesitzer haben außer ihren Beamten, Dienern, Schäfern und Gärtnern nur polnische Leute um sich und sind jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt, überfallen zu werden. (Der Wunsch nach der Heranziehung von Militär, den der Korrespondent weiter ausspricht, wird bekanntlich durch die neueren Anordnungen in Erfüllung gehen.) Der B.-u.H.-Ztg. wird mitgeteilt, daß die preußische Polizei in der Umgebung von Kulm verschiedene Verhaftungen vorgenommen hat. Bei einem Pfarrer sollen nicht nur drei polnische Emissäre ihren Aufenthalt gehabt, sondern auch in der Kirche ein Waffendepot von etwa 70 Gewehren mit Munition aufgefunden worden sein. Die Emissäre sowohl als der Pfarrer sind von Gendarmen begleitet in Kulm eingebracht worden. Auch ein Ökonom und ein Gutsverwalter sind verhaftet worden, der erstere sollte Soldaten zum Übertritt nach Polen zu verleiten versucht haben. [Nr. 3 9 , 15. 2. 1863] 1

Vgl. Κ London, Ende Juni.

Neapel, 18. Februar

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Freudloser Karneval und Winterschlaf Mißlungene Polendemonstrationen Die Briganten und die Parlaments-Kommission Leere Häfen *f* Neapel, 18. Februar Seit Menschengedenken ist f ü r Neapel kein Karneval so still und freudlos vorübergegangen, als der diesjährige. Die Aristokratie ist zum größeren Teil noch immer in R o m oder Paris, und die wenigen Emigranten, welche von dort zurückkehrten, verbergen sich verdrießlich in ihren Villen bei Portici und am Vesuv. Ihre Paläste in der Stadt stehen nach wie vor verödet. Die Kaufleute leiden zu sehr unter der allgemeinen Stockung des Handels und des Verkehrs, um ebenso wie sonst mit Festen und Bällen den Karneval zu feiern. Selbst die zahlreiche Masse des niederen Volkes, der in diesem Winter die N o t und der Hunger etwas näher als gewöhnlich getreten war, bezeigte ihren M i ß m u t durch das Unterlassen der plumpen aber beliebten Maskenscherze auf der Straße. Wenn die Herzogin von Genua nicht ihre beiden zwar stark besuchten, aber wenig belebten und von Papierbomben gestörten Bälle gegeben hätte, so w ä r e in ganz Neapel während des Karnevals keine Tanzmusik erklungen. Die Stadt scheint im Winterschlaf zu liegen. Vergebens versuchen es die Geistlichen, von den Kanzeln herab mit den Fastenpredigten das Volk aufzuregen; vergebens auch bemühen sich die Führer der revolutionären Partei, mit Proklamationen und Volksversammlungen das erstorbene politische Leben wieder anzufachen. M a n ist unzufrieden und murrt, wagt es aber doch nicht, irgend etwas gegen die allgemein verhaßte Regierung zu unternehmen. Der polnische Aufstand schien der Aktionspartei ein günstiger Vorwand zum Schreien und Demonstrieren; aber alle Bemühungen, eine gehörige D e m o n s t r a t i o n zustande zu bringen, scheiterten an einem einfachen Verbot des gefürchteten L a m a r m o r a . Ein Comite zur Unterstützung der Polen hatte sich unter dem Vorsitz des Abgeordneten Grafen Ricciardi bereits gebildet; Geldsammlungen und Volksversammlungen sollten veranstaltet werden, und die Studenten fingen auch schon an, durch lautes Geschrei auf den Straßen ihre Sympathien f ü r Polen an den Tag zu legen, als L a m a r m o r a mit der Polizei der ganzen Wühlerei auf einmal ein Ende machte. Die demokratischen Blätter wurden f ü r ihre polenfreundlichen Artikel einige Male konfisziert, die Sammlungen, die übrigens doch kein Resultat ergeben hätten, wurden verboten, und mehrere Studenten wurden eingesperrt. Nach diesen Maßregeln, welche den

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ernsten Willen der Regierung zeigten, die Aktionspartei nicht wieder übermütig werden zu lassen, war nichts mehr von dem Polen-Enthusiasmus zu verspüren. — Die großen Brigantenbanden leiden gegenwärtig sehr von der ungewöhnlich strengen Kälte; sie verhalten sich in ihren Winterquartieren ziemlich ruhig und haben die sonst so häufigen Streifereien nach der Ebene vorläufig fast ganz aufgegeben. Die kleineren Banden dagegen, welche sich aus den Bauern irgendeines Dorfes schnell bilden, um sich beim Herannahen der Truppen ebensoschnell wieder aufzulösen, betreiben desto eifriger in den Ortschaften und auf den Landstraßen ihr räuberisches Handwerk. Gestern erst wurden in dem nahe bei Neapel gelegenen Orte Terzigno 22 und in Voskotrekase 16 anscheinend ganz friedliche Einwohner verhaftet, die vor kurzem noch zur Bande des Pilone gehörten, die es aber vorgezogen hatten, einige ausnahmsweise kalte Tage in ihren Wohnungen zu verleben. Die Parlaments-Kommission zieht noch immer unter starker Militärbedeckung im Lande umher, um Nachrichten vom Brigantenwesen zu sammeln. Sie ist gegenwärtig in der Provinz Molise und wird überall, wo sie hinkommt, von den Behörden sowohl, als von der Bevölkerung sehr kühl empfangen. Die Sammlungen für den sogenannten danaro d'ltalia zum Besten der durch das Brigantentum Beschädigten werden hier mit einem wahrhaft jämmerlichen Erfolge weiter fortbetrieben. Viele geben nichts, weil sie den Briganten freundlich gesinnt sind, und die übrigen geben nichts, weil sie die Überzeugung haben, daß der danaro d'ltalia doch schließlich in den Händen einiger piemontesischer Beamten hängen bleiben werde. — Der noch im vorigen Jahre von allen möglichen Flotten belebte Golf von Neapel ist jetzt ganz verödet. Von Kriegsschiffen liegen hier nur die vier englischen „Meanel", „Liffey", „St. George" und „Magicienne" mit dem „Re G a l a n t u o m o " und einigen kleineren italienischen Fahrzeugen. Der Handelshafen ist so leer, wie er es nur selten war. [Nr. 55, 6. 3. 1863]

Lord Ellenborough und der polnische Aufstand *t ! : ' London, 21. Februar* Lord Ellenboroughs Rede, der man eine gewisse poetische Wucht nicht absprechen kann (vgl. Nr. 4 6 2 ) , hat hier in London großes Aufsehen * Von einem Preußen geschrieben. D. Red. (Leitartikel] 2 London, 21. Februar. Polen und die preußisch-russische Konvention, in: Nr. 46, 24. 2. 1863.

London, 21. Februar

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gemacht und die ohnehin vorhandenen Sympathien für Polen noch gesteigert. Diese Sympathien und natürlich auch die bittren Empfindungen gegen Rußland und Preußen („Rußland ein Bär, aber Preußen ein Schakal1" schreibt die Times) sind ganz ehrlich gemeint, entsprechen auch, wie nicht geleugnet werden soll, einem natürlichen Gefühl für den Schwächeren und Unterdrückten; aber die eigentliche Wurzel dieser Sympathien ist doch eine mangelhafte I n f o r m a t i o n , das Fehlen jeglicher historischen und politischen Sachkenntnis. Wer wollte sich indessen über diesen wohlgemeinten aber leeren Enthusiasmus des englischen Volkes w u n d e r n , wenn er w a h r n i m m t , d a ß es mit dem berühmten Lord Ellenborough, der als General-Gouverneur von Indien sich um die europäischen Verhältnisse wenig g e k ü m m e r t zu haben scheint, um kein H a a r breit besser steht. Enthusiasmus, Sympathien f ü r den Unterdrückten, aber an keiner einzigen Stelle die Frage: was ist möglich? was ist Rechtens? was hat diese unglückselige Insurrektion hervorgerufen, das „car tel est notre plaisir" der russischen Unterdrücker (wie Lord Ellenborough ohne weiteres anzunehmen scheint) oder die fanatisch-böswillige H a l t u n g der Unterdrückten? Lord Ellenborough gibt eine lebhafte Schilderung der „Rekrutierung", wie sie in der N a c h t vom 14. auf den 15. J a n u a r in Warschau geübt worden sei. Die Lords, ergriffen von der Lebendigkeit der Schilderung, rufen: „ H ö r t , hört!" und das englische Volk draußen ruft in hundert Zeitungen: „ H ö r t , hört!" Aber Lord Ellenborough weiß nicht, d a ß dies die Art ist, wie in Rußland überhaupt zur Rekrutierung geschritten wird. Diese Art ist allerdings sehr bedauerlich — das russische Gouvernement wird sich selber keine Illusionen darüber machen; aber es ist die landesübliche Art, die in Rußland selbst seit 30 oder 50 Jahren herrscht, und gegen die es dem Lord Ellenborough oder irgend einem andern Lord nie eingefallen ist, Protest zu erheben. Soviel über die Indignation des edlen Lords gegen die russische Rekrutierungsart ü b e r h a u p t . Er geht aber vom Allgemeinen zum Besonderen über und macht der russischen Regierung einen weiteren speziellen Vorwurf daraus, d a ß sie diese schreckliche Art der Rekrutierung nicht gegen alle, sondern gegen mißliebige einzelne, nicht gegen das platte Land, sondern gegen die Städte, gegen die Söhne der aufrührerischen gebildeten Klassen gerichtet habe. Diese Angabe ist richtig. Aber was verlangt Lord Ellenborough? Welcher Staat hätte nicht ein volles Recht, sich innerhalb der längst gesetzlich festgestellten Formen (mögen diese gesetzlichen Formen auch hart sein) seiner Widersacher zu entledigen? Das allgemeine Rekrutierungsrecht ist da — wer will es der russischen Regierung verden-

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The Earl of Ellenborough

ken, wenn sie dies Recht übt gegen diejenigen, die seit zwei Jahren Aufruhr gepredigt, zu Gift und Dolch gegriffen haben und dafür diejenigen frei ausgehen läßt, von deren Loyalität sie versichert ist? Wer darf dies tadeln oder als Grausamkeit brandmarken? Ob es klug war — den vielen Lord Ellenboroughs gegenüber, die überall in Europa vertreten sind — von diesem Rechte Gebrauch zu machen, das ist freilich eine andere Frage, eine Frage, deren Beantwortung nicht hierher gehört. Lord Ellenborough wendet sich nun gegen Preußen. Von der seit 30 Jahren existierenden Kartell-Konvention zwischen Preußen und Rußland, die in bestimmt vorgeschriebenen Fällen eine Auslieferung (sie sei nun im Einzelfall bedauerlich oder nicht) zur Pflicht macht, scheint Lord Ellenborough nichts zu wissen, und so lenkt er denn am liebsten auf das Gebiet ein, wo, ohne vorhergängige genaue Kenntnisnahme, er seinem Renner am besten die Zügel schießen lassen kann. Er fragt, ob das preußische Volk und die preußische Armee, deren glorreichste Erinnerung die große, nun gerade 50jährige Erhebung des Jahres 1813 sei, — ob dieses Volk und diese Armee den frevlen Mut haben könnten, die Erhebung eines anderen Volkes mit unterdrücken zu helfen? Das klingt sehr schön, ist aber halb Phrase, halb Torheit. Die Erhebung Preußens von 1813, die Erhebung eines Volkes, das noch lebte, das noch da war, die

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Erhebung eines ganzen Volkes vom König bis zum Bettler, vom Greis bis zum Knaben, — sie hat nichts gemein mit diesem unseligen polnischen Aufstand, der schon einfach daran scheitern muß, daß der gesundeste und zahlreichste Teil des Volkes von dieser Erhebung nichts wissen will. Was die preußischen Bauernsöhne 1813 getan haben, davon erzählen Dennewitz und Möckern; die polnischen Bauern aber ergreifen ihre eigenen Landsleute, von denen sie zum Aufstand gezwungen werden sollen, und liefern sie aus an die russische Regierung! Daß dies vielfach vorgekommen ist, werden die Polen selber nicht bestreiten. Und wäre es selbst anders·, wäre diese polnische Insurrektion von 1863 der preußischen Erhebung von 1813 wirklich so ähnlich wie ein Ei dem andern; stände wirklich das ganze polnische Volk in Waffen, — welche Torheit verlangt Lord Ellenborough von der preußischen Regierung, wenn er ihr zumutet, dem Wiederaufbau eines Polenreiches ruhig zuzusehen, oder zu diesem Aufbau wohl gar die Hand zu bieten? Polen wiederherstellen, heißt einfach das Königreich Preußen von der Landkarte streichen. Ohne Westpreußen, ohne Danzig, ohne die Weichsel, sind wir kein Preußen mehr. Wenn überlegene Kräfte jemals diese oder jene Provinzen von uns loslösen sollten, so würden wir das tragen müssen, wie jeder das tragen muß, was höherer Wille oder höhere Zulassung ihm auferlegen; aber es ist Torheit, von einem blühenden und lebensberechtigten Staate zu fordern, daß er sich selber opfere, sich selbst zerstückle, um ein an seiner Schuld und seinen Gebrechen längst zugrunde gegangenes Gemeinwesen, wie das polnische, wieder aufrichten zu helfen. [Nr. 48, 26. 2. 1863] Die blinde Darmstädterin * t * Darmstadt, 27. Februar Unser Land wird gegenwärtig nach allen Richtungen hin durch die demokratische Presse unterwühlt. Ihr gegenüber existiert auch nicht ein einziges konservatives Blatt. Die Regierung, die doch in gewissem Maß konservativ sein will, hat kein öffentliches Organ und scheint sich auch keines schaffen zu wollen, so leicht es zu haben wäre. Sie veröffentlicht ihre Erlasse neben den gerichtlichen Ladungen, Urteilspublikationen etc. in der Darmstädter Zeitung. Diese erhält dadurch auch in ihrem politischen Teil einen offiziellen Schein. Wie leicht könnte dies Blatt, das in die geringsten Dörfer kommt, weil alle Kirchen- und Gemeindevorstände

Darmstadt, 27. Februar

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es halten müssen, zu politischer Belehrung, zur Pflege gesund-konservativen Sinnes im Volk benutzt werden. Das Blatt aber ist in seiner gegenwärtigen Haltung vielleicht das prinzip-, takt- und charakterloseste in ganz Deutschland. Es ist schlechterdings nicht imstande, auch nur die politischen Parteien zu unterscheiden; aber es scheint die Weisung erhalten zu haben: Wider Preußen\ Für Österreich! Und das sind ihm nun die einzigen politischen Kategorien, die einzigen leitenden Gesichtspunkte. So wird denn in Bausch und Bogen Preußen schlecht gemacht und zwar gleicherweise das fortschrittliche wie das konservative Preußen; Österreich aber wird erhoben und zwar gleichweise das frühere konkordatliche, wie das modern liberale. Zur Anschwärzung Preußens ist denn alles willkommen; alle demokratischen Schimpfblätter werden dazu ausgebeutet. Während die Regierung des eigenen Landes einer demokratischen Kammer gegenüber einen schweren Stand hat, geht's in dieser Zeitung mit Waldeck, Virchow etc. gegen Bismarck und Heeresreorganisation. Am tollsten aber, seit der polnische Aufstand ausgebrochen. Da wird selbst die nahe Verwandtschaft des Landesherrn mit dem russischen Kaiserhause ignoriert; alle wirklichen oder angeblichen Greuel, welche der Russe verübt, werden getreulichst in extenso berichtet, aber nur um damit — Preußen schwarz zu machen wegen der Konvention. Was die radikalen Blätter Deutschlands an Schmähungen über diese Konvention bringen, was in England und Frankreich dagegen geredet und gedruckt wird, das alles wird aufgegabelt und auf einen Haufen in der Darmstädter Zeitung zusammengehäuft, ins Land hinausgesandt. Daß nun die Revolutionäre aller Länder mit den polnischen Insurgenten sympathisieren, ist natürlich; daß die Zwingherren der Hindu, die Engländer, für Polen Partei nehmen, weil eine Schwächung Rußlands ihnen willkommen ist, läßt sich begreifen — was aber Hessen-Darmstadt dabei für ein Interesse haben soll? Offenbar nur das eine, den preußischen Staat, der den Nachbar im Löschen seines brennenden Hauses nicht hindern will, um den Brand vom eigenen Hause fernzuhalten, als Genossen, ja als Schergen grausamer Tyrannei in Mißkredit zu bringen. Dieser Preis erscheint kostbar genug, um durch Teilnahme für die Insurgenten selbst den Lobredner der Revolution zu machen. Daß man damit die revolutionären Elemente im eigenen Lande stärkt, das einzusehen, ist man, von Preußenhaß verblendet, nicht mehr imstande. Und das ist ein Jammer! In konservativen, zumal christlich-konservativen Kreisen, in denen man sich, ohne kleindeutsch oder gar nationalvereinlich zu sein, doch mit Preußen nahe verwandt fühlt, herrscht über dies unanständige Verfahren nur eine Stimme

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des entschiedensten Unwillens. Bei den Liberalen aber erlangt m a n gar nichts damit; die D a r m s t ä d t e r Regierung ist und bleibt als reaktionär verschrien und die D a r m s t ä d t e r Zeitung der — „ D a r m s t ä d t e r M o n i t e u r " . [Nr. 53, 4. 3. 1863]

Lord Palmerston und die Polen-Debatte *f* London, 28. Februar Die Worte, mit denen Lord Palmerston auf Mr. Pope Hennessys „AdreßAntrag zugunsten Polens" a n t w o r t e t e (vgl. Nr. 52 3 ), werden, wie ich keinen Augenblick bezweifle, bei Ihnen daheim als „Wasser auf die Fortschrittsmühle" 4 als Arcanum Anti-Bismarckium ausgebeutet w o r d e n sein. Sehr mit Unrecht. Wenn es einerseits ein Fehler sein w ü r d e , die Bedeutung einer Parlaments-Sitzung wie die gestrige, das Gewicht der Sympathien und Antipathien, die ihren Ausdruck fanden, zu unterschätzen, so würde doch andererseits dieser Fehler ein viel bedenklicherer werden, w e n n m a n diese Worte — die Palmerstonschen an der Spitze — f ü r mehr nehmen wollte, als sie sind, als sie sein wollen. Alle Parlamentssitzungen sind dramatische Akte und Szenen; selten aber habe ich hierlandes den Eindruck einer „ A u f f ü h r u n g vor versammeltem Volke" so lebhaft gehabt, als gegenüber der gestrigen Debatte. Lord Palmerston, der diese Dinge längst zur Perfektion gebracht hat, übertraf sich gestern selbst, und wer seine Rede richtig beurteilen will, m u ß d u r c h a u s die auf parlamentarischem Gebiet vielleicht nur hier zu lernende Kunst innehaben, das wirklich Gemeinte von dem scheinbar Gemeinten unterscheiden zu k ö n n e n . Ich bilde mir nicht ein, in dieser Kunst ein besonders Geübter und Erfahrener zu sein; aber diesmal möchte ich doch mit Zuversicht die Behauptung wagen, d a ß die ganze A t t a q u e gegen Preußen, trotz einzelner Böllerschüsse, die ein lebhaftes Echo fanden, ein bloßer Scheinangriff gewesen sei. Es k a m darauf an, dem augenblicklich hier obenauf schwimmenden Enthusiasmus f ü r Polen „Rechnung zu tragen"; — jeder englische Minister muß die Kunst verstehen, dem Volke wenigstens 3

4

Die polnische Frage. Antrag auf eine Adresse an 3. 3. 1863. Die Wendung nimmt Gundermanns Redensart vom der Sozialdemokratie" vorweg; vgl. Der Stechlin, 3. passim; vgl. auch die Formulierung in KK London, 9. Januar 1867.

die Königin, in: Nr. 52, „Wasser auf die Mühlen Kap. (HFA I, 5, S. 33) u. 1. Mai 1866 u. London,

L o n d o n , 2 8 . Februar

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s c h e i n b a r seinen W i l l e n zu t u n . L i e s t m a n die P a l m e r s t o n s c h e R e d e m i t R ü c k s i c h t h i e r a u f * , s o w i r d m a n leicht e n t d e c k e n , w i e w e n i g g e n e i g t d e r a l t e P r e m i e r in Wahrheit

ist, d e m A n s i n n e n u n d A n d r ä n g e n d e r P o l e n -

f r e u n d e n a c h z u g e b e n . P a l m e r s t o n ist zu k l u g , als d a ß e r die B e g e i s t e r u n g des e n g l i s c h e n V o l k e s , o d e r a u c h n u r d e n G l a u b e n a n die

Möglichkeit

einer W i e d e r a u f r i c h t u n g d e s a l t e n P o l e n r e i c h e s teilen k ö n n t e ; a b e r e r ist freilich a u c h zu k l u g , zu s e h r englischer

M i n i s t e r , u m diesen S y m p a t h i e n

zu e i n e r Z e i t , w o sie a m s t ä r k s t e n s i n d , e n t g e g e n z u t r e t e n . E r w a r t e t a b , bis d a s H o c h w a s s e r w i e d e r E b b e g e w o r d e n ist. F ü r ihn h e i ß t es: sich abfinden

mit der öffentlichen

M e i n u n g , n i c h t ihr e n t g e g e n t r e t e n .

Ein

s o l c h e s E n t g e g e n t r e t e n v e r b i e t e t sich in E n g l a n d ü b e r h a u p t ; a b e r es v e r bietet sich in d i e s e m A u g e n b l i c k e d o p p e l t , w o L o r d P a l m e r s t o n s c h w e r l i c h v e r h e h l t , w i e s c h w a c h seine Stellung im Parlament

sich

geworden

ist u n d w i e s e h r er d e r U n t e r s t ü t z u n g d e r ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g b e d a r f . E r ist w e n i g e r d e n n je in d e r L a g e , sich m i t p u b l i c o p i n i o n in d i r e k t e n W i d e r s p r u c h s e t z e n zu d ü r f e n u n d es ist u n s c h w e r zu s e h e n , d a ß e r die p o l n i s c h e n S y m p a t h i e n des e n g l i s c h e n V o l k e s n u r r e s p e k t i e r t , u m seits

seiner-

d e r S y m p a t h i e n d e s s e l b e n e n g l i s c h e n V o l k e s s i c h e r zu sein. D i e s e

S y m p a t h i e n braucht

er, u m sich zu h a l t e n ; e r ist a b e r w e i t a b

davon,

* W i r gaben gestern die Rede Lord Palmerstons nach dem Bericht der „Lithographierten C o r r e s p o n d e n z " . Nach dem Originalbericht aber hat die Rede einen viel weniger aggressiven C h a r a k t e r und vermeidet ersichtlich jede präzise Fassung, jeden bestimmten Angriff. W i r geben hier die wörtliche Übersetzung der wichtigsten Stelle: „ D a ich gerade von Preußen spreche, so muß ich hier bemerken, daß, wie sehr wir auch den Geist und die Tendenz jener Konvention, welche kürzlich zwischen Preußen und Rußland unterzeichnet sein soll, verurteilen mögen, ich infolge mir zugegangener Benachrichtigung geneigt bin, zu glauben, daß die Befürchtungen, zu welchen wir in betreff dieser Konvention verleitet wurden (have been led to entertain) wahrscheinlich am letzten Ende nicht werden erfüllt werden. Ich glaube, jene Konvention ist noch nicht ratifiziert worden. Keine Ratifikationen sind ausgewechselt und ich neige mich nicht allein infolgedessen, was in der preußischen K a m m e r vor sich gegangen, sondern auch infolge der uns zugegangenen Notizen, zu der A n n a h m e , daß die Konvention wahrscheinlich nicht praktisch wird in Ausführung gebracht werden. Freilich spreche ich nicht nach offiziellen Quellen, aus denen ich geschöpft hätte, denn bis jetzt ist uns keine Abschrift der Konvention vor Augen g e k o m m e n . Ich hoffe, die Sache möge so zusammenhängen, denn solch eine Einmischung Preußens in die polnischen Ereignisse, würde überall große Verurteilung hervorrufen, wie sie dieselbe schon erzeugt hat, und wenn auf die bis jetzt in der Konvention bestehende Einmischung Handlungen folgen sollten, so würde dies nicht zum R u h m e der preußischen Regierung g e r e i c h e n . " D. Red.

292

1863

Preußen — gleichviel ob er es liebt oder nicht — zugunsten seiner Gegner schädigen oder wohl gar dem Herrn v. Bismarck und der Konvention zum Tort (und was dasselbe heißt, den Fortschrittsleuten zuliebe) das alte, an sich selbst zugrunde gegangene Königreich Polen neu aufrichten zu wollen. [Nr. 53, 4. 3. 1863]

Politische Tartüffes * t * London, 11. April Es sind das jetzt wieder Tage hier, wo man keine Zeitung lesen, kein Gespräch von fünf Minuten führen kann, ohne dreimal aus der vorschriftsmäßigen Ruhe der Wohlerzogenheit im allgemeinen und der Gentlemanschaft im besonderen herauszufallen. Was hört man nicht alles? Was muß man nicht alles als politische Weisheit, als verbürgte Tatsache hinnehmen! Hat es doch in einem Leitartikel der Times gestanden, hat es doch ein „own correspondent" aus Lemberg oder Krakau geschrieben. Oft leg ich mir die Frage vor, was erstaunlicher ist, die Unkenntnis oder die Leichtgläubigkeit, oder endlich drittens die Kühnheit, mit der aus den zweifelhaftesten Vordersätzen die unfehlbarsten Schlüsse gezogen werden. Jeder Leitartikel, der sich mit Preußen beschäftigt, glüht vor Entrüstung. Vergeblich weis' ich immer wieder darauf hin, das seitens Preußens nichts anderes geschehen sei, als was alte Verträge in unzweideutigen Paragraphen vorschrieben, und daß zweitens in diesen Paragraphen die Auslieferung von Insurgenten eben nicht vorgeschrieben sei, weshalb sie einfach nicht erfolge. Alles umsonst; jenes superiore Grienen, das hier den Namen sneering führt, ist die einzige Antwort auf solche Auseinandersetzung. Was das Verwunderlichste und Beleidigendste ist, das ist die Art, wie hier im „Lande der Gesetzlichkeit" diese Fragen zu bloßen Fragen der Sympathien und Antipathien unseres Hofes gemacht werden, als gäbe es in Preußen gar nicht das, was man Gesetze nennt. In allem erkennt man nur ein Eingreifen oder Unterlassen von höchster Stelle aus, und der Groll, unberechtigt in sich selbst, wird doppelt unberechtigt, indem er sich gegen Personen richtet, in Fragen, die jenseit alles Persönlichen liegen. Was würde ein Engländer sagen, wenn man seine Königin persönlich der Grausamkeit bezichtigen wollte, weil in ihrem Namen die bekannten indischen Zerfetzungen in Szene gesetzt wurden? Und doch nimmt derselbe Engländer keinen Anstand, die Hohenzollern für jeden Vagabunden verantwortlich zu machen, der

293

London, 11. April

wegen Diebstahls von einer Seite der G r e n z e auf die andere abgeliefert wird. Diese Blindheit, diese Ungerechtigkeit, dies „Messen mit verschiedenem M a ß " , das ist es eben, was hier den Fremden so vorzugsweise e m p ö r e n m u ß . D a ß alles falsch ist, was hier unter dem N a m e n „Tatsac h e " von M u n d zu M u n d e geht, ist das geringste. Wer h ä t t e Lust, den einzelnen Engländer oder selbst die einzelne Zeitung dafür v e r a n t w o r t lich zu m a c h e n , d a ß ihnen aus einem wohlgespeisten Kanalsystem die Lügen systematisch zugeführt werden? Es liegt jenseit ihrer M a c h t , das W a h r e vom Falschen zu scheiden. A b e r was einen gerechten Grund zur Indignation gibt, das ist die Blindheit, die eiserne Stirn, mit der m a n hierzulande glaubt, über die ganze Welt zu G e r i c h t e sitzen zu k ö n n e n , und zwar in Dingen, die denn doch (selbst wenn sie w a h r wären) von Seiten der Engländer zu allen Zeiten ganz anders besorgt worden sind. Die G e s c h i c h t e vom Splitter und Balken steht hierlandes i m m e r auf ihrer H ö h e . Wehe denen — o b Untertanen oder nicht — die gegen die englischen Interessen

verstoßen, oder w o h l gar M i e n e m a c h e n , die G r ö ß e , die

Existenz des Landes in Frage zu stellen. Die Tage C r o m w e l l s in Irland, die Tage des Herzogs von C u m b e r l a n d („der den Galgen durch ganz Schottland gehen ließ") wissen davon zu erzählen. Und wie in alten Z e i ten, so in neuen. Die dänische Flotte ward überfallen und zerstört, Kopenhagen zweimal b o m b a r d i e r t — a u f Verdacht hin. D i e Ionier, die Kanadier, die Chinesen — die niederkartätscht wurden, weil sie kein englisches O p i u m mehr kaufen wollten — sie alle haben ihr blutiges Blatt in der englischen G e s c h i c h t e . W a s a b e r ist das alles gegen das g r o ß e , rot geschriebene B u c h , das den N a m e n führt: England

in Ostindien.

Mit

Verrat gewonnen und mit Blut gekittet. Die „von der K a n o n e Weggeblas e n e n " haben ihr Kapitel in dem B u c h e , und die D r o h u n g e n sind unvergessen, mit denen an den kleinen asiatischen H ö f e n a u f Auslieferung von Flüchtlingen und Mißliebigen gedrungen wurde. Und dies selbe Volk, das knietief in Blut watet, wenn seine Handelsinteressen auf dem Spiele stehen, spielt den Entrüsteten, wenn R u ß l a n d die offene R e v o l u t i o n , die ihm ans Leben will, ernstlich zu b e k ä m p f e n M i e n e m a c h t , und glaubt, der preußischen Regierung Vorhaltungen machen zu müssen, weil sie — durch Verträge gebunden — zwei M ö r d e r zu G e r i c h t und Strafe abgeliefert hat. Was ist T a r t ü f f e 5 gegen solche Gleisnerei! — [Nr. 87, 15. 4. 1863] 5

Tartüffe sprichwörtlich durch Molieres Tartuffe ou l'imposteur, 1667, und Karl Gutzkows damals sehr bekanntes Lustspiel Das Urbild des Tartüffe, 1844.

294

1863 Zur Neuwahl

* t * Aus dem Kreise Bomst, 7. Mai Der in Berlin erfolgte Tod des Abgeordneten v. JJnruh-Bomst wird, abgesehen von der allgemeinen Achtung, deren der Verstorbene sich in näheren und ferneren Kreisen erfreute, von den Konservativen des Wahlkreises Meseritz-Bomst um so schmerzlicher bedauert, als voraussichtlich der k a u m politisch ruhiger gewordene Kreis durch die bevorstehende N e u w a h l von neuem heftig aufgeregt werden wird. Auf einen Sieg der Konservativen ist, o b w o h l ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung durch die G r u n d - und Gebäudesteuer sehr mißtrauisch gegen die Fortschrittspartei geworden ist, wohl k a u m zu hoffen, zumal von dem Beamt e n t u m dem größeren Teile nach eine tätige M i t w i r k u n g im konservativen Sinne schwerlich zu erwarten steht. Selbst sonst nicht der Fortschrittspartei angehörige Beamte, denen die Agitationen dieser Partei zum Ü b e r d r u ß geworden sind, und welche fühlen, wie sehr die Disziplin nach unten und die Autorität der Beamten leiden, wagen es nicht, aktiv gegen die Fortschrittspartei aufzutreten, weil sie, durch die ewigen Zeitungsnachrichten vom Ministerwechsel eingeschüchtert, sich zu weit engagiert zu haben fürchten, im Falle ein Ministerwechsel wirklich einträte; denn sie sind durch die rücksichtslose Art und Weise, in welcher gegen konservative Beamte von fortschrittlicher Seite eingeschritten w o r d e n ist, furchtsam geworden. Das ist eine beklagenswerte Folge der Konsequenz, mit welcher von fortschrittlicher Seite die Gerüchte von dem Ministerwechsel in Umlauf gesetzt werden. Es ist unter diesen Umständen nicht unmöglich, d a ß der diesseitige Wahlkreis einen recht entschiedenen Fortschrittsmann ins Abgeordnetenhaus wählt, und d a ß alle Bemühungen der Konservativen auch diesmal noch vergeblich sein werden. [Nr. 107, 9. 5. 1863]

Die gestrige Polen-Debatte im Oberhause * t * London, 9. Mai Die gestrige Polen-Debatte im O b e r h a u s e hat im wesentlichen einen Ausgang g e n o m m e n , der uns daheim mit Befriedigung erfüllen m u ß . Lord Shaftesbury, der die „Petition der City von London zugunsten Polens" überreichte, hat der russischen und speziell der preußischen Regie-

L o n d o n , 9. Mai

295

The Storm Signal We know not whence the storm may come, But its coming's in the air, And this is the warning of the drum, against the storm, prepare!

r u n g (die er ebensowenig wie sein Stief-Schwiegervater Lord Palmerston besonders zu lieben scheint) einige unliebsame Dinge gesagt, aber Preußen u n d R u ß l a n d d ü r f e n w o h l mit Recht die Frage a u f w e r f e n : „Was ist uns S h a f t e s b u r y ? " 6 Sie d ü r f e n einfach erwidern: „Um so schlimmer f ü r den edlen Lord, w e n n er sich, mit H ü l f e des M a r q u i s d'Azeglio, nicht nur mit Victor E m a n u e l , sondern n u n m e h r auch, wie es scheint, mit der Firma Bakunin-Herzen b e f r e u n d e t h a t . Noch einmal, die Rede Lord Shaftesbury ist gleichgültig; w a s ins Gewicht fällt, sind lediglich die mit leiser Stimme gesprochenen Sätze Lord Russells, die allen Polen-Meetings, allen City-Petitionen und gewissermaßen auch allen N o t e n Lord Russells selber zum Trotz, u n v e r k e n n b a r zeigen, d a ß derselbige Lord

6

Analogie zu „Was ist ihm H e k u b a ? " , vgl. A n m . zu Κ L o n d o n , 16. A u g u s t

1860.

296

186.3

Russia's

"Evasive

Answer"

E n g l a n d : "It seems to m e a n -eh? H ' m ! " France: "I think it m e a n s -eh? H a ! " Austria: "I suspect it m e a n s -eh? H o ! " C h o r u s : " A n d w e d o n ' t k n o w what

it m e a n s . "

Russell nicht Lust hat, England, der Wiederherstellung Polens zuliebe, in einen Krieg zu stürzen. Lord Russell zeigte dem H a u s e einfach an (was alle Welt aus der betreffenden Depesche an Fürst Gortschakoff längst wußte), daß England nichts als die Wiederherstellung der polnischen Verfassung von 1815 dringend empfohlen habe, und welches Gewicht der edle Lord auch scheinbar und ostensibel auf diese Verfassung legen mag, er ist doch wohl lange genug englischer Minister gewesen, um in seinem Herzen zu wissen, d a ß die Anempfehlung dieser Verfassung ein leeres Wort und gleichbedeutend mit Null ist. Wer a u f m e r k s a m liest, wird dies auch im weiteren Verlauf der Russellschen Rede wenigstens indirekt ausgesprochen finden. Es k a n n wohl nur noch von politischen Kindern bestritten werden, d a ß die Verfassung von 1815 in den Augen der Polen bloß eine H a n d h a b e zur Erlangung von mehr, ein erster Schritt zur Wiederherstellung des alten Polenreiches ist. N u r als Staffel zu einem solchen hat die polnische Verfassung in polnischen Augen einen Wert;

297

L o n d o n , 16. Mai

ist sie nicht

Staffel, so ist sie nichts.

Lord Russell aber erklärt nun eigens

(um jedem M i ß v e r s t ä n d n i s vorzubeugen) am S c h l u ß seiner Rede, d a ß er die (unausbleiblichen) Konsequenzen

dieser Verfassung nicht

will, und

zeigt dadurch am besten, d a ß er sich durch sein Bestehen a u f der Verfassung von 1 8 1 5 lediglich mit dem liberalen mit den Polen (die eben die Konsequenzen

englischen

Philister,

a b e r nicht

wollen) abfinden will. [Nr. 110, 13. 5. 1 8 6 3 ]

Earl Ellenborough und Schleswig-Holstein ; ; 't : '

L o n d o n , 16. M a i

D a s Unterhaus pflegt i m m e r einige Mitglieder zu h a b e n , die im hiesigen Publikum

den

Schmeichelnamen

„Packan"

führen.

Sie

sehen,

auch

S c h m e i c h e l n a m e n k ö n n e n G e s c h m a c k s a c h e sein. Ein solcher „ P a c k a n " war ζ. B. M r . R o e b u c k . Jetzt heißt es von ihm, „er belle mehr, als er b e i ß e " . Andere sagen, „er h a b e i m m e r nur gebellt, und noch dazu auf O r d r e " . Gleichviel, diese P a c k a n - R o l l e scheint jetzt auf einige O b e r h a u s Mitglieder übergegangen zu sein und zwar sind es zwei „ J a r l s " , der Earl Shaftesbury und der Earl E l l e n b o r o u g h , die in vorderster R e i h e stehen. H e u t e nur von Earl Ellenborough,

der durch seine Freitags-Rede (vergl.

unsere gestrige N u m m e r 7 ; d.Red.) offen gezeigt hat, wie die herrschenden englischen Parteien jetzt Politik treiben. Earl E l l e n b o r o u g h , trotz seiner dreiundsiebzig J a h r e , ist zwar a u s g e s p r o c h e n e r m a ß e n das enfant terrible seiner Partei; aber die „ C h e e r s " die seine R e d e begleiteten (ζ. B. seinen ziemlich schwachen

W i t z über den H a n g D e u t s c h l a n d s ,

eine

Flotte zu besitzen) zeigen deutlich, daß er im wesentlichen (wenn auch etwas durchgängerisch) das

ausgesprochen hat, was die Peers — W h i g s

oder Tories — mit ihm empfinden. Seine Rede enthält viel E x o r b i t a n t e s ; aber das Überraschendste bleibt doch i m m e r die Stelle, w o er die Inkorporierung Schleswigs in D ä n e m a r k gutheißt, o b w o h l — wie der Earl zugibt — die Verträge und Übereinkünfte von 1 8 5 2 diese I n k o r p o r i e r u n g eigens verbieten. A b e r was sind Verträge und Ü b e r e i n k ü n f t e diesen

mo-

dernen E n g l ä n d e r n ! H ö r e n Sie, durch wie einfache Mittel Earl E l l e n b o rough über die gezogene Barriere hinwegspringt. Er sagt: „Nun würde ich sehr ungern etwas gegen die Heiligkeit diplomatischer Verpflichtun7

L o n d o n , 1 6 . M a i . D i e L o r d s d e r E i n v e r l e i b u n g S c h l e s w i g s in D ä n e m a r k g ü n stig, in: N r . 1 1 4 , 19. 5 . 1 8 6 3 .

298

The German

Fleet

M r . Punch (to small G e r m a n ) : " T h e r e ' s a ship for you, my little man — n o w cut away, and d o n ' t get in a m e s s . "

gen sagen. Aber die Sittenlehrer behaupten, daß, wenn jemand sich eidlich verpflichtet, ein Unrecht zu begehen, der Eid ihn nicht binden könne, wenn er eine dem Eide widersprechende ältere Verpflichtung hatte. Indem nun der König von Dänemark jene diplomatischen Verabredungen sanktionierte, verletzte er die ältere Verpflichtung gegen sein Volk, nämlich die Pflicht, jede fremdländische Einmischung in seine inneren Angelegenheiten auszuschließen." So spricht ein Mann, der, nach einer gewissen Ironie des Schicksals, nicht nur als ein simpler Mr. Law geboren wurde, sondern auch als Law-Lord, d. h. also als Mann des law, des Gesetzes, seine Carriere machte! Law in Name und Titel, und — doch kein law. Daß Earl Ellenborough einen Vertrag als ein Ding ansieht, das, wie es in die Zeitlichkeit eintrat, auch mal aus der Zeitlichkeit verschwinden muß, darüber ist wahrlich nicht mit ihm zu rechten; aber die perfide, gleisnerische, advokatisch-knifftisierende Weise, wie er den Vertrag zu eskamotieren trachtet, — diese Art der Beseitigung ist widerwärtig. Earl Russell hat glücklicherweise die Akzeptierung dieser Sophis-

299

London, 30. Mai

men abgelehnt und ruhig entgegnet, „der beste Standpunkt einer englischen Regierung wird immer der sein, an geschlossenen Verträgen festzuhalten". [Nr. 115, 20. 5. 1 8 6 3 ]

Manus manum lavat Des einen Freund, des andern Feind * t * London, 30. Mai Das Haus, das vorgestern zum ersten Male wieder nach Pfingsten zusammentrat, begann seine Sitzungen mit keiner der großen Fragen, weder mit Polen noch Amerika, sondern mit einer kleinen heimischen Angelegenheit, dergegenüber es auf den ersten Blick überraschen muß, daß sie überhaupt imstande war, 4 0 0 Mitglieder des Hauses zwei oder drei Stunden lang auf ihren Sitzen zu halten. Die Sache indessen, klein wie sie war, hatte auch ihre ernste Seite, indem sie den Parteien eine gute Gelegenheit gab, mal ihre gegenseitige Stärke zu mustern. Schon seit Monaten hieß es, die Tories seien auch numerisch den Liberalen über den Kopf gewachsen (sachlich ist es längst zugegeben; denn Cobden sagt von seinem Standpunkte aus mit Recht: Lord Palmerston treibt unter WhigFirma Tory-Politik), und es sei jeden Augenblick in die Hand Lord Derbys gelegt, das gegenwärtige Whig-Kabinett zu stürzen. Die Abstimmung von vorgestern hat dies aber nicht bestätigt; die Stimmen standen 205 zu 191, so daß also die Regierung eine Majorität von 14 hatte. Die Sache selbst, um die es sich handelte, war nun aber folgende. In Dover lebt ein Mr. Churchward, der infolge eines mit der Regierung abgeschlossenen Kontraktes (der, glaub ich, alle 7 Jahre erneuert wird) den Post-Packetdienst zwischen Dover und Calais besorgt. Mr. Churchward ist ein Konservativer. Vor vier Jahren (1859) lag dem damaligen Tory-Ministerium daran, ihren konservativen Kandidaten, Kapitän Carnegie, durchzusetzen und Mr. Churchward, der in Dover viel Einfluß und Anhang hat, wurde seitens der Regierung aufgefordert, die Wahl Carnegies mit allen Mitteln zu unterstützen. Mr. Churchward dachte: „Du bist ein konservativer Mann und als solcher hast Du Deine Pflichten gegen Lord Derby und die Tories; Du bist aber auch zugleich Mensch und Kontrakt-Inhaber und hast als solcher die Pflicht, die Gunst des Augenblicks nach Möglichkeit auszunutzen. Unterstütze den konservativen Kandidaten, aber knüpfe Deine Unterstützung an die Bedingung, daß Dir der Post-

300

1863

packetdienst-Kontrakt auf weitere 7 Jahre verlängert wird. Dein jetziger Kontrakt läuft zwar erst nach 4 Jahren ab, aber — desto besser; schmiede das Eisen, solange es warm ist." Und er schmiedete es wirklich, und er half dem Tory-Ministerium in allen Stücken, und das Tory-Ministerium half ihm, und siehe da, der Kontrakt, der noch bis 1863 lief, wurde vorweg bis 1870 verlängert. Aber finstere Mächte lauerten und nahmen, nachdem das Derby-Ministerium nach kurzer Herrschaft vom Schauplatze abgetreten war, die Gestalt einer Untersuchungs-Kommission an. Vor dieser konnte der ganze Handel nicht bestehen; der VorwegKontrakt wurde als unzulässig verworfen, und vorgestern war der Tag, wo die in der Kommission längst gegen Mr. Churchward entschiedene Sache vor dem Plenum des Hauses zu letzter Entscheidung kam. Viele Reden für und wider wurden gehalten; das endliche Resultat habe ich bereits mitgeteilt. Aus diesem Resultate auf die derzeitige Stärke der konservativen Partei im Hause bestimmte Schlüsse ziehen zu wollen, wäre unangebracht; die Zahlen zeigen zwar unverkennbar, daß von beiden Parteien alles mögliche geschehen war; doch ist die Frage selbst so klein und grenzt so nahe ans Mesquine, daß es mehr als wahrscheinlich ist, daß den Konservativen an einem Siege in dieser Sache nicht allzuviel gelegen war. Eine ernstere und wichtigere Angelegenheit könnte also immerhin andere Resultate bei der Abstimmung ergeben. [Nr. 127, 4. 6. 1863]

Zur Reise II. KK. HH. des Kronprinzen und der Frau Kronprinzessin :: !

t · Königsberg, 13. Juni

Sie werden in letzter Zeit wiederholt Berichte über die Reise II. KK. H H . des Kronprinzen und der Frau Kronprinzessin durch unsere, in vielem Sinne reiche und gesegnete Provinz erhalten haben. Ich will es versuchen, dieselben in soweit zu vervollständigen, daß ich Ihnen einige Einzelheiten über das Verweilen der hohen Herrschaften in unsern Landkreisen Fischhausen und Königsberg mitteile. Beide Kreise sind in mancher Beziehung durch ihre unmittelbare Verbindung mit der Stadt Königsberg von jener demokratischen Krankheit angesteckt, welche die Hauptstadt unserer Provinz ergriffen hat. Um so erfreulicher ist es, daß der gesunde, im Innersten konservative Sinn unserer ländlichen Bevölkerung sich auch

Königsberg, 13. J u n i

301

diesmal bewiesen h a t . N a c h d e m Ihre Kgl. H o h e i t e n am 8. M a i a b e n d s nach 9 Uhr hier angelangt und von den Chefs der Behörden auf dem Bahnhof b e g r ü ß t w o r d e n w a r e n , begaben sich Höchstdieselben am nächsten M o r g e n gegen 9 Uhr auf einem D a m p f s c h i f f nach Pillau, legten daselbst e t w a u m 12 U h r mittags an und w u r d e n am Q u a i von den städtischen Behörden, sowie von einem Teil der Kreisstädte des Landkreises Fischhausen ehrfurchtsvoll e m p f a n g e n . N a c h einer der gebotenen Gelegenheit angemessenen A n s p r a c h e durch den ersten Kreisdeputierten G e n e r a l - L a n d s c h a f t s r a t Richter auf Schreitlacken, hatten II. KK. H H . die G n a d e , ein von den versammelten Kreisständen arrangiertes Dejeuner im H a u s e des Konsuls M a r t y a n z u n e h m e n , an welchem außer d e m Gefolge der hohen Gäste, dem O b e r p r ä s i d e n t e n der Provinz Dr. Eichm a n n , d e m Kreislandrat Kuhn und den Chefs der M i l i t ä r b e h ö r d e n , folgende Stände des Landkreises Fischhausen teilnahmen: Richter-Schreitlacken, Kröck-Schloß-Thierenberg, v. Pusch-Schugsten, v. Auer-Goldschmiede, v. M o n t o w t - K i r p e h n e n , v. M o n t o w t - S a c h e r a u , Andre-Fuchsberg, v. d. O s t e n - M e d e n a u , Stellter-Groß-Mischau, v. Wedel-Gautin, Baron v. d. Goltz-Kallen, Podlech-Mollehnen, Richter-Kantin, SiegfriedKirschnehnen. N a c h d e m Schluß des Dejeuners, welches in heiterster Weise verlief, u n d bei welchem der Rittergutsbesitzer Richter-Schreitlacken die Ehre hatte, I. Κ. H . der Frau Kronprinzessin zur Rechten, der Rittergutsbesitzer v. Pusch Höchstderselben gegenüber zu sitzen, begaben sich die hohen H e r r s c h a f t e n in die bereitgehaltenen Wagen u n d , gefolgt von den Wagen der Kreisstände unter F ü h r u n g des Kreislandrats Kuhn, nach dem e t w a 4 Meilen von Pillau belegenen historisch b e k a n n ten Berge Galtgarben, d e m höchsten P u n k t e unserer Provinz. Hierselbst hatten sich die D a m e n der Kreisstände zur Begrüßung II. KK. H H . eingef u n d e n , u n d n a c h d e m der Berg erstiegen war, w u r d e auf seinem r o m a n tisch gelegenen Plateau durch die Frau L a n d r ä t i n Kuhn der Tee serviert. Nach 8 Uhr a b e n d s traten die Kronprinzlichen H e r r s c h a f t e n die Rückfahrt nach Königsberg an, bei welcher n u n m e h r der L a n d r a t des Kreises Königsberg Frhr. v. Hüllessem die F ü h r u n g ü b e r n o m m e n hatte. In den O r t s c h a f t e n , d u r c h welche der Weg f ü h r t e , hatten sich die Bewohner in Festkleidern auf der durch E h r e n p f o r t e n u n d Blumengewinde ges c h m ü c k t e n Straße höchst zahlreich eingefunden, II. KK. H H . enthusiastisch b e g r ü ß e n d . Wir heben namentlich das geschmackvoll dekorierte G u t C h a r l o t t e n h o f hervor, dessen Besitzer L a n d r a t a . D . Kunicke mit seiner Familie das Kronprinzliche Paar ehrfurchtsvoll begrüßte. Um zehn Uhr a b e n d s langten die hohen H e r r s c h a f t e n in Königsberg wieder an. —

302

1863

Zu Mittwoch, dem 10. Juni, hatten II. KK. HH. ein Diner bei dem OberGewandkämmerer Wirkl. Geh. Rat Grafen Dönhoff auf seinem etwa drei Meilen von Königsberg belegenen Schlosse Friedrichstein angenommen. Auf dem Wege, welcher unter Führung des Kreislandrats Frh. v. Hüllessem zu Wagen zurückgelegt wurde, hatten die Bewohner der angrenzenden Bauerdörfer sich zu herzlicher Begrüßung zahlreich in den Ortschaften, die passiert wurden, eingefunden. In Friedrichstein selbst, welches bei seiner selten romantischen Lage in einer des Tages würdigen Weise geschmückt war, hatten sich von weit und breit hunderte von Bewohnern der umfangreichen Gräflich Dönhoffschen Besitzungen und der angrenzenden Ortschaften zur Begrüßung versammelt und empfingen mit lautem patriotischen Zurufe die Kronprinzlichen Gäste. — Am Freitag, den 12. d., morgens nach 8 Uhr, verließen II. KK. HH. Königsberg und begaben sich auf der Cranzer Chaussee nach dem etwa vier Meilen entfernten Beek-Hafen, um von dort zu Dampfschiff die Reise nach Memel fortzusetzen. Die Fahrt von Königsberg ab glich einem Triumphzug im schönsten Sinne. Die an der Straße liegenden Güter hatten durch Ehrenpforten, preußische und englische Fahnen und Blumengewinde einen würdigen Empfang vorbereitet; an der Chaussee waren unter Vortritt der Gutsherrschaften die Bewohner in Festkleidern und mit geschmückten Emblemen der Landwirtschaft aufgestellt. Überall empfing das Kronprinzliche Paar begeisterter Zuruf, während die Besitzer mit ihren Familien die Ehre hatten, II. KK. HH. am Wagen zu begrüßen. So führte der Weg zunächst durch Quednau (Besitzer Lieutenant Koch) und durch Trutenau (Besitzer Landrat a.D. Jachmann). In Schugsten, wo das Umspannen der Pferde erfolgte, hatten die hohen Herrschaften die Gnade, bei dem Besitzer, Rittergutsbesitzer v. Pusch, das Dejeuner einzunehmen und fast eine halbe Stunde zu verweilen. In Schreitlacken empfing der Besitzer, General-Landschaftsrat Richter mit seiner Familie und umgeben von seinen Leuten II. KK. HH. am Wagen und hatte die Ehre, daß sich dieselben längere Zeit mit ihm und seiner Familie unterhielten. Nachdem in ähnlicher Weise die Güter Mollehnen (Besitzer Rittergutsbesitzer Podlech), Lapten und Bledau berührt waren, langten II. KK. HH. gegen 11 Uhr im Beek-Hafen an, wurden daselbst von dem Vertreter der Bledauer Güter, Ober-Staatsanwalt v. Batocki, ehrfurchtsvoll begrüßt und bestiegen nach kurzem Aufenthalt das zur Fahrt nach Memel bereitgehaltene Dampfschiff. Der reichste Segenswunsch unserer samländischen Kreise begleitet sie. [Nr. 138, 17. 6. 1863]

303

London, Ende Juni Ein „solennes" Bankett t ' Gumbinnen, 25. Juni

>: ! ;

D i e Pr. Litt. Z e i t u n g schreibt in ihrer heutigen N u m m e r folgendes: „ A m 4 . nächsten M o n a t s wird die liberale Partei des Regierungsbezirks G u m binnen den A b g e o r d n e t e n ihrer Partei ein solennes B a n k e t t im Saale der hiesigen Bürgerressource geben. N a c h den schon jetzt erfolgten Anmeldungen zur T e i l n a h m e dürfte diese eine sehr zahlreiche werden. D i e meisten der Abgeordneten in unserem Regierungsbezirk haben bereits die an sie ergangene Einladung a n g e n o m m e n . Es werden auch sehr liebe G ä s t e aus Königsberg e r w a r t e t . " — In H i n s i c h t der erst vor kurzem stattg e h a b t e n M a c h i n a t i o n e n der d e m o k r a t i s c h e n Partei, jede Festlichkeit bei der Reise Sr. Κ. Η . des Kronprinzen zu hintertreiben, m u ß dies „ s o l e n n e " B a n k e t t als eine ganz a b s o n d e r l i c h e D e m o n s t r a t i o n , mit welcher der „ F o r t s c h r i t t " so recht sein heuchlerisches Wesen d o k u m e n t i e r t bezeichnet werden. W ä h r e n d bei der Reise Sr. Κ . Η . die P a r o l e der Fortschrittspartei war: „Traurige Lage des Landes; Vermeidung jeder Festlichkeit, jedes Aufsehens; nicht H u r r a h rufen; M ü t z e a u f b e h a l t e n ; besorgte, düstere Gesichter u . s . w . " , wird man bei A n k u n f t der fortschrittlichen Abg e o r d n e t e n , insbesondere der „sehr l i e b e n " Freunde aus Königsberg (vermutlich der jüdischen D o k t o r e n J a c o b y und K o s c h und des Freigemeindlers

Rupp)

aus Leibeskräften

Hoch!

schreien,

man

wird

die

Hüte

schwenken und man wird bei dem „ s o l e n n e n " B a n k e t t tüchtig die C h a m pagnerflaschen knallen lassen und ein so vergnügtes G e s i c h t dazu machen, als o b wir uns im goldenen Z e i t a l t e r befänden. Wohl b e k o m m ' s den königlichen B e a m t e n , die etwa als A b g e o r d n e t e dabei

figurieren

werden, und etwaigen andern, welche es nicht für unpassend halten, bei der „traurigen Lage des L a n d e s " an einem „ s o l e n n e n " B a n k e t t teilzunehmen! Ein aufrichtiges: Wohl b e k o m m ' s ! noch einmal. Z u solchem Bankett gehört ein guter M a g e n .

[Nr. 151, 2. 7. 1863]

A n n a Wolkley Einiges über black-holes in L o n d o n Die alte K o m ö d i e *t : : " L o n d o n , E n d e J u n i Seit a c h t Tagen hat L o n d o n mal wieder einen jener alle 5 oder 10 J a h r e wiederkehrenden M i t l e i d s - P a r o x y s m e n , die eine W o c h e a n d a u e r n , der

304

1863

Times die Pflicht auflegen, einige 20 bis 30 Pros und Contras zu drucken, und welche damit schließen, d a ß alles beim alten bleibt. Mal sind es die Armenschulen, mal die Fabrikkinder, mal die „unglücklichen M ä d c h e n " (wie zart!), die beiläufig bemerkt immer irish girls oder french women sind; mal die Greenwich-Pensionäre, die hungern müssen, nachdem sie Englands siegreiche Schlachten geschlagen; mal die Hochschotten, die ausgekauft und infolge immer wachsender N o t über das große Wasser getrieben werden. Der Mitleids-Paroxysmus, der in diesem Augenblick spielt, ist eigentlich nur eine zweite A u s f ü h r u n g und erinnert lebhaft an den Nähterinnen-Enthusiasmus, der dem großen outcry über die bittre N o t der needle-women, besonders der H e m d e n n ä h e r i n n e n , folgte und der (im Gegensatz zu anderen fits oder Anfällen der Art) nie vergessen werden wird, weil er die englische Literatur um zwei, in ihrer Art ausgezeichnete Gedichte bereicherte: „Das Lied vom H e m d e " (the song of the shirt) und „Die Seufzerbrücke". Beide von T h o m a s H o o d und beide von Freiligrath ganz vorzüglich übersetzt 8 . Es handelt sich diesmal wieder um N ä h t e r i n n e n , aber um eine andere Unter-Abteilung, um die Rubrik „Putzmacherin" oder milliner. Die Geschichte, die zu diesem neuesten Entrüstungsschrei Verlanlassung gegeben hat, ist folgende. In RegentStreet, also o h n g e f ä h r unserem „Unter den Linden" entsprechend, lebt M a d a m e Elise, die Inhaberin eines großen, höchst fashionablen Modegeschäfts. Putz, Kleider u.s.w., alles wird hier besorgt, was die vornehme Welt für ihre Erscheinung in der Gesellschaft bedarf; M a d . Elise ist die glückliche Gattin eines Mr. Isaacsohn, w o r a u s ich den Schluß ziehe, d a ß die Wiege des übrigens sehr reich gewordenen Paares nicht zwischen Seine und Loire, sondern auf jenem weiten Sumpf und Sandstrich gestanden hat, wo die Wasser der Netze und Warthe der O d e r zuströmen. Also rund heraus — im Posenschen. M a d . Elise, bez. Mr. Isaacsohn beschäftigt mehrere h u n d e r t „Young-Ladies", teils als Kleider-, teils als Putzmacherinnen (dressmakers und milliners). Viele dieser jungen D a m e n leben auch in dem Etablissement und da Regent Street eine sehr teure Gegend und das Empfangslokal dem Geschäftsmanne die H a u p t s a c h e ist, so w o h n e n die jungen D a m e n in kleinen Bretterverschlägen, die einige untersuchende Kritiker seitdem so unzart gewesen sind, nicht nur mit Gefängniszellen, sondern mit Särgen zu vergleichen. In solcher Zelle (bez. Sarg) stehen zwei Betten und in jedem Bett schlafen zwei junge D a m e n , immer abwechselnd eine Kleider- und eine Putzmacherin. Bei Tage, d. h. 8

London, 1847.

306

1863

von 8 Uhr früh bis abends 11, sitzen sie zu 2 0 , 3 0 oder 4 0 in gemeinschaftlichen Arbeitslokalen; um 11 gehen sie, nach vierzehnstündiger Arbeit, in den eben beschriebenen Zellen zur Ruhe. Über die Ventilationsfrage existiert ein Dunkel, und eine unartige Zuschrift an die Times hat das in England furchtbare Wort fallen lassen: „Wie das schwarze Loch in C a l c u t t a " (like the black hole in C a l c u t t a ) E i n e dieser jungen Damen nun, eine Miss Anna Wolkley, ist plötzlich gestorben. Ihr Tod hat zu einer Untersuchung geführt, und das Verdikt ist abgegeben worden: „Gestorben höchst wahrscheinlich infolge von zuviel Arbeit und zu wenig frischer L u f t . " Selbst im Parlament hat Lord Shaftesbury

(in dessen Res-

sort diese Fragen fallen) den Vorfall zur Sprache gebracht. Die Sache ist traurig genug, und wir wünschen den hunderttausend „Anna Wolkleys" beiderlei

Geschlechts, die in den black holes von London leben, daß es

anders wäre; aber was dabei verdrießt, das ist die gleisnerische Komödie, die von Seiten der respektablen Leute jedesmal bei solcher Gelegenheit aufgeführt wird. Sie fallen jedesmal und immer wieder und wieder wie vom Monde.

Sie sind aufs äußerste überrascht, erstaunt, entsetzt, daß

solche Dinge um sie her vorgehen, und dennoch ist das, was dieses Erstaunen hervorruft, in den seltensten Fällen ein Allerschlimmstes. Anna Wolkley ist an schlechter Luft gestorben; aber schon jetzt verlautet es hier und da (und ein nachträglicher Bericht bestätigt es), daß es viele tausend luft- und lichtloser Löcher gibt, in denen trotz dieser ganzen Entrüstungs-Komödie alles beim alten bleiben und fortgelebt und fortgestorben werden wird wie bisher. [Nr. 1 5 9 , 1 1 . 7 . 1 8 6 3 ]

Eine Wiederanstellung * f * Hannover, 3. O k t o b e r Die Nachricht, daß der frühere Obergerichts-Assessor Planck als Obergerichtsrat wieder angestellt worden sei, hat großes Aufsehen erregt. Der „Hannov. Courier" und die „Tagespost" versichern, daß dieser Schritt * Einer der indischen Fürsten ließ im vorigen J a h r h u n d e r t mehrere hundert Engländer — M ä n n e r , Weiber, Kinder — in ein dunkles Loch stecken, worin sie in 2 4 Stunden in verpesteter Luft, nach gräßlichen Q u a l e n , sämtlich starben. Seitdem ist das Wort: „black hole o f C a l c u t t a " sprüchwörtlich geworden.

307

Hannover, 3. Oktober

der Regierung mit allgemeiner Befriedigung a u f g e n o m m e n sei und das Vertrauen zum jetzigen M i n i s t e r i u m nur noch befestigen werde. D a s letztere Blatt weiß sogar aus sicherer Quelle, d a ß das Ministerium

bereits

seit längerer Z e i t die Wiederanstellung P l a n c k s beabsichtigt habe. Die Ursache der Verzögerung wird nicht angegeben, ist nach den Antezedenzien des Planck a b e r w o h l zu erraten. D i e Z e i t u n g für N o r d d e u t s c h l a n d , das O r g a n der Partei, deren tätiges Mitglied Planck selbst ist, behauptet, daß diese Wiederanstellung wenig Beifall finden werde. D a s Blatt scheint zu besorgen, d a ß Planck seine politische W i r k s a m k e i t infolge seines Eintritts in den Königlichen Dienst b e s c h r ä n k e n werde, dieses ein zweifelhaftes L i c h t auf die M o t i v e der Akteurs jener Partei werfen und denselben in der öffentlichen M e i n u n g schaden k ö n n e . W i r enthalten uns eines Urteils darüber, welche jener Behauptungen die richtige sei und beschränken uns auf die Mitteilung einiger Vorgänge aus der politischen Tätigkeit des H r n . Planck, w o n a c h sich der Leser sein Urteil selbst bilden m ö g e . Im J a h r e 1 8 4 7 als A u d i t o r zum Staatsdienste zugelassen, bekundete er in dem Z e i t r ä u m e von 1 8 4 8 — 1 8 4 9 bereits so freie politische G r u n d s ä t z e , d a ß er sogar mit dem damaligen M ä r z - M i n i s t e r i u m in Konflikt geriet.

1 8 5 5 w a r er einer der M i t u n t e r z e i c h n e r

des damals

in

D e u t s c h l a n d Aufsehen erregenden A d r e ß e n t w u r f s des Verfassungs-Ausschusses

der S t ä n d e v e r s a m m l u n g ,

worin

neben

der

Warnung

einer

Allerhöchsten Person mit dürren Worten jede Änderung der Verfassung von 1 8 4 8 auf G r u n d der Bundesbeschlüsse vom 12. und 19. April 1 8 5 5 o h n e Z u s t i m m u n g der Stände von 1 8 4 8 für Verfassungsbruch und für rechtsungültig erklärt wurde. Planck suchte diese Ansicht in einem durch den D r u c k veröffentlichten sogenannten Schreiben an seine Wähler unter scharfen Angriffen auf das M i n i s t e r i u m n ä h e r auszuführen. In einer desh a l b wider ihn eingeleiteten Disziplinar-Untersuchung wurde er jedoch freigesprochen. Im August 1 8 5 5 beteiligte er sich bei einer Versammlung einflußreicher O p p o s i t i o n s m ä n n e r in B r e m e n zur Verständigung

über

den Angriffsplan gegen das damalige M i n i s t e r i u m . In demselben J a h r e wurde beim kleinen Senate des O b e r g e r i c h t s zu Aurich

in Beziehung auf

eine Verfügung der V e r w a l t u n g s b e h ö r d e ein Rechtsstreit verhandelt, in w e l c h e m auf G r u n d der Königlichen Verordnung v o m 1. August 1 8 5 5 die Einrede der gerichtlichen I n k o m p e t e n z geltend g e m a c h t war. Ein Erkenntnis jenes Senats v e r w a r f die Einrede, indem es jene Königl. Verordnung für rechtsungültig erklärte. Planck w a r Mitglied des nur aus drei R i c h t e r n bestehenden Senats und soll den wesentlichsten Einfluß auf jene Entscheidung geübt h a b e n . Dieselbe ist a u f eingelegte Berufung vom gro-

308

1863

ßen Senate desselben Obergerichts zwar wieder aufgehoben, hat jedoch zum Erlasse des Gesetzes vom 7. O k t o b e r 1855, die unmangelhafte Befolgung der Gesetze und Verordnungen betreffend, Veranlassung gegeben. Dieses Gesetz ist von allen damaligen Ministern kontrasigniert, deren zwei noch gegenwärtig im Amt sind. Später erschien bei Starke in Bremen eine Broschüre

des damaligen Obergerichts-Assessors Planck,

in welcher versucht war, die Rechtsungültigkeit der vorgedachten, zur Ausführung der Bundesbeschlüsse vom 12. und 19. April 1 8 5 5 erlassenen Königlichen

Verordnung

vom

1. August

1855

auszuführen.

Planck

wurde daher von dem betreffenden Senate des Königl. Oberappellationsgerichts zu zweimonatlicher Suspension vom Amte und Gehalte verurteilt. Bei der veränderten Organisation der Gerichte im J a h r e wurde das Obergericht zu Danneberg,

1859

bei welchem Planck damals ange-

stellt war, aufgehoben und letzterer auf Wartezeit gesetzt. Wie die Regierung hierzu verfassungsmäßig befugt war, so besteht für dieselbe keine Verpflichtung zur Wiederanstellung. Seitdem hat Planck bei der Agitation gegen das frühere Ministerium und dessen konservativ-monarchische Richtung ununterbrochen sich lebhaft beteiligt, er zählt zu den rührigsten Mitgliedern des Nationalvereins, hat an allen wichtigen Versammlungen desselben und ähnlicher Vereine teilgenommen, sich auch kürzlich auf dem sogenannten Juristentage zu Mainz für die unbeschränkte Befugnis der Gerichte erklärt, die Rechtmäßigkeit der von einem Monarchen erlassenen Gesetze ihrer Prüfung und Entscheidung zu unterwerfen, und gilt für einen der befähigsten und entschiedensten Führer der demokratischen Partei. Hat er früher die Stellung des Königlichen Dieners mit dem Geschäfte des eifrigsten Agitators gegen die Regierung für vereinbar gehalten, so ist nicht zu erwarten, daß er gegenwärtig zu anderer Ansicht gelangt sei, wenn er vielleicht auch infolge seiner Anstellung bei der nächsten

Ständeversammlung sich noch nicht beteiligen

sollte. Bei dem geistigen Übergewicht Plancks ist daher ein ähnliches Erkenntnis, wie das des kleinen Senats zu Aurich, leicht wieder möglich, und es würde uns nicht wundern, von irgendeiner demokratischen landschaftlichen Fraktion Planck bei nächster Veranlassung zum Mitgliede des Ober-Appellationsgerichts erwählt zu sehen, um auch im höchsten Gerichte seinen Grundsätzen praktische Anerkennung zu verschaffen. Die Bestätigung einer solchen Wahl würde die Königl. Regierung nach dem besprochenen Vorgange schwerlich versagen mögen. (Nachschr. d. R . Der Κ. Z . schreibt man über die Wiederanstellung Plancks, dem früher die Bestätigung als Syndikus der Stadt Osnabrück versagt worden

Hannover, 3. O k t o b e r

309

war, noch folgendes: Planck ist, sehr gefeiert von den Göttinger Freunden, nach Meppen abgereist, um das neue Richteramt anzutreten. Nun wird aber der Z. f. N. aus Osnabrück geschrieben, daß Magistrat und Bürgervorsteher damit umgehen, Hrn. Planck nochmals zum Syndikus zu wählen und dann werde doch die Regierung einem Königlichen Obergerichtsrat unmöglich die Bestätigung versagen können. Indes liegt die Sache so, daß die Regierung Hrn. Planck zum Obergerichtsrat machte, um ihn nicht als Osnabrücker Syndikus bestätigen zu müssen. Schon vor Monaten war Hrn. Planck die Hannoversche Stimme in der Dresdener Bundes-Kommission für Obligationen-Recht zugedacht; es scheint aber, daß man Bürgschaften von ihm verlangte, die er zu geben verweigerte. Er wird also sicherlich auch ohne weiteres in das Richteramt wieder aufgenommen sein.) (Nr. 237, 10. 10. 1863]

1864 Trotz des auf seinem Handel lastenden amerikanischen Bürgerkrieges erfreut sich Großbritannien eines außerordentlichen Wohlstandes und — in gewissem Umfang — auch eines innenpolitischen Friedens. Zwar verlangen die religiösen Krawalle zwischen Anglikanern und Katholiken in Belfast und die anti-englischen Agitationen der revolutionären Fenier die parlamentarische Beschäftigung mit der „Irischen Frage", zwar zeigen sich nach dem verlustreichen Sturmangriff der englischen Truppen auf das neuseeländische Galepa Anzeichen von Widerwillen in der öffentlichen Meinung gegen den unrühmlichen Neuseelandkrieg und die Kolonialpolitik der Regierung, zwar kommt das Stichwort „Reformbill" wieder auf und belebt die alte „Eifersucht zwischen den balanzierenden Parteien"gleichwohl sind das nicht die Themen, die das Kabinett des achtzigjährigen Palmerston ernsthaft beunruhigen oder vorzugsweise beschäftigen. Wie in den Jahren zuvor bilden die auswärtigen Angelegenheiten und die darüber in beiden Häusern heftig geführten politischen Auseinandersetzungen einen Gegensatz zu der „ereignislosen" inneren Ruhe des Landes. Der Streit und Krieg um Schleswig-Holstein und die öffentliche Parteinahme für Dänemark beherrschen in der ersten Jahreshälfte die Debatten in Parlament und Presse, führen zu Drohnoten und heftigen Ausfällen gegen Preußen und das „herrschsüchtige Teutonentum" und schließlich, nach der ergebnislosen Londoner Konferenz und dem daraufhin erklärten Grundsatz der britischen Neutralität, zum Mißtrauensvotum gegen Earl Russells auswärtige Politik. Der Wiederausbruch der Feindseligkeiten und das Ende des Krieges lenken den Blick des Militärs und der Presse auf das preußische Zündnadelgewehr und dessen Vorzüge gegenüber der britischen Enfieldbüchse. Im nordamerikanischen Bürgerkrieg gewinnt die Union in diesem Jahr eine Überlegenheit über die konföderierten Truppen. Das englische Volk bleibt in seiner großen Mehrheit weiterhin bei seinen Sympathien für die Südstaaten. Um so mehr verstimmt die Yankees das Treiben der im Dienste der Südkonföderierten tätigen Raubzügler an der kanadischen Grenze und stört die diplomatischen Beziehungen zwischen Washington und London.

1

Vgl. Κ London, 10. Dezember 1864.

Rom, 13. Februar

311

Der italienische Einheitsstaat kommt nicht zur Ruhe. Der Haß in den bourbonischen Stammgebieten gegen die „piemontesische Wirtschaft"2 und die Verfolgung der Legitimisten drückt auf die Stimmung. Der Septembervertrag zwischen Frankreich und Italien zur Lösung der „Römischen Frage" macht Aufsehen und nährt vor allem bei der Reaktion im Süden die Hoffnung, daß man vom Joche Piemonts bald befreit sein werde. Napoleons III. Ansehen als Vertreter des Geistes der neuen Zeit und des Prinzips der Nationalitäten ist nach außen noch ungeschwächt, innenpolitisch jedoch drücken die verschwenderische Finanzwirtschaft und die durch die fragwürdige mexikanische Expedition sprunghaft angestiegenen Staatsschulden und mindern das Prestige des Kaisers. Der traurige Zustand Polens dauert an. Die Hinrichtungen, Verurteilungen zu schwerem Kerker oder massenhaften Transporte nach Sibirien, vor allem aus den höheren Ständen und der katholischen Geistlichkeit, die als Träger der nationalen Idee der Unterstützung des Aufstandes vom Vorjahre überführt oder verdächtig sind, treffen das polnische Volk in seinem Innersten und nähren den Haß gegen die russische Regierung. Keines der herausragenden Ereignisse erscheint der Presse am Jahresende als erledigt: Der deutsch-dänische Friedensschluß gilt als nicht vollendet, das österreichisch-preußische Allianzverhältnis als unklar, das deutsche Bundessystem als zerrissen und — jenseits des Atlantiks — Lincolns Wort von der Abschaffung der Sklaverei als ungesichert.

[Vermischtes] Rom, 13. Februar Gestern abend gegen 7'/2 Uhr wurde vor der Spithöverschen Buchhandlung auf der Piazza di Spagna eine Petarde angebracht, die sich mit einem fürchterlichen Knalle entlud. Sie war an den Drücker der Eingangstüre gehängt worden und bestand aus einem mit Pulver gefüllten hölzernen Kasten, der fest mit Eisendraht umwickelt war. Herr Spithöver, ein geborener Westfale, war schon am Mittwoch durch einen französischen Gendarmen von diesem Vorhaben in Kenntnis gesetzt worden und hatte deshalb sowohl an diesem Tage wie an dem folgenden Wächter aufgestellt. Da sich aber nichts ereignete, so glaubte er, daß nichts Wahres an 2

Vgl. Κ Neapel, 15. April 1864.

312

1864

der Sache sei und daß man ihn nur habe in Furcht setzen wollen; gestern abend jedoch, als niemand etwas mehr fürchtete, wurde diese frevelhafte Tat, deren Motiv wohl in Neid und Mißgunst zu suchen ist, zur Ausführung gebracht. Von den im Lokal befindlichen Personen ist niemand verletzt worden; der angerichtete Schaden beläuft sich nur auf die Zertrümmerung der Eingangstür mit großen Kristallfenstern. [Nr. 43, 2 0 . 2 . 1864]

[Zum Erbfolgestreit] *t!:" Aus dem Großherzogtum Hessen, im Februar Mit Recht haben Sie in Ihrer Zeitung die Tatsache als eine nach beiden Seiten hin charakteristische notiert, daß in einer Darmstädter Volksversammlung auf Antrag des Nationalvereinlers Metz jenen Geistlichen einstimmig „der Dank des Vaterlandes" votiert worden ist, welche jüngst an die schleswig-holsteinische Geistlichkeit eine Zustimmungsadresse erlassen. Wir sind es wohl dem Auslande gegenüber schuldig, zu konstatieren, daß von den bekenntnistreuen lutherischen Geistlichen — die erst in diesem Sommer in der Rechtsverwahrung der 140 gegen jede demokratische Kirchenverfassung sich vereinigt hatten und dafür von den Organen des Hrn. Metz weidlich mit Kot waren beworfen worden — ein verhältnismäßig nur sehr geringer Teil sich unterzeichnet hat, und diese offenbar durch einen ihnen kaum anzurechnenden, von anderer Seite her verschuldeten Irrtum verleitet. Es mag in manchen Ländern des deutschen Südens der Fall sein, daß die evangelischen Geistlichen vermeinen, in bezug auf die Kirche konservativ, in bezug auf den Staat möglichst liberal sich gerieren zu dürfen. In unserem Großherzogtum ist dieses glücklicherweise anders. Daher sind denn auch schon sehr ernste Stimmen laut geworden, die ihr tiefes Bedauern über den Erlaß jener Zustimmungs-Adresse ausgesprochen haben. Sie verkennen es nicht, daß dieselbe gut gemeint war, und daß auch ein berechtigtes patriotisches Gefühl bei ihr mitgewirkt hat. Aber gute Meinung und patriotische Gefühlsregungen berechtigen darum noch nicht, sich auf den Markt der Öffentlichkeit vorzudrängen und durch sehr übel erwogene Urteile und Manifestationen die Autorität der Kirche bloßzustellen, ja schwer zu gefährden. ... Und ist denn nun die Frage, welche in Schleswig-Holstein ihrer Entscheidung harrt, wirklich bloß eine religiös-kirchliche und nicht

R o m , 13. Februar

313

vielmehr eine staatsrechtliche? Ist denn aber die Geistlichkeit eines Landes dazu berufen und angetan, staatsrechtliche Fragen vor ihr Forum zu ziehen? und ist es wohlgetan, wenn eine Geistlichkeit mit dem ganzen Pomp ihrer Hierarchie* für diesen Z w e c k sich in Bewegung setzt? Es handelt sich, wie bekannt, um einen politischen Erbfolgestreit. Die scharfsinnigsten Juristen haben über ihn ganze Bücher geschrieben und sind verschiedener Meinung. Wird das Urteil einer Geistlichkeit, von deren Gliedern vielleicht auch kaum ein einziger die Arbeit dieser Prüfung auf sich genommen hat, berufen sein, hier den Ausschlag zu geben? Und wo wäre denn eigentlich ihre Kompetenz dazu, nachdem Christus, ihr Herr und Meister, das Wort gesagt hat: „Wer hat mich zu einem Erbschichter unter euch gesetzt?" Und endlich das arme, irrende „Gewissen" für den „allein gültigen Richter" hier zu erklären, möchte freilich der Schenkelischen Kirchendemokratie gar wohl anstehen; aber fürwahr nicht den Geistlichen der Kirche, die das ewige Gotteswort für den alleinigen und höchsten Richter in allen Dingen erklärt hat. Freilich hat man, wie es scheint, nicht ganz für klug gehalten, offen sich für das Erbfolgerecht „Herzog Friedrich V I I I . " auszusprechen: das hätte offenbar viele vom Unterzeichnen abgehalten. Man beschränkte sich daher auf die Belobung der Eidesverweigerung. Aber der Schlußsatz bildet doch die Versicherung eines Bibelwortes, daß „dem Recht alle frommen Herzen zufallen werden". D a ß man aber hiermit nicht mehr in der Negation sich bewegt, sondern vielmehr ein bestimmtes positives Recht im Auge hat, daß demnach die Unterzeichner in bezug auf das in Holstein auf den Schild gehobene Erbfolg erecht des Kronprätendenten dem allgemeinen Zuge des Zeitgeistes sich anschließen, das hat ein so feiner Advokat wie Hr. Metz mit voller Sicherheit herausgefühlt und darum den Adressenstellern den von ihnen selbst — wir wollen es hoffen — nicht ohne Erröten hingenommenen Ehrenkranz votiert. [Nr. 4 4 , 2 1 . 2. 1 8 6 4 ]

Tätigkeit des Revolutions-Comites Revolutionäres Glück. Hoffnungen R o m , 13. Februar Hier bemüht sich das C o m i t a t o nazionale r o m a n o fortwährend, das Terrain in der Hauptstadt des zukünftigen Königreichs Italien für die gehoff* Die drei Superintendenten des Landes, die beinahe gesamte Geistlichkeit von Darmstadt, Gießen und Mainz, sämtliche Professoren des Predigerseminars

314

1864

ten Ereignisse vorzubereiten. Sind auch die Reihen dieses

Comitato

durch Verhaftung und Exil der Beteiligten bedeutend gelichtet, so erscheinen doch nichtsdestoweniger ab und zu gedruckte, von demselben unterzeichnete und in seinem Sinne abgefaßte Proklamationen, die im geheimen verbreitet werden. Eine solche verbot vor Beginn des diesjährigen Karnevals den R ö m e r n die Teilnahme an den Vergnügungen desselben, den Besuch der Theater u.s.w., hatte aber nur die Folge, daß die Theater gerade in den letzten vierzehn Tagen mit Besuchern überfüllt waren und der Karneval im ganzen trotz des schlechten Wetters glänzender war, als seit mehreren Jahren. D a versuchte man, um dem Verbot Nachdruck zu geben, auf dem ersten öffentlichen Maskenball im Theater Argentina Niesepulver auf dem Boden auszustreuen. Die Täter wurden jedoch zur rechten Zeit von der Polizei ergriffen; man spritzte Wasser auf den Boden und das Fest nahm seinen ungestörten Fortgang. Als so auch diese Machination vereitelt war, wollte man sich am letzten Abend während des Moccolifestes durch einen Gewaltstreich rächen. M a n hatte nämlich auf der Piazza Sciarra, der belebtesten Gegend des Corso, w o zugleich ein von Legitimisten stark besuchtes Cafe gelegen ist, eine 48pfündige B o m b e gelegt, deren Zünder bereits brannte und deren Explosion eine furchtbare Wirkung sowohl auf dem Corso, als in dem Cafe unter der dicht gedrängten Menschenmasse angerichtet haben würde. Glücklicherweise wurde dieselbe noch zur rechten Zeit von einem jungen Burschen entdeckt, der geschickt genug war, den Zünder auszulöschen. Ein Individuum, das in Verdacht steht, die B o m b e dorthin geworfen zu haben, ist arretiert. — W i r erlauben uns, am Schluß noch einige aus Neapel eingegangene Nachrichten beizufügen, welche beweisen, wie das Glück beschaffen ist, das die Revolution jenen Ländern gebracht hat, — ein Glück, welches das C o m i t a t o nazionale so gern auch den Römern oktroyieren möchte. M a n schreibt uns: Während Herr Peruzzi in Turin versichert, daß der Brigantaggio fast ganz vernichtet sei, nehmen die Briganten ein anderes Ansehen an und die Geißel, die unsere Felder verwüstete, die Industrie und den Handel zerstörte, zeigt sich heute zum großen Nachteile des Seehandels auch an unseren Küsten. An der Küste von R o c c a Imperia, an der Grenze von Palicuro, griff ein kleiner mit Kanonen versehener Kreuzer ein Kauffahrteischiff an, enterte es und

in Friedberg, die meisten der theologischen Fakultät in Gießen stehen an der Spitze, und durch die Dekane, wie die öffentlichen Blätter ist die Aufforderung zum weiteren Anschluß an die gesamte Geistlichkeit ergangen.

N e a p e l , 15. April

315

raubte daselbst 200 Ducati. Verschiedene Personen der Mannschaft und der Eigentümer des Schiffes wurden verwundet. Ferner sind wir versichert worden, daß sich in den Gefängnissen der Basilicata über 4000 Gefangene befinden. Da die Provinzial-Gefängnisse zu Potenza nicht ausreichten, so wurde das Kloster von San Luca und die Kirche von San Niccolo nebst den darunter befindlichen Kellern, in die man auf 32 Stufen hinabsteigt, für diesen Zweck eingerichtet, so daß dieses letztere mit Recht das Grab der Lebenden genannt werden kann. Ebenso sind wir versichert worden, daß sich in den Provinzial-Gefängnissen zu Salerno über 3000 Gefangene befinden, 2700 in denen von Terra di Lavoro, 2000 in denen von Neapel. Findet nun dasselbe Verhältnis in den anderen Provinzen statt, so befinden sich nach der allgemeinen Meinung, die wir nicht für übertrieben halten, in den sechzehn südlichen Provinzen über 40.000 Gefangene, worin die zu Galeerenstrafe und wegen Militärvergehen verurteilten Gefangenen nicht eingerechnet sind. Die Besuche in den Ziviligefängnissen sind nur des Sonntags den nächsten Verwandten gestattet. Nur auf eine große Entfernung darf man mit den Gefangenen sprechen, so daß Familien-Angelegenheiten, die sich nicht immer für die Öffentlichkeit eignen, gar nicht besprochen werden können. Ein von Eisendraht geflochtenes Gitter verhindert die Gefangenen zu sehen, und nur ihre Stimme kann man vernehmen. Das Bemerkenswerteste dabei ist, daß, sobald eine Viertelstunde verflossen ist, in Art eines Vorhanges eine breite Holzwand herabgelassen wird, die das Gitter bedeckt und die Kammer verdunkelt. Dieses ist das Zeichen, daß die Audienz beendigt ist. Die allgemeine Stimmung im Königreich ist düster und gedrückt und der Neapolitaner hofft, daß die Blicke vom Norden sich bald dem Süden zuwenden werden; er hofft, daß auch er bald von dem Joche Piemonts und der Revolution befreit werden wird. Bei dem ersten Kanonenschuß am Mincio wird die Reaktion in Neapel losbrechen. [Nr. 50, 28. 2. 1864]

Piemontesische Wirtschaft i: ;i

t

Neapel, 15. April

Die Verhaftungen nehmen hier kein Ende mehr. In dieser Woche haben hier und zu Portici wieder viele Haussuchungen bei Personen stattgefunden, von denen man glaubt, daß sie Anhänger der Bourbonen sind, namentlich bei ehemaligen Offizieren. Viele sind verhaftet worden, unter

316

1864

ihnen auch der General der Veteranen Vecchione; andere Verhaftungen stehen noch in Aussicht. Wie man alle diese Gefangenen unterbringen will, ist wirklich ein Rätsel; denn sämtliche Gefängnisse sind überfüllt. So ζ. B. ist das von Cosenza nur für 5 0 0 Gefangene bestimmt; mehr dort unterzubringen, ist schwierig und würde jedenfalls der Gesundheit derselben sehr nachteilig sein. Die Piemontesen haben jedoch das Unmögliche möglich gemacht; sie halten darin 887 Gefangene. Diese armen Unglücklichen liegen gleichsam aufeinander, ihnen fehlt die nötige Luft zum Atmen und der gehörige R a u m zur Bewegung. Aus solchem Grunde brach in dem Gefängnisse zu Foggia der Typhus aus und die Stadt mußte schrecklich darunter leiden. Trifft die Regierung nicht bald Abhülfe, so hat Cosenza bei der jetzt eintretenden Hitze ein gleiches Schicksal zu befürchten. Unter den oben angeführten 887 Gefangenen befinden sich 4 5 2 Personen, also mehr als die Hälfte, die noch auf ein richterliches Erkenntnis warten; viele unter ihnen warten hierauf schon seit vier J a h ren! Ein Spanier, der gleichfalls das Unglück gehabt hat, den Piemontesen in die Hände zu fallen, wendet sich in einem Schreiben an die Öffentlichkeit, da er von der jetzigen Regierung in Neapel keine Gerechtigkeit erhalten kann. Dieses Schreiben, an den Redakteur des „Conciliatore" gerichtet, lautet: „Mein Herr! Seit länger als einem J a h r e bin ich gefangen gehalten, weil man glaubte, ich sei ein Mitschuldiger meines unglücklichen Landsmannes, des Generals Borjes. Ich bin in verschiedenen Gefängnissen eingekerkert gewesen, und es gibt kein Ungemach, keinen H a ß , den ich nicht von meinen Verfolgern zu erdulden gehabt hätte. Infolge des Königlichen Amnestie-Dekrets vom 17. November v. J . wurde ich in Freiheit gesetzt, jedoch nach Verlauf von zwei Tagen wiederum gefänglich eingezogen. Ich schmachte also, wie so viele andere, im Kerker, ohne zu wissen, kraft welchen Gesetzes oder Urteils, noch auf wessen Befehl. Ich bin ein Spanier und Legitimist, und weder Wohltaten noch Beleidigungen könnten mich von meinen Prinzipien und meinem Glauben abbringen. Dies ist mein Vergehen. Die Bemühungen meines Konsuls sind nutzlos gewesen, vergeblich habe ich bei dem Minister zu Turin durch Vermittelung meines daselbst befindlichen General-Konsuls reklamiert; ich habe bei den hiesigen fremden Konsuln um Verwendung gebeten; mein Advokat, der berühmte und unerschrockene Professor Zuppelta, hat kein Mittel unterlassen, um mir Gerechtigkeit zu verschaffen. Alles dieses ist aber bis jetzt fruchtlos gewesen. Es bleibt mir nur noch die Öffentlichkeit übrig, auf daß das zivilisierte Europa die Handlungsweise kennenlerne, welche in Italien, selbst nach einer Amnestie des Souveräns, gegen die Fremden angewendet wird. Neapel, im

317

R o m , 1 6 . April

G e f ä n g n i s della C o n c o r d i a , den 5. April 1 8 6 4 . C a j e t a n Oliveres tieu."

— D i e piemontesischen

Beamten

behandeln

die

Mat-

Neapolitaner

selbst aber noch weit ungerechter und roher, als die Fremden. Sie wüten gegen sie, und am liebsten wäre es ihnen vielleicht, wenn sie sie gänzlich vertilgen k ö n n t e n . Als ein Beispiel solcher R o h h e i t diene nachstehendes F a k t u m : Ungefähr am 2 0 . D e z e m b e r v. J . fand sich der konskribierte C a r m i n e de M a r i n o , aus dem P r i n c i p a t o Citra gebürtig, vor dem R a t e zu S a l e r n o ein und überreichte diesem ein ärztliches Zeugnis, worin ihm bezeugt wurde, d a ß er an häufigen epileptischen Zufällen leide. Z u r Beo b a c h t u n g wurde er in ein Lazarett geschafft, woselbst er auch mehrere M a l e von seiner K r a n k h e i t befallen wurde. Um sich nun jedoch zu überzeugen, daß dieses nicht Verstellung sei, legte man ihm glühend machte

Eisenstäbe

ge-

auf die Beine. Infolge der Schmerzen vermehrten sich

seine K r ä m p f e nur n o c h ; aber die Chirurgen ließen sich hierdurch nicht in ihren grausamen E x p e r i m e n t e n stören und hielten damit erst ein, als sie sahen, d a ß weitere Versuche das Leben des Unglücklichen in G e f a h r bringen k ö n n t e n . Schließlich wurde er wieder in Freiheit gesetzt, jedoch drohte man ihm mit noch ärgerer Behandlung, wenn er je etwas von der an ihm verübten Handlungsweise verlauten lasen würde. Wenn solche rohe Handlungen von B e a m t e n verübt werden, wenn W i l l k ü r und nicht das Gesetz herrscht, so d a r f man sich natürlich nicht wundern, wenn es Briganten im südlichen Italien gibt und wenn es der Regierung unmöglich ist, sie zu besiegen und ihrem Unwesen zu steuern. [Nr. 108, 11.5. 1864]

Der Papst und das römische Volk Neue Gesetze * t : : ' R o m , 16. April Der Papst ist seit vierzehn Tagen wieder hergestellt und hat sich bereits zweimal öffentlich gezeigt, einmal bei Gelegenheit des Festes der Verkündigung M a r i ä am 4 . April, w o er sich nach der Kirche S. M a r i a sopra M i n e r v a , das andere M a l den 12. April, dem J a h r e s t a g e seiner R ü c k k e h r aus G a e t a , w o er sich nach S. Agnese fuori le mura begab. Bei beiden Gelegenheiten wurde er von der Bevölkerung mit ungeheurem

Jubel

e m p f a n g e n . Der J a h r e s t a g der R ü c k k e h r von G a e t a wurde, wie gewöhnlich, durch eine Illumination der Stadt gefeiert, die dieses M a l viel großartiger als in früheren J a h r e n ausfiel. Alle M o n u m e n t e , Fontainen, Palä-

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1864

ste und Plätze, an denen R o m so reich ist, waren aufs Geschmackvollste mit Blumenguirlanden ausgeschmückt und aufs Brillanteste mit bunten Lämpchen und bengalischem Feuer erleuchtet. Auch an Transparenten fehlte es nicht, die durch die Inschrift: „Pontefice a R e " auf die weltliche Macht des Papstes anspielten. M a n kann sagen, daß der größte Teil der Bevölkerung an dieser Feier freudig Anteil nahm, denn jung und alt durchwogte in Massen bis in die Nacht hinein das hell erleuchtete R o m . Nichtsdestoweniger unterließ auch an diesem Abend die revolutionäre Partei es nicht, die Freude zu stören. Aus einem H a u s e der Via Palomballa wurde eine angezündete B o m b e auf die Straße geworfen, die im ganzen 3 Personen, darunter die eine lebensgefährlich, verwundete. Ebenso wurde auf der Piazza Trajana ein Individuum in dem Augenblicke verhaftet, wo es eine B o m b e legte. — Eine neue Huldigung wird morgen stattfinden, wo der Papst sich nach San Maria maggiore begeben wird, um daselbst den neuen Hochaltar zu konsekrieren, und woselbst er nach der Konsekration die feierliche Benediktion erteilen wird. — Neuerdings zeigt sich auch eine große Tätigkeit in unserer Administration. Vor etwa 8 Tagen wurden durch ein Dekret 25 Prämien für diejenigen Besitzer der römischen C a m p a g n a ausgesetzt, welche sich mit Baumwollen-Kultur beschäftigen würden. Die Prämie besteht aus 25 Scudi; die Regierung liefert außerdem den Samen und eine Anweisung für den Anbau gratis. Ein anderes regolamento edilizio kündigt die Errichtung einer Kommission an, deren Mitglieder die Kompetenzen der alten Ädilen haben würden, nämlich für die Verschwörung der Stadt zu sorgen und über die Polizei in den Straßen und Reinlichkeit derselben zu wachen. Außer daß hierdurch einem allgemein tiefgefühlten Bedürfnisse abgeholfen wird, beabsichtigt man auch die Anlage von neuen Promenaden und Gärten, wodurch es zugleich ermöglicht werden wird, der armen Bevölkerung der C a m p a g n a , welche jetzt in Scharen von Bettlern zur Stadt strömt, auf langehin Beschäftigung und Verdienst zu beschaffen. [Nr. 97, 27. 4. 1864]

Gesundheit des Papstes Entdeckungen revolutionärer Umtriebe * t * R o m , 14. Mai Als der Papst vor etwa vierzehn Tagen die Firmung einer jüngeren Schwester des Königs Franz II. vollzog, fühlte sich derselbe so unwohl

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London, 16. Mai

und angegriffen, daß er noch am selben Abende von einem leichten Fieber befallen und genötigt wurde, während mehrerer Tage das Bett zu hüten. Jetzt ist er wieder vollständig hergestellt und hat in vollem Wohlsein gestern seinen 73. Geburtstag gefeiert. Nach dem Pfingstfeste beabsichtigt er ein Konsistorium zu halten, worin neue Kardinäle kreiert werden sollen. Unter den Kandidaten werden genannt: Msgr. Mateucci, der gegenwärtige General-Polizeidirektor und Governatore von Rom, und Msgr. Ferrari, Finanzminister; von vielen Seiten wird auch der Msgr. Bonaparte, Bruder des Principe Canino, unter den für den Purpur Designierten namhaft gemacht. — Die Verhaftungen, welche am 12. April und an den folgenden Tagen vollzogen wurden, haben zu weitläufigen Entdeckungen über die Umtriebe der revolutionären Partei geführt; der Prozeß wird eifrig, jedoch sehr geheimnisvoll fortgeführt, so daß Einzelnheiten bis jetzt nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sind; verschiedene minder kompromittierte Personen sind ausgewiesen worden. — Zu Turin haben die römischen Emigrierten eine Versammlung gehalten und eine Kommission, bestehend aus dem Senator Duca Sforza-Cesarini, Senator Montecchi und Professor Scifoni, gewählt, die in Übereinstimmung mit dem römischen National-Comite aus allen Kräften dahin wirken soll, daß Rom baldigst vom Joche befreit werde. Überall soll die Aktionspartei hierfür Gelder sammeln. Auch zu Rom ist eine solche Kollekte abgehalten worden und aus sicherer Quelle habe ich erfahren, daß sie 6 Scudi 35 Bajocchi (etwa 9 Tlr.) eingebracht habe! (Wenn es ans Zahlen geht, ist auch hier niemand liberal!!) [Nr. 118, 24. 5. 1864]

Whiggistische Rettungsversuche Gladstone als Premier der Zukunft Würfelspiel statt Kriegeslust p* London, 16. Mai Die vergangene Woche hat der Vermutung größeren Vorschub geleistet, daß das Kabinett das Quantum von Popularität, welches ihm im Bereiche der auswärtigen Politik verloren gegangen, durch Demonstrationen im Gebiete der innern Politik zu ersetzen sucht. Die ersten Versuche dazu wurden gemacht durch Milner Gibson, den zur Manchesterschule gehörigen Handelsminister. Gebraucht wurde dazu John Bright, sein Intimus. Dieser hatte vor einigen Monaten die „Übelstände, die aus der

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1864

exklusiven Erbfolge nach Primogenitur erwachsen" sollten, auf Meetings zu erörtern; das Kabinett, das wieder einmal ein „Kabinett aller Talente" ist (wie sein Vorgänger von 1853), meinte es damit natürlich nicht ernstlich, erreichte aber doch immerhin einige Resultate. War es hierbei Milner Gibson, der aus Gefälligkeit gegen seine Kollegen damals den Agent provocateur durch John Bright machte, der natürlich mit beiden Händen zugegriffen, so ist es jetzt Gladstone, der die Equipage des Kabinetts durch die Überschwemmung des öffentlichen Unwillens leiten will. Darum hielt er seine Rede über Menschenrechte in letzter Woche gelegentlich der Motion von Baines über Ausdehnung des Wahlrechts und verengländerte die Prinzipien von 1789. Natürlich greifen die Radikalen wieder zu, natürlich wird das Parlament durch seine Verwerfung der Motion wieder unpopulär in den großen Städten und der Zankapfel ist da, wenn die neuen Wahlen kommen. Die Tory-Presse sagt bereits voraus, daß Gladstone der künftige Premier werden dürfte, indem „Palmerston daran denke, sein Kabinett aufzulösen, das, in sich selbst uneinig, seinem Zügel unwillig gehorche". Das schießt aber über den Zweck hinaus, Gladstone als so ehrgeizig hinzustellen. Palmerston würde nie unter seinem heutigen Finanzminister dienen, und was sollte aus Lord Russell werden? Beide können wiederum das Glück Gladstones, seine Budgets, nicht entbehren, und was die Somebodys und Nobodys des Kabinetts betrifft, so wissen sie zu wohl, daß man nicht alle Tage einen Premier bekommt, der eine so gut geschulte Gicht sein eigen nennt, die nur, wenn keine Parlamentsferien sind, ihm ihre längsten Visiten macht. Darum auf ein Zerfallen des Kabinetts zu spekulieren, ist allzu sanguinisch. O b ein Sturz en bloc bevorstehend, kann erst nach dem 12. Juni beantwortet werden. Deshalb hofft die offiziöse Presse bereits jetzt auf eine „Verlängerung" des Waffenstillstandes. — Gewisse Ereignisse assistieren den Machinationen, dahin gerichtet, innere Angelegenheiten in den Vordergrund zu schieben. Die Mitteilung des „Dundee Advertiser" über die bevorstehende Kreierung eines römisch-katholischen Erzbiscbofs für Edinburg und dreier katholischer Bischöfe für Dundee, Aberdeen und Inverness alarmierte das Publikum. Lord Talbot (die katholische Familie der Lords Shrewsbury nahm diesen alten Namen erst seit drei Jahren wieder an) wird als der designierte Erzbischof genannt, und man beginnt die alten Streitschriften aus jener Periode wieder hervorzusuchen, in welcher Russell seine berühmten Durham Letters schrieb, in Entgegnung auf die Befürchtungen, die der anglikanische Bischof von Durham über die Einteilung Englands in zwölf neue katholische Diözesen und die gleich-

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Neapel, 16. Mai

zeitige Erscheinung des Kardinals W i s e m a n gegen den edlen Lord ausgesprochen hatte. In der Provinz hat der Zeitungsdisput bereits begonnen; die Presse der H a u p t s t a d t m a c h t n o c h eine A u s n a h m e von ihrer sonstigen G e w o h n h e i t , G e r ü c h t e sofort mit s c h w e r e m Kaliber zu bearbeiten. — Ein ganzes Bureau des Kriegsministeriums ist aufgelöst durch Kassierung sämtlicher darin beschäftigter B e a m t e n — wegen Spiels.

Es k a m

dem M i n i s t e r Earl de G r e y and R i p o n zu O h r e n , d a ß gewisse Arten des Würfelspiels während der Arbeitsstunden von den B e a m t e n

betrieben

würden. Unter Vorsitz von Sir E d w a r d Lugard wurde eine Untersuc h u n g s - K o m m i s s i o n ernannt, was zu der E n t d e c k u n g führte, daß vom „Geheimerat"

(venia sit verbo) bis zu den Clerks niedersten

Grades

herab man sich in so „verdienstlicher" Weise die Langeweile vertrieben. S u m m a r i s c h e Entlassung und Verlust jedes Pensionsanspruchs war die Folge, und sie trifft sogar B e a m t e , die 2 5 bis 3 0 J a h r e lang im Dienste gewesen. D i e übrigen B e a m t e n hatten „zum A p p e l l " zusammenzutreten, um eine energische W a r n u n g verlesen zu hören. W i e der „Daily Teleg r a p h " meldet, standen bei jenem Spiele oft bedeutende S u m m e n im Einsatz, und falsche Würfel sogar sollen sich unter den konfiszierten Handwerkszeugen befinden. D a s Blatt ist ein offiziöser „ V o l o n t ä r " und der Regierung jetzt auf dick und dünn ergeben; deshalb ist jener A n g a b e G l a u b e n beizumessen, als einer m u t m a ß l i c h autorisierten. — D e r „Stand a r d " läßt sich leidenschaftliche Artikel über die E r h e b u n g von KriegsK o n t r i b u t i o n e n in J ü t l a n d schreiben. B e m e r k e n s w e r t wegen der Naivetät der Fassung ist unter anderem die „ E n t r ü s t u n g " , nicht d a ß die Preußen bewaffnet zu Werke gegangen, sondern d a ß ihre G e w e h r e

„wahrschein-

lich" geladen gewesen! — [Nr. 115, 20. 5. 1864]

Ein Piemontesischer Offizier über die Brigantaggio * t * Neapel, 16. M a i In einer seiner letzten N u m m e r n m a c h t der „ O s s e r v a t o r e R o m a n o " das Publikum a u f ein Buch a u f m e r k s a m , das vor kurzem unter dem Titel „ D e r B r i g a n t a g g i o an der Päpstlichen G r e n z e " von dem G r a f e n Alessandro B i a n c o di S a i n t - J o r i o z 3 , Kapitän im Königl. G e n e r a l s t a b e und ehe3

Ii brigantaggio alia frontiera pontificia dal i860 al 1863; studio tico-statistico morale-militare, M i l a n o 1864.

storico-poli-

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1864

maliger Chef des Generalstabes des piemontesischen Generals Govone, veröffentlicht ist, worin der aufmerksame Leser finden kann, daß die Ursachen des Brigantaggio und des gegenwärtigen traurigen Zustandes der südlichen Provinzen nur die Tyrannei und die Raubsucht Piemonts sind, und daß die unglückliche Bevölkerung das gegenwärtige Regime verabscheue und hasse und das gefallene beweine und sehnlichst zurückwünsche. Der Verfasser führt an, daß jene blutige Insurrektion, die die Piemontesen Brigantaggio nennen, zweierlei Art sei, der politische und der gemeine. „Vor allem liegt der Ursprung in den heftigen Feindschaften, die in jeder Provinz zwischen den einzelnen Individuen der gebildeten Klasse existieren und sie voneinander trennen; die reicheren sind von denen, die weniger besitzen, Bourbonisten genannt und diese nennen sich Liberale, um sich mit diesem Namen Ansehn zu geben und die anderen denunzieren zu können." (Seite 18.) Ein anderer Grund für den gewaltsamen Zustand, in dem sich das unglückliche Land befindet, sind „die Angriffe gegen den Cultus der Religion, auf das Oberhaupt der Kirche, auf die Bischöfe und Priester, die Schmähschriften u.s.w. (S. 371). Im Jahre 1860 fand sich dieses Volk von 1859 gekleidet, war fleißig und arbeitsam und hatte ökonomische Hülfsmitel; der Bauer besaß Geld, er kaufte und verkaufte Vieh, ernährte mit wenigem seine Familie, alle lebten in ihrer Stellung zufrieden. Jetzt ist es entgegengesetzt (S. 385). Jetzt ist das Volk förmlich an den Eingeweiden gepackt. Die Gesetze über die Registrierungssteuer und den Stempel, die Kriegssteuer u.s.w. haben die Bevölkerung in eine trostlose Lage versetzt ... Die Notare haben fast nichts zu tun; die zahlreichen jungen Leute, die bei dem Notariate angestellt sind, sind müßig und haben nichts zu tun. Zivilrechtliche Sachen gibt es nicht mehr; die Streitenden erschrecken vor den ungeheuren Ausgaben" (S. 380). Auch über die jetzigen Beamten gibt uns der Verfasser prächtige Aufschlüsse: „Zu Pontecorvo geschahen bei dem Rufe ,es lebe Victor Emanuel, es lebe Garibaldi' enorme Mißbräuche, Erpressungen, ungerechte Steuern, Auflagen auf die Reichen u.s.w. und die Kommunalgewalt fiel in die H a n d des Pöbels (S. 71). Zu Mignano machen sich auf der einen Seite der Kommandant der Nationalgarde und auf der anderen Seite der Syndicus zu Häuptern einer Partei, die dem Gegner alles Üble zu bereiten sucht; beide fügen infolgedessen dem Gemeinwohl, der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit großen Schaden zu (S. 80). Der Syndicus (Bürgermeister) von Pastina bekleidete das Amt eines Syndicus und das eines Kapitäns der Nationalgarde und besoldete eine Kompanie von Straßenräubern, um allerlei Übeltaten und Gewaltaten auszuführen

London, 24. Mai

323

(S. 335). Z u S. Vincenza sandte der Syndicus bei Gelegenheit der Aushebung von 1861 eine B e k a n n t m a c h u n g an alle Bergbewohner der Umgegend folgenden Inhalts: Der K ö n i g will Soldaten haben, wehe dem, der nicht d e m R u f e folgt. Alle Verwandten des Renitenten oder Flüchtlings werden eingekerkert und ihre H ä u s e r angezündet w e r d e n " (S. 335). Auch über die N a t i o n a l g a r d e gibt er uns Aufschlüsse, und sagt: „ D i e N a t i o n a l g a r d e ist vollständig gelockert in allen Provinzen und a b s o l u t untauglich, wenn nicht die kräftigsten Maßregeln ergriffen werde, um ihre vollständige A u f l ö s u n g zu verhindern" (S. 154). Wenn m a n wissen will, w a s sie getan hat, so erfährt m a n dies in folgender Stelle: „ D i e N a t i o n a l g a r d e n begingen f o r t w ä h r e n d e Repressalien gegen die, welche unter der bourbonischen Regierung Ämter bekleidet hatten, oder gegen die, von denen m a n glaubte, d a ß sie ihr anhingen. M a n erlaubte sich ohne Gewissensbisse, ohne S c h a m , ja s o g a r mit nicht verhehlter Freude jede B e d r ü c k u n g , jedes Unrecht, jede G e w a l t t a t , jede nur mögliche Schikane; m a n kerkerte ein, m a n setzte Preise auf die K ö p f e a u s , m a n schlug sie, als wenn dies die natürlichste Sache von der Welt w ä r e " (S. 16). — Wenn dies ein Italianissimus gesteht, wie a r g m a g dann wohl in Wirklichkeit der elende und g e w a l t s a m e Z u s t a n d sein, in d e m sich d a s unglückliche Volk des Königreichs N e a p e l befindet? [Nr. 120, 26. 5. 1864]

A u s der Presse. Wiseman über G a r i b a l d i Dietrichstein. Prozeß Berg p':" L o n d o n , 24. M a i Wenn den dänenfreundlichen Blättern hier der M u t ausgeht, sind es immer ihre Pariser K o r r e s p o n d e n t e n , die sie d a m i t trösten, wie „ d o r t d a s Vertrauen auf Frieden sicherlich im Schwinden b e g r i f f e n " . Sie k l a m m e r n sich immer noch an den Strohhalm einer französisch-englischen Allianz, und wenn der „ C o n s t i t u t i o n n e l " sie mit einem Artikel über d a s s u f f r a g e universel enttäuscht, schweigen sie klug darüber. Gestern abend ließen sie sich schreiben, m a n betrachte französischerseits die A n k u n f t eines zweiten österreichischen G e s c h w a d e r s in der N o r d s e e als eine „trotzige Verletzung der Klausel der Waffenruhe, w o n a c h die Kriegführenden sich w ä h r e n d dieser Zeit jeder S t ä r k u n g ihrer K r i e g s m a c h t enthalten müßt e n . " Alles dies dient d e m Z w e c k , d a s P u b l i k u m zu täuschen und namentlich die Tories in ihrem Z o r n gegen d a s Kabinett nicht erkalten zu

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1864

lassen. Enthielt doch der „Evening S t a n d a r d " vom Sonnabend folgende wohlverständliche Zeilen: „Gerade als das Volk fast in offene D e m o n strationen ausgebrochen, ist die Waffenruhe wie ein nasses Blanket auf diese schöne Hitze gefallen." Andern Blättern dient die O r d r e des preußischen Obersten v. Falckenstein über die „Soldatendiät", namentlich in betreff Wein, Bier und Zigarren, als ein Vorwand, John Bull in A u f r u h r zu setzen. So schreibt der „Daily Telegr.": „Wie einst Napoleon sagte: Soldaten, von diesen Pyramiden schauen 40 J a h r h u n d e r t e auf Euch herab, so sagt H e r r v. Falckenstein in Jütland: Soldaten, in jenem Tabakladen warten 10 Zigarren auf Euch!" Dies als eine Probe von dem staatsmännischen feinen Geiste, der die „Leiter der öffentlichen M e i n u n g " beseelt. — Infolge der Nachrichten über das Befinden des Papstes, heißt es, werde sich der irische Erzbischof Cullen oder Kardinal Wiseman nach R o m begeben. Letzterer h a t vor einem großen katholischen Vereine einen Vortrag gehalten, in welchem er unter anderem Colenso und Garibaldi zensiert. Er stellt ihren Zerstörungssinn, wie er sich gegen die offenbarte Religion bei dem einen in Schriften, bei dem andern in Agitationen manifestiert, in eine wirkungsvolle Parallele. Letzterer hatte doch viele Engländer hier erschreckt durch die eigentümliche Moral seines gegenüber einer anglikanischen Missionsdeputation ausgesprochenen Bekenntnisses: „Ich will nicht sagen, d a ß ich Protestant sei, denn sagte ich so, mein Einfluß w ü r d e durch die Priester sehr beschädigt w e r d e n . " Wiseman berührt den politischen Agitator in Garibaldi"" nur in folgenden Worten: Der Α. Z. wird hierüber noch berichtet: Am Sonntag nach Trinitatis ward in allen römisch-katholischen Kirchen und Kapellen der „Erzdiözese Westminster" ein langer Hirtenbrief des Kardinals Wiseman gelesen, welcher gegen die Tendenz der modernen Wissenschaft eifert, sich nicht bloß neben, sondern über den Offenbarungs-Glauben hinaus geltend zu machen. Jedweder geologische Fund, über welchen die Geologen unter sich selbst nicht einig seien, irgendein verwitterter vorzeitlicher Schädel, eine Seemuschel, ein Pfahldorf, Steinwerkzeug u. dgl., soll gleich geeignet sein, die mosaische Schöpfungsgeschichte und den Glauben von Jahrtausenden umzustoßen, um einen geistlosen Materialismus an dessen Stelle zu setzen. Von diesem Thema kommt der Kardinal zu dem neulichen Garibaldi-Spektakel in England, und macht es den Prälaten der anglikanischen Staatskirche zum Vorwurf, daß sie sich an den Levers eines Mannes beteiligt, der in einem Sendschreiben an die englische Nation das revolutionäre Frankreich von 1789 darob gerühmt habe, daß es damals statt des Christengottes die „Göttin der Vernunft" auf den Altar gehoben. Eine saubere Vernunft und eine saubere Göttin! Und vor dem italienischen Verehrer dieser französischen Vernunft seien englische Damen niedergekniet.

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1864

„Darüber zu urteilen, überlasse ich Militärs und Staatsmännern, nämlich über das Schauspiel, den Genannten gegen seinen eigenen Souverän in Waffen zu sehen, wie bei Aspromonte geschehen, einen Mann, der einmal gegen den Absolutismus donnert, ein andermal den Konstitutionalismus abdankt und jeden Augenblick bereit, eine militärische Diktatur, seine eigene, zu glorifizieren. Ich habe es nur mit dem Manne zu tun, der 1862 Frankreich gepriesen, weil dort Geister vorhanden, die den Tempel der Vernunft aufrichten wollten." — Die kleine Differenz mit der österreichischen Regierung, wegen verweigerter Auslieferung eines Deutsch-Ungarn namens Dietrichstein, welcher einen hiesigen StockBroker um 10.000 Pfd. Staatspapiere beschwindelt und sich nach Pest aus dem Staube gemacht hatte, ist durch Aushändigung der ganzen Summe an den Eigentümer „im Privatwege" erledigt worden. Die österreichische Regierung hatte ihre Weigerung auf den Extraditionsvertrag dahin begründet, daß dieser sich nicht auf Betrüger erstrecke und der Betreffende auch in seinem Vaterlande lange schon unter die „Gesuchten" der Polizei-Akten gehört habe. So melden die gestrigen Abendblätter. — Der Prozeß Malherbe versus General Berg wegen Schadenersatzes von 400.000 L. kam gestern wieder zur Verhandlung. Es wurden nur einige Formalitäten erledigt. Der Kläger hat 15 verschiedene pleas eingereicht. Die Sache dreht sich um den Betrag jener polnischen Staatspapiere, die in Warschau von dem geheimen Comite gestohlen waren, hier versilbert werden sollten mit Hülfe des Börsen-Sensalen Malherbe, aber „aufgefangen" sind. [Nr. 122, 28. 5. 1864]

Gladstone als mißbrauchter Staatsmann Die Spieler im Kriegsministerium Zur Baumwollennot p* London, 26. Mai Ginge es nach den demokratischen Zeitungen, so müßte Gladstone schon binnen 24 Stunden „Premier" sein. Alle haben auf den Köder seiner Rede über die Menschrechte angebissen. Nur die Demokraten „des Entschlusses", wie „Morning Advertiser", das in allen Bierhäusern und Ginkneipen gehaltene Journal, das den radikalen Friedensgesellschafter „Star" etc. als Milch- und Wasserpolitiker über die Achsel ansieht, wol-

327

London, 26. Mai

len G l a d s t o n e , „dem sie bisher g e m i ß t r a u t , als eingefleischten Peeliten und Puseyiten", erst dann ihre Partei zur Disposition stellen, sobald er „seinen theologischen W ä h l e r n zu O x f o r d e n t s a g t " und ζ. B. sich einem Wahlorte

in L a n c a s h i r e

anvertrauen

wolle.

(Beiläufig

„ M o r n i n g Advertiser" ist seit Anfang des Streites

bemerkt,

der

„schleswig-holstei-

n i s c h " , a b e r ein „Preußenfresser". Karl Blind schreibt seine „Foreign leaders".) D i e „ C o m i c N e w s " bilden G l a d s t o n e ab als J o c k e y auf h o h e m W i n d h u n d p f e r d e , während J o h n Bright als T r a i n e r fungiert. Am E n d e der R e n n b a h n steht in großen Lettern „Premier s h i p " . Ich deutete bereits auf die Verfädungen der Gladstoneschen und M i l n e r G i b s o n s c h e n Faktion des Kabinetts mit den M a n c h e s t e r m ä n n e r n in einem früheren Briefe (Nr. 115) hin. Vielleicht hat n o c h einmal der Satiriker R i t c h i e 4 (Verfasser der „ M o d e r n S t a t e s m e n " ) recht, der da voraussagt, d a ß Bright in ein Minister-Fauteuil „ p l u m p e n " werde, sei es unter G l a d s t o n e oder „dem g e k o m m e n e n M a n n " Lord Stanley sogar, welcher in keiner Parlamentssitzung versäumt, ein Z w i e g e s p ä c h mit Bright in den Vorzimmern anzuknüpfen. D i e G e g n e r G l a d s t o n e s wollen diesen aus dem Wege r ä u m e n , indem sie d a r a u f hinarbeiten, ihn „Pair des R e i c h s " werden zu lassen. Dies ist eines der M i t t e l , Leute, die auf dem Wege, „Führer des Unterhauses" zu werden, um ihre Popularität zu bringen. D a s s e l b e tat man bekanntlich mit Russell in gleicher kritischer Periode, welchen bis dahin der Vortritt seines Bruders, des Herzogs von B e d f o r d , von der Pairie ausschloß. Seitdem hörte man nie mehr von „Russellschen R e f o r m e n " . M a n tat ähnliches mit Mr. M i l n e s , als er im Unterhause riskant wurde wegen seines politischen Ehrgeizes. Sie finden ihn jetzt als Lord H o u g h ton fast täglich in den Blättern als gesuchten C h a i r m a n bei G l a d s t o n e schen Meetings jeder Art figurieren. Er ist aber auch erst Pair seit neun M o n a t e n . D i e T o r y - B l ä t t e r verheißen ironischerweise sogar eine englische

Palmerston

Pairie, wenn er sich entfernen wolle. Palmerston ist iri-

scher Pair. Auch w a r es erst, n a c h d e m Earl D e r b y aufhörte, L o r d Stanley zu sein und das Unterhaus quittierte, d a ß die Whigs sich nicht mehr vor seinen tödlichen S a r k a s m e n fürchteten, denn der ismaelitische Disraeli, wußten sie, k ö n n e nie die Partei der „ v o r n e h m e n " G e n t r y s o konzentrieren, als der ehemalige H e i ß s p o r n Stanley. — D e r Kriegsminister

hat,

„in E r w ä g u n g , d a ß g r o ß e Verführung s t a t t g e f u n d e n " , den Subalternen, welche wegen Spiels in Untersuchung g e k o m m e n , ihre Strafe dahin er-

4

James Ewing Ritchie Modern Statesmen; or Sketches from the Strangers' Gallery of the House of Commons, London 1861.

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1864

mäßigt, daß sie an das unterste Ende der Avancementsliste gesetzt werden. Die Senioren bleiben kassiert. — „Keine Paupers mehr in der Union!" so lautet die Mehrzahl der neuesten Wochen-Rapporte der lancastrischen Hülfs-Comites (Unions). In allem bedürfen nur noch 25.000 der Baumwolle spinnenden Bevölkerung Almosen. King Cotton ist wieder da. Die Manchester-Firmen hatten endlich aufgegeben, aus Süd-Carolina ein Monopol zu machen und Indien hat den Ausfall ersetzt. Jetzt strömt das Geld nicht mehr zu amerikanischen Pflanzern, sondern zu den ostindischen Ryots, bleibt also „im Lande", wie die Presse sich ausdrückt. In einem Orte von Lancashire, wo seit 18 Monaten die „Mills" geschlossen, empfing man vorgestern die ersten Ballen wieder in Prozession, schmückte sie mit Blumen und Bändern, und Greise, Mädchen und Kinder warfen sich auf dieselben, sie umarmend und mit Küssen bedekkend. Natürlich machen die Reformers Kapital aus der ruhigen Ausdauer der Arbeiterbevölkerung und mit der heutigen Ankündigung, daß die Not in Lancashire zu Ende, verlieren sie das Argument, daß solche Bevölkerung unzweifelhaft sich des Wahlrechts würdig gemacht habe. [Nr. 123, 29. 5. 1864J

Lord Ellenborough und die Königin Mr. Gladstone und ein Manchester-Kabinett p* London, 1. Juni Was nach Ihrer Mitteilung in der Const. Österr. Ztg. gestanden 5 , bezüglich der entschieden ausgesprochenen Abneigung Ihrer Maj. der Königin, dem Kabinett die Chance eines bewaffneten Eintretens Englands für Dänemark zu belassen, war, nur in präziserer Form, bereits in der Londoner Korrespondenz eines Pariser Blattes im Druck erschienen. Niemand hat übrigens an solcher Sachlage gezweifelt, nur war selbst bei der Presse soviel Loyalität noch lebendig geblieben, daß sie eine Sprache unterließ, die seitdem Lord Ellenborough gewagt hat. Derselbe hat sich in seiner Rede über die „schwierige Stellung" des Kabinetts (vgl. Nr. 124 6 ), voll wohlverständlicher Bezüge auf königlichen Einfluß, als ein „Unicum"

6

Die Königin und der Krieg, in: Nr. 123, 29. 5. 1864. L o n d o n , 27. Mai. Lord E l l e n b o r o u g h u n d die P r e u ß e n in J ü t l a n d , in: Nr. 124, 31. 5. 1864.

L o n d o n , 1. J u n i

Our Danish Difficulty Princess of Prussia: " O ! Mr. Bull, I do whish you would speak to my papa-in-law!" Princess of Wales: "And, Mr. Bull, do, please, speak to my P a p a ! "

etabliert. Welche widerstreitende Gefühle tiefen Wehes an dem Herzen der Königlichen Witwe reißen, fühlte und achtete bis dahin auch der passionierteste Clubbist. Selbst die whiggistische Presse hat sich nicht zu solchen Winken verleiten lassen, obwohl sie sonst keine Chance versäumt, auf fremde Schultern die Verantwortlichkeit für die üble Lage des Kabinetts zu wälzen. Was aber die von Ihnen sofort bezweifelte 7 Notiz betrifft, daß I. M a j . an ein Manchester-Kabinett gedacht und sich so geäußert habe, — dies ist auf die Kombinationsgabe des betreffenden Korrespondenten des oben erwähnten deutschen Blattes zu schreiben, eine Kombination, die leicht wurde, wenn man eine Neigung hat, „kleine Vorfälle" dem Leser pikant zu machen. Unter diese kleinen Vorfälle ist folgender zu zählen. In der Debatte über China in voriger Woche ließ Palmerston mit besonderer Betonung die Worte fallen: „Es ist gefährlich, allgemeine und abstrakte Propositionen auf das Tapet zu bringen." Dies fing Mr. Liddell auf, der als der „rechte" Handschuh Palmerstons gilt und verwendet wird, um die eigenen Kollegen mitunter zu „strafen", ein dazu „geschulter" Oppositionsmann. Liddell fiel mit der Tür ins Haus

L o r d E l l e n b o r o u g h s A u s l a s s u n g e n , in: Nr. 124, 3 1 . 5 . 1 8 6 4 .

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und sagte, das passe auf die Reform-Rede Gladstones, und m a n müsse hoffen, d a ß jener „Beamte" sich das Axiom seines „Chefs" zu Herzen nehmen möge, sobald es ihn wieder einmal gelüste, über Wahlrechte zu sprechen. Gladstone w a r schon bei den ersten Silben aus seiner liegenden Position auf der Kabinettsbank aufgefahren und fixierte Palmerston und den Redner in auffälliger Weise. Endlich schien er das a n d a u e r n d e Spiel auf derselben Saite nicht länger ertragen zu k ö n n e n und rief „Question!" (Unser „zur Sache". D. Red.) Als d a n n die Debatte sich ruhiger verflachte, stand Gladstone mitten in derselben auf, ging hart an Palmerston vorüber, ohne, wie sonst in solchem Falle, auch n u r eine Silbe an ihn zu richten und setzte sich an das äußerste andere Ende der Ministerbank, dicht neben den „ M a n c h e s t e r m a n n " Milner Gibson, sofort mit demselben ein flüsterndes Gespräch beginnend. Dies geschah angesichts des ganzen Hauses und, da die erste O p p o s i t i o n s b a n k der der Minister dicht gegenüber steht und m a n gegenseitig das Weiße im Auge sehen kann, so können solche Szenen sehr genau beobachtet werden. Tags darauf verflochten radikale Blätter Winke d a r ü b e r in ihre Leitartikel. M a n munkelt, Gladstone sei unerwarteterweise f ü r Palmerston zu „rege" auf der neuen Bahn weitergegangen und h a b e das ursprüngliche „ A b k o m m e n " überschritten. Denn vor 14 Tagen gönnte Gladstone dem Mr. Baines noch nicht einmal sein Votum für dessen proponierte „ R e f o r m m o t i o n " , sondern verschwand, trotz seiner Rede „ d a f ü r " , vor der Abstimmung. Ich e r w ä h n e dieser Einzelnheiten nur, weil sie hier als wert erachtet werden, d a ß man sie im Auge behalte. D a ß m a n in Paris einen Z u w a c h s aus der Manchesterschule im englischen Kabinett nicht ungern sähe, läßt sich d a r a u s ableiten, d a ß mehrere Chefs dieser Schule öfters in Paris wohnen — wie Cobden und Lindsay dort Privathäuser besitzen — und letzterer bei seinem mit Roebuck im vorigen Jahre gemeinsam u n t e r n o m menen Versuche, Kaiserliche Botschafter an das Parlament abzugeben, Fiasko machte. Louis Napoleon vergißt dergleichen nicht. „Sie wollten einen Parlamentssitz f ü r Louis Napoleon, als abwesendes M e m b r e , erzielen", so scherzt man noch heute in den beiden großen Clubs von London. M a n sagt Schärferes über Gladstone in folgendem: „Wenn das populäre Sprichwort w a h r sei, d a ß ihm als Finanzminister die ,zehn Gebote' auf dem Gesicht geschrieben ständen, so sei es auffällig, d a ß er jenes von ,des Nächsten Knecht' (Milner Gibsons eigenen J o h n Bright) vergessen zu haben scheine" und dergl. [Nr. 128, 4. 6. 1864]

London, 3. Juni

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Schwenkungen. R h e t o r S c h r a m m redivivus Die Vermählung des Grafen von Paris p* L o n d o n , 3. J u n i Verschiedene Blätter gebärden sich als verlegene W e t t e r f a h n e n , seitdem sie das dänische Wirrspiel für halbverloren b e t r a c h t e n . D e r „ M o r n i n g S t a r " , als Friedensgesellschaftler, m a c h t schleunigst die E n t d e c k u n g , d a ß „das L o n d o n e r P r o t o k o l l eigentlich nie h ä t t e geboren werden s o l l e n " . D e r „Daily T e l e g r a p h " h o f f t , d a ß D ä n e m a r k „ w e i s e " sein und sich in das Unvermeidliche fügen, aus seinem „ u n e r f o r s c h l i c h e n " Stillschweigen „im alten Glänze

seiner H ö f l i c h k e i t " 8 heraustreten m ö c h t e . Diese beiden

Blätter sind, wie der „ S t a n d a r d " , w o h l zu notieren; denn sie k o m m e n am meisten von allen, die T i m e s k a u m a u s g e n o m m e n , unter das Publik u m . D e r „Daily T e l e g r a p h " zürnt nur noch a u f D e u t s c h l a n d , weil es die „ E i d e r " nicht als Grenze

zwischen — Süd- und Nord-Schleswig aner-

kennen wolle!! (Sind denn die L a n d k a r t e n so teuer?) Ein T o r y - B l a t t sogar, das sonst sein „ B l u t " für das L o n d o n e r P r o t o k o l l einsetzen wollte, springt zu dem anderen E x t r e m , dasselbe D o k u m e n t „einen politischen S c h w i n d e l " zu nennen, ganz vergessend, welches T e s t i m o n i u m es damit seinem eigenen früheren „ E n t h u s i a s m u s " ausstellt. Ein anderes hofft mit Russell,

wenigstens die Etablierung Kiels als eines Bundeshafens

mit

H ü l f e R u ß l a n d s verhindern zu k ö n n e n , und wieder ein anderes klagt, man h a b e dem arglosen England von Berlin aus „Fallen" gelegt. Auch die Sehnsucht der Schleswiger nach dänischer Verwaltung wird ins Spiel g e b r a c h t und Hr. R h e t o r Schramm*

als ein Beweis angeführt, „den man

von Berlin abgesandt, um die H a d e r s l e b e n e r preußisch

zu m a c h e n ; doch

h a b e derselbe sich s o f o r t auf die R ü c k r e i s e b e g e b e n " . Und offiziöse Blätter endlich trösten ihre Leser d a m i t , daß, wenn eine Teilung Schleswigs erfolge, so adoptiere man ja recht eigentlich doch nur einen dahin lautenden Vorschlag Palmerstons

de d a t o 1 8 4 8 ! Es hängt v o m W i n d e a b ,

wie dieselbe Presse nächstens einmal wieder sprechen wird. D e m L o r d Russell werden „ E n t s c h u l d i g u n g e n " für eine gewisse S c h w e n k u n g eifrigst z u s a m m e n g e s u c h t , und sogar B a r o n Bille und Hr. v. Q u a a d e müssen dazu herhalten, „die durch Uneinigkeit d e m Vermittler die L a u n e verdorben; denn einer derselben sei als Eiderdäne, der andere als G e s a m t s t a a t s -

8 9

Vgl. Friedrich v. Logau, Sinngedichte (1654): „Höflichkeit". Rhetor Schramm ist seit mehreren Jahren tot.

332

1864

däne aufgetreten". Freilich, was konnte einem britischen Amateur-Dänen dann übrig bleiben! Die diplomatischen Einwände Frankreichs gegen die mit englischem Kapital in Angriff zu nehmende große Euphrat-Eisenbahn gelten als beseitigt infolge Gegenkonzessionen in der Suez-Kanalfrage von seiten Ihrer Majestät Regierung. Nur eines bleibt als Stein des Anstoßes, die zweifelsohne „inspirierte" Abneigung der türkischen Regierung, die zu jenem Bau erforderlichen Ländereien selbst gegen vollwichtige Sovereigns zu verhandeln. „Praktische K ö p f e " sagen eine neue aber „friedliche" Phase der orientalischen Frage voraus. — Die ganze Umgegend von Claremont und Kingston war gestern in Festschmuck. Auf Meilen hin stand das Landvolk Spalier unter Fahnen und Immergrün-Guirlanden. In den Dörfern flatterten jene Pennous und G o n f a l o n s , welche altfranzösische Maler so gern in ihren Gemälden anbrachten, abwechselnd mit Tannen, mit der Wurzel aufwärts in den Boden gepflanzt, und mit Triumphbogen und künstlichen Blumenhügeln. Alles galt der Hochzeitsfeier des Grafen von Paris. Von deutschen Fürsten wohnte der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz, Prinz Philipp von Württemberg und Prinz August von Koburg der Feier in der Kapelle zu Kingston bei; von der deutschen Diplomatie Graf Vitztum, Graf Apponyi, desgleichen die Gräfin Bernstorff, vom Kabinett Earl Russell und Sir Robert Peel, nach der von den heutigen Blättern gegebenen Liste. [Nr. 131, 8. 6. 1864]

Die Freiwilligen-Parade. Prisengelder Die Knochen von Solferino p::" London, 4. Juni Die am Sonnabend abgehaltene große Revue über die Londoner RifleVolunteers bezeichnen Militärs als stellenweise „sehr bummelig", worüber liberale Blätter in sittliche Entrüstung geraten und u. a. fragen, ob sich die „vieux moustaches" durch die von einzelnen Volontärs verstohlen gerauchten Zigarren gekränkt gefühlt hätten, aber sie verständen ja das „Elastische" in solcher Volkswehr nicht zu schätzen! D a s ist nur albern. Aber was soll man zu folgender Phrase sagen: „Freilich sind die Volunteers keine Gefängnis-Vögel, keine schlotterigen Deserteure, von der ,Katze' gezeichnet, oder sonstiger Kasernen-Kehrricht, zu faul zur Arbeit und deshalb Soldat geworden?" — Und dennoch steht „ D a s dank-

L o n d o n , 4. Juni

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bare Vaterland seinen Kriegern!" auf dem Krimkrieg-Monumente am Waterloo-Place. — Lord Palmerston hat soeben eine ihm vielgedankte Neuerung getroffen, nämlich die Entscheidung über im Kriege erworbene Preisgelder an die Admiralität verwiesen. Alle „Beute" gehört nach englischem Gesetz der Krone. In alter Zeit entschied über die Verteilung der Beute an die Armee und Flotte der jetzt aufgehobene Court of Chivalry. Nach Schluß des chevaleresken Zeitalters schwankte man zwischen verschiedenen Behörden. Das Kabinett, namentlich der Finanzminister, eignete sich dann die Prärogative an. Aber die zivile Verschleppung hat sich als unerträglich erwiesen. So wurden die 1818 gemachten Deccan-Preise erst 9 Jahre später verteilt, die Burmah-Preisgelder von 1826 erst nach 11 Jahren, die Pegu-Beute von 1853 nach 10 Jahren, die Kertsch-Gelder erst 1863 und die Banda- und Krim-Preise sind noch jetzt Zankapfel zwischen verschiedenen Truppenabteilungen. Gewöhnlich ist in so langen Fristen ein Drittel der Berechtigten verstorben oder verschollen oder ausgewandert, und mancher Soldat, mit Medaillen geschmückt, der in Uniform in den Straßen Londons bettelt, ein Brettchen auf der Brust „Wegen Krankheit entlassen", hat längst seine Ansprüche an beliebige Wucherer im voraus verhandelt. Palmerston hat nunmehr dem Gladstones circumlocution-office (ein von Dickens erfundener Ausdruck 9 , etwa „Umständlichkeits-Behörde") jene Dispositionen entzogen und Leuten von Metier übertragen. Man hat übrigens nie gehört, daß die Engländer für solche „Konfiskationen" auch nur Quittungen gegeben hätten, wie die Preußen in Jütland! Die Nippstische der vornehmen Welt in London prangen heute mit den Bijouterien, die man in Peking weggenommen hat! — Noch erhält sich das Gerücht, daß der Herzog von Sutherland, der Garibaldi-Freund, bei der Königin zum Ritter des Hosenband-Ordens in Vorschlag gekommen. Er ist der zweitreichste Edelmann in Britannien. Die konservative „Sunday-Times" meldet mit ironischem Akzente, er habe sich jetzt in Neapel „beinahe" so herablassend benommen, wie Garibaldi dem Volke von London gegenüber. „Der Herr Herzog erzählte außerdem den Neapolitanern, daß England nicht Garibaldi Ehre erwiesen, sondern Garibaldi England." Seit dem polnischen Bazar der Herzogin (Mutter) von Sutherland und seitdem die Dame, trotz aller Gegenvorstellungen, es sich nicht nehmen ließ, Garibaldis

9

„ W h a t e v e r w a s required to be d o n e , the C i r c u m l o c u t i o n O f f i c e was beforeh a n d with all t h e public d e p a r t m e n t s in the art of perceiving — how not to do it." — aus d e m R o m a n Little Dorrit (1857), Kap. 10.

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„Wirtin" im Hause ihres Sohnes zu sein, kann es auch möglich werden, daß, wie Clara Stansfeld aus ihrem Nähkästchen 1 0 , so die Herzogin einen demokratischen Briefkasten aus ihrem Pompadour macht. Die Ernüchterung wird aber nicht ausbleiben. — Das englische Schiff „Fairy", Kapitän Christie, hat eine Knochenladung nach Hull transportiert. Der Kapitän hat versichert, er habe im Hafen von Genua größte Umsicht vonnöten gehabt, um zu verhüten, daß die Lieferanten ihm „Menschengebeine", die aus der Lombardei gekommen, mit in den Kauf gaben. Z u m Beweise produzierte er der Behörde einige solcher „Überreste", die man in seinen Schiffsraum dennoch eingeschmuggelt hätte. Diese Entdeckung, hofft der „Manchester Examiner", werde den Geschäftsleuten aus Solferino, Magenta und Umgegend die Spekulation verderben. — In London sind aus Genf datierte Briefe des früheren polnischen Insurgenten-Chefs Bosak eingetroffen. „General" Klapka ist Mitdirektor eines Genfer Bank-Instituts geworden. Es ist hier kein Geheimnis, daß, „was in Ungarn und in Baden geholt wurde", in verschiedenen Banken auf Zinsen angelegt worden, u. a. auch in einem schweizerischen Portefeuille zu London. [Nr. 134, 11. 6. 1864]

Die Montagssitzung im Parlament Schwenkung in der Presse Bevorstehende Tory-Meetings ρ* L o n d o n , 2 8 . J u n i O b w o h l Ihnen bereits der ausführliche Bericht über die gestrigen Sitzungen des Parlaments vorliegen wird (vgl. Nr. 1 5 1 n ) , deren eine, die des Unterhauses, fast bis Sonnenaufgang währte, so wird doch ein kurzer Kommentar zu den Vorgängen nicht überflüssig sein. Beide Häuser waren gerüttelt und geschüttelt voll. Marquisen und Peeressen standen bis in die Korridore und im Räume der Mitglieder wurden die sogenannten „Stammgastplätze" nicht respektiert. Selbst auf den Ministerbänken fand ein solches Gedränge statt, daß der Whipper-in Mr. Brand plötzlich die Entdeckung machte, wie für Lord Palmerston kein Platz offen geblieben. 10 11

Vgl. Κ London, 10. Dezember 1864. London, 28. Juni. Lord Russells Rede [Oberhaus] und Lord Palmerstons Rede [Unterhaus], in: Nr. 151, 1 . 7 . 1864.

London, 28. Juni

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Lord Palmerston M a k i n g the Ministerial Statement on D a n o - G e r m a n Affairs in the House o f C o m m o n s

Dies wurde indessen doch ermöglicht; es bildete sich eine kleine, schmale Lücke, die, ehe der Premier erschien, sich bald verengerte, bald erweiterte, je nach den Kraftanstrengungen der nächstbeteiligten

Kollegen,

und, wenn ja Gefahr vorhanden, pflanzte sich ein Offizieller vom Stabe mit hübscher Breite in den Spalt als schützender Keil. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß man im Publikum längst wußte, was passieren würde, nämlich die Ausspinnung langer Vorträge, um schließlich in den einen Knoten geschürzt zu werden: „Kein Krieg". Russell und Palmerston teilen sich in die Gefahr immer so, daß ersterer dem feineren attischen Witze des Oberhauses standhält und letzterer mit seiner humoristischen Nonchalance die Stürme des Unterhauses durch Gelächter in Sommerwetter zu verflüchtigen versucht. Russells Rede war, wo sie an der entscheidenden Stelle anlangte, fast Satz bei Satz nur eine Umschreibung eines im „Morning S t a r " (dem Friedensgesellschafter) publizierten Leitartikels, der vor vier Tagen, vor

der letzten Konferenzsitzung in dem

genannten Blatte erschien. Das war vielleicht Zufall. D a ß aber dasselbe Friedensblatt fast einzig und allein die am genauesten detaillierten C o m -

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1864

muniques über die letzten beiden Sitzungen der Konferenz enthielt, war sicherlich kein Zufall. Die Times von Montag trat genau in die Fußtapfen desselben Leitartiklers, und so wurde das Publikum mit der präzisen Phrase vertraut gemacht: „Dänemark hat den letzten, die Streitfrage am wahrscheinlichsten erledigenden Vorschlag seines Freundes England abgelehnt, und mit blinder Erbitterung sogar; darum sind wir weder moralisch noch durch Ehrenfragen veranlaßt, für Dänemark Blut und Geld zu gefährden." — Die offiziösen Volontärs in der Presse sprechen nicht so deutlich; aus Klugheit, denn sie wollten offenbar nicht, aus bloßer Gefälligkeit für das Kabinett, ihre Leser, deren Erwartungen sie durch Rodomontaden auf das Äußerste gespannt hatten, plötzlich vor den Kopf stoßen. Ein einziges Blatt trommelte den Kriegsmarsch, aber in wilderem Tempo, als die „Morning Post" je getan. Dies war der „Morning Advertiser": „Wir müssen Krieg mit Deutschland beginnen, weil Deutschland nicht mehr glaubt, daß wir Mut dazu haben. Unterlassen wir ihn, so wird von andern Staaten bald das deutsche Beispiel, England zu verlachen, nachgeahmt werden." Das heißt allerdings, die Frage von Krieg und Frieden auf die rohesten Prinzipien der Preisboxerwissenschaft reduzieren. Jenes Blatt, das Bierhausorgan der „Radikalen frisch vom Faß", warf damit seinen „bisherigen Karl Blind" ganz über Bord und schrieb dick und breit „Prügel um jeden Preis" mitten durch die bisherige Devise „Schleswig-Holstein for ever". Mit diesem irregulären Schwadronshieb schlitzte es einige Dutzend seiner eigenen Leit-Artikel auf und assistiert der Opposition. Aber die Radikalen beabsichtigen damit etwas anderes, als den Sieg der Opposition. Es ist nach verschiedenen Zeichen nur ein Scheinscharmützel. Die radikale Partei weiß sehr genau, daß, wenn die Opposition siegt, das Kabinett nicht weicht, sondern das Parlament auflösen würde. Das aber ist der Wunsch dieser Radikalen; denn sie können mit dem „reformwidrigen" Parlament nichts beginnen und je früher das Land wieder in die Konvulsionen totaler Neuwahlen geworfen wird, desto besser erscheint es ihren Agitationsprojekten. Der „Daily Telegraph" hat erst vor zwei Tagen darauf hingedeutet, daß dem Kabinett schließlich nichts übrig bleiben dürfte, als „von den Erwählten an die Wähler" zu appellieren. Sehr bemerkenswert ist, daß die „Morning Post" von ihren früheren Freunden halb desavouiert worden. Palmerston erklärte erst kürzlich im Parlamente, „er lese das Blatt nicht", und vor einigen Tagen ereignete sich ein anderer Vorfall, der, klein in sich selbst, eine Illustration zu dem Faktum liefert, daß jenes Blatt nur noch diejenige Hälfte des Kabinetts repräsentiert, die am meisten „Courage" hat

London, 28. Juni

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oder „Interesse" f ü r eine wenigstens b e w a f f n e t e D e m o n s t r a t i o n in der Ostsee. H i n t e r dieser „ H ä l f t e " steht das mit Lieferanten verschwägerte „ c l e r k d o m " (d. h. das Sekretärtum) der Ministerial- u n d Verwaltungsb u r e a u s . D e r e r w ä h n t e kleine Vorfall ist folgender. Es besteht eine g r o ß e Eifersucht unter den J o u r n a l e n , ü b e r die Details und personaggi von Assemblees bei Ministern und Ministerinnen, G e s a n d t e n und Gesandtinnen u.s.w. am genauesten unterrichtet zu sein. Lange und bis noch vor k u r z e m erschien die „ M o r n i n g Post", das a m meisten mit Notizen begünstigte J o u r n a l dieser Tendenz. D e r betreffende R e d a k t e u r f ü r N a c h richten aus dem H i g h Life k a m sogar m i t u n t e r in persona in solche Zirkel; d o c h zog er sich vor k u r z e m aus der Presse zurück. Sein N a c h f o l ger w u r d e aber von der letzten g r o ß e n Soiree bei Lady Palmerston ausgeschlossen, ja nicht einmal mit einer „Liste der G ä s t e " versehen. D a s Blatt ist entschieden in U n g n a d e bei P a l m e r s t o n , weil es nicht so schnell die friedlichen Schwenkungen m i t m a c h t e , s o n d e r n es mit seinen unzufriedenen Kollegen hielt. Doch ist d a m i t nicht gesagt, d a ß das Blatt diesen „Eigensinn" noch ablegt, insbesondere seitdem gestern der Würfel gefallen u n d das „ganze" Kabinett „Einsatz" g e w o r d e n ist. H e u t e wird bei d e m M a r q u i s von Salisbury eine Versammlung der Oppositionsmitglieder, des O b e r h a u s e s hauptsächlich, stattfinden, der morgen oder am D o n n e r s t a g eine gleiche bei Lord Derby folgen wird. Auch Disraeli hat die Absicht, die Clane des Unterhauses in seiner Behausung u m sich zu s a m m e l n . Die Schwäche der O p p o s i t i o n liegt darin, d a ß sie nicht den M u t hat, mit einem klaren P r o g r a m m herauszutreten, sondern nur ank ü n d i g t , über Dinge, die nicht m e h r zu ä n d e r n , ein Tadelsvotum durchsetzen zu wollen, nämlich d a r ü b e r , d a ß D ä n e m a r k übereilte Versprechen oder wenigstens H o f f n u n g s w i n k e vor etwa 7—8 M o n a t e n g e m a c h t w o r den sind. Was das P u b l i k u m b e t r i f f t , so k a n n ich aus genauester Beoba c h t u n g versichern, d a ß seit Wochen keine Notiz der Presse so sehr die Vorliebe f ü r Frieden bei der h a n d e l t r e i b e n d e n M a j o r i t ä t verstärkt hat, als eine vierzeilige telegraphische Depesche, die aus einem Artikel der N o r d d e u t s c h e n Allgemeinen Z e i t u n g einen Satz zitierte, w o n a c h „Frankreich i m m e n s e Handelsvorteile erwachsen w ü r d e n " , falls England gegen D e u t s c h l a n d kriegerisch a u f t r ä t e , infolge der d a n n notwendigen anderen Direktionen des gesamten Binnenverkehrs nach d e m Auslande. Wahr, die Blätter hüteten sich, Leitartikel d a r ü b e r zu schreiben; aber die telegraphische Depesche w u r d e d e n n o c h von j e d e r m a n n gelesen, und viel P u b l i k u m in England mißt internationale Fragen n u r nach der „Elle". Sollten ja Meetings angeregt w e r d e n , w o z u noch kein Schritt getan, so

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wird die Majorität immer in dieser Richtung sich aussprechen. Solange kein Windmühlenflügel auf Fünen oder Seeland in Brand geschossen, haben wir hier tiefen Frieden. Es ist unnütze Mühe, daß die Tory-Blätter über die Depeschen aus Kopenhagen, in betreff der Rede Monrads, in fetter Schrift drucken: „ein Appell an die Ehre Englands"; es ist müßiges „Putschen", wenn andere Wesens davon machen, daß vorgestern zwei Kriegsdampfer wieder nach den „Downs" abgegangen. Das geschieht alle Jahre, ehe die Kanal-Flotte eine Tour um die britischen Inseln macht. Und es kostet wenig Druckerschwärze, unter der Linie „Kriegsrüstungen" zu melden, daß bei den Montierungskammern zu Pimlico (südwestlicher Stadtteil von London) und im Arsenale von Woolwich Ordres eingelaufen, die nötige Equipierung für 30.000 Mann bereitzuhalten, und daß der Kriegsminister die Werbegelder für Soldaten, deren Dienstzeit um ist, im Falle des Wiedereintritts um 1 Pfd. Sterl. erhöht und zweimonatlichen Urlaub dazu verheißt. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß während noch 1862 gegen 32.000 Rekruten sich anwerben ließen, in 1863 diese Zahl auf 7000 fiel, obwohl man das Maß von 5'9" auf 5'7" reduzierte (immer noch ein hohes M a ß augenscheinlich). Der Ausfall ist der Verbesserung der Arbeitslöhne und der Auswanderung aus Irland (3—4000 jede Woche) zuzuschreiben. Nach ministerieller Angabe sogar bleibt noch ein Ausfall von 15.000 Mann gutzumachen, um den gewöhnlichen Effektivbestand der Armee herzustellen. [Nr. 152, 2. 7. 1864]

[Vom Kriegsschauplatz] Vom Kriegsschauplatz schreibt man uns am 4. Juli: (*t :; ) Wie Sie schon wissen, sind bei der Eroberung von Alsen 53 Offiziere und etwa 2500 Mann gefangengenommen worden. Außerdem wurden in unsere Lazarette noch ungefähr 400 verwundete Dänen aufgenommen und die in dem Augustenburger Lazarett liegenden 200 Dänen befinden sich gleichfalls in unsern Händen. Rechnet man dazu die 1400 Toten und Verwundeten, welche die Dänen selbst als Verlust angeben und welche sie auf ihre Schiffe gebracht haben wollen, so ergibt sich, daß die Dänen am 29. Juni wieder einen Gesamtverlust von über 4000 Mann gehabt haben, worunter sich mindestens 100 Offiziere befinden. — Der Feind scheint, trotz der Aufmerksamkeit seiner Wachen, überrascht worden zu sein, hat sich auch nicht denken können, daß wir

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L o n d o n , 6. Juli

ein ganzes Armee-Korps mit Artillerie und Kavallerie nur auf Booten übersetzen w ü r d e n . Daher hielten die dänischen Befehlshaber, dem Vernehmen nach, den Übergang bei Satrupholz nur für eine D e m o n s t r a t i o n , wozu sie sich um so mehr berechtigt hielten, als ihnen absichtlich schon einige Tage vorher Boote am diesseitigen Ufer gezeigt worden waren. Inzwischen erwarteten die bei Ulkebüll in Reserve stehenden dänischen Reserven unsern Brückenschlag bei Schanze 10 und wollten diesen erst mit allen Kräften verhindern. Den Brückenschlag an dieser Stelle des Alsener Sundes hatten die Dänen so bestimmt erwartet, d a ß sie dort auch See-Minen gelegt hatten, welche Entdeckung am folgenden Tage einige preußische Soldaten machten, die von Sonderburg nach SchnabekH a g e schiffend, plötzlich hinter sich einen im Schlepptau mitgeführten Kahn in die Luft gehen sahen. Glücklicherweise w a r der Kahn nicht besetzt, so daß die auf dem vordersten Fahrzeuge befindlichen Leute mit dem bloßen Schreck davon k a m e n . — Über die ferner bevorstehenden Operationen herrscht noch völlige Ungewißheit. Die Dänen verschanzen sich auf Fünen immer weiter und scheinen wirklich noch immer zu glauben, d a ß ihre Erdarbeiten, mit denen sie ihre Leute f o r t w ä h r e n d so anstrengend beschäftigen, unsern Angriff aufhalten werden. — Von fünf Personen (?) ist, wie ich höre, gestern in Augustenburg „der Herzog" proklamiert w o r d e n , o b w o h l derselbe weder zu der Eroberung seines angeblichen Erblandes, noch neuerdings zur Besitznahme des Stammsitzes seiner Familie auch nur einen Finger gerührt hat. Welchen Eindruck daher diese Proklamierung auf die Einwohnerschaft und auf die jetzt dort stehende preußische Garnison hervorbrachte, werden Sie ermessen. — H e u t e hat der Oberbefehlshaber Prinz Friedrich Carl K.H. sich in Begleitung eines zahlreichen Stabes nach der Insel Alsen begeben, u m die dänischen Verteidigungs-Maßregeln u.s.w. in Augenschein zu nehmen. [Nr. 155, 6. 7. 1864]

Das Mißtrauensvotum und die große Debatte Die rote und die weiße Rose. General Peel und Cobden Keine Parlaments-Auflösung P* London, 6. Juli Noch zwei oder drei Turniertage mehr und in den „small h o u r s " von Freitag oder Sonnabend erfolgt die Abstimmung. Unter „kleinen Stunden" versteht man hier die Ziffern der Tageszeit, die mit 1 Uhr nach

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Mitternacht beginnen. Sie werden im Besitze alles dessen sein, was die Stenographie hat leisten können, und ich beschränke mich auf rasche Schlaglichter und kleine Arabesken. Die Szenen im Hause und vor dem Hause waren vielfach charakteristisch. Am Montag empfing das vor dem großen Portale des Parlamentspalastes versammelte Volk Disraeli beim Eintritt mit Cheers, in mäßigerer Weise Palmerston, mit Stillschweigen Gladstone. Gestern schrie man Jubel über Cobden, als er das Haus betrat, und kannte keinen anderen. Wie an dem Herzen von ParlamentsMitgliedern „gezerrt" wurde, ist schwer zu beschreiben, nämlich seitens ihrer Hauptwähler in der Provinz, die für sich nebst Gemahlin und für die jungen Misses um Galeriebillets bei ihrem eigenen Member einkamen. Für 92 disponible Plätze waren für die ersten beiden Tage schon 1400 Tickets gezeichnet, was soviel hieß, als: Seht zu, wie ihr Platz findet. D a ß Gladstone sich zu dem ersten Tage eine rote Rose und Sir Stafford Nortbcote, der von den Tories als neuer Finanzminister im Auge behalten sein soll (denn Disraeli aspiriert auf Russells Fauteuil) eine weiße Rose ins Knopfloch gesteckt hatte, war wohl nur Zufall, wenn auch schon Tages vorher ein whiggistisches Journal, Gladstone bewundernd, ihm mit Shakespeareschem Akzente zurief: „York! Es gilt eine K r o n e ! " 1 2 (York trug aber die weiße Rose. D. Red.) Wer unter den Hörlustigen von 7 Uhr morgens bis 4!/2 Uhr nachmittags vorgestern gestanden, ehe die Galerien geöffnet wurden, und dann neun Stunden lang, ohne sich rühren zu können, mit dreien einen Sitz teilen mußte, wünschte Disraeli und Gladstone in das Pfefferland, weil ihre Reden gar nicht enden wollten und den Leuten nur sagten, was sie schon seit Wochen aus den Zeitungen wußten, deren „Sensationsartikel" ohnehin den Gaumen verwöhnt haben. Das Publikum am folgenden Morgen hatte in der Masse nur zwischen zwei Extremen zu urteilen, nämlich zwischen den Leitartikeln der sich opponierenden Parteiblätter. Die whiggistischen Editoren nannten Disraeli einen Depeschenfälscher und Gladstone den unüberwindlichen „Zerschlitzer von Lügengeweben", während die Editoren, welche mit den Tories „ein Ärmel und ein Handschuh", wie die Phrase geht, versicherten, „nie sei eine treuere Geschichte whiggistischer Schmach gesprochen, als von Seiten Disraelis geschehen". Es war ein Sieg, schrie das eine, es war eine Niederlage, rief das andere Blatt, und da das Publikum lange Reden nicht liest, so bleibt es ihm überlassen,

12

Anspielung auf W. Shakespeares Hamlet,

V, 1.

L o n d o n , 6. Juli

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sich aus den Exzerpten und Glossen der Leitartikel zurechtzufinden. Der „Tory" Newdegate — mit Disraeli und Sir George Bowyer der einzige der Partei, die Garibaldis Levers verschmähten — wird von seinen Gesinnungsgenossen beschuldigt, durch sein Amendement: England an die Konferenzvorschläge der neutralen Mächte um jeden Preis binden zu wollen, manche halbgewonnene Members von der Opposition zurückgeschreckt zu haben, welche geneigt, die „Politik" der Tories mit Krieg zu identifizieren. Am meisten als Kavaliere erwiesen sich Lord Cecil und der alte General Peel, der mit John Peel, dem halbradikalen „Unabhängigen" und mit den beiden anderen Peels, Frederik und Robert, Kabinettsmitgliedern, nichts gemein haben will. Es war eine Art warmblütigen Ungestüms in seinem Appell an das „Ehrgefühl" der Nation und in seiner blücherhaften Verachtung Russellscher „Federfuchserei" 1 3 , wie in dem starklatenten Satze: „Es gibt einen Trost, und es ist dieser, daß eure Kinder und Kindes-Kinder beherrscht werden von Fürsten, in deren Adern das Blut dessen rollen wird, der jetzt über das tapfere Volk regiert, mit dessen Schicksal wir alle so tief sympathisieren." Was die gestrige Rede Cobdens angeht, so sagt ein whiggistisches Blatt, „er hat ein wunderbares Talent für gesunden Sinn, nur schade, daß er Doktrinär. Er spricht gegen Spekulationen und spekuliert selbst." (Sehr gut.) Ein Organ der Tories ist zu dankbar für seine Hiebe auf Russell, um nicht vieles zu vergessen: „Spricht Cobden die Meinung der Radikalen aus, so müssen wir glauben, daß jene Partei eines Sinnes mit der Opposition über die Aufführung von Ihrer Majestät Regierung ist." Cobden, der populär geworden beim Publikum, das wenig hat und mehr haben möchte, seit jenem Tage, wo er rief: Innerhalb 24 Stunden muß jeder Mensch auf rechtem oder Unrechtem Wege einmal essen", wird, die Times ausgenommen, immer von den Journalisten milde beurteilt; denn er war es, der ihnen schmeichelte: „Ich ziehe eine Zeitungsnummer unserer Tage dem berühmtesten Kapitel des Thukydides vor." (Worauf ihm übrigens nachgewiesen wurde, daß er den Thukydides nie gelesen.) Gestern bereitete er den beiden Parteien zeitweises Behagen. Während er sagte: „Lord Russell sprach über die polnische Frage zu Blairgowrie Worte, in denen er Rußland fast als vogelfrei hinstellte, und schlug demselben Rußland vier Monate später vor, mit England gemeinsam gegen

13

Z u m Wort „Federfuchser" vgl. die Auslassungen des alten Baron Osten in Irrungen, Wirrungen, 7 . Kap. (HFA I, 2, S. 3 5 4 ) .

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Deutschland in den Krieg zu ziehen. Ist das eine Politik?" (Cheers von der Opposition) — sprach er sich doch gegen jede bewaffnete Einmischung in fremde Angelegenheiten aus und kaptivierte damit die liberalen Geschäftsleute der Schule Gladstones. Sehr unangenehm fühlte m a n sich durch seine statistischen Belege über das Unzureichende britischer Streitkräfte berührt; aber es erfolgte Beifallsgemurmel von den Diskreten auf den Galerien, als er fragte: „Was sollte unsere Flotte in der Ostsee tun? Wisset Ihr nicht, d a ß wir im vorigen J a h r e 1.200.000 Viertel·1" Getreide von Preußen nötig hatten?" Bei einem Volke, wo, wie Gladstone in seiner Budgetrede eingestanden, „neun unter zehn um die tägliche N o t d u r f t unter hartem Risiko ringen", müssen solche Reden, die auf Brot und Butter basieren, immer Anklang finden. „Sind 50 unter euch, die Krieg wollen? Sind nur 5 da?" Und keine Stimme im ganzen H a u s e widersprach! Es gibt in der Tat nur drei Members, die sich bisher gelegentlich f ü r Krieg um jeden Preis ausgesprochen: Whalley, Ker und Langton. Ich habe Ihnen bereits gemeldet, d a ß C o b d e n s und Brights Partei, die Manchestermänner, der Opposition ihren Beistand im schließlichen Votum verweigert haben, und Roebuck desgleichen. Erstere werden, wie es heißt, f ü r Kinglakes, „des Schleswig-Holsteiners", A m e n d e m e n t , das f ü r den Frieden D a n k ausspricht, stimmen, also f ü r die Regierung. Roebuck und H o r s m a n , die keiner Partei angehören, wollen dasselbe tun. D a ß Roebuck, der immer auf sich selbst Referenzen gibt und keinen H a u p t s a t z ohne „Ich" beginnt, es dennoch an schneidendem H o h n e über das „Russelldom" (das Russelltum) nicht fehlen ließ, liegt in seiner Natur. Er ist M e m b e r f ü r Sheffield, die Stadt der Säge-, Schneide- und Schleifmühlen, wo, wie ein Sprüchwort sagt, schon die Muttermilch mit Feilspänen versetzt ist. Über den nächsten Ausfall der Abstimmung sind heute die offiziösen Journale etwas „kleinlaut". Sie zeigen die Karte „Auflösung des Parlaments" verstohlen. Gestern f r ü h sogar prangten Zeitungsplakate in den J o u r n a l b u d e n , welche mit langen Lettern a n k ü n digten: „Parlamentsauflösung in der Schwebe", und es hieß allgemein, diese werde erfolgen, auch wenn die Regierung einen kleinen Sieg davontragen sollte, indem die „Balance" der Parteien so gleichmäßig im Unterhause, d a ß die Abwesenheit eines einzigen Whig öfters schon das Kabinett in die Minorität gebracht, mithin letzteres eine „neue, frische Autorisation" durch Neuwahlen im ganzen Lande sich erwerben müsse. Diese Gerüchte, weil sie das Detail enthielten, die Auflösung werde erfolgen,

Ein englisches Q u a r t e r b e t r ä g t 28 P f u n d .

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vom Kriegsschauplatz, 10. Juli

sobald noch „gewisse Bills" schnell durch das Haus getrieben sein würden, sollen auf die „Schwankenden" beunruhigend gewirkt haben, aber riefen auch bei dienstbaren Whigs Gemurmel über Undank hervor, sowie bei den kleineren Cotton-Lords der Manchester-Schule, welche im Unterhause sitzen. So brachten denn dieselben Blätter, welche das „erste Gerücht" zu verbreiten „inspiriert" gewesen, in ihren Abendausgaben, darunter der „Evening-Star", gestern auch folgendes gleichlautend: „Wir haben Grund zu glauben, daß, im Falle die Regierung eine Majorität in der von Mr. Disraeli gestellten Vertrauens-Frage erzielt, nicht die Absicht vorliegt, das Parlament vor nächstem Frühjahr aufzulösen." Somit würde das Parlament gerade nach vollendetem sechsten Jahre sterben. Fast nie hat eines die vollen „Sieben" ausleben dürfen. [Nr. 164, 16. 7. 1 8 6 4 ]

[Vom Kriegsschauplatz] Vom Kriegsschauplatze schreibt man uns unter dem 10. d.: ( * t * ) Mit überseeischen Expeditionen gehen unsere Landtruppen der Marine jetzt mit dem schönsten Beispiele voran. In der Nacht vom 8. zum 9. wurde die Insel Barsoe nun auch der Botmäßigkeit der schleswigschen Regierung unterworfen. Die Insel liegt in der Nähe der GjennerBucht, nordöstlich von Apenrade, und ist höchst berüchtigt, weil sie, besonders während die Dänen noch Alsen besetzt hielten, ein Hauptsitz der feindlichen Spionage war und weil die schwedischen Freibeuter, welche es nur nächtlicherweile wagen, ihre Unternehmungen zu machen, dort ihre Schlupfwinkel hatten und von Zeit zu Zeit von da aus ihre Landungen in der Gjenner-Bucht unternahmen. Se. Κ. H. der Prinz Friedrich Carl hatte der 6. Division (Manstein) den Auftrag erteilt, sich der Insel zu bemächtigen, und der Generalmajor v. Gersdorff, gegenwärtig Kommandeur der 11. Infanterie-Brigade, hatte zwei Kompanien des Brandenb. Fusilier-Regts. Nr. 35 zur Ausführung des Unternehmens bestimmt. Auf Fischerbooten wurde das dort über 2 0 0 0 Schritt breite Meer in stiller Nacht von Süderballig und Bröde aus überschritten und bald wehte die preußische Fahne auf den Höhen der Insel. Das Nest war leer, ein Widerstand daher nicht gefunden worden, und das einzige Feuer, welches auf der Insel aufging, rauchte aus den Schornsteinen der selbst für ländliche Verhältnisse etwas früh erweckten Bewohner, welche,

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durch den artigen Besuch der Brandenburger Füsiliere angenehm überrascht, sich nunmehr beeilten, ihnen Kaffee zu kochen. Die Freundschaft der Füsiliere soll sogar so weit gegangen sein, daß sie den Bewohnern erlaubten, die längst fälligen Landessteuern dem Führer des Kommandos zur Ablieferung an die Landeskasse auszuzahlen, und daß sie durch Fortnahme der Boote die Bevölkerung von der Versuchung befreiten, noch ferneren landesverräterischen Verkehr mit dem Feinde zu pflegen. Auch sollen einige Hausväter, deren Neigung in dieser Hinsicht besonders bekannt geworden war, ihrer insularen Einsamkeit entrissen worden sein und Aussicht haben, für längere Zeit die fürsorgliche Gesellschaft ihrer Brandenburger Freunde zu genießen. Übrigens haben wahrscheinlich die „berühmten" Schweden kürzlich eine neue Heldentat begangen, von der sie wohl nicht verfehlen werden, demnächst möglichst viel Lärm zu machen. In der Nacht vom 7. zum 8. d.M. wurde ein schwacher österreichischer Posten in Ashoved, südlich Horsens, durch eine gelandete feindliche Überzahl überfallen, und trotz hartnäckiger Gegenwehr gelang es dem hinterlistigen Feinde, sieben Mann gefangen fortzuführen. Sie hatten selbst mehrere Tote auf dem Platze gelassen; der tapfere Kadett, welcher dort befehligt hatte, schlug sich durch und kam verwundet nach Veille mit der Meldung von diesem neuen unglaublichen Siege des Feindes. [Nr. 160, 12. 7. 1864]

Der Hauptlotse in der Politik Kensington-Museum und gestohlene Sachen Die große Eulenspiegelei. Mr. Manhattan in New-York P* London, 10. Juli Während seine Kollegen noch für ihre „Reputation" zitterten (manche, wie Russell und Gladstone haben mehrere Reputationen zu verlieren, wie man nach so vielen politischen Fiaskos fast glauben möchte), gab Palmerston Feten. Er ist „Master" des „Trinity-House", einer alten jetzt funktionslosen Korporation der City, die in alten Zeiten die Lotsen und Leuchtfeuer der Themse zu kontrollieren hatte. Ihr Charter (Korporationsbrief) verbrannte beim großen Brande von London; aber die Revenuen haben sich als unverwüstlich erwiesen und können noch heute nicht „aufgegessen" werden. Palmerston, der als Haupt-Lotse in der Politik die Traditionen dieses „Hauses" fortführt, gab unlängst dort ein großes Banquet, wozu auch der Prinz von Wales und der Herzog von

L o n d o n , 10. Juli

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Cambridge sich einfanden. Der Premier wird von den Reporters der Presse als ungemein „fidel" beschrieben. Und warum sollte das Land sich nicht über so schöne Reden freuen, als: „Diese Inseln sind das Zentrum, von dem die heilige Flamme sozialer, bürgerlicher und religiöser Freiheit durch alle Länder der Welt verbreitet wird!" Auch verglich er sich, wohl zugleich an Russell denkend, „mit einem Kinde mit zwei Köpfen". Der „Star", welcher die erste Phrase damit entschuldigt, es sei eben eine Dessert-Rede gewesen, fügt zu dem letzten Beispiele von Mißgeburten hinzu, „wäre ein Zyniker grausam genug, einen dritten Kopf hinzuzufügen und das Ganze eine Hyder zu nennen?" — Sir George Bowyer, ein Katholik, bemerkte jüngst im Unterhause bei einer Budgetfrage über Museen: „Wenn ich unser Museum zu Kensington betrete, glaube ich mich in einer Niederlage gestohlener Sachen zu befinden. Wo kommen gewisse italienische Kunstschätze her? Die Revolutionäre in Italien haben weidlich geplündert und die englische Regierung hat dergleichen Dinge erstanden. Von wem? Von Garibaldi oder von wem sonst? Der Hehler ist so gut wie der Stehler. Ich selbst habe einen dem Großherzoge von Toscana zugehörigen kostbaren Sessel in dem Museum gesehen." Diese kitzliche Frage, so „unschön" und „ohne Kunstsinn gröblich", blieb unbeantwortet. Wie man hört, wird sie in präziser Form demnächst wiederholt werden. — Die von der „Morning-Post" veröffentlichten falschen Aktenstücke über eine von der unheiligen Allianz gewisser „Flammenträger sozialer und bürgerlicher Freiheit" so sehr gefürchtete „heilige Allianz" machen viel von sich reden. Die Whigs in den Clubs meinen, die vornehmen toryistischen Mitarbeiter der „Eule" hätten damit jenes Blatt düpiert, wie sie vor kurzem dem Mr. Mocquard mitgespielt hätten. Lord Stratford de Redcliffe hat bekanntlich dem Hause der Lords erzählt, daß er in den Händen einer Person von hohem Range eine Korrespondenz gesehen, welche mit dem von der „Morning-Post" veröffentlichten Depeschenwechsel fast identisch sei. Es war vielleicht das Manuskript der erwähnten Eulenspiegelei. — Unter dem Titel „Enthüllungen aus Printing-House-Square" (Büreau der Times) ist eine Broschüre erschienen, welche die Frage aufwirft: „Ist das System der Anonymität eine Sicherheit für die Lauterkeit und Unabhängigkeit der Presse? Eine Frage an die Times." Ich glaube nicht, daß die völlige Anonymität der Presse noch Jahre währen wird. Der Kredit der Presse ist in vielen Dingen sehr gesunken bei dem viel angeführten Publikum. — Der „Standard" macht seine Leser damit bekannt, daß sein New Yorker Korrespondent Manhattan (zugleich Berichterstatter des „Morning-Herald") definitiv verhaftet

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worden, und daß es sich nur noch darum handle, ob er auf Fort Lafayette „interniert", oder nach Richmond ausgewiesen werden solle. Der amerikanische Gesandte in London, Mr. Adams, machte das Lincolnsche Kabinett auf den Genannten aufmerksam und sandte große „files" („Fahnen") von Standards hinüber. — Die City von Manchester hat einen „Verdienstorden" für ihre Cabmen (Droschkenkutscher) gestiftet, und zwar in drei Klassen, die auch „aberkannt" werden kann bei etwaiger Straffälligkeit des Individuums. [Nr. 165, 17. 7. 1864]

Die große Parlaments-Debatte und von zwei Übeln das kleinere Zeitungsmanöver. Englische Geographie Berryer und Brougham. Das atlantische Kabel p* London, 13. Juli Noch immer — noch heute — hat sich die Presse über die letzte Abstimmung im Parlament nicht beruhigt. Die der Tories behandelt die Ziffer achtzehn unter dem schärfsten Verkleinerungsglase, während die der Whigs das Vergrößerungslorgnon anwendet. Erstere hat mehr Erfolg. Der „Standard" zählt 28 Minister und „Appendices" auf, die „für sich selbst" gestimmt haben, was die Majorität von 18 vollauf moralisch vernichte. Der „Daily Telegraph" ist überglücklich, daß das Kabinett, das mit einer Majorität von 13 über die Leiche des vorangegangenen ToryKabinetts zur Macht emporgestiegen, jetzt mit 5 Stimmen sich „verbessert" habe, und der „Globe" druckt geradezu: „Majorität für das Kabinett + 3 4 " mit der Bemerkung: „obgleich irische Treulosigkeit dieselbe reduzierte, konnte sie dieselbe nicht neutralisieren." Die „treulosen" Irländer waren aber 18, was also im Sinne des „Globe" Russell mit 36 Voten gerettet hätte. Wie dem allen auch sei, eins hat man gelernt, daß Zahlen nicht nur reden, sondern auch „verschweigen" können. Am treffendsten urteilt die Londoner Korrespondenz eines Pariser Blattes in einer Zeile: „Es war weniger eine Majorität für die Regierung, als eine Majorität gegen die Opposition"; denn mehr als drei Dutzend von „Unabhängigen" haben das Kabinett „unter den zeitigen Umständen" nur als das kleinere von zwei „Übeln" akzeptiert. Die offiziösen Blätter stekken mit Dank die Gegenkomplimente ein, welche Pariser Journale gewissen Rednern machen, die eine dauernde Allianz mit Frankreich als das höchste Ziel hingestellt hatten. Das Kompliment gehört aber mehr den

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Tories u n d zugleich den auf G e s c h ä f t e erpichten M a n c h e s t e r m ä n n e r n ; denn die whiggistischen Redner w a r e n bei der D e b a t t e viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, u m an etwas anderes in der Welt zu d e n k e n . „Ein Pereat D ä n e m a r k w u r d e ihnen ebenso leicht, wie einst ein Pereat Savoyen!" so kritisiert ein Tory-Blatt den edlen Eifer der Selbsterhaltung. — Die R e f o r m f r e u n d e , welche d u r c h die in B r o s c h ü r e n f o r m von Gladstone selbst herausgegebene b e k a n n t e Urwähler-Rede „nebst E r l ä u t e r u n gen" etwas stutzig g e w o r d e n , weil letztere den „schönen E i n d r u c k " abs c h w ä c h t e n , h a b e n ein Mittel e r f u n d e n , G l a d s t o n e zu „fixieren". Sie lassen d u r c h h e r v o r r a g e n d e Parteiführer Briefe an ihn schreiben und ihm nachträgliche K o m p l i m e n t e m a c h e n , w o r a u f G l a d s t o n e arglos a n t w o r t e t und so sich i m m e r von neuem vor der Öffentlichkeit engagiert. So hat er erst vor einigen Tagen in einem natürlich s o f o r t publizierten Briefe das W ü n s c h e n s w e r t e des Stimmrechts f ü r die Arbeiter zu N e w a r k a n e r k a n n t , „ o b w o h l er plötzlichen und gewaltsamen Ä n d e r u n g e n d e n n o c h abgeneigt sei". Eine a n d e r e Falle stellte ihm ein kleines Sechserblatt der Politik, die „ M o r n i n g M a i l " , seitdem „eingegangen". D e r Editor sandte G l a d s t o n e einen C h e q u e f ü r 100 Guineen „ f ü r die A r m e n gemeint", im Falle er einen einzigen Leitartikel f ü r das Blättchen schreiben wollte. G l a d s t o n e lehnte dies freilich sehr höflich ab, u n d , siehe d a , sein Antwortschreiben figurierte in der M i t t e eines nächsten Leitartikels des Blattes u n d dasselbe w a r f ü r einige Tage zum Sensationsblättchen „ g e p u f f t " . — D a ß die J o u r n a l e sich auch nicht eifriger mit d e m Konflikte zwischen Spanien u n d Peru beschäftigen, liegt an einem „Anfall" von Ehrlichkeit. Es m a c h t e ihnen wenig aus, ü b e r Schleswig-Holstein zu urteilen, ehe sie noch w u ß t e n , d a ß der Eiderkanal nicht Nord-Schleswig begrenzt; aber peruanische G e o g r a p h i e ist ihnen doch zu respektabel, um so schnell d a m i t fertig zu w e r d e n . Wie nötig solche Vorstudien, ergibt sich aus einem gestrigen Leitartikel des „ S t a n d a r d " , w o es wörtlich lautet: „Wir haben bereits vor zwei Tagen vorhergesagt, d a ß ein D a m p f e r u n d vier Fregatten binnen k u r z e m Madrid verlassen w ü r d e n , u m sich nach d e m stillen O z e a n zu begeben." Dasselbe Blatt n e n n t den König der Hellenen G e o r g I. unverbesserlich den König der Heloten. — Es steht fest, d a ß Berryer seinem alten S c h u l f r e u n d e vom College zu St. Ives, Lord Brough a m , einen Besuch auf seinem englischen Schlosse zugesagt, und z w a r für O k t o b e r . Die englische A n w a l t s c h a f t hat die Absicht, dem gefeierten A d v o k a t e n ein Bankett in L o n d o n zu veranstalten und bereits sind die Anmeldungslisten im alten Palaste der Juristen L o n d o n s , d e m „Tempel" ausgelegt. Z w i s c h e n Berryer und B r o u g h a m bestand n u r zeitweise eine

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Entfremdung, durch letzteren 1848 verschuldet, als dieser bei dem Citoyen Marast um Verleihung des republikanischen Bürgerrechts einkam (der Lord hat ein Haus in Cannes) und als Vorschlag zur Güte die Antwort erhielt „Sobald Eure Lordschaft auf die englische Pairie verzichten, Oui!" — Der „Great Eastern" ist von Liverpool ausgelaufen und auf dem Wege nach der Themse, um das große „atlantische Telegraphen-Tau" an Bord zu nehmen. Dasselbe ist nach neuen Prinzipien gearbeitet, enthält zehn Ringe von Eisendraht, jeden mit fünf Ringen von Manillagarn umflochten und mit chemischen Substanzen gesättigt, alles als Schutzhülle für die inneren Leitungsdrähte. Die Firma Glaß, Elliot u. Co. hat die Arbeit ausgeführt, zu welchem Zweck sie ihren Ingenieur 31mal den Atlantischen Ozean durchmessen ließ. Die Prüfung des Taus erwies, daß je auf eine Länge von 60 englischen Meilen der elektrische Funken fähig war, ein Zündhölzchen zu entzünden. [Nr. 167, 20. 7. 1864]

Die letzte Abstimmung. Not an Mann p::' London, 20. Juli Welche Verdienste sich manche Mitglieder der ministeriellen Partei bei der letzten großen Debatte erworben, tritt erst jetzt zutage. Einer der beiden Barone Rothschild, und zwar das City-Member, hatte, langer Kränklichkeit wegen, das Haus seit zwei Jahren nicht besucht, was seine Wähler augenscheinlich wenig genierte. Bei der Montags-Debatte, gleich nach Schluß der Konferenz, fuhr er zum Hause, um Palmerstons Rede zu hören, wurde aber ohnmächtig und mußte nach Hause gefahren werden. Am 8. d.M., nachts, zur Abstimmungssitzung über Sein oder Nichtsein des Kabinetts oder Parlaments, „wie es ist", brachte man den alten Herrn mit größter Mühe, und von zwei Ärzten begleitet, in das Unterhaus und beförderte ihn in die möglichst bequeme „Lage" dicht hinter dem Sessel des Sprechers. Melancholischer war noch die Situation von Lord Robert Clinton, Bruder des ausgeschiedenen Ministers Herzog von Newcastle. Obwohl sehr leidend, gab er doch dem Drängen whiggistischer Freunde nach und wurde auf einem stretcher (Krankenbahre) zunächst nach dem treppenhoch gelegenen treasury-office (Ministerialbureau) im Hause getragen. Als die Klingel im Saale zum ersten Male läutete, trug man ihn hastig bis zum Portale. Aber der „Whipper-in"

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London, 20. Juli

glaubte

n o c h diese S t i m m e e n t b e h r e n zu k ö n n e n . Z u r ü c k m a r s c h

nach

dem „offiziellen K a b i n e t t " , w o m a n ihn der Pflege des Arztes Agar-Ellis ü b e r g a b . D e n n o c h brauchte

m a n ihn a b e r a m Schlüsse und der L o r d

w u r d e in den Sitzungssaal g e t r a g e n . Z u s c h w a c h , zu stehen, oder aufrecht zu sitzen, legte m a n ihn a u f seiner M a t r a t z e an die Seite der schreib e n d e n C l e r k s , w o b e i er, der F o r m zu g e n ü g e n , seine H a n d nur a u f die L e h n e legte, um zu b e w e i s e n , „ d a ß der Platz besetzt s e i " . S o g a b er sein V o t u m . D i e s sind T a t s a c h e n . [Nr. 1 7 1 , 2 4 . 7 . 1 8 6 4 ]

Eine Woche der Verbrechen p* L o n d o n , 2 0 . J u l i Und ein D a m p f w ö l k c h e n steigt a m H o r i z o n t e auf! Was ist es

ihm?14

Viele D a m p f e r kreuzen sich ja a u f d e m O z e a n . A b e r das S c h i f f s c h n a u b t n ä h e r und der D a m p f e r ü b e r h o l t den Segler mitten a m s o n n i g e n J u l i t a g ! Und er wird bleich! U n d ein R u d e r b o o t k o m m t von d e m D a m p f e r herüber, n ä h e r und n ä h e r — Vergeltung rudert in den m u s k u l ö s e n A r m e n der ungeduldigen M a t r o s e n . U n d er sieht um sich die e r s t a u n t e n G e s i c h ter der M i t p a s s a g i e r e ! N o c h eine M i n u t e und er e r k e n n t im B o o t e das G e s i c h t eines alten Freundes, d e r a b e r finster b l i c k t . Und ein B e a m t e r in U n i f o r m springt an B o r d und eine H a n d legt sich a u f seine S c h u l t e r : „Franz des!"

Müllerl

Im N a m e n der K ö n i g i n , du bist v e r h a f t e t wegen

Mor-

— S o m a l t sich der G e d a n k e die Szene mitten a u f der A t l a n t i s c h e n

See. D e r M ö r d e r des M r . Briggs ist e n t d e c k t . Er ist ein D e u t s c h e r , namens F r a n z M ü l l e r , ein P o s a m e n t i e r seinem G e w e r b e n a c h und längere Z e i t Z u s c h n e i d e r in e i n e m G e s c h ä f t in der City. Seit m e h r e r e n M o n a t e n w o h n t e er in der V o r s t a d t B o w , nur w e n i g e H ä u s e r von der Polizeistat i o n , in d e m s e l b e n B e z i r k e , w o die U n t a t g e s c h e h e n a m 9. d . M . in einem E i s e n b a h n - C o u p e a u f einer in vier M i n u t e n d u r c h f l o g e n e n S t r e c k e . A m d a r a u f folgenden M o n t a g den 11. t a u s c h t e er die dem E r m o r d e t e n ger a u b t e g o l d e n e K e t t e bei einem J u w e l i e r n a m e n s „ T o d "

(!) u m .

Am

D i e n s t a g v e r p f ä n d e t e er die e i n g e t a u s c h t e und v e r k a u f t e das PfandleiherT i c k e t an einen Freund, einen deutschen Schneider, n a m e n s G o o d w i n . A m D o n n e r s t a g n a h m er A b s c h i e d von seinem W i r t e , M r . B l a k e , einem C a b m a n , und sagte: „Ich reise n a c h K a n a d a . " E r ließ ihm sein eigenes 14

A n a l o g i e zu „Was ist ihm H e k u b a ? " , vgl. A n m . zu Κ L o n d o n , 7 . J a n u a r 1 8 6 1 .

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Lichtbild zum Andenken und schenkte der kleinen Tochter des ihm nahe befreundeten Wirts mit einem Kusse ein kleines, buntes Schächtelchen, „um damit zu spielen". Und das Kind spielte bis gestern abend damit und zeigte es seinem Vater. Zufällig? Wer glaubt hierbei an Zufall? Und der Vater liest auf der Schachtel die Firma: „Tod (Death), Juwelier, Cheapside, City." Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erinnerung an einen Zeitungsartikel über den ganz London in fieberhafte Unruhe versetzenden Mordfall, deshalb noch nicht vergessen, weil er jedem EisenbahnPassagier das eigene Risiko vor Augen führte. Er eilt zu dem Juwelier. Dieser identifiziert die Schachtel als diejenige, in welche er die vertauschte Kette gepackt, und identifiziert in der Wohnung des Blake das Lichtbild des „unbekannten Geschäftskunden". Das geschah gestern, um 7 Uhr abends. Um 9 Uhr war die Polizei im Besitze aller Fäden. Sie hatte sogleich einen anderen Cabman verhört, der den Hut, welchen der Mörder in der Hast des Entspringens in dem blutüberströmten Coupe zurückgelassen, als den des ihm befreundeten Franz Müller erkannte, indem er auf dessen Bitte denselben „nach einer bestimmten Fa$on" bei einem Hutmacher früher gekauft hatte. Er erkannte den Hut an einem Flecken im Futter, der, als der Hut noch neu, von dem beschmutzten Daumen des Mörders an demselben verursacht wurde. Wie wunderbar und unerforschlich sind die Wege der Vergeltung. Der Mörder selbst hat alles getan, um jeden Zweifel an seiner Persönlichkeit, als der schuldigen, zu heben. Man ermittelte mit „ziemlicher" Gewißheit gestern abend, daß der Mörder nicht nach Kanada, sondern in dem Sege/schiffe „Victoria" aus den Themse-Docks die Reise nach New York angetreten. Bei dem günstigen Ostwinde, der seit mehreren Tagen herrscht, wird das Schiff einen bedeutenden Vorsprung ermöglicht haben; doch vertraut man auf die Leistungen eines Dampfers, der heute früh mit Polizei und Zeugen an Bord den Hafen von Liverpool verlassen. Irrt man sich nicht im Schiffe, und hat der Mörder nicht bloß eine Abreise fingiert, so hat er dennoch die Chance, in New York zu landen, ehe der Dampfer dort anlangt. In Voraussicht dieses Falles wohnte gestern abend der amerikanische Gesandte in London, Mr. Adams, den schleunigen Zeugenvernehmungen bei, die in mehreren Kopien stenographiert wurden, und fügte zu diesen Kopien noch Briefe an die Regierung der Vereinigten Staaten, behufs Assistenz bei weiteren Nachforschungen, Verhaftung und dann selbstverständlichen Auslieferung. Wie prompt auch die Polizei jetzt zu Werke gegangen, sie ist dennoch nicht von Vorwürfen freizusprechen, die daraus erwachsen, daß der Mörder noch 36 Stunden nach entdecktem

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Verbrechen bei dem erwähnten Juwelier, der ebenfalls nur einen Steinwurf weit von dem Mansionhouse, dem Palais des Lord-Mayors, dem Chef der City-Polizei, w o h n t , sich in aller R u h e eine Viertelstunde aufhalten und die geraubte Kette umtauschen konnte; denn dem Juwelier war noch nicht die geringste Anzeige von dem R a u b m o r d e gemacht worden! Als eine halbe Stunde später ein Polizeibeamter in dem Laden erschien, w a r der Vogel längst ausgeflogen. Und was dem Talent der gewiegtesten Agenten der Sicherheitsbehörden nicht gelang, das Spielen eines kleinen unschuldigen Kindes mit einem Geschenke des M ö r d e r s brachte alles „an die Sonne" 15. In seinen kleinen Fingern ruhte das entsetzliche Geheimnis vier Tage lang. L o n d o n zittert heut voll andächtigen Staunens über das w u n d e r b a r e Walten Gottes! — In höchst unrühmlicher Weise macht ein anderer „ L a n d s m a n n " ganz L o n d o n von sich reden. In einem deutschen Kaffeehause in dem berüchtigten Fremdenviertel Soho, im Mittelpunkte der Stadt, w o h n t e einige Wochen ein Deutscher, dem durch Spiel in jener Spelunke über 600 Lstr. abgeschwindelt w u r d e n . Darauf verstarb er, ohne dem Wirt den „Rest" seiner Zeche von 130 Lstr. zu berichtigen. Dieser, namens H e r r m a n n , verweigerte nun dessen Freunden und Verwandten die Auslieferung der Leiche und behielt dieselbe, im Sarge liegend, in einer Putzstube so lange, bis er vor den Polizeirichter zitiert w u r d e . Obgleich verurteilt, die Leiche herauszugeben, machte er noch so umfassende, mit englischen Advokatenkniffen gespickte Anschläge zu weitläufigster Appellation, d a ß ihm schließlich doch die verlangte Auslösungssumme des schauerlichen Pfandobjekts am vergangenen Sonnabend von den Verwandten des Verstorbenen ausgezahlt w u r d e . — Da es scheint, d a ß ich in meinem heutigen Briefe mich nur mit sozialen Lastern zu beschäftigen habe, e r w ä h n e ich aus einem Dutzend seit wenigen Tagen vorliegenden M o r d - , Totschlag- und Selbstmordfällen, einen der letzteren, der an zynischer Frivolität seinesgleichen sucht. Zwei junge D a m e n fanden bei dem Besuche eines Kirchhofes einen jungen M a n n in Z u c k u n g e n auf einem G r a b e liegend. Tötliche Vergiftung wurde konstatiert. Der Selbstmörder hatte diese auf dem G r a b e seiner eigenen M u t t e r verübt und m a n fand folgenden Brief, der an seine mit einem Kinde hinterlassene Frau gerichtet war: „Mein liebes Weib! Wenn Du diese Zeilen liest, so hat das Individuum, das sie geschrieben, sich schon die Freiheit g e n o m m e n , sich den zukünftigen Gesellschaftszu15

Vgl. das Gedicht „Die Sonne bringt es an den Tag" (1827) v. Adalbert v. Chamisso.

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stand anzusehen. Ich gehe, meine Mutter zu besuchen. Du bleibst zurück, nach dem Knaben zu sehen. Gott wird euch Freunde erwecken, Gott wird euch schützen. Siehst Du nun, wie Du Dich irrtest, als Du sagtest, ich hätte nicht die Courage, den Akt zu verüben, von dem ich Dir Winke gegeben. Ich glaube jetzt, was Shakespeare sagt, daß eine Methode im Wahnsinn ist. 1 6 Farewell dieser Welt. Seit unseren Jugendtagen, seit unsere erste Liebe zu der Zuneigung der Mannheit reifte und meine Liebe vom Knabenalter her das Gefühl des Mannes wurde — seit unsere erste Liebe geboren wurde, als wir Knabe und Mädchen zusammen waren, bin ich Dein gewesen; aber jetzt mache ich mich selbst zum Richter im Ehescheidungs-Gerichtshofe und jetzt verlasse ich Dich! Wie Eugen Aram bin ich der Vernunft gefolgt, nicht dem Laster; meine Fehler sind die des Kopfes, nicht die des Herzens! Bringe ja den Knaben in starken Gefühlen für Religion auf. Ich vernachlässigte diese Pflicht. James J . Trist. P. S. Ich gehe nach Runhead." (Zu Runhead, unweit Londons, befindet sich der Kirchhof.) Aufsehen macht auch die Ermordung eines Seemanns durch einen anderen auf dem englischen Schiffe „Norsem a n " . Der Mörder sprang über Bord, tauchte dann auf und rief den Leuten im Schiffe zu: „Ist N. tot?" — „Ganz t o t ! " war die Antwort. — „Gut!" Und damit tauchte der Mörder unter und ertränkte sich. — Halten Sie solche Fälle, wie die obigen, nicht für Seltenheiten. Im buchstäblichen Sinne bringt jede Woche ähnliche haarsträubende Dinge zutage und die „Presse der Gasse" macht brillante Geschäfte mit Sensationsartikeln, in denen sie sich schwelgerisch ergeht. [Nr. 175, 29. 7. 1864]

Abwälzungs-Versuche. Keine Hoffnung auf „Tu quoque" Mr. Lowes Rechtfertigung Der preußisch-englische Auslieferungs-Vertrag p* London, 27. Juli Mit einer Sorgfalt, die ungewöhnlich ist und auf einen bestimmten Plan hindeutet, exzerpieren jetzt fast alle Londoner Blätter alles, was „Le Pays" oder „La France" gegen Deutschland und Preußen insbesondere in ihren Leitartikeln bringen, und hoffen somit das auf Englands Politik 16

„Though this be madness, yet there is method in it" — Polonius in Shakespeares Hamlet II, 2.

London, 27. Juli

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Nemesis E m p e r o r o f France: " H r a ! Prussia is extending his frontier; why shouldn't I go to the R h i n e ? " King o f Italy: H a ! Austria is doing the same; why shouldn't I go to Venice?"

gefallene O d i u m unberufener E i n m i s c h u n g auf die Schultern der N a c h barn jenseit des K a n a l s gewälzt zu sehen. Bald „sind den Kabinetten von Berlin und Wien vielsagende W i n k e aus Paris z u g e g a n g e n " , bald herrscht in Paris der allgemeine E i n d r u c k , „ m a n stehe am Vorabend engster Allianz mit dem vielgeschmähten Albion P e r f i d i o n " , bald „steht im M o n i teur ein M a n i f e s t bevor, das sich auf gewisse mit dem Könige von Belgien gepflogene Diskussionen g r ü n d e " ; nach dem einen Bericht würde dieses M a n i f e s t jede A n m u t u n g einer Angriffspolitik desavouieren, nach dem andern dem an kaiserliche arriere-pensees (wegen des linken Rheinufers) glaubenden E u r o p a liebevolle V o r w ü r f e wegen dieses G l a u b e n s m a c h e n . S c h w e r g e k r ä n k t in ihren E r w a r t u n g e n , fühlte sich die Presse gestern früh über den verwunderten T o n des „ P a y s " , vor dem als gutem Schimpfer m a n hier verständnisinnigen R e s p e k t hat. Tags vorher hatte nämlich ein Offiziöser hier noch schreiben k ö n n e n : „Alles k o m m t jetzt a u f ein

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1864

intimes Einverständnis mit Frankreich an, und wir haben Grund zu hoffen", korrigiert sich jedoch diesen Morgen dahin: „Die nachträglichen Interpellationen im Oberhause, die auch ein Minister schon als ,Mostrich nach dem Diner' bezeichnete, sind nicht mehr von Vorteil. Da wir einmal entschlossen sind, uns jeder Einmischung zu enthalten, so laßt uns wenigstens die Wohltaten solcher Untätigkeit in Ruhe genießen." Der „Standard" schreibt: „Wahr ist es (!), nur kordiale Gemeinsamkeit zwischen Frankreich und England kann noch einen europäischen Krieg abwenden, aber unter Lord Russell müssen wir solche Kordialität fürchten. Wir kennen den Mann. Er wird weit eher die zeitweilige gute Laune des Kaisers durch eine niedrige Gefälligkeit erkaufen, als sich dessen Achtung durch eine freundliche Frankheit und würdevolle Politik zu gewinnen suchen." Ein Witzblatt, das seine Bewunderung für „soviel Sitzfleisch" nach so großer Blamage ausspricht, warnt Russell dennoch, sich der trügerischen Hoffnung hinzugeben, die französische Regierung werde seine Manöver in der dänischen Frage nachahmen und ihm den Triumpf gönnen, daß er einst sagen könnte: „Tu quoque" 1 7 , so daß er in Gesellschaft die Blamage leichter trage. — Was die gestrige Interpellation Lord Ellenboroughs über Schleswig-Holstein angeht, so war dies eben nur eine alte Rede. Sie sollte nämlich bei der „großen Debatte" im Oberhause gehalten werden. Der Lord wurde damals durch Krankheit verhindert, sich zu beteiligen, konnte sich jedoch nicht entschließen, das Manuskript dem Papierkorb zu überantworten. — Daß der Minister für Unterrichtsangelegenheiten Lowe vor kurzem resignierte, weil das Unterhaus eine Motion annahm, die auf von ihm „verstümmelte" Rapporte von Schulvorständen deutete, wurde Ihnen vielleicht seinerzeit bekannt. Das Unterhaus hat auf Antrag der Regierung und auf Grund vorgenommener Untersuchungen, welche das Unbegründete des Vorwurfs bewiesen, vorgestern jenen Parlaments-Beschluß revoziert. Damit ist Mr. Lowe eine seltene Ehrenerklärung geworden, wenn er auch für den abgegebenen Ministerposten ohne Ersatz bleibt. Es war dies alles ein nicht eben rühmliches Oppositionsmanöver gewesen, um so mehr, da sich erwiesen, daß Unterbeamte des Mr. Lowe Parlamentsmitglieder mit Aktenstücken gegen ihren Chef versahen. Mr. Lowe rügte dies damals schon mit den Worten: „Wenn dergleichen Dinge vom Parlamente begünstigt werden,

17

Zumeist zit. „Et tu, Brute?" nach Shakespeares Julius Cäsar, III, 1; vgl. auch Schiller Die Räuber, IV, 5, Römergesang: „Auch du — Brutus — du?"

355

L o n d o n , 2 7 . Juli

muß man in England das Beispiel der Vereinigten Staaten nachahmen und bei jedem

Ministerwechsel sämtliche

Beamtenstellen anders beset-

zen." — Die Debatte über den preußisch-enghschen

Vertrag zur

Ausliefe-

rung von Verbrechern wurde am Montage vertagt, als das Haus (ungeachtet der bereits erfolgten dritten

Lesung der Bill), indem es sich als

Details-Comite über dieselbe konstituierte, an dem Vertrage mit allen erdenklichen Verdächtigungen Preußens krittelte und in demselben eine Falle für „Englands Asylrecht" witterte. O b w o h l acht verschiedene Minister für die Bill sprachen, hielt die Malice der Herren Pope Hennessy, Ayrton u. a. doch derart an, daß Palmerston die Debatte vertagen ließ. Die Argumente der Gegner laufen darauf hin, eine Möglichkeit, politische Verbrecher unter der Firma Mörder, Diebe u.s.w. zu verfolgen, aus der Fassung des Vertrages zu konstruieren. Charakteristisch ist Mr. Ayrton (der bekanntlich Preußen den englischen Schutz für dessen sächsische Landesteile mißgönnt) mit folgenden Argument: „Ein Insurrektionsakt, mit Verlust von Leben begleitet, würde in England Mord

sein; also müß-

ten bei Geltung solchen Vertrages alle politischen Flüchtlinge ausgeliefert werden, deren Akte ungesetzliche, wenn verübt. Darum

gegen die Regierung Englands

muß die Bill gegen die Auslieferung solcher (also , M ö r -

der' nach englischer Definition sogar) politischer Flüchtlinge Schutz gewähren." — D a ß übrigens „Preußen" und „Klein-Deutschland" breits von der „Nemesis" ereilt worden, können Sie aus den gestrigen und heutigen Zeitungen lernen. Die Rendsburger Affäre macht die Editoren alle seelenvergnügt, und voll kindischer Schadenfreude prophezeihen sie bereits „ C h a o s " . Ein Blatt erinnert an die Worte der vorläufig eingegangenen „Eule": „Lieber Knabe Russell! Führe für Deutschland gegen ßen Krieg, das kann

Preu-

eine Politik sein!" Und der „Daily Telegraph" glaubt

deutsche Gemüter „zur gerechten Entrüstung" zu entflammen, indem er diesen „beweist", Preußen wolle zunächst

Schleswig für 35 J a h r e behal-

ten (!), als Unterpfand für Kriegsauslagen, von denen es die auf Osterreich fallenden diesem jetzt in Wien versprochen habe aus seiner Tasche sofort zu „ersetzen". Diese Ziffer 35 enthält das Blatt auf folgendem Wege: „Nach niedrigster Schätzung beläuft sich die Kriegsauslage für Schleswig-Holstein auf 35 Millionen Taler. Die bisherigen aus Schleswig bezogenen Revenüen belaufen sich nur auf ungefähr 1 Million jährlich." Also soll die „Verpfändung" 3 5 J a h r e dauern, bis der letzte Sechser bezahlt ist. Das Blatt hätte ebensogut 99 J a h r e nennen können, denn man bezahlt Schulden in solchen Fällen nur mit den „Überschüssen aus Revenüen", nicht mit deren Totalsumme. D a ß die Presse nicht die Partie der

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1864

hannoverschen Truppen nimmt, ist zu verwundern; freilich kann sie „nach eigenem Zugeständnis" das bekannte Impromptu des Sängers „Niemann" auf dem hannoverschen Hof-Theater: „O stolzes England, schäme dich!" bis heute nicht vergessen. [Nr. 177, 31. 7. 1864]

Parlament und Parlamentchen in der Krisis p::' London, im Juli Viele englische Blätter besprechen den Stillstand, zu welchem die Konflikte im belgischen „Parlament" gekommen, mit dem kühlen Amüsement eines Advokaten, der auf die Lösung eines kritischen Falles neugierig ist. Indessen werden sie ihre Weisheit am eigenen Fleische beweisen müssen. In Kanada ist eine parlamentarische Krisis ausgebrochen, und die Regierung zu London wird um Abhülfe angegangen. Ober- und Nieder-Kanada, deren jedes eine gleiche Anzahl (65) von Deputierten zu stellen hat, können sich nicht länger selbst regieren in dieser Weise und haben es eingesehen; denn alle Stimmen von Ober-Kanada votieren gegen alle Stimmen von Unter-Kanada und umgekehrt. Resultat — Stillstand und vier kanadische Kabinettswechsel in 2 Jahren. Die Bevölkerung Ober-Kanadas ist englisch, die Unter-Kanadas ist französisch. Beide Rassen hassen sich so gründlich, daß erst vor einem Jahre bei einem gemeinsamen Manöver der Rifle-Volontärs die wechselseitigen Scheinangriffe in der Hitze des Gefechts sich teilweise zu ernstlichen mit Bajonett und Kugel verwandelten und, unter gewissen Umständen, sich dort Östlinger und Westlinger so gegenüberstellen würden, wie in den Vereinigten Staaten des unvereinigten Nord-Amerikas Nördlinger und Südlingen Ober-Kanada ist protestantisch und begreift schottische Presbyterianer, englische Episkopalen und Dissenters (die Bekenntnisse von Calvin, Knox und Wesley) in sich; Unter-Kanada ist römisch-katholisch unter französischer und irischer Geistlichkeit. In Ober-Kanada ist der Grund und Boden, dem Kolonisationsprinzip gemäß, „unruhig", in Unter-Kanada herrscht die altfranzösische Anhänglichkeit an den Grundbesitz, welche in modernen Wörterbüchern als Feudalismus verunglimpft wird. Ober-Kanada hat fünf Neuntel der Gesamtbevölkerung, Unter-Kanada hat drei Fünftel des Landes inne. Jenes hat den Urwald, dieses hat die Städte Quebeck und den ergiebigsten Teil des Lorenzostromes. Das Gesetz Ober-Kanadas ist das Englands vor 1774, das Gesetz Unter-Kanadas

L o n d o n , im J u l i

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ist im Grunde das altfranzösische des Zeitalters Ludwigs des Dreizehnten. Nur in Nebendingen wurden allmählich Ähnlichkeiten vereinbart, als die Union der beiden Kanadas erfolgte; aber bis heute dauert die Unzufriedenheit mit einem Statute Georgs des Vierten, welches an dem alten Verhältnisse zwischen seigneur und tenant rüttelte. Ober-Kanada, flach und offen nach den benachbarten Yankees zu, Unter-Kanada ist bergig und besser für Verteidigung geeignet. Die 65 Deputierten des ersteren sind Demokraten mit patentierter Lippen-Loyalität, die 65 des letzteren sind wesentlich konservativ, unter dem Namen „les bleus". Ersteres war bankerutt, als das Ministerium Wellington die Union durchsetzte, letzteres hatte geringe Schulden; jetzt seufzen sie beide unter solcher Last. Dies die Gegensätze und Gründe, weshalb der Parlamentarismus dort Fiasko gemacht. Die englische Regierung soll um Repeal (Auflösung) der Union angegangen werden. Darüber sind beide Teile einig. Ober-Kanada begehrt eine Landesvertretung nach der Kopfzahl der Bevölkerung. Darin sind beide Teile noch uneinig. Ein Mittelprojekt ist, Kanada in drei Teile zu teilen, in West-Kanada mit der Hauptstadt Toronto, Ost-Kanada mit der Hauptstadt Quebeck und Zentral-Kanada mit Ottawa als Hauptstadt. Der Verband soll nur ein Föderalismus werden, wie der zwischen den einzelnen Yankee-Staaten, und die übrigen Teile des britischen Nord-Amerika, wie Columbia, Vancouvers-Island, Nova-Scotia, Neu-Braunschweig sollen zum Beitritt zu diesem neuen Organismus eingeladen werden, für welchen sich die beiden letztgenannten bereits günstig ausgesprochen haben. Die Vorlagen an das Kabinett des „Mutterstaates" England sollen bis nächstes Frühjahr zubereitet werden. Der „Mutterstaat" hat jetzt auch ein dreifaches parlamentarisches Zetergeschrei aus Australien, wo man für fernere Verbrecher-Transporte dringend dankt, und den parlamentarischen Zwist an dem Cap der guten Hoffnung zu beschwichtigen, wo die Ost- und die West-Provinz sich gegenseitig den Parlamentssitz mißgönnen und den britischen Gouverneur als „Tyrannen" verwünschen, je nachdem er sich dem Osten oder Westen mit seinen Begünstigungen zuneigt. Außerdem liegt die Regierung in kleiner Fehde mit dem „Parlament" der normannischen Insel Jersey, die sich ebenfalls „selbst regiert", infolge einiger von London aus bezweckter Reformen der französischen Legislatur der Insel, die ein eigentümlich organisiertes College de juges ist und den „reinen" Parlamentaristen nicht behagt. Im Konflikt ist auch das Gesetz mit dem kleinen Parlament der Insel Man im irischen Kanal, dem House of Keys (Hause der Schlüssel), einer Art ständischer Versammlung aus 24 Grund-

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1864

besitzern bestehend, welche sich selbst wählen und sehr erbittert sind, weil die Regierung die Freilassung eines Zeitungsredakteurs befahl, den das Haus der Schlüssel vor seine Barre gefordert und wegen Verhöhnung des Hauses zu sechsmonatlicher Haft verurteilt hatte. Erwägt man nun noch, daß das unierte Irland im Parlament ein Dorn im Fleische geworden, daß die Irländer immer von der Überzahl der verhaßten Angelsachsen überstimmt werden, so fehlt nur noch eine neue irische Repeal-Bewegung, für welchen Zweck sich bereits eine konservative Irische Ligue in einem Palast zu Dublin gebildet hat, und das parlamentarische Gemisch ist fertig. Irland kann nicht mehr „vertuscht" werden. Sagt doch selbst ein offiziöses Blatt: „Wir müssen gestehen, Irland ist seit der Union so infam (infamously) wie möglich regiert", und der toryistische „Standard" schrieb erst kürzlich: „Wir behänden Irland, als wollten wir sagen: Will es zum T — gehen, so laßt es." [Nr. 1 7 7 , 3 1 . 7. 1 8 6 4 -

Beilage]

[Die wahrheitsliebende Times] Man schreibt uns aus Schleswig [1. August]: ( * t * ) Die preußischen und österreichischen Truppen werden nicht ohne Interesse erfahren, daß sie Ende März eine Schlacht gegeneinander geschlagen haben. Schon damals brachte „Dagbladet" die näheren Angaben. Die Feindschaft zwischen den Alliierten war schon lange so groß, daß die Offiziere niemals an demselben Tisch miteinander essen wollten. Endlich kam dieser H a ß zum vollen Ausbruch. Man hörte zu Fridericia, in der Gegend von Erritsöe, Gewehrfeuer, ja Kanonendonner, und die Bewohner des Ortes, welche ja Augenzeugen gewesen sein mußten, geben, wie das Blatt wohlwollend bemerkt, „wahrscheinlich übertrieben", den Verlust auf 3 0 0 0 Mann an. Alle diese Leichen wurden indes in der Stille eingescharrt. Die offiziellen Stärke-Rapporte, welche den Verlust nirgends angeben, sind natürlich gefälscht, Orden für besondere Auszeichnungen in diesem Kampf wurden vermutlich nicht verliehen; und da dänische Blätter nur dänische Leser haben, so wuchs Gras über die ganze Begebenheit. Die Schlacht von Erritsoe wäre beinahe für die Kriegsgeschichte verloren gegangen. Glücklicherweise zieht nun aber der T/raes-Korrespondent in einem Schreiben vom 18. d . M . die Sache ans Licht. Wir empfehlen, die näheren Details im City-Blatt vom 25. d . M . nachzulesen. Unter anderm erfährt Feldmarschall-Lieutenant v. Gablenz,

London, 6. August

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daß er sich mitten in den Kampf geworfen hat, um die Parteien zu trennen. Da Korrespondent der alliierten Armee den Vorzug seiner Anwesenheit in Kolding schenkt, so ist nur zu beklagen, daß er nicht die zwei Meilen nach Erritsoe hinausgefahren ist, um an O r t und Stelle das Schlachtfeld zu studieren. Eine photographische Aufnahme der frischen Gräber würde den „Illustrated N e w s " willkommen gewesen sein. Wie im Zeitalter der Eisenbahnen und Telegraphen, der Öffentlichkeit und Preßfreiheit ein Faktum von solcher Bedeutung so lange hat vertuscht bleiben können, ist nicht zu erklären. Noch schwerer zu begreifen ist aber, wie die Times ihrem Lese-Publikum bei aller zugestandenen Unwissenheit desselben über auswärtige Verhältnisse solche

Albernheit bieten

darf. Hübsch ist übrigens die Art, wie solche Dinge gehandhabt werden. Die dänische

Zeitung erfindet eine Begebenheit, welche auf die völlig

haltlos gewordenen Verhältnisse im Innern der alliierten Armee das grellste Licht wirft. Unglücklicherweise laboriert diese sonst

interessante

Darstellung an einem solchen Grade von Unwahrscheinlichkeit, und leider ist die volle Unwahrheit derselben so leicht zu konstatieren, daß denn doch bei aller Freundschaft kein gleichgesinntes Blatt es auf sich nehmen mag, die Sache weiter zu verbreiten. Diesen Dienst leistet erst 4 M o n a t e später ein englischer

Korrespondent. O b w o h l zur Stelle, gibt

derselbe sich nicht die M ü h e , auch nur eine Spur des Vorganges, über den er berichtet, zu entdecken, einen Augenzeugen aufzutreiben von den Hunderten von Landbewohnern, welche denselben gesehen haben müßten. Er reproduziert nur die Angaben des „Dagbladet", und nun

„Dagbladet" liebenden

die Bestätigung seiner Erfindung aus der großen,

schöpft

wahrheits-

Times. [Nr. 179, 3. 8. 1864]

Ferien. Alles angelt und jagt Brüderschaft von St. Patrick oder die Fenians Die amerikanischen Bischöfe und die „Essays und Reviews" p::' London, 6. August „ J o h n Bright hat schon vier schottische Lachse geangelt", so meldet uns sein Moniteur, der „Star", und Mr. Baß, M e m b e r of Parliament, steht ihm bei. Mr. Baß ist der größte Ale-Brauer von England, also kann der Fisch schwimmen. Diese Formel des Vergnügens umschließt die parla-

360

1864

mentarische Tätigkeit w ä h r e n d der langen Ferien. Tories und Whigs angeln, r u d e r n , b a d e n und schießen, d. h. letzteres erst nach dem 12. August, von welchem Tage an alles, was da kriecht u n d fliegt, in den Bergen von Wales und Schottland n u r auf die P a r l a m e n t s m ä n n e r w a r t e t , u m sich totschießen zu lassen. Auch nach Süden (d. h. Paris a u s g e n o m m e n ) m a c h t das Ober- und U n t e r h a u s seine Spazierfahrten, um in Florenz und Neapel M a c c a r o n i zu essen, oder sich in Ischia die Stelle anzusehen, w o G a r i b a l d i seine Pfeife a u s z u k l o p f e n pflegte. Auch unser Kabinett geht auf Reisen. N u r der Marineminister, H e r z o g von Somerset, hat Geschäfte im Vergnügen, d. h. er hat eine Rundreise nach den südlichen und westlichen H ä f e n zu m a c h e n , wobei dieses Mal Irland nicht übergangen wird. P a l m e r s t o n wird an zwanzig O r t e n e r w a r t e t , zuerst in B r a d f o r d , dessen A r b e i t e r b e v ö l k e r u n g beschlossen h a t , den Premier bei d e m Meeting mit „ i m p o s a n t e m Stillschweigen" zu strafen und über keinen Witz zu lachen, alles, weil er das „Wahlrecht" nicht als ein „Recht", sondern als ein „ V e r t r a u e n s p f a n d " im P a r l a m e n t e bezeichnet h a t . Z u nächst hat er noch verschiedene Diners hinter sich zu bringen. Der LordM a y o r hat, wie Sie bereits gemeldet 1 8 , seine Schuldigkeit getan im vollen H o f s t a a t seiner A l d e r m e n . Auch die „Fischhändler" feierten „old P a m " und Kollegen, wobei, wie bei eingeladenen Virtuosen, natürlich ein „Red e r e d e n " von den Gästen e r w a r t e t w u r d e . D a , wie b e k a n n t , Palmerston sich und Russell mit einem W u n d e r k i n d e im Besitze zweier Köpfe verglichen hat, so leisten sie auch die Arbeit des Vergnügens mit wechselseitiger E r g ä n z u n g ihrer Talente. M a c h t der erstere einen guten Witz, so gibt der a n d e r e darin ein abschreckendes Beispiel; e r t r ä n k t der erstere alle Politik in C h a m p a g n e r , so m a c h t letzterer die H ö r e r nüchtern d u r c h die Versicherung, welche würdevollen Leute alle Engländer seien, die ihn nicht an seine ehemalige Tändelei mit „ R e f o r m " erinnerten. Im übrigen hat m a n jetzt auch an Wichtigeres zu d e n k e n . Wenn in Kent bereits ein Eimer frischen B r u n n e n w a s s e r s mit 6 Pence (5 Sgr.) bezahlt w e r d e n m u ß , h ö r t die Gemütlichkeit auf. Selbst die See-Grafschaften C o r n w a l l und D e v o n s h i r e sind ausgedörrt; Yorkshire bittet u m Regen; Suffolk und N o r f o l k h a t t e n ein wenig d a v o n , aber dürsten nach viel mehr; Essex ist versengt, u n d in Kent mästet m a n Stiere mit H e u u n d Ö l k u c h e n . Der rote Rost ist im Weizen in Berkshire, u n d die Ähren w e r d e n schon zur Streu verwendet, w ä h r e n d im N o r d e n der schwarze W u r m seine Verhee-

ls

D a s L o r d - M a y o r s - D i n c r , in: Nr. 177, 3 1 . 7 . 1864.

362

1864

rungen anrichtet. Manche Preise sind schon um 20 pCt. gestiegen. Die nächsten vierzehn Tage können noch retten oder alles verderben. Z w a r haben wir täglich viel Gewölk am Himmel, aber der Abend k o m m t ohne einen Tropfen Regen seit fast drei Wochen. In Liverpool und Umgegend ist die Wutkrankheit unter Vieh und Hunden epidemisch aufgetreten, und unsere Morgenblätter entsetzen das Publikum mit langen Artikeln über Wasserscheu und die dagegen anwendbaren Vorkehrungsmaßregeln. — In voriger Woche hatten wir hier ein großes Meeting von Irländern. Pater Lavelle, der sich der rebellischen Assoziation der Fenians angeschlossen, dann dieserhalb nach Rom zitiert wurde, aber bei seiner Rückkehr die ihm auferlegte Revokation so verstümmelte, daß alle Fenians in Bravos ausbrachen, erweitert den Bruch mit seinem Klerus durch agitatorische Rundreisen in Irland, Schottland und England, überall wo die Fenians oder die Brüderschaft von St. Patrick ihre öffentlichen Clubs halten. In jenem Monstermeeting zu London in voriger Woche, wo er gegenwärtig verweilt, wurde offener Aufruhr gepredigt. „Man müsse die Unabhängigkeit Irlands nicht mehr mit Worten, wie der Milch- und Wasser-Politiker O'Connell einst versucht, sondern mit Blut herbeiführen." So lautete eine Resolution. Eine andere lautete auf „keine Ruhe, bis die Angelsachsen den ersten Edelstein der See aufgegeben". Pope Hennessy vom Unterhause sollte als Chairman fungieren, ließ sich aber nicht blicken, sondern durch einen Stiefcousin gleichen Namens vertreten. Die Brüderschaft von St. Patrick zählt unter den 600.000 in London lebenden Irländern gegen 20 Vereine mit einem Central-Comite, das wieder unter dem Generalkommando der Haupt-Fenians zu Chicago in Nordamerika steht. Ihr Londoner Organ, der „National-Liberator", mit Harfe, Schwurfahne und einem Diminutiv-Jakobinerkäppchen „im Kopfe" und redigiert von einem Ex-Presbyterianer Dr. David Bell, publiziert Manifeste an die „Arbeiter Englands", alles Festhalten an Unterschieden des Glaubensbekenntnisses als freiheitsschädlich bezeichnend und zur gemeinsamen Operation mit den „irischen Arbeitern" auffordernd, die ja so vielfach in englischen Arsenalen, Docks u.s.w. beschäftigt, „also dereinst am großen Tage alles nahe zur Hand hätten". In Liverpool, wo jeder fünfte Mann ein Irländer, in Manchester, in Glasgow, Edinburg u.s.w. hat diese Gesellschaft Zweigvereine und publiziert wöchentlich deren Verhandlungen. Appells an die Irländer in Armee und Flotte sind schon älteren Datums, sowie, daß in Irland selbst in Meetings die Hörer „bearbeitet" werden, nicht mehr den „Schilling der Königin"

London, 6. August

363

zu nehmen. Dies spielt schon seit einem Jahre. Die Organe dieser Radikalen verkünden offen die Befreiung Irlands „von jenseit des Ozeans". Natürlich kümmert sich kein Mensch darum. John Bull hält dies alles für Seifenblasen und er hat vielleicht recht, solange zwischen hier und „drüben" nichts Unangenehmes passiert. Dennoch aber kann dieses sinnlose Wühlen zu großem Unfug führen, und die wirklichen irischen Patrioten beklagen es laut in der irischen Presse, daß dadurch die ernsthafte und gesetzliche Arbeit der Repeal-Ligue zu Dublin nur erschwert und verkümmert wird. Führer dieser Ligue sind Martin und O'Sullivan, letzterer Mitglied des Stadtrats von Dublin und von manchen alten Familien, wie den O'Donoghues in ihren Bestrebungen unterstützt, die, wenn überhaupt, nie unter Whigs, doch vielleicht unter einem Tory-Kabinett in England wenigstens Beachtung finden könnten. Denn ein Wachsen der irischen Schuld seit der Union von 5 auf 160 Millionen, ohne daß das Land mehr als 8 davon genossen, ist allerdings ein Argument, das selbst nicht ganz verhärtete Staatsjobber rühren dürfte. Nur der reine Whig ist Wallfisch das ganze Rückgrat entlang, wie Lord Byron von solcher irischen Politik gesagt haben soll. Der letzte Überlebende aus dem ehemaligen irischen House of Commons ist der 90jährige Sir Thomas Staples. Man setzte ihn bei Eröffnung der diesjährigen exklusiv irischen Industrieausstellung zu Dublin auf den aufbewahrten goldenen Stuhl des ausgestorbenen Sprechers von 1801. Der letzte Lord des irischen siebenhundertjährigen House of Lords war der Marquis von Charlemont, verstorben in diesem Frühjahr. Jetzt tagen Bank-Clerks an ihren Pulten im Parlamentsgebäude. — Das Handelsministerium hat die Eisenbahn-Direktionen aufgefordert, Vorschläge zur Verhütung von Verbrechen in den Coupes einzureichen, namentlich über die Art und Weise, wie Passagiere im Fall der Gefahr mit den Schaffnern kommunizieren könnten. — Die neueste amerikanische „Post" bringt Neuigkeit von einem wichtigen Schritte der amerikanischen Bischöfe. Mit einziger Ausnahme desjenigen von Maryland haben sich sämtliche Bischöfe für die Oxforder Definition der kirchlichen Dogmen entschieden und lassen Zirkulare zur Unterschrift unter der Geistlichkeit ihrer Diözesen umgehen. Ihre Deklaration gegen die „Essays and Reviews", die bekanntlich von der Konvokation der geistlichen Parlamente zu Canterbury jüngsthin kondemniert wurden, trägt die Unterschriften der Bischöfe Dr. Brownell (Connecticut), Bichofspräsident, Dr. Hopkins (Vermont), Dr. R. B. Smith (Kentucky), Dr. Mac Ilvaine (Ohio), Dr. Jackson Kemper

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1864

(Wisconsin), Dr. Mac Eoskry (Michigan), Dr. de Lancey (West-NewYork), Dr. Lee (Delaware), Dr. Eastburn (Massachusetts), Dr. Chase (New Hampshire), Dr. H a w k s (Missouri), Dr. Burgeß (Maine), Dr. Upford (Indiana), Dr. Williams (Assistenz-Bischof von Connecticut), Dr. Whitehouse (Illinois), Dr. Lee (Iowa), Dr. Potter (New-York), Dr. Odenheimer (New Jersey), Dr. Bedell (Assistenz-Bischof von Ohio), Dr. Whipple (Minnesota) und die der Bischöfe Southgate und Talbot. Der Bischof von Maryland (Dr. Whittingham) lehnte die Unterschrift ab, weil, obwohl mit der Substanz der Erklärung einverstanden, er solche Dinge „synodisch" und nicht im Privatwege und unter isolierter Tätigkeit einzelner behandelt wissen wolle. Das Dokument ist an den Erzbischof von Canterbury abgegangen. [Nr. 185, 10. 8. 1864]

Heuchelei hüben und drüben Etwas vom „toten Mann" Irland und die O'Connell-Feier p* London, 11. August Obwohl ein Teil der Presse sich ein Vergnügen daraus macht, über französische Heuchelei zu spotten, indem einzelne Pariser Journale die Miene annähmen, „als seien sie allen Ernstes mit der französischen Politik in Sachen Dänemarks unzufrieden", so vergißt man dabei den Balken im eigenen Auge ohne Zweifel. Was ist es denn anders, als Heuchelei, was unsere Pennyblätter Dinge schreiben läßt, wie: „Die Geldfrage ist von der Konferenz höchst unbillig entschieden, soweit sie die Herzogtümer angeht", oder wenn sie spricht „von dem zu Erwartungen berechtigten und beiseite geschobenen Herzog von Augustenburg". Die Absicht dieses Putschens ist zu unverkennbar, um mißverstanden zu werden. Man hält hier immer mehrere Eisen im Feuer fertig, wenn eine politische Frage frisiert werden soll. Wird das eine kalt, so muß das andere an die Reihe. „Kannst du nicht weiß schneien, so schneie braun", rief ein englischer Schauspieler „in einer Winterlandschaft" dem verlegenen Maschinisten zu, und so half sich dieser mit Löschpapierfetzen. Unsere Friedensleute ä tout prix fühlen sich sehr unbehaglich, daß die Welt sie nicht in Ruhe lassen will, obwohl man doch sonst alle Fühlhörner eingezogen. Die Schwierigkeiten mit der Hohen Pforte wegen der Missionare, sowie die

London, 11. August

365

Differenz mit Abraham Lincoln über das Pressen britischer Untertanen zum Kriegsdienst, diese erhalten alle Politiker in Atem. Selbst den Manchesterleuten erscheint denn doch das neue Abkommen mit der Pforte, das der Gesandte Sir Henry Bulwer zustande gebracht, weniger als ungenügend. Daß den Geistlichen das Predigen an öffentlichen Plätzen verwehrt bleibt, sowie die Kolportage der Bibeln und Missionsschriften, erregt hier große Unzufriedenheit. Sir Henry Bulwer hat nur durchsetzen können, daß die Verkaufshäuser der Bibelgesellschaften wieder vom Siegel befreit und daß in „christlichen Bethäusern" auch Muhamedanern gepredigt werden darf. Er hat sich sogar der Bedingung gefügt, daß alle Konvertiten „ihrer eigenen Sicherheit wegen" Konstantinopel verlassen müssen und in einer britischen Konsularstation in der Provinz zeitweilig interniert werden, wogegen die Pforte es übernommen, inzwischen für die zurückbleibenden Familien zu sorgen. Die Blätter klagen über die Verletzung des Humayum, des Edikts von Gulhane und eines den englischen Missionaren günstigen Ferman Abd ul Medschids. Einige zweifeln auch, ob man Sir Henry Bulwers Abkommen so ohne weiteres hier ratifizieren werde. — Was die Differenz mit den Vereinigten Staaten (Nordseite) betrifft, so scheint ziemlich sicher, daß Lord Russell auf die von Lord Lyons eingegangenen Berichte hin nur Geldentschädigung für die solange ihrer Freiheit beraubten und nach erfolgter Reklamation „mit Kleestengeln und unreifen Äpfeln genährten, auch in Ketten zurückgeschleppten" Untertanen der britischen Krone gefordert habe. Ob das Lincoln abschrecken wird, wenn er wieder Menschenkinder aus der Erde stampft, sich an Engländer, Schotten oder Iren zu vergreifen, muß dahingestellt bleiben. „Die Tage waren, wo wir noch ernstere Satisfaktion verlangten, sogar für einen Juden, wie den Pacifico", klagt der „Standard", „wir zweifeln, ob Lord Russell Mut genug haben wird, auf Bestrafung der nächstbeteiligten Menschenräuber zu bestehen." — Unsere Sportsmänner fühlen eine gewisse Unruhe in betreff ihrer Nachbarn jenseit des Kanals, weil bei dem letzten großen Rennen zu Brighton und bei dem Goodwood-Rennen in Sussex wiederum französische Pferde den Preisbecher davongetragen. — Vor den Assisen zu Chester wurde am Montag eine der Bigamie angeklagte Frau freigesprochen, weil sich herausgestellt, daß sie nur einmal getraut, aber zweimal von Hand zu Hand, mit einem Strick um den Hals, zum Kaufpreise von einem Shilling verhandelt worden. Samuel Thompson kaufte sie von Thomas Parkes, dem ersten Ehegatten, und Henry Noon wiederum von Samuel Thompson.

3 66

1864

Dies ist das entsetzliche Seitenstück zu dem Vorfalle zu Armagh in Irland, wo am 19. vorigen

Monats

ein M a n n Namens Brien seine Frau,

„um der Form zu genügen", an einem Halsstricke auf den öffentlichen M a r k t führte und verauktionierte. Sie wurde „ungeachtet ihrer Trunksucht" von Peter Gunyan mit einem Pfund Sterling erstanden. „It is bad, Sir, but is the law of c u s t o m " , so lautet die landläufige Entschuldigung. Wenn dergleichen „Respekt vor Gesetz oder Gewohnheitsrecht" genannt wird, müßte man auch Fetisch-Anbeter als respektable Dissenters betrachten. — England ist um eine ganze Grafschaft größer geworden. M a n hat dieselbe dem Meeresboden abgerungen, Schritt für Schritt, wie die Holländer es in ihrem Lande getan. Das neue Land liegt am oder besser im Ende der großen Meeresbucht an der Ostküste, welche auf den Karten

mit

„the W a s h "

bezeichnet

ist. Unergründliche

Sümpfe,

über-

schwemmte Dünen, oft tiefer unter Wasser, als je zwischen Sylt, Föhr, Amrum und der schleswigscben Westküste geflutet, das war alles, was bisher davon vorhanden. Städte und Dörfer werden dort in wenigen Jahren stehen. Die neue Gesellschaft erhält den Namen

Victoria-County

und man beabsichtigt, noch viele tausend Morgen Landes mehr dem tiefern Wasser abzuringen. — O b w o h l mit Gefühlen von Eifersucht, trifft man doch in England schon Vorbereitungen auf die neue Exhibition",

„International

welche im nächsten Frühjahr zu Dublin eröffnet wird. Be-

reits sind aus Belgien, Österreich, Italien, Spanien und namentlich Frankreich große Anmeldungen von Ausstellungsgegenständen zugesagt. Prinz Napoleon will der an ihn ergangenen Einladung folgen und der Eröffnung beiwohnen, sowie die französischen Sektionen unter seine besondere Protektion nehmen. Der Industriepalast wird, den Plänen zufolge, das Londoner Ungetüm von 1 8 6 2 , das wegen seiner Geschmacklosigkeit bis heute nach dem Erbauer „Fowkes Scheune" genannt wird, wenn nicht an G r ö ß e , so doch an architektonischer Schönheit übertreffen. Die Idee entsprang der Sensation, welche die ausschließlich irische Ausstellung zu Dublin in Großbritannien hervorgerufen. Die hiesige Presse hatte dafür gesorgt, daß Irland nur als das Land der Bog-trodders (SumpfTreter) von der industriellen Welt betrachtet wurde. Jene irische Ausstellung brachte aber nicht weniger als 3 0 0 0 Proben von Metallen und Steinarten, darunter die kostbarsten M a r m o r p r o b e n , Silber, Kupfer, Blei, Schwefel, Eisen und Steinkohlen,

von deren Existenz hier man nichts

wissen wollte, obwohl nach neuesten Forschungen die dortigen Lager hinreichen würden, den ganzen Kontinent auf Jahrhunderte zu versor-

367

London, 11. August

gen. Aus Mangel an Kapital ist fast kaum ein Dutzend Metall- oder Kohlengruben bereits in Angriff genommen. Jene Ausstellung war ein großer schweigender Protest gegen unermeßliche Unbill der Verleumdung. Daran schlossen sich Darlegungen, daß Irland allein im Westen mehr größere und sichere Häfen — aber öde und verlassen — besitzt, als ganz England, Häfen, die außerdem durch von Natur schiffbare Flußkanäle mit Hunderten von Seen bis tief ins Land in Verbindung stehen. Die Erwerbslust ringt noch in England mit der alten Eifersucht, aber doch wird man in diesem Punkte den alten Wahlspruch O'Connells: „Gerechtigkeit für Irland", zur Wahrheit machen, welchem durch die Übersiedelung der absentees (d. h. des Adels und der Gentry) seit 1801 über 3 6 0 Mill, an außer Land verzehrten Revenüen entzogen worden. Die alten Familienpaläste in Sackville-Street, der imposantesten Straße Europas nach Berichten englischer Reisender, werden im nächsten Frühjahr wieder auf einige Zeit geöffnet werden. Irland hofft viel von jener Ausstellung, die in der Tat diesmal einen höheren Zweck hat, als den des Breitmachens pompösen Materialismus, nämlich auf die Rettung eines ganzen Landes aus perennierender Verkommenheit die Augen und das Kapital Europas

zu lenken, sollte auch das englische,

um aus Herrn Reichen-

heims Kammerrede von 1860 oder 1861 zu zitieren, sich wie „ein schüchternes R e h " verhalten. Da ich eben von Irland spreche, sei erwähnt, daß die O'Connell-Demonstration zu Dublin am Montage, bei Gelegenheit der Grundsteinlegung zu seinem Denkmale, nicht weniger als 2 0 0 . 0 0 0 Personen zu einer Prozession vereinigte. Alles wanderte mit: Lordmayors, Mayors, Beamte, Polizei, Gewerke, die niedere

katholische

Geistlichkeit, die Karmeliter und andere Mönchs-Orden, auch gegen 10.000 Frauen zu Fuß oder in Equipagen; mehrere tausend Landleute erschienen zu Pferde. Die Feier galt mehr O'Gonnell dem Katholiken

als

dem Repealer. Z w a r führte man auf hohen Wagen die beiden „leeren" goldenen Sessel der Sprecher des ehemaligen irischen Hauses der Lords und dessen der Gemeinen, sowie das Bild der Bank von Irland (es ist dies das ehemalige Parlamentshaus) auf vielen Fahnen; zwar trug jeder der 2 0 0 . 0 0 0 eine breite grüne Schärpe, unter den zahllosen grünen Fahnen trugen manche die Inschrift „Weh' um die Schwerter der alten Tage", und tausend „weinende" Erins stützten sich auf zerbrochene Harfen in den flatternden Bannern —; aber dennoch hatten die kirchlichen

Em-

bleme die Oberhand. Unter diesen waren lebensgroße Bildnisse des National-Heiligen St. Patrick, Bilder Pius des Neunten, mitunter mit dem

368

1864

O ' C o n n e l l s z u s a m m e n , beide die irische H a r f e haltend. Bischofsbilder, M i t r e n , Kreuze, M a r i e n b a n n e r an vergoldeten Lanzen begegneten dem Auge überall. D e r L o r d m a y o r von Dublin M a c Swiney fuhr in einer Karosse mit Vieren — (Viergespanne w a r e n überhaupt in reicher M e n g e vorhanden) — welche 3 0 0 J a h r e alt und ganz vergoldet ist. Ein Viergespann trug einen Barden im altirischen K o s t ü m mit einer goldenen H a r f e „ohne S a i t e n " . Viele Frauen trugen ebensolche leere H a r f e n oder mit zerrissenen Saiten. Bei d e m folgenden B a n k e t t wurden von zwei Erzbischöfen Reden gehalten, O ' C o n n e l l als den bezeichnend, der die Katholik e n - E m a n z i p a t i o n für ganz Britannien und Irland durchgesetzt; ebenso folgten Reden eines noch lebenden Bruders des Agitators, J a m e s O ' C o n nell, und seines Gefängnisgenossen Sir J o h n Gray. W ä h r e n d des ganzen Tages blieben alle Läden und G e s c h ä f t e der Stadt geschlossen. D i e R e b e l len-Partei der Fenians und anderer beteiligte sich an der Prozession nicht. D a ß sie zum Teil Spalier bildete, ergab sich aus hin und wieder sichtbaren U n i f o r m e n der aus Neu-Irland, d. h. A m e r i k a , schon seit vorigem J a h r e herübergesandten „ E x e r z i e r m e i s t e r " , entlassene Soldaten, die zum Bunde der Fenians gehören und bei jedem Krawall in Dublin o b e n a n zu sein pflegen. W e l c h e Beziehungen h ä t t e auch diese Partei mit der Feier zu Ehren O ' C o n n e l l s , den sie verhöhnt, weil er gesagt: „Keine politische Freiheit ist eines T r o p f e n s vergossenen Blutes wert, denn ein lebendiger Freund wiegt einen K i r c h h o f voll T o t e n a u f " ; der Freudentränen vergoß, als der britische T h r o n e r b e geboren w u r d e und sein H a u s erleuchtete; der d e m Chartisten O w e n die T ü r wies; der für Ledru Rollins a n g e b o tene Revolutionshülfe „ d r i n g e n d " d a n k t e und zeitlebens ein tief f r o m m e r M a n n gewesen.

— O b w o h l viele Tausende von O r a n g e m ä n n e r n

am

M o n t a g e in Dublin eintrafen, so erfolgte doch nicht die geringste R u h e störung. Letztere wollen mit einer C o n t r e - D e m o n s t r a t i o n * a m 12. August zu L o n d o n d e r r y a n t w o r t e n , am J a h r e s t a g e der Befreiung der Stadt von der Belagerung seitens des j a k o b i t i s c h e n Generals v. R o s e n , „des f u r c h t b a r e n K u r l ä n d e r s " . — D i e hiesige Presse befürchtet einen Landfriedensbruch; denn die D u b l i n e r Polizei h a b e das Gesetz von 1 8 6 0 , das in Irland „jedes

B a n n e r , E m b l e m oder P a r t e i - S y m b o l bei U m z ü g e n " unter-

sagt, m i ß a c h t e t und k o m m e nun mit den O r a n g i s t e n in Konflikt, sobald diese in derselben Weise sich vergehen. [Nr. 191, 17. 8. 1864] * Wie wir gestern meldeten, hat inzwischen zu Belfast eine orangistische Demonstration stattgefunden, bei der mehrere Verwundungen etc. vorgekommen sind. D. Red. [Die O'Connellfeier, in: Nr. 190, 16. 8. 1864]

370

1864 Die Presse und Amerika Charakteristische Prozesse Die Unruhen in Belfast

p* London, 17. August Es gab einen Lord Holland, der bei jedem Frühstück, das er den Whigs gab, einen Toast auf die Presse ausbrachte, immer mit dem Nachsatze: „Damit will ich die Journalisten

nicht gemeint haben." In vertrauliche-

rem tete-a-tete erklärte er sich näher darüber: „Unter hundert haben neunundneunzig keine Uberzeugung. Doch bleibt freie Presse ein großes Sicherheitsventil. Die alle wollen nur schreien; verwehrt ihnen das, und sie werden gefährlich auf der Gasse." Man hat sich, wie es scheint, denn auch über Schleswig-Holstein ausgeschrien, wenn die Preußen auch noch mitunter „Schinderhannesse im Kriege" und „Shylocks im Frieden" genannt werden. Ziemlich dasselbe ist in betreff Nordamerikas der Fall. Wenn irgendeine der beiden Parteien im Unglück, erhob hier die jedesmalige Sympathie-Clique nicht nur ein Jubelgeschrei, sondern erging sich in einen Zynismus, dem das rohe Fleisch durch die humoristische Verkleidung sah. Jetzt ist auch hierin der Dampf abgelassen. Man kann jetzt wirklich anständige Artikel über New York oder Richmond lesen. Nicht mehr „alle" im Norden sind Gauner, nicht mehr „alle" im Süden sind Blaubärte, die zum zweiten Frühstück kleine Neger verzehren. Das hat aber noch eine besondere Erklärung. Solange noch die Möglichkeit vorhanden, durch schleuniges Aufhören des Bürgerkrieges „König C o t t o n " wieder in die Baumwollfabriken Liverpools zu locken, war die Erbitterung gegen den Norden unermeßlich; seitdem Jahre vergangen und Indien, Ägypten und afrikanische Küstenstriche nicht nur ansehnliche Quantitäten geliefert, sondern auch große englische

Kapitalien in diesem

Kulturzweige angelegt wurden, hat sich das Interesse fast umgekehrt. J a , man wünscht in kommerziellen Millionär-Koterien nichts weniger als ein baldiges friedliches Aufblauen des blutroten westlichen Horizonts, weil dies viele Kapitalisten, die just alle Hoffnung auf Indien gesetzt, ruinieren würde, und selbst Leute, denen es nicht so nahe an die Tasche geht, sähen gern, „daß die indische Baumwollenkultur sich erst eingelebt hätte, ehe drüben Frieden werde, weil sie sonst leicht durch die ältere Konkurrenz

von

Carolina

wieder

der

Verkrüppelung

anheimfallen

könnte". Weiß man dies nun, so lesen sich Leitartikel, welche heute die Herren Grant und Sherman sanft auf die Schulter klopfen und morgen

L o n d o n , 17. August

371

drastische Bilder von Lee und seinen Tapferen produzieren, mit einem Gefühle von herzlicher Bitterkeit; denn man merkt die Absicht 1 9 , wie oben erklärt. Um es mit beiden Seiten nicht zu verderben, stellt man sich in Süd-England mit dem Flottenvolk der Nördlinger auf besten Fuß und erklärt sie für smarty-boys, wenn sie eine Schiffsladung deutscher Auswanderer aus holländischen Häfen abgeholt und sie in Southampton im Hafen paradieren, ehe sie, als chair ä canon verfrachtet, weiter gehen. Aber in Glasgow und in Irland versorgt man die Südlinger mit Maschinen, Ankern, Pulver und Tuch. Fuhr doch Ende voriger Woche ein „Anonymus mit 20 Schiffskanonen" von der See aus tief in einen irischen Strom hinein, um von Limerick abgesandte große Zeugladungen an Bord zu nehmen. — Ein interessanter literarischer Fund macht in parlamentarisch-gebildeten Kreisen von sich reden. Man hat den anonymen Verfasser der einst so berühmten Junius-Briefe20 endlich entdeckt. Bekanntlich riet man in der diplomatischen Welt seinerzeit bald auf Burke, bald auf Chatham und andere. Es war ein simpler Dr. J. Wilmot. Ein Advokat, H. Colbey, hat nämlich folgenden Brief Lord Chathams entdeckt und publiziert. Er lautet: „London, 3. Januar 1772. Lord Chatham verpflichtet sich hiermit, Dr. James Wilmot für jedes Risiko und jede Gefahr schadlos zu halten, welchen der besagte Dr. J . Wimot anheimfallen könnte infolge der Fortsetzung seiner Briefe von Junius. Ich ordne die Zahlung von 170 Pfund an J . W. an auf Rechnung von Druck-Ausgaben u.s.w. Chatham." Der Advokat bemerkt dazu, „er habe diesen Brief unter Papieren einer Dame, Mrs. Ryves, vorgefunden, deren Prozeß gegen die Krone im November zum Austrag kommen solle". Diese Mrs. Lavinia Ryves beansprucht den Titel „Prinzessin von Cumberland und Herzogin von Lancaster" und die Auszahlung großer Summen, welche ihrer Mutter Olivia Serres, einer Tochter des Herzogs von Cumberland, Bruders Georgs III., von dem verstorbenen Herzoge von Kent, Vaters Ihrer M a j . der Königin, vermacht, aber wegen gesetzlicher Förmlichkeiten bis jetzt beanstandet worden. — Ich weiß nicht, ob Ihnen der „Prozeß Yelverton" bekannt ist, der hier seit Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigt. 2 1 M a j o r Yelverton will seine mehrjährige Ehe annuliert ha19

„So fühlt man Absicht, und man ist v e r s t i m m t " , Tasso in Goethes

Tasso II, 1.

20

21

Torquato

Unter dem Pseudonym Junius erschienen zwischen 1 7 6 9 und 1772 im „Public Advertiser" 6 9 Briefe polemischen Inhalts über König G e o r g III., die Regierung und die Parteien Englands. Als Verfasser gilt Sir Philip Francis (1740-1818). Vgl. K K L o n d o n , 9. M ä r z 1861 u. 18. Juli 1 8 6 2 .

372

1864

ben auf Grund technischer Gesetzesskrupel. Seine Gattin, deren Ehe dabei auf dem Spiele steht, gewann in Schottland eine Gültigkeitserklärung des stattgehabten schottischen Eheschlusses, und von einer irischen Jury die Gültigkeitserklärung einer protestantischen Trauung in Irland, die der schottischen gefolgt war. M a j o r Yelverton behauptete in bezug auf letztere, er sei Katholik zu jener Zeit gewesen und habe bei dem schottischen Eheschlusse nicht den „juridischen Animus" des Eheschlusses gehabt, den schottisches Gesetz bedinge. D o c h in Schottland und Irland gilt er als verheiratet. In England ist seine Ehe annuliert von drei Peers, unter Vorsitz des Lordkanzler, der mit seinem Urteil zugunsten der Ehe in der Minorität geblieben. Nun ist noch eine schottische Eides-Instanz übrig. Das Publikum hat längst Partei für die unglückliche Frau genommen, die in herzzerreißenden Protesten sich in der Presse ausspricht. Eine öffentliche Kollekte, um ihr die fernere Bestreitung der Prozeßkosten möglich zu machen, ist im Gange und es gehen ansehnliche Summen ein. Die Times und die „Saturday Review" allein, voll rein juristischem Enthusiasmus, zitieren die D a m e nur höhnisch bei ihrem M ä d c h e n n a men. Aber die Majorin Yelverton hat Energie. Sie bringt soeben eine Klage wegen Libells gegen die „Review" und hat, schottischem Recht gemäß, gegen 3 0 0 0 Pfund Sterling in Schottland mit Beschlag belegen lassen, welche der „Saturday Review" gehören für Annoncen und Abonnements und sich in den Händen von schottischen Buchhändlern und Zeitungsagenten befanden. M a j o r Yelverton war Krim-Offizier und seine jetzige Gattin folgte ihm vor ihrer Verheiratung, blieb aber unter den pflegenden Schwestern in den Lazaretten. Bei dem Prozeß in Irland verbot der Richter dem M a j o r , nicht vor Gericht mehr von seinem Ehrenwort zu sprechen, indem er den Prozeß lediglich aus Erbschaftsinteressen begonnen. Nach dem englischen Urteile, das übrigens für Irland und Schottland keine Kraft hat, feierte Yelvertons Familie, die des Lord Avonmore das Ereignis mit dreitägigen der Landbevölkerung gegebenen Festen

in Irland! Eine unglaubliche Verwirrung dies und derb gerügt von

jedermann. Denn eine „Reinigung" des M a j o r Yelverton hat nicht stattgefunden. Wenn auch Sieger nach dem Gesetz, bleibt immer der Vorwurf auf ihm lasten, jahrelang das Vertrauen einer armen Frau gemißbraucht zu haben, die auf Grund zweier Eheschließungen sich bona fide als seine rechtmäßige Gattin betrachtete. Somit sind die Feuerwerke und Jubelkonzerte etc. von Avonmore nur eine beklagenswerte Illustration gesellschaftlicher Zustände. — Den schon mehr als siebentägigen Landfriedensbruch in Irland,

den ich in meinem letzten Schreiben voraussagte,

London, 27. August

373

haben Sie bereits beschrieben. D a s alte S p r ü c h w o r t „Belfast liegt westlich vom G e s e t z " ist wieder einmal bestätigt und Belfast ist das „irische A t h e n " , die reichste Stadt der Insel, die Arbeiterbevölkerung steht hoch im L o h n e . D e r Verbrennung O ' C o n n e l l s in effigie w o h n t e n 4 0 . 0 0 0 M e n schen bei. Die k a t h o l i s c h e M i n o r i t ä t a n t w o r t e t e mit einer Verbrennung des Prinzen von O r a n g e (Wilhelms des Dritten) in effigie. D a ß sich beide Parteien auch sonst durch Katzenmusiken bei ihrem Gottesdienste stören, ist kein seltenes V o r k o m m n i s zu anderen Zeiten gewesen — wenigstens in der Provinz Ulster, die orangistisch. Es liegen nach heutigen Berichten über 8 0 0 meist katholischen E i n w o h n e r n gehörige H ä u s e r in T r ü m m e r . N o c h ist das Ende nicht g e k o m m e n . Um das G r a u e n h a f t e einzelner Exzesse an einem Beispiele zu zeigen, und weil durch verschiedene Z e i t u n g s r a p p o r t e bestätigt, e r w ä h n e ich eines

neun

Falles, vor

dem selbst die „Weiber der H a l l e " von 1 7 9 2 zurückgeschreckt hätten. Ein orangistischer Pöbelhaufe von mehreren Hunderten überfiel eine kleine S c h a r junger k a t h o l i s c h e r F a b r i k m ä d c h e n auf ihrem

Heimwege

und m i ß h a n d e l t e sie bis aufs Blut. Der Bericht schließt d a m i t : „Ein kleines M ä d c h e n , dem man die Augen aus dem Kopfe gerissen, wurde aus dem T u m u l t e getragen. Es hatte in der gräßlichen Angst sich an einen zuschauenden, mit der O r a n g e b i n d e gezierten „ G e n t l e m a n " um Beistand g e k l a m m e r t , wurde aber von diesem wieder in die w ü t e n d e B r a n d u n g des H a n d g e m e n g e s zurückgeschleudert." Vor zwei J a h r e n wurden übrigens mehrere Polizei-Sergeanten zu Gefängnisstrafen verurteilt, da sie eingestanden, damalige orangistische Unruhen durch absichtliche U n t ä tigkeit begünstigt zu haben. Belfast ist kein Paris und es ist unbegreiflich, wie 5 0 0 mit S c h u ß w a f f e n versehene Polizeileute nicht von H a u s e aus die Aufrührer zu Paaren getrieben. D e r Sinn und Z w e c k des ganzen Unfugs ist noch ein Rätsel. [Nr. 194, 20. 8. 1864]

Z u r Signatur von Irland. Papierschiffe Eisteddvod in Wales p::' L o n d o n , 2 7 . August Was i m m e r nur in außerordentlichen Fällen geschieht, Übelstände durch eine von der Regierung e r n a n n t e Kommission in betreff der Belfaster

feststellen zu lassen, wird

Unruhen vor sich gehen. D e m M a g i s t r a t der Stadt

ist vor drei Tagen bereits offizielle Ankündigung dessen geworden. Vor-

374

1864

spiel war die herbe Rüge, welche der Lordlieutenant der Provinz Ulster, M a r q u i s von Donegal, bei einem Jahresfeste der Freimaurer, deren „Meister vom Stuhl" er ist, gegen den M a y o r der Stadt, Lytle, ausgesprochen. Seitdem sind dieser und seine Aldermen in Fieberhitze. Lytle hatte Belfast mitten im A u f r u h r verlassen, u m die angenehme Sommersaison auf dem Lande nicht zu versäumen. Die Parteizwiste wirken übrigens bis auf die G e s c h w o r n e n b a n k . Drei bis vier Juries haben sich über einen Fall oft nicht einigen k ö n n e n , o b dieser oder jener der Übeltäter schuldig; andere erklärten das Einschreiten des Militärs f ü r „ungerechtfertigt". Es stellt sich schon jetzt heraus, d a ß die fünfzig Aufrührer, die m a n hinter Schloß und Riegel zu bringen den M u t hatte, sogenannte „outsiders" gewesen. Leute, die nicht Rädelsführer, sondern mehr Statisten am „ R a n d e " der Bataillen gewesen; denn in das dichtere H a n d g e m e n g e wagte sich kein „Peeler". Dies ist ein Beiname für die vom alten Peel seinerzeit eingef ü h r t e irische Konstablerforce, aus welchem N a m e n die Irländer, auf deren bekannte orangistische Neigungen anspielend, das Sammelwort „Orange-Peeler" geformt, das sich in „Apfelsinen-Schäler" wortgetreu übersetzt. Belfast w a r o h n e H a u p t in den wilden 12 Tagen und Irland war ohne H a u p t , indem der Vizekönig a m dritten Tage der Unruhen die Insel verließ, um mutmaßlich nicht dahin zurückzukehren. D a ß Sir Robert Peel, der irische Minister in L o n d o n ein „outsider" im gewissen Sinne, ergiebt sich daraus, d a ß er noch 14 Tage vor den Unruhen im Unterhause eine w a r n e n d e Interpellation damit beantwortet, „die alten Parteizwiste in Irland wären in sichtlichem Aussterben, von einzelnen Flintenschüssen an lustigen Sommertagen hier und da abgesehen". Jedenfalls ein Beamter, der sein Revier sehr genau kennen m u ß . Wie der Minister zu der Aristokratie des Landes steht, ergibt sich aus folgendem Vorfall. Auf einer Reise passierte er durch ein irisches Dorf unter heftigem Regen. Da sah er gegen hundert arme D o r f b e w o h n e r im Kot der Gasse kniend, vom Regen ü b e r s t r ö m t und einen Geistlichen, der die Messe unter ihnen abhielt. G e r ü h r t von diesem Anblick, sandte Robert Peel sofort 50 Pfund an den Geistlichen, als Beitrag zum Bau einer Kapelle. Der Grundeigentümer Lord Dunserlin sandte ihm das Geld am nächsten Morgen mit der unhöflichen Bemerkung zurück, „er k ö n n e selber f ü r seine Leute sorgen". Schade nur, d a ß in jenem D o r f e schon seit hundert Jahren der Gottesdienst aus Mangel an Dach und Fach im Freien hatte abgehalten werden müssen. Noch seltsamer behandelte der Earl von Leitrim den Vizekönig Lord Carlisle. Weil dieser ihm in einer Privatsache Unrecht gegeben, ersah der Earl die Gelegenheit, als der Vizekönig

L o n d o n , 2 7 . August

375

durch sein Territorium reiste, seinen Pächtern, namentlich denen, welchen er Gasthofskonzession verliehen, zu verbieten, dem Vertreter des Souveräns irgendwelche „Verpflegung oder auch nur ein Nachtlager" zu geben. Und in der Tat hatte der Vizekönig, überall mit der Entschuldigung „Alles besetzt" abgewiesen, zwölf Meilen Umweg in eine andere Grafschaft machen müssen, um eine Nachtruhe zu finden. Dies sind alles parlamentarisch festgestellte Tatsachen und sie sprechen „Bände" über die Stellung der Regierung und der „regierenden Familien" Irlands zueinander. — Sie haben schon auf die unverantwortliche Haltung der „freien Presse" in Irland während der Unruhen hingewiesen. 22 Unter dem Titel: „Eine Kur" bringt der katholische „Western Observer" nunmehr folgendes: „Sollen wir uns nicht erinnern, daß die Adler Frankreichs es seien, die zu Rom den heiligen Vater beschützen, wie sie die massakrierten Christen von Syrien gerächt haben? Sollen wir vergessen, daß durch Jahre von Wehe und Jammer wir schon sonst uns Frankreich zugewendet mit sehnsüchtigen Augen, mit Liebe und in Ehren? Und hat nicht Frankreich zu allen Zeiten uns freundlich und voll Erbarmens beachtet? Wollen die Katholiken von Belfast einige Gentlemen aus ihrer Anzahl als eine Deputation an Napoleon III. senden, um seine Intervention zu ihren Gunsten zu erbitten — ja, die seinige, dessen Wink für Europa Gesetz geworden? Ihr habt Männer unter euch, welche die alten grauen Wände der Tuilerien wohl kennen und die rechte Sprache sprechen und nicht zögern würden mit ihrem herzlichsten Hülfsdienste. Wollen die Bischöfe, die Priester, das Volk von Ulster daran denken — und es ohne Zögern versuchen? Wollen sie um Napoleons Protektion bitten? Er wird eine irische katholische Deputation nicht ohne Hoffnung von sich gehen lassen, welche blutsverwandt mit den Neills und Mac Mahons." Das ist doch gewiß charakteristisch, wenn auch praktisch ohne Folgen. — Die Orange-Männer haben auch in Ayrshire, der Ulster gegenüberliegenden schottischen Grafschaft, Tumulte angestiftet; doch zog man ohne Umstände sofort Militär herbei und drei Kavallerie-Chargen mit flacher Klinge machten der Sache in einer halben Stunde ein Ende. Ähnliches geschah soeben auf der Insel Jersey, wo ein orangistischer „Lecturer" den französischen Katholiken zwei Vorlesungen über „die Verdammnis des Papstes" aufdrängen wollte, und es zu Krawallen kam. — Es entgeht in London der Beobachtung nicht, daß in den ärmeren Vorstädten, die mit Irländern schwärmen, seit einer Woche Gartenmauern und Bäume 22

Der Krawall in Belfast, in: Nr. 196, 2 3 . 8. 1 8 6 4 .

376

1864

sich mit Plakaten bedecken, die in dicker Schrift die Zeilen tragen „No Popery" — „Down with the Pope" oder Überschriften, wie „An Wisemans L ä m m e r " , darunter Gassenhauer jeglichen Hohnes voll. Auf einem einzigen Feldzaun bei der Eisenbahnstation von Nothinghill zählte ich nicht weniger als elf solcher Plakate. Natürlich wirkt dies nicht auf den gebildeten Teil des Publikums, obwohl man demselben in England gewiß nicht seichten Indifferentismus in Glaubenssachen vorwerfen kann. Aber wir hatten vollauf genug an den Tumulten zwischen Garibaldinern und Irländern in Hydepark 1862, wo auch einzelne italienische Messer ins Spiel kamen, und es nimmt sich noch immer sehr seltsam aus, wenn sogar an Gittern von Kirchtüren Vorlesungen des Paters „Gavazzi" über Garibaldi und religiöse Reform mitunter angeschlagen werden. — In der Admiralität zu London, die ihr Palais am Trafalgar-Square, arbeitet ein Ungar, namens Szerleniy, seit längeren Jahren. Dieser hat eine neue Erfindung gemacht, an deren Prüfung seine Behörde gegangen; es ist die, Panzerschiffe mit Papier schußfest zu machen. Ernsthafte Leute, welche den Experimenten beigewohnt, sprechen ganz ernsthaft darüber — aber es klingt fast zu gut, um ganz geglaubt zu werden. Nach diesen Berichten „lassen zehn Zoll Eichenholz eine Kugel durch, welche nur einen Zoll tief in die Pappenplatte Szerleniys eindringt". Eine Art Gummi-Überzug, aus der in Ägypten wachsenden Pflanze „Zopissa" gewonnen, soll die Papierrüstung gegen Auflösung im Wasser schützen, auch teilweise gegen Feuersgefahr. Es ist vielleicht interessant, zu wissen, daß der ganze Westminsterpalast, das Parlamentsgebäude, von oben bis unten, mit Szerleniys Gummi überzogen ist, da das Baumaterial, Dolomit, im nebligen und feuchten Klima Englands bedenklich zu bröckeln angefangen. Szerleniy „gebraucht keine Lumpen zu seiner Kriegspappe, sondern er fabriziert dieselbe aus den Fibern einer Pflanze, die in üppiger Menge in Süd-Deutschland wächst". Über den bemerkten Experimenten, welche den Schiffsbau in eine Buchbinderarbeit mit ägyptischem Kleister zu übersetzen drohen, gehen andere mit „papiernen Kanonen" einher. Doch hält der Erfinder bescheidenerweise seine „Feldgeschütze", deren er bereits ein halbes Dutzend angefertigt, nur in „freier Luft" und auf „hohen Bergen" (als Gebirgsartillerie) empfehlenswert, was bekanntlich auch für zweifelhafte Zigarren als eine volkstümliche Regel gilt. Ich habe Ihnen nun pflichtschuldigst über diesen neuen Industrie-Zweig berichtet. — Wenn irgendwo noch die alte Romantik ein Asyl gefunden, so ist dies in unserem Wales. Es liest sich fast wie eine Legende aus der Zeit des Sängerkrieges auf der Wartburg, wenn in modernster Druckerschwärze

377

L o n d o n , 2 7 . August

beschrieben, wie alljährlich im August aus ganz Wales Hunderte von Harfnern zusammenkommen, um die alten Landesweisen der Cymri, Cimbern oder Welschen vor einer grandiosen Volksversammlung vorzutragen, woran sich Vorlesungen über alte Sitten, Literatur und Altertümer des Landes reihen. Diese jährlichen Nationalfeste dauern mehrere Tage. Man nennt sie im Wälischen den „Eisteddvod", und nicht weniger als 1200 Jahre weist die Chronik auf, wo nie dieses jährliche Zusammenkommen der „Besten der Nation" unterlassen worden. Die „Welschmen" haben immer zwei Namen, einen — oft unaussprechlichen — Geburtsnamen, daheim

im Gebrauch und ihrer alten Sprache entnommen, den

andern — sei es auch nur Smith oder Robinson — für das „englische Geschäft". Der Eisteddvod für 1864 begann am vergangenen Dienstag zu Clandudno. Allein in dem Pavillon, der für die Gelegenheit errichtet, waren 6 0 0 0 Hörer gegenwärtig. Preise für Poesie und Musik sind ausgesetzt von dem „Konzil der Barden", welches an der Spitze von Barden, Ovates, Druiden und Ministreis das Fest mit einer Prozession eröffnete, und zwar nach dem „Cylch", einem druidischen Zirkel von 42 Felssteinen um einen in der Mitte stehenden flachen Felsblock, der auf vier kleineren ruht. Jene 12 Felssteine bezeichnen die 12 Abteilungen des Tierkreises. Präsident ist in diesem Jahre der Barde Gwalchmai aus Pwlddrdwdr*, der vorjährige war Hughes of Plascoch ath Terwyth ath Merwyde ath Llaljedwd ath Arsd. Jede Tagesordnung heißt ein „Gersodd". Unter den gekrönten Dichtern und Dichterinnen des Landes sind in diesem Jahre Gwigant (Jones aus London), Miss Anne Philipps, Miss Evans Talhaiarn, Gwilym Penaut (William Powell). Das „God save the Q u e e n " schließt jeden Tag unter Harfenrauschen. Die wälsch Sprache ist der englischen nicht gewichen, und in manchen Grafschaften von Wales ist die letztere nur von den höheren Ständen gekannt und gesprochen. — P. S. Infolge einer nach Spithead gesandten Contre-Ordre wird nicht die ganze Kanalflotte, sondern nur die „Aurora" und der „Salamis" den Prinzen und die Prinzessin von Wales nach Kopenhagen

begleiten. „Die

Vermeidung jeder die Dänen schmerzlich berührenden Demonstration" wird von der offiziösen Presse als Motiv dieser Änderung genannt. (Nr. 2 0 3 , 3 1 . 8. 1 8 6 4 ]

Das w vertritt ein dumpfes o.

378

1864 Zur Bewegung in Irland

p* London, 3. September In meinem letzten Briefe deutete ich bereits auf religiöse Aufregungen hin, welche eine gewisse Plakatliteratur namentlich in solchen Distrikten Londons auszubeuten sucht, wo vorzugsweise Katholiken wohnen. Fast unmerklich für den oberflächlichen Blick, aber unverkennbar für den professionierten Zeitungsleser, spinnt sich dasselbe in der Presse fort. Ist es, weil die Unruhen auf der Schwester-Insel, wo man, nach Tory-Blättern, nur um eines Haares Breite an einer ausbruchfertigen Jacquerie vorübergestreift ist, das Thema in den Vordergrund geschoben, oder ist es, weil in der politischen Sommerstille man mehr Muße für religiöse Dissertationen findet, — Tatsache ist, daß Inserate und Eingesandts (letters to the editor) bald von katholischer, bald von protestantischer Seite sozusagen sich auf die Fersen treten. Der Times gibt ein katholischer Edelmann eine verdiente Lektion über den Ton, in welchem sie sich über den Umstand moquiert habe, daß bei katholischen Meetings gegenwärtig der Toast für den Papst demjenigen für die Königin voranzugehen pflegt. Im „Daily Telegraph" entwirft ein Protestant abschreckende Schilderungen katholischer Konvente in England, deren Zahl übrigens beiläufig bemerkt in schnellem Wachsen ist, wie die der katholischen Kirchen und Kapellen, von denen mitunter zwei in einem einzigen Monate eingeweiht werden. Im Norden Londons sind in diesem Sommer zwei große Konvente größten Stiles erbaut und mit hohen Ringmauern versehen, die dem Gebäude das Ansehen kleiner Zitadellen geben. Streitschriften bitterster Art sind von Irland eingeführt, eine von dem orangistischen Belfaster Geistlichen Hanna und eine andere gleicher Tendenz von M a c Ghee. Gegen beide macht die Presse der Whigs Front, als aufregende und solche, welche die Arbeit der Regierung in Irland erschwerten. Die statistische Gesellschaft hat mit mühseliger Arbeit Kardinal Wisemans Angaben über die Zahl katholischer Bethäuser in England, welche derselbe bei dem vorigen katholischen Kongreß zu Mecheln gemacht, zu widerlegen versucht. Darauf entspinnt sich eine Zeitungsfehde, die der Gesellschaft zu bedenken gibt, daß sie schwerlich die zu Bethäusern verwendeten katholischen

Privathäuser mit in Anschlag gebracht haben

könnte.

Streitschriften und Leitartikel schreiben alles Übel dem Vorhandensein von soundsovielen Millionen Katholiken in Irland zu. „Aber die Millionen sind einmal da", sagt die Times,

„und wir müssen sie in Rechnung

379

London, 3. September

ziehen." Andere begehren — und es sind dies sogar protestantische Blätter — der „Irischen K i r c h e " protestantischen Bekenntnisses, weil sie den Orangismus kräftige, den Charakter der Staatskirche zu entziehen, namentlich nicht mehr die Katholiken zu nötigen, für den Unterhalt protestantischer Geistlicher Kirchensteuer (church rates) zu zahlen, wobei an die Parlamentsrede Bernal Osbornes erinnert wird, welcher gegen 2 0 0 Fälle aufzählte, wo protestantische Gemeinden in katholischen Städten auf Kosten der Katholiken existierten, ja sogar erstere an einzelnen O r ten nur aus 15 Personen, mit Einschluß von sechs Polizeiconstables, beständen, für welche zwei protestantische — nicht einmal am Orte wohnhafte — Geistliche aus der Tasche der Katholiken ihr Gehalt empfingen. Sie sehen, diese Einzelnheiten können sich zu einem großen Wirrsal entspinnen. Nun k o m m t noch die „Opinion nationale" — ich glaube allein unter den französischen Journalen — und druckt das ihr zugesandte „Manifest der Irischen Ligue an Europa und Frankreich insbesondere" ab, wenn auch mit einer halben Entschuldigung. M a n ist hier um so ärgerlicher darüber, weil das Manifest nur Beschwerden summiert, welche die Presse endlich ehrlicherweise als richtig anerkannt hatte. Nur wollte man sie nicht in einem Manifeste mit französischer Adresse wieder zu lesen bekommen. Das Manifest ist von J o h n Martin und T h e O ' D o n o g h u e unterzeichnet. Letzterer ist ein N a c h k o m m e jener irischen Fürstenfamilie, die kurz vor der Regierung Heinrichs des Achten ihre Souveränität

abtrat.

Charakteristisch

und

jedenfalls

erfreulich

für

M . M o c q u a r d in Paris ist der Schluß: „Wir benutzen die Gelegenheit, dem französischen

Volke Glück

zu wünschen,

daß es nicht solchen

Unterdrückungen und Kalamitäten unterworfen ist, als wir beschrieben haben. M ö g e die göttliche Vorsehung Frankreich

für immer seine natio-

nale Freiheit und M a c h t erhalten und ihm das Leiden ersparen, das Irland beugt unter einer Regierung, die mit dem Namen einer freien Konstitution geziert

ist." Die Times schweigt. Die whiggistischen Blätter sind

en rage. Eines von ihnen schreibt: „ M ö g e der O ' D o n o g h u e den wildesten Plan zur Wiedergeburt Irlands in das Parlament bringen, und wir wollen es gern diskutieren aus Achtung vor dem Ziele. Aber wir müssen nichts mehr von einer Irischen

Frage hören, die nach den Idees Napoleoniennes

entschieden werden soll. Ein Appell an Frankreich macht den O ' D o n o ghue unwert, ferner im Parlamente seinen Sitz zu nehmen." Diese Abweisung ist gewiß richtig, aber sie hat eine faule Stelle. Ganz abgesehen von wildesten

Plänen, hat die Presse nie auch nur die mildesten

gern

diskutiert, sondern mit demselben H o h n e und derselben erbitternden

380

1864

Entstellungssucht paradiert, wie in Sachen der schleswig-holsteinischen Frage. Nach Veröffentlichung jenes Manifestes hat der junge O'Donoghue ein großes Meeting in Irland berufen, wo er sich dahin erklärt, die Arbeit O'Connells fortsetzen zu wollen. Um aber sonstigen Mißdeutungen vorzubeugen, die seine „Arbeit" mit Fenionismus in eine Kategorie werfen könnten, Schloß er seine (jetzt in England verbreitete) Rede für Repeal mit den bezeichnenden Worten: „In Erziehungsfragen schenke ich, wie O'Connell, doppelten Gehorsam den Wünschen und Ansichten unserer Bischöfe. Und was den Papst betrifft, so habe ich immer gewissenhaft an der Überzeugung festgehalten, daß die zeitliche Macht, der zeitliche Besitzstand des Papstes (seil, der Kirchenstaat) für Interessen der katholischen Religion von wesentlicher Bedeutung ist." Eigentümlich klingt in der ganzen Rede die Absicht, den Repeal in „außerparlamentarischem" Wege endlich durchsetzen zu wollen. Schwerlich wird übrigens aus den Tuilerien jetzt ein Wort auch nur gewispert werden, das den Bestrebungen und Komplimenten der „Irischen Ligue" günstig wäre, denn die Erbitterung hier würde ohne Grenzen sein. Der Engländer, der auf fremde „Schmerzensschreie" 2 3 hin sofort mitreden will — und Russell hat als „Papier-Tiger" in solchen Dingen das Mögliche geleistet — hat eine sehr dünne Haut und sitzt selbst in einem Glashause und würde es nun und nimmer verzeihen, wenn ein „Schmerzensschrei" gegen ihn selbst einmal im Auslande Erhörung fände. [Nr. 209, 7. 9. 1864]

Die „beiden kriegführenden Mächte" Ignatius und die Benediktinerbrüder Adresse an Mac Mahon. Zeitungslesen in der Kirche p* London, 10. September Der in der „London Gazette" veröffentlichte Befehl I. M. der Königin, wodurch den Kriegsschiffen beider kriegführenden Mächte von Nordamerika hinfort verwehrt bleiben soll, in irgendeinen englischen Hafen oder einen der englischen Kolonien einzulaufen, oder, wenn schon dort, in solchem zu verbleiben, sei es zum Zweck der Abtakelung oder um verkauft zu werden, ist an und für sich nicht eine Neuigkeit. Derselbe 23

Vgl. A n m . zu Κ Posen, 23. N o v e m b e r 1861.

London, 10. September

381

wurde einseitig und im wesentlichen schon während eines früheren Stadiums des Krieges erlassen, doch k o n n t e advokatische Spitzfindigkeit darin Schlupflöcher finden, und die erfolgte E n t f ü h r u n g des Kreuzers „Georgia" seitens der Nördlinger wurde bereits das T h e m a sehr verzwickter Kontroversen. Jenes Schiff war zur Zeit seiner Konfiskation tatsächlich britisches Eigentum, durch beglaubigten K a u f k o n t r a k t von den Südlingern an einen englischen Schiffsreeder verhandelt. Ein Depeschenaustausch d a r ü b e r hat bereits zwischen hier und der Regierung zu Washington stattgefunden. Um einer größeren Verbitterung des beiderseitigen Disputs vorzubeugen, erfolgte gestern die Publikation des neueren und präziseren Verbotes, das indes drei Worte enthält, die den N ö r d lingern nicht ganz behagen werden. „Beide kriegführende M ä c h t e " — diese Worte stellen zum ersten Male in englischer Schätzung die Nation Lincolns und die sogenannten „Rebs" (Rebellen) in eine Linie und enthalten eine Art von Anerkennung der letzteren als einer „kriegführenden M a c h t " ohne sänftigende Nebensätze. Welchen Ausgang die GeorgiaAffäre haben wird, steht noch dahin. Wenn man auch hier viel gehöhnt hat über die Äußerung Abe Lincolns: „Ein Krieg zur Zeit", so wird man doch eine gewisse rückwirkende Kraft des erwähnten schärferen Königlichen Befehls, „der strikteste N a c h a c h t u n g " begehrt, diesseits „um des lieben Friedens in Kanada willen" walten lassen und schwerlich die Dinge auf die Spitze treiben. Das gewinnsüchtige und systematische Ausbeuten gewisser UnVollständigkeiten in der amerikanischen Blokade hat, abgesehen von erheblichen Verlusten an Schiffen und Geld, einzelne Handelshäuser in England in den Gerichtshof für Bankerotts getrieben. Die hauptsächlichsten Schmuggelstationen sind bei diesen Spekulationen die Bermudas- und Bahama-Inseln gewesen. Ersteren ist hierbei ein großes Unglück zugeführt — eine verheerende Seuche, dem gelben Fieber verwandt. Unter britischen Beamten und Militär haben sich dort die Sterbefälle dermaßen vermehrt, daß, da auch die meisten Ärzte der aus der H a v a n n a eingeschleppten Epidemie zum O p f e r fielen, nicht weniger als 25 Militär-Ärzte aus Kanada nach Bermudas beordert sind. — An den Bischof von London sind Gesuche ergangen, soviel in seiner Macht steht, das Auftreten des „Father Ignatius" in einer oder der anderen Kirche L o n d o n s zu verhüten. Ignatius war eine Zeitlang anglikanischer Reiseprediger und hat bei Norwich ein protestantisches Kloster gegründet unter dem N a m e n „Die Brüder von St. Benedikt". Die Z a h l der M ö n c h e ist schon eine bedeutende, und sie tragen alle die Kutte des ähnlich benannten römisch-katholischen Ordens. Messe wird täglich gelesen und

382

1864

am Eingange der Klosterkirche steht die Madonna in einer Mauerblende, um die Füße einen Kranz von kleinen Gasflammen. Ignatius ist nicht aus der anglikanischen Kirche ausgeschieden, obwohl er auch als äußeres Gewand völlig das angenommen hat, das von den belgischen Mitgliedern der Gesellschaft Jesu getragen wird. Bei seinen öffentlichen Predigten in und bei Norwich findet sich jedesmal eine Hörerschaft von vielen Tausenden ein, und er gilt als ein eindringlicher Redner; namentlich rügt er die Modesucht der vornehmsten Gesellschaftsklassen und richtet sich direkt gegen „Belgravia", unser vornehmstes Viertel im Londoner Westend, ein Vorgehen, das ihn, sozusagen, „populär" macht bei den niederen Gesellschaftsklassen. — Eine eigentümliche Erscheinung ist eine Zeitungsfehde, die von mehreren katholischen „Engländerinnen" gegen protestantische „Engländer" zur Verteidigung des Lebens in Konventen geführt wird und Tag für Tag sich in der Presse erneuert. Darauf folgen dann herbe Repliken, an denen wiederum „Jung-Irländer" und „Alt-Irländer" sich beteiligen. Heute wirft ein Engländer aus Dover, „la ville des adieux", einen Erisapfel in die ohnehin erbitterte Fehde, indem er behauptet, gesehen zu haben, wie am Mittwoch zwei Nonnen ein junges sechzehnjähriges Mädchen, trotz ihres Sträubens und Hülferufes, bei Kopf und Füßen auf das nach Ostende bestimmte Dampfboot getragen hätten usw. Die Sache, so unaufgeklärt sie auch ist, regt hier viele auf. Man diskutiert sie auf der Straße und vor den Häusern. Es wird aller Besonnenheit bedürfen, den Leuten die Unwahrscheinlichkeit des Erzählten glaublich zu machen; denn an einem öffentlichen Hafen könnte ja niemand gegen seinen Willen mit Gewalt auf ein Schiff geschleppt werden, ohne daß Einsprache oder doch Nachfrage sofort an Ort und Stelle erfolgte. Um so bedauerlicher ist es, daß solche und ähnliche Dinge, unmotiviert und unbezweifelt, in die Menge geworfen werden, die durchaus nicht so kaltblütig ist, um vor Nachahmungen des Belfaster Beispiels sich zu hüten. Ein Baron Wraxall hat ein Buch 2 4 geschrieben, das man nach Lessings Vorgange in die Kategorie der „Rettungen" 2 5 rechnen würde und zwar zur Verteidigung der Königin Mathilde von Dänemark. Der Verfasser lebt hier im Seebade Bognor und gehört zu der alten südenglischen Familie der Longs von Wraxall, obwohl sein Großva-

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25

Life and Times of Her Majesty Caroline Matilda, Queen of Denmark and Norway, London 1864. „Rettungen des Horaz", Titel einer kleineren philologischen Abhandlung Lessings aus dem Jahre 1754.

London, 10. September

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ter und Vater in Diensten des dänischen Hofes gestanden haben. Letzterer war Zeuge vieler Vorgänge in Kopenhagen zur Zeit Struensees. Wraxall hat ein ansehnliches Material von Briefen und Zeugenaussagen für die Unschuld der Königin Mathilde zusammengetragen und am Schlüsse einen ergreifenden Brief derselben Königin zum ersten M a l e der Öffentlichkeit übergeben. D a r a u f sandte er vor einigen Wochen ein Exemplar seines Werkes an König Christian I X . von D ä n e m a r k , infolgedessen er sich jetzt zu der öffentlichen Mitteilung veranlaßt sieht, daß der König von D ä n e m a r k ihm habe bemerken lassen, wie bei Abwesenheit jedes anderen Beweises für die Existenz des Schriftstücks und aus anderen Gründen jener Brief der Königin als eine Fälschung anzusehen sei. Wraxall scheint übrigens durch die Darlegung Seiner Majestät selbst zu Zweifeln an der Echtheit geführt zu sein und deutet soviel auch in seiner eben erfolgten Erklärung an. — Eine Monstre-Adresse ist in Umlauf gesetzt, und zwar an Marschall Mac Mahon,

Herzog von Magenta. Sie

geht von seinen „Landsleuten", den Irländern, aus. Nachdem das Schriftstück in Irland 7 6 . 0 0 0 Unterschriften erhalten, ist die Summe durch irische Unterschriften in Schottland und England angeblich zu vollen 1 0 0 . 0 0 0 abgerundet. Übrigens hat der Inhalt der Adresse keinen anderen „ausgesprochenen" Z w e c k , als M a c M a h o n zu der „größten Auszeichnung, die sein Kaiser vergeben k ö n n t e " zu gratulieren, d. h. zu seiner Erhebung zum General-Gouverneur von Algerien! Natürlich liegt eine tiefere Absicht in diesem Vorhaben, es ist im Grunde eine Spekulation auf Pariser Sympathien, und als Gegengeschenk wird von solchen Enthusiasten auf der grünen Insel die „Erlaubnis" zu einer „Question Irlandaise" erwartet. Phantastische Logiker sind nun einmal die Irländer; wie sie auch schon früher mit ihrem Ehrendegen für M a c M a h o n bewiesen, völlig vergessend, daß ihrer gewiß aufrichtigen Anhänglichkeit für das Oberhaupt ihrer Kirche Magenta und dessen „Konsequenzen" gerade das herbste Leid angetan haben. Ein Irländer, der sich dessen auch bewußt zu sein scheint, appelliert in der T i m e s an J o h n Bulls G r o ß m u t mit einem Verslein: „Be to our faults a little blind, be to our virtues very kind." So mag es denn „hingehen". — In einem Eingesandt wird von einem Kirchengänger gerügt, daß Leute mitunter Zeitungen in die Kirche mitnehmen. Ein Amerikaner beantwortet dies dahin, daß diese „Sitte" eine amerikanische, wo Zeitungen auf die Sitze gelegt werden, zum Gebrauch für die Kommenden. Schließlich berichtet ein Schotte, daß dergleichen in Schottland „ganz allgemein" geworden, wo die Gemeinde Zeitungen liest, bis der Gottesdienst seinen Anfang nimmt. Eine Nichte

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1864

des Farmers von Caprera, Mademoiselle Garibaldi, wird demnächst hier im Kristallpalast als Sängerin auftreten; die Kritiker sind natürlich schon im voraus entzückt! [Nr. 2 1 5 , 14. 9. 1864)

Zeitungsstimmen. Personalien Militärisches und Australisches p* London, 17. September Sie haben bereits aus hiesigen Blättern mehrere verstimmte Zeilen abgedruckt, zu denen die Haltung der Kopenhagener gegenüber dem Besuch des Prinzen von Wales beim dänischen Hofe hier Veranlassung gegeben. Den peinlichsten Eindruck machte aber eine einzige Phrase des Kopenhagener „Dagblad" auf das hiesige Publikum, jene Worte: „Es fehlt an Rosen, um sie der Prinzessin von Wales auf den Weg zu streuen, denn sie wurden alle gebraucht, um die Särge derer zu schmücken, welche in der Schlacht gefallen." Verschiedene Blätter beschwören beinahe die Dänen um ihres eigenen Bestens willen, ihre „Freunde" nicht in solcher Weise zu behandeln. Jene Phrase des „Dagblad" ist eine solche, die sich auf ein Menschenalter bis auf Kommatreue dem Gedächtnis einprägt, wie jene des ersten Napoleon „Les Anglais sont une nation des epiciers", welche immer wieder aufgefrischt wird, wenn etwas zwischen hier und Frankreich „hapert". Über die Wiener Friedensverhandlungen haben sich die Korrespondenten hiesiger Blätter nun einmal bestimmte Vorurteile zugeschnitten. Eines unserer Organe „mit der größten Zirkulation in der Welt" läßt sich schreiben, daß Preußen den Österreichern den Vorschlag zur Güte gemacht, es wolle ihm zu tüchtigen Ausschnitten aus der Türkei ja zum goldenen Horn sogar verhelfen, sobald ihm nur die Verfügung über Schleswig-Holstein nicht behindert würde, weshalb auch Fürst Gortschakoff bereits einen Protest gegen einen Einfall in die Türkei bei Herrn v. Bismarck habe abgeben lassen. Dies ist erstaunlich, da doch Korrespondenten im September nicht mehr unter dem Hundstagswetter leiden können. Es war ebenso überraschend, daß ohne solchen Einfluß der kuriose Berliner Korrespondent des „Morning Star" sich darüber moquiert, „daß die Kreuzzeitung die Genfer Skandale den Demokraten zuschriebe und vergesse, wie doch die Märztage durch das Königstum verschuldet gewesen wären!" Ein in Baden-Baden verweilender Korrespondent schreibt die jüngste Prügelei am Spieltische der Erbitterung zu,

L o n d o n , 17. September

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welche die traditionelle Politik Preußens — die Kleinstaaten daran zu gewöhnen, ihre „Institutionen" nach preußischem Muster zu modeln — daselbst hervorgerufen. Als solche „gemodelte Institution" wird die von Preußen veranlaßte Ausschließung der nach Baden-Baden reisenden demi-monde vom Kursaale etc. genannt. Sie sehen, wir Preußen stehen übel angeschrieben bei den Freunden der ungenierten Selbst-Regierung. Indessen ist eine Skizze der mitelstaatlichen Politik in einem anderen Blatte nicht ohne ein Teilchen Wahrheit: „Die vier Opponenten der preußischen Handelspolitik gruppieren sich wie folgt: Nassau und HessenDarmstadt zögern nur so lange mit ihrem Anschluß, als nötig ist, um Österreich erkennen zu lassen, daß sie ihr Äußerstes mit gutem Willen getan. Bayern wird so lange zögern, bis es mit der Berechnung fertig, daß wirklich seine halbe Bevölkerung ohne Anschluß an Preußen ruiniert würde, Nachbar des nicht-konsumierenden Österreich und Württemberg wird nicht Isolierung vorziehen, um nur Preußen keinen Gefallen zu tun." — Ob der Prinz und die Prinzessin von Wales der dänischen Residenz einen Besuch machen werden oder nicht, ist noch Sache der Diskussion in der Presse. Daß die Prinzessin ihren Gemahl nach Stockholm begleiten werde, wird daraus geschlossen, daß der kleine Prinz nach England zurückgeschickt wird, und zwar auf dem Schiffe „Black Eagle", das zu diesem Zwecke im Sunde vor Anker gegangen. Die Prinzessin als Patronin des englischen Vereins zur Unterstützung dänischer Verwundeter und Hinterbliebener leitet zur Zeit die Vorbereitungen für einen von der dänischen Damenwelt zu beschickenden Bazar, dessen Eröffnung in Her Majestys Theatre sogleich nach Rückkehr der Prinzessin bevorsteht. Zu solchem Zweck sind auch das Musikkorps der Danish Guards und drei dänische Bauernsänger „im Nationalkostüm" hier bereits eingetroffen und beteiligen sich zunächst an den großen Konzerten des Monsieur Jullien. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei bemerkt, daß jenes Musikkorps nicht einer „dänischen Garde" vom Militär angehört, sondern der Kopenhagener Town guard (Stadt-Garde). — Franz Müller (der angeklagte Mörder) ist heute von Liverpool hier eingetroffen und die Neugier des Publikums steht auf den Fußspitzen. Vor allen Schaufenstern der Photographen stehen seine Porträts in allen Größen! Man hatte dem Angeklagten auf dem Rücktransport zur „würdigen" Vorbereitung auf seine Verhöre — Dickens komische Romane „The Pickwick Papers" und „David Copperfield" zu lesen gegeben, worüber er sich „halbtot gelacht haben soll"; über seine Sache soll er nichts weiter geäußert haben, als,' er werde „sich reinigen können". Er ist ungefesselt wegen seines „exem-

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plarischen Verhaltens"; auch benahm er sich, als „ginge ihn die Sache nicht im mindesten an". — Der plötzliche Tod eines der beien — wenn auch wissenschaftlich angefochtenen — Nilquellen-Entdecker, Kapitäns Speke, welcher auf der Jagd durch Entladung seines Gewehrs verunglückte, erregt tiefe Betrübnis. Dies geschah vorgestern bei Bath, wo gerade die wissenschaftliche British Association ihre diesjährigen Sitzungen hält. Sein Begleiter meldet den Vorfall in folgenden Worten: „Ich hörte den Schuß und blickte mich um. Ich sah den Kapitän oben auf der Mauer stehen, die er überklettern wollte, aufrecht für zwei Minuten. Dann fiel er rücklings auf das Feld. Ich lief hinzu und er wisperte: ,Bewege mich nicht von der Stelle! Ich bete!' Zehn Minuten später brach sein Auge." — Über die Anwesenheit des Prinzen Humbert in London, welcher soeben den Wettrennen zu Doncaster beigewohnt, äußern sich die meisten Blätter nur in Gemeinplätzen und stellen Vergleiche zwischen dem Empfange Garibaldis und dem seinigen an! Das ist ziemlich unnötig, denn nach jenen tollen Triumphzügen könnte die Nachahmung solcher Dinge von einem Prinzen, auch aus dem Hause Savoyen, doch nur wie eine Beleidigung angesehen werden. In Bezug auf angebliche politische Winke des Prinzen zitiert der „Morning Star" folgende Worte der „Gazette de France": „Die Anerkennung des Königreichs Italien von Seiten Österreichs käme einem Verzicht nahe auf den Besitz Venetiens." — Von unsern Ministern befindet sich Lord John Russell in Balmoral. In England „schreibt" der edle Lord, in Schottland „redet" er Reden. Nicht unmöglich, daß er eine Rundreise macht, wie im vorigen Jahre und — einem andern — Blairgowrie erzählt, was aus seinem Vorschlage geworden: „Laßt uns ruhen und dankbar sein." Palmerston ist zu Hause auf seinem Gute „Broadlands" und das Witzblatt „Punch" bildet ihn ab als „den rechten Mann im rechten Platz", d. h. im Jagdkostüm vor einem Jagdfrühstück hingestreckt und sich eine Havannah anzündend, als einzigen Genossen Herrn Punch in eigenster Person sich gegenüber, der unter schiefgesetztem Hute ihm Beifall zugrinset. Weniger Ruhe hat unser Marineminister Herzog von Somerset, welcher seine Reise zur Inspektion englischer Häfen eben bis auf Malta ausgedehnt hat. — Es heißt, daß man in diesem Jahre, wie ich auch schon vor einigen Wochen andeutete, alles Ernstes in Verlegenheit ist, genug Rekruten für die Armee anzuwerben. Irland, sagt der „Standard", dessen „gedankenlose, furchtlose Bauern" immer so leicht die „Beute" unserer Werbesergeanten wurden, ist von geschickteren Agenten Lincolns völlig „dräniert". Das Blatt schreibt einen Lobartikel auf die „festländische Militärkonskrip-

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T h e R i g h t M e n in the Right Place

t i o n " u n d gibt derselben ehrlicherweise den entschiedensten Vorzug vor dem englischen Werbesystem. D a s ist lehrreich. Der Artikel ist so geschrieben, d a ß er sich so „gut p r e u ß i s c h " liest, als w ä r e er in der Wehrzeitung erschienen. — Australien scheint sich nun wirklich seiner H a u t w e h r e n zu wollen. Die jüngste Post bringt ein D o k u m e n t , ausgesetzt von einem angesehenen Beamten der Kolonien, Mr. Wilson, in welchem es heißt: England m u ß von seiner Vorliebe f ü r V e r b r e c h e r t r a n s p o r t e nach anderer ehrlicher Leute H a u s e kuriert w e r d e n . Wir beginnen von jetzt vorläufig genauso viele ausgediente Verbrecher nach England zurückzusenden, als sie uns neue zuschickt, u n d z w a r w ä h l e n wir die Verdorbensten. D o c h w e r d e n wir keinen G r u n d sehen, uns auf dieselbe P r o p o r t i o n zu beschränken. Es gibt kein anderes A r g u m e n t , das englische Volk v o m Gegenteil zu überzeugen, d a ß unser W i d e r s p r u c h n u r S p a ß sei oder sich auf i m a g i n ä r e Übel g r ü n d e . " Ein Blatt schlägt die H i n t e r l ä n d e r der H u d sonbai f ü r Verbrecher-Kolonien vor. Das w ä r e allerdings ein Sibirien mit einem G r u n d s t r i c h , aber wohl zu n a h e f ü r die Werbe-Agenten der g r o ß e n „einen, freien u n d ungeteilten" Republik in N o r d a m e r i k a . [Nr. 221, 21. 9. 1864]

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1864 Was man Russell gönnt. Die Yacht für Garibaldi Der Abessinierfürst wieder beruhigt Katholische und anglikanische Klöster Dachbau mit Frühstück

p* London, 24. September Nicht im mindesten übertreibe ich, wenn ich behaupte, daß neunzig Prozent des englischen Publikums, des Zeitungen lesenden natürlich, sich im voraus auf die Antwort des Herrn v. Bismarck bezüglich der letzten Russeischen Depesche in Sachen Schleswig-Holsteins freut. Zuversichtlich ein modele de nettete, wird sie von der Presse, nur mit wenigen Ausnahmen, Russell herzlich gegönnt werden. Schrieb doch eines der toryistischen Organe schon: „Wenn die Dänen wieder so besessen (!) und so blind sein sollten, auf wohlwollende Winke der Whigs von Russellscher Farbe auch nur das geringste Vertrauen zu setzen, so verdienen sie, auch das Letzte einzubüßen." Aber auch whiggistische Blätter erklären die Russellsche Anspielung auf ein suffrage universel in Nordschleswig als etwas starkes Rauchmaterial, da der edle Lord diesen Modus, solange er Ungünstiges für Dänemark in Aussicht gestellt, aus „Prinzip" angefochten habe; „ob er denn wirklich glaube, was dem Kaiser Napoleon nicht nachgegeben worden, werde auf Russells dänische Toaste post prandium zugestanden werden?" — Ein Mr. Wballey, Parlamentsmitglied, und zwar wegen seines Schreckensrufes: „Überall Jesuiten" seit langem Gegenstand unserer Witzblätter, hat sich nach Caprera begeben, um Garibaldi eine „durch einzelner Privatmittel beschaffte" Yacht „im Namen der englischen Nation" anzubieten. Hierüber äußern denn mehrere Blätter ihre entschiedensten Bedenken, mit melancholischen Akzenten eingestehend, daß die Idee, „so gut sie gewesen", als National-Idee explodiert wäre, „da sie vom Publikum nicht aufgenommen wurde". Mr. Whalley soll übrigens als Politiker nichts weniger als Garibaldiner sein, aber den Mann „so lieb haben", weil er den „Papisten" so „wacker zu Leibe wolle". Die Logik eines Kauzes mit einem orangistischen Sturmkäppchen. Mr. Whalley ist Orange-Mann. — Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß der englische Konsul in Abessinien um diese Zeit seiner Ketten und Banden ledig ist. Wie uns das hier angelangte Blatt „Egypto" meldet, war die Ursache seiner Einkerkerung das Ausbleiben einer Antwort auf ein Schreiben des Kaisers Theodor an die Königin Victoria. Der genannte Potentat nahm diese Verzögerung sehr übel und suchte

L o n d o n , 2 4 . September

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Genugtuung durch die Einsperrung des harmlosen Funktionarius Mr. Cameron, weil sein Handschreiben, dessen Besorgung er dem Konsul anvertraut hatte, einen sehr zarten und delikaten Punkt berührte, nämlich einen Heiratsantrag an Ihre Majestät, „von deren Witwenstande ihm Mitteilung geworden". Nach Angabe des „Egypto" hat jetzt eine höfliche Ablehnung bereits durch Kamel-Stafette den Weg nilaufwärts gemacht und muß bereits in den Händen des erzürnten Abessinierfürsten sein, der hoffentlich nun nicht mehr an eine Briefveruntreuung seitens des Mr. Cameron oder an ein verachtungsvolles Schweigen seitens der Königlichen Adressatin glauben wird. — Der seines Amtes entsetzte Bischof Colenso

wird im O k t o b e r seine Rückreise nach Natal, seiner ehemaligen

südafrikanischen Diözese, antreten. An mehreren Versuchen, in der Provinz hier und da zu predigen, wurde er seitens der Kirchenpatrone der betreffenden Flecken und Dörfer verhindert, worauf er bei zwei Gelegenheiten auf dem Kirchhofe vor der Tür des Gotteshauses Anreden an die Gemeinde hielt. Dergleichen führte dahin, daß einzelne Geistliche sich gänzlich „seiner D o k t r i n " anschlossen, und die Verweigerung der „Kirche" nicht als von ihnen ausgehend, sondern die Patrone der Vestries (Kirchensprengel-Verwalter) dafür als verantwortlich bezeichneten. In einer mir vorliegenden Nummer des „ N a t a l - M e r c u r y " ist ein Protest von Geistlichen und anderen Bewohnern der Diözese gegen die Rückkehr Colensos abgedruckt. Auf einem Bankett zu Bath, als die British Association dort ihre Sitzungen hielt, brachte Colenso einen Toast auf den anwesenden afrikanischen Missionar Dr. Livingstone aus, dessen geistliche und weltliche Wirksamkeit unter den Heiden rühmend.

Livingstone

hatte die übliche Antwort zu geben, beschränkte diese aber auf die Anerkennung nur der „weltlichen" Wirksamkeit Colensos, was Verbesserung der äußeren Lage der Zulukaffern usw. angehe. — M a n scheint es in der Tat zu Konflikten zwischen den „Belfastern" Londons treiben zu wollen; nicht nur währte die (ausschließlich protestantische) sehr spöttische Plakat-Literatur gegen den Papst fort, sondern es sind auch mehrere orangistische Prediger aus Irland herübergekommen, die mitten in Vierteln, die hauptsächlich von Irländern und Katholiken bewohnt sind, Meetings ankündigen und die üblichen „Enthüllungen" über „katholische Umtriebe" verheißen, die aber der Art seien, daß sie sich genötigt sähen, weibliche Zuhörerinnen von ihren Vorlesungen auszuschließen. Da dicht bei Nottinghill ein neues Kloster für M ö n c h e in der Nähe der NonnenKonvente errichtet werden soll, haben sie diesen Stadtteil zum Herd der Agitation gewählt — auch einen anderen, H o r t o n , wo vor einigen Tagen

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1864

das erste Augustinerkloster in London von dem Propste Dr. Manning von Westminster, dessen Erhebung zum Kardinal bevorsteht, eingeweiht wurde. Es geschah dies in demselben

Hause, welches die Augustiner

unter Heinrich dem Achten zu räumen hatten. Dr. Manning wies auf diese Anknüpfung an alte Traditionen hin und sah es als eine gute Verheißung an, daß die katholische Geschichte Londons, deren Namen noch an den Straßenecken der Stadt geschrieben stehe (wie White-Friars, Austin-Friars usw.) ihre alte Erbschaft wieder antrete, daß „wieder Licht sein werde, w o Licht war", und „worauf so viele Anzeichen hindeuteten, England der Kirche wiedergewonnen würde, wo sich mehr und mehr die Meinung einlebe, daß die anglikanischen Bischöfe nicht als Nachfolger der Apostel gelten k ö n n t e n " . In dieser Woche wurde in London eine, in der nächsten Umgegend zwei katholische Kirchen eingeweiht, jede von einem einzelnen Privatmann erbaut. Morgen wird H o c h a m t in den meisten abgehalten, eines in italienischer und eines in französischer Sprache, beide von dem eben angelangten Bischof von Smyrna, Scapapierra. Die Familie des Earl Grey o f Kinkaustin ist soeben der des Earl Arundel im Übertritte zur katholischen Konfession gefolgt. „Bruder Ignatius"

(nicht

„Father Ignatius", wie ich jüngst irrtümlich bemerkte 2 6 ) hat mit seiner Agitation zur Bildung „anglikanischer M ö n c h s k l ö s t e r " schnelle Erfolge. Dem ersten zu Norwich sind bereits zwei andere gefolgt, und Bruder Ignatius hat Rundreisen zu gleichem Behufe angetreten. Das Predigen in Kirchen wird ihm meist verwehrt und er beschränkt sich demnach auf „lectures", wobei es hin und wieder, wie zu New-Castle, zu Szenen mit andern Geistlichen k o m m t . Er erklärt sich übrigens ausdrücklich noch als Mitglied der „established c h u r c h " ; „er halte fest an seiner Signatur ihrer 3 9 Artikel und an jeder Zeile ihres Gebet- und Gesangbuches und begründe seine Befürwortung mönchischen Zölibats auf das Evangelium, — nicht, wie irrtümlich verbreitet wäre, auf römische D o k t r i n e n " . Vor kurzem hat Baron Brunnow der Stadtbibliothek der City ein Exemplar des wertvollen Sanctorum librorum C o d e x Signaticus als Geschenk des Kaisers von Rußland überwiesen. Am 2 9 . d . M . steht die Neuwahl eines L o r d - M a y o r bevor. Unter den sieben zur Wahl herangealterten Aldermen wird Mr. Haie als der neue City-König bezeichnet. Alle Welt weiß, daß der Ruhm eines solchen sich über das Land verbreitet, wie appetitliche Rauchringel aus einer Bowle Mockturtlesuppe, und daß, trotz seiner Ta-

26

Κ London, 10. September 1 8 6 4 .

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London, 1. Oktober

felgelder von 5000 Pf. St. auf ein Jahr, er a u ß e r d e m noch ein ganz respektables Vermögen auf Diners zuzusetzen hat. Bisher übersah man auch den „Kleineren im Rate" solche Verwendung von „Fonds", deren ursprünglicher Z w e c k von der Neuzeit „abgeschafft", mit Wohlwollen, denn das „schöne Geld" war doch einmal da, aber die Nörgeleien einer wißbegierigen Presse scheinen auch dieser milden Praxis ein Ende zu machen. So zitierte Alderman Waterlow dieser Tage fünf City-Beamte der Baudeputation vor seinen Stuhl und hielt ihnen eine mütterliche Warnrede, weil sie, statt das neue Dach der alten Guildhall aus den angewiesenen Fonds zu bauen, schon im voraus letztern um nahezu 2800 Tlr. verkürzt hätten; so geschehen: durch ein Frühstück, d a n n noch einmal ein Frühstück und noch einmal ein großes 1800 Taler kostendes Frühstück „im Freien", wozu selbige Übeltäter sich sogar o h n e Erlaubnis der alten vierhundertjährigen reichvergoldeten Pracht-Barke des LordM a y o r zu einer T h e m s e f a h r t bedient hätten, von 600jährigem Sherry gar nicht zu reden. Als mildernder Umstand w u r d e „urgiert", d a ß an dem letzten Dejeuner im G r ü n e n auch die Arbeiter sich in respektvoller Entfernung beteiligen d u r f t e n , auch entschuldigte sich die löbliche Baudeputation damit, sie hätte es nicht unterlassen wollen, zu dem neuen „ D a c h e " doch auch den feierlichen „ G r u n d s t e i n " zu legen. [Nr. 227, 28. 9. 1864]

Alles unter Registrierung. Verlorenes Wahlrecht Bestechung. Ein Geständnis Russells. Kanada. Franz Müller p* London, 1. O k t o b e r Alle politischen Leute in Stadt und Land stehen jetzt unter Registrierung. Alle J a h r werden die Geldbeutel der Wahlberechtigten geprüft, d. h. strikte Forschung nach ihren Besitztiteln, Pachtbeträgen, Mietsverhältnissen, Steuerpünktlichkeit gehalten und w o da nicht bestanden wird, erfolgt Streichung. In jedem Wahlbezirk L o n d o n s sitzt jetzt Vormittage lang ein Barrister in knisternder Robe und Puderkäppchen, zur Rechten ein Häuflein toryistischer, zur Linken ein Häuflein whiggistischer Weisen, die sich gegenseitig die Wähler streitig machen, w o d a n n der Barrister die Entscheidung zu fällen. Durch Unfähigkeitserklärung von Wählern sucht jede Partei der andern die Kohorten abzuschwächen, und die

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feinsten Tüfteleien kommen ins Spiel. Das geschieht dieses Mal um so mehr, da im nächsten Frühjahr aller Berechnung nach allgemeine Neuwahlen ausgeschrieben werden dürften. Die Verhandlungen sind öffentlich und wenige bieten dem H u m o r so vielen Stoff. Was haben zum Beispiel jene Gewürzkrämer verübt, die ihr Wahlrecht verlieren, sobald sie mit ihrem Geschäft eine Stadtpost-Expedition verbinden? Und hat es nicht etwas Beängstigendes, zu lesen, daß ein sehr respektabler Schneidermeister und Hauseigentümer in der City, der sogar sein Besteck an der Lord-Mayors-Tafel hat, sein Wählerrecht verloren, weil er infolge baulicher Raumersparnisse mit seinem Hausnachbar ein und dasselbe Waschhaus teilt und — I beg your pardon — ein und dasselbe ,,-Closet" besitzt. Aber „Ergo"

sagt — er ist nicht länger im Vollbesitz seiner unab-

hängigen „Befugnisse" nach der Formula des Selfgovernment. Ausgestrichen — Streusand! F. Henry T. Berkeley, Esquire (Esquire bedeutet auf englischen Brief-Adressen soviel als: Schreiber hält Sie für einen Mann von mindestens 5 0 0 Pfd. St. per annum und „hoffentlich" mehr), Eigentümer der „Saturday Review" bearbeitet die Editoren von verschiedenen Blättern jetzt wieder mit seiner alten Lieblingsidee des „Ballot" bei Wahlen, in würzhaften Eingesandts. Bekanntlich bringt derselbe einmal in jeder Session einen hierauf bezüglichen Antrag in das Unterhaus, fällt jedesmal durch und k o m m t nach 12 M o n a t e n wieder, um denselben Fall abermals mit Glanz durchzumachen. Es ist wahr, er erhält in jeder Session ein halbes Dutzend Stimmen mehr für seine „Maßregelung des Liberalismus", es ist faktisch eine solche, denn, obwohl der Angriff gegen die toryistischen Grundbesitzer gerichtet ist, so ist doch unzweifelhaft, daß sein Argument „die Pächter auf dem Lande wechseln ihr politisches Bekenntnis genau mit dem des Grundherrn" beiden Parteien, mithin den Whigs ebenfalls einen Hieb versetzt, auch für die politische Reife der wählenden Pächter „Bände spricht", überhaupt einige große faule Wurzeln des reinen Parlamentarismus bloßlegt. O h n e nun die Tories

als

weißgekleidete Jünglinge charakterisieren zu wollen, so befanden sich doch unter etwa vierzig sehr groben Einschüchterungen von Parlamentswählern seitens derer, die den Daumen auf dem Geldbeutel halten, oder Ämter zu vergeben haben, oder in Irland wahlstörrigen Farmern das Haus mit davor

gespannten

Pferden

über den Kopf zusammenreißen

dürfen, achtunddreißig, die von liberalen Whigs ausgingen; und in gewissen D o c k s hatten viele konservativ gesinnte Angestellte, weil der whiggistische Herzog von Somerset keinen Spaß versteht, für ihr Brot zu zittern. O b w o h l nun Berkeley gewiß ganz ehrlich an eine gründliche Ab-

London, 1. Oktober

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hülfe dieser Mißstände durch Ballotwahlen „glaubt", so schmeckt der bloße N a m e doch schon sehr nach dem „großen Ungewaschenen", dem „souveränen" Volk. Der Rechtsgelehrte Sir Fitzroy Kelly schlägt strengere Leistung des „Bestechungseides" vor mit milden Anspielungen auf Tretmühlen und sonstige Pön. Aber was heißt „Bestechung"? M a n hat d a f ü r den N a m e n „considerations" e r f u n d e n , und ein Dutzend Speckseiten oder ein Patengeschenk für den Jüngstgeborenen oder eine rein „hum a n e " Stundung von Pachtgeldern, ein Kaffeekränzchen f ü r Wählers Weibsen, von unbekannten Wohltätern bezahlte Ankreidungen beim Bierwirt — wer will sagen, das sei Bestechung. Es ist richtig, d a ß unter 300 Wahlen gegen 70 dieserhalb angefochten werden, und d a ß ein besonderes Parlaments-Comite für Untersuchung von dergleichen considerations oft alle H ä n d e voll zu tun hat; aber selten landet dieselbe auf etwas anderem, als auf dem Faktum einer großmütigen Vergeudung von Viktualien. In diesem Jahre machte ein ehemaliges Parlamentsmitglied Bankerott infolge von Wechselreitereien, deren Ursprung als in einer Ausgabe von 50.000 Lstr. für seine frühere Wahl in das Unterhaus bestehend bezeichnet wurde. Selbst ganz unverfängliche Ausgaben laufen auf zu 3 — 4000 Lstr. und der Verfasser der „ M o d e r n Statesmen", Ritchie, erzählt von einem Geständnis Russells, wonach letzterem seine Wahlen in der City früher mehr Ausgaben gemacht, als ihm sein Ministergehalt eingetragen. — Was folgende Notiz einer hier angelangten ostindischen Zeitung bedeutet, steht abzuwarten. Sie lautet: „Eine Brigade berittener Artillerie und acht Linien-Regimenter kehren jetzt nach England zurück infolge des drohenden Aussehens der europäischen Verhältnisse." Möglichenfalls hat der Berichterstatter kanadische Verhältnisse dabei im Auge gehabt, über die man sich hier mehr Sorgen macht, als man eingestehen will. Das neueste Telegramm, das von dem Erscheinen zweier Kaper der Südlinger auf dem Erie-See spricht, wird durch den Z u s a t z bedenklich, daß jene „Südlinger" Flüchtlinge auf britischem Boden gewesen, von dort aus eine Wasserfahrt u n t e r n a h m e n , zwei Passagierdampfer der Nördlinger überrumpelten und solche dann im britischen Binnenhafen für ihre Z w e c k e ausrüsteten. Für Z u n d e r hat Earl Russell früher schon durch Lässigkeit reichlich gesorgt und Kanada wird in der Tat in Richmond verteidigt. Sehr übel gefallen hier die Auslassungen einzelner Pariser Journale, die einen Artikel über den eventuellen Verlust Kanadas mit der Phrase schließen: „Cela va sans dire." — Was der radikale „Morning Advertiser" in roter Tinte leistet, sobald es sich um Schmähungen Deutschlands handelt, geschieht auch seitens des „Standard",

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der doch stellenweise konservativ, mit einer bemerkenswerten Rohheit. Ein Satz genügt zum erneuten Beweise: „Alle Welt weiß, oder sollte doch wissen, wie grundaus gerecht die Schlußverhandlung gegen Franz Müller sein wird; aber wir begehren, daß auch nicht der geringste Vorwand den transzendentalen Sachsen gegeben werde, um auch nur für einen Moment zu glauben, daß wir einen Märtyrer aus dem Landsmann des Herrn v. Bismarck und Herrn v. Bockum-Dolffs gemacht hätten!" Wieder in einem Berichte über Gerichtsverhandlungen sagt dasselbe Blatt ganz ohne jedes Beweisdetail: „Die Londoner Deutschen haben die Praxis Ankläger und Zeugen aus dem Wege zu halten, wenn es sich um Untersuchungen gegen ihre Landsleute handelt." Der Rechtsschutzverein besteht erst seit der Müllerschen Affäre, und, wiewohl es nur zu häufig vorkommt, daß Engländer störende Zeugen nach Australien verwandern lassen oder Privatankläger „totkaufen", so ist mir doch bei mehrjähriger Lektüre der Gerichtsberichte nicht ein einziger Fall begegnet, wo Deutsche mit ihren ohnehin bescheidenen Geldmitteln dergleichen zur „Praxis" gemacht hätten, was sicherlich kein englischer Reporter verschwiegen hätte. [Nr. 233, 5. 10. 1864]

Dr. v. Bunsens Rede. Was sich die „Rotlappen" in Soho erzählen Die Explosion zu Erith. Auf einem Vulkan. Themsewasser p::" London, 8. Oktober Obwohl Herr v. Bunsen in seiner Rede über Schleswig-Holstein, welche er am Mittwoch vor der North-Walsham-Agricultural-Society zu Walsham gehalten (vgl. Nr. 238 2 7 ), sich Mühe gab, was Engländer „common sense" heißen, für die Herzogtümer zu engagieren, so ist doch eines zu verwundern. Wie Herr v. Bunsen, der mit Londoner Verhältnissen sowohl wie mit den Gewohnheiten der Engländer überhaupt bekannt sein muß, dem Gedanken sich überlassen konnte, er würde Engländer, sobald sie sich einmal in nationale Vorurteile verritten, von dem Gegenteile überzeugen, oder gar ihnen das Eingeständnis eines Irrtums plausibel machen können, das ist erstaunlich. Er hat dasselbe schon in der Times versucht, Professor Müller in Oxford tat desgleichen, Rüge sogar trat aus seiner Tusculum-Stille heraus und versuchte, englischen Blättern 27

Dr. v. Bunsen ü b e r Schleswig-Holstein, in: Nr. 238, 11. 10. 1864.

London, 8. Oktober

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„Vernunft" vorzuschlagen — aber ohne auch nur eine Spur von Einfluß zurückzulassen, obwohl es nicht an liberalisierendem oder demokratisierendem Gewürz in solchen Artikeln fehlte. Versuchte doch Herr v. Bunsen auch seine Rede dem englischen Geschmack angenehm zu machen, indem, wie er sagte, er ganz „englisch" fühle, was die „Betrübnis" über die Ausfechtung des Rechtes der Herzogtümer durch Preußen und Österreich anginge. Auch appellierte er an die Sympathien der anwesenden blonden Squires dadurch, daß er ein Mitglied der preußischen KammerOpposition und nicht in der mißlichen Lage eines Diplomaten wäre, der im Dienste seines Vaterlandes im Auslande „lügen" müsse! Solche Bemerkung aus dem Munde des Sohnes eines Diplomaten verfehlte denn auch ihre Wirkung auf die Lachmuskeln nicht. Cheers wurden ihm nur, wo er auf der Gedankenreise bei einem „Lobe Englands" anlangte. Sonst wollte nichts verfangen. Solche Reden betrachtet man auch im Publikum als mal places. Wie auch eingekleidet, der Engländer hält sie entweder für eine Huldigung vor der Wichtigkeit seiner Weltstimme, oder für eine moralische Bettelei. Solange noch der Kampf in der Presse brannte und die Täuschung noch verzeihlich, man könne der Presse, die doch sonst gegen Tatsachen nicht unempfindlich, Worte der Gerechtigkeit

oder

doch Verträglichkeit durch einen energischen Appell gegen Lüge und Heuchelei abringen, hatte eine Rede oder ein Eingesandt „zugunsten" Deutschlands noch einen Sinn. Jetzt aber ist Schweigen die einzige Waffe, ein völliges Ignorieren, dessen, was die Leitartikler denken und dichten, das allein Passende. Und Herr v. Bunsen hat dies aus der Haltung der Presse seiner Exposition gegenüber zu lernen, die seine Rede ohne Sang und Klang entläßt. — Ohne ein Urteil zur Sache zu haben referiere ich einfach, daß hier davon die Rede, Mazzini habe an seine Konsorten in Italien die Ordre ergehen lassen, die „Stimmung" für die Verlegung der Hauptstadt von Turin nach Florenz „anzufeuern", indem das Aufgeben Turins ganz in das Schema seiner Partei passe, welcher jener Rest von härterer nordischer Natur, der noch vielfach dem Piemontesen beiwohne, auch das Militärisch-Geordnete in dessen Verhalten immer Schwierigkeiten in den Weg gelegt; man müsse Florenz zum Capua dieser „Hannibal-Tugenden" machen usw. Es ist dies das Gesprächsthema in unserem Fremdenviertel Soho, wo alles, was den „roten Lapp e n " trägt, chambre-garnie wohnt. Ebenso hält man das Wiedererscheinen Garibaldis in der Turiner Kammer demnächst für gewiß. Die dort bestehenden revolutionären Clubs französischer Nationalität geben ein rotes Blatt heraus, das sich „La Verite" nennt. Sein Vorgänger „La France

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libre" ging aus Überfluß an Abonnentenmangel ein, gleich nachdem das Organ der liberalen Bourgeoisie „La Presse de Londres" von dem englischen Herausgeber des teuren Wochenblattes „Le Courrier de l'Europe" (orleanistisch) totgekauft worden. Der „Courrier" hat ungefähr 8000 Abonnenten — aber meist in Kanada unter der dortigen französischen Bevölkerung. Augenscheinlich in Flor ist das täglich erscheinende Blatt „L'International", für ein französisches wirklich gut unterrichtet, seinem vorjährigen Programm zufolge „streng-unabhängig", seiner diesjährigen Unabhängigkeit nach „streng-bonapartistisch". Es hat eine Pariser und eine Brüsseler Ausgabe, und eine Zeitlang wurde als Redakteur en chef „Mr. Perron, ancien redacteur politique du Moniteur Universel", genannt. Das oben erwähnte rote Wochenblatt „La Verite" verheißt seinen Lesern in jeder Nummer eine Kritik, „scharf wie das Beil", und hat für die, welche sich zum Wohle ihres Vaterlandes im Auslande aufhalten, eine neue Marseillaise gedichtet, nach der Leierkasten-Piece „Der alte Feldherr", beginnend: „Reveille-toi, France republicaine!" — Die von so vielem Unglück begleitete Pulver-Explosion zu Eritb hat zu recht bedeutenden Enthüllungen geführt. Das deutsche Spüchwort: „Wenn das Kind ertrunken, deckt man den Brunnen zu" ist nur wiederum neu illustriert. (Es wird beiläufig echt englisch und viel gemütvoller dahin übersetzt: „Wenn das Pferd weggelaufen, schließt man die Stalltür.") So lesen wir jetzt Eingesandts, unterzeichnet „Alarm" oder „Einer, der auf einem Vulkane wohnt". Wir hören, daß zu Upnor, dicht gegenüber den Docks zu Chatham, sich ungeheure Pulvermagazine befinden, deren Explosion jene Stadt bis auf den letzten Holzstall von der Erde blasen müßte; ferner, daß zu Portsmouth inmitten der Stadtfestung sich ein großes Pulvermagazin befindet, und zwar von einem Riesen-Gasometer der Gasfabrik nur durch ein Gäßchen getrennt von 9 Fuß Breite. Wir hören ferner, daß zu Purfleet im Pulvermagazin 50.000 Fässer Pulver lagern, also fünfzigmal die Quantität, die zu Erith oder Belvedere am vorigen Sonnabend in die Luft gegangen. Eine Explosion müßte aus dem östlichen London, Greenwich, Woolwich bis zu Gravesend an der Themse-Mündung eine Wüste machen. Und heute melden uns Leitartikel verschiedener Blätter, daß Pulverladungen auf Kähnen die Themse mitten durch London zu passsieren pflegen, während die ohne jede Aufsicht belassenen Schiffer sich bei einem lustigen Feuer ihr Mittagbrot kochen, und ein Gutsbesitzer von Richmond hat dieselben sogar beim Rauchen betroffen. Aber wieviel „Unglück" ist schon in anderen Dingen an das Tageslicht gebracht, weise besprochen, und doch ist alles beim alten geblieben. Einige

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Blätter verlangen die Einsetzung einer Art von „Ädilen", die das Selfgovernment auf eigene Faust zur Besserung zwingen sollten. Verbesserungen geschehen aber nur in den Fällen, wo dieselben ein „ J o b " , d. h. Profite abwerfen würden, also eine „Company" von Geldleuten hervorrufen, die dann so lange wirtschaften, bis sie ein neues Übel anstelle des alten geschaffen. So reiht sich J o b an J o b in schöner Verkettung, und wir können von Glück sagen, wenn das Parlament hin und wieder einen dicken Strich durch die Rechnung macht, und dieser oder jener Company verbietet, über eine gewisse Dividende hinauszugehen, wodurch der Habsucht die Möglichkeit benommen, sich durch Verschlechterung des Gelieferten zu bereichern. So dürfen ζ. B. die Londoner Gaskompanien nie mehr als 10 Prozent Dividende zahlen und ein gleiches Verbot soll für die großen Wasserleitungsgesellschaften bevorstehen, die ein Wasser liefern, das 22 Prozent vegetabilische Stoffe enthält (wir lassen die Zahl stehen, aber es ist einfach nicht möglich; das würde nicht Wasser, sondern ein Mus sein. D. Red.) und aus der Themse an einer Stelle bezogen wird, die sich einige hundert Ellen unterhalb der Ausleerungsröhren sämtlicher Kloaken des nördlichen Londons befindet. Dies eine Skizze unserer täglichen Leiden und Freuden. — Denkmäler sind hier billig geworden. An der Stelle, wo Lord Brougham gestanden, als er soeben seinen 86. Geburtstag gefeiert, wird ein Denkmal dieserhalb errichtet. Ein Städtchen feiert das Andenken an ein von einem Mayor bezahltes Picknick mit einem Denkmal und verehrt ihm für seinen Erstgeborenen eine Wiege aus purem Silber. Basingstoke heißt die dankbare Stadt. [Nr. 240, 13. 10. 1864]

Mr. Gladstone und die Penny-Blätter „Finanzielle Cholera" Die Maoris. Londoner Trinkwasser p:;' London, 15. Oktober In einer seiner Novellen sagt Disraeli, es gebe nichts Komischeres, als einen stoischen Philosophen, der unter Zahnschmerzen stöhne, oder einen lyrischen Dichter, welcher sich mit der Gicht zanke. Aber man ergänze diese Beispiele mit einem dritten, dem eines Staatsmannes, welcher die englische Penny-Presse für eine „konservative M a c h t " erklärt. Das hat Gladstone getan auf seiner ersten diesjährigen Rundreise-Station, in

London, 15. Oktober

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Bolton. Geschah es aus Dankbarkeit, weil ihn diese Presse immer von der besten Seite auffaßte, oder war es nur eine Umschreibung eigenen Lobes, da „Er" die Masse billiger Blätter voll unbilliger Politik durch die Aufhebung der Papiersteuer geschaffen. Der „Morning-Star", der Revolutionen ausputzt für das unenglische Ausland, aber kein Blut sehen kann, die radikalen Wochenblätter: „Penny-Newsman", „Weekly Times", „Lloyd's Newspaper" und das Organ der Proletarier „Reynolds Newspaper", mit ihrer halben Million von Sonntagslesern, — mit welchem Erstaunen muß sich diese Presse unter die „konservativen Mächte" gereiht sehen, mit ihrer zersetzenden Gesellschaftsmoral, ihrem Aufeinanderhetzen der „Klassen", ihren Verbrecher-Skizzen, voll eines Zynismus, der die Appetite der Leser gegen alles, was nicht Cayenne-Pfeffer, abstumpft. Möglich, daß Gladstone diese Blätter nie gelesen und nur von ihren Tugenden träumt, weil seine eigenen Silberlöffel noch vollzählig sind, oder weil er solche Seelen, die nur Gutes von ihm reden, für seelensgut hält. „Die Penny-Presse", sagt der Minister, „steht keiner nach in Achtung vor moralischen Prinzipien, Achtung vor persönlichem Charakter, Pflichttreue und — was ihr Lebens-Element — in Gesetzessinn und Loyalitätsgefühlen für den Thron. Sie hat nicht nur ,unschuldige' und nützliche Belehrung unter den Massen verbreitet, sondern auch zur Stabilität der Institutionen beigetragen. Sie ist im ,höchsten Sinne' des Wortes zu dem Ehrentitel ,einer durchaus konservativen Macht' berechtigt." Bei der Stelle fiel tatsächlich ein Mann dicht vor Gladstone um, wie die Reporter melden. Große Hitze machte ihn ohnmächtig, setzen sie „arglos" hinzu. Die Penny-Presse scheute nicht die Ausgabe, sich die Lobrede wörtlich telegraphieren zu lassen. Der Minister hat übrigens bei seiner Rundreise die beste Gelegenheit, zu sehen, wozu ihm seine Schoßkinder verholfen: 30.000 Arbeiter im Strike in Süd-Staffordshire. Haltet nur aus, rief die Penny-Presse. Und sie haben vier Monate ausgehalten. 4000 Arbeiter im Strike in Warwickshire. Haltet aus, ruft die Penny-Presse. Und sie haben förmliche Gelübde abgelegt, bis Weihnachten zu faulenzen. 5000 Arbeiter in den Eisenfabriken um Birmingham brotlos, weil die ausfallende Z u f u h r billiger Kohlen den Schluß der Fabriken erzwang. Haltet aus! ruft die Penny-Presse. Und sie warfen explodierende Blechflaschen in die Schlafzimmer von Arbeiterfamilien, deren Ernährer nicht mithungern will, sondern zu niedrigerem Lohnsatze fortarbeitet. Birmingham ist mit stürmischen Meetings bedroht und die Lanzier-Regimenter in der Stadt haben den Stiefel im Steigbügel. — Das Publikum bemüht sich herauszufinden, auf wen denn eigentlich die

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Schuld der jetzigen „Geldkrise" falle. Die einen rechten mit der Bank von England, deren Direktoren sich zu nervös gebärdeten und aussprachen, eine Revision des Bank-Charters sei notwendig. Andere rechnen aus, daß in den letzten anderthalb Jahren nicht weniger als 200 neue Kompanien sich gebildet mit einem Zeichnungskapital von 140 Mill. Lstr., wobei die baren Einlagen nur sehr bescheiden, die Wechsel et cetera aber eine enorme Ziffer bildeten. Noch andere verweisen auf die Tatsache, daß Europa noch nie imstande gewesen, Produkte zu liefern, die Ostindien brauchen könne oder wolle. Demnach seien die ungeheuren Baumwollen-Bezüge der letzten beiden Jahre mit hartem englischen Gelde bezahlt, mit Millionen über Millionen Silber-Rupien (Gulden), die der indische Bauer sofort vergrabe in seiner Truhe; denn der „dumme Kerl" begreife nicht die Vorteile der Spekulation. Das lawinengleiche Fallen von Firmen, das seit dem Sturz der Bank von Leeds überall begonnen, wird zum großen Ärger unserer Presse von einem Pariser Blatte mit „finanzieller Cholera" bezeichnet. Nur wenige dieser Fallissements schreiben sich mit weniger als 5 Nullen. — Die telegraphische Depesche über einen Friedensschluß in Neuseeland erwähnt nur eines solchen, als mit „einem" Hauptquartier der Maoris erfolgt. Es wäre zu wünschen, daß die Presse in der Verurteilung anderer Politik-Greuel ebenso honnet gewesen wäre, wie sie es in der Verurteilung jenes Krieges gewesen. Erst Halbwilde zu „vollberechtigten Staatsbürgern" erheben, aus überhastiger Prinzip-Reiterei; dann sie ausplündern und im Kriege fortfahren nachdem man den Grund dazu offiziell als ein Mißverständnis eigener Verschuldung hat erklären müssen! Der Gouverneur der Inseln, Sir George Grey, hat schon 1850 Rapporte veröffentlicht, in denen er der Moralität, Fähigkeit und Friedensliebe der Maoris ein fast überschwenglich scheinendes Lob angedeihen läßt, wobei Skizzen, wie die folgende unterlaufen: „Wahr ist es, daß die Maoris noch vor kurzem zwischen Schweinsbraten und dem Aufessen von Engländern keinen andern Sprach-Unterschied machten, als ,großer Braten' und ,kleiner Braten'; aber sie schonten immer Frauen und Kinder. Ihre Mythologie ist so poetisch wie die der alten Griechen und Ägypter." Die diesjährigen Rapporte reden bereits von Zeitungen in der Maori-Sprache und gewissen Einrichtungen, die nach englischem Selfgovernment schmecken. Ein spekulierender Maori hat sogar ein Table d'hote nach Londoner System für seine Landsleute eingerichtet, „aber", sagt der Bericht, „die geistreichen Maori-Gentlemen fasteten immer zwei Tage lang, um am dritten an der Table d'höte sich dermaßen gütlich zu tun, daß der braune Wirt banque-

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T h e War in New Z e a l a n d : Surrender o f the T a u r a n g a Natives at the T e Papa Station

rott w u r d e " . A u c h s o l c h e D i n g e g e h ö r e n in die G e s c h i c h t e der Z i v i l i s a t i o n s - I n s t i n k t e . D i e zehn o d e r z w ö l f H ä u p t l i n g e der M a o r i s , w e l c h e im vorigen J a h r e hier lionisiert w u r d e n , d a n n a b e r von i h r e m D o l m e t s c h e r a u s g e p l ü n d e r t , in allerlei G e f a h r e n mit u n b e z a h l t e n W i r t e n gerieten, sind im W e g e der W o h l t ä t i g k e i t h e i m b e f ö r d e r t . Ihr S e n i o r T o m a r e p e p a p u heiratete v o r h e r n o c h eine w e i ß e L a d y aus L o n d o n . D e r n e u e „ F r i e d e n " ist e b e n nur einer von vielen v o r h e r g e g a n g e n e n , die j e d e s m a l von den landgierigen K o l o n i s t e n N e u s e e l a n d s g e b r o c h e n w u r d e n . D e r „ D a i l y Tel e g r a p h " und a n d e r e B l ä t t e r v e r l a n g e n , d a ß m a n den M a o r i s auch nicht eine Q u a d r a t m e i l e L a n d e s n e h m e n und d a m i t das eigene „ U n r e c h t " eingestehen und g u t m a c h e n solle. M a n s c h ä m t sich w i r k l i c h d i e s m a l im E r n s t e . Einst der c h i n e s i s c h e O p i u m k r i e g und jetzt der M a o r i k r i e g , wel-

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che schwere Schuld, um von einem greisen Premier mit in das — G r a b g e n o m m e n zu werden! — N o c h einmal das T h e m s e - W a s s e r . W i e Sie ganz richtig andeuteten, b e d a r f die von mir gegebene Notiz einer Korrektur. Es w a r ein Schreibfehler. Unser R ö h r e n w a s s e r enthält nicht „ 2 2 " sondern 12 p C t . an vegetabilischen Stoffen „und"

absolut ungesunden „li-

q u i d s " , g e m ä ß den regelmäßig veröffentlichten R a p p o r t e n . Einige Wasser-Gesellschaften bringen es sogar zu 13'Λ p C t . , andere mit besseren Filtrier-Apparaten bleiben bei 9 — 1 0 p C t . „ G e s u n d h e i t s s c h a d e n " stehen. Übrigens werden hier in „ w o h l h a b e n d e n " Küchen kleine Filtrier-Maschinen g e b r a u c h t , welche das Versäumte n a c h h o l e n müssen, o h n e indes das Wasser bis zur T r i n k b a r k e i t veredeln zu k ö n n e n , höhergelegene Vorstadtstraßen abgerechnet. — T h o m a s Carlyle hat den sechsten B a n d seines „Leben F r i e d r i c h s " b e e n d e t 2 8 . D e r fünfte ist a b e r im D r u c k vollendet, der sechste erscheint mit diesem zugleich n a c h W e i h n a c h t e n . D a m i t ist, wie es heißt, das Werk abgeschlossen. Unsere Kritiker sind neugierig auf die eben angekündigten „Briefe über E n g l a n d " von Louis B l a n c 2 9 . Wehe i h m , wenn er nicht jede „bittere Stelle" mit H o n i g verzuckert! Selbst ein so h a r m l o s e r K o r r e s p o n d e n t , wie ich, wurde im vorigen J a h r e in zwei Leitartikeln fürchterlich zerzaust, nur weil ich bezweifelt, d a ß die braven Squires des Unterhauses sich „ g e r n " w ä h r e n d der Dinerstunde innerhalb der M a u e r n des Westminsterpalastes aufhielten. [Nr. 246, 20. 10. 1864]

28 29

History of Friedrich II., called Frederick the Great, 6 Bde, London 1858 — 65. Lettres sur L'Angleterre, 2 tom., Paris 1865.

London, 22. Oktober

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Lord Stanley und die Jung-Tories Staatsmänner sind schwimmende Strohhalme Mangel an Seeleuten Die Arbeiterexzesse in Süd-Staffordshire p* London, 22. O k t o b e r „Ein Stanley! Ein Stanley!" Der R u f geht durch die Presse, wie einst in den Fehden der Hochlande der Ruf: „Ein Graeme! Ein G r a e m e ! " (Graham.) Er ist unser, rufen die von Manchester. Er ist unser, rufen die Liberalen. Er ist Lord Derbys Sohn und bleibt bei uns, murmeln die Tories kopfschüttelnd und die Whigs von Rasse umschreiben Chamissos bekannten Kanon: „Das ist die schwere N o t u s w . " 3 0 , denn er verdirbt ihnen die „Unterschiede der Parteien". Essayisten der letzten fünf J a h r e bezeichnen in ihm als gekommen den „kommenden M a n n " , eine eigentümliche traditionelle Bezeichnung, die schon ein halbes Jahrhundert alt. Es ist nicht zu leugnen, es ist ein Riß in der Partei der Tories, der zuerst bei der großen dänischen Debatte um den Ministerstuhl sichtbar wurde. Seitdem haben Newdegate, Dutton und Disraeli jüngst Wählerreden gehalten, mit denen der „Morning H e r a l d " sehr unzufrieden war.

Disraeli

erhielt sogar ein Bravo von den Manchestermännern. Sagte er doch seinen Wählern: „Der Profit muß in der Landwirtschaft für euch das Entscheidende sein. Ihr glaubt, es bezahlt sich besser, in England statt Weizen und Korn Viehfutter zu bauen; gut, so baut nur Viehfutter!" D a s ist das Alpha von Manchester. Doch folgt daraus nicht das „ B e t a " , was hämische Kritiker andeuteten, Disraeli wolle, des langen Wartens müde, sich in einem gemischten Kabinett „möglich" machen, wenn er auch sich dem Freihandel befreundet und in kleineren Buttersemmelfragen „Prob e n " nicht für gefährlich hält. Dutton sprach frisch von der Leber weg: „Wir sind alle liberal, aber wir liberalisieren (?) nicht. ,Liberal' ist ein großes edles Wort. D a ß man es uns gestohlen, macht das Gold nicht wertlos. Man hat es gefälscht, laßt uns die richtige Münze wiederfinden. Es gehört nur M u t dazu, das Verkanntsein eine Weile auszuhalten." O b es richtig, daß Lord Stanley nur seinem Vater zuliebe noch auf der ersten Bank der Tories verblieben, Schulter an Schulter mit Bulwer und Lenor, wird wohl hin und wieder diskutiert, bleibt aber selbstverständlich eine unbeantwortete Frage. Seine Rede an seine Wähler zu Kings Lynn ist ein 30

„Das ist die N o t der schweren Zeit! Das ist die schwere Zeit der N o t ! Das ist die schwere Not der Zeit! D a s ist die Zeit der schweren N o t ! " (1828)

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Lord Stanley

vollständiges juste milieu, Kreuzung von rechtem und linkem Zentrum. Sie enthielt nichts, was weiße Liberale nicht unterschreiben

könnten.

Ihre Organe sehen in ihm den künftigen Kollegen Gladstones, wenn dieser Führer des Unterhauses geworden sein sollte. In seiner Rede bezeichnete er die Unterschiede zwischen gemäßigten Konservativen und den gemäßigten Liberalen als irrelevant. „Es möge äußerste Tories geben, aber er habe nie einen gesehen. Das Vernünftigste sei meist in der Mitte zu finden. Meinung sei ein Strom und Staatsmänner seien nur darauf schwimmende Strohhalme." Er ist ein viel gereister „philosophischer" Staatsmann, und scheint „über" oder „außer" den Parteien stehend, dennoch Partei machen zu wollen — und zwar für die „Young Tories". Diese Partei hat einen Junior Carlton Club gebildet, der schon in „einer" Woche 1 2 0 0 Mitglieder erhielt und seine Anmeldelisten schließen mußte. Es ist die Blüte der Philosophie darunter. „ K o m p r o m i ß " ist ihm Devise, „Übergangs-Kosmopolitismus"

und sonst manches Schattenhafte.

In

Deutschland würde man sie „liberale Doktrinäre wider Willen" heißen mit konservativen Kokarden. Es ist ein Bückling vor der „Praxis von M a n c h e s t e r " , die junge nachgeborene Garde des alten Sir Robert Peel, Peelismus ins Bedenkliche übersetzt. Die Whigs wollen sich aber nicht „auswischen" lassen trotz des Schwindens der „Unterschiede". Sie erklären das alles für ein neues Manöver, um sie zu verdrängen, wo sie am

London, 2 2 . O k t o b e r liebsten w o h n e n , aus D o w n i n g - S t r e e t . Aufgeben

405

U n d es g i b t L e u t e , w e l c h e

das

d e r im J u l i ( t r o t z des j e t z i g e n D e m e n t i s im „ S p e c t a t o r " ) u n v e r -

b l ü m t a u s g e s p r o c h e n e n A b s i c h t , d a s P a r l a m e n t im F r ü h j a h r a u f z u l ö s e n , lediglich e i n e r w h i g g i s t i s c h e n B e s o r g n i s z u s c h r e i b e n , d a ß die M u n t e r k e i t d e r „ j u n g e n T o r i e s " sie bei den N e u w a h l e n in N a c h t e i l b r i n g e n k ö n n t e . „In z w ö l f M o n a t e n sitzt L o r d S t a n l e y in G l a d s t o n e s K a b i n e t t " , so w e t t e t ein l i b e r a l e s B l a t t . „ N i c h t d o c h , in drei J a h r e n e r s t " , s a g t ein M a n c h e s ter-Organ, „aber dann mit J o h n Bright z u s a m m e n . " — W i e um Rekruten f ü r die A r m e e , s o ist a u c h u m Seeleute Jüngst hatten

f ü r die K r i e g s m a r i n e g r o ß e N o t .

1 0 0 0 i h r e D i e n s t z e i t b e e n d e t ; a b e r k e i n e r ließ sich

von

n e u e m a n w e r b e n . Bei A b t a k e l u n g des w e g e n z w e i f e l h a f t e r S c h w i m m f ä higkeit „eingezogenen" neuen großen Panzerschiffes „Royal wurden

300

Matrosen

abgelohnt,

und

nur 2 0

davon

Sovereign"

nahmen

neues

H a n d g e l d . In d e n A r s e n a l s t ä d t e n C h a t h a m u n d W o o l w i c h f e h l t es an L e u t e n zur B e m a n n u n g v o n n u r z w e i S c h i f f e n , die e b e n a u s g e r ü s t e t , d e r „ V i c t o r i a " und des „ A c h i l l e s " . S o n s t d r ä n g t e sich a l l e s , a u f d e m p r ä c h t i gen F l a g g e n s c h i f f „ F i s g a r d " zu d i e n e n ; a b e r j e t z t h a b e n die S c h i f f s j u n g e n d o r t R a u m , „ M u r m e l " zu s p i e l e n . D e r „ S t a n d a r d " v e r s i c h e r t , d a ß w i e die N o r d a m e r i k a n e r I r l a n d v o n R e k r u t e n d r ä n i e r t , s o h ä t t e n sie a u c h die g r ö ß e r e M e h r z a h l d e r e b e n a u s g e d i e n t h a b e n d e n b r i t i s c h e n M a t r o s e n a n g e w o r b e n , „ d a sie m i l d e r e D i s z i p l i n w a l t e n zu lassen f ü r z w e c k m ä ß i g e r a c h t e n " . D e r a l t e N a p i e r b r u m m t e e i n s t sehr, als er in g l e i c h e r L a g e des M a n n s c h a f t s m a n g e l s B e f e h l e r h i e l t , „ L a n d r a t t e n für die S e e zu d r i l l e n " . „ D r o s c h k e n k u t s c h e r und Lichtzieher nach K r o n s t a d t ? " k n u r r t e er erbitt e r t , u n d e r ließ d a s H a n d g e l d a u f s c h l a g e n u n d w a r b T e e r j a c k e n f r e m d e r N a t i o n e n a n . — N a c h d e m es E n d e v o r i g e r W o c h e g e l u n g e n , den g r ö ß e ren T e i l d e r im S t r i k e b e f i n d l i c h e n A r b e i t e r in Süd-Staffordshire

zur W i e -

d e r a u f n a h m e d e r A r b e i t zu v e r m ö g e n , h a b e n s c h o n n a c h w e n i g e n T a g e n 1 6 . 0 0 0 u n d m e h r v o n n e u e m „ s t r u c k w o r k " . U m n i c h t e i n s e i t i g zu u r t e i len, m u ß e r w ä h n t w e r d e n , d a ß die ä u ß e r e V e r a n l a s s u n g d e r S t r i k e s v o n den A r b e i t g e b e r n a u s g i n g . N i c h t die A r b e i t e r b e g e h r t e n h ö h e r e n s o n d e r n e r s t e r e d r ü c k t e n den L o h n h e r a b , „ u n g ü n s t i g e r

Lohn,

Konjunkturen"

w e g e n . A u c h j e t z t , w o es b e r e i t s zu a r g e n E x z e s s e n g e k o m m e n , v e r l a n gen die A r b e i t e r n u r d e n b i s h e r i g e n L o h n . A u f i h r e n s t ü r m i s c h e n

Mee-

tings w i r d s o a r g u m e n t i e r t : „ I h r A r b e i t g e b e r seid n i c h t H a n d e l s l e u t e , die v o n d e m E r t r a g e d e r M i n e n allein a b h ä n g e n , ihr seid fast alle L o r d s u n d seid r e i c h g e n u g a u s a n d e r e n Q u e l l e n , u m e i n m a l f ü r e i n e W e i l e o h n e P r o f i t u n s zu d e m b i s h e r i g e n L o h n e f o r t a r b e i t e n zu l a s s e n . " C h a r t i s t e n h a b e n sich a u g e n s c h e i n l i c h d e r T u m u l t u a n t e n b e m ä c h t i g t . L a n d e r s v o n

406

1864

Birmingham und andere Truppen haben vorgestern die Stadt Tipton besetzt. Scharen von nicht im Strike befindlichen Arbeitern und Schachtmeistern haben um Schutz gebeten, „da sie ihres Lebens sich nicht mehr für sicher hielten". Andere lösen sich in Nachtwachen ab, um zu verhüten, daß in ihre Hütten explodierende Körper geworfen werden. Dennoch geschah dies in zehn Fällen; in dem einen wurde der Dachstuhl eines Hauses in die Luft gesprengt. Zu Bilston ist es zum Gefecht mit der Polizei gekommen. Die „Einschüchterungsbanden" ziehen, 3- bis 8000 Mann hoch, durch die Städte, alle mit Stöcken, Stangen und gespitzten Pfählen bewaffnet, dabei mit Trommeln und Pfeifen wohlversehen. Der Umstand, daß die Bergwerksbesitzer dort dem Adel angehören, bietet den Chartisten ein willkommenes Kapitel, den Klassenkrieg wenigstens als Phrase vorläufig ins Spiel zu bringen. Drei Tage Pause abgerechnet, währt der Strike jetzt 16 Wochen. Ihre Meetings-Gelübde lauten auf „lieber Hungers sterben als nachgeben". — Die Regierung hat der unverheirateten Schwester des in Mittelafrika ermordeten Reisenden Dr. Eduard Vogel ein Ehrengeschenk von 500 Pfd. St. übermachen lassen. Vogel bereiste Afrika für unser Auswärtiges Amt, lehnte aber jede Besoldung ab. — Der poeta laureatus Alfred Tennyson hat mit der ersten Auflage seines neuen Gedichts „Enoch Arden" 3 1 über 10.000 Pfd. St. erworben. Das kleine Büchlein ist noch dazu in plattenglischem Provinzialdialekt geschrieben. [Nr. 252, 27. 10. 1864]

Palmerston und Patronage „In Geldfragen hört die Ungemütlichkeit auf" 32 Unbehagliches aus Asien p* London, 29. Oktober Was das in England heißt: „an der Quelle sitzen" 3 3 , oder mit anderen Worten: „im Amte sein", in Downing-Street herrschen, und was es ei31

32

33

London, 1864 — Verserzählung; vgl. dazu F.s Tennyson-Vortrag von 1860, in: NFA XXI/1, S. 425 ff. Anspielung auf David Hansemanns Ausspruch vor dem Vereinigten Landtag 1847: „Bei Geldfragen hört die Gemütlichkeit auf." „An der Quelle saß der Knabe", geflügeltes Wort durch Schillers Gedicht „Der Jüngling am Bache" (1803), auf das F. in seinen Romanen oft anspielt, ζ. B. L'Adultera, 9. Kap. (HFA I, 2, S. 63).

London, 29. Oktober

407

gentlich ist, weshalb die Whigs und Tories so eifrig um das Ministerfauteuil streiten, ergibt ein Rückblick auf den Umfang der Minister-Pdironage und Palmerstons Patronage im besonderen. Mit einer ausführlichen Liste beschenkte ihn gleichsam die Presse an seinem jüngsten Geburtstage. Nie seit den Tagen Walpoles hat ein Premier seiner Partei so viele Avantagen verschaffen können. Unter den Erzbischöfen und Bischöfen der anglikanischen Kirche verdanken ihm siebzehn ihre Erhebung, sowie viele Dechanten und Canonici. Wiederum siebzehn Pairs des Reiches wurden nur Pairs auf seine Empfehlung, desgleichen achtzehn Commoners „Baronets". Drei Lordchancellorships vergab er; zweimal ernannte er Attorney-Generals, sechsmal Solcitor-Generals. Von fünfzehn Richtern der Queen's Bench und anderer großer Gerichtshöfe, die er 1855 vorfand, beließ er nur vier an ihrem Platze, eilf wurden aus Palmerstonianern ersetzt. Von den einhundertundsechzehn Lordlieutenants des vereinigten Königreiches ernannte er gerade die Hälfte neu und disponierte mit Wohlwollen über zwei Dritteile der fünfundzwanzig Hosenband-Orden. Mehr als vierzig Namen fügte er zum Privy-Council, unter dessen zweihundertundsechzehn Mitgliedern er selbst das älteste, eingeschworen vor fünfundfünfzig Jahren. Er machte drei Vizekönige von Indien, zwei für Irland und zwei General-Gouverneure für Kanada, während jede Kolonie, vom Eise von Neu-Braunschweig bis zu den kleinen Sumpfinseln an der Goldküste, von ihm einen funkelneuen Palmerstonianer als Regierer erhielt. Von den achtunddreißig Gesandten Englands hat er nur fünf beibehalten und die übrigen dem Landleben zurückgegeben und die Lücken zweckentsprechend ausgefüllt. Von der Unzahl kleinerer Patronagen zu reden, das würde ein Konversationslexikon füllen. — Aus Anlaß des Earl Russell hat sich der britische Charge d'affaires zu Hamburg, Mr. Ward (wie schon anderweit gemeldet) mit der Handelskammer von Manchester in Verbindung gesetzt, um von deren Direktorium Rat und Vorschläge entgegenzunehmen, wie in Zukunft die Beziehungen Englands zum Zollverein am gedeihlichsten gepflegt werden könnten. Mr. Ward äußert sich in seinem Schreiben an einen der Direktoren jener Handelskammer über die Präliminarien u. a., wie folgt: Die angelegentlichsten Bemühungen des englischen Gesandten zu Berlin sind darauf gerichtet gewesen, eine Herabsetzung des Zollvereins-Tarifs zu erzielen. Man hat englischerseits den preußisch-französischen Handelsvertrag als einen Schritt weiter in der Entwickelung des Freihandels betrachtet und dieserhalb hat die englische Regierung sich eifrigst bestrebt, mit Preußen in Vernehmen zu treten, um England Vorteile gesichert zu sehen, die den

408

1864

für Frankreich erwachsenden ähnlich (simular) wären. Die erste Frage, die preußischerseits getan wurde, war die nach den Zugeständnissen, „die England selbst machen wolle?" Hierauf wurde entgegnet: England, das einen liberalen Tarif im freihändlerischen Sinne für alle Nationen aufgestellt hat, kann Deutschland „nicht wohl" mehr einräumen, als anderen Nationen. Nach weiteren Verhandlungen erklärte die preußische Regierung, daß sie uns dieselben Privilegien zugestehen wolle, als Frankreich eingeräumt wären und uns so auf denselben Fuß mit den am meisten begünstigten Staaten stelle. Alle drei Jahre wird Gelegenheit genommen, die Tarifsätze neuen Erwägungen (reconsiderations) zu unterwerfen und unter diesen Umständen hat Earl Russell mir den Wunsch zu erkennen gegeben, ich solle mich mit der Handelskammer von Manchester in Vernehmen setzen, um Rat und Vorschläge (advice and suggestions) bezüglich solcher Handelsartikel entgegenzunehmen, derentwegen eine Tarif-Herabsetzung bei obigen künftigen Gelegenheiten und Wiedererwägungen am zweckdienlichsten begehrt (urged) werden könnte. Dieses Schreiben von Mr. Ward ist, wie aus Manchester berichtet wird, am Dienstag dem Plenum der Handelskammer vorgelegt worden. Bis gestern hat die Presse noch keine Kommentare zu jener Mitteilung gemacht, ja einzelne Blätter hielten es kaum für wert, die Sache auch nur zu erwähnen. Ist das noch dänenfreundlicher Groll und Abneigung, vor dem Publikum einzugestehen, daß man doch die deutsche Hand ergreife, wenn es zu angenehmen Geldfragen komme, trotz „Mordblut" und „schmählich entfremdeter jütländischer Schnupf- und RauchtabaksMaterialien"? Der „Standard" leistet in letzterem Stile wieder Erstaunliches: Im Vergleiche mit seinen insolenten Redensarten über das Düppeler Sturmkreuz, die wir hier nicht wiedergeben können, ist der Berliner Berichterstatter des „Star" nur komisch. Den Germanismen des Stils nach und, weil er deutsche Namen korrekt buchstabiert, sogar vom alten wendischen „Pozdupimi" 3 4 an der Havel zu erzählen weiß, vermute ich einen „Landsmann" dahinter. Er schreibt die Freundschaft Preußens für Rußland jenen Zirkeln zu, denen die Kreuzzeitung ihren „Charakter" gibt, denn sie beständen aus halb-slawischer (!) Aristokratie, die noch bis spät in die Neuzeit ihre Leibeigenen gehabt und nach den guten alten Zeiten des Stockes und der „Geißel" (!) zurückseufze. Der Mann hat auch in seinen früheren Berichten schon nur „Slawen" und „Wenden" im preußischen Staate entdecken können. — Die Überlandpost brachte folgende 34

i. e. P o t s d a m .

London, 5. November

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Notiz, über welche jedenfalls weitere A u f k l ä r u n g abzuwarten ist: „In Kaschmir ist eine Gesandtschaft eingetroffen, und zwar nach dreimonatlichem Geschwindmarsche aus dem Königreiche Kokand, gelegen in Mittelasien. Z w e c k dieser Mission (sie ist auf dem Wege zum britischen Vizekönig von Indien) ist, Rat und den Beistand von den Britischen zu erhalten, um dem Angriffe Rußlands auf Kokand widerstehen zu können. Diese Kokandier versichern, d a ß das Ziel jenes Angriffs sei, sich zu einem Einfalle in H i n d o s t a n auf den Fall eines Krieges mit England hin, die Bahn zu ö f f n e n . " Ganz abgesehen von dieser Notiz, kann man die Depeschen der letzten beiden Überlandposten als sehr „unbehaglich" bezeichnen. Ein Konflikt mit indischen Fürsten im Lande selbst hat auf dem Papiere schon begonnen. [Nr. 257, 2. 11. 1864)

Remember, Remember! Der Organismus ein Eckstein Mr. Grant-Duff als verdünnter Carlyle Professor Gneist besser als Armstrong P::' London, 5. November Remember! Remember, the fifth of November. Es ist Guy Fawkestag 1864! Auf den Straßen rufen alle, die sich noch über die ersten Pantalons freuen: „Remember!" Aber namentlich sind es die unbeschreiblichen kleinen City-Araber, die S c h l a m m - N o m a d e n , die vor unseren Fenstern heute Morgen „Flüche in Versen", die J a h r h u n d e r t e alt, gegen die „Papisten" absingen, welche vor drittehalb hundert Jahren das Parlament in die Luft sprengen wollten. Und sie erhalten überall Spenden und ziehen weiter mit ihren Guy Fawkes von Pappe oder Lumpen, gräulich ausstaffiert, auf einem Esel reitend oder auf einen Karren gepflanzt, das papagen o h a f t e Gefolge hinterher. Mitunter wird später auch die Puppe verbrannt. Feiner Leute Kind lassen Raketen knallen im Garten hinter dem Hause. Leute, die wenige Feiertage haben, machen aus diesem Tage einen solchen und geben einen Kaffeeklatsch mit Kuchen. Alle Schulen haben Feiertag und in der Provinz werden noch Gottesdienste abgehalten zum Gedächtnis der Pulververschwörung. Die Blätter veröffentlichen eine Rede des Vikars Stevens, in welcher dieser als Protestant die Fortsetzung dieses „jährlichen Insults" rügt, sowie namentlich eine gewisse „Gebetformel" über die Pulververschwörung, die noch heute einen Platz im Gebetbuch der anglikanischen Kirche finde. Wie sehr indessen auch zur

410

1864

Karikatur verzerrt, es wäre voreilig, zu glauben, daß dieser Feiertag so gar leicht „abgeschafft" werden könnte. Diese Zähigkeit im Festhalten an kirchlichen Partei-Traditionen ist ein tief wurzelnder Zug im englischen Volke; Gegensätze, die im Bereiche einer Insel jahrhundertelang blutvoll aufeinander platzten, versöhnen sich nur wieder in Jahrhunderten. Und das J a h r 1 8 6 4 war nicht dazu angetan, diesen Prozeß zu befördern. Es sind Parteien, die namentlich in der Provinz noch heute „Agag" mit einer Eisenstange niederzuschlagen und auf „ B a a l " mit einem sechsläufigen Revolver zu zielen jeden Augenblick bereit wären; sei auch „Agag" nur ein Viertelkommissarius und „ B a a l " ein Armenhauspedell, beide im Besitz der harmlosen Sammelnamen Robinson oder Bumble, so genügte es, daß sie von der „feindlichen Kapelle" überm Wege. Wie auch die Auswüchse beschaffen, die bei intensiven Extremen nie fehlen, es liegt „ M u s k e l " in alledem. Der Orangeman ist derselbe Cameronianer der alten Tage; aber er ist ein felsenfester Royalist. J e n e nordöstliche Ecke Irlands, ζ. B. die Provinz Ulster mit ihrem eingewanderten Schottentum, würde in allen Fällen, wo dem protestantischen Königtume Gefahr drohte, als ein absolut verläßlicher Eckstein befunden werden. Und das weiß man vollständig in England. — In den der deutschen Presse von hier überlieferten Auszügen aus „Reisereden" der Parlamentsmänner wird vornehmlich das auf auswärtige Politik Bezügliche wiedergegeben. Dies reicht nicht immer aus zur Charakteristik. So erregt hier Aufsehen, was Mr. Grant-Duff

über „Fortschritt" gesprochen. Hören Sie: „Die

Wahrheiten von 1848 sollten uns erinnern, daß unter der Oberfläche europäischer Politik, ja sogar der englischen, unbestimmte Begehren und Verlangen arbeiten, die wir nicht wohl ganz ignorieren dürfen. Die Massen in den Straßen von London während der Garibalditage erinnerten mich an Carlyles Worte in der Schrift von den ,Letzten Tagen', w o er sagt: Sicherlich Demokratie ist unter uns. M a n weiß nicht, wie lange dieselbe versteckt bleiben wird, selbst in Rußland. Und hier in England, obwohl wir uns dagegen stemmen in ihrer Form von Barrikaden und Insurrektions-Piken, und sicherlich ihr auf solche Bedingungen kein Tor öffnen, so ist doch das Stampfen der Löwenfüße auf allen unseren Straßen und in allen Gassen. Der Klang ihrer verworrenen tausendfältigen Stimme ist in allen Schriften, in allen Worten, in allen Gedanken, Weisen und Tätigkeiten der Menschen. Die Seele reden wir nicht an, die weder mit Schrecken, noch mit Hoffnung das b e m e r k t ! ' " M a n beachte wohl, wie Mr. G r a n t - D u f f sich die Meinung jener Worte des Philosophen von Chelsea (Carlyle) für seine Z w e c k e zurechtschneidet: „ O h n e energischen

London, 5. November

411

A u s d r u c k der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g , o h n e ein F o r d e r n , d a s alle im L a n d e mit U n g e s t ü m a u f t r e t e n l ä ß t , w e r d e n die Fragen ü b e r R e f o r m u n d a n d e r e D i n g e n o c h lange nicht zur E r l e d i g u n g k o m m e n — bis d a h i n laßt u n s im P a r l a m e n t e n u r N e b e n d i n g e r e f o r m i e r e n . " U n d d a n n w i e d e r : „Wir sind eine m e h r k o s m o p o l i t i s c h e M a c h t . TLwei englische Einflüsse e r o b e r n f ü r u n s Reiche, sicherer als die besten K a m m e r n ; dies ist erstens d e r A n b l i c k dessen, w a s der Freihandel f ü r uns g e t a n , u n d z w e i t e n s — das Buch Dr. Gneist

in Berlin

über

unsere

Institutionen*5."

des

Sie wissen in Berlin

g a r nicht, w e l c h e n Schatz Sie besitzen. Was den „ K o s m o p o l i t i s m u s Engl a n d s " a n g e h t , so spricht d a f ü r g e w i ß der N e k r o l o g eines sehr f o r t g e s c h r i t t e n e n Blattes ü b e r den eben v e r s t o r b e n e n K a r i k a t u r e n z e i c h n e r des „ P u n c h " , M r . Leech. „ E i n s " , h e i ß t es d o r t , „ m ü s s e n w i r i h m n a c h s a g e n : he d e t e s t e d f o r e i g n e r s . " (Er v e r a b s c h e u t e A u s l ä n d e r . ) — D e r Geistliche G . C a r l y l e (nicht d e r P h i l o s o p h T h o m a s Carlyle) h a t s o e b e n eine B i o g r a phie seines O h e i m s E d w a r d Irving

bei S t r a h a n u. C o m p , in zwei B ä n d e n

e r s c h e i n e n l a s s e n 3 6 , ü b e r w e l c h e viele Blätter, n a m e n t l i c h der „ S t a r " , Kritiken voll eines u n l e u g b a r e r g r e i f e n d e n E n t h u s i a s m u s b r i n g e n . — Bek a n n t l i c h gibt es in Irland eine a n s e h n l i c h e Z a h l alter, h o h e r , r u n d e r , eingangloser

Steintürme;

milesische,

phönizische

oder

karthagische

T ü r m e , a m g e w ö h n l i c h s t e n a b e r „ M a r t e l l o - T ü r m e " g e h e i ß e n . Sie stehen (wie jene alten T ü r m e u n w e i t Q u e d l i n b u r g ) a u f f l a c h e r E b e n e , m i t u n t e r a u c h n a h e der Küste auf Felsen. Die R e g i e r u n g h a t s o e b e n Befehl gegeb e n , alle a n der Küste gelegenen T ü r m e dieser A r t , d e r e n Alter u n e r k l ä r t g e b l i e b e n , mit A c h t z e h n p f ü n d e r n zu a r m i e r e n . Ich e r w ä h n e dies nicht o h n e A b s i c h t ; d e n n diese M a ß r e g e l , die nie v o r h e r g e t r o f f e n w o r d e n , liest sich f a s t wie ein „ V o r s p u k " . — Die Tories h a b e n sich e n t s c h l o s s e n , m i t t e n im s c h ö n s t e n P f l a n z b e e t e des R a d i k a l i s m u s , im W a h l o r t e C o b d e n s , R o c h d a l e , einen k o n s e r v a t i v e n K a n d i d a t e n ihm g e g e n ü b e r f ü r die k ü n f t i g e N e u w a h l a u f z u s t e l l e n , u n d sie h a b e n bereits 3 0 0 W ä h l e r v o r l ä u fig f ü r einen s o l c h e n , in der Tat b e d e u t u n g s v o l l e n „ S c h l a g " registrieren können. |Nr. 264, 10. 11. 1864]

,5

16

Die Geschichte des Selfgovernment in England oder die innere Entwickelung der Parlamentsverfassung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1863, oder: Geschichte and heutige Gestalt der englischen Kommunalverfassung oder des Selfgovernment, Berlin 2 1863. Gavin Carlyle The Collected Writings of Edward Irving, London 1864.

412

1864 Panzerfregatten für Spanien und Chile Kapellen-Vermieten Wiederbelebung des Walisischen

p* London, 12. November Die große Panzerfregatte „Arapiles", welche Ende vorigen Monats hier vom Stapel gelassen, für spanische Rechnung gebaut und mit einem ganzen Faß spanischen Weines überströmt wurde, wo andere Nationen es, bei der Schiffstaufe, mit einer Flasche bewenden lassen, ist nicht das einzige Schiff dieser Art, zu dessen Bau die spanische Regierung Ordres in England gegeben. Es sind noch drei andere Panzerschiffe für Spanien im Bau. Es trifft sich eigentümlich, daß nach Kunde hiervon die Regierung der südamerikanischen Republik Chile sofort ebenfalls Ordres gab, ein ganzes Geschwader von gepanzerten Korvetten für ihre Rechnung zu bauen. So wachsen denn auf den Werften der größten Schiffsbau-Firma Green in der Themsestadt Blackwall friedlich nebeneinander Kiel und Rumpf von Kriegsschiffen hervor, die vielleicht dereinst auf der See sich feindlich begegnen dürften. Auch auf anderen Werften an der Westküste Englands sind Kriegsschiffe für Chile im Bau begriffen. — In einigen Blättern macht ein Geistlicher auf das Unwesen aufmerksam, das hier mit dem Verhandeln und Vermieten von Kirchen und namentlich von Kapellen getrieben wird. Beiläufig bemerkt, bezeichnet der Ausdruck „Chapel" (Kapelle) nicht ein kleines Gebäude, sondern wird vornehmlich allen Gotteshäusern jeder Größe gegeben, die nicht der Staatskirche angehören. Eine Baptisten-Kapelle in Bayswater (London) hat ein großes Schiff und zwei sehr stattliche Türme. Jener Geistliche führt für Begründung seiner Beschwerde u. a. folgendes Beispiel an. Im Süden Londons, in Southwark, steht eine Kapelle, die einem Schlächtermeister gehört. Dieser vermietet sie für Sonntag Vor- und Nachmittag an Wesleyaner, am Montag und Donnerstag an Methodisten, am Dienstag an Anabaptisten, am Mittwoch und Sonntag abend an Mormonen, am Freitag abend an einen Club von „Freethinkers", die den Atheismus diskutieren, und gelegentlich auch an eine kleine Gemeinde von Sektierern aus Wales, die ihren Gottesdienst darin in wälscher Sprache abhalten! — Der große Bardenverein von Wales, der sein jährliches Fest, den Eistedvodd, in Llandudno begeht, hat die Fonds zur Gründung einer Universität für das Fürstentum Wales gesammelt. Unter anderen wurde die Summe von 50.000 Lstr. von wenigen Grundbesitzern aufgebracht. Außerdem wird eine Art Akademie größeren Umfanges für Wales gegründet werden. Auf

413

L o n d o n , 14. N o v e m b e r

beiden Anstalten wird zumeist die wälsche Sprache Unterrichtssprache sein, aber sonst werden alle Lehrgegenstände, wie sie auf Universitäten üblich, dort ihre Vertretung finden. Da diese Universität allen Dissenters christlichen Bekenntnisses offen stehen soll, was bekanntlich auf englischen Universitäten nur unter so enggezogenen Bedingungen möglich, daß gewisse „ G r a d e " an Nichtmitglieder der Staatskirche nicht verliehen werden, so ist ein bedeutender Z u f l u ß von nicht wälschredenden Engländern zu jener neuen Universität sehr wahrscheinlich, was selbstverständlich die Regeln über die wälsche Unterrichtssprache im Laufe der Zeit modifizieren müßte. Jedenfalls ist es erstaunlich, eine für aussterbend gehaltene Sprache, obwohl reich an nationaler Literatur, mit solcher Lebenskraft sich wiederverjüngen zu sehen; und es erregt dies hier ebensoviel Aufsehen, als in Deutschland die G r ü n d u n g einer wendischen H o c h schule im Spreewalde (Ähnliches existiert in Görlitz und Bautzen. D. R.) oder einer romanischen Universität im östlichen G r a u b ü n d e n verursachen würde. — Die Disziplinar-Untersuchung gegen die Mitglieder des Stadtrats zu Belfast wegen gröblicher Pflichtvernachlässigung zur Zeit der diesjährigen Tumulte beginnt nun doch allen Ernstes. Die Regierungs-Kommissarien sind ernannt und bereits an O r t und Stelle in Tätigkeit getreten. — Der Prinz von Wales wird angeblich am 18. d. M . auf Besuch in Liverpool erwartet. (Nr. 269, 16. 11. 1864]

Franz Müllers Geständnis p* London, 14. November Franz Müllers Geständnis ist Ihnen schon b e k a n n t . 3 7 Sie werden auch die Details seiner Unterredung mit dem Pastor Dr. Cappel Ihren Lesern schon mitgeteilt haben. Einzelne Juristen — ich sprach zwei — sind nicht zufrieden mit der Frage: Bist Du schuldig dieses Verbrechens? Sie begehren, d a ß das Wort Mord hätte (von Dr. Cappel?) in die Frage aufgenommen sein sollen, da, wie auch schon bei früheren Gelegenheiten, die Frage vorlag, ob ein absichtlicher M o r d geschehen, oder ein gewaltsamer R a u b , dem der Fall oder Sprung des flüchtenden Mr. Briggs aus dem Waggon gefolgt, da eine Erklärung der beiden Ärzte Brereton und Cooper dahin geht, d a ß die Wunden, die im Wagen dem Verstorbenen zuge37

Franz Müllers H i n r i c h t u n g und G e s t ä n d n i s , in: Nr. 270, 17. 11. 1864.

414

1864

fügt worden, nicht tödlich, sondern der Fall auf einen auf der Bahn liegenden Stein die gewisseste Ursache des Todes gewesen. Durch das Geständnis ist aller Welt hier eine Last vom Herzen gewälzt. Die langdauernde Heuchelei Müllers steht wohl ohnegleichen (?) da — sie hat etwas Grausiges. Dabei vier vereidete Zeugen, Engländer, für ein fast handgreifliches Alibi wenigstens bis zum Bereiche von 10 Minuten vor Abgang des Eisenbahnzuges, bei einer Entfernung von 4 englischen Meilen vom Ort des Alibi, und so viele andere unaufgeklärte Vorgänge — dies alles fällt nun in ein Nichts zusammen. Das Publikum hier ist befriedigt durch das Geständnis, indem es nun weiß, daß kein Unschuldiger gelitten. [Nr. 271, 18. 11. 1864]

Die Werbungen für Nordamerika. Veritas gegen Veritas „Nicht schuldig; aber tu es nicht wieder" Lord Russell auf der Hochzeit p* London, 19. November Solange die heimlichen Werbungen für die Armee der Vereinigten Staaten sich auf Irland beschränkten, war der Eifer in der Verhinderung auf englischer Seite so mäßig, daß aus der Zahl von etwa 7000 Entführten nur 2, sage zwei, solcher Rekruten festgehalten und einem Verhör unterzogen werden konnten. Indessen ließen die großen Profite, welche irische Agenten erzielt, gewisse Geschäftsbeflissene in London und andern Städten Englands nicht schlafen. Unter den für nordamerikanische „StaatsGlashütten" engagierten Schneider-, Schuster und Maurergesellen, deren eine erkleckliche Anzahl an Bord des in Liverpool sistierten, abfahrtbereiten „Great-Western" vorgefunden wurde, befinden sich auch zehn Londoner Kinder. Der Minister des Innern, Sir George Grey, hat Ordre gegeben, deren eidliche Aussagen sofort an ihn auszufertigen, da die Regierung selbst die Leitung der Untersuchung in die Hand zu nehmen gedenke. Diese Kanonenfutterfrage erfährt natürlich auf seiten der Presse verschiedene Auslegung. Die wenigen Blätter, welche solche Rekruten als beneidenswerte Kämpfer für „das Wohl der ganzen Menschheit" gegen Sklaverei betrachten, finden sich in ihrem kosmopolitischen Opfermut etwas gekränkt und schreien über Parteilichkeit. Die größere Zahl applaudiert der Handlungsweise der Regierung und gibt dem Vorwurf der Parteilichkeit die entgegengesetzte Adresse. „Veritas" ficht hier, „Veritas"

London, 19. November

415

schilt d r ü b e n ; „ H i c R h o d u s ! " 3 8 zetert dort, „ H i c R h o d u s ! " spottet hier; „Ne quid n i m i s " 3 9 philosophiert c o n t r a , „Sapienti s a t ! " 4 0 geht durch dick und dünn pro; O l d J o h n Bull raisonniert über Y o u n g J o h n Bull, und beide verwarnt ein „ V i n d e x " , ein „True B l u e " , oder ein „ J a n u s " , der nach Süden und N o r d e n mit gleicher Unparteilichkeit für G e s c h ä f t s v o r teile schielt. D a s sogenannte Regierungsorgan der Südlinger, der „Ind e x " , ist überglücklich, wie über ein ganzes Dutzend gepanzerter A l a b a mas, die in englischen H ä f e n fertig geworden. D e r „ S t a n d a r d " gibt der Regierung den R a t , d e m G e s a n d t e n Lincolns zu erklären, „ d a ß ehe nicht alle Rekrutierungsversuche a u f britischem B o d e n aufgegeben

würden,

keine Schritte diesseits getan werden sollten, die Südlinger an einer Verstärkung ihrer m a r i t i m e n Streitkräfte durch S c h i f f s a n k ä u f e in britischen H ä f e n zu h i n d e r n . " — G a n z beiläufig und nur als G e r ü c h t meldete ich Ihnen vor einiger Z e i t von der angeblichen g e w a l t s a m e n A b f ü h r u n g eines jungen M ä d c h e n s durch zwei N o n n e n auf einem nach O s t e n d e bestimmten D a m p f e r . 4 1 Es kann nicht bestritten werden, d a ß dies G e r ü c h t sich als T a t s a c h e erwiesen hat. Weitläufige R e c h e r c h e n haben ergeben, d a ß jenes M ä d c h e n als „irre" aus einem L o n d o n e r C o n v e n t nach einem m a i s o n de sante in Brügge geschafft w o r d e n , o h n e die gesetzlichen Formalitäten zu b e o b a c h t e n oder auch nur ganz verläßliche ärztliche G u t achten zu beschaffen. Sir G e o r g e Grey hat dem M a y o r von Dover, w o die allerdings erschütternde Szene stattfand, n u n m e h r mitgeteilt, „daß die Kronjuristen die A b f ü h r u n g jenes M ä d c h e n s als ungesetzlich erklären und d a ß alle Beteiligten unter A n k l a g e g e w a l t s a m e r E n t f ü h r u n g über See' gestellt werden k ö n n t e n ; da indessen keine ,improper motives' (unlautere M o t i v e ) erwiesen, so h a b e er von der Einleitung einer Kriminaluntersuchung abgestanden und nur der O b e r i n des Konvents eine Verw a r n u n g zugehen lassen." D i e Presse rügt dies als zu milde und vergleicht die E r k l ä r u n g des M i n i s t e r s mit einem b e k a n n t e n Juryverdikt: „Nicht schuldig, a b e r die J u r y h o f f t , Ν . N . werde es nie wieder t u n ! " Selbst whiggistische Blätter sind außer sich und zahllose „Barristers at L a w " arbeiten eifrig mit der Feder für „ E i n g e s a n d t s " etc. — N a c h Berichten aus Süd-Staffordshire, dem „schwarzen L a n d e " , sind die Strikes seit ,s

39 40 41

„Hic Rhodus, hic salta" — nach Aesops Fabel „Der Prahler", v. F. öfters zitiert, vgl. ζ. B. Frau Jenny Treibet, 6. Kap.; vgl. auch Κ London, 10. Januar 1870. Aus der Komödie Andria, I, 1, 34 des Terentius Afer. Von demselben in der Komödie Phormio III, 3, 8. Κ London, 10. September 1864.

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1864

zwei Wochen zu Ende; nur etwa 3000 Arbeiter werden noch durch Beisteuern ihrer wieder zu herabgesetzter Löhnung an die Arbeit gegangenen Kameraden „des Prinzips wegen" unterstützt. Letztere erklärten in einem großen Meeting, „sie gäben nur den Tränen ihrer Frauen und dem Schreien ihrer Kinder nach Brot nach und faßten den Beschluß, ,für eine Union' sämtlicher 250.000 Minenarbeiter Englands tätig sein zu wollen, deren gemeinsame Aktion in ähnlichen Fällen gesichert werden könnte, oder die doch imstande wären, aus einer gemeinsamen Kasse u n t e r drückte Brüder' im Strike unterstützen zu können". — Die Tory-Blätter, die keine Gelegenheit passieren lassen, um mit der Admiralität ein Huhn zu pflücken (anglice: „einen Knochen zu nagen"), drucken mit wahrer „Genugtuung" ab, was der „Moniteur de la Flotte" über die vereinigten Geschwader in der japanischen Meerenge von Simonosaki äußert. Es heißt darin, daß die französische Schiffsartillerie die englische bei weitem in Schatten stellte; daß die englischen Kapitäne selbst über die Unzulänglichkeit der Armstrong-Kanonen klagten und Admiral Kuper über die unübertrefflichen Leistungen der „Semiramis" voll Bewunderung sich ausgesprochen hätte. — Earl Russell hat persönlich in diesen Tagen eine Anekdote zum Kommentar seiner bekannten Phrase: „Ruhet und seid dankbar!" liefern müssen. Zu Alderley pflanzte er am Hochzeitstage seines Sohnes einen spanischen Kastanienbaum und war der Heiterste unter den Heiteren selbst beim ländlichen Ringeltanze. Als er nun sogar mit einem Milchmädchen aus Cheshire einen langen Contretanz anführte, und schließlich Zeichen der Ermüdung blicken ließ, klopfte ihm Lord T. auf die Schulter mit den historischen Worten: „Ruhet und seid dankbar", was der edle Earl mit guter Miene akzeptierte. So meldet der „Sheffield Telegraph". Solange Palmerston Toaste trinkt und den Engländern an des Lord Mayors Tafel versichert: „Ihr seid groß! Ihr seid gut! Ihr seid schön!" solange der zweite Senior Russell noch „Ringel, Ringel Rosenkranz" tanzt, haben die säuerlichsten Quiriten kaum Grund, über ein detrimentum res publicae zu klagen. Unsere Väter der City berieten vorgestern über eine Ausgabe von 1000 Pfd. behufs Straßen-Erweiterung. Obwohl der Antrag durchging und die Majorität versicherte, die Finanzen der City befänden sich in beneidenswertem Zustande, fehlte es doch nicht an einer Minorität von Unglücksraben, die das Wort Banquerout mit gelindem Schauder aussprachen. Ein Blatt bemerkt dazu, es würde sich sehr empfehlen, mit den offiziellen „Erquickungen" spärlicher zu verfahren und unter anderem das große leckere Frühstück abzuschaffen, das auf Kosten der City den Sheriffs, Richtern und Gefängnisbeamten

417

London, 26. November unmittelbar

nach jeder

Hinrichtung

zum Besten gegeben würde und das

nur n o c h eines B a u m k u c h e n s in Form eines Galgens bedürfe, um die kühnsten peccadilloes des schlechten G e s c h m a c k s zu übertreffen. [Nr. 275, 23. 11. 1864]

Spooner f „ G r e a t - W e s t e r n " . Ignatius p::" L o n d o n , 2 6 . N o v e m b e r In dem eben verstorbenen M r . S p o o n e r hat das Unterhaus einen Senior verloren. E r w a r 8 2 J a h r e alt, begann seine L a u f b a h n als ein R a d i k a l e r und endete als ein T o r y und O r a n g e m a n (scharfer Protestant) zugleich. Er k a n n t e nur ein T h e m a , das ihn interessierte und hielt alljährlich eine Rede darüber, und zwar gegen die Regierungssubsidien für das g r o ß e katholische Seminar in Irland, gegen das M a y n o o t h - C o l l e g e . E i n m a l im J a h r e in einer P a r l a m e n t s n a c h t e r h o b sich der weißhaarige Greis, Lichter wurden dicht um ihn gestellt, und a u f eine Säule von papiernen Belegen für seine unablässige Fehde gegen „ P o p e r y " gestützt, wiederholte er mit zitternder S t i m m e seine W a r n u n g e n . Aber er w a r grundehrlich in seiner Überzeugung, und selbst die Katholiken im H a u s e behandelten seine Argumente, die oft wie aus J e s u i t e n - R o m a n e n ä la Sue42

g e n o m m e n zu sein

schienen, mit s c h o n e n d e r A c h t u n g . — D e r sistierte „ G r e a t - W e s t e r n " ist gestern endlich von Liverpool a b g e d a m p f t , o h n e R e k r u t e n , aber o h n e Verkürzung seiner L a d u n g von enttäuschten Yankees, die als WerbeAgenten

für G l a s h ü t t e n

sogar Steinklopfer nicht als

zweckdienliche

Leute v e r s c h m ä h t h a t t e n . — L o r d Lyons, der englische G e s a n d t e in Washington, kehrt „ a n g e b l i c h " nur aus Gesundheitsrücksichten nach England zurück, e b e n s o „ a n g e b l i c h " , wie er sich vor kurzem nach dem rauhesten Norden K a n a d a s aus denselben Rücksichten begeben hatte. In einem P u n k t e ist die Presse einig, d a ß derselbe erst nach „völliger" H e r stellung seiner Gesundheit auf seinen Posten zurückkehren werde. — Als vor kurzem in einer Versammlung von Geistlichen und Laien der anglikanischen K i r c h e zu Bristol zum allgemeinen Erstaunen der „anglik a n i s c h e M ö n c h " Bruder Ignatius in Kutte und T o n s u r erschien, e r h o b sich ein lang anhaltender L ä r m , den der Erschienene a b e r nicht nur 42

Anspielung auf Eugene Sues Roman Le juif errant (1844/45), in F.s Liste der „besten Bücher" die Nr. 62, vgl. NFA X X I , 1, S. 499.

418

1864

durch den Enthusiasmus seiner Rede zum Schweigen brachte, sondern sogar die Beistimmung eines Bischofs für seine Pläne zur G r ü n d u n g von Kollegiat-Schulen erzielte. Seitdem ist jedoch in seinem Kloster bei N o r wich eine Art Rebellion ausgebrochen. Mehrere „ M ö n c h e " schieden aus, weil sie sich der „herben" Disziplin nicht länger fügen wollten. Ignatius scheint gewisse Disziplinen der römisch-katholischen Kirche nicht nur nachgeahmt, sondern noch gesteigert zu haben. Einem M ö n c h e Mr. Bell, der eine Z e i t u n g in verbotenen Stunden gelesen, legte er — so wird erzählt — auf, das Vaterunser tausendmal zu sprechen und einen Ordenssatz, genannt die „Regel des Schweigens", f ü n f h u n d e r t m a l in Reinschrift zu kopieren. Darauf schied der G e n a n n t e aus. Ignatius erklärt nunmehr, er werde keinen Einwohner von Norwich mehr in sein Kloster aufnehmen. [Nr. 281, 30. 11. 1864]

Die Peels. Minister-Verantwortlichkeit Prügel um Amerika p* L o n d o n , 5. Dezember Wir haben bekanntlich vier Peels im Unterhause, den alten Tory, General Peel, die beiden Minister Robert und Frederic Peel und einen Unabhängigen, d. h. keiner Parteidisziplin sich Unterwerfenden in J o h n Peel. Robert und J o h n wurden beide in T a m w o r t h gewählt, einem Wahlflecken, der seit zwei Generationen nur Peels in das Unterhaus geschickt hat. Robert Peel opponierte seinem Cousin sehr energisch bei dessen Wahl im vorigen Jahre, als es sich d a r u m handelte, den Stiefsohn Palmerstons, Mr. Cowper, in das Parlament zu bringen, was mißlang. * Am M i t t w o c h waren die beiden feindlichen Peels zum Diner bei dem M a y o r von Tamw o r t h eingeladen und beide hielten Reden. Robert f ü r die auswärtige Politik des Kabinetts; J o h n schloß sich im G r u n d e dem mit herzlichen Komplimenten an, die er jedoch im Verlaufe der Rede ziemlich wegräsonnierte. Auffällig ist, d a ß die R a p p o r t e in den verschiedenen Blättern substantiell voneinander abweichen, da doch die Reporters ohne Zweifel auch dort ihr Couvert gefunden haben müssen. Da J o h n Peel seine Rede mit einer Skizze von „betrunkenen Tischgästen" unter allgemeinem Bravo einleitete, kann wohl nicht von den „Gentlemen von der Rabenfe* Cowper war anderswo glücklicher und vereinigte bereits mit dem Μ. P. (Member of Parliament) ein ministerielles Amt.

419

London, 10. Dezember

d e r " , wie R e p o r t e r s genannt werden, eine ungemütliche A u s n a h m e erwartet werden. — Fast alle Blätter haben eine Kritik der Redseligkeiten des österreichischen

Reichsrats

g e b r a c h t . Was die meisten nicht kapieren

k ö n n e n , ist die deutsche Sucht, ein

Ministerverantwortlichkeitsgesetz

schwarz auf weiß nach H a u s e tragen zu w o l l e n . England h a b e anderthalb M i l l i o n e n Gesetze, dazu ein altes S p r ü c h w o r t : „The law is uncert a i n " und ein anderes: „We are a law-ridden p e o p l e " (Wir sind ein gesetzzerrittenes Volk); a b e r unter dieser ganzen M a s s e gebe es kein einziges über M i n i s t e r v e r a n t w o r t l i c h k e i t . Also die sonst so beliebten Referenzen auf Englands Konstitution sind in diesem P u n k t e falsch. „Es ist H e r k o m men und G e w o h n h e i t , ebenso wie es H e r k o m m e n

und

Gewohnheit,

keine Steuern zu v e r w e i g e r n . " D e r „Daily T e l e g r a p h " b e m e r k t recht gut: „Unser politisches System ist das Werk von J a h r h u n d e r t e n , ist nicht nach einem Plane g e m a c h t , sondern aus einzelnen E r f a h r u n g e n von Z e i t zu Zeit k o m p l e t i e r t . D a s E x p e r i m e n t , das man in Österreichs Reichsrate vorschlägt, kann nur mit M i ß t r a u e n angesehen werden. Ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz würde entweder, wenn überhaupt definierbar, so strikt sein, d a ß es das K a b i n e t t der für seine Funktionen nötigen Autorität beraubte, oder so u n b e s t i m m t , d a ß jeder Minister sich leicht entschuldigen k ö n n t e . " — In Bristol ist es auf einem M e e t i n g zum Z w e c k , den a m e r i k a n i s c h e n Nördlingern zu ihrem neu aufgelegten

Abraham

Lincoln zu gratulieren, zu einer massenhaften Schlägerei g e k o m m e n , wobei die Partei der Südlinger die ersteren von der T r i b ü n e und schließlich zur T ü r hinausjagte. Ein ähnlicher T u m u l t ereignete sich zu M a n c h e s t e r während einer R e d e des liberalen Parlamentsmitgliedes M r . Bazley. D o c h w a r keine politische Gegenpartei in diesem Falle der Anstifter, sondern die Liberalen fielen sich gegenseitig in die H a a r e , um die „ N ü a n c e n " auszugleichen. [Nr. 288, 8. 12. 1864]

Die Reformfrage und ihre Aussichten Englischer Konservatismus Viehausstellung in Islington p::' L o n d o n , 10. D e z e m b e r Häufiger, denn seit langem der Fall gewesen, taucht die „ R e f o r m f r a g e " , w o r u n t e r auch, o h n e weitere N e b e n b e z e i c h n u n g , die p a r l a m e n t a r i s c h e W a h l r e f o r m verstanden wird, in den Leitartikeln auf. Einige sprechen

420

1864

Cobden's

Logic

"I don't know, perhaps, any country in the world where the masses of the people are so illiterate as in England." — From Mr. Cobden's Speech at Rochdale. "Sound statesmanship requires such an extension of the franchise as shall admit the masses of the people to political power." — From the same speech.

schon von der Existenz einer R e f o r m b e w e g u n g . A b e r wie die in England als Clubszene arrangierte circassische und polnische Bewegung glücklicherweise explodierte, dürfte auch zum W o h l des Landes diese R e f o r m bewegung mit einem M a x i m u m von Beweglichkeit ein M i n i m u m von Fortbewegung verbinden. D i e T i m e s hat in diesem Falle einmal doch wieder das R i c h t i g e getroffen, wenn sie das „gefühlte B e d ü r f n i s " in Frage stellt. Als vor kurzem fortschrittliche B l ä t t e r sie deshalb zur R e d e stellten und von tiefer Sehnsucht der arbeitenden Klasse nach politischem M i t r e gieren faselten, erschien eine ganze R e i h e von „ E i n g e s a n d t s " in der T i m e s , unterzeichnet: „Coningsby, ein A r b e i t e r " , der dem Publikum versicherte, d a ß die Arbeiter gar nicht daran dächten, sich jetzt in eine solche Bewegung hineinziehen zu lassen. Und er fand wirklich nur wenigen Widerspruch

durch gegenteilige

„Eingesandts".

Was i m m e r

der

London, 10. Dezember

421

G r u n d sein m a g , o b w i r k l i c h e E r k e n n t n i s des eigenen Wohles, o b — wie die h ä m i s c h e n F o r t s c h r i t t l e r versichern — die S c h l ä f r i g k e i t bei den vollen F l e i s c h t ö p f e n , g e n u g , d a s „ g e f ü h l t e B e d ü r f n i s " ist m ä u s c h e n s t i l l , w o nicht g e r a d e r a d i k a l e A s p i r a n t e n auf P a r l a m e n t s s i t z e n eine k ü n s t l i c h e E r r e g u n g in m e h r o d e r w e n i g e r „ n a s s e m W e g e " herzustellen s u c h e n . Drei M e m b e r s , die sich als Z u k u n f t s m ä n n e r k e n n t l i c h g e m a c h t h a b e n , Forster, Baines (der einzige im P a r l a m e n t sitzende J o u r n a l i s t ) u n d Stansfeld, der B u s e n f r e u n d M a z z i n i s , w e l c h e m letzteren b e k a n n t l i c h C l a r a Stansfeld ihren P o m p a d o u r als r e v o l u t i o n ä r e n Briefbeutel im N ä h k a s t e n zur D i s p o s i t i o n gestellt h a t t e , h a b e n in G e m e i n s c h a f t mit d e m e b e n erst z u m B a r o n e t e r h o b e n e n Sir Francis C r o ß l e y den B e w o h n e r n von B r a d f o r d in Y o r k s h i r e plausibel g e m a c h t , d a ß die B r a d f o r d e r , o h n e sich dessen vielleicht g a n z b e w u ß t zu sein, d o c h von G r u n d aus r e f o r m l u s t i g seien. Solcher Beweis ist n i c h t g a n z s c h w e r , w e n n , w i e M r . Stansfeld jüngst einer A r b e i t e r v e r s a m m l u n g versicherte, jede B e w e g u n g „ m i t einer gewissen L e e r e " (a void) zu b e g i n n e n pflege. Beiläufig b e m e r k t h a t ein Freund Stansfeld k ü r z l i c h den S t a m m b a u m des letzteren in der Presse publiziert u n d auf d a s G l a u b l i c h s t e n a c h g e w i e s e n , d a ß die Stansfelde d u r c h Z w i s c h e n h e i r a t e n mit den b e r ü h m t e n H u t c h i n s o n s , „die f a s t m i t jeder D y n a stie E u r o p a s in V e r w a n d t s c h a f t s t ä n d e n " , n i e m a n d g e r i n g e r e n als ihren U r a l t v a t e r zu b e t r a c h t e n h ä t t e n als — Kaiser Karl den G r o ß e n ! A u c h in M a n c h e s t e r h a t die „ B e w e g u n g " sich s c h o n zu ihrer Existenz ü b e r r e d e t . R e f o r m ist w i e d e r z u m S t i c h w o r t z w i s c h e n W h i g s u n d Tories g e w o r d e n . Erstere h a b e n als Schweif die R a d i k a l e n . So b r i n g t d a s n e u e W i t z b l a t t „ D e r Pfeil" ( a r r o w ) , der T o r y p a r t e i a n g e h ö r i g , eine A b b i l d u n g , die L o r d D e r b y mit e i n e m H u t auf d e m K o p f e d a r s t e l l t , u m d e n sich ein breites Band m i t d e m W o r t e „ R e f o r m " schlingt, w ä h r e n d M r . R a d i k a l in H e m d s ä r m e l n eine B o x e r s t e l l u n g e i n n i m m t u n d r u f t : „ H e r u n t e r mit mein e m H u t . " A n t w o r t : „ D e r H u t p a ß t mir selbst u n d ist m e i n so g u t wie D e i n . " D a s „ M a ß " w i r d jedenfalls den U n t e r s c h i e d m a c h e n u n d die „ K r o n e " des H u t e s . Es ist k a u m z w e i f e l h a f t , d a ß die Tories die f r ü h e r von L o r d D e r b y g e m a c h t e n R e f o r m v o r s c h l ä g e , w e l c h e die W h i g s aus Neid ü b e r solche Initiative mit i h r e m Veto ü b e r s t i m m t e n , n o c h in der Session v o n 1865 w i e d e r a u f n e h m e n , o d e r sie d o c h f ü r die e r f o l g e n d e n allgemeinen N e u w a h l e n in B e r e i t s c h a f t h a l t e n w e r d e n . Die Tories bleiben bei 10 Lstr. J a h r e s p a c h t als W ä h l e r z e n s u s usw. s t e h e n , die Liberalen u n d R a d i k a l e n s c h w a n k e n z w i s c h e n 6 P f u n d u n d „ N i c h t s " u n d die spezifischen W h i g s sind in d e r „ ü b l e n L a g e " , e n t w e d e r sich g a n z u n p o p u l ä r zu m a c h e n u n d alles a b z u l e h n e n , o d e r sich mit e i n e m Bruchteil z w i s c h e n

422

1864

6 und 10 Pfund in Vortrab zu stellen. Kommt es zu einer Reformbill, so ist sie weder das Produkt einer drückenden „Leere", noch einer „Bewegung", noch eines „tiefgefühlten Bedürfnisses", sondern das der alten Eifersucht zwischen den balanzierenden Parteien. Eins ist sicher, die folgende Session, eben weil sie die letzte, wird an Redseligkeit manche der früheren überbieten, Leute, die sechs Jahre nicht gesprochen, werden sich dann hören lassen, um sich ihren Wählern wieder mit einem Schieler auf die Neuwahl ins Gedächtnis zurückzurufen. Schade ist es, daß unter den Tories, welche sich Konservative nennen, eine nicht geringe Anzahl vorhanden, welche von einer Solidarität konservativer Interessen Europas auch nicht die leiseste Idee haben und sozusagen für ihre Insel allein den Konservatismus in Pacht nehmen. Ihre Reden über Revolutionen im Auslande sind nichts weniger als konservativ und könnten ebensogut von den Redakteuren der Berliner Volkszeitung gehalten werden. — Der alljährlich vor der Weihnachtszeit in allen größern Städten Englands eröffnete Preisviehmarkt sieht auch in der Londoner Vorstadt Islington dieses Mal seine Enthusiasten, welche sich im herzlichen Vorgenusse des Kommenden an den lebendigen Rumpfsteaks weiden, die sie im gebratenen Zustande binnen 14 Tagen zu verzehren gedenken. Dieses Mal ist aber der Besuch so sich vertiefender Bewunderer nur ein schwacher. Die Presse rügt zum Teil diese Manie, sich über die Qual der in ihren Fettwülsten mühsam fortschreitenden Tiere zu freuen, und die „Comic News" bringen eine derbe Karikatur, unterzeichnet „das Götzenbild von Islington", auf dem John Bull in voller Breite sich vor einer erhöhten Glasglocke niederwirft, die einen Gnomen mit einem enormen Dickkopf zeigt mit der Inschrift „Speck". Das ist ein derber Verweis, aber der dicken Haut wegen, für die er bestimmt, hierzulande entschuldbar. [Nr. 293, 14. 12. 1864]

Staats-Eisenbahnen? Hudson, Bromley und Alsopp p:;' London, 17. Dezember Als Gladstone im Jahre 1844 Handelsminister war, brachte er es zuwege, daß bei der Konzessionierung der Eisenbahnen in Großbritannien, damals erst 2 5 0 0 engl. Meilen umfassend, die Klausel eingefügt wurde, die Regierung solle nach Ablauf von 21 Jahren das Recht haben, die etc.

London, 17. Dezember

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E i s e n b a h n gegen Z a h l u n g des 2 5 f a c h e n Betrages des E r t r ä g n i s s e s , bemessen n a c h d e m d e r letzten drei J a h r e v o r 1865, von d e n b e t r e f f e n d e n G e s e l l s c h a f t e n zu a k q u i r i e r e n , im Falle jene D i v i d e n d e n nicht 10 p C t . per a n n u m ü b e r s t e i g e n sollten. D a s J a h r 1865 ist n u n d a s v o r g e s e h e n e J a h r . G l a d s t o n e ist w i e d e r M i n i s t e r u n d z w a r d e r des Schatzes u n d es t r i f f t sich, d a ß er zu der Initiative b e f u g t ist, die A u s f ü h r u n g jener „sein e r " Klausel auf d a s T a p e t zu b r i n g e n o d e r n i c h t . D a englische E i s e n b a h nen w e g e n der p l a n l o s u n d in M a s s e n s p ä t e r k o n z e s s i o n i e r t e n Kreuzu n d Q u e r - E i s e n b a h n e n k e i n e s w e g s sehr g l ä n z e n d e G e s c h ä f t e m a c h e n , sogar b e d e u t e n d e Linien n u r 3 p C t . J a h r e s - D i v i d e n d e liefern, so liegt, wie die T i m e s b e m e r k t , die g r ö ß t e W a h r s c h e i n l i c h k e i t vor, d a ß , w e n n d e n G e s e l l s c h a f t e n o b i g e r Vorschlag zur G ü t e n u n m e h r g e m a c h t w e r d e n sollte, sie alle r u f e n w ü r d e n : „ K a u f u n s auf alle Fälle!" G l a d s t o n e h a t t e d a s E r t r ä g n i s der 1844 k o n z e s s i o n i e r t e n B a h n e n f ü r d a s J a h r 1865 auf e t w a 15 Mill. Lstr. k a l k u l i e r t ; a b e r es belief sich s c h o n 1862 auf b e i n a h e das D o p p e l t e . D i e R e g i e r u n g w ü r d e n u n , falls sie von i h r e m R e c h t e G e b r a u c h m a c h t e , im D u r c h s c h n i t t 3 7 5 Mill. Lstr. den G e s e l l s c h a f t e n zu zahlen h a b e n . Die T i m e s o p p o n i e r t , die g a n z e Tory-Presse o p p o n i e r t , die F r e i h ä n d l e r des „ S t a r " o p p o n i e r e n . Z u r D e b a t t e k o m m t die Sache jedenfalls in n ä c h s t e r Session, a b e r w o h l n u r als „ F ü h l e r " , u n d da die R e g i e r u n g n u n d e n Beweis m e h r f a c h g e g e b e n , d a ß sie d o p p e l t so t e u e r b a u t u n d v i e r m a l t e u r e r v e r w a l t e t , als a n d e r e U n t e r n e h m e r , die mit Sinek u r e n geizen, so ist w e n i g Aussicht, d a ß d a s P a r l a m e n t die E r w e r b u n g der u n t e r jene Klausel f a l l e n d e n 85 p C t . aller b e s t e h e n d e n B a h n e n a n r a ten d ü r f t e . — M r . G e o r g e H u d s o n , d e r E x - E i s e n b a h n - K ö n i g , ist als W a h l - K a n d i d a t f ü r W h i t b y a u f g e t r e t e n . Er t u t dies als T o r y ; a b e r die Tory-Presse sogar gibt ihm die „cold s h o u l d e r " , wie m a n zu sagen pflegt. So h a t er auf eigene Faust zu f e c h t e n . M r . H u d s o n w a r von d e r e r b i t t e r ten G e n e r a t i o n d e r letzten 20 J a h r e s c h o n vergessen, z u m Teil aus S c h a m g e f ü h l d e r d u r c h ihn G e s c h ä d i g t e n ; d e n n jene Periode, w o H u d s o n , wie im vorigen J a h r h u n d e r t d e r S c h o t t e L a w zu Paris, in E n g l a n d die h a l b e g u t e u n d die g a n z e schlechte G e s e l l s c h a f t in A k t i e n - S p e k u l a t i o nen implizierte, k o m p r o m i t t i e r t e , r u i n i e r t e , w a r n i c h t eine solche, die selbst ein G e p r e l l t e r lange laut b e s e u f z e n d u r f t e . D e r N a b o b fiel, die Seifenblasen p l a t z t e n , die E x e k u t o r e n (Brokers g e n a n n t ) setzten sich mit s c h m u t z i g e n Stiefeln auf die S a m m e t - T e p p i c h e der s c h ö n s t e n D r a w i n g R o o m s fest u n d r ä u m t e n Paläste u n d B ü r g e r h ä u s e r zu H u n d e r t e n aus. H u d s o n zog sich in ein v e r s t o h l e n e s P r i v a t l e b e n z u r ü c k , w e n i g b e u n r u higt, weil jeder, d e r h ä t t e a n k l a g e n k ö n n e n , aus S c h a m u n d Furcht vor

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1864

öffentlichem Spott reinen Mund hielt. Aus dem Schutt seines Glücks hat der Ex-Eisenbahn-König in diesem Jahre urplötzlich einen schon verloren gegebenen Schatz aufgestöbert, so etwas wie 2 0 0 . 0 0 0 Lstr., angeblich aus spanischen Eisenbahn-Papieren realisiert, und sofort trat er als solvent wieder aus dem Nebel der Vergessenheit und wählt sehr klug den jetzigen Zeitpunkt zu einer Präsentation zum Parlament, da bei den vereinzelten Neuwahlen selten ein Kandidat noch einen Rivalen hat, indem man wegen des „einen" Jahres noch verbleibender Vollmacht, sich nicht mehr viel auf die Wahlunkosten einläßt. Dies erklärt, daß es jetzt öfters heißt: „N. N. gewählt ohne jede Opposition." Wie leicht die Arbeit des Persuadierens der Wähler deshalb jetzt, davon ein Beispiel. Mr. Bromley ist anstelle des verstorbenen Mr. Spooner in Nord-Warwickshire soeben gewählt. Er trat als Liberal-Konservativer auf. Liberaler Konservatismus ist nach der Definition eines konservativen Blattes eine Art Schmetterling, der nach der von Naturforschern benannten „mimetischen Analogie", die Farbe anderer Schmetterlinge annehmen kann, die „weniger Gefahr" laufen, gefangen zu werden. Konservativer Liberalismus ist nach der Definition eines liberalen Blattes „ein Ding, weder Fleisch noch Vogel noch Fisch, nicht einmal ein guter saurer Hering". Mr. Bromley gewann sich die Gemüter der Wähler mit der Versicherung, „er sei ein Mann ohne besondere Fähigkeit", eine ruse, die immer ein höfliches „No! No!" von den Hörern einerntet. Befragt, wie er sich zu der Kirchensteuerfrage stellen wolle, sagte er: „Ich verspreche, daß, wenn ich Premierminister bin, ich mich mit der Frage beschäftigen werde." Befragt, „wie denken Sie über die Malzsteuer?" entgegnete er: „Ich kann nur sagen, wenn ich Finanzminister bin, werde ich auch diese Frage in Erwägung ziehen." Kann man weiser sich aus einer Klemme ziehen, um es mit keinem zu verderben? — Wenn übrigens Parlamentsmänner glauben, das öffentliche Auge ruhe nicht mehr auf ihnen, weil Ferien sind, so irren sie sich, wie dies Mr. Alsopp zu seinem Schaden erfahren. Auf ihm ruht selbst im Privatleben nicht nur das Auge des Landes, sondern jede durstige Kehle nennt ihn dankbar — es ist Alsopp, der große Alebrauer Altenglands. Dieses Parlamentsmitglied verfiel eines Tages auf den Gedanken, seinem noch jugendlichen Stiefelputzer eine lange verdiente Züchtigung angedeihen zu lassen. Sich selbst eigenhändig mit dem Gesetze in Konflikt bringen, ging nicht an. Darum engagierte er den Tambourmajor eines Milizregiments und lieh diesem eine reglementsmäßige „neunschwänzige Katze", womit fast nur desertierte Matrosen gezüchtigt werden. Der Tambourmajor kommt nun auf die Bank der Angeklag-

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London, 2 4 . Dezember

ten, und Mr. Alsopp hat, nachdem ihm jedes Blatt im Lande einen Rüffel appliziert, den Generalrüffel im Unterhause zu erwarten, trotz seiner öffentlichen Erklärung, „daß die Hiebe mit der ,Katze' nur sanfterer Natur gewesen seien". — [Nr. 2 9 9 , 21. 12. 1864]

Kleine Verstimmungen gegen die „Cousins" Rettungs-Assoziation für Irland Rekommandiert und nicht-rekommandiert Eisenbahn-Unwesen. Französische Weine P* London, 24. Dezember Zwei Dinge nimmt man hier den „Cousins" auf der anderen Seite des Ozeans sehr übel, die Hindeutung in Lincolns Botschaft auf die Möglichkeit einer Etablierung maritimer Streitkräfte auf den fünf großen Seen, welche die Grenze Kanadas bilden, und die herbe Abweisung, welche die auf englischen Bazaren kollektierten Unterstützungsgelder für Südlinger in Gefangenschaft von seiten des nordamerikanischen Ministers Mr. Sewards erfahren haben. Was den ersten Punkt betrifft, so besorgt man, ein zweiter Wilkes könnte auf den Grenz-Seen gelegentlich eine zweite Trent-Affäre in Szene setzen, oder sich etwas ereignen, das der Wegnahme der „Florida" in brasilianischen Gewässern ähnlich sehen könnte. „Ein Schuß vor dem Fort Sumter bedeutete einen Bürgerkrieg ohnegleichen, eine Kugel, die in Unrechter Richtung über den Erie- oder OntarioSee flöge, dürfte noch schrecklichere Konsequenzen haben." So äußert sich das Organ des großen Publikums, der „Daily Telegraph". Sewards Antwort auf das durch den hiesigen amerikanischen Gesandten Adams übermittelte Gesuch Lord Wharncliffes, durch englische Agenten 17.000 goldene englische Sovereigns (ein großes Vermögen, wenn in Lincolnsche Green-backs verwechselt,) an gefangene Südlinger verteilen zu dürfen, wird von der Tory-Presse als ein Barbarismus ohnegleichen bezeichnet. Aber wir Preußen können nicht das uns von derselben gemachte Kompliment akzeptieren, „daß wir solche Unterstützung für dänische Gefangene nicht abgewiesen hätten". Das für dänische Soldaten und deren Familien gesammelte englische Geld ging nach Kopenhagen und wurde nicht in Berlin offeriert „zur besseren Verpflegung der Gefangenen", wie doch Lord Wharncliffe mit seinem Angebot ziemlich deutlich Mr. Adams insinuierte. Selbst in der whiggistischen Presse wird, obwohl mit sehr

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saurem Gesicht, zugegeben, daß Lord Wharncliffes Anerbieten sehr übel angebracht gewesen, da er ohnedies Präsident der britischen Assoziation für die „Unabhängigkeit des Südens" sei. Mr. Seward hat allerdings ein gewisses Recht, den in jenem Geldanerbieten enthaltenen Vorwurf der Vernachlässigung der Gefangenen als einen „grave insult" zu bezeichnen, und seinem Vorwurf: „das amerikanische Volk wird erwägen, daß diese so hinterlistig im Namen der Menschlichkeit offerierte Summe nur einen geringen Teil jener Profite darstellt, welche die Kollektierenden von den Insurgenten erzielt haben durch Lieferung von Waffen und Kriegsmaterial für die begehrten Produkte unsittlicher und entkräftender Sklavenarbeit" — kann man hier nichts Erhebliches zur Widerlegung entgegenstellen. Aber sie wurmt sehr, diese gallbittere Pille. — Von drei Erzbischöfen und sechzehn Bischöfen der römisch-katholischen Kirche Irlands, sowie von sechs irischen Parlamentsmitgliedern, vierzig irischen Richtern und mehreren tausend anderen Irländern von Rang und Ansehen ist ein Memorial an den Lord-Mayor von Dublin, Mac Swiney, ergangen, welches ihn auffordert, behufs Bildung einer Rettungs-Assoziation für Irland ein großes Meeting berufen zu wollen. Dort sollen folgende drei Punkte erstrebt werden: 1) eine Reform des Gesetzes über die Verhältnisse zwischen Grundeigentümer und Pächter, um letzterem eine volle Entschädigung für wertvolle Verbesserungen zu sichern (diese „Lücke" ist, beiläufig bemerkt, der Schlüssel zum Elend Irlands und herb gerügt, selbst von so konservativen Männern, wie Sir G. Bowley M . P.); 2) Aufhebung der anglikanischen Kirche in Irland als irischer Staatskirche (dies soll heißen: Aufhebung der Verpflichtung der irischen Katholiken, zur Unterhaltung der protestantischen Geistlichen Kirchensteuern zu zahlen); 3) völlige Freiheit der Erziehung in allen ihren Zweigen. Diese Forderungen sind nicht neu, haben aber keine Aussicht auf Erfüllung, den ersten Punkt vielleicht ausgenommen, wenn nicht, wie alle solche Assoziationen in Irland getan, die Sache verballhornt wird. Der Bischof von Tuam hat seine Beteiligung mit den Worten abgelehnt: „Man hat uns schon einmal verraten und schmählich im Stich gelassen, so will ich nichts mehr von solchen Anregungen hoffen, wie sehr auch mein Herz auf ihrer Seite steht." Aus gleichen Gründen haben eilf andere Bischöfe nicht mitunterzeichnet, Grundbesitzer sind auch wenige darunter wegen des ersten Punktes. Sie sind zum Teil homines novi, Spekulanten aus dem Kaufmanns· und Advokatenstande. Die alten Familien sind dezimiert. — Der General-Postmeister veröffentlicht soeben eine statistische Übersicht über den Postverkehr vom vorigen Jahre. Darnach belief sich die Zahl

London, 24. Dezember

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der im vereinigten Königreiche bestellten Briefe auf 642 Millionen, wovon auf London allein 160 Mill., auf England und Wales 368 Mill., auf Schottland 61 und auf Irland 52 Millionen kommen. Er appelliert an das Gewissen des Publikums, an die Registrierung von beschwerten Briefen mahnend: „Solange das Publikum fortfährt, große Summen Geldes in einfachen Briefen zu versenden, solange werden sich in einem Etablissement von dem Umfange des Postamts Leute finden, die sich die Gelegenheit zunutze machen, welche ihnen in so schlimmer Weise (culpably) geboten wird." Übrigens ist die jährliche Ziffer „vermißter" Briefe mit Wertgegenständen seit Herabsetzung des Extra-Portos für Rekommandierung von 6 auf 4 Pence von 6000 auf 2000 gefallen. Andererseits ist es vorgekommen, daß hie und da in einem einfachen Briefe, der als unbestellbar geöffnet wurde, sich Summen in Cheques, Banknoten usw. bis zum Belaufe von 4—6000 Lstr. vorgefunden. Mancher Geldsender scheut es, durch Rekommandierung, obwohl diese größere Sorgfalt die Bestellung sichert, die Aufmerksamkeit derer zu erregen, durch deren Hände der Brief passiert, denn auch für einen rekommandierten Brief und seinen Inhalt (wenn entwendet oder verloren) leistet die Post, im Inlande sogar, nicht den mindesten Ersatz. — Die Zahl der EisenbahnUnfälle während der letzten vierzehn Tage beunruhigt das Land wieder einmal. Die „Presse" hebt von neuem hervor, daß die überwiegende Mehrzahl aller Unfälle keine „Unfälle" sind, sondern wissentliche Verschuldungen der Bahnverwaltungen. Unpünktlichkeit in der Ankunft der Züge sei „Regel", und Habsucht verschulde, daß außer regelmäßigen Güterzügen noch eine ganze Anzahl gelegentlicher Güterzüge „außer der Zeit" expediert, oft mitten auf Expreß-Linien stehen bleiben oder sonst in den Weg kommen, wo sie nicht hingehören. Signalleute werden oft aus Ersparnis 13 Stunden ohne Ablösung auf ihrem Posten belassen, der doch fast jede Minute eine Ausschau verlangt, und andere Dinge mehr werden gerügt zum hundertsten Male. Ein Blatt sagt: „Strenge Maßregeln werden nicht ergriffen, weil über 100 Eisenbahndirektoren und Unternehmer im Parlament sitzen." Trotz der zahlreichen Verbrechen, begangen in Eisenbahn-Coupes, trotz Warnungen und Rügen, hat noch keine einzige Eisenbahnverwaltung Vorrichtungen getroffen, um während der Fahrten eine Kommunikation zwischen den einzelnen Coupes oder mit dem begleitenden Schaffner zu ermöglichen. Ebenso ist es mit den Grubenverwaltungen. Obwohl alle Welt durch das vor zwei Jahren erfolgte große Grubenunglück erschüttert wurde, bei welchem über 200 Arbeiter lebendig begraben wurden, weil der einzige zur Grube führende

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1864

Schacht verschüttet gewesen, haben kaum ein halbes Dutzend einschachtiger Gruben den „vorgeschriebenen" zweiten erhalten — und es sitzen auch über 100 Grubenbesitzer im Unterhause. Ein satirisches Blatt bemerkt: „Solange nicht ein halbes Dutzend Bahndirektoren auf eigener Bahn Arm und Beine brechen, wird es nicht besser. Namentlich bei Extrazügen sollte das vergnügungslustige Publikum sich mindestens einen Bahndirektor als Mitpassagier sichern ,for better, for worse'." — Seit der zollfreien Einfuhr französischer Weine haben englische Nabobs die größten und besten der Weinberggelände von Bordeaux angekauft. Auch von Lafitte wird, wie gemeldet, nur so viel noch in ausländische Keller kommen, als englischer Durst übrig läßt — und was für ein Durst das ist! In den Mittelklassen ist man hier schon von Ale, Porter und jenem braunen Spiritus, Sherry, vielfach abgegangen, seitdem die Presse das alte Vorurteil widerlegt, daß Frankreichs "Weine die „Kolik importierten". Ein Blatt schließt einen Leitartikel über dieses Thema mit den Worten: „Weise Ärzte blicken auf guten Ciaret, als die beste Medizin der ganzen Apothekerkunde, nächst Luft, Leibesübung, regelmäßiger Lebensweise und einem guten Gewissen." [Nr. 305, 29. 12. 1864]

Besorgnis vor einem amerikanischen Kriege Gute Ernte. Pflüge zum Sitzen Richter Tyrwhitt und der blinde Soldat p* London, 31. Dezember Genau vor zehn Tagen stand mit geringen Variationen folgendes in hiesigen Blättern: „Sollte Großbritannien durch das Kabinett von Washington zur Aktion gezwungen werden, so würde es außer Feinden auch Alliierte haben. Eine grimmige (!) Proklamation im Sinne der Anti-Monroe-Doktrin würde durch zwei solche Armeen, wie die Bazaines in Mexiko und Sir Fenwick Williams in Kanada erlassen werden, während die so alliierten Streitkräfte auch auf das Schwert Lees, als eines mächtigen Bundesgenossen, zählen dürften." Und gestern begann der „Daily Telegraph" einen Leitartikel mit folgenden Worten: „Wir halten den Mann für den schlimmsten der öffentlichen Feinde, der durch bittere Sprache oder rauhe Worte dahin wirkt, den Frieden zwischen zwei großen Nationen zu brechen. In dieser Beziehung hat die Presse eines freien Landes eine schwere Last der Verantwortlichkeit auf ihren Schultern." Für uns Deut-

London, 31. Dezember

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sehe, die wir während der dänischen Kriegsperiode genügende Beweise erhalten haben, wie leicht die englische Presse sich diese Last der Verantwortlichkeit macht, verliert jene weise Sentenz so sehr an ihrer Erhabenheit, daß sie in solchem Munde den bekannten „einen" Schritt zum Lächerlichen 4 3 bereits zurückgelegt hat. Die erstere drohende Sentenz erschien unmittelbar nach der amerikanischen Präsidentenbotschaft, die zweite unmittelbar nach Ankunft der neuesten amerikanischen Post, die manchen

Zeitungs-Editoren

völlig den

Atem

benommen

zu

haben

scheint. Ihre Mahnung zur Ruhe ist demnach an die New Yorker Presse gerichtet, die in Wut ist über die unterlassene Aburteilung jener Südlingen welche unter der Firma „Bennett H. Young, Commander-in-chief of the Provisionary-Army of the Confederate-States" von britischem Boden (Kanada) aus im O k t o b e r einen Einfall auf das Gebiet der Nördlinger machten, unter der Ankündigung „zu sengen und zu brennen als Repressalie für Shermans Verhalten in Georgien". Der Widerstand der Grenzbewohner vereitelte dies, aber die „Provisionary-Army" versah sich reichlich mit „Provisionen", ohne dafür zu bezahlen, verursachte Blutvergießen in der Stadt St. Albans und raubte die dortige Privatbank kahl aus. Verfolgt von den Yankees, wurden mehrere auf britischem Gebiet arretiert und der britischen Behörde zur Aburteilung überantwortet. Indes ließ der Richter dieselben laufen wegen eines Formfehlers in dem gerichtlichen Haftbefehl. Was hier nicht befremdete, ist die Wut der New Yorker Presse, und kaum auch die Drohungen des Generals D i x , aber die Haltung der Journale der Südlinger machte die hiesigen Blätter stutzig. Mit wenigen Ausnahmen begrüßten jene einen Krieg des Nordens mit England

als willkommen,

Phrasen

gebrauchend,

wie

die

folgende:

„Greift Lincoln mit der Rechten nach Kanada, so muß er mit der Linken uns loslassen. Keine bessere Gelegenheit hätte er, um mit

Anstand

(gracefully) uns anzuerkennen, ohne im eigenen Neste unpopulär zu werden." D a ß die Verlegenheit in England nicht klein ist, geht aus der fast wohlwollenden und begütigenden Sprache hervor, welche die Presse hier augenblicklich gegenüber dem Norden führt — natürlich solange es „ p a ß t " . Geht doch ein Blatt so weit, für die Verheerungen Shermans plötzlich darin mildernde Umstände zu entdecken, daß Georgien „so groß und breit", mithin das Sengen und Brennen doch nur wie ein „schmaler roter Strich" auf der Landkarte erscheinen würde. Wozu dies

„Du sublime au ridicule il n'y a qu'un p a s " — bekannter Ausspruch Napoleons I.

430

1864

alles, wenn man sich auf die eigene Kraft des Widerstandes so verlassen könnte, als die „dicken Worte" sonst uns glauben machen wollen. Heute tritt bei den meisten Blättern an Stelle der üblichen drei oder vier Leitartikel die „Jahresrundschau", in welcher natürlich Dänemark als der „von Goliath erschlagene David" Figur macht. Die kommerzielle Rundschau, welche gleichzeitig erscheint, straft die Kornspekulanten Lügen, welche die diesjährige Ernte im Lande möglichst verdächtigten und verkleinerten. Während 1862 die Einfuhr von Getreide aller Sorten nahe 19 Millionen Quarters (= 28 Pfd.) betrug, fiel dieselbe 1863 der guten Ernte im Inlande wegen auf 15 Millionen und wird für dieses eben abgeschlossene Jahr auf nur 12 Millionen veranschlagt. — Seit einiger Zeit sind große Aufträge auf Ackerbaumaschinen in Birmingham, Sheffield usw. aus Nordamerika eingegangen, aber meist mit der beigefügten Notiz, daß die Pflüge, Eggen usw. „zum Sitzen" eingerichtet werden müßten. Einer der Handelsbriefe bringt dazu eine weitere Erklärung: „Man muß aus allem Nutzen ziehen in unserer Lage. So viele tausend Landleute sind in den Krieg mit zwei Beinen marschiert und nur mit einem heimgekehrt. Der Bedarf an Ackerpflügen für einbeinige Krüppel ist außerordentlich usw." Das ist jedenfalls „kühl bis ans Herz hinan" 4 4 . — Die Italiener, welche in London vornehmlich den Saffran-Hügel und die Ledergasse bewohnen, machen den Gerichtshöfen seit vierzehn Tagen viel zu schaffen. Sie sind mit dem Stilett so schnell bei der H a n d , wie in Palermo. An einem Tage wurden drei vor die Polizeirichter geführt, wegen Erdolchung und Versuch der Erdolchung, alle drei einzelne Fälle. Der am schwersten Gravierte wird dennoch mit einer milden Strafe wegkommen; denn als er zur Identifizierung seinem Opfer, einem Arbeiter, der im Sterben lag, zugeführt wurde, bezeichnete dieser ihn zwar als seinen Mörder, verweigerte es aber, unter das darüber aufgenommene Dokument seinen Namen zu setzen. „Gott erbarme sich meiner Frau und meiner vier Kinder, sagte er, aber ich will den Mann nicht an den Galgen bringen. Ich verzeihe ihm von Herzen. God bless him." Dieser Fall hat einen tiefen Eindruck hier gemacht, wenn auch in anderer Weise als der folgende: James Casey, ein blinder entlassener Soldat, in Uniform und drei Medaillen auf der Brust, wird vorgeführt, des Betteins angeklagt. Der ihn verhaftende Constabel gibt an, wie jener — Kalender zum Kauf anbietend — von zwei Vorübergehenden Geld als Almosen angenommen habe. Auf der Brust trug er ein Plakat: „Bitte, kauft von einem armen 44

Aus Goethes Ballade „Der Fischer" (1779).

London, 31. Dezember

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blinden Soldaten. Ich verlor mein Augenlicht in Indien und wurde entlassen mit kleiner Pension auf kurze Zeit. Ich habe eine Frau und vier Kinder." Dann folgte eine Strophe in Reimen: „Wenn Krieg droht und der Tod ist nah — Ruft alles nach Gott und nach Soldaten — Doch ist der Krieg vorüber und alles wieder im Gleise — Dann ist Gott vergessen und der Soldat wird verachtet." Der Richter Tyrwhitt hob dieses Plakat in die Höhe und entschied wie folgt: „Ich spreche diesen Mann frei. In keinem Lande der Welt wird der Soldat so schmählich behandelt wie in diesem. Man gibt ihm eine kleine Pension für kurze Zeit und stößt ihn dann in die Welt hinaus." Dies sind keineswegs einzelne Fälle; es gibt viele solche Statisten des Elends auf unseren Gassen zu jeder Zeit, Bettler in Uniform und mit Medaillen auf der Brust. [Nr. 3, 4. 1. 1865]

1865 Wirtschaftliche Prosperität und Stabilität der Staatsfinanzen kennzeichnen Palmerstons sechsjährige Wahlperiode, die mit der Parlamentsession 1865 zuende geht. Die Neuwahlen im Sommer bestätigen die Whigs und deren bürgerlich-liberalen Kurs. Als Palmerston im Oktober nach fast sechzig Jahren aktiver Politik stirbt, wird Russell Premierminister und mit ihm ein überwiegend fortschrittlich-liberales Kabinett, das die Parlamentsreform auf Jahre zum Stichwort englischer Politik machen wird. Wichtigstes Ereignis des Jahres ist die Beendigung des amerikanischen Bürgerkrieges. Für die europäischen Mächte steht damit die Frage nach der zukünftigen Machtentwicklung der nordamerikanischen Union im Vordergrund. Nach der Ermordung Lincolns wird Vizepräsident Andrew Johnson 17. Präsident der Vereinigten Staaten. Er wird in den nächsten Jahren wegen zunehmender Milde gegen die Sezessionisten mehr und mehr in Konflikt mit der republikanischen Kongreßmehrheit geraten. Politische Stockungen kennzeichnen die Geschichte des europäischen Kontinents. Napoleon III. zeigt sich gegenüber dem Ausland zurückhaltend und muß sich in Algerien der Besänftigung aufrührerischer Stämme gegen das französische Militärgouvernement widmen. Victor Emanuel II. verlegt unter Protest Piemonts seine Hauptstadt von Turin nach Florenz. Griechenland ist trotz seiner monarchischen Verfassung weiterhin zerrüttet; ein Ministerium folgt dem anderen. In Spanien wankt der Thron der Königin Isabella II. durch eine Verschwörung in Valencia; sehr gegen ihre Neigung erkennt sie das neue Königreich Italien an. Rußland übt Zurückhaltung bei der Bewertung europäischer Fragen und ist auf dem Wege weiterer Reformen im Innern und neuer Annexionen an seinen asiatischen Grenzen. Schwarzer Punkt bleibt Polen, dessen Russifizierung durch weitere einschneidende Maßregeln die polnische Nationalität zersetzen und Kirche und Klerus in ihrer bisherigen Unabhängigkeit beschränken sollen. In Preußen verhindert die Fortdauer des Verfassungskonflikts die Verständigung mit der Regierung und lähmt das politische Leben. In der schleswig-holsteinischen Frage können sich die Kabinette von Berlin und Wien aus macht- und wirtschaftspolitischen Gegensätzen über die Erbansprüche des Erbherzogs von Augustenburg nicht einigen; sie beschließen in der Gasteiner Konvention die provisorische Verwaltung Holsteins durch Österreich und die Schleswigs durch Preußen. Gegen eine Entschädigung von 2,5 Millionen Talern verzichtet Österreich auf das Herzogtum Lauenburg, dessen Stände sich schon im Oktober 1864 für die zukünftige Zugehörigkeit zu Preußen ausgesprochen hatten.

1865

433

Die englische Meinungpresse nimmt großen Anteil an der im Herbst in Irland aufgedeckten Verschwörung der Fenier, einer 1861 gegründeten militanten irischen Vereinigung, deren Ziel es ist, durch revolutionäre Erhebungen Irland von England zu lösen und eine irische Republik auszurufen. Die britische Regierung handelt rasch, verhaftet die Anführer, verstärkt die militärische Präsenz, führt für einzelne Orte durch Aufhebung der Habeaskorpusakte das Kriegsrecht ein, läßt die Kanalflotte auffahren, um fenische Nachzüge aus Amerika abzufangen, und ordnet die Durchsuchung der Dubliner Redaktionsräume des „Irish People" an, des vor zwei Jahren gegründeten publizistischen Organs der Fenier, bei der ihr wichtige Dokumente in die Hände fallen. Damit scheint die fenische Agitation in Irland fürs erste überwunden. Das große Kolonialreich macht den Engländern auch in diesem Jahr zu schaffen. Neben dem fortdauernden Krieg gegen die Maoris auf Neuseeland sind es vor allem die Nachrichten von einer Negerverschwörung gegen die Plantagenbesitzer auf Jamaika, die die englische Presse beschäftigt und die durch das rücksichtslose Einschreiten des britischen Gouverneurs der Insel, John Eyre, blutig unterdrückt wird. Berichte, die das Mutterland über die dabei praktizierten unmenschlichen Grausamkeiten erreichen, erregen die öffentliche Meinung Englands. Die Regierung suspendiert Eyre, der indes in dem folgenden Untersuchungsverfahren straffrei bleibt. Für England bedeutet das Ende des Sezessionskrieges auch die Wiederaufnahme des „Alabama-Streits" durch die Vereinigten Staaten. Es geht um die „zweideutige Rolle"1 der britischen Regierung und vorzugsweise ihres damaligen Außenministers Russell. Washington wirft London vor, während des Krieges trotz erklärter Neutralität „ein wenig zu gern" wegen der mit den Südstaaten sympathisierenden Interessenlage die Augen zugedrückt zu haben zu dem, was in englischen Häfen, vorzugsweise in Liverpool, vor sich ging, wo Kriegsschiffe im Auftrag der Südstaaten gebaut und vom Stapel gelassen wurden. Russell hatte damals den amerikanischen Gesandten in London, Charles Francis Adams, seiner ehrlichen und unparteilichen Neutralität versichert. Erst die 1889 veröffentlichte Russell-Biographie von Spencer Walpole wird die Wahrheit enthüllen.

1

Vgl. Κ London, 16. Oktober 1 8 6 5 .

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1865 Der Katholizismus und die Familie. Theater-Zensur Wie England Disziplin übt. Militär-Budget und Sinekuren Die Ausstellung in Dublin und die Musik

P* London, 7. Januar Unter den verschiedenen Bills, welche von dieser oder jener Partei für die nächstbevorstehende Session des Unterhauses in Vorbereitung sind, befindet sich dem Vernehmen nach auch eine, welche eine staatliche Kontrolle über die römisch-katholischen Mönchsklöster und Nonnenkonvente begehrt. Vor dem Jahre 1829, dem Jahre der sogenannten Katholiken-Emanzipation, gab es kein Institut dieses Namens; seitdem aber ist die Zahl der Mönchsklöster in „England" auf 86, die der Nonnenkonvente auf 186 angewachsen. Neuerdings sind Gerüchte über diese oder jene Vorgänge innerhalb ihrer Mauern, zum großen Teil geflissentlich, in Umlauf gesetzt, wobei die Presse, mit Gier nach Vorwänden haschend, das Gerücht seiner Fragezeichen entkleidet und dasselbe nach eigener Manier ausmalte, sich hier und da auf Flugschriften berufend, die von ehemaligen römischen Geistlichen, nach ihrem Übertritt zur anglikanischen Kirche, gegen solche Institute in die Welt geschickt wurden. Daß namentlich auch in der Familie die Neigung zum Katholizismus in ganz wahrnehmbarem Maße vorhanden, ist nicht zu leugnen; fühlen sich nun aber Familien, Verwandte und Freunde derselben so beunruhigt darüber, so mag zur Erklärung dienen, daß aus ihrer eigenen Mitte, wie statistisch bereits festgestellt, alles mögliche getan wird, solche religiösen Familienzwiste herbeizuführen. Man hat es zur „Fashion" gemacht, Töchter in französischen und belgischen Erziehungsanstalten, Konventen usw. ausbilden zu lassen, wo die Mehrzahl der Schülerinnen der römisch-katholischen Konfession angehören. Man engagiert keine Gouvernante, die nicht in Paris einige Jahre ausgebildet worden. Da sich die Ziffer der alljährlich in Familie und Schule hierher Zurückkehrenden auf mehrere Tausend stellt, die auch in religiöser Beziehung anderen Anschauungen durch tägliche Gewohnheit, Umgang usw. dort nahe geführt wurden, so kann es kaum Wunder nehmen, wenn das auf hiesigem Boden fortwirkt. Was sich so einfach erklärt, wird dann von den beunruhigten Familienmitgliedern oder Außenstehenden feingesponnenen römischen Intrigen zugeschrieben, nach der abgedroschenen Melodie: „Überall Jesuiten". Und dann soll der Editor dieser oder jener Zeitung dem „bekümmerten" Vater oder dem „alarmierten Freund" der Familie, wie sie in zahllosen

London, 7. Januar

435

Eingesandts auftreten, aus der Sorge helfen. — Eine andere zu beantragende Bill verlangt Abschaffung der „Theater-Zensur", ein ganz altes Institut, wie bekannt werden muß. Es datiert aus den Tagen, wo noch die T h e a t e r zu jakobitischen Couplets oder sonstigen Einfällen politischer Färbung und zu religiösen Frivolitäten benutzt wurden. Ganz wie bei uns, werden Sie sagen. Vielleicht; aber es zeigt, daß der kontinentale Liberalismus sich irrte, wenn er neben englischer Preßfreiheit auch mit „englischer Bühnenfreiheit" die deutschen Landsleute über sich selbst erröten machen wollte. So ganz ohne Disziplin sind wir hier denn doch nicht. Davon ein anderes Beispiel. Der Stadt Bristol ist soeben wieder gestattet worden, Sitz der Assisen zu sein. Sie war verfassungsmäßig dieser Ehre seit 1831 vom Parlamente verlustig erklärt worden, und zwar zur Strafe wegen aufrührerischer Tumulte während der ersten Reformbewegung. Eine andere Art der Strafe ist Entziehung des parlamentarischen Wahlrechts. Die Stadt Gloucester

war eine lange Zeit desselben für un-

würdig erklärt, wegen eklatanter Wühlereien und Bestechungsmanöver bei Parlamentswahlen. So ließen sich viele Beispiele aufzählen. Wenn deutsche Regierungen gewisse Städte, die sich als Treibhäuser der Revolution erwiesen, so züchtigen wollten, welch Getöse würde der Liberalismus über angeblich so „unerhörte und beispiellose Maßregelung" erheben! Wenn das Gerücht recht hat, soll eine Bill eingebracht werden, um an der Stadt Belfast in Irland, wo vierzehn Tage lang im vergangenen August der Pöbel regierte und die Behörden noch bis heute sich über ihre Verschuldung nicht klar werden können, ein gleiches Exempel zu statutieren. Von den Tories wird eine Bill auf Reduzierung des MilitärBudgets

usw. vorbereitet, aber nicht in dem Sinne, wie Gladstone und

seine Berater von der Manchesterschule beabsichtigen sollen, verschiedene Fortifikationsprojekte verkürzend, sondern die Tories erklären das militärische „Beamtenpersonal" für viel zu zahlreich. Die Bill stellt einen Vergleich mit Frankreich auf, wo der Gesamtetat für die employes der Armee-Verwaltung sich nur auf 7 6 . 4 2 1 Lstr. belaufe bei einer Beamtenzahl von 4 7 9 und einer Armee von 6 0 0 . 0 0 0 M a n n , während derselbe Etat in Großbritannien sich auf 2 3 3 . 3 8 4 Lstr. belaufe bei einer Armee von 1 4 6 . 7 6 6 M a n n , wofür die hiesige Regierung 7 0 0 Beamte beschäftige. D a ß unsere offiziellen „Clerks" weniger als wenig zu tun haben, ist kein Geheimnis, und man lachte viel über eine Karikatur im „Punch", ein Eisenbahncoupe darstellend, in welchem früh morgens ein Regierungsclerk und ein Bankclerk zusammen sich nach London begeben. Letzterer

436

1865

offeriert ersterem ein Z e i t u n g s b l a t t zur L e k t ü r e , w a s dieser mit der Bem e r k u n g ablehnt: „Wenn ich jetzt die Z e i t u n g lese, was sollte ich dann beginnen, sobald ich a u f dem Bureau angelangt sein w e r d e ! " Es hat ganz den Anschein, als beabsichtigten die Tories, dem dem S c h a t z k a n z l e r zugeschriebenen P r o j e k t von Ersparnissen im A r m e e - B u d g e t mit O b i g e m Paroli zu bieten. Es ist übrigens dies ein altes M a n ö v e r hierzulande. Es ist n o c h nie eine Partei am R u d e r gewesen, die von der gerade abgesetzten Partei nicht beschuldigt worden wäre, sie halte zu viele Sinekuren für ihre Freunde o f f e n . * — N o c h eine andere im Plan befindliche Bill verdient B e a c h t u n g , weil die dieserhalb im S c h ö ß e zweier g r o ß e r und einflußreicher J u r i s t e n c l u b s gepflogenen Vorberatungen ganz erstaunliche D i n g e zur S p r a c h e g e b r a c h t haben. Die Bill wird aussprechen, d a ß g r ö ß e r e S o r g f a l t bei der Aufstellung von Gescbworenenlisten

sich als

sehr w ü n s c h e n s w e r t erweise; unter anderem müßten alle wegen eines Kriminalvergehens bestraften Personen auf 10 J a h r e des R e c h t e s , Ges c h w o r e n e r zu sein, verlustig gehen. Fragt m a n hierbei s c h o n , o b denn dem ü b e r h a u p t nicht schon i m m e r so gewesen, so wird die Verwunderung doch n o c h gesteigert durch eine weitere Beschwerde, d a ß darauf bisher nicht genug gesehen, bestrafte Verbrecher

von der J u r y auszu-

schließen. M a n m u ß solcher wohlunterrichteten

Quelle glauben,

daß

dergleichen wirklich passierte. Die g r o ß e B e s c h r ä n k u n g jeder polizeilichen K o n t r o l l e und die Schwierigkeit, irgendeine W i s s e n s c h a f t von den Antezedentien dieses oder jenes G e s c h w o r e n e n zu erlangen, erklärt dies in gewissem G r a d e . M a n Schloß aber gewisse Stände und Klassen aus, so namentlich alle Ärzte und B e a m t e und die Wirtshausbesitzer, wenn nicht gesetzlich, so doch g e w o h n h e i t s m ä ß i g . — Für die Industrie-Ausstellung in Dublin

sollen namentlich k a t h o l i s c h e Länder, wie F r a n k r e i c h ,

Ö s t e r r e i c h , Belgien, Italien vor allem a b e r die Künstlerwerkstätten zu R o m ganz a u ß e r o r d e n t l i c h e Anstrengungen zur Beteiligung m a c h e n . D i e bildende Kunst wird exzellieren; unter den anderen Künsten die M u s i k . Es ist ein besonderer 3 0 0 0 H ö r e r fassender Konzertsaal mit dem Ausstellungsgebäude in Verbindung g e b r a c h t , w o außer g r o ß e n H a r f e n - K o n z e r ten irischer und w ä l s c h e r M u s i k e r (mit O r c h e s t e r von mehreren hundert H a r f e n ) alle andern Instrumente zur Prüfung k o m m e n sollen. D i e Aus-

* Das Parlamentsmitglied Horsman, welcher zweimal „in Office" gewesen, einmal als einer der „Lords of Treasury", dann als Staatssekretär für Irland, erklärte jüngst offen im Unterhause, er habe beide Amter selbst aufgegeben, „weil ihm das Gehalt zu groß und die Arbeit zu klein gewesen".

London, 14. Januar

437

Stellung der Musikalien soll „alle europäischen I n s t r u m e n t e " bis zur R o h r f l ö t e des Z i g e u n e r s herab umfassen. So soll „ M u s i k " die „schöne S e e l e " 2 des G a n z e n werden. [Nr. 9, 11. 1. 1865]

Eine Million Lstr. zum Kirchenbau Die M . P.schaft und ihre O p f e r Sir Alfred Tennyson Ρ* L o n d o n , 14. J a n u a r Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte der B i s c h o f von L o n d o n im vergangenen J a h r e es als seinen Vorsatz ausgesprochen, binnen zehn J a h r e n , und zwar in J a h r e s r a t e n von 1 0 0 . 0 0 0 Lstr., eine S u m m e von einer M i l lion Lstr. im Subskriptionswege, als freiwillige Liebesgaben z u s a m m e n zubringen, um als ein Fonds für K i r c h e n b a u t e n in L o n d o n zu dienen. Bei einem kürzlich gehaltenen Vortrage verbreitete sich der B i s c h o f über das Bedürfnis, für dasjenige Dritteil der drei Millionen E i n w o h n e r L o n dons, das wegen unzureichender R ä u m l i c h k e i t in G o t t e s h ä u s e r n

vom

Kirchenbesuch ferngehalten werde, jene Bauten nach und nach auszuführen. Übrigens haben die Subskriptionen von 1 8 6 4 die auf 1 0 0 . 0 0 0 Lstr. veranschlagte J a h r e s q u o t e schon um 7 0 . 0 0 0 Lstr. überstiegen, und bereits ist die Einweihung von sechs neuen aus diesem Fonds erbauten Kirchen ermöglicht w o r d e n . — Seit dem Beginne der großen Parlamentsferien haben ungefähr 3 0 Ersatzwahlen stattgefunden, meist infolge niedergelegten M a n d a t s . Es waren solche Mitglieder, die nur stimmen und nie reden (es sei denn wie jener, der in 2 5 J a h r e n nur einmal sprach, und dies war eine B e s c h w e r d e über den u n a n g e n e h m e n Z u g von einer zerbrochenen Fensterscheibe hinter ihm), oder welche nie stimmen und nie sprechen, in Paris, in G e n f oder in Florenz hausen und mit dem Vaterlande nur durch ihr C h e q u e - B u c h

in Verbindung stehen.

Zwar

k o m m e n sie bei einer wichtigen A b s t i m m u n g w o h l einmal in das Unterhaus und halten auch wohl eine W o c h e aus, damit sie sich selbst „fleißig b e s u c h t " testieren k ö n n e n . — Unter den ausgeschiedenen brother-legislators für G r o ß b r i t a n n i e n und beide Indien sind m a n c h e , die ihren Wäh-

2

Anspielung auf „Bekenntnisse einer schönen Seele" in Goethes Wilhelm sters Lehrjahre, 6. Buch.

Mei-

438

1865

lern ein- für allemal Lebewohl gesagt haben, mithin gar nicht mehr „mitspielen". Viscount Pevensey tat dies aber mit dem auf viele passenden Geständnis, Wahlkämpfe seien sehr teuer: „Ich ziehe mich in das Privatleben zurück. Viermal in acht Jahren habe ich einen Wahlkampf mitgemacht, bis ich gewählt wurde. Aber die Unkosten hören mit dem Wahltage selbst nicht auf, denn es wird von jedem Gewählten erwartet, daß er soundsoviel für wohltätige Z w e c k e in seinem Wahlkreise ausgebe, soundsoviele Festlichkeiten von Zeit zu Zeit und soundsoviel für andere Dinge zum besten gebe." Die Presse erklärt diese „anderen D i n g e " als die nachträgliche Erfüllung der vor dem Wahltage gegebenen „Engagem e n t s " mannichfaltigster Art. — Alfred Tennyson ist nun also Sir Alfred Tennyson, der zweite Dichter-Baronet dieser Ära.* Bulwer war der erste. Beide sind Gegner auf dem Gebiete der Kritik in den „Magazinen". Bulwer (bekanntlich ein Millionär) hatte sich einst moquiert, daß „ein Tennyson eine Pension erhalten, während Sheridan Knowles fast verhung e r e " 3 , worauf Tennyson mit einem Epigramm antwortete 4 , in welchem er Bulwer als einen „ L ö w e n " bezeichnete, der die M ä h n e schüttele, aber „en papillottes". Die Witwe des verstorbenen Humoristen und Karikaturen-Zeichners vom „Punch", J o h n Leech,

soll eine Regierungs-Pension

erhalten. So meldet eine Notiz im „Star". Die von Genanntem hinterlassenen Skizzen belaufen sich auf 5 0 0 0 und kommen im April zur Auktion bei Mrs. Christie u. M a n s o n . [Nr. 15, 18. 1. 1 8 6 5 ]

Die Bourgeoisie und die Arbeiter Was John Bright den Arbeitern gönnt und was nicht Die Blaubücher des Elends p* London, 2 1 . J a n u a r In mehr als einem Lande ist es die Politik der Bourgeoisie (des Liberalismus in Glanzstiefeln) gewesen, die Arbeiter „politisch und literarisch" * Sir Alfred Tennyson ist der erste in den Adelstand erhobene poeta laureatus; denn Southey hatte den Titel, der ihm durch Sir R . Peel angeboten wurde, ausgeschlagen. Der nach Sir Walter Scott kreierten literarischen Baronets sind jetzt drei: Bulwer Lytton, Lyell und Tennyson. D. Red. 3 „The New T i m o n " , a n o n y m , J a n . 1 8 4 6 , Part II. 4 „The New T i m o n and the P o e t s " , in: Punch. Feh. 2 8 , 1 8 4 6 , und — eine Woche später — „After T h o u g h t " , später umbenannt in „Literary S q u a b b l e s " .

London, 21. Januar

439

zu beschäftigen; — das kostete nur schöne Reden, während ein Hinweis auf Besserung ihrer äußerlichen Lage möglichenfalls mit Geldeinbußen für die Fabrikherren usw. verknüpft gewesen wäre. In Deutschland und in Preußen haben augenscheinlich viele Arbeiter verlernt, ihre wirklichen Wohltäter unter jener liberalen oder demokratischen Bourgeoisie zu suchen. Für Ähnliches mehren sich die Anzeichen auch in England. Ungeachtet des dick aufgelegten Firnisses von Gleichheit und Brüderlichkeit hat die Manchesterpartei öfters schon den Verdacht wachgerufen, daß sie die Arbeiter in der Weise in Schutz nehme, wie die bekannte Skala andeutet: „Erst k o m m e ich, der Geldmann und Fabrikherr, dann noch einmal ich und dann noch dreimal, dann meine Freunde und dann D u ! " Bei Arbeitseinstellungen verhält sich deren Presse meist nur referierend. Sie bedarf der Sympathie der Arbeiter und braucht sich andererseits in keine ausdrückliche Parteinahme für den Fabrikherrn einzulassen, weil sie das Ende doch voraussieht, daß nämlich die ersteren Sieger bleiben. Einzelne Ausnahmen fixieren nur die Regel. So hat sie die Partie der Zimmergesellen angenommen, die eben einen Strike über ganz England ausgeführt, indem sie sich der Einführung von Entlassungsscheinen, welche die Zimmermeister vornehmen wollten, widersetzten. Und letztere haben nachgegeben. Aber das tangiert die großen Fabrikherren von Birmingham und Manchester nicht. John

Bright, der Führer der Manches-

terpartei, nächst Cobden, hat endlich die „Katze aus dem Sack gelassen". Er hat soeben zwei Reden gehalten, eine an seine Wähler zu Birmingham (eine politische) und Tags darauf eine an die Handelskammerleute derselben Stadt. In ersterer dankte er, sozusagen, allen M ä c h t e n der Oberund Unterwelt, gut oder übel, die einen Krieg für Dänemark verhindert haben; „wie" und „ w a r u m " , darauf k o m m e es nicht an. Dann spielte er auf der Baßsaite „ R e f o r m " , „Wahlrecht für die Arbeiter" und versicherte diesen, daß, wenn die 5 bis 6 Millionen NichtWähler Englands nur alle insgesamt und einig ihre Augen mit einem „recht intensiven

ernstlichen

Blick" auf die Portale des Unterhauses richteten, keine M a c h t es wagen würde, ihnen nur eine Woche lang ein „Nein" zuzurufen; weder die bequemen Gentlemen, die sich dort „rekelten", könnten das, noch das Dutzend von sogenannten Staatsmännern, die in Downing-Street „schläfrig nickten", noch die drohendere M a c h t weiter hinauf in Whitehallstreet (d. h. das O b e r k o m m a n d o der Armee, die Horse-Guards). Das ist ein W i n k für die NichtWähler und eine „ D r o h u n g " zugleich, und ohne Zweifel brachte ihm das manche Cheers ein in den Lesezimmern für Arbeiter. Aber Bright ist auch Fabrikherr. „Politisieren" tut den Arbeitern „gut";

440

1865

aber vor der Handelskammer am nächsten Tage kam ein Thema zur Sprache, das den Vivatrufern die Augen öffnen sollte. Bright sprach sich ganz entschieden gegen eine neue Faktorei-Akte aus, durch welche das „Parlament" die Arbeitszeit von Kindern unter einem gewissen Alter beschränken wolle. Das greift in die Tasche der Baumwoll-Lords. Da hörte der Spaß auf. So sprach denn der „Freund der Arbeiter", John Bright, folgendes: „Ich bin für eine Verkürzung der Arbeitsstunden, aber das ,Parlament' soll nicht sich in die freie Aktion zwischen Arbeit und Geschäft in diesem Lande mengen." Diese „freie Aktion" hat seit dreißig Jahren eine Sklaverei der Arbeiterkinder in England geschaffen. Aber der Manchestermann sagt zu dem von Arbeit verkrüppelten Knaben: „Gehe, Du bist ja frei, zu gehen"; zu dem Vater, dessen achtjährige Tochter bereits eine Brille tragen muß: „Da drüben hat der Fabrikherr Dir eine Schule gebaut, schicke Dein Kind dorthin am Sonntag." Aber Vater und Tochter haben nur einen guten Schlaf allwöchentlich und das ist am hellerlichten Sonntag! Er sagt zu dem Arbeiter: „Dort ist ein Lesezimmer — bilde Dich"; aber der Arbeiter ist todmüde am Abend — denn die „freie Aktion" hat ihm die vollen langen Arbeitsstunden belassen. Und dann macht John Bright noch einen grausamen Scherz: „Bis jetzt hat die Einmischung des Parlaments noch nicht die ländlichen Arbeiter erreicht; wollte man vorschlagen, die kleinen Knaben, welche als Vogelscheuchen auf den Feldern verwendet werden, nicht unter einem gewissen Alter zu beschäftigen oder sie zur Schule zu schicken, die Gentlemen vom Lande würden weniger für eine Bill zur Abkürzung der Arbeitsstunden der Kinder usw. schwärmen." Der „Freund der Arbeiter" erwähnt mit keiner Silbe der „Blaubücber des Elends", die von Regierungs-Kommissarien, welche die Fabrikdistrikte Englands bereist haben, vor kurzem veröffentlicht worden sind. Da liest man von fünfjährigen Kindern, die schon Handschuhe nähen, 14 bis 16 Stunden täglich bis in die Nacht hinein; von Scharen kleiner halberblindeter Mädchen mit Brillen, die morgens früh von den Eltern zum Hospital für Augenkranke geführt und dann zurück in die Arbeitsstube getrieben werden. Da liest man von kleinen Knaben von drei Jahren, die am Feuer kauern, mit heißen Bügeleisen in der Hand, einige die versengten Händchen in Wassernäpfen kühlend, andere mit verbundenen Händen auf dem Strohlager sitzend, „weil ihnen die Finger aus den Gelenken gegangen". „Sowie ein Kind nur eine Nadel fädeln kann", sagen die Kommissarien, „ist es zum Elend gebucht." Da liest man von arbeitenden Müttern, die ihre arbeitenden Kleinsten mit Stecknadeln an ihre Schürze heften. „Wir tun das, damit, wenn sie vor

London,21.Januar

441

Müdigkeit umfallen, es nur eines ,Rucks' braucht, um sie wieder auf die Beine zu stellen, sonst würde die Arbeit unterbrochen." Dies die den Kommissarien gegebene Erklärung. Freilich geschieht dies nicht in den Fabriken selbst. Das Gesetz verbietet dort die Beschäftigung so junger Kinder. Aber es wird umgangen. Man gibt die Arbeit „aus", wo es angeht, und in der Familie, in Privathäusern wird die Tretmühle in Gang gesetzt. Wir lesen in jenen Blaubüchern von einem zwölfjährigen Mädchen, das nicht wußte, daß ihre Königin Victoria heiße, und von einem 25jährigen Burschen, der Frankreich für einen General erklärte. Man fand 32 halberwachsene Krüppel, die nie von einer Königin gehört. Andere sagten, sie wäre der „Prinz von Wales". Ein 14jähriger Knabe sagten den Kommissarien: „Ich gehe zur Sonntagsschule, aber wir erhalten nur Schläge. Der Lehrer ist 11 Jahre alt, aber ein viel stärkerer Knabe, als ich." Ein anderer wußte nicht, ob ein Fluß ein Wasser oder ein Hügel sei! Ein Mädchen wußte nicht, was eine Primrose (Primel) bedeute, hielt ein Veilchen für den Namen eines Vogels, und als ihr die Abbildung einer Kuh gezeigt wurde, rief sie: „Das ist ein Löwe!" Einige Kinder sagten, London sei ein Land, andere, es wäre ein „Ding in der Ausstellung". Und solche Antworten kamen selbst von jungen Leuten, 15 bis 17 Jahre alt! Ein Knabe, befragt, was er denn in der Sonntgasschule gelesen, erwiderte: „Ich glaube, es wird Testament genannt; aber ich weiß nur bestimmt, es ist darin die Rede von schlechten Menschen, die Geld wechseln'." Ein anderer sagte: „Nach dem Tode werden die Gottlosen worshipped (angebetet), das heißt, sie gehen zur Hölle." Ein Bube sagte: „O, ich weiß der T . . . ist eine gute Person." Und so geht es fort. Ich zitiere einfach aus jenen offiziellen Dokumenten. Die Sonntagsschulen stehen oft unter „Knaben" als Lehrern. So verursachen sie dem Fabrikherrn keine „Gehaltsausgabe". Die Berichte bezeichnen die Arbeiterjugend als „halb blödsinnig und geistig wie körperlich verkrüppelt". „Und solchen Dingen gegenüber", sagt der „Daily Telegraph", „widersetzen sich John Bright und die Fabrikanten von Birmingham [als] ,Einmischungen der Gesetzgebung'?" Dies zur Geschichte der „freien Aktion" zwischen Arbeit und — Geschäft! Aber der Manchestermann legt dem Arbeiter die H a n d auf die Schulter und sagt: „Das alles beiseite! Du sollst teilhaben an der Regierung. Du sollst zum Parlament wählen." — Und das Blaubuch sagt: „Völlige Unwissenheit über unseren Heiland ist die Regel in den Fabrik-Distrikten." — Wer denkt nicht dabei an die „goldenen Aschenäpfel"? (Nr. 25, 25. 1. 1865]

442

1865 Friedensgerüchte aus Nordamerika und Schrecken der Baumwollenspekulanten. Nordpol-Expedition Rosas der „Furchtbare". Henri IV. et sa politique

Ρ* London, 1. Februar Poeten nannten England

„Atlantis"

und bezeichneten

es als

einen

Weltteil für sich, als eine Station zwischen der alten und neuen Welt. Die Vorgänge in Amerika finden in der Tat ein weiteres Interesse hier, als alle Ereignisse auf dem Kontinent. D a ß Mr. Blair, der nach Richmond entsendete nicht „offizielle Friedenskommissar",

ein

„Hühneraugen-

Operateur" seines Zeichens, mußte unwillkürlich den Humor herausfordern. Aber der angeblichen Entsendung von 15 Kongreßmitgliedern der Südstaaten an „Vater A b r a h a m " , um wegen Friedens zu unterhandeln, legt die sanguinische liberale Presse viel Bedeutung bei, und ebenso die Baumwollenbörse von Liverpool, wo der Vorspuk der Friedensgerüchte eine Panik unter den Baumwollen-Spekulanten hervorgerufen, deren Speicher zum Bersten voll, steigender Preise gewärtig. Es liest sich sehr „klein", so ein Fallen von 2 Pence für das Pfund Baumwolle, aber diese Panik soll Millionäre gar unerbittlich bei dem goldenen Rückgrat gepackt haben. Nur die Torypresse spöttelt über die Leichtgläubigen, welche von Frieden träumen. Und sie stützt sich gewiß auf Präzedenzfälle. Der „Standard" begehrt mit Ungestüm eine Einmischung Europas, „nach der man im Norden seufze",

was man wohl mit einem doppelten Frage-

zeichen drucken muß. Dieselbe Presse druckte einzelnen New Yorker und französischen Blättern die Notiz nach, England und Frankreich hätten Mr. Seward, Lincolns „Famulus", einen Wink gegeben, daß, anstatt Lincoln am 4. März, seinem „Ehrentage", ihre Anerkennungs-Dokumente zum Präsent zu machen, sie die Unabhängigkeit der Südstaaten anerkennen würden, im Falle nur Jefferson Davis, wenn zur Bewaffnung der Sklaven schreitend, die Negersoldaten nebst Familien emanzipieren würde. Und das alles, nachdem der Handelsminister Milner Gibson und „Geheimerat Peel", worunter der Unterstaatssekretär Mr. Frederik Peel zu verstehen, in letzter Woche vor ihren Wählern ausdrücklich erklärt, die Regierung wolle die strengste Neutralität auch ferner beobachten! Wenn demnach der „Standard" behauptet, Russell habe in einem gewissen diplomatischen Dokument neuesten Datums von den „ehemaligen Vereinigten" Staaten gesprochen, so beweist dies nichts. Das ficht einen Whig wenig an, und „Madame Britannia mit dem Minervahelm", wie

443

L o n d o n , 1. F e b r u a r

The Schoolmaster

at Home

M r s . B r i t a n n i a : " A s y o u say, M r . P a m , t h a t t o w r i t e p r o p e r l y is o n e o f t h e

most

i m p o r t a n t t h i n g s in t h e w o r l d , I ' v e b r o u g h t t h i s little g e n t l e m a n t o y o u . H i s letterwriting sadly wants i m p r o v i n g . "

die „ C o m i c N e w s " eine K a r i k a t u r bringen, „den kleinen Russell an der H a n d dem Herrn Lehrer (Palmerston) z u f ü h r e n d " , hat nicht Unrecht mit ihrer Anrede: „Ich führe Ihnen diesen Kleinen zu; er b e d a r f g r o ß e r N a c h s i c h t und N a c h h ü l f e in den S c h r e i b ü b u n g e n ! " D e s h a l b jene Äußerung Russells als eine negative A n e r k e n n u n g der Südstaaten deuten zu wollen, mag der T a k t i k der Tories jetzt passen, paßt a b e r a u f den Gemeinten nicht. — N a c h einer E x p r e ß - K o r r e s p o n d e n z des Zeitungs-Telegraphisten R e u t e r hat Russell dem allerneuesten griechischen

Kabinett

mitgeteilt: „Angesichts der republikanischen und mazzinistischen Agitationen in G r i e c h e n l a n d sehe er sich zu der Erklärung veranlaßt, d a ß , da die drei G a r a n t i e m ä c h t e nur die Herstellung einer erblichen

Monarchie

im Auge g e h a b t , England sich aller Verbindlichkeiten gegen die griechische N a t i o n ledig erachten würde, falls G r i e c h e n l a n d eine Republik

wer-

den s o l l t e . " Die Tory-Presse rügt dieses Schriftstück als verfrüht und übertreibend und geeignet, unnötige Aufregung zu verursachen. — D e r von dem M a r i n e - K a p i t ä n Sherard Osborn

(jüngst K o m m a n d e u r der auf-

444

1865

gelösten englisch-chinesischen Flottille) in der geographischen Gesellschaft angeregte Plan zu einer neuen Entdeckungsreise nach dem Lande „Polynia", womit englische Geographen die Umgegend des Nordpols bezeichnen, gewinnt von Tag zu Tag mehr Freunde. Die Admiralität ist angeblich nicht ungewillt, zwei Schiffe zu einer ähnlichen Expedition herzugeben, wie die war, auf welcher Franklin mit seinen Hundertdreißig das Leben verlor. Es gilt nicht der Auffindung einer nordwestlichen Durchfahrt nach dem Stillen Ozean; denn eine solche erklärt man in England schon gefunden durch die gelungene Reise des Schiffes „Fox" vor drei Jahren, sondern eine Fahrt um den Nordpol herum. Die Presse ist in ihrer Meinung geteilt. Die der Times verwirft das Unternehmen als so nutzlos, „als wolle man ein Dampfboot über den Himalaya transportieren", der andere Teil aber erkennt in dem Plane den „lebendigen Geist des seemutigen Alt-Englands" und schildert vom warmen Kamine aus die Lieblichkeiten der Reise in die glaubhaftermaßen stillen und breiten Fahrwasser jenseit der Lebenssphäre der Eskimos. Als mutmaßlicher Führer der Expedition bezeichnet man Kapitän Mac Clintock, denselben, welcher bei dem Helgolander Seegefecht zwischen dem dänischen Geschwader einerseits und dem österreichisch-preußischen andererseits das „uninteressierte" englische Beobachtungsschiff, die Fregatte „Aurora", kommandierte. Der Afrika-Reisende, Missionar Livingstone, verläßt England wieder binnen kurzem, um das Innere Afrikas südlich der von den Nilquellen-Entdeckern besuchten Gegend zu erforschen. Ein Name, ein verschollener Name ist gelegentlich einer unbedeutenden Zeitungsnotiz über Stallbrand (wir berichteten schon kurz darüber 5 ), wieder aufgetaucht, der des General Rosas, Ex-Diktators von Buenos Aires. Man wußte, daß er mit seiner „schönen Tochter Manuelita", wie Novellen sie bezeichnen, in England seine Zuflucht gefunden, als sein tyrannisches Regiment zu Ende; aber seit einem Jahrzehnt sprach keine Zeile in der Presse mehr von ihm. Er, der „Fra Diavolo" 6 der lasso-schwingenden Gauchos, welcher den Ruf: „Viva la Federacion y mueran los salvajes Unitarios!" zu dem Stichwort so mancher blutigen Vesper gemacht; der, dem von seiner Leibgarde, den „Mas-horcas" („Mehr-Galgen"), nur einer als Diener in das Exil folgte. Rosas, „der Furchtbare", ist in England — Milchpächter. Mehrere Jahre wohnte er in der Hafenstadt Southampton, siedelte aber dann nach dem nur drei Meilen entfernten Dorfe

5 6

D i k t a t o r Rosas als englischer Farmer, in: Nr. 2 4 , 2 8 . 1. 1 8 6 5 . Vgl. Anm. zu Κ L o n d o n , 3. J u n i 1 8 6 5 .

London, 6. Februar

445

Swathling über, w o er noch heute residiert. Er exzelliert als F a r m e r und versorgt seine Stadtkunden mit vorwurfsfreier K u h m i l c h , und gewinnt sich Belobigungen bei landwirtschaftlichen Ausstellungen mit MusterBullen und Muster-Kühen seiner Z u c h t . Am vorvergangenen

Montag

legte Feuer sein G e h ö f t in Asche und vernichtete die 4 0 „ H ä u p t e r " seines Viehstandes. Die einzige Notiz, welche die Zeitungen L o n d o n s darüber bringen, lautet: „ G e n e r a l R o s a s ist nur teilweise v e r s i c h e r t . " — Es heißt, d a ß mehrere des Französischen kundige englische Schriftsteller nicht nur zur Übersetzung des nächsterwarteten „Leben C a s a r s " 7 von Louis N a p o leon engagiert w o r d e n , sondern auch zur Ü b e r t r a g u n g eines zweiten Werkes: „Henri

Quatre

et sa politique",

welches ebenfalls der Feder des

kaiserlichen Biographen C a s a r s e n t s t a m m e n soll. D a s genannte Werk soll dem Leben C a s a r s auf dem Fuße folgen, versichert das hiesige Blatt „The B u i l d e n " . Auch dieses Werk soll gleichzeitig in vier Sprachen erscheinen. [Nr. 30, 4 . 2 . 1865]

Drei Ministersöhne Die Grabschrift der Russells Wechselungen p* L o n d o n , 6. Februar Eine g r o ß e Bewegung herrschte hier in den letzten beiden W o c h e n vor der E r ö f f n u n g der neuen Parlamentssession, keine politische Bewegung, aber die der H a a r b e s e n und Scheuerbürsten, der Tapezierleitern und der Stall- und Remise-Utensilien. Nicht alle, die da k o m m e n , haben StadtPaläste, m a n c h e s H u n d e r t ist „ C h a m b r e g a r n i s t " (freilich anderer Art als die bei uns üblichen. D . R . ) , mit und o h n e Familie, und nie sind die Z i m m e r m i e t e n teurer als um diese Z e i t in jenen fashionablen Quartieren von St. J a m e s , Piccadilly und Belgravia. S o b e s c h r ä n k t sich jene Bewegung auch nur auf diese Q u a r t i e r e , und in anderen spürt man nichts, d a ß die „außerordentlichen T a u s e n d " beider H ä u s e r uns wieder eine sechsmonatliche Visiste m a c h e n . Die Z w e c k e s s e n , die offiziellen wie die nichtoffiziellen, werden heute abgetan und morgen beginnt der Ernst des

7

Histoire de Jules Cesar, 2 torn., Paris 1865/66; engl.: History of Julius translated by Τ. Wright, 2 vol., London 1865/66.

Caesar,

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Geschäfts. — Binnen kurzem werden drei Minister- und ExministerSöhne als Unterhausmitglieder erwartet, wenn die Herren Wähler es sonst erlauben: „ein Gladstone II., ein Russell II., ein Stanley II." Letzterer ist der zweite Sohn des Earl Derby und einfach Mr. Stanley, Tory mit kleinem liberalisierenden Stich; Russells Sohn hat als Viscount Amberley eine Jungfern-Rede an das Reform-Meeting von Leeds gerichtet. Er, der Enkel eines Herzogs und der Neffe eines Herzogs von Bedford, hat sich nach Ansicht der Radikalen so brav gehalten, daß sie ihn als den ihrigen begrüßen, während ihn die konservative Presse als einen Demagogen nach dem Sinne Brights bezeichnet. Der junge Anfänger erntete Cheers für seine spöttischen Bemerkungen über den Einfluß der Grundbesitzer auf Parlamentswahlen, denen er die Demagogen durch dick und dünn bei weitem vorzöge. Er annoncierte sich als Reformer auf alle Fälle. Die englische Redensart: „Die Bedfords haben sich verbessert seit Karls des Großen Tagen", von einem Schriftsteller als künftiges Epitaph für Lord John Russell (aus dem Herzogshause der Bedfords) empfohlen, könnte demnach kaum auf dessen Sohn, Viscount Amberley, Anwendung finden. Doch es k o m m t auch für ihn die Zeit, wo es heißt: „Fanny war jünger, als sie jetzt ist", und wie wenige waren und sind im Parlament, die nicht einmal wenigstens die Farbe gewechselt. Ein Normanby begann einst als Radikaler; der feine vornehme Bulwer begann so, während Palmerston als guter Tory sich die ersten Sporen verdiente; ebenso der heute als Minister etwas abgekühlte Manchestermann Milner Gibson. Dieser letztere kam beiläufig aus dem konservativen Devonshire, das so konservativ ist, daß daselbst, wie ein liberales Blatt mit komischer Erbitterung ausruft, selbst „die Schneider konservativ sind". Aber entweder hielt er nicht zur Farbe oder die Farbe hielt nicht zu ihm. So könnte man eine Liste von aufgegebenen alten Attachements abrollen, länger als die, welche Leporello in der Oper 8 vor dem Publikum entfaltet. — Bei einigen Ersatzwahlen, namentlich in Irland, geht es stürmisch zu. So wird in der Stadt Tralee in diesen Tagen ein Wahlkampf erfolgen, wo der Shillelagh (Weißdornstock) wie schon öfters die Sympathien und Antipathien aus- und einprügeln wird. Man hat es für notwendig befunden, die feindlichen Wahlcomite-Bierhäuser mit 500 bewaffneten Polizeimännern, 250 Mann Infanterie und einer Schwadron Husaren schon eine Woche vorher zu garnieren. „So im Ganzen", sagt ein Blatt, „gestalten

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In Mozarts Don Giovanni

(1787).

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L o n d o n , 13. Februar

The Right Hon. T. Milner Gibson

sich die Dinge in der Grafschaft Kerry recht munter (liveley)." Es platzen da vier irische Parteien aufeinander, mit etwas „ O r a n g e " durchsprenkelt. Ähnliche Aussichten werden von anderen Wahlbezirken Irlands geboten, und das sind nur Konvulsionen zum Behufe von Ersatzwahlen auf kaum einjährige Sitzpacht im Unterhause. Es läßt sich daraus schließen, was bei den späteren allgemeinen Neuwahlen zu erwarten, dort und in England. Nur die kälteren Schotten behandeln die Wahltage etwas nüchterner. [Nr. 36, 11. 2. 1865]

Die „harten B ä n k e " bleiben noch Schmerzensschrei aus der City 500 Farmer in Downing-Street. Die Malzsteuer P* L o n d o n , 13. Februar Als vor wenigen Tagen der Vordermann einer Londoner Jury sich mitten in der Schwurgerichtsverhandlung mit einer Art unterdrückten Schreies erhob und sagte: „Euer Ehren, ich erlaube mir die Bemerkung, daß un-

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sere Bänke äußerst hart sind", tröstete ihn der Richter wohlwollend mit den Worten: „Wenn die im Plane befindlichen neuen Gerichtsgebäude ausgeführt sein werden, wird auch in diesem Punkte für den Komfort der Gentlemen von der Jury gesorgt werden." Wie jene Richter, so trösten die Minster die Beschwerdeführer im Unterhause. Die Königin Victoria hat vor kurzem in einem Schreiben an die Eisenbahndirektionen die große Zahl durch Nachlässigkeit verursachten Unfälle gerügt, aber Ihrer Majestät Handelsminister erklärte dennoch jüngst einem Interpellanten, daß die Zahl der „Todesfälle" auf Eisenbahnreisen im Verhältnis zu der enormen Frequenz sich zu geringfügig herausstellen, um Besorgnis erregend zu wirken. Solche Kleinigkeiten, wie Arm- und Beinbrüche, sind freilich eben Kleinigkeiten. Tags darauf erklärte der Minister des Innern, daß noch immer (schon seit 6 Monaten!) Artillerie-Offiziere und Ingenieure die Beschaffenheit der Pulvermagazine im Lande untersuchten und daß dieselben, „wenn es ihnen beliebt" (if they liked) Vorschläge machen dürften, ähnlichen Katastrophen, wie die zu Erith gewesen, „in Z u k u n f t " vorzubeugen. Was die Verhütung von Theaterbränden angehe, so müsse solche Art von Dingen (that sort of things) dem Lord Chamberlain überlassen bleiben, „wenn es darauf einmal wieder ankäme, neue Theater zu konzessionieren, die etwa gebaut werden dürften". Mag das Morgen für sich selber sorgen. Doch den Lordkanzler (zu deutsch: Justizminister) nicht zu vergessen. Derselbe hat in bester Absicht Reformen eingeführt. Nach seinem verbesserten Bankerott-Gesetze kann ein Schuldner, wenn er nicht besonderes Unglück hat, nicht mehr durch Advokatenfinten 48 Jahre im Schuldarrest schmachten, wie jener Miller, der vor drei Jahren bei Einführung des neuen Gesetzes aus der H a f t „mit Gewalt" entlassen wurde. Er weigerte sich, frei zu werden, behauptend, er sei die 1000 Pfund nie schuldig gewesen und wolle die Sache von neuem untersucht haben. Dieser Gefallen konnte ihm nun nicht getan werden, da Gläubiger und Advokat längst im Grabe lagen usw. Jetzt kann jeder Schuldner sich „weiß waschen", wenn er sich nur als Bankerottierer erklärt; es kostet aber viel Geld. Das weise Gesetz verordnet, daß jeder Bankerottierer H a b und Gut bis auf den letzten Heller den Gläubigern zur Verfügung stellen muß; aber dennoch ist die erste Frage im ersten Verhör, die an einen so ehrlichen Schuldner gerichtet wird: Wo sind unsere Kosten und Gebühren?! Außerdem ist bemerkt, daß eine große Zahl von betrügerischen Bankerottierern durch die weiten Maschen des neuen Gesetzes schlüpfen, andererseits die Advokatenrechnun-

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gen und die der Konkursverwalter öfters das ganze O b j e k t der etwa vorhandenen Masse verschlingen. Dem hilft man ab? Gewiß, der Lordkanzler fragt ja in einem an die Öffentlichkeit gelangten Briefe bei einem „Privatmanne auf dem L a n d e " an, wie er sich aus der Klemme zu ziehen. Unter anderem heißt es dort: „Eine Reform, welche diesen Übelständen abhülfe, wäre wohl möglich; aber ich glaube, alle Advokaten würden gegen mich auftreten." Das geht freilich nicht an, da über ein Dritteil der Unterhausmitglieder Advokaten, Ex-Advokaten, Väter von Advokaten, Schwäger von Advokaten usw. sind. Es wird lange w ä h r e n , ehe die „harten Bänke" gepolstert werden. — Unsere City hat ihre besonderen Schmerzensschreie 9 . Die Ausraubungen von Juwelierläden und „diebessicheren" Geldschränken haben eine große Ausdehnung a n g e n o m m e n , ohne d a ß Spuren der Täter von der eigenen Polizei der City ausfindig gemacht würden. Da alle jene Läden und Banquier-Comtoire bei Nacht erleuchtet bleiben und den Polizei-Constablern durch kleine Ö f f n u n g e n in den geschlossenen Eisenrouleaux zu jeder Nachtzeit einen Blick in die von der Petroleumlampe Aladins beleuchteten Schätze zu gestatten, so richtet sich der Z o r n der Väter und Aldermen der City gegen ihre eigene Institution: die Polizei. Bei einem hitzigen Konklave gestand ein Alderman, d a ß das Übel tiefer läge. In der Lage als diesmal Ausgeraubter habe er sich an die Polizei gewendet, aber die erste Frage sei gewesen: Wieviel Belohnung werden Sie aussetzen? D a r o b ist einige Schadenfreude im großen Londoner Polizeiquartier; denn die City hat sich bisher gegen eine Verschmelzung ihrer eigenen Polizei mit der besser organisierten des übrigen Londons gesträubt. — D a ß nach dem oben Gesagten dem Parlamente nicht eben „stürmische Neuerungssucht" vorgeworfen werden kann, steht außer Frage. Auch die Opposition hält sich noch still, außer d a ß deren Presse in der T h r o n r e d e p a r courtoisie verschiedene g r a m m a tikalische Schnitzer entdeckt und dem Kabinett seine Schulkenntnisse vorwirft. Außerdem hat die Opposition gegen 500 Farmer zusammengebracht, in Prozession nach Downingstreet marschieren und Gladstone auf das Bureau rücken lassen: alles Gerstenbauer, welche die Malzsteuer nicht leiden k ö n n e n . F ü n f h u n d e r t Farmer, breitschulterig, schwerwankend wie O d e r b r ü c h e r und Oldenburger, in Wellingtonstiefeln die offiziellen Treppen h i n a u f s t a m p f e n d , d a ß dem Architekten des Hauses angst und bange wurde. Gladstone empfing die Stürmischen absichtlich im

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Vgl. Anm. zu Κ Posen, 23. November 1861.

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„petit salon", wurde aber so von der andringenden Masse in die Enge gedrängt, daß er nur mühsam in einer Ecke Raum zum Atmen fand, vierhundert drängten nach, die keinen Platz finden konnten. So standen sie stampfend, schnaufend, brummend, schwitzend, echte John Bulls, wie aus „Punch" geschnitten. Einzelne leitende Tories entschuldigten dies Benehmen dem gepreßten Minister gegenüber damit, „daß die Leute ja nur gewohnt wären, mit Ackerknechten zu parlieren". Die von dem Tory North dabei verwandte Logik ging dahin, daß das Biertrinken eine nationale Institution sei. Sei das Bier teuer, so werde weniger getrunken, also weniger Bier gebraut, also weniger Gerste gebaut, also müsse die Malzsteuer abgeschafft werden. Die Deputierten fühlten sich etwas flau, als der nach Worten ringende Minister sie nicht als die Stimme des Landes, sondern nur als „den Zweig einer Klasse" anerkennen wollte. Das war gegen die Abrede mit den Veranstaltern der weiten Reise. Außerdem ist den Tories zu verstehen gegeben, daß, wenn man sechs Millionen aus dem Einnahme-Budget streichen wolle, die Wehrkraft des Landes nicht in ihrem Effektivbestande erhalten werden könnte. So haben denn Tories wie Bentinck und andere dem Projekt nur kühl beigestanden. Weiteres ist der Parlamentsdebatte vorbehalten. Disraeli hat die Farmer in Bewegung gesetzt. Die meisten kamen aus seiner Wahlgrafschaft Buckinghamshire. Es ist eine mächtige Taktik der Opposition dabei ins Spiel gebracht, die Hälfte der Farmer Bevölkerung und die Gesamtheit der Brauknechte sind für die Sache gewonnen. Aber, ernsthaft gesprochen, es ist der Tories wohl kaum würdig, solche Massen-Demonstration in London zu arrangieren, solche Petition, die der Straßendemokratie an Ungestüm bei ihrem trotzigen Auftreten nichts nachgab; kaum würdig, die Trinklust der ohnehin schon durch und durch „bierigen" Menge mitzuengagieren, und Konservative von Rang halten die Parole „Billigeres Bier" bei der Frage wegen Aufhebung der Malzsteuer nicht für eine solche, unter der selbst ein Whigkabinett aus den Ministersitzen zu heben man der „Partei" als solcher um ihres eigenen Rufes willen wünschen könne. Die Malzsteuer beeinflußt den Preis des Bieres etwa um einen Penny für die Gallone. Da diese Quantität, namentlich wenn verfälscht, wie in den meisten Fällen, hinreicht, zwei ausgewachsene Engländer sinnlos betrunken zu machen, so ist es wohl kaum so unerträglich, daß ein Sohn Albions bei dem Konsum einer solchen Masse einen schäbigen Sechser (half penny) dem Staatswohl zukommen läßt. [Nr. 4 0 , 16. 2. 1 8 6 5 ]

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Kein langes Leben Irische Auswanderung und parlamentarischer Eifer „Sie tagen auf einem Vulkan" Die preußischen Fortschrittler petty-fogging P* London, 18. Februar Wie wenig dringlich das Publikum und die Presse zur Zeit die Mühwaltung des Parlaments betrachtet, ergibt sich aus den bereits jetzt begonnenen Besprechungen über das „Wann" seines Ablebens. Der „Globe" hat die meiste Hoffnung auf eine lange Session und will „aus seinen Quellen" wissen, daß noch die Herbstsonne über den Deckenfenstern der Beratungshallen aufgehen und die Gesetzgeber noch beisammenfinden dürfte. Aber der „Globe" steht bei seinen Kollegen sehr in Mißkredit, was Quellen anbelangt. Kein politisches Blatt übertrifft ihn im Talent, andere zu plündern. Er druckt mit einer Energie nach, welche dem ökonomischen Triebe seiner Unternehmer vieldeutige Ehre macht. Die Times deutet an, daß die Pause zwischen dem Heumachen und der Korn-Ernte bereits von dem Kabinett als die Todesstunde des Unterhauses erlesen wäre. Die Tory-Blätter erklären ehrlich, nichts von alledem zu wissen, geben aber ihren Freunden folgenden Rat: „Seid fertig und bereit, selbst wenn die Auflösungs-Proklamation schon morgen

erfolgen sollte." Wel-

che Dinge dem leichtgläubigen Zeitungsleser oft aufgeschwatzt werden, davon wieder einmal ein Beispiel. Mit dem Vollgefühl britischen Selbstlobes schreibt der „Daily Telegraph" heute ganz ernsthaft: „Mit solchem System der Repräsentation, als das unsere, wie mangelhaft dasselbe auch in mancher Beziehung, haben wir wenigstens die Gewißheit, daß jedes Thema, welches die Aufmerksamkeit des Publikums beschäftigt, voll und frei von unseren Gesetzgebern beraten wird." Das schreibt das Blatt, nachdem es vor wenigen Tagen geseufzt, daß fast alle „Privatbills" von Kompanien und über andere die Interessen von Stadt und Provinz berührende Fragen von dem Unterhause in Bausch und Bogen angenommen werden müssen wegen Zeitmangels, daß jede Privatbill einem Comite von vier Mitgliedern zugewiesen werde, von denen oft keines die geringste eigene Information über so viele heterogene Dinge besitze; nachdem es sich beschwert, daß die Debatten über große Fragen durch die bloße Vorlesung solcher Bills und Petitionen in beeinträchtigender Weise verkürzt würden. Am vergangenen Mittwoch kamen 235 Privatbills über Eisenbahnen, Gaskompanien, Straßenbauten usw. auf einmal, und das

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E m i g r a n t s by t h e Ship G a n g e s D e p a r t i n g for C a n a d a

schon jetzt, zur zweiten Lesung. Keine einzige Stimme fragte, diskutierte — die Comite-Gutachten wurden als selbstverständlich korrekt angenommen. O b nun, wenn diese Bills ins Praktische übersetzt sein werden, daraus die heilloseste Verwirrung und rücksichtsloseste Beeinträchtigung konkurrierender Interessen entsteht, danach fragte keiner der Gesetzgeber. Das ist volle Diskussion jedes die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigenden Themas. Mit gleicher „Gründlichkeit" wird mit den neuesten Privatbills, 595 an der Zahl, verfahren werden. Irlands Wohl und Wehe, seine Auswanderung, kam schon ein halbes Dutzend Mal zur Sprache. Der „Daily Telegraph" spendet den vertuschenden Phrasen des Ministers für Irland, Sir Robert Peel, seinen Beifall mit den „sehr würdigen" Worten: „Wir sind überzeugt, daß die vorherrschende Ansicht im Hause die ist, daß die massenhafte Auswanderung aus Irland noch nicht massenhaft genug, und daß es uns sehr willkommen wäre, wollten die irischen Antragsteller sich an die Spitze ihrer Landsleute stellen und sämtlich nach Amerika wandern." Das ist liberale, „volksfreundliche"

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Politik! — Zwei Tage später mußte der Sprecher des Unterhauses bei Beginn der Sitzung lange seinen Sitz leerstehen lassen, weil das Haus aus Mangel an Members of Parliament nicht stimmfähig war. Aus der Vollzahl von 563 fanden sich endlich mit Hülfe der in Cafes, Clubs, Theater entsendeten Whippers-in (Eintreiber) mit Mühe und Not 4 0 zusammen, aber als der Irländer Scully die alte Beschwerde über die Verpflichtung irischer Katholiken, zum Unterhalt anglikanischer Geistlichen Steuern zahlen müssen, wieder einmal anregte, liefen die 40 Gesetzgeber bis auf 7 oder 8 davon. Diese „Nagelprobe" des Parlaments galt aber doch für genügend, noch eine Stunde lang über Erleichterungen in dem System des Grund- und Bodenkredits zu diskutieren. Am besten kommen die Spekulanten fort, welche einer vom Parlament genehmigten Privatbill für ihre Zwecke und Profite bedürfen. Z w a r kostet solch ein Dokument alles in allem 1000 Pfund Sterling, aber es verlohnt sich der kleinen Auslage, denn nur sehr selten mäkelt das „Plenum" an dem, was die Vier von Komiteen, seien es nun Advokaten oder Fuchsjäger, EisenbahnDirektoren oder Ale-Brauer, für gut und rätlich darüber beschlossen haben. — Beide Häuser des Parlaments befinden sich übrigens in physischer Gefahr. Sie stehen tatsächlich über einem Vulkan 1 0 , d. h. über zwanzig mächtigen Dampfkesseln, welche zur Bereitung des Komforts beider Häuser tätig sind, als Luftheizung, Ventilation usw. Wie die „SundayT i m e s " bemerkt, arbeiten diese unter dem Fußboden der Säle befindlichen Dampfmaschinen häufig mit höchster Spannkraft, seien aber seit 10 bis 12 Jahren nicht revidiert worden. „Das wird einmal eine Explosion geben", setzt das Blatt hinzu, „welche den alten Pulververschwörer Guy Fawkes im Grabe aufwecken müßte." — Ein von dem Lieutenant Colonel Jervais ausgearbeiteter Plan zur Verteidigung Kanadas gegen einen etwaigen feindlichen Einfall ist durch den Kriegsminister dem Parlamente vorgelegt worden. Ein Gerücht, und zwar ein in der Presse wiederholtes, will wissen, daß im Frühjahr ein Geschwader von 22 mit 3 7 0 0 Mann bedienten Kanonenbooten von Portsmouth nach den großen kanadischen Seen expediert werden solle, um dort auf den Grenzgewässern Station zu nehmen. — Als mutmaßlichen Nachfolger des eben verstorbenen Kardinals Wiseman wird Dr. Manning bezeichnet, ein Geistlicher, der vor einer Reihe von Jahren von der anglikanischen zur römischkatholischen Kirche übergetreten. Während in Nekrologen Wisemans

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Vgl. A n m . zu Κ L o n d o n , 2 4 . J u n i 1861.

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diesem das Lob erteilt wurde, „er sei mehr Engländer als Römer gewesen", wird von derselben Feder Manning das entgegengesetzte Kompliment gemacht. Und in der Tat hat letzterer bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten eine Philippika gegen die Kirche, der er selbst früher angehörte, gehalten, die nicht geringe Aufregung in London hervorgerufen, namentlich zu einer Zeit, wo die Unruhen von Belfast noch frisch im Gedächtnis waren. — Bei Besprechung der preußischen Kammerdebatten macht ein Tory-Blatt, der „Standard", ihren Fortschrittlern das nicht beneidenswerte Kompliment, sie verhielten sich der Regierung gegenüber „petty-fogging", das heißt wörtlich „kleinen Qualm machend", in freier Übertragung „spießbürgerlich". [Nr. 45, 22. 2. 1865]

Der irische Tenant-at-will p* London, im Februar Es war die Times, welche zur Zeit des dänischen Krieges in einem seltenen Momente ruhiger Sammlung der Demokratie von Kopenhagen einige derbe Lektionen gab und dabei auf die Unmöglichkeit hinwies, daß in einem Staate, wo die Demokratie an das Ruder getreten, zwei verschiedene unter derselben Regierung lebende Völker einig sein und das stärkere dem schwächeren Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte. Man braucht aber nicht bis zur reinen Demokratie hinabzusteigen; auch der noch mit konservativem Rückgrat versehene britische Parlamentarismus leistet ähnliches. Die schon erwähnte Vereinigung von Irländern, Geistlichen und Laien, unter dem Namen National-Association aufgetreten, ist der Presse ein Dorn im Auge. Sie erkennt mit unverhohlenem Ärger, wie die „Irish" sich nicht aus der „Mäßigung" herausnörgeln lassen wollen und so dem alten nationalen Vorteil hier die sonst gewohnte H a n d h a b e verweigern, die neue Association als eine „wahnsinnige Idee halbwilder Raufbolde", wie früher, über Bord zu werfen. Waren die Tories am Ruder, so warfen ihnen die Whigs die Mißregierung Irlands vor; stand es umgekehrt, so sparten die Tories dieses Kompliment nicht. Und beide begründeten ihre Vorwürfe mit denselben Argumenten, welche die National-Association von Irland unlängst in einer Adresse an die Irländer, „zu mäßig und besonnen" für hiesige Wünsche, auseinandergesetzt hat. Der Hauptschlüssel zum Elend Irlands ist die „legalisierte Unsicherheit" für den Pächter von Grund und Boden. Der Pächter weiß nie, ob

London, im Februar

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er auf seine Pacht für länger als die kürzeste Frist, einen Monat, eine Woche, einen Tag rechnen kann. Da das, was die englische Presse mit dem zweideutigen Namen „irische Agitation" belegt, dieses Mal auf soliderer Basis und mit loyaler Mäßigung sich bewegt, und jedenfalls eine Rolle im Unterhause spielen wird, so möchte es gut sein, das was die irischen Bischöfe und Laien für den Farmer begehren „Entschädigung für wertvolle Meliorationen" in das rechte Licht zu stellen. Einer der zahllosen Gerichtsfälle in Irland über dergleichen macht dies klarer, als die ausführlichste Chronik tun könnte. Vor dem Richter Howlett erschien ein Farmer und bat ihn um seinen Beistand mit folgenden Worten: „Meine Familie hat dieselbe Farm seit 120 Jahren inne. Sie baute das Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude. Die erste uns von der ,alten Lords-Familie' gewährte lease (Pachtkontrakt) lief auf 60 Jahre. Mein Großvater starb. Mein Vater trat in denselben Kontrakt und nach Ablauf desselben erhielt er eine neue lease auf 30 Jahre. Dann wurde die Lords-Familie schuldenhalber ihrer Güter verlustig. Ein Bankier aus London kaufte sie. Mein Vater und ich haben ihn nie gesehen, nur den Verwalter, einen Schotten. Der neue Gutsherr gab uns eine lease auf 5 Jahre, dann mit erhöhter Pacht auf 3 Jahre, mit wiederum erhöhter Pacht auf 1 Jahr bei dreimonatlicher Kündigung. Zuletzt bin ich Tenant-at-will geworden, wollte ich mein Hab und Gut nicht im Stich lassen. Ich mußte einen Kontrakt unterschreiben, der mir die Pacht so lange beläßt, als es dem Grundbesitzer ,beliebt'. Mein ganzes Vermögen von 900 Lstr. habe ich auf Dränierung und Verbesserungen anderer Art verwendet. Mein Vater verbesserte, gleiches tat mein Großvater; denn sie hatten lange leases. Jetzt ist dem Grundbesitzer ein hoher Preis für unser Grundstück von einem englischen Pächter angeboten, und in drei Tagen habe ich mit Weib und Kind zu räumen. Meine Ernte steht auf dem Felde. Ich soll keine Entschädigung erhalten für Haus und Scheuern, und von meinen auf Verbesserungen verwendeten 900 Lstr. soll ich keinen Heller erhalten. Ich bin ruiniert. Meine Pacht ist immer bezahlt. Räume ich nicht, so wird mir das Haus über dem Kopf zusammengerissen." Der Richter entgegnete: „Mein armer Mann! Alle Gerechtigkeit ist für Dich, aber das Gesetz ist gegen Dich; Du hast keinen Anspruch auf Entschädigung." Ich glaube nicht mit der Behauptung zu irren, daß in keinem Lande Europas eine solche Unbill möglich. Was die Times Dänemark vorwarf, paßt auf England. Nur in Irland besteht solche Lücke im Gesetz. Es

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Sketches f r o m Ireland: Interior o f a M u d C a b i n at Kildare

kommt vor, daß wenn ein Pächter den schleunigen Abzug verweigert, ein Tau um das Wohnhaus gelegt wird, mit vier oder sechs Pferden als Gespann davor und in wenigen Minuten ist das aus Fachwerk konstruierte Gebäude eine Ruine, sobald nur die Insassen aus der Tür geflüchtet. Gewöhnlich ist das Gebäude von dem Pächter selbst gebaut, indem der Pachtkontrakt oft nur Ackerland umfaßt, ohne dazugehörige Wohnlichkeiten usw. In den übrigen Teilen Großbritanniens hat das Gesetz längst im wesentlichsten Abhülfe geschaffen, ja den Grundbesitzer eher benachteiligt. Das Verhältnis in Irland (erst so herbe geworden seit der Entfernung der alten Familien und seitdem fast nur der Verwalter des in London, Paris oder Florenz lebenden Eigners mit den Bauern verkehrt) wird durch den bezogenen Fall jedem klar. Ist es Rassen-Vorurteil, Eifersucht oder die unüberwundene Antipathie gegen alles, was irisch oder katholisch heißt, was unserem reinen Konstitutionalismus, Liberalismus, Parlamentarismus niemals das Gewissen wachwerden ließ, — diese Frage mag hier nicht weiter erörtert werden. Die Tatsache braucht keine Kommentare. So wird es nur erklärlich, daß im vorigen Frühjahr ein gewisser Greville binnen 24 Stunden 200 Personen (Farmer und Familie — Tenants-at-will) aus ihren Wobnungen und Pachtungen treiben konnte, weil

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ihm der N a m e eines Pächters, d e m er die Urheberschaft eines erhaltenen D r o h b r i e f e s zuschrieb, nicht von ihnen genannt wurde. Es erwies sich später, d a ß der Schuldige g a r nicht aus ihrer Mitte w a r ; aber es war zu spät. Auf freiem Felde, in Erdhöhlen oder unter B ä u m e n mußten die Vertriebenen inmitten ihres H a u s g e r ä t e s übernachten, und zwei Wochen später w a r die H ä l f t e an B o r d eines A u s w a n d e r e r s c h i f f e s gegangen. Dies sind keine A u s n a h m e f ä l l e . Fast jedes J a h r ist mit denselben gezeichnet. E s erklärt dies, weshalb, wie im Parlamente oft genug erwähnt worden ist, hunderttausende von M o r g e n Ackerlandes Viehweide geworden sind oder „teuer vermieteter J a g d g r u n d " für A d v o k a t e n oder K o m mis „ a u f Ferien"; es erklärt, daß der Reisende im Süden und Westen Irlands eingefallene H ä u s e r und Hütten auf der H e i d e in M e n g e erblickt; es erklärt dies die E n t m u t i g u n g der ackerbauenden Bevölkerung, e t w a s anderes zu tun, als nur aus der H a n d in den M u n d zu arbeiten; es erklärt die A u s w a n d e r u n g (1. 800. 0 0 0 in 9 Jahren) z u m großen Teil; es erklärt, daß d a s „ a r m e I r l a n d " dennoch 14 Millionen Pfund Sterling in S p a r k a s sen liegen hat, gegen geringen Z i n s f u ß lieber deponiert, als auf Verbesserungen von Farmen verwendet. Die S u m m e ist erstaunlich; aber sie ist eben d a s E r s p a r n i s von beinahe anderthalb Millionen kleiner Leute. Dies Sparen w ä h r t nur so lange, bis der Betrag groß genug, um d a m i t a u s w a n dern zu können. Ist d a s alles nicht auch ein K o m m e n t a r zu den „agrarischen M o r d e n " in Irland, die mit der A b n a h m e der Bevölkerung a b g e n o m m e n ? — [Nr. 55, 5. 3. 1865 -

Beilage]

Alles v e r s c h w o m m e n . Wer wird Erzbischof? Vermischtes p * L o n d o n , 1. M ä r z Es rächt sich an jeder berechtigten Partei, wenn sie mit ihren prinzipiellen Gegnern tändelt. Seitdem die Tories, welche sich Konservative nennen, durch ihre Führer d e m G a r i b a l d i huldigten und d a m i t eine D e m o n stration vor den Augen E u r o p a s machten, scheint sich eine L ä h m u n g aller ihrer Glieder bemächtigt zu haben. Und die R a d i k a l e n ernten die Früchte. Wenn Tories und Whigs jetzt bei Wahlreden sich gegen d a s U r w ä h l e r t u m aussprechen, verstummen sie vor der Frage, die irgendein beliebiger ungewaschener citizen an sie richtet, „ w i e sie ihre Begünsti-

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gung fremdländischer Revolutionäre, die das suffrage universel auf ihre Fahne geschrieben, mit ihrer Opposition gegen ein solches Exempel im eigenen Lande reimen wollen?" Die konservative „Sunday-Times" sagt trostlos über die Haltlosigkeit ihrer Partei, wenn auch in schonenden Worten: „Während der geheuchelte Liberalismus der in Wirklichkeit konservativen Mitglieder des Kabinetts allen Wind aus den Segeln des konservativen Schiffes nimmt, können die Demagogen schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Ein nominell liberaler Premierminister zehrt von der konservativen Reaktion, mit der wir uns abmühen. Unsere Partei ist trotz aller Erfolge moralisch schwächer, weniger einig, weniger tatkräftig, weniger hoffnungsvoll, weniger wetteifernd, weniger bestimmt in ihrer Politik, weniger zum Angriff fähig und weniger ,imperial' in ihren Entschlüssen, als vor noch einem Jahre der Fall gewesen. Fände die Auflösung des Parlaments morgen statt, welche Formel hätte sie dann, um auf den Wahlplätzen damit aufzutreten? Wo sollen wir um Aufklärung über ihre Prinzipien suchen? Auf wen sollen wir blicken als Autorität, um über das Programm unterrichtet zu werden? Welches ist ihr ruhiges und zuversichtliches Verdikt über große Tagesfragen? Was hat sie zu sagen über Dinge, über welche die ,andere Seite' sich mit positiver Klarheit und entschieden genug ausspricht?" — Und in der Tat, alle Hebel, welche die Tories ansetzen, um die Gegner aus dem MinisterFauteuil zu heben, brechen. Wenn sie es rügen, daß Kanada zur Zeit völlig wehrlos, daß ein guter Verteidigungszustand, den herzurichten es mindestens zehn Jahre erfordere, nicht jetzt in aller Eile komplettiert werden könne, so trifft dieser Vorwurf die Sorglosigkeit ihrer eigenen Chefs, als sie am Ruder saßen, ebensowohl wie die des jetzigen Kabinetts. Hinwegärgern läßt sich kein Palmerston und auch kein Russell. — An eine beschleunigte Ernennung eines Nachfolgers des Kardinals Wiseman glaubt man hier nicht. Bezeichnete man Monsignor Manning für diese Würde, so melden doch verschiedene Blätter, wie der Verstorbene selbst Sr. Heiligkeit dem Papste drei Geistliche seiner Kirche schriftlich empfohlen, als die Geeignetsten, um aus ihnen eine solche Wahl vorzunehmen. Deren Namen sind Dr. Grant, Bischof von Southwark (SüdLondon), Dr. Clifford, Bischof von Clifton und Dr. Ullathorne, Bischof von Birmingham. — Der Kapitän eines norwegischen Schiffes, welcher eine Büste Garibaldis am Schiffsschnabel führte, sah sich dieser Tage beim Einlaufen in den west-irischen Hafen von Limerick genötigt, dieses „Symbol" schleunigst zu entfernen, aus Sorge, mit den Irländern am Ufer in bedrohlichen Konflikt zu kommen. — Von Mitgliedern der Gesell-

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schaft zur Unterstützung flüchtiger oder freigelassener Negersklaven ist der Vorschlag ergangen, durch Penny-Subskriptionen die Summe von 2 0 . 0 0 0 Pfd. Sterl. zu dem Zwecke aufzubringen, um die vielen aus den nordamerikanischen Sklavenstaaten auf nördliches Gebiet geflüchteten — und verwahrlosten — Neger zu unterstützen. In dem betreffenden Meeting statteten mehrere Geistliche einem anwesenden Amerikaner, Levi Coffin, den Dank der Versammlung ab, weil derselbe alljährlich während der letzten 33 Jahre über 100 flüchtige Sklaven heimlich in Sicherheit gebracht und versorgt habe, was ihm „drüben" den Beinamen „die unterirdische Eisenbahn" verschafft hätte. — Die Berliner Wasserleitungs-Gesellschaft hat hier ihre 12. Jahresversammlung abgehalten, wobei die Mitteilung gemacht wurde, daß seit 1860 die Dividende von 1 auf 5 pCt. gestiegen, was der vortragende Sekretär als sehr befriedigend erklärte „in Anbetracht der politischen Zustände Preußens". Was in aller Welt hat die Politik mit Waschwasser zu tun? — Viel Heiterkeit erregt in der englischen Presse eine neue „Resolution", gefaßt bei der Februarsitzung des hiesigen National-Zweigvereins, dahin lautend, daß Freiheit und Zivilisation in einem Staate nicht wohl als begründet betrachtet werden könnten, wenn man nicht die Todesstrafe abschaffen und das höchste M a ß der Gefängnishaft auf 10 Jahre festsetzen wolle. Die Herren werden wohl immer „zivilisierter" werden und schließlich anstellige Garotteurs mit Stubenarrest und Kaffee ohne Zucker davonkommen lassen. [Nr. 5 4 , 4 . 3 . 1865]

Drei „im Widerspruch mit sich selbst" Vom Hofe. Der Mogni-Fall Die Justiz in der Klemme p* London, 4. März Die gestrige Debatte führte drei Persönlichkeiten in den Vordergrund, an denen der „Widerspruch mit sich selbst" 1 1 , je nachdem es sich um Irland oder Ausland handelt, besonders deutlich sich erwies. Pope Henessey ist irischer Konservativer, und er war einer der Tätigsten, welcher

„Wir können einem Widerspruch in uns selbst nicht entgehen; wir müssen ihn abzugleichen suchen", Goethe Maximen und Reflexionen.

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den englischen Tories Beweise gegen Mr. Stansfeld (damals Mitglied der Regierung) bezüglich seiner Intimität mit Mazzini seinerzeit zutrug; dennoch war er einer, der die polnische Insurrektion auch in ihren rotesten Ausschweifungen schürte und ermutigte, soviel er vermochte. Mr. Newdegate

ist einer der Konservativen, welcher dem „neuen Italien" von

innerstem Herzen gram, der sich auf die Seite der Bourbons mit Feuer und auf die des Papstes mit offener Parteinahme gestellt, und dennoch übersteigt seine Erbitterung gegen die „Papisten" auf englischem Boden alle Grenzen der Billigkeit. Der dritte Hauptredner war gestern Mr. Whalley. Er ist Orangeman vom Scheitel bis zur Ferse, Konservativer und für eine Unterwerfung aller irischen Katholiken auf alle Bedingungen hin — so weit das Inland; aber dennoch reiste er nach Caprera und übermachte Garibaldi eine von ihm und andern „Konservativen" beschaffte Yacht als Ehrengabe. Bei der gestrigen Debatte platzten nun die „Sonderlinge" arg aufeinander. Es handelte sich um Newdegates Bill, die katholischen Klöster und Konvente einer strikten Kontrolle zu unterwerfen. Henessey verteidigte mit aller Wärme eines Irländers die Bedrohten und machte tiefen Eindruck, hätte er nur nicht am Schlüsse sich zu einer Art Verhöhnung hinreißen lassen, die wie ein unwillkürliches Zugeständnis der Argumente der Gegner sich anhörte. Es waren die Worte: „In allen Fällen, wo die Maschinerie des Gesetzes noch in Bewegung gesetzt worden, um über ein in einem Konvente begangenes Unrecht Nachforschungen anzustellen, sind die Untersuchenden noch immer ,baffled

and

b e a t e n ' " , d. h.: „sind sie hinters Licht geführt und geschlagen w o r d e n " . D a m i t gewann Newdegate nach hiesiger Anschauung einen „Advovate malgre lui" für seine Bill. Newdegate ließ sich ebenfalls zu einer Drohung hinreißen, die wenig konservativ klingt: „Wenn das Gesetz von den Mitgliedern eines Glaubens beiseite gesetzt wird, auf den die überwiegende M a j o r i t ä t unserer Landsleute ,mit Eifersucht' blickt, so wird die Masse eines Tages das Gesetz selbst in ihre Hand n e h m e n . " Diese Steigerung der Redehitze wurde durch den Orangeman Whalley nichts weniger als abgekühlt, und er rannte mit dem Irländer Scully mit solcher oratorischen Vehemenz aneinander, daß Scully plötzlich seine Rede abbrach mit den Worten: „er erbiete sich, den kleinen Zwist zwischen ihm und Mr. Whalley außerhalb des Hauses auszumachen." Das war Tusch — es klang ganz irisch, so etwas wie „abgetretene Säbel und krumme Sekundanten" oder umgekehrt. Das Haus ignorierte diese Privatangelegenheit. Wir haben auch kein Bois de Boulogne; das letzte parlamentarische Duell wurde 1825 in Kensington Gardens, einem königlichen Park in Lon-

London, 4. März

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don, zwischen einem Herzog von Bedford und Herzog von Buckingham ausgefochten, und wenn jetzt noch Duelle kontrahiert werden, so m u ß man die Seefahrt nach Dieppe oder Boulogne machen. Wie ein kühler M o n d ging Sir George Grey über dem Debattensturm auf, bei dem sich das Gros des Hauses sehr zu amüsieren schien, und erklärte die bestehenden Gesetze für ausreichend, um die Freiheit des Individuums vor Eingriffen der gerügten Art seitens der Oberen von Konventen zu schützen. Die Bill fiel durch, wie zu erwarten, und Mr. Newdegate, der als Konservativer mit Feuer gespielt, macht nun die Erfahrung, d a ß die extra-liberale Presse ihn als M o t t o benutzt. Eines dieser Blätter schließt eine Philippika bereits mit einer Art Aufruf: „Die Fortsetzung der Bewegung verbleibt nun dem Publikum, und dieses Publikum hat n u n m e h r einen solchen Druck auszuüben, d a ß weder ein Parlament noch ein Ministerium denselben ferner mißachten k ö n n t e . " — Es wird wohl nicht mit Unrecht aus dem großen E m p f a n g e des diplomatischen C o r p s in Bukkingham-Palast am 28. Februar geschlossen, daß die Königin gewillt ist, die Trauerzeit als abgeschlossen zu betrachten. Ein zweiter großer Empfang des englischen hohen Adels, der nobility, wird dem Vernehmen nach am 13. d. Mts. erfolgen. Auch hat Ihre Majestät bereits mehreren PrivatTheatervorstellungen im bijou-theätre des Palais beigewohnt. Der junge Prinz Arthur wird nach einer Fahrt durch das Mittelmeer von Kairo aus dieselbe Reisetour durch Palästina verfolgen, welche vor drei Jahren der Prinz von Wales eingeschlagen hatte. Letzterer soll sich gewillt erklärt haben, die E r ö f f n u n g der Welt-Industrie-Ausstellung zu Dublin in Person vorzunehmen. Gregorio Mogni, der sich selbst auslieferte und „geständig" der Notwehr, ist vorgestern von der Jury des „Totschlags" an H a r rington schuldig befunden. Da der Getötete nur an einer Wunde verstarb, so ist er mithin von dem einen italienischen Vetter, Mogni, „totgeschlagen" und von dem andern jüngst zum Tode verurteilten (Pelizzoni) „ermordet". Die Presse erkennt an, d a ß die englische Schwurgerichtstechnik sich in eine Sackgasse verrannt hat. Was nun mit Pelizzoni anfangen? „Technisch", sagt ein Blatt, „könnte er noch gehängt werden!!" Sir George Grey hat nun den Richter Baron Martin, der das Verfahren gegen letzteren leitete, zu sich entboten, „um zu beraten, was zu t u n " . So melden wörtlich heute die Morgenblätter. Die Mogni verurteilende Jury n a h m übrigens mildernde Umstände an, da er sich im Kampfe gegen 18 mit Knüppeln und Kupferstangen bewaffnete Engländer seines verwundeten Bruders a n g e n o m m e n , was ihn zum Gebrauche des Messers veranlaßte. (Nr. 57, 8. 3. 1865]

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1865 Was Roebuck unter Zivilisation versteht Revanche pour Waterloo Wasser und Kloaken. Allerlei Geschäfte

p* London, 13. März Als im Anfang des Winters aus Neuseeland hier Berichte über eine teilweise Unterwerfung der Aufständischen anlangten, schilderten einzelne die dabei vorgekommenen Zeremonien, unter anderem, wie die Häuptlinge einer nach dem anderen vortraten und mit tiefer Verbeugung ihre Büchsen (englischen Fabrikats) zu Füßen des britischen Generals niederlegten. „Darunter waren auch zwei Männer, welche Bibeln und Gesangbücher ablieferten, mit den Worten, da sie Missionar und Lehrer, wären dies ihre einzigen Waffen." In der Freitags-Debatte des Unterhauses erklärte jedoch Roebuck, daß unter allen wilden Tieren der wilde Mensch das schädlichste, die dortigen Kolonisten mithin völlig Recht hätten, das Land von diesen wilden Tieren zu säubern. „Zivilisation heißt ein Land in Besitz nehmen und die bisherigen Bewohner desselben vertreiben, um an deren Stelle die neuen zu setzen." Alle anderen Meinungen über diesen Gegenstand seien „Heuchelei" (sham). Roebuck hatte im voraus angekündigt, er werde die Gefühle schwer verletzen; aber, einzelne Ach! und Oh! abgerechnet, erntete er seine Cheers. Z w a r im Publikum hat die Lektüre der Rede Roebucks tiefer gewirkt; doch hat die Presse keinen Grund gefunden, die Kritik aufzunehmen. Mehr kann ein Palmerstonsches Kabinett kaum erwarten. Der Mann, welcher den Opiumkrieg als Zivilisationsmittel einführte und Gouverneure von Tasmania (Van-Diemensland) unter seinen ausdrücklichen Schutz nahm, trotzdem oder vielleicht weil sie sämtliche Tasmanier nach einer wüsten Insel transportierten wird nicht an „Mißverständnissen" Mangel haben, um den jetzigen Krieg in Neuseeland mit Sanftmut in solche Länge zu ziehen, daß nur noch eine kleine Musterkarte dieser längst zu Christen bekehrten und ausdrücklich als gleichberechtigte britische Untertanen anerkannten „wilden T i e r e " übrigbleiben dürfte. So kann Mr. Roebuck, der sich den Namen des „übellaunigsten Parlamentsmannes in Europa" erworben, * Es wurde Reisenden überlassen, es zu rügen, daß englische Soldaten und Matrosen den „wilden Kindern" die Finger abschnitten und solche als Pfeifenstopfer benutzten. Nur vier Tasmanier leben noch, darunter drei Frauen, die als zivilisiert und wohlgekleidet auf den Staatsbällen des jetzigen Gouverneurs von Tasmania präsentiert werden. Die „Illustrated London N e w s " brachten letzthin die Porträts.

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T h e Last Surviving Natives o f T a s m a n i a

noch die neue Zivilisationsmethode als erfolgreich erleben. — Wir feiern hier die Schlacht von Waterloo nicht mehr, wie bekannt. Ein liberales Blatt, welches dem Bonapartismus viel angenehme Dinge zu sagen weiß, macht dem literarischen „Retter" Julius Casars das Kompliment, daß seine „revanche pour Waterloo" darin bestanden, Waterloo vergessen zu machen. Wir werden demnächst auch ein Verbrüderungsfest haben. Die Magistrate (Stadt- und Landrichter) der Grafschaft Middlesex haben vorgeschlagen, den herannahenden fünfzigsten Jahrestag des Friedensabschlusses mit Frankreich durch öffentliche Feste zu begehen, u. a. Zweckessen, zu denen man die „ausgezeichnetsten noblemen und gentlemen" von Frankreich einladen müsse, „um mit ihnen gemeinsam die Allianz zu zementieren, welche schon so fest geworden". In Paris kauft man „öffentliche Meinung" für einen Sou im Moniteur du Soir, aber ich zweifle, ob man dasselbe in England denn doch so leicht selbst mit splendiden Banketten erzielen könnte. So lose sitzen die Wurzeln der alten

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Erinnerungen denn doch noch nicht, wenn auch erst in der letzten Woche ein alter Waterloo-Veteran in der Straße Mile-End-Road tot vom Pflaster aufgehoben wurde, indem er beim „Steinklopfen" (er war 73 Jahre) von einem Kohlenwagen überfahren wurde. — In Beantwortung einer Interpellation im Unterhause, welche gegen das Vertreiben so vieler Armen aus Stadtvierteln, die von Eisenbahnbauten demoliert würden, protestierte, verfiel ein Minister auf die außerordentliche Idee, einem Parlamentsmitgliede 100 Pfd. St. bezahlen zu wollen, das ihm mit einem Vorschlage zur Abhülfe hierbei aus der Klemme helfe. Andere Stadtsorgen sind in ganz England und Schottland jetzt die riesigen Pläne, die Kloaken der Städte für den Ackerbau nutzbar und gewinnreich zu machen. Der Hauptspekulant für London ist Lord Robert Montagu, der sich einen Alliierten in Baron Liebig gewonnen und dem Hause anzeigte, der „große Chemiker" habe sich erboten, sich über den Gegenstand vor einem englischen Parlamentscomite vernehmen zu lassen. Die Kloakenfrage ist übrigens recht eigentlich eine Lebensfrage geworden. Eine mit der Untersuchung betraute Kommission bemerkte schon 1861 in ihrem offiziellen Rapport, daß „gegen hundert Flüsse in absolut vergiftetem Zustande" sich befänden, daß anwohnende Müller ihre Wohnungen verlassen, keine Fische mehr in den Gewässern lebten und Farmer Zisternen für ihr Vieh eingerichtet, da solches beim Genüsse des Flußwassers krepierte. Bei Birmingham spazierten Vögel auf „dem, was man Wasser nennen müsse". Aus dem Wasser des Flusses Dee raffinierte der Sekretär der Kommission eine Quartflasche Paraffin-Öl und einer der Inspektoren der ehemaligen Lachsfischerei eines anderen Flusses hat das Mißgeschick durch den Augenschein demonstriert, „indem er mit weißen Pantalons ins Wasser fiel und mit indigo-blauen wieder auftauchte". Die SanitätsBehörden haben erklärt, daß wohl das schlechte Trinkwasser die Bevölkerung ins Branntweinhaus treibe; medizinische Orakel veröffentlichen lange Listen von Krankheiten „aus langsamer Vergiftung" durch Trinkwasser. Was sich übrigens die Presse von der Energie des um Abhülfe angegangenen Parlaments verspricht, beweist eine charakteristische Redensart: „Der Regierungs-Ingenieur Rawlinson meint, unsere Ströme und Flüsse können nicht gut schlimmer werden, als sie jetzt sind. Das ist ein Trost." — Der oben erwähnte Lord Montagu befindet sich beiläufig in einem Zwiste mit dem Herzog von Wellington. Als Erbe einer Lady Olivia Sparrow, die mit dem Vater des letzteren, dem „eisernen Herzoge", in Briefwechsel gestanden, fand Montagu diese Privatbriefe vor und offerierte sie dem jetzigen Herzoge zum Kauf. Als es zu keiner

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Einigung kam, bot er sie dem Museum an, welches den Ankauf ablehnte, weil die Schriftstücke ganz privater Natur seien. Montagu hat dieselben nun weiter für 80 Pfd. Sterl. angeboten und sich dem Herzoge gegenüber damit entschuldigt, er habe für sein Haus einem Agenten eine Zahlung zu machen und brauche Geld. Vorläufig hat der Herzog die weitere öffentliche Kolportierung jener Briefe seines Vaters gerichtlich verhindert. „Was immer auch der Inhalt sei", sagt ein Blatt in einer Rüge des Vorfalls, „einer Reputation zu schaden, um für eine Villa zu bezahlen, bringt die Sache auf einen Boden, wohin Ehre und feines Gefühl nicht folgen können. Erbstücke müssen mitunter verkauft werden, aber — niemand verhandelt die Locke einer Mutter für Madeira-Wein, noch das Porträt einer Gattin für ein Maskenballbillet, ebensowenig intime Privatmitteilungen eines großen gefeierten Freundes der Familie für eine Mietsquittung." Im Vergleich mit dieser Spekulation ist die enorme Dünger-Spekulation desselben ehrenwerten Lords doch die bessere, selbst der große Ausfuhrhandel mit „alten Kleidern", welchen mehrere Jahre hindurch ein Marquis nach dem damals teuer bezahlenden Kalifornien betrieb, verstieß zwar gegen die Devise „Noblesse oblige", aber kam dennoch nicht in diese miserable Kategorie. Der Marquis gewann sich sogar die Sympathien der — jüdischen Bevölkerung und ist so enorm reich geworden, daß Rothschild ihn als den einzigen „Edelmann" bezeichnete, „vor dem er den allergrößten Respekt habe". [Nr. 64, 16. 3. 1 8 6 5 ]

Der Whipper-in und die Pluralisten Ausländisches. Vermischtes p* London, 18. März Kein Beamter hat in England gegenwärtig leichteren Dienst, als Mr. Brand, der besoldete Whipper-in des Kabinetts. Ihm sind die dünnbesetzten Häuser ganz recht. Was sonst Mietskutschen und Boten in Masse leisten mußten, um die säumigen Parlamentsmänner aus der Oper, aus den Konzertsälen, aus Clubzimmern und vom heimischen Kamin zusammenzurufen, wenn im dringenden Notfalle die Firma Palmerston-Russell und die Opposition ihre Truppen bereithält, tut jetzt ein Klingelzug. Es sind immer einige da in den Speisezimmern, die schnell in den Saal stürzen können und eine Debatte totstimmen, von der sie kein Wort gehört. Wir haben jetzt Häuser von acht bis zwölf Personen gehabt im gähnend öden Räume des Unterhauses. Dann ist irgendwie etwas Irisches oder

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Indisches auf dem Tapet. Namentlich Indien wirkt wie eine Vogelscheuche. So hatte ein indischer Fürst, den die alte ostindische Kompanie übertölpelte, schon dreimal an die Gerechtigkeit des britischen Parlaments appelliert, Rechtsgelehrte und Zeugen machten die tausendmeilige Reise, aber dreimal fiel die Sache wegen nicht vorhandener Abstimmungsfähigkeit; in dieser Woche nahm er sich wiederum die Mühe und ein dutzend Gentlemen nahm sich die Mühe, einige Worte darüber zu verlieren. Dann scholl die Klingel, gegen dreißig huschten vom Dessert in die Stimm-Logen (lobbies) und in zehn Minuten war die Sache der Gerechtigkeit erledigt, das heißt: zu den Akten gelegt. Die Presse, mit Ausnahme der Times und einiger anderer Organe, die, wie man hier sich äußert, die Politik des „harten Geldes" vertreten, bedauerten diese Nonchalance aufrichtig in diesem Falle. Außerordentlich war an einem Tage dieser Woche die leibliche Gegenwart von 300. Es galt einer Eisenbahn-Bill, die man zu verwerfen hatte, weil ihr Inhalt mit den Privatinteressen einiger Eisenbahnen kollidierte. Kein Zweifel am Erfolge des Veto, denn es sind 152 Eisenbahndirektoren im Hause (womit ich die früher angegebene Zahl von 100 pflichtschuldigst verbessere). Auch über dieses Veto, das ganzen Provinzen die Kohlenzufuhr verteuert, seufzt die Presse, aber eine Zeitungsnummer lebt nur 12 Stunden. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, daß volle 100 Bankdirektoren im Unterhause „sitzen", d. h. „wenn sie da sind", wohlgemerkt. Man nennt sie vorzugsweise „Pluralisten", weil jeder vier, fünf und mehr Banken verwaltet zum Wohle der Aktionäre. Es gibt auch andere „Pluralisten", wie Mr. Edmunds, dessen Affäre jetzt unter der Diskussion eines geheimen Comites des Oberhauses ist. Wenn nun ein Beamter zusammenbricht, oder eine Bank, sowie eine Handelsgesellschaft bankerott wird, so können Sie sicher sein, daß Pluralisten an der Spitze stehen. Ein Blatt führte ein ganzes Register solcher Leute an. Ein besonderer Pluralist ist ζ. B. ein Mr. Dakin. Derselbe ist seines Zeichens ein Teehändler und hat neunzehn Ämter; er ist Alderman der City und Sheriff der City, Direktor von fünf Banken in Europa, Afrika, Ostindien und Neuseeland, Direktor von zwölf kommerziellen Gesellschaften, die sich auch über den ganzen Erdkreis verteilen. Ohne Zweifel verwaltet er die neunzehn Ämter vortrefflich, solange die Sache nicht schief geht und die Clerks in Afrika oder in der Siidsee keine Rechenfehler in den Billanzbogen machen, die ein guter Pluralist zweimal im Jahre in gutem Glauben mit seiner Direktoren-Vidi zu versehen hat, wofür ihm die dankbaren Aktionäre dann auf der Generalversammlung den Dank in üblicher Form abstatten und ihm für ein weiteres

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J a h r erlauben, 5 0 0 Pfund Gehalt zu ziehen, was mit 7, 8, 10 oder 19, wie oben, multipliziert, ein sicheres Palliativ-Schutzmittel gegen mancherlei Beschwerden des Lebens sein soll. Bei dem großen Bankbruch in Birmingham in voriger Woche sind 4 0 0 0 Depositäre beteiligt. Die Bank hatte ihre Türen noch am Freitag offen, wo gewöhnlich die meisten Einzahlungen geleistet worden, und wurde am folgenden Sonnabend nicht wieder geöffnet, wo die meisten Auszahlungen zu leisten sind. Very smart! würden die Yankees sagen. Die Passiva sind in diesem Falle eine Million Pfund Sterling. — Nach gestern aus Süd-Amerika eingelaufenen Depeschen ist wieder einmal eine Revolution in der Republik Venezuela im Gange. Ein General Falcon hält die Stadt Caracas noch für die Regierung, während die Rebellenpartei von Engländern angeführt werde, die im Besitz der Stadt Maracaibo sind und Waffen aus Frankreich bezogen haben, um gegen Falcon zu operieren. Es sind dies natürlich keine „offiziellen", sondern nur „Privatbriten", und kein Verleumder wäre kühn genug, unsere Whigs im Amte beschuldigen zu wollen, daß sie irgendwie von dem geraden Wege der „Nicht-Intervention" abgewichen seien. — Am 2. d . M . ist hier eine Konvention zwischen England und Spanien unterzeichnet worden mit Bezug auf die Meerenge von Gibraltar. Bisher war es Gebrauch, daß jedes Schiff, welches sich entweder den britischen Forts von Gibraltar oder den spanischen an der gegenüberliegenden marokkanischen Küste bis auf Schußweite nahezukommen wagte, einige Warnungen mit Stückkugeln erhielt. Auch Stürme wurden nicht als Entschuldigung akzeptiert. Die erwähnte Konvention macht von jetzt an eine großmütige Ausnahme mit englischen und spanischen Schiffen. Die übrige Menschheit jedoch hat zuzusehen, nach wie vor jene Scylla und Charybdis mit Umsicht zu passieren und kein Loch in die Felsen zu segeln. Auch in diesem Jahre wird, wie alle drei Jahre geschieht, ein großes Händel-Festival, ein mehrtägiges Jubiläum im Kristall-Palast zu Ehren unseres deutschen Tonmeisters abgehalten werden. Den Vorbereitungen nach zu schließen, werden nicht weniger als 4 0 0 0 Musiker und Sänger mitwirken, wohlgeschult auf großen Musikfesten, wo deutsche, meist kirchliche Musik, wie immer, obenan auf dem Programm gestanden. Auch im übrigen ist deutsche Musik in England Hausfreundin geworden. Bei der letzten Händelfeier fanden sich 194.000 Hörer ein. Von allen Richtungen der Windrose her werden Extrazüge veranstaltet. In diesem ungeheuren Glaspalast auf den Grenzhügeln der Grafschaften Kent und Surrey ist neuerdings eine Kuriositätensammlung von tagesgeschichtlichem Interesse ausgestellt. Die gezeigten Kostbarkeiten aus

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Gold, Silber, Elfenbein, Ebenholz, Rubinen, Smaragden, Saphiren und Topasen, Emaille und Porzellan im Werte von 300.000 Lstr. (2 Millionen Taler) gehörten einst dem Kaiser von China und sind ein Teil jener Beute, welche von den Franzosen unter Assistenz der englischen Alliierten bei der Einäscherung des Kaiserlichen Sommer-Palastes zu Peking „geraubt" wurde. Diese Sammlung von Andenken ist von Monsieur Negroni, Kapitän in der französischen Armee, wie das P r o g r a m m ihn bezeichnet, zusammengestellt. Die bescheidenere englische Q u o t e ist nicht darunter, sie prangt auf zahllosen Nippestischen im fashionablen Westend von L o n d o n . — Seit dem jüngsten Mißgeschick der Südkonföderierten-Staaten von Nord-Amerika hat deren Baumwollen-Anleihe auf hiesigem Geldmarkte einen Purzelbaum von 30 Prozent geschossen, und die Jobbers suchen sich von ihrem Schreck an den Wertpapieren der Firma Lincoln, Seward und Fessenden zu erholen. Unter anderen ihrer Mittel, deren Kurs zu beeinflussen, gehört ein von ihnen in die Blätter gepaschtes Gerücht, d a ß „deutsche Souveräne" in diesen Papieren „spekulierten" und „recht große Summen (im Vertrauen auf Lincoln) darin anlegten". Der „Star" n i m m t ganz ernsthaft diese Notiz in seinen langen Börsenbericht auf und macht friedensgesellschaftliches Kapital daraus, sagend: „Die deutschen Souveräne sind also durchaus nicht durch die vielen Prophezeiungen affiziert (!), welche von einem gewissen Teile der Presse so beständig in den Vordergrund gestellt werden." Was J o h n Bull doch nicht alles f ü r bare M ü n z e nehmen muß! |Nr. 70, 23.3. 1865]

Gutes Wetter zwischen hüben und drüben Der „Deutsche Eidgenosse" und Kinkel Neue Gaunerstückchen P* L o n d o n , 25. M ä r z Nach Telegrammen, welche von Postdampfern an der Küste Irlands abgegeben worden und so den Schiffen nach L o n d o n vorausgeeilt, ist von Washington O r d r e ergangen, sämtliche ungeheure Vorräte von Baumwollen-Ballen, welche bei der Einnahme von Savannah erbeutet wurden, ausschließlich nach England zu verschiffen. Bisher hatte die lärmende New Yorker Presse jedem anderen M a r k t e eher als dem Englands diesen Fang zugewendet sehen wollen. Aber wir haben „Wendungen". Jene Freundlichkeit des amerikanischen Handelsministers steht nicht allein;

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es wird auch drüben die angedrohte Vermehrung der maritimen Streitkräfte auf den Grenzseen gegen Kanada redressiert; alles infolge einer durch den britischen Gesandten dem Kabinette Lincolns übermachten Anzeige Lord Russells, daß das strenge Verfahren, welches kanadischerseits hinfort gegen jeden Mißbrauch des Asylrechts seitens flüchtiger Südlinger beschlossen worden, vom englischen Kabinette mit Befriedigung genehmigt wäre. Es wird hier bemerkt, daß diese Anzeige eine Art begütigender Demonstration sei, da jene Sanktion keine „bedurfte" gewesen, sondern das kanadische Selfgovernment völlig kompetent sei, ein solches Fremdengesetz aus eigener Machtvollkommenheit zu erlassen. Die Russellsche „Artigkeit" scheint aber ihre Wirkung in Washington nicht verfehlt zu haben, und die sechs Minister, welche hier in den letzten Tagen im Ober- und Unterhause, einer nach dem andern, auf das wärmste versichert, wie zwischen hier und drüben alles wieder Sonnenschein, sind jedenfalls davon auf das angenehmste überzeugt worden. Daß dennoch vorläufig 50.000 Pfund Sterling für die Anlage einiger Befestigungen in Kanada vom Parlamente hier beansprucht und bewilligt worden, beweist, daß John Bull trotz alledem an seinem Cromwellschen Sprüchworte festhält: „Halte Freundschaft mit Deinem Nachbar und Dein Pulver trocken." Diesseits ist indessen von der Entsendung von 22 Kanonenbooten nach den kanadischen Seen Abstand genommen, was die Union mit einer Aufhebung der Paß-Kontrolle an der kanadischen Grenze beantwortete. — Der „Morning Advertiser" beklagt es, daß seine Freunde, die Arbeiter, sich in einer hier abgehaltenen Versammlung gegen jede andere Wahlreform, als „die unbeschränkter Urwahlen" ausgesprochen, „womit die Einheit der Reform-Agitation gebrochen werde". „Sie könnten ja auf keine Urwahlen hoffen, ohne Barrikaden in London zu bauen, was — meint das Blatt — sie doch hübsch bleiben lassen würden." — Der Italiener Pelizzoni hat nunmehr einen „free pardon" erhalten; doch ist beschlossen, ihn nachträglich wegen Verwundung eines andern Engländers, bei Gelegenheit derselben blutigen Schlägerei am zweiten Weihnachtsfeiertage, zu belangen. Stimmen in der Presse erwarten wenig von diesem Schritte wegen des großen Mißkredits, in welchen die schwurbereiten Belastungszeugen schon einmal bei der ersten Anklage verfallen, die in eine so häßliche Verwickelung endete. Z u m „Deutschen Eidgenossen", der hier in der Trübnerschen Buchhandlung (derselben, welche nach Rußland Herzens „Kolokol" exportiert) herausgegeben wird, mit einem „Rachedolch" auf dem grünen Deckel und einer Liste

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von Zukunftsmännern, von Carl Blind a b w ä r t s * , als Mitarbeiter an der Spitze, hat auch Friedrich Hecker nunmehr seine Mitwirkung zugesagt, und zwar als Korrespondent über amerikanische Kriegsangelegenheiten. Ein hiesiges deutsches Wochenblatt will außerdem wissen, daß im nächsten Junihefte auch von Mazzini und anderen demokratischen Ausländern „Artikel" erscheinen werden. Artikel von Louis Blanc, sowie die hierher gelangten italienischen Blätter Mazzinis, wie die zu Mailand erscheinende „ U n i t a " , begrüßen den neuen „Eidgenossen, der sechsmal im Jahre fürchterlich werden will", mit jener tollgewordenen Prosa Garibaldischer Synonymen, mit denen dessen neuester auch in Londoner Blättern veröffentlichter Aufruf zur Unterstützung der polnischen Flüchtlinge, wie gewöhnlich, ausstaffiert worden. Unter den Mitarbeitern am Blindschen „Eidgenossen" wird Kinkels N a m e vermißt. Die „ D e m o k r a tie" schüttelt schon lange hier den Kopf über ihn und nennt ihn einen Aristokraten, da er mit so „milden Farben" als die des Nationalvereins sich abgebe und Vorlesungen über Literatur halte, anstatt die „Traditionen von Baden, 1 8 4 9 " auch auf englischem Boden und in der Presse oder in unästhetischen Winkelclubs der „teutschesten Teutschen" von Soho oder Whitechapel fortzupflanzen. — Über eine neue Art Bettelei beklagen sich Eingesandts in den Blättern, eine Art, die an Originalität ihresgleichen sucht. Die Beschwerdeführer, merkwürdigerweise meist Advokaten, berichten, daß fast regelmäßig an jedem Morgen, sobald sie, von ihrem Landhause kommend, auf den Londoner Bahnhöfen aussteigen, alte Frauen in sehr zerlumptem Kostüm ihnen entgegentreten und in Freudentränen ausbrechend, diesen oder jenen G r a d von Blutsverwandtschaft beanspruchen, um Geld zu erpressen. Diesem und jenem sehr sauberen und sehr ernsten Justizmanne fiel eine solche Gestalt um den Hals, mit überlauter Stimme rufend: „Mein Sohn, mein so lange verloren geglaubter Sohn, schäme Dich Deiner notleidenden alten Mutter nicht!" Im N u ist eine Massengruppe fertig. Viele der Neugierigen haben alles Ernstes öfters die Partei der „ M u t t e r " genommen, da sie aus Zeitungslektüre an gar seltsame Enthüllungen aus englischen Familienkreisen gewöhnt werden, und wie sehr auch der erstaunte „ S o h n " protestierte und oft in der Angst mit juridischer Präzision den Herren Straßenjungen seine Verwandtschaft aufzählte, unter welche die Bittstellerin nie gehört Als Mitarbeiter werden genannt: Dr. Louis Büchner, Ludwig Feuerbach, Ferdinand Freiligrath, M . Gritzner d.A., General Ernst H a u g , T h e o d o r Mögling, K. N a u w e r k , T h e o d o r Olshausen, Dr. Gustav Rasch, Emil Rittershaus, Gustav Struve, J. D. H. Temme u. a.

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hätte: es half ihm nichts. Er konnte dem Auflauf und der „Erkennungsszene" nur durch eine Spende entgehen und hatte noch „moralische Vorwürfe" der Umstehenden mit auf den Weg nach seinem Bureau zu nehmen. Das Heiterste ist, daß einige, welche die aufgedrängte Mutter einem „Gentleman der Polizei" übermachen wollten, von diesem mit jenem leisen achselzuckenden Lächeln, wie nur ein Londoner Policeman lächeln kann, die Antwort erhielten: „Ich habe Ordre, mich nie in Familienangelegenheiten zu mischen." Seit den öffentlichen Eingesandts ist diese Art der Geldspekulation in Verfall gekommen; sonst wäre es nötig, daß ein Reisender wenigstens seinen Geburtsschein in der Rocktasche zu allen Zeiten mit sich führte, um den Gefahren einer „Beschämung" als „undankbarer Sohn" vorzubeugen. [Nr. 75, 29. 3. 1865]

Die Strikes in Nord-Staffordshire Die Bedeutung des Wirtshauses Richard Cobden p* London, 3. April Der fast allgemeine Fabriken-Schluß in den wichtigsten Eisen-Distrikten im Norden Englands und im schottischen Niederland gibt Anlaß zu Illustrationen. Bekanntlich war die erste Ursache ein Strike der PuddelöfenArbeiter in Nord-Staffordshire. Infolge zuvor getroffener Übereinkunft erklärten nun die Eisenhüttenbesitzer in Süd-Staffordshire ihren Arbeitern, welche sie in Verdacht der Begünstigung der Erstgenannten durch Unterstützungen hielten, falls sie jene nicht zur Nachgiebigkeit brächten, würden alle Eisenhütten ihres eigenen Distrikts an einem bestimmten Tage geschlossen. Und so geschah es vor mehr als drei Wochen. Fabrikanten im ganzen Norden folgten dem Beispiele und 70.000 Arbeiter sind zur Stunde noch brotlos, ohne ihrerseits einen Strike gemacht zu haben. Es mag dahingestellt bleiben, wieweit ihre Versicherung ganz aufrichtig gewesen, daß sie keinen Einfluß auf die Urheber der Strikes in Nord-Staffordshire hätten; es ist auch andererseits von den Fabrikherren selbst nicht versucht, den Schritt, den sie damit getan, Peter für Kunz büßen zu machen, anders zu rechtfertigen, als aus Gründen der Notwendigkeit, um endlich den „Zwischenstechereien" der Arbeiter-Unionsgesellschaften und somit den Strikes den Garaus zu machen; nur ist es pikant zu sehen, wie ein dritter Faktor plötzlich kalt Wasser über die

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wechselseitige Erbitterung geschüttet. Dies ist ein Zirkular, das aus Belgien von dortigen Eisenfabrikanten ballenweise nach England verschifft, die belgischen Waren introduziert und zu Preisen, welche vielfach niedriger, als die einem englischen Lohnherren möglichen, sich erweisen. Auf einzelnen Meetings haben Redner auf diese „Warnung" vom Festlande mit Emphase hingewiesen. Resultat war, daß am Freitag die von den Fabriken ausgeschlossenen Arbeiter teilweise sich zur Zeichnung eines Reverses verpflichteten, sich jeder Beihülfe oder Verbindung mit den im Strike befindlichen Arbeitern in Nord-Staffordshire zu enthalten. Ist diese Zusicherung von den Fabrikherren akzeptiert, so werden die Hütten heute wieder ihre Arbeit beginnen. Die im Strike befindlichen Arbeiter bestehen jedoch noch auf ihrer Forderung des bisherigen höheren Lohnes, ungeachtet des Fallens in den Eisenpreisen. Sie erklären, bei niedrigerem Lohne nicht leben zu können. Die Unrichtigkeit dieser Behauptung erweist sich klar aus folgendem erstaunlichen Belege. Ein Puddelofen-Arbeiter in Nord-Staffordshire erhält für 110 Tage 70 Lstr. 13 Sh. 10 Pence, mithin über 12 Sh. auf den Tag (4 Tlr.), wovon er 1 Tlr. an einen Assistenten abzugeben hat. Diese Lohnquote ist das Minimum. Viele erhalten sogar das Maximum ζ. B. für 130 Tage die Summe von 218 Lstr. 18 Sh. oder nahezu 34 Sh. auf den Tag (über 11 Tlr.), wovon sie 4 Tlr. an ihre Assistenten abgeben. Diese Summen sprechen für sich selbst. „Es ist evident", sagt ein Blatt, „daß Leute, die so vortrefflich bezahlt werden, über Armut nicht klagen dürfen." Indessen muß erwähnt werden, daß der englische Arbeiter mindestens über ein Dritteil seines Lohnes ins Wirtshaus trägt, häufig mehr; daß Arbeiter in London mit 12—14 Tlrn. Lohn die Woche mit ihrer Familie ein elendes Zimmer für einen Taler wöchentliche Miete bewohnen, um desto mehr für den Branntweinwirt übrig zu haben; es geschieht vor aller Augen, daß Arbeiter, die auch nur eine oder zwei Wochen außer Arbeit sind, sich sofort ohne Scheu aufs Betteln legen, weil sie trotz der guten Löhnung nicht einige Heller, wie man hier sagt, für einen „Regentag" zurückgelegt. Die ihnen gewogenste Presse rügt dies von Zeit zu Zeit ehrlicherweise in derbsten Worten. Es ist mir zur gewissesten Überzeugung geworden, daß auch der niedere deutsche Arbeiter im allgemeinen dies vor seinem englische Kollegen voraus hat, Betteln als eine Schande zu betrachten. Das ist hier anders. Dafür Beweis jene Kohorten von Arbeitern, die, wenn auch nur für zwei Wochen durch Winterfrost in der Arbeit unterbrochen, unter „geistlichen Gesängen" Arm in Arm die Straßen durchziehen und betteln. Man lasse bei Beurteilung dieser „sozialen Frage" in England ja

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The Public-House

nicht den „Schankwirt" außer Betracht. Er macht die „wohlwollendste Arithmetik" in der Löhnungsfrage zuschanden und hat mehr Strikes hervorgerufen, als die Not, welche in Nord-Staffordshire mit anständigen Gehältern nicht den „Wolf von der Tür" halten kann. Es versteht sich von selbst, daß obiges vornehmlich auf jene Arbeiterwassen anwendbar, die nicht mit dem Namen „artisan" oder „mechanic" zu bezeichnen oder, wo nicht eine gewisse Gliederung das Spekulieren auf die bloße Macht der Kopfzahl verdrängt haben mag. Derjenige, welcher ein Leben darauf verwendet, den Arbeiterstand zur kooperierenden Selbsthülfe zu erziehen, ist nicht mehr. Richard Cobden ist tot. Er starb gestern Vormittag. Seine Einseitigkeit war seine Stärke. Seine extreme Hingabe an die Theorien der Friedensgesellschaften bezeichneten doch seine Gegner auch nur als einen Fehler des Herzens. „Er war zeitlebens ein englischer Privatmann, der seiner Nation Gutes tun wollte und getan", so schreibt heute ein Blatt, das zu seinen politischen Gegnern zählte. Ein anderer Gegner auf diesem Gebiete äußert: „Er gewann drei Vierteile seiner Feinde sich zu Freunden, indem er ihnen den Freihandel von einem Dinge des Ab-

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scheus in eine Sache der Liebe verwandelte." In einer Biographie Cobdens gesteht ein Hochtory zu: „Ich hörte die Rede Cobdens, ich war auf vielen Punkten uneins mit ihm; aber ich konnte mich nicht enthalten, mich neben ihn zu setzen und ihm beide H ä n d e zu drücken." Sein Denkmal ist in jedem Hause, es ist das „ B r o t " . Es ist wirklich allgemeine Trauer. Jedes Gespräch diesen Morgen ist nur eine Variation der Worte: „ C o b d e n ist tot!" Seine nie bezweifelte Aufrichtigkeit läßt auch seine Gegner ihm einen warmherzigen Nekrolog schreiben. Seine Loyalität bestand Proben in wilderen Tagen, wo Agitatoren, wie er, ihren Einfluß mißbrauchen konnten, wenn sie wollten. [Nr. 83, 7 . 4 . 1865]

Nichterfülltes Versprechen. Vor der Wahl Wie man Schulden los wird. Sport p * London, 10. April Was die Tories durch ihre Presse um Neujahr verhießen, nämlich eine „wohlorganisierte Organisation der O p p o s i t i o n " noch in diesem siebenten und letzten Parlamentsjahre, haben sie bisher nicht gehalten. Die Osterferien schließen die erste Hälfte dieser letzten Session ab. Die eine Tat, die Disraeli tun wollte, in der Affäre der Malzsteuer, explodierte, weil sie nicht Prinzip gegen Prinzip, sondern Geldbeutel gegen Geldbeutel in den K a m p f führte. An dieser L ä h m u n g der Partei haben die schon lange bekannten Spaltungen Schuld. Der größte und tiefste Riß geschah, als die Tories sich in Freihändler und Schutzzöllner teilten und Disraeli sich mit nur wenigen Vorbehalten unter die ersteren rangierte, während Bentinck nur die kleine Schar der letzteren weiter führt. Im übrigen hat Disraeli nur wenig von sich hören lassen. Als die Tories ein großes Bankett in Essex veranstalteten, schrieb er ab mit den Worten: „Ich habe mir vorgenommen, außerhalb des Unterhauses nur noch Reden in Buckinghamshire zu halten." Damit beschränkte er sich auf seine eigene Wahlgrafschaft und löste sich von der Disziplin der Partei. Noch mehr aber, als jene Spaltungen, vereitelt der Umstand eine geschlossene Phalanx der Opposition, daß die Unterschiede zwischen ihr und der Gegenpartei sich von Jahr zu J a h r mehr verwischt haben. Es muß einem guten, frisch von der Leber weg redenden Tory wohl schwer werden, einen whiggistischen Freund, von dem er weiß, daß er „privatim" genauso denkt wie er, öffentlich als einen äußerst gefährlichen M a n n zu bekämp-

L o n d o n , 10. April

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fen. Die beiden Parteien haben soviel politische und prinzipielle Zwischenheiraten gemacht, daß im Grunde die Opposition, außergewöhnliche Fragen ausgenommen, wo in ihr die mehr erhaltene Ritterlichkeit mitunter noch der Fanfare von Old England folgt, kaum mehr stichhaltige Gründe für ihre Gesamtexistenz aufbringt, als die, welche sie — verschweigt. „Ihr anderen da seid nun lange genug auf der grünen Wiese, lasset uns auch einmal wieder an die Reihe." Da steckt es. Wenn die Tories „wollten", sie könnten die anderen verdrängen, aber mit einer Reform, die ihnen viel kosten würde, wenn sie siegten. Wollten sie Schlag auf Schlag dem unbeschreiblichen Nepotismus in der Verwaltung, den massenhaften Sinekuren usw. den Krieg erklären, Akklamation wäre die Folge im ganzen Lande. Aber sie würden dann gerade das entfernen, was einer Partei in England die „Regierung" so reizvoll macht. Nepotismus, Sinekuren und Patronagen sind etwas besseres, als bloße Knochenbeilagen. — Die irischen Parlamentsmitglieder haben sich größtenteils schon vor den Ferien in Eile nach Irland begeben. Sie hatten in die bisherige Session sich eigentlich mit Kanada geteilt. Alle Tage Irland, alle Tage dieselben Versuche, ein Loch im Wasser zu machen. Schließlich kam ihnen die Nachricht zu, daß andere Irländer daheim sich ihre Abwesenheit zunutze machten, und schon jetzt Wahlkreis um Wahlkreis bereisen, Wahlagenten engagieren und sich selbst bei den größeren und kleineren house-holders präsentieren, deren Kinder die Backen klopfen, der Frau des Hauses einiges nützliche Wildpret für die Küche zukommen lassen, dem Hausvater in allem Recht geben, auch wohl ein Wort über Dinge einfließen lassen, die viel besser und angenehmer sich gestalten würden, kämen sie bei den Neuwahlen in das Parlament der „Sassenach". Paddy ist ungemein leichtgläubig. Hat er sich einmal für eine Tour gebucht, so läuft er mit bis ans Ende. Kein Maultier folgt stetiger einem Bündel Klee, das aus einem voranfahrenden Futterwagen herabhängt, als Paddy dem Köder der guten Zeit, die kommen soll „mit viel zu essen und zu trinken und wenig zu tun". Ohnehin ist so ein Wahljahr für ihn ein sehr leichtes. Zu keiner Zeit erhält er so leicht eine Pacht-Stundung, als in solchem Jahre; zu keiner Zeit sind die Verwalter und Stewards seines Landlords „in Neapel" oder „Baden-Baden" gemütlichere Leute als dann. Ist aber dann der „Neveu" gewählt, oder ein „Stiefcousin", frisch von der Studentenbank, so kommen die sechs üblen Jahre und Paddy wandert nach Amerika. — Die Panik, welche einige Tage lang hier wegen der „sibirischen Pest" herrschte, die „auf Eisenbahnen und Dampfschiffen ankommend" hier gleichsam jeden Tag erwartet wurde, hat sich den Journalen

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gut bezahlt gemacht. Namentlich haben sich Berliner Korrespondenten einzelner Tagesblätter das „Verdienst" erworben, einigen Millionen Lesern den Appetit verdorben zu haben. Das Bedenklichste ist, daß die übertriebene Furcht hierzulande leicht in den übertriebensten Leichtsinn umschlagen kann. Man hat außerdem in London ein gar böses Gewissen über dessen Gesundheitszustände und über das, was nicht getan und nicht vorgesorgt ist. Übrigens haben wir hier seit drei Tagen eine Julihitze, die schon in den Morgenstunden schwer erträglich ist. Noch Anfang voriger Woche war anhaltende Feuerung nötig. — Wir haben jetzt einen allgemeinen Ruf nach höherem Gehalt. Es scheint, als wenn alle Zweige der Verwaltung sich vorgenommen, die Zeitungs-Editoren anonym zu bombardieren. Wenn Gladstone diese Wünsche in Ziffern übersetzen wollte, müßte der Prospekt für das neue Finanzjahr, welchen er am 27. d.M. bei der Budgetrede entwickeln will, sich sehr verdüstern. Mehrere Chefs von Behörden sind gesonnen, das Beispiel des Generalpostmeisters nachzuahmen und ihre Beamten mit einem Schlage schuldenfrei zu machen. Der Erwähnte hat nämlich vor kurzem, als er von den wucherischen Ausbeutungen seiner Beamten hörte, denselben eröffnet, er werde beide Augen zudrücken „für dieses Mal", im Falle sie von dem Bankeruttgesetz Gebrauch und somit reinen Tisch machen wollten. Für diesmal stände deshalb keine Entlassung zu befürchten. Darob ist viel Seufzen unter den „Neunundneunzigern" mit „einem Drittel bar". Bisher war es Regel, daß ein frisch angestellter Beamter am ersten Morgen auf seinem Pulte ein zierliches Gratulationsbriefchen fand, in welchem ein sicherer Levy oder Abraham oder auch ein angelsächsischer Menschenfreund dem jungen Anfänger zu seinem Posten Glück wünschte und für die ersten Standesausgaben seine Börse zur Verfügung stellte. Die Gerichtshöfe haben jetzt ungemein viel mehr zu tun aus diesen Gründen, wie sich denken läßt. — Eine neubegründete große HotelKompanie ist auf einen originellen Einfall gekommen, die Sache auf einmal in Schwung zu bringen, und zwar dadurch, daß die reichsten der Aktionäre ihre bisherigen Privatwohnungen aufgeben und sich in dem Hotel zur Miete einlogieren. Unter anderem hat der Earl Shrewsbury sein Palais in Beigrave Square aufgegeben und wohnt für 1200 Pfund Miete in dem Hotel fortan. Er ist Präsident der Kompanie. „Sicherer" kann keine Kompanie operieren. — Mit Bewunderung zitieren die Sports-Journale die Nachricht, daß der Berliner Tattersall sich mit 80 pCt. „verprozentiert". Mehrere preußische Grundherren haben vier der besten Jockeys „fortengagiert", worüber die Sportblätter seufzen. Einer,

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London, 18. April

der berühmteste, Grimshaw, stand auch schon auf dem Sprunge, nach Preußen zu gehen, als ein Lord ihn noch zuletzt mit einem Gehalte von 1000 Lstr. dem Vaterlande sicherte. Der Londoner Tattersall hat sich neu konstituiert mit Ausschluß aller black-legs (Schwarzfüße), d. h. Leute, welche die Wettgelder nicht bezahlen oder sonst als Intriganten des „Turf" in Verruf gekommen. Den G e b r ü d e r n Tattersall wird von den neuen Kollegen ein M o n s t e r b a n k e t t gegeben, wobei die Tafel mit hundert goldenen Bechern geziert werden soll, die von „Siegern" früherer Jahre für die Gelegenheit geliehen werden. [Nr. 88, 13. 4. 1865]

Kanada und das Mutterland Die Frage der freiwilligen Annexion Fortschritt oder Beginn des Ruins? Wahlkämpfe in Rochdale ρ* London, 18. April In den vielen Lesezimmern L o n d o n s liegen jetzt mehr als sonst kanadische Zeitungen aus, und d a r u n t e r das angesehene „Quebeck-Chronicle", das nach neuesten Berichten zwei Dritteile der übrigen O r g a n e f ü r seine Verurteilung jener nonchalanten Stellung gewonnen, die das Mutterland zur großen Betrübnis der „alten Loyalen" in Kanada in der Schutz- und Befestigungsfrage eingenommen. Jenes Blatt schreibt: „Es k a n n sein, d a ß die Türangel, in welcher sich die Erhaltung der (beiden) Kanadas f ü r England dreht, nicht ganz aus der ,Laissez-faire-Indifferenz' eines Kabinetts besteht. Es gibt ja noch andere Einflüsse, welche die Z u k u n f t dieser Provinzen nicht den blinden Zufällen der Partei-Eifersüchten überlassen wollen, oder den Launen einer interessierten Clique, die da nur begehrt, die gute Kundschaft von drei oder vier Millionen Seelen f ü r ihre Fabrikate zu behalten. Kanada ist britisch in seinen Gefühlen und in seiner A b s t a m m u n g , aber denke man ja nicht, es sei mehr britisch als kanadisch. Sein Volk fühlt, und fühlt tief, d a ß es am Vorabend einer großen politischen Krisis steht, und es verlangt — ja verlangt (denn es will nicht bitten), d a ß die Anhänglichkeit, die es so gern anbietet, durch Inschutzn a h m e a n e r k a n n t werde, wenn nötig, durch die ganze M a c h t und Kraft Britanniens. M ö g e n die Autoritäten ,daheim' sofort verstehen, d a ß das, was sie verweigern, andere bereit sind, zu gewähren, daß, wenn sie unsere materiellen Interessen in einen Krieg mit unseren Gefühlen treiben,

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das Resultat nicht lange zweifelhaft sein kann." So weit die Presse. Daß Agenten der Yankees den Kanadiern überall schon auf den Zahn fühlen, ist bekannt. Dollars regnet es, wenn auch in „Papier" und Mr. Sewards Rede über den Fall Richmond beruhigt zwar England vorläufig auch wegen Kanadas, hat aber den von dem Telegraphisten vergessenen bemerkenswerten Beisatz: „solange als Kanada die Oberherrschaft der edlen Königin einer freiwilligen Annexion an uns vorzieht." — John Brights Rede gegen die Tories hat noch einen nachträglichen Kommentar in einem konservativen Blatt gefunden, welches sich nicht durch dick und dünn mit dem Toryismus identifiziert, sondern eine Richtung verfolgt, die sich in vielen Momenten mit unseren festländischen konservativen Traditionen reimen läßt. Es ist die „Sunday T i m e s " . Sie sagt: „Wenn Mr. Bright von dem Einflüsse der Penny-Presse redet, so hat er es mit einer Sache zu tun, die noch im Stadium des Experimentes sich befindet. Wir sind durchaus nicht so sicher, daß viele der Maßnahmen, welche Mr. Bright als Radikaler preist, nicht wirklich dem Ruin des Landes vorarbeiten. Eine lange Zeit ist nötig, ein kräftiges, arbeitsames und unabhängiges Land wie England zu ruinieren; und der Prozeß ist sowohl langsam, als auch subtil. Großbritannien würde nicht sofort dem Tode verfallen, wenn allgemeines Stimmrecht morgen eingeführt werden würde; es würde den Akt für Jahre, wahrscheinlich auf Jahrhunderte überleben; aber es ist nichtsdestoweniger möglich, daß die Einführung der Anfang des gewissen und vollendeten Verfalls sein würde. Selbst unser ungeheurer Glücksstand, durch Freihandel erkauft, kann seine Schattenseiten haben. Schon jetzt verführt er uns zu nationaler Selbstsucht, zu gänzlicher Enthaltung von allen ernsten internationalen Obliegenheiten, wenn nicht sogar zu den Gewohnheiten entnervender Sorglosigkeit und genußsüchtigen Dilettantenwesens. Für jetzt sind wir in ganz gutem Stande. Gesichter und Gefühle sind froh und glücklich, aber Krankheit mag dennoch an den Lungen und am Herzen zehren. Für den Moment ist der Siegesjubel unwiderstehlich, wird aber in der fernen Zukunft einmal der Geschichtschreiber an die Arbeit gehen, den Verfall und den Fall Großbritanniens zu schildern, es könnte doch sein, daß er in denselben Dingen, mit welchen Mr. Bright triumphiert, gerade die Krankheitskeime entdecken wird, den ersten Impuls zum Zusammenbruch, die anfänglichen Arbeiten auf Auflösung und Tod. — — Mögen die Vertreter der beiden Parteien, die konservative und fortschrittliche, erwägen, daß die große Frage ist, nicht was vor 30, 20 oder 10 Jahren richtig gewesen, sondern was heute richtig, weise und sicher ist." O b

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letzteren guten Rat jene Parteien erwogen, die sich am Donnerstag und Freitag in den Straßen von Rochdale weidlich durchgewalkt, mag dahingestellt bleiben. Es waren Knüppelschlachten zwischen den „Blauen" und „Roten". Wähler waren es nicht, sondern nur deren „Kneipschwänze und Randalier-Füchse", die NichtWähler. Mit blauen Bändern erschienen diejenigen, welche Mr. Brett, dem Kandidaten der Tories, langes Leben wünschten, mit roten diejenigen, welche dem als Cobdens Nachfolger aufgetretenen Mr. Potter eine Gasse hauen wollten. Die „Blauen" waren Vorstädter, die „Roten" Städter aus dem Zentrum des rußigen, rauchigen Rochdale. Die „Blauen" waren Erdarbeiter und Steinbrucharbeiter. Es scheint, daß unsere alte Mutter Erde auf alle, die mit ihr direkt in Verkehr treten, einen sehr konservativen Einfluß hat. So ist es mit dem Grundherrn und weiter hinab mit allen, die, figürlich zu reden, einen gesunden Erdgeruch mit sich durch das Leben tragen. Erdarbeiter und Steinbrucharbeiter sind fast immer auf Seiten der Tories, wenn es harte Schläge setzt, und fegen die leichtfüßigen und nervösen Arbeiter aus Spinnereien, die Grübler und Chartisten wie Spreu vor sich her. [Nr. 9 3 , 2 1 . 4 . 1 8 6 5 ]

Zehn „brennende Fragen" und John Stuart Mill Russell Vater und Sohn. Grüße von London nach Wien Grumbling but paying ρ* London, 22. April Er, welcher die Toga des Volkstribunen noch über das Alter der Weisheitszähne hinaus als Gelehrten-Schlafrock 1 2 getragen, ist aus dem Lichtschein der Studierlampe an das Tageslicht getreten, John Stuart Mill, den die Seinen den „Philosophen des Liberalismus" nennen. Der Londoner Stadtteil Westminster brauchte einen neuen Parlamentsmann, und Stuart Mill wurde bekanntlich veranlaßt, sich für den Posten zu melden. Er veröffentlichte ein Zeugnis, das er sich selber für seine Talente ausstellte in jener eigentümlich klugen Bescheidenheit, die ihren Zweck selten verfehlt, indem sie das eigene „Ich" als „kaum würdig" der hohen Ehre schildert und auf andere als viel bessere Männer weist. Auch an einer

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Vgl. A n m . zu Κ London 14. M ä r z 1866.

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J o h n Stuart Mill

Überraschung ließ er es nicht fehlen. „Bezahlt wird von mir nichts für die Wahlen!" D a m i t appellierte er an die „Tugend", er selbst ein „Unbestechlicher". Die Naivetät war eines Gelehrten würdig. Seine Freunde sammelten seit diesem Schreckschuß die nötigen Bier-Guineen. Noch mehr „Tugend" bewies er, indem er sich während der Vorrüstungen in die Ferne nach Avignon verzogen. Von dort erläßt er soeben sein Manifest in zehn Artikeln, in welchem er zu zehn „brennenden Fragen", die Prügelstrafe mit eingerechnet, seine Stellung erklärt. Nummer Eins ist aber genug zur Photographie. Stuart Mill erklärt sich für die noch gährende Reformbill von M . Baines und Mr. Locke-King, und für Wahlrechte, die noch weit über deren Forderungen hinausgehen. Jedem ausgewachsenen M a n n e und jedem weiblichen Wesen will er das politische Wahlrecht zusprechen, doch um nicht das Unterhaus seines Ideals mit Individuen aus einer Klasse zu überschwemmen, will er den Arbeitern „nur" eine „klare H ä l f t e " unter den künftigen Volksvertretern gesichert wissen. Das geht noch über Bright und sonstige Radikale, deren Presse, wie ζ. B. der „Morning Advertiser", noch kürzlich verschiedene ArbeiterMeetings tadelte, weil sie, anstatt es mit einer Übergangsreform zu halten, das zur Zeit Unmögliche „Kopfzahl-Urwahlen" verlangt und so ihren Freunden im feineren Tuch die Arbeit versauert hätten. Indessen

L o n d o n , 22. April

"Strengthening

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the Bill"

In order to increase the attraction of an approaching revival, an eminent foreign (office) performer introduces his son into the cast. — Vide Mr. Fechter's Eminent (F. O.) Performer ... Earl R 11. " M y son, Sir!" ... Viscount Amb-r-ley.

Playbills.

akzeptiert diese Presse dennoch einen solchen „ L ö w e n " wie Stuart Mill mit D a n k . Eins hat das Manifest für sich. Es redet frisch vom Magen weg, ohne jene Schlängeleien, mit welchen Ministersöhne in ihren Wahlreden hierzulande sich als Entschuldigung für den „ P a p a " präsentieren und mit Nachsätzen verwaschen, was sie in Vordersätzen in Rot aufgetragen. „Punch" bringt soeben eine Karikatur darüber, die so unbarmherzig komisch ist, daß man Russell fast bemitleidet. Er steht als Bajazzo neben einem Stuhle, auf dem sein Sohn Viscount Amberley, als Kunstreiter und spanischer Springer in Trikot und in k n a p p anliegender SchmelzJ a c k e eine herausfordernde Stellung eingenommen und mit gekreuzten Armen sein Jahrhundert in die Schranken fordert 1 3 . Er sieht sehr klein aus, noch viel kleiner als sein Vater und hat einen Wollkopf, der an

„ A r m in A r m mit dir, so f o r d r ' ich mein J a h r h u n d e r t in die S c h r a n k e n " , C a r l o s a m Schluß des 1. A k t e s in Schillers Don Carlos, Infant von Spanien.

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Alexander Dumas erinnert. Russell präsentiert ihn dem Publikum nebst einem Papierreifen, wie er in einem Circus üblich, mit der Inschrift: Reform. Ohne Zweifel wird filius familias einen doppelten Salto-Mortale hindurchschießen, wenn Stuart Mill die Reitbahn übernommen haben wird. — Der britische Gesandte bei der Pforte Sir Henry Bulwer wird in verschiedenen Blättern sehr belobt, weil er bei einem großen Bankett, das ihm zu Ehren in Alexandrien veranstaltet worden, den Ägyptern zu allen möglichen Verbesserungen gratulierte, eine englische Eisenbahn mit eingeschlossen, aber auch nicht mit einer Silbe des SuezKanals erwähnt hätte. Ein Tory-Blatt setzt hinzu: „Je mehr Frankreich seinen politischen Einfluß zugunsten dieses Kanals anwendet, desto vollständiger ist Lord Palmerston gerechtfertigt, den Sultan zu ermutigen, so lange Widerstand zu leisten, als er kann." Der „Daily Telegraph" läßt sich schreiben: „Österreich brauche zweierlei, die Komplettierung seines südöstlichen Eisenbahnnetzes, um sich von russischem Handelstriebe nicht überflügeln zu lassen, und neun Millionen bares Geld im nächsten Jahre wegen Papiergeld-Erledigungen. Dieser beiden Bedürfnisse wegen richte es seine Augen auf England." Ähnliches wird anderen Blättern aus Wien geschrieben und sie machen daraus politisches Kapital mit zarten Winken, wie sehr man an der Donau sich England verbinden könne, wolle man in der Holsteinischen Frage und im Punkte des Kieler Hafens hiesigen Ratschlägen einiges Gehör geben. Auch in der Besprechung der preußischen Marine-Vorlage macht die Presse viel Staub. Der „Telegraph" fügt sich am unumwundesten in das, was er nicht ändern kann, und gratuliert England sogar dazu, in einer preußischen Flotte eine Rivalin Rußlands dereinst erblicken zu können. Verzeihlich ist wohl das Erstaunen über den Kostenanschlag. Wie man Flotten und Häfen mit 6 Mill. Pfd. St. bauen will, ist für John Bull unbegreiflich; denn er ist an dreidoppelt so hohe Rechnungen gewöhnt und sieht alljährlich Summen sich auf bloße Reparaturen verkrümeln, die ihm die Haare zu Berge steigen machen. Der preußischen Kammer-Opposition sei bei dieser Gelegenheit ein englisches Sprüchwort empfohlen: „An Englishman grumbles but pays". (Ein Engländer raisonniert, aber er zahlt.) So raisonnieren wir alle hier über die hohen Armensteuern; aber wir zahlen doch, obwohl die Armenverwaltung eine schlechte ist. Kaum zwei Wochen vergehen, ohne daß der Coroner und seine Jury über einen aus Mangel an Pflege in Armenhäusern verstorbenen Unglücklichen zu Rate zu sitzen. Hundertfach hat die Presse dies gerügt, aber das Selfgovernment kostet nun einmal nicht nur viel Geld, sondern auch leider viele Menschenle-

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ben. Da diese Armenhäuser keine Staatsanstalten und deren Beamten sich bei den Armensteuerzahlenden einen Stein im Brett halten müssen, um bei der Neuwahl nicht durchzufallen, verwalten sie oft so, d a ß die Armensteuern des Bezirks sich nicht erhöhen, o b das nun Leben kostet oder nicht. Die Steuerzahler eines Bezirks setzten einen menschenfreundlichen Beamten ab, der an dieser Regel nicht festhielt und als Zeuge vor dem C o r o n e r nichts vertuschte. Dazu bemerkt ein konservatives Blatt: „Weise und ehrenwerte Leute widern diese Dinge an, und sie beginnen sich zu fragen, ob nicht am Ende die Übel einer Zentralisation geringer seien, als die einer Demokratie, welche eine Art Gewalt über Tod und Leben in gemeiner und unwissender Leute H ä n d e gibt." [Nr. 97, 26. 4. 1865]

Gladstones Budget entwaffnet die Opposition Die kanadische Deputation und eine Broschüre von Goldwin Smith p::' L o n d o n , 1. Mai Nie hat Palmerston etwas Weiseres begangen, als indem er sich den eingefleischten Peeliten Gladstone attachierte, dessen Glück und dessen Budgets das goldene Rückgrat des Kabinetts Palmerston-Russell bilden. Wie oft hat Palmerston in Stunden der Gewitterschwüle mit einem herzhaften Klopfen auf Gladstones platzendvollen Staatssäckel das M u r r e n der Gegner zum Schweigen gebracht. So auch jetzt wieder. Wenn nicht ein ganz ungewöhnlicher politischer Erdstoß passiert und die Regierung etwa dabei in Opposition zu der M a j o r i t ä t von Publikum und Presse tritt, so haben die Tories in dieser Saison keine Aussicht mehr, einen Angriff zu organisieren. Gladstones neuestes Budget wird nicht nur von seiner Partei, sondern von einzelnen toryistischen Blättern selbst als sein „bestes" bezeichnet. So spricht die konservative „Sunday Times": „Wir wissen, d a ß viele seiner M a ß n a h m e n als unvermeidlich auch von den Konservativen getroffen sein w ü r d e n , wenn dieselben im Amte wären; aber es bleibt nichtsdestoweniger unsere Klage über unsere Partei bestehen, w o n a c h sie niemals vollständig den Geist des Freihandels begriffen h a t . " Mit ruinierten Seidenwirkern zu Coventry, mit den verkommenen Seidenwirkern zu Spitalfields (London), welche den französisch-englischen Handelsvertrag als ihren „ M ö r d e r " anklagen; mit den erbitterten

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Papierfabrikanten, welche seit Aufhebung der Papiersteuer die ausländische Konkurrenz nicht mehr aushalten können — mit diesen einzelnen Klassen, die da leiden, könnte kein Schutzzöllner aus dem Tory-Lager allein Gladstone aus dem Stuhle verdrängen. Gladstones Budget hat die Opposition wieder entwaffnet. Sie grollte über die Einkommensteuer, obwohl deren hohe Ziffer ihrer eigenen früheren Verwaltung doch mit zuzuschreiben und Gladstone für die Kosten des Krimkrieges nicht verantwortlich war. Sie grollte jahrelang und Gladstone nimmt ihnen die Waffe und reduziert jetzt die Steuer. Sie überstimmte jüngst an einem Abende die Regierung, als diese einmal nicht auf der Hut war, und setzte seine Sentenz durch, welche die Steuerfreiheit der Versicherungsgesellschaften als wünschenswert hinstellte. Sie hoffte auf Gladstones Widerstand und somit auf einen Konflikt. Sie hoffte, indem sie ihn um eine Million verkürzte, das etwaige Plus im Budget auf Null zu reduzieren. Gladstone aber tat ihnen auch diesen Gefallen wenigstens zur Hälfte und bewies, daß alle diese Ausfälle sein Plus nicht in Gefahr bringen. Kanada bleibt der Opposition noch. Aber auch hier fehlt es an Hebeln. Palmerston zeigt noch viel mehr Courage als ζ. B. Disraeli, der sogar Worte fallen ließ, daß, wenn einmal die Kanadier durchaus sich annektieren lassen wollten, man sie gewähren lassen müsse. Daran denkt Palmerston nicht im entferntesten mit oder trotz seiner Kollegen. Und wenn sogar, dann würde das, was man hier öffentliche Meinung nennt, den goldenen Sovereign zu sehr als Sperling in der Hand betrachten und jedem Kabinett applaudieren, welches aus Sparsamkeitsrücksichten das Land mit einem Kriege wegen Kanadas verschonte. Falstaff mit seiner Theorie von der „ E h r e " 1 4 war ja doch ein „sehr guter" Mann. — Die Deputation aus Kanada, welche auf vier Augen steht, denen des Franzosen Cartier und des britischen Kanadiers Galt, wird von den Korporationen der City fetiert und versicherte zum Dessert den Gastgebern, Fischhändlern und Schneidern „daß sie jede Idee einer Annexion mit Schrekken verabscheuen". Das ist sehr löblich und dankbar nach solchen Desserts und namentlich die Versicherung war den Hörern sehr erfreulich „sogar sei Kanada bereit, sich äußerstenfalls allein zu verteidigen". Was die genannten Abgesandten mit dem Kabinett betreffs ihrer „großen Union" zustande bringen werden, ist abzuwarten. Eine andere GegenDeputation ist schon unterwegs, und zwar aus den Küstenstaaten Neu-

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In Shakespeares König Heinrich IV, 1. Teil., V, 1.

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London, 6. Mai

Braunschweig, Neu-Schottland etc. mit Vorschlägen zu einer „kleinen Union" untereinander, möge aus den Binnenländern, den beiden Kanadas, werden, was da wolle. Und diesen Moment benutzt ein Publizist, Professor Goldwin Smith, für eine Broschüre 1 5 , die recht eigentlich vor Toresschluß aus der Not „Karthagos" eine Tugend machen will. Er schlägt vor, den Verwickelungen vorzugreifen und jetzt den Kanadas die Unabhängigkeit zum Geschenk zu machen. Dies könne jetzt noch geschehen ohne den Anschein, „daß man Drohungen nachgebe, oder die, welche einen Anspruch auf unsern Schutz haben, dem raubsüchtigen Nachbar auf Gnade oder Ungnade überlasse". Der Herr Professor mit dem „Fühler" soll dies auf gewisse Winke hin publiziert haben, und seine Broschüre hat in einer Woche schon zwei Auflagen erlebt. — Heute ist Lord Palmerston von seinem Krankheits-Exil zu Broadlands, seinem Landsitz in Hampshire, wieder nach der Hauptstadt zurückgekehrt, „halb kuriert von der G i c h t " , wie das „Court-Journal" hinzusetzt. Die kanadische Deputation harrte seiner Genesung, und am Mittwoch kommt Mr. Baines „Reformbill" zur zweiten Lesung im Unterhause. Alle Whippers-in haben Nervenzucken seit dieser Ankündigung. Ihrer harrt die sauerste Arbeit. [Nr. 104, 4. 5. 1865]

Die Panzerflotte von Portsmouth bis Lissabon Nach Algier. Die Reformfrage p* London, 6. Mai Es schien jüngst bei der Lektüre deutscher Zeitungen, als könne man sich dort nicht erklären, weshalb die britische Kanalflotte zu Portsmouth unter Segel oder Dampf gegangen, als sie der Mündung des Tajo einen Besuch machte. Es muß dem Leser auch jetzt noch überlassen bleiben, ob er dieses „Weshalb" hinreichend aufgeklärt findet, wenn Nachrichten aus Lissabon die Investitur des Königs von Portugal schildern, welchem Lord Sefton, als Abgesandter der Königin Victoria, den Hosenbandorden überbrachte. Lord Sefton wurde auf dieser Reise von einem ganzen Geschwader der neuesten Panzerschiffe der englischen Marine begleitet.

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England and America, phlets, 97).

Manchester 1865 (Nineteenth Century America Pam-

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Auch der hiesigen Presse erscheint die Gelegenheit etwas außer Verhältnis zu einem so großen Aufwande von Schiffsgeleit. Praktische Köpfe erklären letzteres aus der Absicht, jene eisernen Schiffsungeheuer zum ersten Mal einer längeren Seeprobe unterwerfen zu wollen. Als Resultat wird angegeben, daß diese mitgenommenen Schiffe bei weitem „tiefer rollen", als hölzerne Schiffe, wie man sich in der Seemannssprache ausdrückt. Dieses Rollen bezeichnet ein starkes Schwanken, durch den Anprall der tiefer erreichten Wasser verursacht, und wird im allgemeinen als ein Hindernis für schnelle Bewegung betrachtet. Man erachtet diese Probe als hinreichend, um solche Schiffe als nichttauglich für „besonders schwere" Geschütze zu erklären. Einzelne der Schiffe erreichten dennoch 20 bis 22 Grade in der Stunde, der „Schwarze Prinz" sogar 28 und der „Achilles" wackelte am wenigsten. Soviel für „nautische" Leser. Für den politischen kopiere ich aus dem „Daily Telegraph" die folgenden Zeilen: „Geschwader unter unserer Flagge sind schon früher oft in den Gewässern von Lissabon gesehen worden, gewöhnlich als Hülfebringer für das brave kleine Königtum von Lusitanien, fast immer in freundlichster Absicht. Es mag wohl eine wichtigere Zukunft noch der Portugiesen warten; aber einer großen Seenation der Welt muß jener Vergangenheit allein schon ein genügendes Motiv zur Allianz sein." In ähnlichen Wendungen drücken sich andere Blätter aus; und es ist nicht so schwer, zwischen ihren Zeilen soviel herauszulesen, daß mit jener Fahrt nach dem Tajo den Vereinigten Staaten, welche jüngst in „Mißverständnisse mit dem braven kleinen Königtum von Lusitanien" geraten, ein Wink gegeben werden soll, soviel bedeutend: „Wir sind immer noch Portugals Freunde." — Bei weitem größere Aufmerksamkeit, als obiges, erregt hier die Kaiser-Reise nach Algier. Nach dem Tone zu urteilen, wie die Presse darüber schreibt und deren Pariser Korrespondenten sich äußern, scheint die Aufmerksamkeit und das Interesse, welches diesseits der Sache geschenkt wird, noch um verschiedene Grade intensiver, als das Aufsehen, welches die schreibseligen Journalisten an der Seine verbreiten. Letztere sind ganz erstaunt, daß englische Blätter besondere Spezial-Korrespondenten und Spezial-Kommissare hinter dem Kaiser hersenden, welche Stationen zu Lyon, Marseille und Algier machen. Ein Blatt, der „Telegraph", hat den „geistreichsten Zyniker" des modernsten Englands, Augustus Sala, dorthin gesandt, welcher kürzlich erst aus den Vereinigten Staaten hierher zurückgekehrt, wo er in Diensten derselben Zeitung seine Briefe, betitelt „Amerika mitten im Kriege", schrieb. Konvulsivisches Gelächter der Leser über seine politischen und unpolitischen Skiz-

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zen verhalf dem Blatte zu einer viertel Million Leser mehr die Woche. Einen gefährlicheren Berichterstatter konnte die Presse nicht unter die Franzosen und Kabylen senden, dessen unwiderstehliche Satire auch den pompösesten Cäsarenmantel im Handumdrehen zu komischem Maskentand zuschneiden könnte. — Am Dienstag, den 9. d.M., erfolgt zu Dublin die Eröffnung des Welt-Industriepalastes. Kunst (Skulptur, Malerei und Musik) soll am reichhaltigsten vertreten sein. Der Prinz von Wales ist bereits dort seit zwei Tagen und wird den Feierlichkeiten präsidieren. — Am Montage wird die am Mittwoch begonnene Debatte über die „Reformbill" des Mr. Baines fortgesponnen werden. Man spricht davon, Palmerston werde erscheinen. Bei der ersten Debatte fehlte derjenige Minister, auf dessen Sympathie mit dem Plane die Radikalen am sichersten rechneten, Milner Gibson, der Handelsminister, Manchestermann, intimer Freund John Brights. Aber obwohl ein Radikaler, ist Gibson doch ein Handelsminister, mit dem sich „handeln" läßt, und zwischen einem Reformer außer Amt und einem solchen im Amte ist auch in England ein gewaltiger Unterschied. Selbst Bernal Osborne, der witzigste Satiriker der Liberalen, war sechs Jahre absolut stumm, als er einst einen Ausläufer der offiziellen Plantage zu Downingstreet bildete. [Nr. 109, 10. 5. 1865]

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1865 Der Edmunds-Skandal

ρ* London, 17. Mai In Erwägung der Möglichkeit, daß der Edmunds-Skandal noch nicht ausgespielt und angesichts der Ungenauigkeit, mit welcher diese Affäre stückweise und in langen Pausen in die deutsche Presse gelangte, vor allem aber überzeugt, daß der „Fall" (und er ist ein „Fall" in verschiedenem Sinne) wie wenig anderes den Nepotismus bloßlegt, mag es gut sein, eine knappe klare Skizze des Ganzen zu geben. Es muß um ein Menschenalter zurückgegriffen werden. Ich gebe nur Fakta. Vor einigen dreißig Jahren war Henry Brougham Lordkanzler. Ein Freund und Insasse seines Hauses Mr. Edmunds erhielt ein Amt, welches durch Austritt eines Verwandten der Familie Brougham offen und von dem Lordkanzler neu vergeben wurde. Das Amt war mit 4 0 0 Lstr. Gehalt dotiert. Von diesen 400 Lstr. hat Edmunds dreißig Jahre lang 3 0 0 Lstr. an die „Familie" Brougham zur Tilgung ihrer Hypothekenschulden bezahlt. Diese Geschäfte gingen nur durch die Hände der Söhne des Lordkanzlers Brougham, nicht durch die des letzteren selbst. Lord Brougham hat jüngst dem Untersuchungs-Comite aus dem Oberhause versichert, während jenes Menschenalters habe er keine Silbe von jenem Arrangement gewußt, da er alle seine Vermögensangelegenheiten den Händen seiner Söhne überlassen. Diese Versicherung nahm das Comite und das Publikum mit vollem Respekt hin. „Speak, Harry, speak, oh say: it is not true!" so redete ihn die Presse mit Shakespeare an. Und er hat gesprochen. Der Schein war gegen ihn, aber er wird so hoch verehrt, daß sein Wort genügte. Niemand mäkelte daran; doch bleibt die Tatsache, daß Mr. Edmunds, da er doch mit 100 Lstr. nicht leben konnte, unter derselben Lordkanzlerschaft eine Art Entschädigung erhielt, ein Amt als Reading-Clerk des Oberhauses mit — 1000 Lstr. Gehalt. Später erhielt er noch ein drittes Amt, doch dies spielt nicht mit in der Tagesgeschichte. Mr. Edmunds hat während der dreißig Jahre seiner Anstellungen über 6 7 . 0 0 0 Lstr., also jährlich 15.000 Taler, an Gehältern bezogen. Es wurde ihm zu wohl und er „unterschliff", wie konstatiert, gegen 16.000 Lstr., welche in der Gestalt von Patentgebühren an ihn als Clerk des Patent-Office gezahlt wurden. Er „übertrug" die Beträge aus der Amtskasse auf seinen Namen in die Bücher seines Privatbankiers. Er nannte dies später nur „profitablen Ablieferungs-Aufschub", gab 7 0 0 0 Lstr. heraus und leugnete den kleinen Rest. Der Lordkanzler Westbury hatte Mitleid mit einem alten Beamten und von einer Kriminalverfolgung werde Abstand

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genommen, falls Edmunds sofort von allen Ämtern abdanke. Edmunds hielt dies für das Beste, falls ihm keine Hindernisse in den Weg gelegt würden, für das Amt im Oberhause, das er „genau" verwaltet, eine Pension „nachzusuchen". Diese Pension bezahlen die Lords, nicht die Regierung. Sie bewilligten dieselbe auf 800 Lstr. Edmunds schied aus „Gesundheitsrücksichten" aus. Der dem Hause der Lords präsidierende Lordkanzler Lord Westbury, aus dem Hause Bethell, war bei der Bewilligung gegenwärtig und legte Mr. Edmunds „keine Hindernisse in den Weg" durch wohlwollendes „Schweigen" über die peccadilloes in dem anderen Amte, welches die Lords „nicht anging". Das UntersuchungsComite sprach den Lordkanzler von jeder unbilligen Konnivenz frei, nur leise einen „Irrtum des Urteils" rügend. Es hatte für seine Untersuchung nur den engsten Kreis der Tatsachen gezogen, aber wie in konservativen Kreisen verlautet, wurde dem Comite selbst dabei schon angst und bange; denn man sah, man gerate „im Rühren hier und d a " auf ungeahnten Triebsand eines Nepotismus, der seinesgleichen weder in der älteren noch neueren Geschichte gehabt hätte. Man wollte es darum nur mit Mr. Edmunds zu tun haben und sichtete die Frage ganz aus, ob das Mitleid des Lordkanzlers mit Mr. Edmunds nicht ein qualifiziertes gewesen, sintemal er das eine Amt, auf welches Edmunds auf seinen Anrät resignierte, sofort seinem eigenen Schwiegersohne gab, und das andere Amt im Hause der Lords, auf welches Edmunds ebenfalls auf seinen Anrät unter Pensionsbedingung resignierte, sofort seinem eigenen Sohne verlieh. Mit diesen Tatsachen hatte sich das Comite formell nicht zu beschäftigen, ebensowenig wie damit, daß erwiesen, wie neue andere „liebe Verwandte aus dem Hause Bethell" von ihrem Onkel im Amte, dem Lordkanzler, mit hübschen Ämtern im Laufe weniger Jahre versehen worden. Gegen einen Nepotismus mit Diskretion und zart gehandhabt, hat niemand hierzulande etwas. Niemand verlangt, daß ein Ministersohn oder offizieller Neveu ganz unten auf der Avancementsliste verbleiben müsse, um das Zartgefühl der parlamentarischen Tugend in der Nation nicht zu verletzen. Aber Obiges kam „etwas dick". Es wurden dabei so viele ältere Beamte übergangen und diese brachten den ganzen Edmunds-Skandal mit seiner Garnitur von Patronage, Nepotismus und Pluralismus in die Presse der Tories und in die der Ö k o n o m e n des Freihandels. Darauf brach das Eis immer weiter. Es ist erwiesen, daß öfters Ämter jahrelang unbesetzt oder nur „provisorisch" besetzt gehalten wurden, bis dieser oder jener Neffe des großen Onkels seine Universitätsstudien vollendet (!), oder als Barrister die vorgeschriebenen Warte-Jahre ausgeharrt; dann kamen sie auf einmal in die für sie warmgehaltenen

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Vakanzen. Diese Arrangements, betone ich, haben sich in dem Verwaltungssystem ganz eingebürgert und sind sehr, sehr alt. Nur waren die Vorväter strenger. Um Dinge Willen, die keine dunklere Frabe trugen, mußte einst der berühmte Bacon und im vorigen Jahrhundert Lord Macclesfield den Lordkanzler-Posten niederlegen. Der einzige ganz entlaubte Baum in dieser Plantage ist Mr. Edmunds. Das Kabinett ignorierte die moralischen Engagements des Kollegen Westbury und beantragte im Oberhause bekanntlich in voriger Woche durch den Minister Earl Granville (den beiläufig bemerkt ein englisches Blatt mit der Prinzessin Murat verlobte) den Widerruf der Pensionsbewilligung. Und so geschah es. Dies die Geschichte des Edmunds-Skandals.* Es verlautet, Edmunds verlange von der Familie Brougham jene 30 χ 300 Lstr. zurück, welche er ihr gezahlt. Er beschwert sich auch — und es ist allerdings auffällig — daß man ihn nie „gehört", weder vor dem Untersuchungs-Comite, noch in voriger Woche im Hause der Lords durch einen Anwalt. O b w o h l einzelne Lords sich seiner Petition dieserhalb annahmen, wurde dieselbe abgelehnt. Man hat den Fall eingesargt, oder ist wenigstens der Meinung, dies getan zu haben. Es wiederholt sich die Behauptung, daß der Lordkanzler, ungeachtet des Losspruchs im geheimen Untersuchungs-Comite, welches, nicht rechts noch links blickend, nur dem vorgezogenen Hahnenstrich zu folgen verpflichtet wurde, seine Demission angeboten. Palmerston habe die Annahme abgelehnt. Dies ist der übliche Instanzenzug im parlamentarischen Eldorado bei delikaten „Fällen". DemissionsAngebot, ostensible Ablehnung, und bald darauf Abgang aus „unabweislichen Gesundheitsrücksichten". Vedremo. Es muß übrigens erwähnt werden, daß Mr. Edmunds während 30 Jahre niemals kontrolliert worden und daß sich herausgestellt, dergleichen sei auch niemandes „Amt" gewesen. Eine lehrreiche Dezentralisation jedenfalls. Die toryistische „Eule" schließt ihre Angriffe mit folgendem Epigramm ab: „Die Lords beschlossen: man wolle daß keiner von beiden leiden mag der Kanzler behalte die Wolle und Edmunds verbleibe der leere Sack." [Nr. 117, 20. 5. 1865] * Unter den „Freiheiten", welche Mr. Edmunds vom Lordkanzler verziehen wurden, war auch die, daß er während seiner langen Amtsperiode alle im Patent-Office erforderten Stempelmarken en gros von dem Stempel-Amt der Regierung kaufte und sie derselben Regierung immer zu den höheren Detailpreisen berechnete. Die „Differenz" wurde sein.

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L o n d o n , 2 0 . Mai

Zeitungssprache gegen Amerika Die Reste vom irischen Parlament. Vom Kap p* London, 20. Mai Die Urteile über den neuen Präsidenten in Nordamerika sind in der Presse hier zum Teil exorbitant. Wenn der „Telegraph" ζ. B. ruft: „Der Typus des Präsidenten Johnson war zuletzt in der Weltgeschichte nur durch Marat vertreten, der ,rot' sah, und wie der nach Aristokratenblute schrie, schreit Johnson nach dem Blute von — Lee", so liest sich das sehr gepfeffert, ist aber in mehr als einer Beziehung unwahr und der Schreiber kann selbst nicht daran glauben. Oder man höre den „Standard": „Gibt es noch einen Menschen in der Welt, der dem Mann der infamen Lügen, der Anklage-Fälschungen, Johnson, ein einziges ehrenhaftes Gefühl zutraut? Gibt es einen, der Johnson nur um eines Haares Breite für weniger gottlos hält, als den Mörder Wilkes Booth?" Welch ein wildes Echo solche Worte drüben in Amerika finden müssen, ist vorauszusehen. Die englische Regierung wünscht durchaus nicht Krieg mit Amerika, aber es werden auch jetzt wieder dem Lande Verlegenheiten über Verlegenheiten entstehen. — Die Depesche von den Bermudas-Inseln, wonach dort ein südstaatlicher Agent vergiftete Kleider aufgekauft habe, um in New York das gelbe Fieber zu importieren, ist, wie ich sehe, der deutschen Presse in sehr vager Form zutelegraphiert worden. Sie lautet: „In einer Untersuchungssache vor den englischen

Richtern auf Bermudas wurde der Be-

weis (evidence) geliefert, daß ein Dr. Blackburn, ten der Konföderierten ausgegeben,

der sich für einen Agen-

Kleidungsstücke der an Epidemien

Verstorbenen aufkaufte und Ordre gab, dieselben nach New York zu verschiffen, um das gelbe Fieber in jener Stadt zu verbreiten." Wie ich Ihnen schon früher mitteilte, sind die Bermudas-Inseln ein wahrer Brütherd für das gelbe Fieber. Trotz obiger Details und trotz des Umstandes, daß englische Richter die Untersuchung vorgenommen, ist man doch hier geneigt, Mißverständnisse zu vermuten. — Der in voriger Woche zu Dublin verstorbene Sir Henry Staples war das letzte überlebende Mitglied des einstigen irischen Unterhauses. Das letzte Mitglied des irisches Oberhauses, Marquis Charlemont, starb im Frühjahr vorigen Jahres. Sir H. Staples stimmte 1800 in der Minorität gegen

die parlamentarische

Union mit Großbritannien, während sein Vater sein Votum für dieselbe abgab. Auch gilt er für den Autor von einigen dreißig Pamphlets für Repeal, d. h. Widerruf der Union vor und während der O'Connellschen

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1865

Mr. Andrew Johnson, the New President of the United States

Agitation. Er w u r d e 93 J a h r e alt und erschien z u m letzten M a l e vor d e m P u b l i k u m bei Gelegenheit der E r ö f f n u n g der speziell irischen IndustrieAusstellung zu Dublin 1864, w o m a n ihn in den goldenen Stuhl des ehemaligen Sprechers des irischen H o u s e of C o m m o n s setzte. D a s einzige „relict" aus den Tagen des irischen P a r l a m e n t s ist jetzt n u r die alte H a u s h ä l t e r i n , welche die Sitzungssäle auszufegen hatte. Alles a n d e r e ist pulvis et u m b r a 1 6 g e w o r d e n . — G r o ß e Tätigkeit ist auf den L o n d o n e r Werften f ü r indische R e c h n u n g . Die parsischen Millionäre (Feueranbeter) von Kalkutta haben eine ganze Flotte von g r o ß e n D a m p f s c h l e p p schiffen bestellt, u m d a m i t die Fluß- u n d Küstenschiffahrt von Ostindien zu monopolisieren, wie sie dies bereits mit d e m Getreide-, Juwelen- u n d B a u m w o l l e n h a n d e l d o r t getan. Der am Dienstag v o m Stapel gelassene „ B o m b a y " h a t 1000 P f e r d e k r a f t . Sie gelten an Geschäftsgeriebenheit sogar der s p r ü c h w ö r t l i c h e n armenischen Pfiffigkeit als überlegen u n d haben Vermögen e r w o r b e n , vor denen selbst m a n c h e r Engländer, welcher seinen N a m e n mit fünf Nullen schreiben k a n n , vor Respekt der Atem vergeht. — Die neuesten N a c h r i c h t e n v o m Kap sind allarmierend. Nicht n u r steht ein neuer Kaffernkrieg, der zehnte oder zwanzigste, vor der Tür, sondern die B a n k e r o t t e in den Kolonien d o r t fallen dicht wie Hagel16

Aus Horaz' Carmina IV, 7, V. 16.

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London, 29. Mai

schlag. Das südöstliche Kolonieland Natal ist dem fianziellen Ruin nahegebracht infolge des immensen Fallissements einer Firma, welcher fast alle Kolonisten ihre Gelder anvertraut hatten. Der Obergerichtshof hat auf dringende Petitionen der Firma „zwei Monate Frist" gestattet, weil sonst die Handelswelt des Landes völlig ruiniert würde, ginge man mit den üblichen Wechselklagen sofort vor. In der Kolonie Port Elisabeth belaufen sich die Fallissements eines einzigen Monats auf nahezu 400.000 Pfd. Sterl. Man glaubt, daß nur ein oder zwei Handelshäuser dort die Krisis überleben werden. Die Bevölkerung des Kaplandes hat infolge Mangels an Beschäftigung und der dadurch hervorgerufenen Auswanderung nach Australien wesentlich abgenommen. Der „Suez-Kanal" würde den Todesstoß geben. [Nr. 120. 24. 5. 1865]

Zum Derby-Tag p* London, 29. Mai In seinen Reisebildern beschreibt Heinrich Heine den ersten Eindruck, den Göttingen auf ihn gemacht, als am Tore ihm zwei kleine Buben entgegenkamen, die laut vor sich her „mensa" deklinierten. 17 Zwischen heute und Ultimo hören Sie mehr Griechisch und Latein in und um London gesprochen, als „the Queen's English". Der Bäcker, der Ihnen morgens das frische Gebäck vor die Türe bringt, ruft „Brahma", der Schlächter zu Pferde, welcher bei seinen Kunden auf dem Lande sich in dieser Kavaliermanier die Ordres einholt, vermischt unwillkürlich die Worte „Audax" oder „Ariel" mit seinen Fragen. „Archimedes!" ruft ein Straßenjunge und mit „Barbarossa" fährt ihm ein anderer kleiner Streithammel in die Haare, während ein dritter mit dem großen Worte „Gladiateur" den Streit zu schlichten sucht. Damen auf der Promenade sprechen über „Chatanooga", „Zephyros" oder „Zambesi" und in der Schule „kietern" die Jungen mit Penny-Wetten für oder gegen „le Mandarin" oder „Araucaria". Der „Derby-Day" ist vor der Tür, der Ehrentag für alle, die mit dem Pferde zu tun haben. Es wimmelt von bunten, gelben und roten oder weißen Jockey-Kappen unter groß und klein, selbst auf gelehrten Schädeln. Der feinste Pariser Hut hat keine Geltung dagegen. Leute, die nie zu Pferde gesessen, schnallen sich Reitgamaschen der Re17

Heines letzter Eindruck von Göttingen, in: Reisebilder

1, Die Harzreise.

London, 29. Mai

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Spektabilität wegen an. Kutscher und Stallknechte sind nie so „purpurrot" und sehen nie so verwöhnt aus, als um diese Zeit und ist jemand um einen Liebesnamen verlegen, er wähle „Archimedes" oder „Känguruh" und sein Gefühl wird verstanden. Seit Monaten schwanken die Wetten auf diesen oder jenen „Favoriten". Gegen zwei Millionen Pfund Sterling werden Hände und Taschen wechseln. Leute, die aus Prinzip nie wetten, machen ein Prinzip aus dieser einzigen Ausnahme, dem DerbyDay. Wettet der Lord um Tausende, so macht die Köchin mit dem kleinsten „Tiger", d. h. dem noch zugeknöpften Groomzwerge des Haushalts, ihr Wettchen, „sweep stakes" geheißen, um einen Schilling oder zwei. Die ostindischen Nabobs spielen diesmal mit, Dank dem fertigen Telegraphen, und Annoncen über Annoncen von Wett-Agenten, Wett-Traumbüchern, verführerischen „Aussichten" (manche leider mit der häßlichen Devise: „des Armen Traum", auf kleiner Leute Spielwut berechnet) wechseln in den Sportzeitungen, welche „Künstler" für das Porträt des vierbeinigen Gewinnes engagiert haben. Die Pfandleiher machen „a roaring trade", d. h. „ein brüllendes Geschäft"; denn da halb London nach den Wiesen von Epsom auswandern wird, familienweise oder in ganzen Verwandtschaften, wird oft der halbe Hausrat versetzt, um einen Tag sehr „grand" zu leben. Für das Volk ist der Derby-Day der Berliner Stralauer Fischzug, tausendmal mit sich selbst multipliziert. Das Parlament wird „feiern", halbe Schulen werden „fehlen", die Comtoire werden mit halbem Stabe arbeiten müssen und die besten Rechner werden sich in der einfachsten Addition irren, bis der Telegraph den Namen des „Gewinners" bringt und Plakate alle Ecken füllen. Diesmal ist die „Spannung" ungeheuer, denn ein „Favorit" nach dem andern wurde unwohl. So ist „Herzog", wie es in dieser Sprache heißt, „gekratzt", er hat den Husten bekommen, „König" ist „gekratzt" (ausgestrichen), da er einmal gehinkt, „Barbarossa" desgleichen wegen verdächtigen Mangels an Appetit. Nun ist ein französisches Pferd Gladiateur — (Vater „Monarque", Mutter „Miss Gladiator") — erster „Favorit" wegen vielversprechenden „exzellenten Durstes", was wohl als ein gutes Vorzeichen gelten muß. Das macht die Presse melancholisch, denn auch für die Oaks-Rennen ist ein französisches Pferd „erster Favorit" und bei den letzten Rennen in Somersetshire gewann ein Franzose, desgleichen ein halbes Dutzend Mal bei vorjährigen Rennen. Die „Sunday-Times" macht die Nutzanwendung: „Das beweist eine gesunde und robuste ,Freie-Luft-Politik' auf Seiten des Kaisers." Heute erfolgen schon die Transporte der „Pferde" in Spezialzügen der Eisenbahnen, jedes als Passagier erster

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Klasse mit weichster Verpolsterung und unter Bewachung von zwei oder drei G a l o n s , welche sich bei dem „delikaten Liebling" in Nachtwachen ablösen müssen, um denselben vor den Streichen hämischer Intriganten sicherzustellen. Wieweit die Zärtlichkeit für das Pferd getrieben wird, beweist, daß jüngst zwölf Pferde-Agenten monatelang in Bewegung gesetzt wurden, um die Mutter eines „Favoriten", der sich ausgezeichnet, ausfindig zu machen. M a n fand sie als verbogenen „Sandgaul" endlich auf, in jämmerlichster Verfassung, brachte sie mit Triumph vor eine Marmorkrippe und pflegt sie, ihrem „ S o h n " zu Ehren, bis auf ihre ältesten Tage. [Nr. 126, 1. 6. 1865]

Aussicht auf Whitebait und Neuwahlen p* London, 3 0 . M a i Die Vorbereitungen zum Derby-Tag lassen ein ernsteres Interesse an der Politik nicht aufkommen. In der amerikanischen Frage blasen die Blätter kalt oder warm, je nach Eintagslaune. Ich zitierte Ihnen neulich aus dem „Telegraph" Worte, in denen Präsident J o h n s o n mit „ M a r a t " verglichen wurde, aber schon einige Tage später hatte sich derselbe Leitartikler zu so „praktischer Gemütlichkeit" abgekühlt, daß er schrieb: „Welches das Schicksal des gefangenen Jefferson Davis sein wird, kann uns im Grunde so wenig kümmern, als wenn der Kaiser von Österreich 1849 Kossuth gefangen und gehängt oder Victor Emanuel nach dem Tage von Aspromonte Garibaldis Kopf auf den Block gelegt h ä t t e . " Sehr praktische und kühle Gesinnungshöhe, und zu dieser wird von jenem Blatte eine Leserzahl herangebildet, die nach offengelegten Ausweisen nur um dreitausend weniger beträgt, als die aller übrigen Blätter Londons zusammengenommen,, mit Einschluß der auf 5 0 . 0 0 0 Abnehmer reduzierten Times. Ein Toryblatt sogar, als es von dem Entschlüsse des südstaatlichen Generals Kirby-Smith vernimmt, eine neue Armee jenseit des Mississippi zusammenziehen zu wollen, ruft aus: „Es ekelt uns an, noch von Krieg zu hören. Der Norden hat Baumwolle und T a b a k und hoffentlich bald wieder bar Geld, und das genügt." — Lord Palmerston ist diesmal von der Handgicht noch immer nicht wieder hergestellt und trägt im Parlament wie bei den Diners und Assemblees in seinem Palais „Cambridge H o u s e " einen Arm immer in der Binde. An den Fenstern der großen Speisehäuser nahe dem Parlamentsgebäude erscheinen seit einigen Tagen Karten mit dem einzigen Worte „Whitebait" (ein Fisch). Das

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London, 3. Juni

ladet zum Fischessen ein, mahnt aber auch jeden Parlamentsmann an das Ende des Parlaments. Bekanntlich schließt das Kabinett die Sorgen einer Saison alljährlich mit einem „Whitebait-Diner" zu Greenwich ab. Die Agitationen für die Neuwahlen — denn mit der jetzigen Session geht die Periode dieses Parlaments zu ende —, welche man auf Ende August vermutet, beginnen bereits. Die Orangemänner (entschiedene Gegner der katholischen Kirche) von Irland haben eine Adresse an die Universität Oxford gesandt mit dem freundlichen Ersuchen, Gladstone nicht wieder zu wählen. Von der Gegenpartei wird den Wählern von Peterborough geraten, den immer bitterbösen Orangemann Whalley nicht wieder zu wählen. Offiziöse Blätter geben ähnlichen Rat den Leuten in Devonport in bezug auf den Tory Mr. Ferrand, den rücksichtslosesten Interpellanten, der je blind eingehauen hat und der mit Tatsachen und den waghalsigsten Gerüchten spielt, wie der Jongleur mit den goldenen Bällen. Was die City von London betrifft, so sind alle Parteien in einem Wunsche einig, sie wünschen Baron Rothschilds „Abschied". Derselbe „fehle" immer, sei für die Politik „immer unwohl", komme nie zu einem öffentlichen „Meeting", und man könne sich doch nicht im Parlamente, wie an der Börse, durch einen krausköpfigen Makler vertreten lassen. Die drei deutschen Namen Angerstein, Goeschen und Schneider haben alle Aussicht auf Wiederwahl, nach dem Tone der bereits abgehaltenen Vor-Meetings zu schließen. Der Vater des erstgenannten gab gewissermaßen den ersten Anlaß zu der Institution „die Nationalgalerie" in London, indem die Regierung 1824 ihm 38 Gemälde für 60.000 Pfd. Sterl. abkaufte und mit diesen die große Galerie anlegte. — Die Katholiken Londons beabsichtigen zum Andenken an den verstorbenen Kardinal Wiseman eine Kathedrale zu bauen. Bei einem eben abgehaltenen Meeting wurden schon 15.000 Pfd. Sterl. zu diesem Zwecke gezeichnet. [Nr. 127, 2. 6. 1865]

Die Krösusse als Streitschlichter Der Mitchellfall im Parlament Ein neuer Fra Diavolo und ein wertvoller Engländer Ein Lachs in der Themse p:;' London, 3. Juni Das Publikum, namentlich das geschäfttreibende, urteilt über die neu aufgefrischte Alabama-Querele und deren Folgen viel ruhiger als die

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Presse, die nur einen Grad des Thermometers kennt, den Siedepunkt. „Bleibt Mr. Adams in London?" Dies war alle Tage die erste Frage auf der Börse. Dort herrschte die Ansicht, daß, solange Mr. Adams nicht durch eine andere Persönlichkeit auf dem nordamerikanischen Gesandtenposten in London ersetzt werde, an einen Bruch nicht zu denken sei. Vielleicht ist diese Überzeugung mehr als Instinkt. Mr. Adams gilt als Friedensstifter und hat, wie man aus früheren kritischen Lagen weiß, bittere Worte, die ihm aus Washington aufgegeben wurden, oft wenigstens in bitter-süße zu modeln gewußt — den demokratischen Hauptsätzen einen spezifisch englischen Parfüm zu geben verstanden, so daß sie John Bull erträglicher wurden. Wenn den Geschäftsleuten von New York, welche durch die „Alabama" gelitten, es weniger um das Prinzip der Entschädigung als um das harte Geld zu tun sein dürfte, so (meinen hiesige Krösusse in „Eingesandts") könne vielleicht ein Weg gefunden werden, diese Geschichte in derselben „amicablen" Weise auszugleichen, wie dies in Kanada mit der Affäre des Einfalls der Südlinger geschehen, wo schließlich die Aktionäre der geplünderten Bank von St. Albans über Nacht zu ihrem Gelde gekommen seien, ohne daß ein Staatsakt dazu nötig geworden. Dies sind Ansichten allerdings. Man hat Fonds für solche Arrangements unter der Hand. Man weiß das im Parlament wie im Publikum. Man urteilt über „Detail-Verschiebungen" im Budget nicht in so indiskreter Manier, wie deutsche Kammerdeputierte, welche unter geheimen Fonds mindestens geheime Polizei wittern. In England weiß man, daß es Dinge gibt, die auch eine Regierung am besten pseudonym erledigen läßt, und könnte die englische, wie anonyme Rater vorschlagen, das Bündel amerikanischer Forderer „teilen", so würden die Alabama-Querelen von der Tafel der Tagesgeschichte verschwinden und nur vergnügte Gesichter in diesem und jenem Handelscomtoir von New York übrig bleiben. Wie vorläufig der Wunsch der Vater des Gedankens 1 8 sein mag, kann schließlich ein auslagefähiger Vaterlandsbankier ganz in der Stille der Onkel der Eintracht werden. — Gestern verfügte (wie schon erwähnt 1 9 ) das Unterhaus die Verhaftung eines gewissen Mitchell und seine Inhaftierung im Newgate-Gefängnis. Der Sprecher hatte den Verhaftsbefehl auszufertigen. Der Genannte hatte im Interesse eines indischen Fürsten, dem er sich als Agenten angeboten, Unterschriften für

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„Thy wish was father, Harry, to that thought", Shakespeare König

IV, 2. Teil, IV, 4. 19

Der Mitchell-Fall, Nr. 130, 7. 6. 1865.

Heinrich

L o n d o n , 3. Juni

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eine Petition an das Parlament gesammelt, das heißt, aus den ihm übergebenen Fonds dieselben e r k a u f t , ein P f u n d , einen Schilling, ja einen Penny für den Kopf. Auch liegt der Verdacht vor, d a ß er verschiedene Smiths, Browns und Robinsons erfand, die aus Mangel an Existenz nicht ihren N a m e n selbst schreiben konnten. Zwei Mitschuldige wurden ebenfalls verhaftet, und zwar durch den „Sergeant-at-arms" des Unterhauses selbst, der seit einem Menschenalter keinen Arrestanten mehr besessen. Die Anklage lautet auf breach of privilege, „Verletzung der Privilegien" des Parlaments. Schließlich war die Praxis immer milder in solchen Fällen/1" — Z u den „auswärtigen M ä c h t e n " , mit denen die englische Regierung sich in außerordentlichen diplomatischen Verkehr gesetzt hat, gehört für den Augenblick — die R ä u b e r b a n d e des Signor Guardello „irgendwo in Neapel". In Besitz eines wertvollen Engländers, den er auf einer Reise, wie sie in der O p e r Fra D i a v o l o 2 0 geschildert wird, aufgefangen, gewinnt dieser Potentat der „Lage" die profitabelste Seite ab und begehrt nicht weniger als 50.000 Dukaten Lösegeld. Da nun sämtliche Blätter es melden, m u ß man es wohl glauben, d a ß die Regierung den englischen Konsuln im Neapolitanischen die Weisung hat zugehen lassen, mit dem Gentleman-Briganten der freien Wälder zu unterhandeln, „dabei aber Geld nicht im Wege stehen zu lassen", damit der Gefangene endlich erlöst werde. Bis dahin hatten diese Konsuln harte Tage; denn ihre Häuser, wie die der ohnmächtigen neapolitanischen Polizei wurden von den aufgeregten Mitgliedern der englischen Kolonie fast gestürmt. Signor Guardello hält übrigens, wie sein „Sekretär" den Konsuln mitgeteilt und ein Schreiben des Gefangenen bestätig hat, letzteren so k o m f o r tabel, als es der offene blaue italische Himmel zuläßt, w o man recht wohl auf H e i d e k r a u t ruhen und sich mit Mondschein zudecken kann. Derselbe meldet, man gestatte ihm sogar Spaziergänge o h n e Aufsicht; aber, obwohl er manche Gelegenheit zur Flucht gehabt, gedenke er doch, sein gegebenes Ehrenwort zu halten. Es liegt, dem Vernehmen nach, hier die Absicht vor, von der italienischen Regierung seinerzeit Ersatz f ü r die notgedrungene „englische Auslage" zu begehren. — In dem zwangslosen Maihefte des „Deutschen Eidgenossen" erscheinen Beiträge von Led.ru Rollin und Guiseppe Mazzini. Beider Briefe haben Carl Blind als

* An den H e r r n K o r r e s p o n d e n t e n : Wir bitten, uns N ä h e r e s ü b e r den interessanten Fall mitzuteilen. D . Red. 20 Fra Diavolo oder Das Gasthaus zu Terracina (1830), k o m i s c h e O p e r v. Daniel Francois Auber, Text v. Eugene Scribe.

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Adresse. Ersterer zitiert Machiavellis Reden über Titus Livius 2 1 , gibt Winke aus dessen Parallelen zwischen Cäsar und Brutus und schließt mit den Worten: „War je eine Frage scharf gestellt, so ist sie es jetzt; sie lautet dahin: Sklaven sein, oder Republikaner." Mazzini versichert „seinem lieben Blind": „Deutschland wird Sie früher oder später verstehen." Er läßt darin also doch eine Alternative. „Was wir zu tun haben, ist, die Teilung der Arbeit unter den Nationen einzuführen, also die Karte Europas umzubessern. ... Für Deutschland tut Eile n o t . " — Ausdauer kann man den Engländern nicht absprechen. Ungeachtet des elenden Zustandes, in welchem sich bis vor kurzem das Themsewasser befand, begründete sich doch eine Thames-Angling-Protection-Society vor mehreren Jahren. Da keine Fische mehr in dem Schwarzwasser Londons leben wollten, half die Gesellschaft der Natur nach, brütete alljährlich 4 0 . 0 0 0 Fische aus und warf sie in den Strom. Und in der Tat, schließlich half das. Auch die Fische gewöhnten sich an ihr faules Element, und seitdem durch ungeheure Kloaken-Umlagen (unberufen!) eine Säuberung des Gewässers erzielt worden, hat man sogar in voriger Woche den ersten Lachs wieder in der Themse-Mündung gefangen. Der Verwegene wurde auf dem großen Fischmarkt von Billingsgate ausgestellt und mancher dicke Alderman der City (Aldermen der City sind immer dick) stahl sich ein Stündchen von der „vermutlichen" Arbeit hinweg und machte dem Unglaublichen seine Visite. Der Fisch wanderte denn auch schließlich in den M a gen dieser Behörden. Bei London haben wir es erst zu einem kleinen Fisch gebracht. Er wurde vor vierzehn Tagen im Schlamm aufgelesen und war nur eine Kreuzung zwischen Kaulbarsch und Ikeley, von drei Zoll Länge. Indessen ist, wie uns die deshalb geschriebenen Leitartikel versichern, aller Anfang sehr schwer. [Nr. 131, 8. 6. 1865]

Seiten-Reform und Grund-Reform Disraeli für die Chambregarnisten Palmerston und John Bright Mr. Mills Kandidatur. It cannot be helped Ρ* London, 12. Juni Das letzte Votum für die Budget-Posten wird mutmaßlich heute abend im Unterhause gegeben werden, spätestens am Donnerstage. Damit ist 21

Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531).

London, 12. Juni

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die Hauptarbeit der Session vorüber; das private-business (d. h. die Privat-Bills) ist indessen noch in solchem Umfange unerledigt gelassen, daß dem neuen Parlament recht erfreuliche „Reste" hinterlassen werden dürften. Bei dem wunderschönen Wetter wird die Ernte eine frühe werden; die „erste Weizenähre" stand bereits in den Zeitungen, und je früher die Ernte, desto früher darnach die Neuwahlen. Noch hat keine Partei durch ihre Führer ein eigentliches Manifest erlassen. Disraelis war nur ein lokales, an die Wähler von Buckinghamshire gerichtet und hat nicht alle Tories auf seiner Seite. Disraeli hat sich übrigens mit einer neuen Art Reform identifiziert, „lateral reform" genannt, während die der Radikalen jetzt die „downward reform" geheißen wird. Erstere will Ausdehnung „nach den Seiten hin", letztere zielt auf die Tiefe oder auch auf die Bodenlosigkeit. Disraelis Reform k o m m t Chambregarnisten und vorzugsweise Junggesellen zugute. In den Städten haben viele Tausende von sehr ehrenwerten Leuten, die 100 bis 200 Lstr. für möblierte oder unmöblierte Zimmer und Etagen an jährlicher Miete zahlen, kein Wahlrecht, während der Barbier in der Vorstadt, der 16 Lstr. Jahresmiete für ein „Haus" bezahlt, sich dieses Genusses erfreut. Natürlich nehmen Junggesellen kein H a u s für sich allein, und so kommt es, daß man Disraelis „lateral reform" die „Junggesellen-Reform" heißt, während das gegenwärtige Wahlrecht, das „Recht der Benedicte" genannt wird. (Benedict — Spitzname für Ehemann.) Die Presse bringt bereits täglich unter besonderer Rubrik „Election Intelligence" Mitteilungen über Vor-Meetings zu den Wahlen aus allen Teilen des Landes. Während in England dahin gearbeitet wird, mit jungen Parlamentsmännern das Unterhaus zu rekrutieren, gibt Schottland den Jahren den Vorzug und Edinburg rührt sich für einen steinalten Liberalen, Mr. Laren, der bereits dreiundachtzig Jahre zählt. Die Tories sind im allgemeinen jüngeren Kräften mehr als den älteren Herren gewogen, hauptsächlich wohl, weil sie es mit einem alten Premier und einem alten foreign Secretary zu tun haben. Der „Standard" mahnte Palmerston jüngst, des alten Sir Robert Peel zu gedenken, der seinerzeit die Königin gebeten, ihn nach dem sechzigsten Jahre nicht mehr in das Kabinett zu rufen, indem über jenes Alter hinaus kein Minister mehr imstande wäre, die parlamentarische Equipage zu regieren. Kaum war dies gedruckt, so rechneten die Whigs dem Blatte vor, daß Graf Derby in diesem Falle nicht mehr wahlfähig für das Kabinett wäre, da derselbe Ende des vorigen Jahrhunderts geboren. Seitdem werfen sich die Partei-Journale nicht mehr das Alter und die Gicht ihrer Koryphäen vor. Da, wie ein Satiriker schrieb, „Palmerston auf dem Hause wie auf

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einer alten Fiedel spielt", so hofft der „Telegraph" von dem schönen Wetter, daß nur energische und fleißige Leute, aber durchweg Liberale, in das Unterhaus gewählt werden möchten, um das „Haus, das Derby baute", in Vergessenheit und in Verzeihung sinken zu lassen. Außerordentlich still verhalten sich die Radikalen. John Bright hat Mißfallen in ihrem Lager gefunden, weil er in seiner letzten Rede auf Palmerstons Ableben spekuliert habe. Der „Morning Advertiser" sogar fragte ihn, wie ihm als Quäker und Gentleman ein solcher Wunsch hätte beikommen können, und plaudert in der Hitze aus der Schule. Das Blatt erzählt uns, die Manchesterpartei hätte eine Art Pakt mit Palmerston geschlossen gehabt, als sie sich dazu verstand, das letzte Ministerium Derby stürzen zu helfen. Als dies geschehen, pflückte Palmerston nur einen aus ihrer Mitte heraus und machte ihn zum Minister, Milner Gibson, während Bright mit trockenem Munde das Nachsehen hatte. Seidem (so verrät der radikale „Morning Advertiser") habe in „Roberts Brust der giftige Groll" sich erhoben und Bright habe keine Gelegenheit vorübergehen lassen, „persönlichem Haß" gegen Palmerston Worte zu geben. Bright hätte, wie Cobden getan, auch ein Portefeuille abgelehnt, aber, da es ihm nie angeboten, hätte er die Chance der eklatanten Ablehnung verloren.^" Bright kann sich oft in seiner Erbitterung allerdings kaum mäßigen. Jüngst im Reform-Club fragte er ein aus dem Unterhause kommendes Mitglied: „War Palmerston da?" — „Nein!" — „Dann konnte nichts Schlimmes passieren." Ein anderes Mal sagte er in einer öffentlichen Rede: „Als ich jung war, zog die Jugend aus, um mit allerhand Waffen zu exerzieren. Ich aber saß ruhig daheim und rauchte die Friedenspfeife mit aller Welt. So tue ich noch heute — den ,einen' ausgenommen."** — Für die Wahl des Philosophen Stuart Mill im Distrikte Westminster wird von seinen Freunden viel Geld gesammelt, da er selbst „aus Tugend" keinen Sixpence hergeben zu wollen erklärte. Das bisherige südkonföderierte Organ in London, der „Index", nennt ihn einen „Heuchler" aus Ökonomie. „Man paradiert mit Mr. Mill als mit dem größten Denker des Zeitalters. So empfahl ein Vogelhändler einen Papagei mit den Worten: er spreche zwar nicht, aber denke desto mehr. Mr. * Wir glauben zu wissen, daß auch mit Bright Unterhandlungen stattfanden und daß er ablehnte, wie später Cobden. D. Red. ** Dieser Haß ist gewiß echt, und bei einer lauteren Natur, wie die Brights bei allem Radikalismus ist, nur zu begründet. Bright hält den alten Premier für den Verderber Englands. O b ins Kabinett berufen oder nicht — darüber ist Bright weg. D. Red.

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London, 19. Juni

Mill glaubt nicht an die Hauptlehren des Christentums und vornehmlich nicht an die künftige Strafe für Unglauben. Mr. Mill sagt, müsse er des Unglaubens wegen zur Hölle gehen, so werde er gehen. Wir zitieren damit ein Beispiel seiner Logik." Die „Sunday Times" bemerkt dazu: „Es ist eine seltsame Tatsache, daß jeder notorische Atheist von London, ob Wähler für Westminster oder nicht, ein Mitglied des Millschen Wahlcomites ist." — Die drei Eisenbahn-Unfälle der letzten Woche 2 2 haben allgemeine Erschütterung hervorgerufen. Sie ereigneten sich auf den beiden einzigen Bahnen, die als die vergleichungsweise bestverwalteten sich lange bewährt hatten. Unfertige Schienenreparatur wird als Ursache genannt; doch die übliche Unpünktlichkeit der Züge trug das Ihre dazu bei. Bei dem ersten Unfälle, wo es ohne Verlust an Leben abging, überholte ein Schnellzug den andern und ein dritter, glücklicherweise leerer Zug fuhr mitten in die Ruinen hinein. „It cannot be helped" ('s ist nicht zu ändern) ist die landläufige Antwort. Im Parlament sitzen 100 Bahndirektoren, die nie bei der Abstimmung fehlen, wenn es ihnen mit einer Bill ans Leder geht, während andere „Gewissenhafte" Maccaroni in Neapel verschlucken, oder auf den Pariser Boulevards Kaffee trinken. Über die Einwände gegen absolute Monarchie gehört der, es sei ein Übel, so viel von einem Haupte abhängen zu lassen. Vom reinen Parlamentarismus hängt hierzulande oft das Wohl und Wehe von Millionen, von einem Haupte, einer zufällig fehlenden Stimme ab. [Nr. 138, 16. 6. 1865]

Parlamentsschluß. Ein Händeschütteln mit den Farmers Mr. B. Osborne und Mr. Roebuck vor ihren Wählern Nonentity and Entity. Neun Bulldoggen und 114 Katzen p* London, 19. Juni In der ersten Woche des Juli erfolgt die Parlaments-Auflösung. So ist in Downing Street beschlossen. Da mit frühen Ferien, und noch dazu so langen, denjenigen Parlamentsmännern ein großer Gefallen geschieht, die nicht zu den allezeit Abwesenden gehören, so steht nicht zu erwarten, daß einer derselben eine Intrige anspinnen werde, um jenes Vornehmen zu vereiteln. In kleinen Artikeln mit der Überschrift: „Die Session" (wie 22

Unter „Vermischtes" in den Ausgaben 13. 6. 1865 u. Nr. 137, 15. 6. 1865.

Nr. 134,

11.6.1865,

Nr. 135,

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Eingesandts unter begünstigte Blätter verstreut) wird der ländlichen Bevölkerung der offiziöse Wink gegeben, daß sie lediglich der Regierung die Vorsorge zu danken hat, der Kollision zwischen Korndreschen und Wahlmanövern vorbeugen zu wollen. In einem dieser Artikel heißt es: „Wenn also der professionierte Politiker und sein Anhang sich in den Augen des Farmers nicht als ein Ärgernis (nuisance) markieren will, so wird er gut tun, sich rar (scarce) zu machen, bis die Arbeit mit der Sichel vorüber ist." Das ist deutlich gesprochen und hat seine Adresse an alle „unnützen Interpellanten", welche soviel Zeit in den Debatten verzetteln. Auch liegt, mit einem Schieler auf die kommenden Wahlen, solch händeschüttelnde Wärme für die „Farmers" (alles Wähler!) in jenen Artikelchen, von der angenehme Wirkungen erwartet zu werden scheinen. — Noch nachträglich opfert sich einer für Schleswig-Holstein — ein Engländer und Parlamentsmann obendrein — Bernal Osborne. Er hat seinen Wählern in Liskeard (Cornwall) geschrieben, daß ihm zu Ohren gekommen, es bilde sich eine Clique in ihrer Mitte, um ihn bei den Neuwahlen durchfallen zu lassen, weil er kein devoter Anhänger Lord Palmerstons durch dick und dünn geworden, vor allem aber, weil es sein Mißgeschick gewesen, in der Dänischen Frage die deutsche Seite verteidigt zu haben. Deshalb danke er ab. So bestraft man Wähler. Obwohl in drei Wochen das Parlament ausgelebt haben wird, ist doch in Liskeard noch eine Ersatzwahl angeordnet. Dann kommen die Neuwahlen. Zwei Wahlen in sechs Wochen sind eine harte Arbeit für einen Wahlflecken. Außerdem büßt der neue Günstling der Wähler schwer für seine Kandidatur. Er wollte sich für die Neuwahlen stellen und muß nun schon jetzt sich auf drei Wochen wählen lassen, und dann zum zweiten Male die großen Wahlkosten übernehmen. Das ist parlamentarische Strafe. Roebuck, obwohl der übellaunigste Parlamentsmann Europas, ist weniger empfindlich. Er hat soeben vor seinen Wählern in Sheffield gestanden und eine Rede gehalten, die 90 Zeilen eng gedruckt einnimmt. Davon kommen 80 Zeilen auf Zank und 10 auf die Rede. Es ging wunderlich zu, und die Beschreibung gibt ein Bild davon, wie es bei den Vormeetings für die Wahlen dort und anderswo zuzugehen pflegt. Roebuck: „Kühn, furchtlos, wahr zu sein, ist mein Geheimnis, ist meine Weise zu handeln. (No! No! — und Yes! Yes!) Ich verlange Ruhe! (Hört! Hört!) und wenn einer hier nicht Ruhe halten will, so werde ich ihn hinauswerfen lassen (Cheers. Eine Stimme: Können Sie keinen frischen Schuß vertragen? Eine andere: Er ist ja nur ein Blasebalg-Ausflicker!) Nun, dann laß ihn bersten, sage ich auch. (Großes Gelächter.) Ich sprach gegen die Permissive-

London, 19. Juni

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Bill im Hause (gegen die Schließung der Trinkhäuser zu gewissen Stunden), denn das ist keine Sache der Gesetzgebung. Der Reiche kann sich Wein auf Lager kommen lassen (Eine Stimme: ,Gebt ihm Wasser!') Ich kann kein Wasser trinken. Die Bill würde nur Prügeleien zwischen Teatotalers (totalen Teetrinkern) und Betrunkenen in jedem Dorfe gegeben haben. Hier sind viele Teatotalers. Auch gibt es Feiglinge, die im Dunkeln erdolchen (Cheers.) J a , ich wage das zu sagen. Laßt mich bei der Wahl durchfallen, aber die Bill wird nie durchgehen. (Unterbrechungen von Teatotalers.) Da sind viele Störenfriede! (Zu einem:) Wollen Sie wohl stille sein. (Stimmen: ,Werft den 'raus!') Ich habe nicht für die Anerkennung des Südens (Amerika) im Hause gesprochen. Ich akzeptierte die Entscheidung des Hauses. Ich glaube, sie war unrecht. Ich hoffe, mein Vaterland möge nie erkennen müssen, daß ich recht hatte. (Frage aus dem Haufen, weshalb er die Arbeiter im Norden Englands als Trunkenbolde etc. geschildert.) Ich habe nur gesagt, daß unter meinen Wählern betrunkene Leute seien, die ihre Weiber schlagen und ihre Hunde liebkosen. Ich sagte nicht, dies sei der Charakter der Arbeiter. (Stimme: Sie sagten es.) Nein, ich sagte nicht so. (Ein Wähler: Ich frage die Versammlung, ob es nicht Zeit ist, durch einen anderen, als solche nonentity — ,niemand' — im Parlament vertreten zu sein.) Roebuck: Ich bin eine völlige entity (jemand), Geschrei, Lachen und Pfeifen. Zum Schluß erhielt Roebuck dennoch ein Vertrauensvotum von der Majorität." — Trotz der bösesten Lebensbeschreibungen in der Presse, will der schon früher erwähnte ehemalige „Eisenbahn-König" Hudson für Whitby ins Unterhaus gelangen. Wenn ein alter Börsenspieler sentimental wird, das ist zum Wildwerden. „Ich kehre zu meiner ersten Liebe zurück, zu Euch! Mein ganzes Vermögen werde ich für das Wohl Eurer Stadt verwenden. Ich wollte, ich hätte mehr. Ich könnte mich im Golde rollen, hätte ich wie andere gehandelt! Aber kein Mensch kann so lange, wie ich jetzt, mit einer Kruste Brot und einem Stücklein Braten auskommen." Hudson bekennt sich zum Toryismus. Es scheint aber, als werde ihn die Partei allein sein Glück bei der Wahl versuchen lassen. — In zwei Prozessen wegen Entschädigungen und Schmerzensgelder, herrührend von Bißwunden und zerkratzten Gesichtern, stellte sich heraus, daß die eine Verklagte, ein altes Mädchen, ihre neun Bulldoggen nur mit den zartesten Hühnchen und Konditorwaren zu füttern pflegte, und die andere, ebenfalls ein altes Mädchen, sich einer Hausgesellschaft von 114 Katzen erfreute, die sie von einem einzigen Paare aufgezogen. — Verschiedene Blätter warnen die „reisenden Engländer", sich überhaupt in Süd-Italien

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sehen zu lassen, da die Briganten eine Art Pakt unter sich geschlossen haben sollen, sich auf eine Zeitlang nur mit dem Einfangen von Engländern zu befassen. „Die Regierung könne nicht jeden gestohlenen Briten, wie um Mr. Ainstie Murrays willen geschehe, mit 10.000 Pfund Sterling einlösen." Doch hat sie eben einen anderen Engländer eingelöst, einen armen Photographen, der auf päpstlichem Gebiete „gestohlen" worden. Er kostete aber nur 250 Scudi, obwohl er im Kampfe allein drei Banditen erschlagen hatte. (Sehr unwahrscheinliche englische Renommisterei. D. R.) Unzweifelhaft wollen die Briganten sich dem geschäfteliebenden Briten als „Geschäftsleute" in ihrer Manier beweisen. [Nr. 143, 22. 6. 1865]

Der Mitchell-Fall vor dem Parlament „Breach of privilege" ρ* London, 24 Juni Wegen „breach of privilege" (Verletzung der Privilegien des Parlaments) sitzen gegenwärtig drei Engländer: Morris Mitchell, Owen Marshall und Henry Whiting, im alterschwarzen Gefängnis Newgate, — hinter Schloß und Riegel gebracht auf Beschluß des Unterhauses, unter Signatur des Sprechers und infolge Verhaftung durch den Sergeant-at-Arms, den eigenen Polizeibeamten des Hauses, welcher, der einzige Bewaffnete, jeder Sitzung beiwohnt, und sowohl die Galerien räumen muß, wenn so befohlen, oder auch, sollte je ein Parlamentsmann dem Sprecher in gröblicher Weise ungehorsam werden, dem Landesvertreter persönlich „nahe zu treten" hat. Nur dunkle Gerüchte sprechen noch von der Existenz eines Karzers für Parlamentsmänner. Es gab eine Zeit, wo die Phrase: „parliamentary privilege" für ominös gehalten wurde. Unter James dem Ersten wurde ein gewisser Floyd von beiden Häusern des Parlaments zu körperlicher Züchtigung und Gefängnis verurteilt, wegen unehrerbietiger Äußerungen über die Tochter des Königs und deren Gemahl, den Pfalzgrafen in Böhmen. Im vorigen Jahrhundert wurde vom Unterhause ein Mann des breach of privilege schuldig befunden, weil er unbefugterweise in Sir Robert Grosvenors Bleigruben gegraben, ein anderer, weil er Lord Galways Kaninchen getötet, ein Dritter, weil er in Mr. Joliffes, eines Parlamentsmitgliedes, Fischteich geangelt, ein Vierter, weil er bei verdächtigem Treiben in Admiral Griffins Fischereien betroffen. Dies wurde den Gesetzauslegern der Queens Bench jedoch bedenklich, länger

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zu gestatten, und sie befreiten 1 8 3 9 einen Parlamentsgefangenen, der wegen eines solchen Privatvergehens

verhaftet worden. Seitdem ruhte

das Gerichtsrecht des P a r l a m e n t s . Aus begreiflichen G r ü n d e n b e k a m der S e r g e a n t - a t - A r m s nicht mit denen zu tun, welche jede W o c h e beinahe wegen breach o f privilege zur V e r a n t w o r t u n g gezogen werden

könnten,

— ich m e i n e die J o u r n a l i s t e n , denen es nicht selten passiert, Parlamentsm ä n n e r als solche in brutalster Weise zu verdächtigen, und das in Ausdrücken, w o „ E s e l " und „ d o g s " als stilistische O r n a m e n t e verwendet werden. D e r jetzige Fall ist jedoch ein solcher, w o man der Presse nicht wehe tut und es „ n u r " mit den Agenten eines indischen Fürsten zu tun hat, der, o b w o h l zweimal schon mit seinen R e c h t e n abgewiesen, nicht davon ablassen wollte, das Unterhaus mit seinen M a h n u n g e n wegen geb r o c h e n e r Versprechungen zu „ e n n u y i e r e n " . Dies zur Kennzeichnung der S t i m m u n g . D e r Fürst Azim Jah hatte für diese Parlamentsgeschäfte einen Agenten in L o n d o n seit J a h r e n in Tätigkeit. Als jüngst von neuem das Unterhaus die Ansprüche des Fürsten mit „ e i n e r " S t i m m e abgewiesen, verfiel der Agent auf den G e d a n k e n , eine M o n s t r e - P e t i t i o n zu versuchen. Er verständigte sich darüber mit einem A d v o k a t e n Strutt, einem M a n n e , der schon einmal in Parlamentssachen wegen Fälschung einer Unterschrift vor die B a r r e des Unterhauses gefordert w a r und eine Nase vom Sprecher erhalten hatte. Strutt, als Unter-Agent installiert, engagierte einen Vize-Unter, Mr. M i t c h e l l , um die Petitions-Unterschriften zugunsten des Fürsten in L o n d o n z u s a m m e n z u b r i n g e n , und verhieß ihm für jeden gemeinen N a m e n einen Penny Sterling, für „ b e s s e r e " einen Schilling, für „sehr f e i n e " ein Pfund. Mitchell engagierte wieder zwei andere VizeUnters, M a r s h a l l und Whiting, und ging an das G e s c h ä f t . Die drei hielten sich an das S p r ü c h w o r t : das W o r t „Verdienen" wird i m m e r g r o ß geschrieben, und w o die W i r k l i c h k e i t der Unterzeichner sich als zu m a n gelhaft oder kostspielig herausstellte, griffen sie in das Reich der P h a n t a sie. So wurde es möglich, d a ß sie je a c h t echte Unterschriften zu 2 7 vermehrten. Eine etwas dreiste P r o p o r t i o n o h n e Z w e i f e l . Strutt wurde, wie er sich später „ w e i ß w u s c h " , über den außerordentlichen Fleiß und Erfolg seiner Unter-Agenten so betroffen, d a ß er ihnen erklärte, er wolle mit der S a c h e nichts mehr zu tun h a b e n ; doch er zahlte die Belohnungen und M i t c h e l l und K o n s o r t e n n a h m e n die Entsendung der Petitionen an das H a u s auf ihre eigene Kappe. D u r c h diese rechtzeitige S c h w e n k u n g , d. h. n a c h d e m alles, was er wollte, erreicht war, entging Strutt dem Serg e a n t - a t - A r m s und wurde nur sehr häßlich in der U n t e r h a u s - D e b a t t e durchgesiebt, als man jene anderen drei verurteilte. Eine Appellation gibt

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es für dieselben nicht. Sie haben mit den Gerichten des Landes nichts zu tun. Sie sind des Sergeant-at-Arms eigene Gefangene. Sie sitzen auch für keine bestimmte Zeit, sondern gänzlich auf Diskretion des Hauses. Ihre einzige Aussicht ist, mit einer Petition das Gemüt des Hauses zu rühren, und wie der Minister des Innern, Sir George Grey, bei jener Debatte äußerte: „Das Haus ist niemals ungewillt gewesen, barmherziges Gehör (a merciful ear) den Anliegen in solchen Petitionen zu leihen." Eine mildere Denkungsart 2 3 kann ein gekränktes Parlament kaum entwickeln. Für den Juristen ist der Fall noch aus einem anderen Gesichtspunkte interessant. Es gilt als großes Prinzip in England, daß niemand dem Verhör vor den „Gerichten des Landes" sich entziehen kann. Dennoch hat das Select-Committee des Unterhauses das Verhör selbst übernommen, aber keinen der Zeugen vereidet. Dennoch verurteilte das Haus auf diese unbeeideten Aussagen hin. Wie man diese Widersprüche landesgemäß vermittelt, beweist ein Artikel des „Daily Telegraph"; dies Blatt schreibt: „Unzweifelhaft ist die Ausübung einer Verurteilung seitens des Parlaments ohne reguläres Verhör und Richterspruch eine Abweichung von den Vorschriften der magna charta. Aber so ist es mit allen Verurteilungen wegen ,contempt of court', wo ein Richter einen ungehorsamen Schuldner ohne Verhör zu soundso langem Gefängnis verurteilt. Es ist genug, daß Ausnahmen vom General-Prinzip ,verstanden' werden. Ein Parlamentsmann schlug vor, Mitchell und Konsorten sollten vor dem Kriminalgerichtshof wegen Fälschung belangt werden. Aber das war keine Fälschung im kriminalistischen Sinne. Eine bloße Nachahmung von Unterschriften ist nur dann eine Fälschung, wenn sie in der Absicht geschehen, zu betrügen, nicht bloß zu täuschen.* Das UntersuchungsComite konnte ferner die Belastungszeugen nicht vereidigen, weil es dazu keine Macht hat. Aber es handelte so, wie es seit Jahrhunderten Gebrauch ist. Es gibt zehntausend Dinge in unserem Regierungssystem, die nur auf Gebräuchen beruhen und deren Gesetzlichkeit deshalb doch

„Die Milch der frommen Denkart" aus dem Monolog des Teil in Schillers Wilhelm Tell, IV, 3; F. verwendet hier wie auch später „Denkungsart", vgl.

ζ. B. Frau Jenny Treibet, 8. Kap. (HFA I, 4, S. 387). * Vor ungefähr drei Wochen verlangte die amerikanische Regierung die Auslieferung eines flüchtigen Bankbeamten, der Gelder unterschlagen und die Bankbücher gefälscht. Die Queens Bench verweigerte dieselbe und ließ den Verhafteten frei, denn jene Fälschung sei keine in englischem Sinne. Der Angeklagte habe zwar zahllose Namen in die Bücher fälschlich eingetragen, aber ohne seine Handschrift zu verstellen. Das sei keine Fälschung.

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so unfraglich, als h ä t t e Königin und P a r l a m e n t in feierlichster Form so beschlossen. D i e M i n o r i t ä t , die das verneint, ist eine unpraktische Sektion der M e n s c h h e i t , i m m e r bereit, die selbstverständlichsten Wahrheiten aus b l o ß e r Liebe für P a r a d o x e zu l e u g n e n . " D a s ist doch gewiß nicht britisch und in seiner Eigentümlichkeit g r o ß . [Nr. 148, 28. 6. 1865]

5 2 1 , die nicht da sind. Tres faciunt collegium Schimpfierte Landschaften. Vertagung und Auflösung M r . Whalley und R o m e must perish. Räubergeschichten p::' L o n d o n , 2 8 . J u n i Wenn mich in diesen Tagen ein p a r l a m e n t a r i s c h e r Freund vom Kontinente besucht hätte, dem ich die „ L ö w e n " zeigen sollte, so würde ich ihn am Freitag abend auf die G a l e r i e des Unterhauses geführt und ihm 5 2 1 P a r l a m e n t s m ä n n e r gezeigt h a b e n , die „nicht da s i n d " . Er hätte Gelegenheit g e h a b t , einen irischen D i a l o g mit a n z u h ö r e n . Mr. Maguire M r . Hennessey

und

waren uneins. D a nun im P a r l a m e n t e i m m e r vom Platze

gesprochen wird, zufälligerweise jene beiden aber Schulter an Schulter dort sitzen oder „liegen", so t r a f es sich, d a ß einer dem andern bei der Rede recht eigentlich mit Vehemenz in die O h r e n d o n n e r t e . S o mit ganzem Leibe reden nur Irländer; am lautesten M r . Whiteside, Mitglied für Dublin, von dem P a l m e r s t o n einst sagte: Wer seine Rede „sieht", m u ß von ihm überzeugt werden. Natürlich k a m es zu nichts, wie bei allen irischen D e b a t t e n , am wenigsten, wenn es sich um G r u n d - und Bodenfragen handelt. — S o weit das Unterhaus. A m S o n n a b e n d würde ich den p a r l a m e n t a r i s c h e n Freund, der den besten Willen haben würde, alles sehr zu bewundern, in das O b e r h a u s g e n o m m e n haben um 11 Uhr vormittags. N a c h d e m er sich den L o r d k a n z l e r auf dem W o l l s a c k angesehen, der (letzterer) in dieser Saison besonders heftig ausgeklopft w o r d e n , und den schönen S a m t und die roten D r a p e r i e n , würde ich ihm nach zehn M i n u t e n daran erinnert h a b e n , d a ß die Sitzung vorüber und er wieder nach H a u s e gehen k ö n n e . „Sitzung?" — „Freilich! Sehen Sie nicht die tres, qui faciunt c o l l e g i u m ? 2 4 Einen B i s c h o f und zwei L o r d s . " — „Und

24

Aus Corpus Iuris Civilis (528 — 534); vgl. auch Vor dem Sturm, 3. Band, AltBerlin, Soiree und Ball (HFA I, 3, S. 361), Ocearte von Parceval (HFA I, 5, S. 794).

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die übrigen 3 0 0 ? " — „Die schicken ihre besten Wünsche jederzeit." Noch mehr würde den Fremdling die Mitteilung in Erstaunen gesetzt haben, daß dieses völlig öde Haus, durch welches die Sommerschwalben zwitscherten, in diesen zehn Minuten neunzehn Eisenbahn-Konzessionen verliehen, d. h. ebensoviele Privatbills in letzter Lesung angenommen hat. Lord Redesdale, der Chairman der beratenden Comites, las mit einer Rapidität, die nur ein Gemurmel vernehmbar machte. Eine Menge Städtenamen stolperten über Adjektiven der Juristensprache und, da keiner etwas einzuwenden hatte, war die Sache aus. D a ß zahlreiche Beschwerden von Städten und Landbewohnern gegen diese und jene Bill gerichtet waren, hatte nichts zu sagen. Tagtäglich jammern „Kleinstädter" in den Blättern, daß man ihnen mit mehr Eisenbahnen und Fabriken, als nötig, ihre Lage „verschimpfiert".

Das Geschäft

„geht v o r " . Nur

Oxford

scheint Gehör zu finden, das unaufhörlich gegen neue Eisenbahn- und Fabrik-Konzessionen in seiner nächsten N ä h e protestiert, gegen die Fabrikschlote in seinem reizvollen Tale und gegen den üblen Geruch, den Lokomotiven usw. verbreiten. Man riecht aber den Geruch nicht im Parlamente und so wird auch O x f o r d , die Alma mater des halben respektabeln Englands, nur um weniges besser behandelt werden, als andere Städte. Noch einige 60 Privatbills ähnlicher Art hat das Haus der Lords zu entscheiden. Es hat zu Ende der Session immer mehr Reste, als das Unterhaus, indem es warten muß, bis jenes sich in lange Debatten darüber erschöpft hat. D a ß übrigens im Parlament von so wenigen bei dieser Sommerglut so viel und in so kurzer Zeit geleistet wird, ist anerkennenswert. Der einzige Trost ist, daß es bei den Cousins in New York nach neuesten Berichten noch viel heißer. Wie man in der Unterhaltung mit einem Seekranken zartfühlend das Wort Speck vermeidet, so enthält man sich aller Redewendungen hier, welche Wärme bezeichnen. J o h n Bull ißt kalte Diners aus Verzweiflung — tea-dinners. Er vereinigt Mittag- und Teestunde und ist genügsam mit kühlem Salat, Käse und Bier. Dies ist in der Tat oft das Diner bei der Hitze. In den Straßen Londons wird millionenfältig das Ingwer-Bier jetzt auf der Straße ausgeschenkt, eine Art Schaum, der sich vom Bier dadurch unterscheidet, daß vom Bier keine Spur darin vorhanden. Seit drei Wochen haben wir keinen Tropfen R e g e n * , glühheiße Tage, kalte Nächte mit Ost- und Nordostwinden. Die einzigen munteren sind die dreißigtausend Irländer, die alljährlich von der grünen Insel herüberkommen, um bei der Heuernte zu helfen. Unter * Am 2 9 . J u n i hat es in London angefangen zu regnen. D . Red.

London, 28. Juni

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diesen Umständen ist es zweifelhaft, wer schneller für die Sichel reif wird, die Ernte oder — das Parlament. Am 6. erfolgt die formelle Vertagung, eine Form, die diesmal gar keine Bedeutung hat, da der Vertagung schon in 2 4 Stunden, am 7., die Auflösung folgt. Und das ist die Hauptsache. Baden-Baden wartet, Interlaken wartet mit seinen Kellnern, Florenz wartet, Neapel mit tausend Ellen Maccaroni, und bei Brighton und Starborough stürzen sich bald hundert Ex-Parlamentsmänner in das Meerbad der Vergessenheit, was an letzterem Orte auch die Ausgezeichnetsten unter ihnen für zwei Pfund Sterling täglicher Standesausgaben haben können. Aber hängt auch alles hier die Köpfe, die Schwersten und die Leichtesten, einer tut's nicht, Mr. Whalley, der Orangemann und Mitglied des Unterhauses. Hat er schon seit Wochen London mit seinen erbitterten Angriffen auf „Rom in England" alarmiert, so findet er den heutigen Tag geeignet, ein Monstre-Meeting nach St. James Hall zu berufen. In Riesen-Plakaten verspricht er „Enthüllungen über die Beichte". „Damen, Beichtegängerinnen ausgenommen, werden nicht zugelassen, ebensowenig Gentlemen unter 18 J a h r e n . " Er fordert in dem Plakat alle Minister auf, alle seine Kollegen von beiden Häusern des Parlaments, zu dem Meeting zu kommen, damit sie mit eigenen Ohren zu hören bekämen, „was denn das für Dinge seien, die sie dem englischen Publikum mit ihrer Milde gegen Rom zumuteten". Dies spielt auf die Abschaffung der Katholiken-Eide an. Zum Schluß appelliert er an die Wahlfähigen: „Wähler der britischen Inseln! Entscheidet, ob Ihr päpstliche Sklaven oder freie britische Männer sein wollt — der Gegenstand verdienter Flüche der Menschheit und von Gottes gerechter Vergeltung, oder die unzweideutigen Advokaten der Menschenrechte und der Gottessouveränetät. Reihet Euch auf die Seite Gottes und nicht auf die seiner Widersacher. Er hat ja Krieg mit Amalek beschworen von Geschlecht zu Geschlecht. Friede mit Rom ist Krieg gegen Gott und Verderben für die Menschen. Rome must perishΖ25" — Whalley war in Caprera, um Garibaldi zur Annahme einer Yacht zu persuadieren, was gelang, und ihm sein Herz auszuschütten, was auch von beiden Seiten gelang. Das von dem Minister Layard wegen der italienischen Räubergeschichte im Unterhause abgegebene Dementi bezüglich einer von der Pariser „Union" gebrachten Skizze, berührt die Richtigkeit der Tatsache nicht, daß die englischen Konsuln im Neapolitanischen Instruktionen zum Arrangement wegen Loskaufs des gestohlenen Mr. Moens von hier erhielR o m e shall perish", Sentenz aus William Cowpers Gedicht „Boadicea".

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ten. Mr. Ainstie Murray, welcher mit Moens zusammen gefangen, aber der Beschaffung des Lösegeldes wegen freigelassen wurde, und ebenso Moens, wie auch andere Engländer haben in veröffentlichten Briefen darüber Näheres mitgeteilt. Unterhandlungen mit den Briganten haben in der Tat nicht „stattgefunden", aus dem einfachen Grunde, weil zu Unterhandlungen immer zwei gehören, mitunter drei, um die Sache zu stören, aber zwei jedenfalls. Die Konsularagenten waren da bei den Ruinen von Paestum, dem neutralen Stelldichein. Sie waren sogar dreimal da, auch mit Geld sogar und in Gesellschaft von ängstlichen Engländern. Aber die Herren Räuber kamen nicht, kamen auch nicht an das Ufer, als man ihnen mit einem englischen Kriegsschiffe eine Visite machen wollte. Der gefangene Moens beschreibt es selbst in einem Briefe, wie er von ihrem Versteck aus das befreundete Schiff habe warten sehen, aber seine „Meister" dem Frieden nicht trauten und ebensowohl zu viel Gesellschaft bei den Ruinen von Paestum vermuteten. [Nr. 154, 5. 7. 1 8 6 5 ]

Der Lordkanzler-Fall. Kein Fischessen 1000 Lstr. für einen Leitartikel p* London, 3. Juli Heute abend spielen die Tories einen Trumpf aus und selbst die dem Kabinett am meisten ergebenen Blätter verkennen nicht die Schwierigkeit, durch den Whipper-in auch nur einigermaßen die weitverstreuten „Freunde" in solcher Zahl zusammenzutrommeln, um dem Coup zu begegnen. Wie Ihnen bereits bekannt sein wird 2 6 , handelt es sich wieder um die vom Lordkanzler ausgeübte Patronage, in diesem Falle zugunsten eines Ungeratenen unter seinen Söhnen, namens Richard Bethell. Dieser, wegen Schuldflüchtigkeit schon mehr als einmal gerichtlich und öffentlich zum „outlaw", d. h. als außer dem Gesetze stehend deklariert, hat sich Geld zu machen verstanden, indem er seinen „Einfluß als Sohn des Lordkanzlers" verhandelte, um diesem und jenem Hoffnungen auf ein Amt aus des Vaters Patronage zu machen. Die Sache ist diesmal sehr delikat. Der Lordkanzler trat erst dann gegen seinen Sohn auf, als der Edmunds-Skandal warnungsvoll explodierte. Das Untersuchungs-Co-

26

Ein neuer E d m u n d s - F a l l , in: Nr. 151, 1. 7. 1 8 6 5 .

L o n d o n , 3. Juli

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mite, vom Parlamente ernannt, beschuldigt ihn, bei der erfolgten Amtsverleihung, die zufällig mit dem Geschäfte des Sohnes „klappte", zwar nicht aus unpropren Motiven, aber „in zu großer H a s t " gehandelt zu haben. O b nun das auf heute datierte Tadelsvotum gegen den Lordkanzler durchgeht oder nicht (es ist durchgegangen; vgl. Nr. 15 6 2 7 ) — Kapital für die Wahlkämpfe wird jedenfalls daraus gemünzt werden, ebenso wie aus dem abessinischen Dilemma. In letzterem Falle müssen sich Parlament und Presse, ja sogar das Kabinett, wie der Minister Layard am Freitag eingestand, sehr in der Sprache menagieren, um den Kaiser von Habesch nicht zu reizen. Freilich wäre es fatal, eines schönen Morgens in einer Depesche zu lesen: „Kapitän Cameron in Abessinien geköpft, Kaiser — übelgenommen — Grobheiten der Times — sehr übel" — das käme davon, daß Neger Englisch lernen und Zeitungsabonnenten geworden. Übrigens gibt diese Tatsache, daß der schwarze T h e o d o r dem offiziellen und nichtoffiziellen England, sozusagen, den Mund verbietet, einen eigentümlichen Präzedenzfall ab. Der kleinste unzugängliche Binnenstaat könnte das Exempel kopieren. Was der Räuber Signor Guardello mit einem Engländer versuchte, um Profit zu machen, tut ein Negerfürst, um das englische Kabinett zur Höflichkeit zu zwingen, und Parlament und Presse dazu. Auch mit gewaltigen Negern ist nicht gut Datteln essen. — M a n reibt sich die Augen, eine Ankündigung zu lesen: „Kein Weißfischessen dieses J a h r . " Alle Toryblätter melden das. Wie eine so alte Z e r e m o nie eines Ministerbanketts nach Parlamentsschluß in 1865 unterbleiben sollte, ist erstaunlich. Die „Gegner" des Kabinetts versichern, daß die Gemütlichkeit unter den offiziellen Kollegen eine so gezwungene sei, daß Tafelfreuden sich verbieten. Die „Sunday T i m e s " schreibt: „Der Premier könnte das Essen nicht mit freudigem Appetit genießen; der Lordkanzler leidet an Indigestion (s. oben); Sir Charles ist durch die überhäuften Arbeiten, die ihm der neue anglo-indische Telegraph zublitzt, sehr geärgert; Gladstone ist in Fieberhitze wegen seiner und seines Sohnes Wahlen; Russell hat nicht gehalten, was er beim vorigen Weißfischessen versprochen und somit die Zeche nicht bezahlt; Lord Paget ist gegen alle Munterkeit, Mr. Layard sagt, er habe keinen Geschmack für ,Fischernes'; Milner Gibson, der Protektor der Eisenbahndirektoren, fürchtet sich, auf der gefährlichen Eisenbahn nach Greenwich zum Diner zu fahren, die anderen fürchten sich vor gemeinschaftlicher Langeweile und so ist das

„ D a s Tadelsvotum gegen den L o r d k a n z l e r " und „Die Abstimmung gegen den L o r d k a n z l e r " , in: Nr. 156, 7. 7 . 1 8 6 5 .

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Essen abgesagt." Das Witzblatt „Fun" bringt eine Abbildung, den „Vater Themse" darstellend, wie der sehr fleckig aussehende Flußgott sich am Tage der Parlaments-Auflösung unweit des Portales aufgestellt, aus dem die Minister, zwei und zwei Arm in Arm, Palmerston mit Russell voran, heimkehren. „Ich sehe euch vielleicht nicht wieder", so redet er Palmerston an. Und die trockne Träne fällt. — Die kleine Partei der unveränderlichen Schutzzöllner im Lager der Tories verliert ihr Haupt, Mr. Bentinck. Er hat auf Anraten des Arztes auf jede Neuwahl zu verzichten. Selbst ein radikales Blatt bedauert dies: „Wir entbehren ungern im Unterhause das gute Metall der alten Tories, wie wenig wir auch ihre Freunde sind." Bentinck ist der Tory vom „alten wahren Blau" (a true blue Tory), unpraktisch in seiner Opposition mitunter, aber einer jener echten hartköpfigen englischen Squires, die nie Kompromisse machen, aber sehr selten geworden sind. — Es wird in der Presse mit Beifall erwähnt, daß der König von Griechenland Lord Byron ein Denkmal setzen lassen will. Ein Blatt bemerkt: „Byron war aufrichtiger in seiner Liebe für Hellas, als in allen anderen Leidenschaften seines Lebens." — Der Pluralis von Million ist keine große Seltenheit in diesem Lande. Einer von der Firma der großen Schiffsassekuranzgesellschaft Lloyds, namens Thornton, hinterläßt drei Millionen Pfund Sterling. Auch die Literaten haben ihre Krösusse hier. In voriger Woche starben ihrer zwei, Irländer, und hinterließen jeder 70.000 Pfd. Sterling. Daß einzelne Leitartikel von 5 bis 30 Pfd. eintragen, ist keine Seltenheit. Den alten Napier konnte aber einst auch die Times nicht dazu bewegen, eine Feder anzurühren, obwohl sie ihm 1000 Pfd. St. zusagte, wenn er in drei Tagen eine soldatisch-kurze Biographie des gerade verstorbenen Herzogs von Wellington für das Blatt schreiben wollte. Der alte Seebär brummte und returnierte die Anweisung „with thanks". Der Editor der „Army and Navy Gazette", Mr. Russell, bezieht von einer einzigen Zeitung unter denen, welche er mit kleinen Notizen über militärische und maritime Angelegenheiten versieht, 30 Pfd. St. die Woche. Andererseits ist der „Penny" das höchst Erschwingliche für die kleineren Reporters, die „penny-a-liners", und ihre Arbeit bei Tag und Nacht, in Sonnenschein und Sturm auf der Reise durch London ist eine aufreibende. Man flüstert, sie würden nicht älter, als die Arbeiter in Zinnoberhütten. Die meisten dieser Klasse sind Irländer. Unter ihnen war einst der Renommierteste der „Feuerkönig", der aus Passion für „schöne Feuer" über einer Feuerspritzen-Remise Chambregarnie wohnte und bei jedem Nacht-Alarm sich wecken ließ, um auf der abfahrenden Spritze unter den Feuer-Janitscharen Platz zu nehmen.

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Kein Mittel-Feuer selbst entging seiner Feder jahraus, jahrein, und doch mußte der „Feuerkönig" — ertrinken. — Anstatt der erwarteten Tausende fanden sich auf dem „Monstre-Meeting" in St. James Hall, welches der Orange- und Parlamentsmann Whalley berufen, um „gegen Rom zu donnern", kaum 2 0 0 Neugierige ein. Natürlich kam keiner der dazu eingeladenen Minister; auch kein Mitglied aus beiden Häusern des Parlaments, und Mr. Whalley, der Unternehmer selbst, kam ebenfalls nicht. [Nr. 1 5 7 , 8 . 7 . 1 8 6 5 ]

Englische Redefreiheit. Wahlbeeinflussungen Der Bethell-Skandal. „Konservative Radikale" P* London, 10. Juli Eine Wahlwoche beginnt. Die City von London und mehrere andere Stadtdistrikte haben heute die „nomination" der Wahlkandidaten vorzunehmen. Es folgt dann die Wägung von Plus und Minus der für diesen oder jenen aufgehobenen Hände und schließlich die „poll", d. h. das Registrieren des eigentlichen Votums im Wahlcomite-Wirtshaus, die entscheidende Schlacht. Daß man in England niemand wegen Injurien belangen kann, auch wegen Verleumdung nur dann, wenn der dadurch angerichtete Schaden in Pfunden, Schillingen und Pence hergerechnet werden kann*, kommt niemandem mehr zugute, als dem Wahl-Kandidaten. Alle Listen sind in diesem Kriege erlaubt. Und je tiefer der Bildungsstand der Wähler, desto tiefer greift der Wahlredner in die Vorräte des Scheltwörterbuchs, um den Gegen-Kandidaten zu vernichten. Der gewöhnlichste Vorwurf, den Wahl-Kandidaten einander machen, ist der, seine Wähler bestochen zu haben. Zu obigem einige Beispiele. Roebuck bezeichnet den Eisenarbeitern von Sheffield den konservativen GegenKandidaten wörtlich als einen „schimpfseligen Advokaten, einen Lügner, einen Wahnsinnigen" (madman). Der hochgebildete Philosoph des Liberalismus, Stuart Mill, beschuldigt ausdrücklich „auf Hörensagen hin" seinen Wahlgegner von den Tories als schuldig der Wahlbestechung. Das ist so die übliche Manier. Natürlich glauben die Hörer solche BeschuldiIst einer dennoch so empfindlich, wegen Verleumdung zu klagen, so erhält er wohl ein Juryverdikt auch für sich, aber mit einem „Farthing" (Dreier) als Ehrenentschädigung.

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gungen selten, auch die Wahl-Kandidaten nehmen sich solche gegenseitig kaum übel, ja, man weiß von einigen, daß sie dergleichen gern haben, vielleicht nach der M a x i m e Heines, der einst geschrieben: „Wen ich lieb haben soll, der muß mich en canaille behandlen", mehr aber wohl, weil ihnen um so bessere Gelegenheit wird, die Spritze voll Schwefelsäure umzukehren. Wie Wahlagenten arbeiten, von Haus zu Haus wandernd, um den Insassen für X . oder Y. zu persuadieren, davon ein Beispiel unter vielen. Heute war ich Ohrenzeuge folgender Unterhaltung. In ein Geschäftslokal treten zwei staubig aussehende Herren und fragen den Besitzer des Geschäfts: „Sie werden doch für Mr. N. stimmen?" — „Wer ist Mr. N ? " — „ O h , nervermind, you vote for Mr. Ν ! " (Ο, das hat nichts zu sagen, Sie stimmen für Mr. N.) — „Aber ich bin ein Ausländer!" — Pause, während derer die beiden sich mit den Augen konsultieren. „Das braucht die andere Partei nicht zu wissen", war die Entgegnung. — Wahlen werden oft von Protesten gegen „Beeinflussungen" begleitet. Viele vom hohen Adel erklären dieses Mal jedoch ausdrücklich in veröffentlichten Briefen an ihre Farmers, daß sie in keiner Weise das Votum derselben beeinflussen wollten. So tut der Herzog von Marlborough, der Herzog von Wellington und Lord Nelson, sowie der Earl of Leicester. Diese Erklärungen beweisen eines, daß Wahlbeeinflussungen in England unverwehrt sind. Es gibt kein Gesetz und keine Verordnung dagegen, keine Parlamentsakte. Keine Wahl kann wegen der handgreiflichsten Beeinflussung im entferntesten angefochten werden. Z w a r existiert eine Resolution des Unterhauses vom J a h r e 1 7 7 9 , welche in leidenschaftlicher Sprache sich gegen Pairs und Minister richtet, die durch Wahlbeeinflussungen die „Ehre und Würde des Hauses kränkten".

Aber das ist eben

eine Resolution, die zwar gefaßt ist, aber selbst niemanden „ f a ß t " . Gekränkt oder nicht gekränkt, das Unterhaus kann dieserhalb keinen Gewählten „an die Kühle setzen". Nimmt die Beeinflussung nicht die Form der groben Bestechung oder drohenden Erpressung an, so läßt man fünf gerade sein! — hört man hierhin und dorthin, so hat der letzte Schlag der Tories gegen „Bethell", wie man jetzt schlechtweg den „ausgeschiedenen" Lordkanzler Lord Westbury nennen hört, einen wesentlichen Eindruck auf die Gemüter gemacht. Und es wirkt auf die Wahlen ohne Zweifel. Lax wie die Grundsätze über das Wie und Wo des Profits in einem Lande, wo alles „handelt", geworden sind, — es ärgert dennoch jeden, daß ein solcher Skandal der Welt bewiesen, wie weit und wie bock hinauf gewisse Schäden gefressen haben. Es ist der Ärger, der viele Leute überkommt, wennn sie genötigt werden, sich „ihre eigenen Sünden bei-

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fallen zu lassen". So erklären sich auch Äußerungen in der Presse, wie die: „Was der Lordkanzler getan, um für seine Angehörigen zu sorgen, das tut jeder Lordkanzler. Seine Standesausgaben sind enorm. Sein Amt ist prekär. Ein Votum im Unterhause macht ihm ein Ende." Oder: „Seine Pension ist klein (5000 L.). H a t ein Lordkanzler nur Söhne von gewöhnlichem Talent, so gibt er ihnen Ämter, f ü r gewöhnliche Talente passend, nur sollte der Staat nicht dabei vergessen werden." Die Tory-Presse überträgt ihre Angriffe von Bethell auf Palmerston persönlich. Das über den Fall veröffentlichte Blaubuch erweise u. a. daß, ehe es zur völligen Aufklärung g e k o m m e n , Palmerston dem Unterhause, auf eine Interpellation hin, Versicherungen gemacht habe, die im Blaubuche der Aktenstücke als tatsächlich unrichtig sich herausstellen. „Beweist das nicht ein entsetzliches Vorwalten ministerieller Immoralität?" so fragt die „Sunday Times". „Wer hat die Täuschungen vergessen, welche Palmerston in der Dänischen Frage gegen das Unterhaus ausübte? Das Übel ist nicht neu, aber maßlos in seiner Infamie" (meatureless in its infamy). Der „Stand a r d " appelliert an die Leute, „welche ihr Geld lieb h a b e n " und sagt: „Mit welcher losen H a n d Palmerston das öffentliche Interesse gewahrt hat, beweist der Fall Bethell. Vergessen das die Wähler ja nicht in dieser Woche! M ö g e n sie sich fragen, o b eine Partei, deren p o m p h a f t e Versicherungen von Reinheit so erfüllt w o r d e n , Vertrauen verdiene und Unterstützung in einem Kampfe, dessen Resultat sein k a n n , für andere sieben Jahre die öffentliche Börse in die H ä n d e von Leuten zu legen, die sich so schamlos gleichgültig gegen die Interessen derer erwiesen, durch deren Besteurung jene Börse gefüllt wird." So etwas verfehlt seine Wirkung selten. Als 1863 im O k t o b e r ein Erdbeben halb England aus dem Nachtschlummer weckte, war der erste Ruf: „Räuber! Einbrecher!" Das war das Nächste, was ihnen schon im T r a u m e einfiel. Selten haben die Tories einen solchen wirksamen Hebel zur H a n d gehabt, wie bei diesen Wahlen. Seit einem Jahre haben die Tories drei Minister „entfernt" — Mr. Stansfeld (wegen seiner Freundschaft mit Mazzini), Mr. Lowe und Lord Westbury, d a r u n t e r Mr. Lowe mit Unrecht. Auch n a h m das Unterhaus das Zensur-Votum gegen ihn feierlich zurück. Neu ist eine politische Benennung „a Tory-Radical" (ein konservativer Radikaler). Ich bin noch nicht imstande gewesen, die Tiefe der Bedeutung auszukundschaften. Zwei oder drei Wahlkandidaten nennen sich so. Die Zeitungen sagen, diese Leute fielen immer durch. [Nr. 162, 14. 7. 1865]

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Der ausgebrannte „party spirit" Laterale, vertikale und diagonale Reform Wahl-Curiosa. Österreich belobt p* London, 17. Juli Obwohl bis heute morgen der Wahlrapport die Zahl der gewählten Liberalen auf 283 und die der Konservativen auf 172 angibt, so hat diese Klassifikation doch noch wenig zu sagen. Im großen und ganzen zeugen die Wahlen dafür, daß der „party spirit", frei übersetzt: der Partei-Spiritus, ziemlich ausgebrannt hat. Die Unterschiede von liberal und konservativ sind mehr technische oder traditionelle, als wirklich politische. Da sind viele auf beiden Seiten hierzulande, die soviel wie möglich den Wählern versprechen, aber sowenig wie möglich halten; Liberale, die in solcher Tonart reden und doch konservativ handeln und umgekehrt. Die Tories versichern, daß die Liberalen im Grunde doch nur vier oder fünf Stimmen mehr in das neue Parlament bringen würden, als die Zahl, mit welcher sie das alte bestattet. Und Disraeli hatte in seiner Rede in Buckinghamshire, das nur Tories gewählt, wahrscheinlich recht, als er sagte: wenn auch nicht numerisch in absoluter Majorität, so werde doch im neuen Parlamente die konservative „Gesinnung" (sentiment) das Übergewicht behaupten. John Bright hat Disraelis „lateral reform", welche Chambregarnisten mit dem Wahlrecht beschenken will, bitter angefeindet und sich auf seine eigene „vertical reform" gestemmt. Russell machte in seiner Rede über Reform vor drei Tagen in „diagonaler" Reform, die strahlenförmig Hinz von der Seite „lateral" und Kunz von unten „vertical" in den parlamentarischen Futtersack schieben will. Man wird immer subtiler und rein wissenschaftlich. Der Arbeiter, dem die Radikalen durchaus einreden wollen, er könne ohne Wahlrecht sich nicht wohl befinden, kratzte sich bei manchen solcher Wahlreden wohl den Kopf und fühlte sich auch aus anderen Gründen ziemlich „horizontal" am späten Abend nach der Vorwahl mit Händeaufheben, wo Kind und Kegel mitheben darf. Wer das richtige parlamentarische Parallelepipedon am Ende konstruieren wird, ist abzuwarten. Splittert man die Begriffe noch feiner, so wird man eines berühmten Rechenmeisters, wie Meyer Hirsch, des Schreckens der Quartaner, bedürfen, der einige Gleichungen erfunden, und bei der des sechsten Grades den Verstand einbüßte. Übrigens „wählt" keiner mehr bei solchen Wahlen, als der NichtWähler. Das Verbum „to elect" (wählen) hat dabei eine ganz eigene Bedeutung. Ich sah am Sonnabend eine ältliche berauschte Dame (der Toilette nach) mit

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einem Kopfkissen unter dem Arm über das Pflaster schwanken. Von einem teilnehmenden Zirkel von Straßenjungen befragt, was sie vorhabe, rief sie: „Ich gehe ins Pfandhaus. Ich habe schon drei Tage gewählt, und niemand tut etwas für m i c h . " So „wählen" Hunderttausende, und da jedermann seine Hand bei der Händeschau mit emporheben kann, so macht er sich wenig daraus, ob er bei der wirklichen Wahl dem „Poll" noch das erforderliche schriftliche Votum gesetzlich abgeben darf oder nicht. Ohnehin Mangel an T i n t e oder am Schulmeister macht ihn dem Schriftlichen öfters abgeneigt. Den einen Wahlmord zu Cheltenham abgerechnet, wo ein wählender Apotheker einen wählenden Arbeiter mit einem Revolver erschossen, weil er die „Gelben M ü t z e n " (die Liberalen) leben ließ, sind von anderen Wahlszenen nur Curiosa zu melden. Der national-irische Ziegenhainer, der shillelagh (sprich Schilehla) fluschte in den Grafschaften, die nach einem Sprüchwort „westlich vom Gesetz" liegen. Ein Advokat Griffin zu Leamington gewann eine Wahl mit dem Programm: „Schutz für Insekten fressende Vögel" und „limitation of verm i n " (Würmervertilgung). Ein anderer schrieb auf sein Programm, nach dem Muster jenes Wiener „hölzernen Trompetenmachers": „I am for the adult suffrage o f men and w o m a n " (Ich bin für das erwachsene Stimmrecht von M ä n n e r n und Weibern). Ein dritter verhieß ein neues System der Auswanderung „um den NichtWählern das Mittel zu zeigen, wie sie gegen Besteuerung ohne Wahlrecht" operieren könnten. Sie sollten in Masse nach Bunkershill (in Amerika jener Berg, wo eine entscheidende Schlacht von den Yankees gegen die Engländer gewonnen wurde) auswandern und die normannischen Tyrannen ihre Äcker selbst pflügen und ihre Bergwerke selbst ausbeuten lassen. Auch der M a n n wurde gewählt. Ein alter biederer Tory meinte seine Rede vortrefflich, aber er wurde hochpoetisch und fiel durch. Er sagte: „Sollte die Tory-Partei in Stücke gehen, so wird man mich im Unterhause treffen, mit dem Reste, gleich der Königsrobe in des Propheten H a n d . " Der Ex-Eisenbahnkönig Hudson, der in seinem Badeorte Whitby beinahe gewählt worden, wurde vierundzwanzig Stunden vorher von einem Gläubiger in den Schuldarrest gebracht. Netter und reinlicher konnte der Mann nicht ausgelöscht werden. Einen seltsamen Parlamentsmann schickt das vornehme Edinburg: das klassische Schottentum der Stadt konnte der Übermacht kleiner Krämer nicht standhalten, die sich wie ein Mann zusammenrotteten und den 84jährigen Liberalen M a c Laren durchsetzten. Selbst die liberalen Blätter „hätten das von den Edinburgern nicht gedacht". Der „Daily Telegr." beschreibt ihn wörtlich: „Alle anständigen Leute stimmten gegen ihn. Er repräsentiert nur die schmutzigsten Gesichter, die Seele der

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,vulgären Fraktionen', die verachtete Spitze des Schwanzes der Brightschen Urwählerschaften. Er ist von Kopf bis zu Fuß nackte, kaltblütige, kalkulierende Selbstsucht, passend für einen Club von Käsekrämern." Auch andere Schilderungen erinnern an eine Kopie jenes Deputierten zur Berliner National-Versammlung, der in gelben Schlappschuhen in den Redesaal trat und, um die Diätengelder zu schonen, in einem Keller logierte. Doch es ist ganz gut, daß so ein Individuum zum ersten Male im House of Commons unter Gentlemen erscheint. Er wird ein „abschrekkendes Beispiel" dafür bieten, wohin das Liebäugeln mit dem „großen Ungewaschenen" der Straße führen würde, wenn die Radikalen mit der vertikalen Reform in die Tiefe bohren dürften. — Russells Sohn, Viscount Amberley, ist in Leeds durchgefallen. Er hatte in zwei Probereden schon dreimal die Farbe gewechselt und endete mit „durchsichtigem" Radikalismus. Erfahrungen über eine undankbare Volksgunst machten mehrere Parlamentsmänner von altem Datum. Einzelne verloren ihren Sitz, den sie 28 — 30 Jahre lang behauptet. Entweder hatten sie für die Bill zur Beschränkung der Verkaufsstunden in Wirtshäusern oder kurz vor Toresschluß noch für den „ausgeschiedenen" Lordkanzler bei dem bekannten Tadelsvotum gestimmt. Das entschied bei der Wahl gegen sie. — Ob wohl die österreichischen Blätter jetzt fleißig aus den hiesigen Journalen übersetzen? Diese bringen jetzt ein Vivat über das andere für Österreich. Zwei Zitate genügen. „Preußen ist die einzige Macht Europas, welche ein Hindernis für die Realisation der wohlwollenden und weisen Ideen bildet, die der Kaiser der Franzosen so lange mit Vorliebe genährt. Aber Österreich stand nie höher in der Achtung Europas, als jetzt." Ein Dito: „Österreich ist gerecht in der Ökonomie, liberal und mehr und mehr gesteht es der öffentlichen Meinung die Suprematie zu, welche nimmermehr überwältigt werden kann; aber Preußen steht gegen die Zivilisation auf." Letzteres schreibt die konservative Sunday Times. Alles Dank dem „Patriotismus" der Abgeordneten zu Berlin vom Jahre 1865. [Nr. 168, 21. 7. 1865] Das Wahlresultat. Smith und Miller Charles Babbage als parlamentarischer Reformer Vermächtnis p::" London, 24. Juli Die Wahlen sind zu Ende. Liberale Blätter rechnen heraus, daß die liberale Majorität 72 betrage, konservative streichen mehr als zwei Dritteile

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d a v o n weg. Wozu diese Berechnungen? Diejenige Partei wird die stärkere sein, welche die meisten Leute zählt, die „ d a " sind, w e n n es sich u m eine A b s t i m m u n g handelt, und die nicht in Interlaken und in Baden-Baden besser Bescheid wissen, als auf ihren k a l t g e w o r d e n e n Strecksitzen im britischen Parlamente. M a n hat es einzelnen nachgerechnet, d a ß sie w ä h rend der ganzen langjährigen Parlamentssession nur 11- oder 13mal sich das H a u s von inwendig angesehen h a b e n , u m sich, wie regelmäßige Kollegien-Schwänzer, von der Presse ihr „ b e s u c h t " testieren zu lassen. In diesem P u n k t e wird es schwerlich besser w e r d e n . Bei keiner einzigen Wahl w u r d e ein P a r l a m e n t s m a n n dieserhalb interpelliert, und so w e r d e n wieder, wie sonst, h u n d e r t M e m b e r s f ü r alle arbeiten, reden u n d , was das einzige Bedenkliche ist, auch s t i m m e n . Eines der ersten Geschäfte wird eine S u m m e von A n t r ä g e n auf Wahlvernichtung bilden, wie gewöhnlich. Smith hat bestochen, o h n e gewählt zu w e r d e n , u n d verklagt Miller, der auch bestochen, aber gewählt w u r d e . Etwas der Art passiert u. a. einem Mr. W a l d r o w in Palmerstons W a h l o r t T i v e r t o n . Der durchgefallene P o l e n f r e u n d u n d D e n m a n will Beweise vorlegen, d a ß die M a j o r i tät von drei Stimmen, die ihn entsetzte, d e m Gegner aus den Voten von drei Wahnsinnigen zugute g e k o m m e n , welche der b e t r e f f e n d e Wahlagent sich in einem Privat-Irrenhause k a u f t e . Dies als Probe. — Als ich in meinem letzten Schreiben scherzhaft darauf hindeutete, die verschiedenen Sorten von vorgeschlagenen W a h l r e f o r m e n schienen sich bereits in die u n b e k a n n t e n Gleichungen der höheren Algebra zu versteigen, die n u r ein neuer Rechen-Virtuose, wie der verstorbene Meyer Hirsch, lösen w ü r d e , glaubte ich nicht, der Scherz w e r d e schon in sieben Tagen Wirklichkeit werden. Er ist da, der Meyer Hirsch! M i t d e m einzigen Unterschied, d a ß er dieses Mal Charles Babbage heißt, Englands H a u p t m a t h e matiker, den buchstäblich jedes Kind in L o n d o n kennengelernt hat, den jeder Zeitungsleser kennt, weil zahllose k o m i s c h e Leitartikel über den menschenfeindlichen H e r r n Professor geschrieben w e r d e n . D e n n er w a r es, der den Krieg gegen die jeden guten Rechner störenden Leierkastenspieler italischer Z u n g e , die L o n d o n lange ü b e r s c h w ä r m t e n 2 8 , auf der Gasse b e g o n n e n . Er leistete viel im „Arretieren" vor seiner H a u s t ü r . Wie o f t er widerspenstige D r e h o r g l e r vor Gericht g e b r a c h t , ist nicht nachzurechnen. Sein Straßenviertel ist das stillste L o n d o n s g e w o r d e n . Keine kleinen Kinder h ü p f e n mehr d o r t nach den T ö n e n Verdis auf dem Pfla-

2S

Vgl. F.s echte Κ ν. 2. Juli 1856: D e r S t r a ß e n l ä r m in L o n d o n und seine Folgen, in: NFA XVIII/2, S. 685 f. u n d die Glosse, A n h a n g , 15. Mai 1861.

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ster. Noch mehr, Babbage zog die Aufmerksamkeit des großen Bierbrauers und Parlamentsmannes Baß auf sich und dieser fühlte dem erbitterten Gelehrten den H a ß gegen die Drehorgeln nach und setzte eine Bill durch, die jeden Hausbewohner ermächtigt, einen störrischen Orgelspieler erst zu verwarnen und, wenn dies vergeblich ist, ihm sogar mitten im schönsten Gedudel Rossinischer Arien dem Policeman zur „Besorgung" zu überantworten. Von dem Drehorgelkrieg zur parlamentarischen Schriftstellerei ist auch nur „ein Schritt" 2 9 . Diesen Schritt tat Babbage und kritisierte soeben die Parlamentsreform in einer arithmetisch erfreulichen Broschüre 3 0 . Nach diesem britischen Meyer Hirsch ist jedes „Individuum" berechtigt 1) zu einem Einzelvotum zum Schutz persönlicher Freiheit, 2) zu einer Zahl von Voten im Verhältnis zum jährlichen Ertrage seines Eigentums während des Jahres, in welchem dieses Eigentum Schutz zu erhalten hatte. Eine Art logarithmischer Tafeln, die beigefügt, beweist, die Zahl der einem Individuum zustehenden Voten schwanke zwischen 1 und 1,024! Ich mache nie wieder einen Scherz über Wahlreform, wenn er so eintrifft, und der Ernst so meisterhaft unverständlich wird. Auch an einer neuen Art „ R e f o r m " fehlt es nicht. Sie wachsen, wie die Rhabarberpflanzen, nur desto schneller, je mehr man daran zerrt und reißt. Diesmal ist es keine vertikale, keine laterale, keine horizontale oder diagonale Reform, sondern eine „ökonomische". Der Parlamentsmann, der sich damit seinen Wählern empfohlen, will jedermann als wahlberechtigt hinstellen, der ein Sparkassenbuch über 50 Pfd. Sterling vorlegen kann. Das würde den Sparkassen sehr auf die Absätze helfen, da ihre Honettetät ohnehin jüngst durch zahlreiche Enthüllungsprozesse sehr gelitten hat und viele sich in Mißfallen aufgelöst haben. Der Plan hat natürlich schon Leitartikel veranlaßt, die unvermeidlich sind. Überhaupt mache nur einer den kleinsten dummen Streich mit einem Anschein von Originalität, und er wird berühmt gemacht in einem Leitartikel. Schon am nächsten Morgen kann er sich „im Blättchen lesen". Es scheint, die „ R e f o r m " werde fixe Idee vieler Leute der politisierenden Zeitungs-Sippen. Ein liberal-konservatives Blatt, das mit einem Bein auf dem Trockenen, mit dem andern im Essig steht, schlägt vor, Gladstone und seinen siegreichen Gegner bei der Wahl in Oxford, Hardy, in zwei abgesonderte Zimmer einzuschließen, wo jeder sein Exercitium über Wahlreform ausarbeiten solle, um doch endlich zu einer Vergleichs£>as/s

29 30

Vgl. Anm. zu Κ London, 31. Dezember 1864. Thoughts Upon an Extension of the Franchise, London 1865.

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zu kommen. John Bright ist eigentlich der klarste. Nach ihm, wie er eben gesprochen, gibt es 7. 000. 000 erwachsene Briten, von denen 1. 200. 000 sich des parlamentarischen Wahlrechts erfreuten, während die übrigen 5'/2 Millionen darauf „warteten". — Ein besseres Argument gegen Urwahlen und Klassen-Überschwemmung konnte dieser Reformer kaum anwenden, als diese Zahlenmasse, wie er sie ausgerechnet. — Seitdem vor zwei Jahren Disraeli wegen seiner „schönen Novellen" von einer in der Provinz verstorbenen jüdischen Dame mit 40.000 Lstr. im Testament bedacht wurde, ist der Editor des radikalen „Morning Advertiser" Mr. Grant, wieder der erste Literat, dem etwas vermacht wurde. Es war kein verstorbener Onkel, sondern ein Seekapitän Mr. Montagu, der zum Neide aller Editoren diesem 1000 Lstr. wegen „großer Gelehrsamkeit, moralischer Beständigkeit und exquisiter Subtilität" testamentarisch vermachte. Leider ist der Testator sofort für verrückt erklärt worden und das Testament mit Nachdruck angefochten, was die Beileid fühlenden Journale nicht verfehlen der Gratulation ihres Kollegen beizufügen. — Es ist hierher berichtet worden, daß die Amerikaner beabsichtigen, sobald sich der transatlantische Telegraph zwei Monate hindurch bewährt haben sollte, ein oder zwei andere unterseeische Telegraphenkabel auf ihre Rechnung zwischen Amerika und Europa unternehmen zu wollen, da sie sich dem exorbitanten Tarif der englischen Gesellschaft, als einem „drückenden Monopol", auf die Dauer nicht fügen wollten. [Nr. 174, 28. 7. 1865]

Die Abgeordneten in Köln. „Testimonials" oder „ganz England als wechselseitige Bewunderungs-Gesellschaft" Zu den Wahlen. Die Unberechenbaren in Abessinien p* London , 1. August „You are not allowed to eat your dinner in Prussia nowadays!" (Man darf in Preußen jetzt nicht mehr zu Mittag essen.) So bin ich in der Tat mehrfach über mein Vaterland bekomplimentiert worden. So wird die Kölner Affäre wohl hier und da im Publikum verstanden, und vornehmlich wegen der Kompott-Verneinung „fühlt" John Bull wirklich mit den Abgeordneten. Da Wellington einst gesagt: „Gebt mir 10.000 ganz satte Engländer, 10.000 halb-hungrige Schotten und 10.000 halb-trunkene Irländer, und ich biete der Welt die Spitze", so versteht der Engländer

London , 1. August

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nicht, weshalb die Abgeordneten zu Köln, in Deutz oder in Nassau nicht Barrikaden bauten, um ihr unterbrochenes Diner zu rächen. Mehrere Blätter versagen ihnen dieserhalb gänzlich ihren Respekt. Auch im übrigen sind die Urteile sehr fade, sehr leichtfertig und sehr oberflächlich. Daß nach 1861 eine Parlamentsakte des britischen Parlaments strenge empfiehlt, in Irland allen Parteidemonstrationen mit Fahnen und Insignien im polizeilichen Wege den Garaus zu machen, vergessen die Raisonneure. Ein Engländer, den ich daran erinnerte, er möge doch an Irlands Maßregelung durch einige hundert Präventiv-Gesetze aller Art denken, ehe er über das Ausland urteile, ohne zu wissen, was „unter" einer Schüssel läge, erwiderte: „Irland! J a , sehen Sie, die Irländer sind so kuriose Leute." Ein Blatt äußert: „Es ist nur deutsche Sitte, zu gleicher Zeit essen, trinken und reden zu können." Gegen diesen Vorwurf nehme ich die preußischen Abgeordneten sogar in Schutz. Das ist mehr oder weniger englischer Einfuhrartikel. Wer hier bei einem öffentlichen Diner drei Bissen genießen kann, ohne den letzten über dem Anhören eines gestammelten langen Toastes kaltwerden lassen zu müssen, kann von Glück sagen. Einem Toast in England zu entgehen, wird indessen bald nicht weniger schwer werden, als einem öffentlichen Testimonium oder gar einem Monument. Satiriker nennen die englische Nation bereits „a mutual admiration society" (eine wechselseitige Bewunderungs-Gesellschaft). Ein „Testimonial" ist das Gesuchteste; es wird darunter eines jener kleinen Geschenke verstanden, welche bekanntlich die Freundschaft erhalten sollen. Bei der Jugend bleibt man bei dem versilberten Pustrohr oder der zierlich gemeißelten Ballkelle stehen, bei dem Riflecorps vertreten Signalhörner, auf grüner Wiese von weißgekleideten Ladies überreicht, die Stelle; bei Älteren wird die Mode sehr geschätzt, mit einer Börse, die 100 goldene Sovereigns enthält, beschenkt zu werden. Wie das sich arrangiert, davon ein Beispiel, das eben die Runde in den Blättern macht. Ein kleiner Beamter in Southwark (Süd-London) berief einige Freunde und teilte ihnen mit, alle seine Kollegen hätten öffentliche „Testimonials" wegen dieser oder jener Verdienste erhalten. Er fühle sich nun auch an der Reihe. Die Freunde kollektierten 16 Pfund und der Antragsteller selbst legte die fehlenden 84 hinzu. Dann wurden die Reporters der Presse eingeladen und dem betreffenden die übliche seidene Börse mit 100 Sovereigns überreicht. Bei der Dankrede überkam ihn die Rührung verschiedene Male sehr heftig, wie die Berichte versicherten. Hat ein Gentleman Malheur in Calico und passiert er durch die weiten Maschen des Bankeruttgerichtshofes, so muß er sein „testimonial of

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sympathy" haben. Hat er Glück und bezahlt seine Schulden, so bek o m m t er ein öffentliches „testimonial of esteem". Wird er von einem Omnibus übergefahren, erhält er eines als Pflaster für den Schaden. Fährt er einen anderen über, so erhält er ein testimonial von seinen Freunden, zur Bestätigung, daß sie glauben, er habe nichts dafür gekonnt. Kommt er in Kriminal-Verdacht, erhält er ein „testimonial in demonstration of his innocence". Kommt er in keinen Verdacht, so wird ihm ein solches zuteil wegen „unbefleckter Reputation". Ist er leichenhaft mager, so heißt es dabei: Nimm diese Standuhr als ein „Memorial of pity". Ist er feist und fröhlich, heißt es: „Nimm diese Dose als Gesundheits-Gratulation." Bricht eine Bank und ruiniert Hunderte, so bildet sich eine „influential committee" und verlangt in Annoncen Subskriptionen zu einem „testominial" für den chairman, auf den Grund hin, daß seine Gefühle vielleicht verletzt und sein guter Ruf der Gefahr ausgesetzt worden. Ein entlassener Eisenbahn-Schaffner erhält ein testimonial, weil er weggejagt; bleibt er im Dienste, erhält er eines, weil er nicht weggejagt. Das Ganze ist ein raffiniertes System von verkleideter Bettelei, und die Industrie bemächtigt sich dieser hohlen Sentimentalität und fabriziert Testimonials von 5 Schilling aufwärts bis in die Hunderte von Pfunden. Die obigen Dinge sind keine Illustration des Humors, sie sind wirklich und passieren alle Tage. Für jede Licht- und Schattenseite existiert eine Taxe der Belohnung, und der Schacher wirft alle Tage mit Würsten nach Speckseiten um sich. Blamierte Aldermen, unglückliche Genies (kommerzielle, heißt das), glückliche Strohköpfe, erfolgreiche Schwachköpfe, Talente mit Pech, treue Liebhaber und kostbedürftige Politiker, die sich den Vorurteilen akkommodieren, Preisboxer, Abenteurer, sie kommen alle an die Reihe mit einem „Benefiz". Man rührt einen Brei aus Phrasen und fadenscheiniger Moral zusammen und nennt es „öffentliches Gewissen". — Nachträglich laufen noch allerlei Anekdoten über die beendeten Wahlen ein. Ein Tory wurde in Wales bei seiner Wahlrede mit toten Kaninchen (!) eine Viertelstunde lang bombardiert, bis er abtrat; dies galt als Strafe, weil er für ein strenges Wilddiebstahlgesetz gestimmt. Lord Elcho ließ Zigarren herumpräsentieren, als er sich zu einer liberalkonservativen Rede räusperte. Man warf sie ihm ins Gesicht und er kam nicht zu Worten. Ein vielgenannter Parlamentsmann war nur eine Stunde gewählt. Es war dies Pope Hennessy, der enragierte Polenfreund. Er hatte eben seinen Wählern gedankt und der durchgefallene Kandidat eine Abschiedsrede halb vorgetragen, als die offiziellen Stimmzähler Hennessy erklärten, sie hätten sich um sechs Stimmer verrechnet, der andere habe

L o n d o n , 1. August

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diese mehr. Hennessy verschwindet. D a s Gericht wird drei Personen wegen W a h l m o r d e s zu verurteilen haben; d a v o n k o m m e n zwei auf England, einer auf Irland, das indessen an „ n a c h t r ä g l i c h e m " Gemetzel seitens der O r a n g e m ä n n e r n o c h eine schlimme Bilanz zu seinen Ungunsten zutage gebracht. J e d e r m a n n m a c h t e schon den Irländern Komplimente, d a ß sie sich viel respektabler bei den W a h l s t ü r m e n b e n o m m e n , als die „Sassen a c h " in England. Indessen ist ein Aber dabei. Wir hören erst jetzt, d a ß , w o es a m ruhigsten in Irland zugegangen, die Wähler g r u p p e n w e i s e durch D r a g o n e r oder Infanteriepikets als Schutz-Eskorten zur Abstimm u n g begleitet w e r d e n m u ß t e n . — Schon vor mehreren M o n a t e n packten britische Regierungsräte in der offiziellen P a c k k a m m e r von D o w n i n g Street ganze H a u f e n von Geschenken f ü r den Kaiser von Abessinien zus a m m e n , u m ihn zur H e r a u s g a b e des englischen Konsuls C a m e r o n zu vermögen. Lange fehlte es an einem M u t i g e n , der die persönliche Konfiskation riskierend, sich in die H ö h l e des Löwen wagen w ü r d e . Jetzt haben sich drei g e f u n d e n , Dr. Becke, ein persönlicher Freund des N e g e r f ü r sten, Sir William C o c h l a n , G o u v e r n e u r von Aden, und Mr. Palgrave, ein geschätzter Wüstenreisender, der sich die Sahara schon m e h r e r e Mal von hinten angesehen und Arabia felix et infelix nach allen Richtungen bereist hat. Ein Blatt bemerkt: „Wir k ö n n e n aber k ü n f t i g nicht m e h r einen Engländer nach d e m anderen nach Abessinien senden, o h n e einen wieder h e r a u s z u b e k o m m e n . Jedenfalls hat Lord Russell schon sein U l t i m a t u m e r w o g e n . " Möglich, aber die Galla-Neger wissen, w a s von solchem Ultim a t u m zu halten u n d das „civis Britannicus s u m ! " 3 1 m a c h t auf diese U n b e r e c h e n b a r e n keinen E i n d r u c k mehr. — Die liberale Presse legt viel N a c h d r u c k d a r a u f , d a ß Gladstone u n m i t t e l b a r nach seinem Wahlsieg in Lancashire zur königlichen Tafel befohlen w u r d e , und m a n e r w ä h n t dabei, d a ß u m dieselbe Zeit „Garibaldis E n g l ä n d e r " Colonel Peard diese Ehre seitens des Prinzen von Wales in Cornwallis zuteil w u r d e . Es sind erst wenige Jahre, d a ß einzelne britische O r g a n e diesem G a r i b a l d i n e r wegen seiner „brutalen S c h i e ß ü b u n g e n " im letzten italienischen Kriege sehr übel mitspielten als einem M e n s c h e n , der auf eigene Faust sich seinen Sport auf Menschenleben ausgesucht. — Einbrecher h a b e n Lord Palmerston 800 P f u n d u n d seinen Ehrenbürgerbrief der Stadt G l a s g o w gestohlen. [Nr. 180. 4. 8. 1865] !1

Analogie zu „Civis R o m a n u s s u m " , vgl. A n m . zu Κ L o n d o n , 12. Februar

1862.

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1865 To the sea-side. Mssrs. Scully und Pope Hennessy Das Kabel. Yankee-Exempel. Keine Austern

ρ* London, 9. August Die Londoner Saison ist vorüber. „The family is gone to the sea-side" (die Familie ist im Seebade), ist der Bescheid an vieltausend Türen, auch wo die Leute zu Hause sind, aber des „respektablen Scheines" wegen die Fenster verhängen und hinten hinaus logieren. So war auch Abd-el-Kader zu spät gekommen, um noch zum „Löwen des Tages" gemacht zu werden, obwohl die Presse ihn als einen „muhamedanischen Gentleman von allerhöchster Distinktion" der Courtoisie der Autoritäten empfohlen. Man hat ihm den eben pensionierten Direktor des Britischen Museums, Professor Panizzi, als Führer durch die Kuriositäten der Weltstadt beigesellt, desgleichen zwei andere Professoren, einen von der Universität Londons, den anderen von der Glasgows, einer wißbegierigen japanischen Reisegesellschaft als Instruktoren auf einer industriellen Spritzfahrt durch die englischen Fabrikstädte mitgegeben. Prinz Satsuma hat diese japanesischen Jünglinge hierher geschickt. Bei dem anerkannten Talente jener Insulaner für mechanische Kunststücke kann die Reise mit Nutzen vor sich gehen, falls sie nicht in die Lage kommen (wie der japanischen Gesandtschaft von 1863 passierte) bei ihrer Rückkehr in die Heimat mit dem Privilegium beehrt zu werden, sich kunstgemäß selber aufschlitzen zu dürfen. (Ist wohl nur so erzählt worden.) — Die beendeten Parlamentswahlen gestatten noch eine kleine nachträgliche Ährenlese, auch Dornen darunter. Der durchgefallene Irländer Vincent Scully ist ein Knabe, der gefährlich geworden. Er hat eine Entdeckung gemacht, die, wenn haltbar und mit Zähigkeit verfolgt, das halbe Unterhaus wieder vor die Tür setzt. Bei den letzten Wahlen haben „Deputy-sheriffs", d. h. amtliche Stellvertreter der Sheriffs in Stadt und Land, als Wahlkommissarien bei den Wahlen fungiert. So geschah [es] auch in Cork, und Mr. Scully, von seiner Nichtwahl unangenehm berührt, hat unter den anderthalb Millionen englischer Gesetze usw. eine Parlamentsakte, betitelt „Act of 1st. George IV.", aufgestöbert, die da anordnet, daß niemand als Deputy-Sheriff fungieren dürfe, der nicht eigenen Grund und Boden zum jährlichen Ertragswerte von 5 0 Lstr., nach Abzug der Abgaben, besäße und dies eidlich versichert habe, ehe er mit jenem Amte bekleidet wurde. Man hat hier die Ansicht, daß diese Akte schon seit langem in Vergessenheit gekommen und mit zahllosen Deputy-Sheriffs auch eben-

London, 9. August

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soviele Parlamentswahlen null und nichtig werden m ü ß t e n , gelänge es dem Entdecker, seine Vernichtungspolitik in diesem Falle bis in ihre äußersten Konsequenzen mit H ü l f e des unermeßlichen Apparats englischer Gesetzeskniffe durchzusetzen. Ein anderer Irländer Pope Hennessy (Polenfreund), gewählt und wegen Rechenfehler des Stimmzählers wieder entsetzt, soll alle Aussicht haben, dennoch für dieselbe Grafschaft in das Parlament zu k o m m e n . Nach der „Irish Times" hat sich derjenige, welcher den ersten Rechenfehler entdeckte, um 14 Stimmen wiederum verrechnet, welche Hennessy zugute kämen. So verlöre mithin Polen seinen irischen Pfeifer dennoch nicht im Parlamente. Wie es bei den alten Griechen Sitte war, nach der Schlacht eine gemeinsame T r o p h ä e auf der Wahlstatt zu errichten, scheint ein ähnliches Vornehmen auch zwischen der Universität O x f o r d und Gladstone sich vorzubereiten. Die letzterem günstig gewesene Minorität der Wähler beabsichtigt, Gladstones 18jähriger Vertreterschaft ein M o n u m e n t zu setzen und zwar durch G r ü n d u n g eines „Gladstone-Stipendiums" f ü r schöne Literatur. — Was ein britischer D i p l o m a t von jetzt an alles wissen m u ß , lernt m a n aus einer neuen „pass e x a m i n a t i o n " (Prüfungsvorschrift), die Lord Russell soeben für die „junior m e m b e r s " des diplomatischen Dienstes eingeführt hat. Der „Kandidat" m u ß erstens über 26 J a h r alt sein, Latein verstehen, ebenso über das erste Buch des alten M a t h e m a t i k u s Euklid völlig im klaren sein, in der Arithmetik mit den Dezimalbrüchen nicht in die Brüche k o m m e n , auch im Französischen und Deutschen taktfest sein, mit guter englischer G r a m m a t i k auch eine Kenntnis der „constitutional history of England" verbinden, in der ja auch Russell sich unvergeßlich gemacht, und schließlich mit der politischen Geschichte Europas und der Vereinigten Staaten von 1815 bis — 1860 gründliche Vertrautheit entwickeln. Bis 1860! Der edle Lord w u ß t e sicherlich, was er mit dieser Jahresziffer meinte, und will dem Kandidaten vielleicht die Lektüre der unermeßlichen Depeschenliteratur bis 1864 ersparen, w o gewisse Lorbeern fielen. Von seinem eigenen abschreckenden Beispiel vermutlich erschüttert, verordnet der edle Lord noch am Schluß des Reglements, d a ß der diplomatische Aspirant ja sich einer „präzisen Schreibart" befleißigen müsse. Doch das geht eigentlich in Z u k u n f t keinen Dänen mehr etwas an. — Nach dem Tone der hiesigen Blätter zu schließen, legt man die traurige Bekanntmachung der Kompanie, d a ß sie bis auf weiteres die Bulletins über das Befinden des atlantischen Telegraphenkabels wegen Mangels aller Lebenszeichen einzustellen gedenke, dahin aus, d a ß die Sache für mißlun-

T h e Breaking of t h e Atlantic Telegraph C a b l e on Board t h e " G r e a t E a s t e r n "

gen gehalten wird, wenigstens für 1865. Die Depeschen aus Valentia, „tote Erde", beweisen einen „Bruch" oder absichtlichen „Schnitt", u n d , w e n n die betreffenden Kalkulationsmaschinen nicht trügen, gegen 1200 Meilen weit von der irischen Küste an einer Stelle, w o der Boden des O z e a n s sich in Alpen und Täler spaltet. Auch „ P u n c h " , der einst die Ungeheuer der Tiefe in einer Fehde gegen das Kabel darstellte, k a n n möglicherweise das Richtige vorgeahnt u n d eine Seekuh oder eine Seeschlange, der eine Depesche in den M a g e n gefahren, G u t t a p e r c h a f ü r gute Prise erklärt h a b e n . Es w ä r e dies das dritte Fiasco eines solchen U n t e r n e h m e n s . D e n A k t i e n - I n h a b e r n gelang es schon a m Freitage k a u m noch, ihre Aktien mit „58 Guineen p e r c e n t " zu verassekurieren. Jeder N i c h t - A k t i o n ä r trägt die Sache natürlich leichter, u n d an denen, die plötzlich rufen: „ H a b e n wir es nicht vorausgesagt?" ist nach solcher Niederlage, wie immer, kein Mangel. A n d e r e weisen auf die „transsibirische und Pazifik-Linie" als die sicherste hin, deren Vollendung in etwa sechs J a h r e n zu e r w a r t e n stände. O d e r aber eine Linie mit Stationen auf den Faröer-Inseln und G r ö n l a n d wird wieder in Vorschlag gebracht, u n d eine

London, 15. August

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dritte von Portugal über die Azoren-Inseln und West-Indien. Nach dem Urteile eines Yankee, würden sich seine Landsleute sofort beeilen, Britannien nach diesem das Praevenire zu spielen, und ihr eben fertiges Gigantenschiff, der „Dunderberg", dabei die Rolle des englischen „Großen Ostschiffes" übernehmen können. „Kalkuliere", setzt er hinzu, „eine solche Kompanie sollte für die ersten Monate einen solchen Telegraphen für sich ausschließlich

arbeiten lassen; denn, vor aller Welt im frühesten

Besitze der Kurse zweier Erdteile, könnte sie an den Börsen soviel einsakken, als einzusacken ginge. Wäre sie dann zu ihren Auslagen gekommen, so wäre Zeit genug für die — Philanthropie." Wer will noch zweifeln, daß auch die Industrie ganz unberechenbare Genies hervorbringt. Da ich gerade beim Tiefwasser stehe, sei erwähnt, daß die Austernernte in diesem Jahre für überaus dürftig gehalten wird. Am Freitag wurde der erste Austernmarkt, wie alljährlich um diese Zeit, auf dem Fischmarkte Billingsgate zu London eröffnet; aber nur vier Schiffe kamen mit ihrer Ladung, wo sonst sich dreißig einstellten. Die Preise waren doppelt so hoch als sonst, und zum Leidwesen der heimatlichen Gourmands ist nicht zu verschweigen, daß „real natives" schon in zweiter Hand mit 6 Pfd. St. das Bushel bezahlt werden mußten. Auf manchen großen und berühmten Austernbänken ist nach dem Briefe eines trostlosen Mitgliedes des Athenäum-Clubs nicht eine einzige junge Auster gefunden, obwohl die Besitzer hohe Finderpreise ausgesetzt hatten. [Nr. 187, 12. 8. 1865]

195 neue Leute. Friedensfest Malmesbury und Gladstone Lady Jenkinson über Konservative p* London, 15. August Soweit es eine parlamentarische Carriere angeht, befinden sich nicht weniger als 195 neue Leute unter den Gewählten. Das beweist, wie eine ganz erhebliche Anzahl von Parlamentsmännern bei ihren Wählern in Ungunst gefallen. Man weiß von den meisten der Neulinge wenig mehr, als daß sie lange Börsen haben, ein Ding, ohne welches ein Parlamentsmitglied ohnehin nicht denkbar ist in England. Die Anstandsausgaben sind so große und vielfältige, daß auch der Radikalste unter ihnen ein Mann von Vermögen sein muß. Es ist dies ein goldenes Gegengewicht,

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1865

welches ihn selbst im Sturm der Passion verhindert, einen salto mortale zu schießen. Wie zwischen dem Abiturienten und der Universitäts-Matrikel ein Interim der Ferien steht, wo der Betreffende den Namen Mulus (Maulesel) mit angenehmen Vorahnungen hinnimmt, so auch mit den englischen „Neugewählten". Und die Ferien sind lange. Bekanntlich ist soeben das Parlament in aller Form vertagt, aber ohne die Klausel, die, wenn der neue Termin ernstlich gemeint, nie fehlt: „to meet for the despatch of business" (behufs Erledigung seiner Geschäfte). Diese Worte fehlen diesmal, was soviel bedeutet, als eine weitere Frist wird zugesichert. Das Parlament wird mithin erst zu der üblichen Zeit, der ersten Woche des Februar, zusammentreten, frühestens Ende Januar, um einen aus seiner Mitte zum Unparteiischen, zum „Sprecher" zu wählen. Der Sprecher des letzten Parlaments, Mr. Denison, ist ohnehin nicht wiedergewählt. Während Konservative, wie Seymour Fitzgerald, dem man trotz seiner Nichtwahl ein Festbankett veranstaltet, darauf hinweisen, daß im Grunde die Tories gesiegt, weil mit dem Namen Palmerston die meisten Liberalen vor ihre Wähler getreten, Palmerston aber durch und durch ein Tory sei, haben die Liberalen eine ganz andere Ansicht. Das „ergo" der ersteren hinkt, denn in der Politik ist zwei mal zwei nicht immer vier, mitunter auch fünf. Da Mr. Frederik Peel, infolge großen häuslichen Unglücks, sich aus dem Staatsdienste zurückgezogen, und diesem Austritt andere kleinere Vakanzen folgen, so ist in der Tat ein movement im Gange, die Stellen mit solchen Männern zu besetzen, die den Tories am unliebsten. Es kann sich ereignen, daß Mr. Stansfeld, der Intimus Mazzinis, der dem Andrängen der Tories weichen mußte, wieder in seinen alten Posten als einer der Lords der Admiralität eingeschoben wird. Das wäre ein erstes Zeichen, wie sicher die Offiziellen „im Hause" zu stehen hoffen. Palmerston tritt jetzt seine alljährlichen Ferienreisen an, zu Arbeiter-Meetings und Schulkindern, wo er immer seine dreimal drei Cheers erhält und Politik und Moral mit einer Art studentischem Jocus illustriert. Zuerst kommt Bristol an die Reihe, dann andere Städte, ausgenommen solche, wo die Partei John Brights die Hörer stellt. Die Gladstonianer ihrerseits sind nicht müßig. Sie sind auf einen völligen Galdstone-Cultus aus, mit einem „testimonial" zu beginnen, einem greifbaren und massiven, keiner Ausgabe von Biscuit-Porzellan-Büsten. Besondere Schwärmer wollen die Sache in internationalem Wege arrangieren. So wie jetzt die englisch-französische Allianz und der 50jährige Friede dadurch „bewiesen" wird, daß im Kristall-Palast englische Schlosserarbeiten und französische Quincaillerien friedlich beieinander ausgestellt wer-

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den, w a s m a n „Friedensfest" betitelt, — so vermeinen jene, auch das d a n k b a r e Frankreich h a b e sich f ü r den H a n d e l s v e r t r a g , einer H a u p t i d e e G l a d s t o n e s , erkenntlich zu zeigen. Wie m a n an der Seine d a r ü b e r d e n k e n mag, ist eine a n d e r e Sache. Jener H a n d e l s v e r t r a g ist nicht ganz o h n e Löwenanteil geblieben, aber auf dieser Seite. N a c h d e m hierher mitgeteilten R a p p o r t des französischen Handels-Ministers hat der dortige A u s f u h r h a n d e l im vergangenen Verwaltungs-Jahre u m nicht weniger als 63 Millionen Franken abgenommen. — Die neuliche K o r r e s p o n d e n z zwischen Lord Malmesbury und Mr. Gladstone, wobei ersterer die seinem f r ü h e r e n Kabinett v o r g e w o r f e n e Inszenesetzung des chinesischen Krieges rechtfertigt, hat noch ein Nachspiel gehabt. Jener Brief Lord M a l m e s bury enthielt einige „ g r a m m a t i s c h e Lizenzen" u n d da die Spötter s o f o r t dies m o n i e r t e n , w a r Se. L o r d s c h a f t zu einem zweiten Briefe genötigt, worin er sagt: „Jenes Schreiben w a r von Lady M a l m e s b u r y auf mein D i k t a t aufgesetzt u n d von mir nicht durchgesehen, sondern nur unterzeichnet u n d versiegelt. Myladys H a n d s c h r i f t ist u m so vieles leserlicher, als meine eigene. So glaubte ich, das w ü r d e f ü r Sie b e q u e m e r sein, u n d ich bin gewiß, d a ß Sie zu galant sind, u m in diesem Akte nicht einen Beweis m e h r f ü r meinen Respekt zu sehen." Gladstone soll hierauf gea n t w o r t e t h a b e n , er h a b e den männlichen Ton jenes ersten Briefes nicht v e r k a n n t , u n d nicht auf eine D a m e n h a n d geschlossen, da der Brief keine N a c h s c h r i f t g e h a b t hätte. Eine andere D a m e hat übrigens eine Art „Wahlrede" gehalten und eine gute. Es w a r dies Lady J e n k i n s o n , eine Irländerin. Bei einer Versammlung der begüterten Tories von Wiltshire, einem Bankett zu Ehren ihres G e m a h l s , erschien auch Lady J e n k i n s o n an seiner Seite und ä u ß e r t e u. a. in ihrer Ansprache: „Es w a r gestern unser silberner H o c h z e i t s t a g (in England nach d e m 20. J a h r e des Ehestandes). Wie ich meinen G a t t e n w a h r b e f u n d e n , so w e r d e n Sie ihn alle befinden. Er ist nie von der treuen Wahrheit gewichen, wie u n p o p u l ä r ihn auch dieselbe g e m a c h t , ja, wie sehr, von einem weltlichen Gesichtsp u n k t aus, ihm dies sogar z u m Nachteil gereicht hat. Er wird nie d a v o n abweichen. Ich w ü n s c h e allen a n w e s e n d e n verheirateten Ladies so nach 20 J a h r e n von ihren G a t t e n reden zu d ü r f e n . Seit meinem dritten J a h r e lebte ich unter Konservativen in einem katholischen Lande, in Irland, als Parteizwiste sich wild e n t s p a n n e n . Aber ich h a b e i m m e r gehört, d a ß die Konservativen die treuesten u n d w a h r s t e n Leute der Welt, u n d ich h a b e es i m m e r so g e f u n d e n . " Trefflich. Wäre d e m i m m e r so! — [Nr. 193, 19. 8. 1865]

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1865 Das geistliche Parlament. Gladstone und die Dissenter Der englische Maler und die Banditen

p* London, 26. August Es geschieht kaum in der auswärtigen Presse Erwähnung der jährlichen Sitzungen einer Art geistlichen Parlaments, der „Convocation", in der alten erzbischöflichen Stadt Canterbury in der Grafschaft Kent. Mir vorbehaltend, mit nächstem über die Zusammensetzung dieser Versammlungen nähere Angaben mitzuteilen, erwähne ich zur Zeit nur, daß unter den Mitgliedern der Staatskirche (church of England) die Zweckmäßigkeit diskutiert wird, jener „Convocation", deren Einfluß bisher nur ein beratender gewesen, „legislative, administrative and judicial functions" innerhalb eines gewissen Schemas zuzuwenden, wodurch dem Parlamente eine Anzahl von Arbeiten abgenommen würde. Es gelte, dem überaus tätigen römischen Katholizismus eine festere, praktische Organisation entgegenzusetzen, die nicht mit dieser oder jener Debatte im Parlamente stehe oder falle. Die Gegner bezeichnen diese Bestrebungen als auf das Gegenteil gerichtet, als puseyitische, als eine beabsichtigte Nachahmung von römischen Konzilien usw. Die Sache befindet sich noch in den ersten Stadien der Erörterung. Nicht zu übersehen ist jedoch, daß dieses Mal die offizielle „London Gazette" an einem und demselben Tage die Vertagung des Parlaments, sowie die der Konvokation von Canterbury enthielt, bei letzterer den Akt besonders als einen „Königlichen" bezeichnend.

Ohne Zweifel wird mehr darüber gehört werden. —

Freunde wie Gegner der Idee sind eins in ihrer Verwerfung der persönlichen Zusammenkünfte zwischen Gladstone und geistlichen Häuptern der Dissenters, — Zusammenkünfte, welche radikale Blätter als zufällige oder als solche gesellschaftlicher Courtoisie bezeichnen, die aber nach Ansicht aller, die Gladstones Rede in Liverpool, nach dem Bruche Oxford

in

verstanden, nicht auf die Interessen der Staatskirche gerichtet

sein können. Die Zahl der römisch-katholischen Kirchen in England und Schottland beläuft sich zur Zeit auf 1132, außerdem bestehen 58 „communities of men", 14 „convents" und 12 „colleges". Die Zahl der Geistlichen in England allein ist 1338, in Schottland 138. Dies versetzt viele Protestanten, wie die Zeitungen sich ausdrücken, in „tiefes Brauen" und hat Anlaß zu einem neuen Partei-Namen gegeben „Protestant Constitutionalists", welche sich mit der Erwägung beschäftigen, wie „die fahrlässigen Manieren des bestehenden reinen Protestantismus mit einer ent-

London, 26. August

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schiedenen u n d beständigen P h a l a n x gegen R o m s K a t h o l i k e n " zu vereinigen seien. Allerdings ein P r o b l e m , das mit sich selbst im W i d e r s p r u c h . — Statistische Broschüren mehren sich in England, u n d es ist nicht zu verkennen, d a ß m a n sich M ü h e gibt, die Z a h l e n g r u p p e n lesenswert zu m a c h e n . Die vor einigen Wochen ü b e r den „ Z e n s u s von 1861", bezüglich des ganzen britischen Reiches erschienenen vier H e f t e , welche das Werk k o m p l e t t m a c h e n , sind mit Geist und H u m o r sogar a b g e f a ß t . Sie sind ü b e r a u s interessant u n d f ü r den, welcher ältere oder neuere Geschichte Englands sich zum Studium g e w ä h l t , eine der w i l l k o m m e n s t e n Quellen, ja eine unerläßliche. Ferner ist ein u m f a n g r e i c h e s Blaubuch über das Befinden aller britischen Kolonien in 1863 soeben veröffentlicht. D a r i n heißt es unter a n d e r e m sehr lakonisch: St. Helena „von weißen Ameisen aufgefressen". Der G o u v e r n e u r des britischen C o l u m b i a meldet nichts als: „Ich bin in einem wilden L a n d e o h n e Papier und T i n t e u n d meistens (!) d u r c h Indianer abgeschnitten." Klassische Kürze! D e r G o u v e r n e u r von G a m b i a spricht mit E n t h u s i a s m u s von einer wichtigen E r f i n d u n g — Schnaps! In der Tat Schnaps, gegen das fürchterliche Klima e r f u n d e n durch den „ b e r ü h m t e n Witaey". Tasmania klagt über Mangel, hat aber doch 134 Millionen Lstr. an G o l d s t a u b u n d Goldkiesel an M a m a Britannia versendet. Südaustralien weiß mit seiner Weinfülle von 606.000 Gallonen „nichts a n z u f a n g e n " . G i b r a l t a r — ipsissima verba — „hat sich auf das Trinken von Bier, a n s t a t t spirits verlegt". M a l t a und H e l g o l a n d , sagt der R a p p o r t , haben nichts zu melden, als d a ß sie n o c h „die Ehre h a b e n , zu existieren". Was dazu w o h l so ein tief e r n s t h a f t e r teutonischer Statister sagen wird! — M a n erinnert sich einer heftigen D e b a t t e im letzten P a r l a m e n t e über das M a l h e u r eines englischen Malers, der nach „heroischem K a m p f e " von römischen Banditen gefangen, sich mit 50 Pfd. Sterl. loskaufen m u ß t e . Dieser „ G e f a n g e n e " war, wie jetzt sich herausstellt, ein „ T a r t a r " . Er hat die ganze Geschichte e r f u n d e n , um sich von seinen sonst so h a r t h ö r i g e n lieben Verwandten ein Taschengeld von 50 Pfd. Sterl. zu verschaffen, und n a c h d e m er alle Welt in Bewegung gesetzt, der englischen Presse einige Leitartikel abgelockt u n d sogar im P a r l a m e n t mit seinem N a m e n eine Rolle gespielt, v e r s c h w a n d er mit seinem m ü h s a m errungenen „Wechsel" aus R o m und „ w a r d nicht m e h r gesehen". D a s „ A t h e n a e u m " gibt diese A u f k l ä r u n g über jenen „ i n t e r n a t i o n a l e n " Kasus. — Die Katak o m b e n der Erbbegräbnisse unter d e m g r o ß e n L o n d o n e r K i r c h h o f e zu Kensal-Green im N o r d w e s t e n L o n d o n s sind von einem Feuer verheert.

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Auch bleierne Särge wichen der Glut. Ein Individuum versichert, schon vor 14 Tagen Rauch aus den Erdrissen quellen gesehen zu haben. Der Ursprung des Brandes ist noch unaufgeklärt. [Nr. 202, 30. 8. 1865]

Lumpen und Belgien. Zur Illustration von Brüderlichkeit Flotte Freunde. Eine Frau als duellsüchtiger Arzt Polnische Pseudografen p* London, 29. August Es passiert selten, daß Engländer dem Auslande ein Kompliment machen. Dieses Mal ist es Belgien, das in dieser Weise ausgezeichnet wird. Die Freigebung der Ausfuhr von Lumpen, von dem Minister Rogier, mit milden Übergängen zugesagt, versetzt einzelne Organe der Presse in Extase. „Das erste Bündel von alten drilles et chiffons, das zollfrei aus Belgien nach Albion gehen würde, sei eine größere Tat, als die ganze große Flotte bei Portsmouth" sagt das eine. „Die zerzausten Lumpen werden Mars in Fesseln schlagen, wie die Liliputaner den Riesen Gulliver" ruft ein zweites und der „Daily Telegraph" redet in seinem Leitartikel Herrn Rogier persönlich an: „Wir bewundern Ihr Vertrauen in gerechte Prinzipien. Sollte, was möglich ist, wir auch einmal an unseren Prinzipien ausbessern müssen, so werden wir uns glücklich schätzen, Ihren Wünschen entgegenzukommen. Wir kaufen ja Ihre Lumpen nur, um Ihnen Gutes zu tun und uns selber dazu, und das ist der einzige Grund, weshalb jeder ein Recht hat, für Freihandel zu reden. Wäre es allein für uns, so sind Sie zu sehr einer von den braves Beiges und zu weise, um uns mit den Francs Ihres Königlichen Herrn ein Präsent zu machen. Wäre es nur zu Ihrem Vorteile jedoch, so würden auch wir Sie nie dazu überredet haben, den angenehmen Artikel frei ausgehen zu lassen." Übrigens waren die englischen Papierfabrikanten infolge der Aufhebung der Papiersteuer schon lange wild, weil die Profite sich kaum noch „über 40 Prozent" erhalten ließen und die Ausländer ihnen den Markt verdürben. Machten sie doch der Regierung unter wirklich flehentlichen Lamentationen den Vorschlag, sofort einen Eingangszoll für ausländische Lumpen einzuführen, „sie wollten ja gern aus ihrer Tasche dafür bezahlen". — Die „Revue des deux Mondes" hat einen außerordentlichen Absatz in England. Es ist das einzige Produkt der französischen Presse, das der Engländer mit Vergnügen liest, „weil es so oft

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London, 29. August

f r e u n d l i c h e A r t i k e l ü b e r E n g l a n d e n t h ä l t " . D i e s ist w i e d e r u m d e r Fall g e w e s e n m i t e i n e m A r t i k e l ü b e r P a n z e r s c h i f f e , den m a n h i e r d e r F e d e r des P r i n z e n v o n Joinville

z u s c h r e i b t . D a in d e m s e l b e n e n t w i c k e l t w i r d ,

d a ß kein Schiff für K a n o n e n u n v e r w u n d b a r g e m a c h t werden k ö n n e , „die l e b e n d i g e W i s s e n s c h a f t " ( B o m b e ) i m m e r die „ r e i n m e c h a n i s c h e

Solidi-

t ä t " ( P a n z e r - P l a t t e ) b e m e i s t e r n m ü s s e , so k l a p p t dies s e h r a n g e n e h m m i t d e m R e s u l t a t e d e r f l o t t e n F l o t t e n - V e r b r ü d e r u n g zu C h e r b o u r g . A l s d e r e n R e s u l t a t b e z e i c h n e n e i n z e l n e O r g a n e , den F r a n z o s e n d a s B e k e n n t n i s a b g e l o c k t zu h a b e n , d a ß ihre S c h i f f s - A r t i l l e r i e d e r e n g l i s c h e n

nachstände.

D i e Eifersucht hatte auch bei jenen Festen einen B a n q u o s t u h l 3 2

inne,

d r e h e m a n die S a c h e w i e m a n w o l l e . E i n a u s C h e r b o u r g z u r ü c k g e k e h r t e r „ T a r " (Teerjacke) sagte: „Sprechen konnten wir nicht miteinander, aber w i r s c h ü t t e l t e n u n s alle f ü n f M i n u t e n die H ä n d e und t r a n k e n

stumm

und n i c k t e n d a z u . " W i r w e r d e n die n u n F r a t e r n i s i e r u n g d u r c h P a n t o m i m e n a u c h in P o r t s m o u t h h a b e n , d a s allein g e g e n 3 0 0 0 P f d S t r l . f ü r T a f e l gelder usw. subskribiert hat. Im niederen Volke hier stehen

übrigens

n o c h s o n d e r l i c h e A n s i c h t e n ü b e r F r e n c h m e n fest. „ D i e F r a n z o s e n e s s e n g e w ö h n l i c h (as a rule) F r ö s c h e u n d K n o b l a u c h " ; dies ist e i n e I n f o r m a t i o n , die e i n e m alle T a g e g e g e b e n w e r d e n k a n n ; dies ist i h n e n

ebenso

„ u n b e g r e i f l i c h " , wie der Kuß zwischen deutschen M ä n n e r n , der „ m o i s t a n d h a p p y " ( f e u c h t u n d g l ü c k l i c h ) sei. Ich h a b e t a u s e n d e v o n

Briten

g l e i c h z e i t i g in m i n u t e n l a n g e s L a c h e n a u s b r e c h e n s e h e n , als im K r i s t a l l p a l a s t e d e r T u r n w a r t des D e u t s c h e n V e r e i n s e i n e m P r e i s g e w i n n e r den o f f i z i e l l e n K u ß g a b . D a w a r k e i n e e n g l i s h lady, w e l c h e n i c h t r o t w u r d e . Da

ich

in k e i n e r S k i z z e a u s E n g l a n d

„Wohlanständigkeit"

diesen

kleinen

Zug

englischer

j e e r w ä h n t g e f u n d e n , sei e r h i e r n o t i e r t .

Sollten

F r a n z o s e n a u c h in g l e i c h e r M a n i e r F r e u n d s c h a f t b e s i e g e l n , s o ist a l l e r d i n g s n i c h t zu l e u g n e n , d a ß die B r i t e n bei d i e s e n A l l i a n z f e s t e n w e n i g zu s c h a u d e r n h a b e n . D i e s zur I l l u s t r a t i o n v o n

nicht

Brüderlichkeiten,

zivilen u n d i n t e r n a t i o n a l e n . W a s diesen a m m e i s t e n im W e g e s t e h t , ist die g a n z u n l e u g b a r e T a t s a c h e , d a ß F r a n z o s e n w i e E n g l ä n d e r , e i n e r des anderen

Sprache,

meistenteils

mesopotamisch

„aussprechen".

Einem

B l a t t e w i r d a u s P a r i s g e s c h r i e b e n : „ D i e A n g l o m a n i e ist a u f i h r e r H ö h e . W i r h a b e n j e d e r m a n n s g u t e s W o r t für u n s — z u r Z e i t . E s ist d e r allgem e i n e W u n s c h , d a ß die b e i d e n g r o ß e n N a t i o n e n f o r t f a h r e n m ö g e n , die b e s t e n F r e u n d e zu sein , a n d fleet

52

t h e t i m e c a r e l e s s l y as t h e y did in t h e

Anspielung auf Shakespaeres Macbeth, III, 4; vgl. auch Von vor und der Reise, Modernes Reisen (HFA I; 5, S. 3 9 8 ) .

nach

542

1865

golden age'", frei übersetzt „sich als flotte Freunde die Zeit zu vertreiben, wie im goldenen Zeitalter". Und wer opfert für den Zweck mehr, als der Franzose? Er bemüht sich, mit Passion das langweiligste aller Spiele, das „cricket", auf seinen grünen Wiesen zu spielen, holt er sich auch zahllose blaue Augen und Beulen. Man tröstet und encouragiert ihn hier dafür in Leitartikeln. „Mancher feiste Gallier stolpere zwar dabei und kollere wie ein seufzendes Nilpferd über den Rasen; aber es werde ihm gut tun und der Nation, wenn dies und andere englische Dinge dort in Scherz und Ernst national werden." — Viel besprochen wird eine zu Korfu gemachte Entdeckung. Dort lebte ein pensionierter englischer Militärarzt von Rang, Dr. Barry. Er hatte alle Examina mit Glanz bestanden und diente vierzig Jahre in der englischen Armee, unter Männern der Wissenschaft als ein vorzüglicher Chirurg gepriesen. Sein einziger Fehler war seine Duellwut. Er nahm die kleinste Meinungsverschiedenheit für „Tusch". In der Kapstadt schoß er einen Offizier durch die Lungen, weil er über das Wetter anderer Meinüng als er selber. Er wurde versetzt als Stabsarzt nach Malta, von da nach Gibraltar, von da wieder nach Malta und schließlich nach Korfu. Überall „forderte" er auf die leisesten Scherzworte hin, so daß es schließlich von Regiments wegen angeordnet wurde, von seinen Sticheleien und zänkischem Wesen keine Notiz mehr zu nehmen. Er starb vor kurzem als — Frau. Das Unglaubliche wurde bei der Beerdigung amtlich festgestellt. Der nimmermüde Duellant war eine Frau. A strange but true story. — Vor unseren Gerichten figurieren wieder polnische Pseudografen, wie das immer so nach mißlungenen polnischen Rebellionen hier und anderswo in Europa der Fall zu sein pflegt. Der eine borgt auf eine „russische Wunde", die niemand sieht; ein anderer rührt mit der Geschichte von einem verbrannten Großvater einer Lady Herz und behält ihre Uhr und Ringe zum Andenken. Ein dritter operierte auf alle Fälle; er litt als Pole an einem russischen Schwadronshieb unter der Kniekehle und kollektierte von Polenfreunden; er litt als Russe von einem polnischen Sensenhiebe am linken Ellenbogen und borgte von einzelnen Hochtories des Westend. Ein solcher „Graf", der Liebeleien mit mehreren young ladies in verschiedenen Stadtvierteln angeknüpft und diese zu einem Erpressungssystem ausspann, wurde vorgestern vom „Volke" zu Wandsworth im Süden Londons „gelyncht", d. h. angesichts schöner Augen in einen Teich geworfen, wo er am trübsten war, und mußte dann mit dunklem Teint durch die Gassen paradieren. Er nannte sich Count Czaskowisky. — Die schöne Literatur ist um eine neue Revue bereichert worden mit dem wunderli-

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London, 7. September

chen N a m e n „ T h e A n t i - T e a p o t R e v i e w " . Sie erklärt den Teetrinkern den Krieg. — Aus der politischen Welt nichts Neues. Es ist „große Stachelbeerenzeit", wie die Pariser solche unpolitische Stille bezeichnen, oder wenigstens die Saison der ganz kleinen R o s i n e n . [Nr. 205, 2. 9. 1865]

Die Tage von P o r t s m o u t h . Shoddy k o m m t „Ein schönes Trinken" Wer ruft das beste H u r r a h ? p* L o n d o n , 7. S e p t e m b e r „ D i e schönen T a g e von Spithead sind nun v o r ü b e r " 3 3 , ebenso die von P o r t s m o u t h und S o u t h s e a , w a s alles hübsch beieinander liegt. Und die Franzosen „verlassen uns g l ü c k l i c h e r " , was D o n C a r l o s nicht passierte. Southsea ist für E n g l a n d das, was der D ö n h o f s p l a t z für Berlin. Es wimmelt in j e n e r flachen B a y von K i n d e r m ä d c h e n und kleinen J u n g e n , welche die M u s c h e l n und Pieresel des C a n a l la M a n c h e auflesen. Hin und wieder sah ich dort sonst einen alten S e e m a n n am Flaggenstock lehnen und der J u g e n d mit breitem L ä c h e l n gestatten, um seine geräumigen Beine herum S a n d k u c h e n zu b a c k e n . D a s w a r einer der Schauplätze, w o die französischen G ä s t e sich ergingen. N a c h d e m man geschossen, d a ß den „wandernden G l a s e r n " h e b r ä i s c h e r Z u n g e , welche den Minstrel und den H a u s i e r e r überlebt h a b e n , sehr w o h l wurde, und friedlich getafelt hatte, folgte, was ein Franzose mit den W o r t e n bezeichnet: „Les dames c o m m e n c e n t a p i a f f e r . " M a n tanzte die Allianz. Weise w a r es, die Diners durch einen deutschen E n g l ä n d e r n a m e n s G ü n t e r herstellen zu lassen, noch weiser, statt englischer Weine (die werden auch geleistet!) die französische Firma R u i n a r t pere et fils den C h a m p a g n e r liefern zu lassen; a b e r das populärste w a r eine R a u c h p r o m e n a d e im Freien und auf wirklic h e m , englisch-grünem R a s e n . Es w a r W i r k l i c h k e i t d a m i t . M a n täuschte keinen Pelissier, wie M o n s i e u r Soyer in der K r i m getan, als der G e n e r a l bei ihm dinierte und sich der herrlichste grüne Rasen vor dem geöffneten Z e l t e ausbreitete. Pelssier w a r kurzsichtig; „ Q u e l ravissant gazon avezvous lä, M o n s i e u r S o y e r ! " rief er. Es w a r alles grünlackierte S a n d p a p p e , einen halben M o r g e n lang und breit. A b e r der Alte freute sich d o c h , und „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende", Domingo in Schillers Don Carlos (1787), I, 1; vgl. F.s Brief an Emilie v. 1. 11. 1868 (HFA IV, 2, S. 224).

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1865

das war die Hauptsache! — Vier Reihen tief stand England um den grünen Platz, wo jetzt die Alliierten nach dem schwersten Diner ihre Zigarren rauchten. Der Herzog von Somerset sah zu. Der französische Marineminister sah zu, dessen weißer Federbusch den englischen Reporters sehr in die Augen gestochen; die „old boys" und die „little boys" sahen auch zu. Die Messieurs und Gentlemen von der Rauchpromenade ließen sich von freiwilligen Dolmetschern die Toaste nachträglich erklären. Ebensowenig wie die englischen Gäste zu Cherbourg einen französischen Toast ausbringen konnten, vermochten die französischen Gäste zu Portsmouth ihre englischen loszuwerden. Es ist einmal so, und die Presse wird es mit ihren Leitartikeln über Sprachtalente russischer Kinder nicht so schnell bessern. Man verbrüderte sich in freier Übersetzung und, konnte man nicht Original sein, so war man doch so originell, als die Umstände es erlaubten. Der Mayor von Portsmouth (nicht der vorjährige, der Garibaldi nicht begrüßen wollte) hatte die albernste Tischrede vor dem Kompott gehalten, die je ein Bürgermeister in weißer Weste geredet. Er war „stolz" auf die Worte „l'Empire c'est la paix" und machte andere Schnitzer aus Dichtung und Wahrheit, daß einem Franzosen, der die Rede ausnahmsweise verstand, die Augen getränt haben sollen. Selbiger sicherer Franzose las mit ähnlichem Gefühle solch' fliegende Inschriften, wie „bonne volonte!", womit man „cordialite" gemeint haben wollte, oder lauschte galant in jenem Französisch englischer Ladies, die wortgenau beschreiben können, was Calypso nach der Abreise des Telemaque gelitten, aber keine französische Einladung zu einem Diner zu stilisieren vermögen. Unter den Zuschauern war ein neuer Menschenstamm, von dem die deutsche Presse in diesem heiteren Sommer noch wenig Notiz genommen. Es war amerikanischer Shoddy! Shoddy kommt jetzt — „nach" dem Frieden — in Herden nach England, um nach Paris weiterzureisen und die in Amerika geernteten Früchte seines — Fleißes zu vergeuden. Shoddy war auch in Portsmouth, mit Frau und Töchtern — alles über Nacht reich gewordene Lieferanten, die der Krieg ernährte, aber der Frieden verzehrt, oder Leute, die vor dem Bankerutt mit einem Einspänner fahren und nach demselben Viere lang, Yankees, vollzahnige Yankees, schwarzbleich, graubleich, braunbleich, aber alle bleich. Skandalöse Gesichter sieht man unter diesen Travellers in London, wahre Samiels mit breitem struppigen Kinnbart, die einen Brillantring an die Kralle stecken und auf die Promenade gehen, die phönixgleich aus dem Ruin aufgetaucht; finaciers, die in Goldagio machten und Krösusse wurden, ehe sie noch in Eile die zerrissenen Stiefeln ablegen konnten. Kontrakt-Verhänd-

London, 7. September

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ler, den Unionssoldaten unvergessen unter der Rubrik „madiges Brot, faules Fleisch, Wollstaub-Uniformen, gegossene Säbel, Sägemehl und Pappstiefel". Sie sonnen sich jetzt in Europa, wie Reptilien, denen es zum ersten Male wohl geworden, und sie werden verschwinden so schnell, wie sie kommen und in New Yorks „Voigtland" als abgerissene sharpers ihre Nächte beschließen. Auch Deutsch-Amerikaner sind darunter — Eisele und Beisele aus Pennsylvanien — bäurisch aber derbgesund, Schwaben, die in Pennsylvanien jahrelang ölhaltiges Wasser getrunken und dann im Garten hinter dem Hause auf Petroleum bohrten. Und die kleinen Ölgötzen aus Öldorado dazu in Rudeln „klein, kindisch, dick, dumm und gefräßig". Auch diese Deutschen folgen in Shoddys Schatten, nur etwas scheu noch. Sie platzen ein halbes Dutzend ungewohnte Glacehandschuhe vor jeder Ausfahrt und scheinen sich vor ihrem eigenen feinen Kutscher zu genieren, der ihnen als Gentleman weit überlegen. Diese Gruppen sieht man in London, in Brighton und in Portsmouth und auf der Insel Wight, wo man 1 Tee, 1 Nachtlager und 1 Frühstück zu dreien für 4 Pfund Sterling sehr bequem haben kann. Ich habe das schwarz auf weiß. Und Shoddy liebt alles Teure ohnedies, seitdem ihm seine Mittel erlauben honett zu werden. — In London hörte man während der Verbrüderungsfeste kaum derselben erwähnen. Man hatte hier keine Zeit, sich um das business der Leute von Portsmouth zu kümmern. Für London fiel nichts ab, soweit das „point d'argent, point d'Anglais" in Erwägung kommt. Überhaupt konnte man sich für das Ganze nicht erwärmen auf solche Entfernung. Dazu gehörte, was ein Reporter des „Telegraph" in folgendem andeutet — Mitessen und Mittrinken. Es heißt dort: „Hier haben wir zwei Nationen, die ihre gute Kameradschaft feiern mit einem schönen Trinken (a drinking bout) und nicht bloß weinerlich über ihrem Liqueur werden. Das Kanonieren, die Revüen und die Illuminationen sind uns vielleicht ein wenig zu Kopf gestiegen; aber wir sind ja schrittweise auf freundlicheren Fuß mit unseren Gästen gekommen und werden so bleiben, nachdem wir nüchtern geworden sind." — Yes, oh yes! Summa Summarum: Man sagt hier, ein Engländer stopfe so viel in ein Schaufenster, als ein Franzose bedarf, um damit drei Kaufläden geschmackvoll auszustatten. So verhält sich das Fest zu Cherbourg zu dem schönen Trinken von Portsmouth. Gegen eines müssen wir Preußen uns aber verwahren. Einige Blätter zitieren einen englischen Lord, der gesagt hätte, niemand könne so „Hurrah" rufen wie ein Engländer. Ich glaube zwar, weil sie gut, an die Wahrheit der englischen Erzählung, wonach der König Friedrich Wilhelm IV. von

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1865

Preußen bei einem Besuche der Schule von Eton nach Anhören der dreimal drei Cheers äußerte: „Happy people! I admire your lungs!" Aber mit dem Hurrah ist es etwas anderes. Ein Preuße könnte nie neben einem Franzosen aus voller Brust sein unvergleichliches Hurrah! rufen; dazu muß er ihn vor sich haben. [Nr. 214, 13. 9. 1865]

Der Fenianismus in Irland Die Gefangenen in Abessinien Die englischen Sympathien aufgesagt Erst frische Luft p::" London, 11. September „Solange wir auf dezentem Fuße mit Mr. Johnson stehen, haben die Fenier wenig Aussicht, von einem Lande Beistand zu erhalten, das seine eigenen Interessen so wohl kennt, wie die Vereinigten Staaten." So schließt der „Daily Telegraph" seinen Leitartikel über den Fenianismus in Irland. Die anlangenden irischen Blätter sind alle voll der Sache. „Lachen können wir nicht mehr darüber", schreibt ein Korrespondent, „wir stehen dem Unfug näher, als Sie in England." Das Drillen der mit Stökken bewaffneten Fenier im Westen und Süden unter ehemaligen Sergeanten der Unionsarmee ist nichts Neues. D a ß kleine Trupps ausgedienter O's und Mac's von New York in Galway seit Wochen eintreffen, ist ebenfalls hier bekannt. Neu ist die Depesche über die Stationierung von englischen Kriegsschiffen an der irischen Westküste, wo, wie ich Ihnen schon vor Monaten schrieb 3 4 , mehrere jener uralten Küstentürme (martello towers) an den Felsenbuchten mit einigen weittragenden Kanonen gespickt wurden. Man tappt hier noch viel im Dunkeln. Besprochen und mit Lebhaftigkeit besprochen wird in der Presse ein Brief eines „American Fenian" im „Freeman", einer irischen Zeitung, der entschieden in Abrede stellt, daß die amerikanischen Fenier einen Einfall in Irland obenan stellten. Es gehörten nicht nur Yankees, sondern auch Deutsche zu jener Gesellschaft von 2 8 0 . 0 0 0 Mitgliedern. Zweck sei, Kanada für die amerikanischen Fenier zu erobern und dann in fünf Jahren etwa, so verstärkt, eine Tour nach der Smaragdinsel vorzubereiten. „Das verdient

34

Κ London, 5. November 1864.

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London, 11. September

nähere Untersuchung!" ruft ein Blatt, „der M a n n ist verdächtig. Will er uns glauben machen, der Fenianismus in Irland sei nur ein Alpdrücken, und will er unsere Augen von der Nachbarschaft auf Kanada lenken, damit wir in Irland uns überrumpeln lassen, für eine kleine Weile im schimmsten Falle?" Z w a r haben nun die Amerikaner bei sich eine große Menge Abenteurer, welche, wenn etwa auf einigen Privat-Dampfern herübergeschafft und abgefangen, das Kabinett von Washington sofort mit Vergnügen desavouieren könnte, bekanntlich eines der Lieblings-Manöver demokratischer Intriganten. Aber sonst hält im großen und ganzen die orientalische Wahrheit gut „Wasser hat keine B a l k e n " . O b wirklich ein Titelchen Wahres an den Behauptungen, die man hier von Irländern hört (es sind deren 6 0 0 . 0 0 0 in London!), daß schon seit langem Waffen oder Gelder zu Waffen „von drüben" angekommen und von den „fenischen Z e n t r e n " irgendwo verbuddelt worden, muß dahin gestellt bleiben. Geld ist genug gekommen, aber es wurde meist wieder für Fahrbillette nach Amerika ausgegeben von den auswanderungslustigen Empfängern. Man macht auf einen Fehler Englands aufmerksam, den, daß es, mit Ausnahme des großen Shannon, auch nicht einen einzigen der hundert Flüsse und verbundenen Seen Irlands schiffbar zu machen der M ü h e wert gefunden oder aus merkantilischem Interesse versäumt habe. Dies wurde von dem Senior der amerikanischen Fenier, Campbell,

jüngst in

einer Rede als ein glücklicher Umstand für eine Rebellion bezeichnet, da die Flotte nur Felsen zu Schanden schießen könnte, die Landarmee Englands klein und zu einem reichlichen Dritteil aus sympathischen oder doch apathischen Irländern bestehe. Hier in England haben wir die Fenier unter dem Namen „Brüderschaft von St. Patrick", meist Janhagel, aber in einer Menge, die immer bekanntlich „was a u s m a c h t " . In diesen Clubs ist es schon seit zwei Jahren ohne Scheu ausgesprochen, das gleichzeitig mit einer „Erhebung" in Irland in zehn englischen Städten und Dockyards, w o das irische Element am bedeutendsten vertreten, den Sassenach „Beschäftigung" gegeben werden müsse. Nach einer gewissen Fa^on ist die Sache angelegt und in weitäufigem Umfange, aber „Schießen Sie noch?" wird das Ende sein, unter Spritzleder und Bettdecken, freilich erst nach heillosem Unfug. Die Orangisten

(Protestantenclubs)

in Irland freuen sich ordentlich auf das Klappen. Eines ihrer Organe hofft dann auf eine absolute Überallherrschaft des Orangetums. Regen ist schlimm unter Umständen, so wie der fenische Shillelagh unter den Knüppeln; aber eine Traufe ist noch übler, so wie der orangistische Revolver unter den Vogelflinten. Wir denken hier sehr kühl über die ganze

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1865

Sache und „Abwarten und noch sehr viel Tee trinken" ist der gemütsruhige Entschluß des britischen Leuen auf alle Fälle. — Die vielbesprochene abessinische Depesche über die endliche Entlassung Kapitän Camerons aus Ketten und Banden, und über die „erwartete" Erlaubnis für seine Abreise aus dem Reiche Theodors, schweigt über das gleiche Schicksal der beiden deutschen Missionare Stern und Rosental. Ihre Gefängnisarbeit war bisher die ungeistlichste, die gedacht werden kann. Sie hatten mit Cameron zusammen Patronen machen müssen, nach abessinischem Gesetz die Strafe für Ungehorsam. Aber ihr Arbeitmeister klagte so über die Mängel des Fabrikats zum Ober-Neger, daß ihnen befohlen ward, den Spiritus der Mitgefangenen unter ihre Obhut zu nehmen, d. h. Branntwein für dieselben zu destillieren. Seitdem hat man nichts wieder von ihnen gehört. Die Presse, welche Cameron zum großen Teile seine Gefangenschaft selbst schuld gibt, als Folge der Mißachtung seiner Instruktionen und Einmischung in abessinische Politik, hält mit Ausnahme der „Opposition", daran fest, daß nur dann ein civis britannicus den Schutz seines Vaterlandes beanspruchen dürfe, sobald er sich selber keinen Schnitzer zu Schulden habe kommen lassen, und im Falle der Schutz ohne zu große Opfer praktisch auszuführen wäre. Auch den Engländern ginge es demnach wie gewissen Nürnbergern. Sie wissen schon. Das Schicksal der Missionare behandeln die Leitartikel leichter: „Ein Prediger des Evangeliums trage ja immer in barbarischen Ländern sein Leben in seiner Hand", und: „Wir können es nicht als Prinzip anerkennen, die Sache des Kreuzes bei jeder Gelegenheit mit bewaffneter Macht zu verteidigen." So etwa lauten die Abfindungen des Themas. Die Sache des Halbmondes mit bewaffneter Macht zu verteidigen, war etwas ganz anderes bekanntlich. Aber man hat aus dem Krimkriege hier wenig gelernt und als Andenken nur das früher unerhört gewesene Pelzwerk der fließenden Backenbärte konserviert, die dem tartarischen Frost ihren Ursprung verdanken. — Die erbitterten Artikel gegen Preußen wegen der Gasteiner Übereinkunft sind zuende geschrieben, und Lord Russell muß zu einer ihm wohl angedichteten Tat herhalten, wonach er in Wien seine Befriedigung darüber habe erklären lassen, daß die Übereinkunft nur eine „provisorische" sei. Wenn das der mausgrauen Theorie (Russells mausgraue Weste ist ein politisches Sprüchwort in England) auf eine Weile durch das Kreuzfeuer der Tory-Journale helfen kann, so kann man es ihm gönnen. So ein parlamentarisch verarbeiteter Minister hat ja saure Tage die Fülle. — Was die Schreibseligkeit der Presse über die

549

L o n d o n , 23. S e p t e m b e r

Bonner Affäre angeht*, so werden daraus zwei Dinge klar, erstens das vergebliche Bedauern, d a ß O t t kein Brite gewesen, und zweitens eine Verwarnung an alle Fortschrittler je wieder auf englische Sympathien mit ihrem „Vaterland der Z u k u n f t " zu rechnen. „Ihr habt nur ein Stiefvaterland!" wird ihnen zugerufen, „ihr raucht eure Energie mit Zigarrenstummeln in die Luft usw." Auch dies ist nicht schlimm, und so haben wir von England in diesem Herbst nichts mehr zu fürchten. Und in solchem Herbste dazu! Wir haben eine tropische Hitze. Die Erbeeren blühen zum zweiten Mal und „allzufestes Fleisch beginnt zu schmelzen" 3 5 . Seit sechzehn Tagen kein Tropfen Regen und „Haifische im Canal La M a n c h e gesehen", die den Seebädern einen pikanten Beigeschmack von Risiko verleihen. Da ein französischer Kapitän neunzehn davon nahe den ScillyIslands gefangen, so m u ß wohl etwas Wahres d a r a n sein. Ein gelehrtes Mitglied der zu Birmingham tagenden „British Association" will die Entdeckung gemacht haben, die Erde sei der Sonne um 2 Millionen englischer Meilen näher g e k o m m e n ; sie sei statt 95 nur noch 93 Millionen Meilen von derselben entfernt. So ein gelehrter M a n n kann das wissen, bei der Hitze zumal. Vielleicht werden wir noch einmal mit wissenschaftlichen Dissertationen „gehalten mit dem M a n n im M o n d e " , überrascht. Aber erst frische Luft! (Nr. 217, 16. 9. 1865]

Plötzliches Zufassen gegen die Fenier Der Kaiser von Abessinien und seine Gefangenen Faulenzer unter Wasser p* London, 23. September Die Bureaukratie auf dem Kontinent ist eine emsige, stetige und regelmäßige; in England wirtschaftet sie in Z u c k u n g e n und mit plötzlichem „Tätigkeitszorne". Mit größtem Gleichmut läßt sie sündigen, fährt d a n n

* M a n g e b ä r d e t sich förmlich wie närrisch d a r ü b e r ; ein Blatt versteigt sich sogar zu dem Ausrufe: „Es k ö n n t e f ü r Frankreich keinen glücklicheren Kriegsruf zur Wiedererlangung (!) des linken Rheinufers g e b e n . " Die Engländer k ö n n t e n d o c h g e r a d e von der Bonner M a c d o n a l d - G e s c h i c h t e her wissen, d a ß die Justiz in Preußen kein Ansehen der Person k e n n t . D. R. „ O ! t h a t this t o o t o o solid flesh w o u l d melt!", H a m l e t in Shakespeares Hamlet, I, 2.

550

1865

a b e r a u f einmal drunter, hält strengstes G e r i c h t und Iäßt h i e r a u f die D i n g e von neuem den alten G a n g gehen. Eine Z e i t l a n g paradiert das Laster in allen S t r a ß e n , wird dann in einzelnen E x e m p l a r e n abgestraft und hat dann wieder neue Lizenz. O f t ist das k o m i s c h . Seit zwei J a h r e n spielten die Fenier* den B e h ö r d e n ungestraft a u f der N a s e . Die wildesten Flugblätter wurden öffentlich verteilt. M i t einem M a l e wird das Blatt „The Irish P e o p l e " in D u b l i n konfisziert und mit S t u m p f und Stil ausgerottet, die letzte N u m m e r überall aufgejagt, und es erweist sich, d a ß diese gerade die unschuldigste von allen vorhergehenden, zumeist nur einen G e s a n g : „Die Fenier und die F e e n " enthält, nur „ganz g e w ö h n l i c h e kleine R e b e l l i o n " , wie ein englisches Blatt sich eigentümlich ausdrückt. Die Fenier zeigten ihre Revolver lange schon auf B a h n h ö f e n öffentlich als Waffen gegen die Sassenach,

und jetzt verhaftete m a n in D u b l i n einen

Maurergesellen und verurteilte ihn zu sechs M o n a t e n H a f t , weil er halb betrunken das a m e r i k a n i s c h e Lied „The Stars and S t r i p e s " gesungen und keinen Bürgen für 5 0 Pfund dafür finden k o n n t e , daß er nicht singen

wieder

wolle! M a n sang das Lied j a h r e l a n g in Irland. Ein anderer G e f a n -

gener m u ß t e w o h l g r o ß e s Vertrauen a u f die „fenische F l o t t e " und die „phönizischen G e h e i m e n K r i e g s r ä t e " h a b e n ; denn zu sechs W o c h e n verurteilt, rief er aus: „Ich werde schon vorher frei sein. In fünf W o c h e n sind die anderen hier und die E n g l ä n d e r aus dem L a n d e . " Sehr m ö g l i c h , d a ß unter L i n c o l n die n o r d a m e r i k a n i s c h e Regierung, um die M i l l i o n e n Irländer zu gewinnen, den „fenischen Z e n t r e n " gegenüber gewisse E n g a gements Irlands wegen eingegangen; indessen hat sich J o h n s o n bis jetzt so verhalten, d a ß schwerlich zu v e r m u t e n , er werde jene Versprechen anders als eine „ u n a n t a s t b a r e " E r b s c h a f t b e t r a c h t e n , d. h. er wird nichts damit zu tun haben w o l l e n . In irischen Blättern rät ein orangistischer Grundbesitzer an, d a ß seine Standesgenossen mit der R ü b e n e r n t e auch „ H a n d g r a n a t e n " als beste W a f f e gegen S t u r m k o l o n n e n „ e i n f a h r e n " sollten. Besorgtere h a b e n ihr Silberzeug D u b l i n e r B a n k i e r s in Verwahrung gegeben. D i e O r a n g i s t e n (Protestantenclubs) sprechen von einer baldigen

* Das Wort „Fenier" ist nach einigen eine bloße Korrumpierung von „Phönizier"; nach anderen ist es von dem Namen eines sagenhaften phönizischen Königs Fen abzuleiten, der Irland mit Kolonisten besetzt haben soll; die heutigen Irländer wären somit — etwa nach Analogie von: „die Söhne Teuts" — die Söhne Fens, d. h. Fenier. In jedem Falle bezeichnet der Name den Gegensatz und die Stammesfeindschaft der Irländer gegen die Sassenachs (Sachsen), d. h. Engländer. D. Red.

L o n d o n , 2 3 . September

Erin's Little

551

Difficulty

Britannia: "Yes, my dear! That's the sort of drilling to do him most good!"

Alleinherrschaft der Orangemänner in ganz Irland. Jedenfalls arbeiten ihnen die modernen „Phönizier" in die Hände. — Der „Daily Telegraph" beklagt die Weise, in welcher John Bright die zugesagte Präsidentur bei mehreren angesagten Reform-Meetings abgelehnt. „Es ist die Schuld des Kleinmuts in Freunden, mehr als die Schuld offener Feinde, wovon große Sachen das meiste zu fürchten haben. John Bright läßt ein Verzagen durchblicken." Andere nehmen Lord Palmerston gegen den Vorwurf Brights in Schutz, „er sei der einzige Mann der liberalen Partei, bereit, die Sache der Reform zu verraten". Die Verteidiger sagen, „Palmerston ist kein politischer Josua, der die Fortschrittssonne stille stehen machen kann." Ein schlechtgewählter Vergleich: eine „stille stehende Fortschrittssonne". — Nach einem in England publizierten Schreiben eines Grafen du Bisson, eines „Freundes" des Herrschers von Habesch, über Kaiser Theodors Gefangene in Abessinien wird der Behauptung widersprochen, daß derselbe die Missionare zur Verfertigung von Patronen und Branntwein gezwungen. Sie hätten an Flinten und „carriages" (Wagen), nicht

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1865

„cartridges" (Patronen) zu arbeiten*, auch nicht Branntwein destilliert. Man destilliere dort nur „tesch", ein durchaus nicht spirituoses Getränk. Kapitän Cameron (der englische Konsul) sei frei. („Die Bestie kann gehen", so lautete die Formel nach anderem Bericht.) Aber er dürfe Abessiniens Boden nicht eher verlassen, als bis er geschworen, ihn nie wieder zu betreten, was ihm „Pflichtverhältnisse" verwehrten zu versprechen. Die protestantischen Missionare Stern, Rosenthal und Bishov, sowie vier andere deutsche, drei englische und zwei französische Gefangene (Monsieur Bardel, einst abessinischer Minister des Negous — Kaisers, — und M . Makerer, ein Elsasser) hätten den Kaiser literarisch in der europäischen Presse beleidigt! So habe u. a. Herr Stern nach Europa geschrieben, die Mutter des Kaisers handle mit cousso, einer sehr gewaltigen Purgiermedizin gegen den Bandwurm. Der Negous verordnete nun, Hrn. Stern eine ganze Woche lang keine andere Nahrung als cousso zu gebenl Als er sich weigerte, wurde ihm diese Speise mit Gewalt beigebracht, was ihn bis zum Skelett abzehrte. Wie freundlich auch der Brief aus dieser Freundeshand, sie wäscht den Mohren nicht blendendweiß. — Wenn man Faulenzer sucht, braucht man im allgemeinen nicht weit zu suchen. Auf der Erdoberfläche schwärmen sie in Legionen. Hier hat man auch deren unter dem Wasser entdeckt. Lange wunderten sich die Schachtmeister an dem großen Themsebrückenbau zu Blackfriars, daß die Arbeiten unter dem Wasser so langsam vorschritten, obwohl Arbeiter in zahlreichen Taucherglocken je sechs bis acht Stunden in dem schwarzen Grundwasser „tätig" waren. Tätig wohl, aber in anderer Weise. Entschiedene Abneigung, naß zu werden, veranlaßte dieselben, innerhalb der Glocke es sich bei Würfel- und Kartenspiel gutsein zu lassen. Bier und Pfeifen wurden unter dem Tauchercamisol mit heruntergenommen, und nur aus atmosphärischen Gründen der Rauchtabak später durch Prisen ersetzt. So flössen die Arbeitsstunden angenehm dahin. Hin und wieder mußte der eine oder der andere einmal an dem Tau zupfen, um oben anzuzeigen, daß „unten noch alles im Gange". Endlich fiel es einem Manne in der Oberwelt bei, eine solche Glocke sehr schnell aufzuwinden, und dies gemütliche Vergnügtsein wurde auf frischer Tat ertappt. Seitdem müssen die Taucher ohne Glocke hinabplumpen. [Nr. 2 2 6 , 2 7 . 9 . 1 8 6 5 ]

,Was sollte der Kaiser denn mit ihnen a n f a n g e n ? " fragt der G r a f sehr naiv.

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London, 25. September Die englischen Tories und die schottischen Konservativen Hochlands-Leben ρ* L o n d o n , 2 5 . S e p t e m b e r

Es wurde in einem früheren Briefe d a r a u f hingewiesen, d a ß die Tories an mehreren O r t e n Meetings gehalten, um eine festere Partei-Disziplin ins Werk zu setzen. A u c h wurde e r w ä h n t , d a ß sie die katholischen

Kon-

servativen davon ausschließen wollten, „ v e r m u t e n d " , diese suchten Anlehnungen bei den Dissenters, um die anglikanische Staatskirche zu beeinträchtigen. Dies schließt — und es ist dies noch besonders später erklärt worden — auch die Konservativen unter den Dissenters senters sind nun im allgemeinen hier nicht b l o ß e

aus. Dis-

Sektier-Clubbisten,

sondern sie sind sehr zahlreich, zahlreicher, als die ausgesprochenen Anhänger der S t a a t s k i r c h e . Freidenkerei ist ihnen fremd. O f t ist es nur ein Andersdenken über eine Z e r e m o n i e , welches, schon vor J a h r h u n d e r t e n eingetreten, allmählich sich zu strengeren Sonderungen ausgebildet. „Religionsfeindlich" k a n n man nur wenige nennen. Die Wesleyaner stehen ζ. B. in g r ö ß t e m R e s p e k t bei allen o h n e A u s n a h m e . D o c h die e r w ä h n t e Linie ist gezogen; o b die Tories damit weise gehandelt, wird sich noch im L a u f e der Z e i t herausstellen k ö n n e n . Vorläufig freuen sich D e m o k r a ten und Liberale über jene Ausschließlichkeit a u f politischer Basis. Es hat den Anschein, als wollten jene Tories ihre O r g a n i s a t i o n zudem als eine spezifisch englische

etablieren. Sie sagen auch den schottischen

Kon-

servativen: „Wir kennen euch nicht. Ihr gehört zur schottischen Kirk und h a b t kein Herz für unsere S t a a t s k i r c h e . " Dies hat dort gewurmt, und es fallen herbe W o r t e in den schottischen Blättern. D e r B i s c h o f von Andrews

St.

hat öffentliche Reden gehalten, welche die schottische Kirk

gegen solche A n m u t u n g e n verteidigen. E r nennt sie eine „ o l i g a r c h i s c h e " . D a r a u f a n t w o r t e t das T o r y b l a t t „Standard":

„Oligarchisch wohl, aber

es ist eine O l i g a r c h i e , wie sie sich auch bei D e m o k r a t i e n findet. Die Kirche von England stützt sich auf die Vergangenheit und hat nie gebrochen mit den Traditionen des G e h o r s a m s und der Unterordnung. Die schottische Kirk hingegen ist wesentlich d e m o k r a t i s c h . Ihre Traditionen sind R e b e l l i o n , R e v o l u t i o n und A n a r c h i e . D e m o k r a t i e ist ihre geistliche Verwaltungsregel bei ihren Predigern und Ältesten. Die Verwandtschaften der schottischen Kirk mit anderen G l a u b e n s g e n o s s e n s c h a f t e n haben nichts mit der anglikanischen K i r c h e gemein, wohl aber mit den englischen Dissenters. Die Kirk hat großen E i n f l u ß in S c h o t t l a n d , aber sie

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1865

wirft ihn in die Waageschale des Liberalismus." Der Artikel wird noch lebhafter gegen das Ende und geht zur Drohung über: „Wir geben euch eine Warnung. Duldsamkeit und Geduld müssen gegenseitig sein, wenn sie dauern sollen. Wenn ein Prälatentum den presbyterianischen Fanatikern ein Greuel (abomination) ist, so ist dem englischen Kirchenmann der Fanatismus, die inquisitorische Tyrannei und der störungssüchtige Geist

der schottischen

Presbyterianer

sehr widerwärtig.

Sollten

die

Schotten fortfahren, mit gewissen Sozietäten in Allianz zu treten, so können sie gewiß sein, daß ihre Selbstkontrolle, deren sie sich so lange erfreut, nicht länger ungestört belassen werden soll. Sollen wir jene Klausel in der Union Schottlands mit England, welche ersterem seine eigenen Gesetze und seine eigene Kirche beläßt, länger respektieren, wie wir bisher nach Buchstaben und Geist getan, so müssen die Schotten auch davor Respekt haben, daß jener Geist es ihnen streng verbietet, an Bestrebungen Teil zu nehmen, welche den Z w e c k haben, die Kirche von England zu zerstören und herabzuwürdigen." — Die Kontroversen werden sich mehren; denn auf der anderen Seite des Tweed ist das heißere Blut. Dasselbe Blatt und andere nennen die schottische Kirk nur die einer Minorität

in jenem Lande, legen es ihr aber doch zur Last, daß die Majo-

rität der Schotten durch ihren Einfluß liberal und demokratisch sei. Dies muß zunächst als ein Widerspruch erscheinen. Tatsache ist, o b nun die Kirk oder andere Verhältnisse dies beeinflußt haben, daß Schottlands konservative Parlamentsmänner nur in dem Verhältnis von 1 zu 5 zu den Liberalen stehen. D a ß die Bewohner schottischer Großstädte, wie Glasgow, so durch und durch radikal sind, ist teilweise eine Schuld der Lords und Lairds des Landes. Ganz gegen alle Traditionen des Konservatismus, wonach Herr und Knecht in gegenseitiger Treue aneinanderhalten sollen, haben sie die Hochlande „reingefegt" von ihren Clansleuten, mit Geldabfindung oder Austreibung. Das wanderte nach Amerika oder nach Glasgow. Die alten clanischen Bande waren gerissen und der H o c h länder wurde schon in zweiter Generation ein „Feind der G r o ß e n " . Ihre Nachfolger in den „reingefegten" Tälern wurden liberale Advokaten, englische Farmer und Londoner Sportsmen. Jagdgrundvermieten bezahlt sich dem schottischen Lord und Laird besser, als ein Kleinpachtsystem zugunsten armer, aber jahrhundertelang treuergebener

Untergebenen.

Profitabel ist die Änderung, und alles andere noch, aber nur nicht konservativ. In England spottet man darüber, daß noch jakobitische Sympathien in den Hochlanden sich erhalten, obwohl kein Stuart mehr am Leben. Das mag freilich nicht „politisch reif" genannt werden; aber ist

555

Ratzeburg, 25. September

jedenfalls h a r m l o s und hat oft e t w a s Rührendes. N o c h vor wenigen J a h ren beherbergte ein Gutsbesitzer in den H o c h l a n d e n „zwei M ä n n e r " , die er für Urenkel des letzten Stuart, Prinz C h a r l i e , hielt und sie wie Fürsten behandelte, und das jahrelang. In der schottischen Vendee, im N o r d w e sten, m a c h t wohl noch hier und da ein Alter eine Faust, wenn das Lied von bonnie

prince

Charlie36

vom Pfeifer auf dem Heidehügel gespielt

wird. J a , n o c h in England, in Cheshire, existierte vor wenigen J a h r e n ein j a k o b i t i s c h e r C l u b , der „die T o t e n f e i e r t e " , und am St. Andrewstage finden sich auch in englischen Städten S c h o t t e n z u s a m m e n , um ein M a h l zu halten und Lieder zu singen, die 1 7 4 5 noch den Sänger zum H o c h v e r räter gestempelt, in jenem J a h r e , w o die Stuartperiode so h o c h r o m a n tisch und poetisch, wie ein letzter Klagegesang austönte. Wenige Fürsten wurden s c h w ä r m e r i s c h e r im Unglück geliebt, als die Stuarts, und diese „Treue bis über das alte G r a b h i n a u s " 3 7 , n o c h durch ein J a h r h u n d e r t fortlebend, verdient eine Achtung, welche dem praktischen Alltagsmenschen J o h n Bull fremd bleibt. [Nr. 228, 29. 9. 1865]

Z u r Erbhuldigung in Lauenburg * t * Ratzeburg, 25. September Die N a c h r i c h t , d a ß der König, unser neuer Landesherr, uns so bald nach der geschehenen Besitzergreifung besuchen würde, k a m uns aus burg

Merse-

so u n e r w a r t e t und so kurz vor der Erfüllung dieses sehnlichst ge-

hegten Wunsches, d a ß wirklich alles H a l s über K o p f vorbereitet werden m u ß t e , wenn wir hinter den alten Provinzen nicht zurückstehen wollten, von denen die Z e i t u n g e n in der letzten Z e i t ja so G l ä n z e n d e s an Veranstaltungen und Festlichkeiten erzählt. A b e r wie immer, wenn nicht viel Z e i t zum Reden und Verabreden bleibt, wenn eben gehandelt

werden

m u ß , so ging es auch hier, und der König hat w o h l schon G r o ß a r t i g e r e s und in den M i t t e l n Reicheres gesehen, a b e r gewiß nichts Herzlicheres

36

37

„Wae's me for Prince Charlie", ν. William Glen; Prince Charlie v. F. oft erwähnt, besonders in: Aus England und Schottland, Culloden Moor, NFA XVII, 339 f. „Treue Liebe bis zum Grabe", aus: Mein Vaterland (1839) v. Hoffmann v. Fallersleben.

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1865

und Bessergemeintes. Bei der Station Buchen,

wo das Lauenburgische

Gebiet beginnt, fand die erste Begrüßung des neuen Landesherrn statt. Der Zug hielt gerade an der Stelle, wo der Grenzstein auf der einen Seite ein M . (Mecklenburg), auf der andern ein L. (Lauenburg) zeigt. Hier standen die Regierungsräte und Kammerherren Linstow und Moltke, wie die Landräte Berkemeyer

und v. Witzendorff\

so-

sowie zwei Standes-

herren. Riesige Mastbäume mit preußischen Fahnen bezeichneten neben der Ehrenpforte die Verlängerung der Grenze, und aus der Umgegend hatte sich das Landvolk versammelt, um den König doch von Angesicht zu sehen. Auf die Ansprache, welche dem Könige Treue und Ergebenheit zusicherte, antwortete Seine Majestät: „Ich freue mich, nachdem ungewöhnliche Verhältnisse uns zusammengeführt, mich zum ersten Male in Ihrer Mitte zu befinden und zwar früher, als ich es erwarten konnte, seitdem Ihre Vertreter mir den Wunsch danach ausgesprochen hatten. Ich komme mit vollem Vertrauen Ihnen entgegen und freue mich der Worte, aus denen ich vernommen, daß auch Sie Vertrauen in mich und meine Regierung setzen! Das verspricht Glück für die Zukunft, und es ist mir eine gute Vorbedeutung, daß die Vereinigung Ihres schönen Landes mit Preußen in dasselbe J a h r fällt, wo vier Provinzen mir gedankt, daß die Verheißungen, welche meine glorreichen Vorfahren ihnen zur Zeit ihrer Vereinigung mit unserem, jetzt gemeinschaftlichen Vaterlande gegeben, so vollständig erfüllt worden sind. Die Blüte, Wohlhabenheit und Zufriedenheit dieser Provinzen läßt mich mit um so größerer Zuversicht zu Ihnen kommen, als ich Ihnen den besten Willen für Ihr Wohl entgegentrage. Möge dies auch eine gute Vorbedeutung für Sie sein!" Von hier dampfte der lange Extrazug nach Mölln, wo auf dem Perron des Bahnhofes rechts die jetzt hier garnisonierende Escadron des Magdeburgischen Dragoner-Regiments Nr. 6 und links die Schützengilde (Jägerbund), lauter junge frische Männer in geschmackvoller Jägertracht, standen. Zwischen beiden Aufstellungen empfingen den König die Geistlichkeit und Behörden. Nachdem Se. Majestät erst an der Front der Dragoner (ebenso wie das berühmte 2. Regiment mit schwarzen Kragen, aber weißen Knöpfen uniformiert) und dann an der Schützengilde vorübergegangen war, erkundigte er sich nach den anwesenden Personen und ließ sich dieselben vorstellen. Das so reizend an See und Wald gelegene Mölln hatte sich festlich geschmückt und machte einen so freundlichen Eindruck, daß der König sich gefreut haben soll, übermorgen länger

Ratzeburg, 26. September verweilen zu können. — Hier in Ratzeburg

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war der Empfang ein unge-

mein festlicher, ja enthusiastischer, und die kleine Stadt hatte alles aufgeboten, um ihre Freude über die endliche Wendung der Dinge auszudrücken. Auf dem langen Wege vom Bahnhofe zur Stadt stand die erste Ehrenpforte beim sogenannten Amte. Hier empfing den König der Kammerherr, Amtmann v. Gossel, und eine große Anzahl berittener Bürger und Landleute auf schönen Pferden setzten sich vor der Equipage Sr. M a j . in Bewegung, um ihm das Geleit zur Stadt zu geben. Erst als diese Berittenen später auf dem großen Marktplatze der Stadt vor dem Auseinandergehen noch einen Umzug hielten, konnte man übersehen, wie groß die Zahl derselben war, da beim Einzüge des Königs sehr natürlich die Aufmerksamkeit auf andere als einheimische Dinge gerichtet war. Bei der zweiten Ehrenpforte auf der sogenannten Demolierung, am Anfange der Herrenstraße, hatte sich das Magistrats-Kollegium versammelt und der Stadtkommissar Adler hielt die Anrede. Hier war am Seeufer das Fischergewerk mit seinen Booten aufgefahren, deren schneeweiß entfaltete Segel mit Blumen geschmückt waren, hatte sich die Schützengilde aufgestellt und die Gewerke mit ihren Fahnen und Emblemen Spalier gebildet. Darunter zeichneten sich die Schlächter

und

Zigarrenmacher,

die letzteren mit 4 Mohrenknaben, durch ihr Kostüm aus. Von einem flaggenden Schiffe auf dem See wurde fortwährend kanoniert und verschiedene Musikchöre spielten die preußische, nun auch hier vaterländische Volkshymne. Der König nahm im Hause des Präsidenten Grafen Kielmannsegge

sein Absteigequartier, wo auf dem Vorhofe eine Kompa-

nie des Füsilier-Bataillons 6. Ostpreußischen Infanterie-Regiments Nr. 43 mit der Fahne aufgestellt war, welche der König defilieren ließ. Das Diner begann erst spät; während desselben wurde ein Fackelzug gebracht. Nach Beendigung des Diners fuhr der König durch die Stadt, um die Illumination in Augenschein zu nehmen. Erst nach Mitternacht kam wieder Ruhe in die freudig bewegte Stadt, die morgen erst ihren eigentlichen, für ihre und die Geschichte Lauenburgs bedeutungsvollen Festtag erwartet. ;:

t ! · Ratzeburg, 26. September

Eine glänzende Herbstsonne liegt auf der Stadt und ihrer so reizenden Umgebung, und läßt alles noch heller, noch freudiger und hoffnungsvoller erscheinen. Von früh an, wo Se. Κ. H. der Kronprinz ankam, Höchst-

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1865

welcher dicht neben dem Absteigequartier Sr. M a j . des Königs Wohnung genommen, brachte die Eisenbahn und zahlloses Fuhrwerk aus der Umgegend ganze Kontingente von Schaulustigen nach der Stadt, um der feierlichen Handlung in der St. Petri-Kirche beizuwohnen, wo der König heute die Huldigung der Ritter- und Landschaft nach Jahrhunderte alter Art persönlich entgegengenommen hat. Um 10 Uhr versammelten sich die Behörden, Geistliche und Beamte des Herzogtums nach und nach — wohl gegen 2 0 0 Personen — vor dem Gräflich

Kielmannseggeschen

Hause und wurden in den Speisesaal geführt, wo die Vorstellung jedes einzelnen vor Sr. Majestät erfolgte, Allerhöchstwelcher sich eingehend nach den Zuständen und Interessen des Landes erkundigte, je nachdem jeder der Vorgestellten nach seiner Amtskenntnis und Erfahrung Sachverständnis haben mußte. Es geschah dies in Gegenwart und unter Teilnahme des Ministers für Lauenburg, Grafen v. Bismarck.

Unterdessen

hatten sich die Straßen und der Marktplatz schon so gefüllt, daß die Mannschaften des Füsilier-Bataillons, welche unter den Klängen der vortrefflichen Horn-Musik des 43. Regiments (6. Ostpreußisches) erst die Fahne geholt, auf dem Markte Aufstellung nehmen mußten, um den Zug zu ermöglichen, in welchem der König zu Fuße mit dem

Kronprinzen,

dem Minister-Präsidenten, dem Oberst-Kämmerer Grafen Redern,

den

General- und Flügel-Adjutanten und dem ganzen Gefolge zur Kirche ging, wo am Eingange der Superintendent Brömel Seine Majestät empfing und Allerhöchstdieselben nach einer Ansprache zu dem dafür bereiteten Thronsitze, zu ebener Erde, gerade dem Altar gegenüber, geleitete. Hier nahm der König unter dem Thronhimmel Platz, rechts neben dem Throne der Kronprinz,

links der Minister für Lauenburg. Vom Kronprin-

zen im weiten Halbkreise bis zum Altare saßen die preußischen Generale, Würdenträger und Personen des Gefolges. Vom Grafen Bismarck in ebenso weitem Halbkreise bis zum Altare die Mitglieder der Lauenburgischen Ritter- und Landschaft. Nach dem einleitenden Gesänge: „Allein Gott in der Höh sei Ehr!" hielt der Superintendent Brömel vor dem Altare die feierliche Anrede an den König, welcher er 1. Petri Kap. 2, Vers 13 — 16 zum Grunde legte: „Seid Untertan aller menschlichen Ordnung, um des Herrn willen, es sei dem Könige als dem Obersten" usw. Er verhehlte nicht, daß es den Lauenburgern anfangs schwer geworden sei, sich an den Gedanken einer anderen Herrschaft zu gewöhnen, erblickte aber gerade darin die Gewähr, daß es ihnen mit dem Eide, den sie nun schwören sollten, Ernst

Ratzeburg, 26. September

559

sei, f ü r gute und böse Tage; denn der Eid sei, wie ein Anker, nicht f ü r schönes Wetter und Frieden oder Ruhe, sondern f ü r die Zeit der Stürme und Prüfungen, in denen es d a n n gelten werde, zu zeigen, wie M ä n n e r es verstehen, den in guter und gefahrloser Zeit geschworenen Eid zu halten. Weiter aber sagte er auch: „Wir Lauenburger wissen, daß Ew. Majestät einen schweren Kampf mit den Ideen der Zeit k ä m p f e n , die von Christus und von jeglicher Obrigkeit nichts mehr wissen und das Fleisch zur Herrschaft über den Geist setzen wollen. Diesen Kampf — das weiß ich von vielen und sage ich f ü r viele, die hier anwesend sind, — wollen wir Lauenburger mit Ew. Majestät k ä m p f e n . " Nach dem Gesänge der ersten beiden Verse des Liedes: „Komm heiliger Geist!" ergriff der Minister für Lauenburg Graf Bismarck das Wort und erbat sich von Sr. M a j . dem Könige die Gestattung, nun mit der Erbhuldigung vorgehen zu dürfen. Nach der königlichen G e w ä h r u n g verlas Graf Bismarck die Eidesformel und fragte die anwesenden Vertreter der Ritter- und Landschaft, o b sie gesonnen wären, diese „rechte Erbhuldigung" zu tun, worauf der Erblandmarschall v. Bülow vor den T h r o n trat und mit erhobener Stimme und zum Schwur ausgestreckten Fingern, nach Verlesung des vollständigen Titels der Könige von Preußen, den Eid leistete, worauf alle einzelnen zur Eidesleistung Berufenen nacheinander ebenfalls vor den T h r o n traten und die verpflichtende Endformel des Eides so lange wiederholten, bis alle persönlich geschworen hatten. Se. M a j . der König n a h m diese Huldigung auf dem T h r o n stehend an, worauf die Gemeinde noch den dritten Vers des Liedes: „Komm heiliger Geist!" sang und der Superintendent den Schlußsegen mit einem Gebete einleitete. Das Ganze war ein Staatsakt von ergreifender Wirkung, weil er an geweihter Stätte und durch die Kirche getragen vor sich ging· Nach dem Segen begab sich der König in seine W o h n u n g zurück. Eine Parade des Bataillons fand nicht statt, wie das P r o g r a m m bestimmt hatte, da der König schon beim Hinwege zur Kirche an der Front des Bataillons entlang gegangen war, welches nach geschehener Entlassung der Reserven nur in zwei Gliedern rangierte. Heute nachmittag 4 Uhr findet ein von der Ritter- und Landschaft gegebenes Diner im Hotel zum Ratskeller auf dem M a r k t e , dann um 7'Λ Uhr Feuerwerk auf der Demolierung und um 9 Uhr Ball statt, zu welchen Se. M a j . der König Allerhöchstihr Erscheinen zugesagt haben. [Nr. 227, 28. 9. 1865]

560

1865 Zur Erbhuldigung in Lauenburg

*f :; " Ratzeburg, 27. September Rasch wie ein Traum, und jedenfalls zu rasch für unsere Wünsche, ist die Zeit der Anwesenheit Sr. M a j . des Königs unter uns vorübergegangen: denn heute morgen 9 Uhr hat der König mit dem Kronprinzen und seiner ganzen Begleitung Ratzeburg wieder verlassen, nachdem Allerhöchstderselbe um 8 Uhr noch das hier garnisonierende FüsilierBataillon 6. Ostpreußischen Infanterie-Regiments Nr. 43, unter dem Kommando des Majors Köhn v. Jaski und Anwesenheit des RegimentsKommandeurs Obersten v. Treskow, auf dem Markte besichtigt. Zu den gestrigen Vorgängen ist noch nachzutragen, daß Se. Majestät nach dem Kirchgange noch den D o m besucht, der bekanntlich eine Großherzoglich Mecklenburg-Strelitzsche Enklave ist. Um 4 Uhr fand in dem großen Saale des Hotels „Ratskeller" das Diner statt, welches Ritter- und Landschaft gaben, um die Anwesenheit des Königs zu feiern. Über dem Sitze des Königs, in der Mitte der Haupttafel, war ein rotsammetner Thronhimmel angebracht, unter welchem das große preußische Wappen nach der früheren Blasonierung und in den beiden Wandfeldern daneben zwei sternartige Trophäen von preußischen Infanterie-Seitengewehren angebracht waren. Auf der gegenüberliegenden Wand war in der Mitte das lauenburgische Wappen, der weiße Pferdekopf im roten Felde, das großherzoglich sächsische und das großbritannische Wappen, als in nächster verwandtschaftlicher Beziehung zum preußischen Königshause, angebracht, sonst der ganze Saal in schwarz-weiß ausgeschlagen. Das Menu der Tafel würde selbst einem Frankfurter Fürstentage Ehre gemacht haben, denn wie dort ein „boeuf historique" als morceau de resistance brillierte, so erschien hier ein Filet de boeuf ä la Gastein. Auf der rechten Seite des Königs saß der Kronprinz, links der Oberst-Kämmerer G r a f Redern, dem König gegenüber G r a f Bismarck. Der Erbland-Marschall v. Bülow brachte den Toast auf Se. M a j . den König mit ungefähr folgenden Worten aus: „Bei dem feierlichen Akte der Erbhuldigung haben Eure Königliche Majestät die Zusicherung erhalten, daß wir Lauenburger fortan Eurer Majestät angehören. Es war dies aber nur ein äußerliches Zeichen des Bandes, welches uns mit Eurer Majestät verbindet. Sei es mir daher hier gestattet, zu versichern, daß die Herzen der Lauenburger Eurer Majestät schon lange gehören." Darauf erwiderte Se. M a j . der König: „Ich erhebe mein Glas, um es auf das dauernde Wohl meines Herzogtums Lauenburg zu leeren. Sie

561

London, 27. September

haben heute mir an heiliger Stätte das Gelübde der Treue geleistet, aber dort auch Worte gehört, die mir aus der Seele gesprochen waren. Es wurde gesagt, daß Sie sich nicht leicht an den Gedanken gewöhnt, einem anderen Herrn anzugehören, denn Sie sind von Ihrer früheren Regierung mit Liebe und Freundlichkeit behandelt worden; aber die Verkettung der Dinge hat es gefügt, daß Sie, — nachdem der Ubergang geknüpft ist, — mich jetzt freudig als Ihren Landesherrn begrüßen. Als ein schönes Pfand für das zukünftige Verhältnis zwischen uns sehe ich die Freudigkeit an, die mir hier überall entgegentritt. Ich trinke also auf das Wohl meines Herzogtums Lauenburg, seiner Bewohner und der hier anwesenden Vertreter derselben." Das Wohl Ihrer M a j . der Königin wurde von dem Minister-Präsidenten Grafen Bismarck und das Wohl des Kronprinzen von Herrn v. Witzendorff ausgebracht. Nach dem Diner fand auf der Demolierung ein sehr glänzendes und reiches Feuerwerk statt, dessen Fronten gerade in der Verlängerung der Herrenstraße abgebrannt wurden, so daß die ziemlich steil aufsteigende Herrenstraße zu einem natürlichen Amphitheater wurde, welches bis zum Markte hinauf Kopf an Kopf gedrängt voller Zuschauer stand. Um 9 Uhr begab sich Se. Majestät zum Balle, der in demselben Hotel abgehalten wurde, wo auch das Diner stattgefunden, von wo Allerhöchstderselbe erst spät zurückkehrte, um uns heute zu verlassen. Gott segne den gütigen und gnädigen Monarchen auf allen seinen Wegen. [Nr. 228, 29. 9. 1865]

Gute Vorsätze. Wodurch man die Irländer kränkte Kaiser Theodorus und der Streit um Abessinien Wer hat schuld? p::' London, 27. September Wenn die Selbsterkenntnis und die Selbstanklagen, welche man mit unerwartet ruhigem Tone freigebig gegen die englische Politik in bezug auf Irland spricht, schreibt und druckt, mehr als Staubwolken sind, so ist der anscheinend in der Knospe zerstörte fenische Gänsemarsch die letzte Bewegung, welche Irland und das Vereinigte Königreich beunruhigt. Ist ein Ende damit, in englischen Blättern die beleidigende Klausel bei Stellungsofferten zu lesen: „No Irish need apply" (kein Irländer braucht sich zu melden). Ist ein Ende der rohen Worte englischer Squires, die in Irland Land und Leute besitzen; „I will be d —, if you ever see me in Ireland".

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1865

Ist ein Ende des Hohnes über „Sumpftreter" und „irische Kartoffelrekruten" und ein Ende der systematischen Vernachlässigung des Landes, ein Ende der Manier, einem Lande, das gelähmt, das Selfgovernment aufdringen zu wollen mit den Worten: „Du bist ja frei, tanze doch!" — Dann wird's auch drüben besser werden. Es hat übrigens noch einen anderen Grund, daß die Spötter sich mäßigen. Im „Telegraph" und in den Wochenblättern, welche eigene Korrespondenten in New York haben, finden Sie folgende Äußerungen: „Ich halte es als Engländer für meine Pflicht, die englische Presse um einen anständigen Ton Amerika gegenüber zu beschwören. Auch in betreff Irlands, des alten drüben und des neuen hier, das zehn Millionen Beine hat." Oder: „Die Majorität der amerikanischen Journalisten sind Irländer vom ,Herald' abwärts, und alle sind Fenier. Mit ihnen haben sich die Lecturers verbündet und halten Vorlesungen über Irland gegen England in Stadt und Land. Kommt es zu einem neuen Preßstreite zwischen England und Amerika, so kommt es bald zu Schlägen. Darauf verlassen Sie sich; denn so ein Hunderttausend störende Abenteurer in einem hier noch immer populären Kriege mit England auf dem nächsten Wege über Kanada loszuwerden, hat viel Verführerisches inmitten ungeheurer Waffenhaufen, an denen die Röte noch nicht trocken geworden. So kalkulieren hier selbst ruhige Leute." Freilich ist wohl viel Übertreibung darin und Yankee-Geflunker, aber es hat eine gewisse Wirkung. Mit Ausnahme der Tory-Presse haben übrigens die Blätter hier schon zumeist mit einem „praktischen Schieler aufs Geschäft" es aufgegeben, noch immer auf der zerrissenen Saite „Secessia" zu spielen, d. h. den Süden der Vereinigten Staaten zu protegieren. Viel Wahres sagt die konservative „Sunday Times": Da ist kein Hof, kein Adel, kein Parlament in Irland. Das Geld, in Irland gezahlt, kommt nie zurück nach Irland. Das Schloß zu Dublin ist der Sitz eines Vizekönigs, um den, als um einen nur Gleichgeborenen, der irische Adel sich nicht sammelt. Es sollte ein Sitz des wirklichen Königtums auf einen Monat im Jahre werden. Der Irländer hat viel Loyalität, sieht Pracht gern. Er ist voll Wärme, Großsinnigkeit, Poesie, Versöhnlichkeit, Schwärmerei, und hält noch offene Tafel mit seinen Brosamen. Laßt ihn mitunter sehen, wem gegenüber er loyal zu sein hat! Es gibt kaum ein loyaler gesinntes Volk. Zeige man ihnen, daß die Königin und der Hof sich auch einmal zu Hause und wohl in Irland fühlen können und nicht nur in England und Schottland, wo man so empfindlich, glaubt man sich vom Hofe einmal versäumt. Man sagt in England, in Irland drohe der Person der

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London, 27. September

Souveränin Gefahr! Das ist eine Verleumdung. Man hat Irland den Zement der „sozialen Kohäsion" entzogen. Irland braucht eine mutige und herzhafte Anerkennung seiner „Teilhaberschaft am Reiche", der Identität seiner Interessen mit dessen Interessen, eine Befreiung von dem drückenden Gefühl, daß es verschmäht wird, ein kluges Nachfragen nach seinen Instinkten, Vorurteilen und Rasse-Besonderheiten voll Menschenkenntnis. Der ärmste Irländer hat gehört, daß Prinz Albert einst zu Humboldt gesagt, „er könne die Irländer nicht ausstehen". Das hat bis heute gewurmt und hinderte viel an den Festlichkeiten bei der Enthüllung einer Statue des verstorbenen Prinzen in der irischen Hauptstadt. Als vor zwei Jahren die Königin Irland auf einige Tage besuchte, brachten englische Blätter eine Illustration Irlands als eines barfüßigen Bauernmädchens, ein Schwein am Stricke führend. Dies und vieles andere ist bis zu den untersten Schichten der Bevölkerung durchgedrungen und warb für die Rasereien der amerikanischen Fenier. Es sind viele Schneider unter den Verhafteten. Die alte Geschichte. Die „fenische Flotte" von fliegenden Holländern muß wohl umgekehrt sein. Aber man scheint auch hier „umkehren" zu wollen, und damit wäre viel geändert und viel gewonnen. Man bereitet schon eine Bill für das nächste Parlament vor, um das, was in England ungeschriebenes Gewohnheitsrecht ist, für Irland zu einem Gesetz zu machen, den Schutz des Pächters gegen allzu willkürliche Austreibung ohne

Entschädigung für vorgenommene Verbesserungen. —

Nach vielem Schütteln ist endlich die Katze aus dem Sack gefallen. Wir wissen jetzt ganz genau, was den Zwistigkeiten mit Abessinien

zugrunde

gelegen und noch liegt. Entschuldigen Sie die sehr vulgäre, aber ungemein sinnvolle Redensart, wenn sie auch nicht in ein publizistisches Vocabularium paßt. Sie heißt „Karnickel hat angefangen". Im allgemeinen kann ein britischer Diplomat recht lange eine Nase sehen, ohne sie „anzuerkennen". Das englische Kabinett hat endlich auch den letzteren Fortschritt gemacht und den Denkzettel gebucht. Es war im Jahre 1849, als England einen Vertrag mit Kaiser Theodorus

abschloß, in welchem es

seiner Anerkennung noch das Versprechen hinzufügte, alles zu tun, um Abessiniens Verbindung mit der See ungefährdet zu erhalten. Theodorus nahm dies wörtlich — „um so schlimmer für ihn", sagt die englische Presse. England trug den Vertrag schwarz auf weiß nach Hause und erlaubte dem Vizekönig von Ägypten

bald darauf, dem Kaiser die ganze

Seeküste wegzunehmen, ohne daß man auch nur eine Depesche für das Blaubuch abgesendet. Der türkische Vasall beeinträchtigte den Theodo-

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1865

rus mit wachsendem Appetit in Land und Leuten, ohne daß man sich in Downing Street rührte, und letzterem wurde fast eine Art türkischer Vasallenschaft aufgezwungen. England gab ihm auf alle Vorstellungen nur den üblichen diplomatischen Ricke-Trost und kehrte sich sonst nicht an den — „Nigger". Darauf wendete sich Theodorus, an Englands christliche Gesinnung appellierend, an die Königin in einem Schreiben, in welchem er, „ohne ausdrücklich des Vertrages zu erwähnen", als Christ den Beistand eines christlichen Staates gegen die Übergriffe der Bekenner des Islam begehrte. Keine Antwort. Inzwischen machte des Kaisers „englischer" Großkämmerer und Obergeneral in Gemeinschaft mit dem vielgenannten englischen Konsul, Kapitän Cameron, in großer Politik, der inneren und auswärtigen des Landes, und um ihre eigene Wichtigkeit zu erhöhen, versicherten sie dem Kaiser, England werde dem Vertrage dennoch nachkommen. Davon geschah indessen nichts. Im Gegenteile versäumte England eine andere demselben auferlegte Verpflichtung, nämlich die nach Jerusalem wallfahrenden Untertanen des Kaisers gegen die Türken zu schützen und sah ruhig zu, als Kopten, Armenier und Türken gemeinsam die abessinischen Christen aus ihrer Kirche und ihrem Konvente zu Jerusalem vertrieben und die Gebäude konfiszierten. Nun war der Becher voll und Theodorus hielt Cameron als Pfand für englische Vertragstreue „inne". Dies sind die Fakta. Die regierungsfreundliche Presse entschuldigt das Kabinett in zwiefacher Weise; erstlich habe Russell den Cameron vor seinem Intrigieren gewarnt, und zweitens (und das ist das Naivste) habe Theodorus selbst den Vertrag ignoriert. Wodurch? Dadurch, daß er in seinem Schreiben an die Königin sich nicht „ausdrücklich" auf denselben berufen, sondern an die christliche Beistandspflicht allein appellierte. So stehts gedruckt. Die Torypresse gibt nur ein halbes Gemurmel von sich, weil auch einem Tory-Kabinett die Vernachlässigung jenes Vertrages mit zur Last fällt. So hilft man sich damit zu sagen, es sei kein bestimmter Minister, auch nicht Mr. Layard zu tadeln, auch kein bestimmtes Kabinett — sondern das „Office", das „Auswärtige Amt" als „Begriff", vermutlich die Akten-Makulatur und der Tintenwischer. Man steckt in einer Sackgasse und keiner will die Fensterscheibe zerbrochen haben. Cameron ist nur „paroliert" und der Kaiser, ein „starker und hochsinniger Herr", wie sein Freund Graf du Bisson schreibt, hat wenig Geduld. Wir werden sehen, was die neuerdings abgeschickte britische Gesandtschaft von gelehrten Afrikareisenden bei Theodorus ausrichtet. Cameron haftet unterdes für den „Schein". [Nr. 229, 30. 9. 1865]

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London, 4. Oktober

Der Baumwollen-Prozeß und die Baumwollen-Anleihe Beteiligung der Journale p* London, 4. O k t o b e r * Wenn England oder eine ausländische M a c h t in eine diplomatische Verwickelung geraten und die Zeitungen hier wegen eines eigenen Urteils verlegen sind, heißt es bei ihnen: „Laßt uns hören, was Vattel sagt", oder: „Wie unser großer Landsmann Wheaton in seinen Elementen internationaler Gesetze sagt". Beide werden jetzt wieder eifrig zitiert, um die Amerikaner verschiedene Ballen schöner Baumwolle vergessen zu machen, welche ein gewisser englischer Reporteur Prideau (alias Prioleau, denn beim ersten Versuch mißlingt der Presse fast immer das Buchstabieren eines unenglischen Namens) im Mai dieses Jahres aus Galveston nach Liverpool entführte. Die südstaatliche Regierung war der Auftraggeber, diese Schiffsladungen in Liverpool teils für ihre Rechnung zu verkaufen, teils damit von der „südstaatlichen Baumwollenschuld" einiges an die englischen Darleiher abzutragen. Dies geschah zu derselben Zeit, als der letzte Heerführer der Südlinger, der General Kirby Smith, sich bereiterklärte, „alles dem Staate gehörige Eigentum und Kriegsmaterial dem Norden zu übergeben". Damals bestand die südstaatliche Regierung schon aus Flüchtlingen, wiewohl Texas, wo die Baumwolle ausgeschifft ward, noch bei der Sache des Südens stand. Kirby lieferte aus, was er hatte; aber die Nördlinger verlangten sofort auch die Auslieferung dessen, was er nicht hatte, nämlich obige schöne Baumwolle. Der amerikanische Gesandte begann nun hier Forderungen auf Rückgabe des Artikels zu stellen und da nach englischem Sprüchworte „das Haben und Festhalten neun Zehntel des Rechts vor dem Gesetze a u s m a c h e n " , erfolgte diesseits eine Verweisung auf die Gerichte. Der Prozeß „United States versus Prioleau" wickelte sich im Juli ab. Die Entscheidung des präsidierenden Vize-Chancellor lautete dahin, daß die Regierung der Vereinigten Staaten der südlichen „de facto-Regierung" einfach sukzediert

habe, mithin zu-

gleich mit dem Erwerb von deren Eigentum auch die an solchem haftenden Verbindlichkeiten übernommen hätte. M a n wolle ihr die Baumwolle indessen wieder zustellen gegen

Berichtigung

der Schulden,

für welche

dieselbe teilweise als Unterpfand zu dienen habe. Hatte man nun „drü-

Wir ersuchen um Erfüllung unserer geschäftlichen Bitte vom 5. September. D. Red.

566

1865

ben" auch nur (nach oben erwähntem Sprüchwort) durch den Nichtbesitz des Objekts erst „ein Zehntel des Rechts vor dem Gesetz" auf seiner Seite, so machte man doch das Möglichste daraus. Mister Seward, Johnsons Staatssekretär, ließ sich auf jenen Austausch von Gefühlen ein, den die knappe Sprache „Depeschenwechsel" nennt, und gab zuletzt dem amerikanischen Gesandten Mr. Adams hierselbst den Auftrag, dem Kabinett höflichst und freundlichst zu versichern, wie seine Regierung auf der bedingungslosen Auslieferung der Baumwolle als auf einem Recht bestände, indem dieselbe nie eine de facto-Regierung des Südens anerkannt, noch sich für deren Schuldverpflichtungen verbindlich gemacht habe. Die letzten Freitags-Depeschen aus New York kennzeichnen den Inhalt jenes Depeschenwechsels in dieser Weise. Das fiel wie eine boule asphyxante (vulgo Schnüffelbombe) in unsere offiziösen Preßcomtoire, wo man seit einiger Zeit kehrt gemacht und, die Times sogar im Nachtrabe, begonnen, dem Präsidenten Johnson unterschiedliche Komplimente zu machen. Man beantwortet auf dieser Seite die Argumente Mr. Sewards mit folgendem: „Ihr habt damit, daß Ihr mit Kirby Smith unterhandelt, mit einem Bevollmächtigten der de facto-Regierung unterhandelt und jedenfalls deren Staatseigentum nicht von ihm als von einer Privatperson in Empfang genommen. Ergo muß Eure Forderung rund abgewiesen werden." Doch was publice spitzig, kann privatissime glatt gemacht werden. Wer immer der opferwillige Privatbankier gewesen sein mag, der hier und dort schon verschiedene andere Querelen zwischen Britannia und Clumbia in den Papierkorb eskamotiert, zwischen Leuten, denen ihre Mittel das erlauben, wirkt Gold immer als ein milderndes Opiat. Ohne weiteren Schaden zu tun, wird der Depeschenwechsel noch eine Weile fortgesponnen werden; denn Johnson beschäftigt damit die immer über etwas erboste Presse seiner „Staaten" und läßt durch sie den überflüssigen Qualm auf einem Seitenwege hinaus, weil er dann mit seiner innern Not desto mehr in Ruhe gelassen wird. Man kannte bisher die Landsleute in England nicht, welche jene recht störsame Baumwollen· Anleihe zustande gebracht. Die Amerikaner liefern jetzt hohnlächelnd die Liste, eine Handlung, welche den Betreffenden nichts weniger als angenehm sein kann. Die Liste ist nur klein, 27 Darleiher umfassend. Ich erwähne die Matadore: Sir Henry de Hoghton, Baronet, 180.000 Pfd.; Isaak Campbell u. Co., Waffenlieferanten der englischen Armee, 150.000 Pfd.; der Marquis von Bath 5 0 . 0 0 0 Pfd.; T h o m a s Sterling Bigbee, Schiffsreeder, 140.000 Pfd.; Beresford Hope, Eigentümer der „Saturday Review", 4 0 . 0 0 0 Pfd.; James Spence, Korrespondent der Times in

London, 4. Oktober

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Liverpool, 5 0 . 0 0 0 Pfd.; Μ . B. Sampson, City-Editor der Times, 15.000 Pfd.; John Taddeus Delane, Haupt-Editor der Times, 15.000 Pfd.; W. J . Ridout, Eigentümer der „Morning Post", 4 0 0 0 Pfd.; J . S. Gilliat, Direktor der Bank von England, 10.000 Pfd.; folgende Parlamentsmitglieder: Lindsay 2 0 . 0 0 0 , Laird 2 0 . 0 0 0 , Peacock 5 0 0 0 , Gregory 4 0 0 0 ; vom Oberhause Lord Wharncliffe, Lord Campbell, Lord Donoughmore, Lord Grosvenor usw. Total 8 9 8 . 0 0 0 Pfd. Sterling. Wenn diese Liste nicht ein Yankee-Puff ist, so nimmt es allerdings kaum Wunder, daß die Amerikaner darin eine entschieden offiziöse Parteinahme Englands für den Süden erblicken und die mehrjährige Erbitterung gewisser englischer Journale zum Teil der Sorge um den schwer gekränkten Geldbeutel zuschreiben. Das Geld ist „hin", ganz ohne Zweifel. Man erzählt von einem Farmer, der zu jenen Leuten gehört, die „Kopfweh" für eine Fabel halten, er habe beim Lesen des obigen ausgerufen: „Ich glaub's nicht. Wenn die Zeitungsschreiber so viel Geld verborgen könnten, dann würde ja jeder Leitartikel schreiben. Das ist ja keine Arbeit." [Nr. 235, 7. 10. 1865]

Die Fenier und ihre Uniformen Sir Robert Peel in Irland Erpressungen p::' London, 4. Oktober Wenn amerikanische Blätter versichern, die Fenier dort hofften viel von dem Prozeß Prioleau für ihre irische Republik, so hilft dies den in Irland „ins Loch gesteckten" Feniern sehr wenig. Deren Prozeß hat am Sonnabend begonnen. Das Wertvollste, was man an fenischem Inventarium in Beschlag genommen, sind viele recht saubere republikanische PhantasieUniformen mit Epauletten, so groß, wie verblühter Blumenkohl, welche Uniform die fenischen Ladendiener vor dem Spiegel im verschlossenen Schlafzimmer anzuziehen pflegten. Ladendiener lieben es, schön auszusehen, und da so viele denkende Schneider unter den Arretierten — arretiert um ihres eigenen Bestens willen — so erklärt sich eine solche Vereinigung des Geschäfts mit der fenischen Politik. Unter den Verhafteten befindet sich auch ein amerikanischer Colonel, Byron, der erst vor drei Jahren aus Irland als Torfstecher ausgewandert. Earl Russell will sich, wie gemeldet wird, die Fenier ansehen und zugleich die WeltindustrieAusstellung zu Dublin, die seit Monaten in keiner englischen Zeitung

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1865

mehr e r w ä h n t worden. Es k a n n durchaus nicht schaden, wenn ein englischer M i n i s t e r einmal Irland eine Visite m a c h t . Palmerston besitzt zwar g r o ß e Ländereien dort und ist ein splendider L a n d l o r d dazu, welcher in einem einzigen J a h r e die Farmen mit

6000

Pfd. St. Auslage verbessert

hat; aber er geht nie n a c h Irland, o b w o h l ein irischer Pair, o b w o h l sein Vater ein irischer V i s c o u n t gewesen und seine M u t t e r , die zweite G a t t i n seines Vaters, eine e h r s a m e H u t m a c h e r s t o c h t e r aus D u b l i n , nee M e e . D e r M i n i s t e r für Irland, Sir R o b e r t Peel, fährt w o h l mitunter hinüber und kutschiert en carriere durch die Distrikte, w o die „ödesten M i s e r a b l e s " 3 8 im Freien w o h n e n ; a b e r er k o m m t i m m e r in Streit mit diesem oder j e n e m . K a u m hatte er im Peelschen T a s c h e n w a h l f l e c k e n T a n n w o r t h vor anderthalb J a h r e n mit einem S t o c k den A n g r i f f eines von ihm in eine K a l k g r u b e geworfenen älteren Wählers, wie man sagt, mit heiler H a u t pariert, so k a m er in Irland mit dem H e r z o g e von Leicester in „ t r o u b l e " , was dazu führte, d a ß dieser b e k a n n t l i c h allen a u f seinem G e biete w o h n e n d e n G a s t w i r t e n verbot, dem reisenden M i n i s t e r ein N a c h t lager zu geben. Und auf morgen ist er vor den D u b l i n e r Polizei-Gerichtsh o f zitiert, weil er mit einem B a n k i e r G r a y aus D u b l i n in einem C o u p e erster Klasse „Skandal a n g e f a n g e n " . Es k a m p a n t o m i m i s c h zum B o x e n , lauten die R a p p o r t e . Peel hatte für einen Platz bezahlt und n a h m einen zweiten mit seinem M a n t e l s a c k ein, so d a ß der B a n k i e r die Fahrt in g e k r ü m m t e r Stehstellung zu machen hatte. Übrigens hat Russell es genehmigt, d a ß der H e r z o g von Leicester ihn mit feierlichem Z e r e m o n i e l l in Dublin begrüße. M i t h i n scheint das seinem Kollegen von j e n e m zugefügte M i ß g e s c h i c k ihm nicht besonders nahezugehen. Sir R o b e r t Peel ist, beiläufig b e m e r k t , eine Figur, die m a n in M e c k l e n b u r g sofort auch u n b e k a n n t e r w e i s e mit „ H e r r I n s p e k t o r ! " anreden würde. E r trägt i m m e r den irischen Ziegenhainer, den Shillelagh, wenn auch nicht ganz so keulenartig massiv, in der R e c h t e n und eine Centifolie im K n o p f l o c h . Er ist der Gesundeste und R o t e s t e und Handfesteste des ganzen Kabinetts von St. J a m e s , ein vollzahniger schwarzer K r a u s k o p f , ganz verschieden von dem ausgetretenen schmächtigen blonden G e h e i m r a t Frederik Peel, seinem Bruder. — D u r c h die eben erfolgte Vermählung des 5 0 j ä h r i g e n M i n i sters Earl Granville mit der 18jährigen M i s s C a m p b e l l fallen die G e rüchte zu B o d e n , welche eine Z e i t l a n g durch die Presse liefen, w o n a c h der Earl sich mit der Prinzessin M u r a t verlobt hätte. S o sind die Familien H a m i l t o n (schottisch), Wyse (irisch) und Granville (englisch) a u f einem

38

Anspielung auf Victor Hugos Les Miserables

(1862).

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London, 9. Oktober

sonst nicht mehr ungewöhnlichen Wege keine lieben Verwandten geworden. — Die englische Justiz befindet sich wieder einmal in extremis. Eine Jury hat einen Franzosen Lafourcade des Meineides schuldig befunden, weil er fälschlich behauptet, eine Französin, Madame Valentin, habe geäußert, mit Wertpapieren, die ihr nicht gehören, nach Amerika auswandern zu wollen. Eine andere Jury hat Madame Valentin des Meineides schuldig befunden, weil sie fälschlich behauptet, diese Absicht nicht erklärt zu haben. Da unter solchen direkten Widersprüchen nur eine Person schuldig sein kann, ist, mangels jedes Appellhofes in Kriminalsachen, dem Minister des Innern, Sir George Grey, der Fall zur Entscheidung übergeben, wer von den beiden schuldig und wer als unschuldig der Haft zu entlassen. Das Bedürfnis eines „Staatsanwalts" wird immer lauter und lauter ausgesprochen, da sich solche Absurditäten schon mehrfach wiederholt und mitunter an Leib und Leben gehen, wie der bekannte Mordprozeß Pelizzoni-Mogni bewiesen, wo auch zwei Juries mit ihren Verdikten aneinander gerannt waren. Mit Bezug auf obigen Fall sei übrigens erwähnt, daß ein sehr gewöhnlicher Erpressungsversuch der ist, jemandem unter vier Augen anzudrohen, falls er nicht dem Betreffenden soundso viel auszahle, werde dieser ihn als vorgegebenen Schuldner verklagen und zwei Zeugen dafür „auftreiben", daß der Geprellte habe Äußerungen fallen lassen, er wolle das Land verlassen. Solcher „Anzeige" folgt nämlich die sofortige Verhaftung, die sich auf viele Monate erstrecken kann. Die Schwindler suchen sich immer solche Personen für ihre „Meineide" aus, die lieber jede Summe herausrücken, als sich durch eine lange, wenn auch mit Freisprechung endende Haft ruinieren lassen. Die Presse spricht den starken Verdacht aus, daß der erwähnte Fall in diese Kategorie gehöre und Madame Valentin ein Opfer solcher Konspiration geworden, beneidet auch den Minister nicht um das neue Dilemma. [Nr. 236, 8. 10. 1865]

Schadenfreude. Der Rebell durch Vererbung Der Marat der Fenier. Die „Bodenlosen" in Crawford Street Allerlei. Die Perücke, welche die Köpfe wechselt p* London, 9. Oktober Als jüngst eine englische Zeitung in voller Glühhitze der Erbitterung gegen Deutschland einen kleinen billigen Trumpf damit auszuspielen

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18 65

meinte, daß sie bemerkte, die Deutschen müßten doch schlechte Leute sein, weil sie allein unter den europäischen Nationen ein Wort wie „Schadenfreude" in ihrem Wörterbuche führten, antwortete ein Deutscher in einem Eingesandt: „Gentlemen, vergessen Sie nicht eines englischen Sprüchworts und dann schweigen Sie für immer. Das lautet: ,Trage den Stein sieben Jahre in einer Tasche und dann stecke ihn auf weitere sieben Jahre in die andere, dann aber wird der Moment gekommen sein, jemandem den Kopf damit einzuwerfen.'" Weil nun England weiter kein Schade geschehen, so kann man bei Beurteilung der explodierten fenischen Revolution nicht schadenfroh gescholten werden, wenn man es fast bedauert, daß Lord Russell und Kompanie nicht von außerhalb so eine kleine Depesche über eine „Question Irlandaise" erhalten, etwa in dem Tone, wie er selber sich in anderer Länder Angelegenheiten mischt. Das wäre so hübsch gewesen, und das Ausland hätte dabei recht viele Lacher auf seiner Seite gehabt. Ein kleiner Stich ist es jedoch immerhin, daß den Blättern diesen Morgen telegraphisch gemeldet wird, das „Journal de St. Petersburg" habe den Times-Artikel über die Fenier mit folgendem Kommentar begleitet: „Die Analogie ist so treffend, die Umstände sind so identisch, nur mit Ausnahme ausländischer Einmischung, daß wir es für nötig halten, unsere russischen Leser daran zu erinnern, daß von Irland 1865 und nicht von Polen 1863 dabei die Rede ist." Daß der Times-Artikel über die Fenier übrigens stark auftrug und stark generalisierte, soll nicht in Abrede gestellt werden. Bis jetzt liegen nur gegen zwei verhaftete Fenier Dokumentenbeweise vor, daß sie SansculottenPolitik machen wollten. Der eine nennt sich am Schlüsse eines fulminanten Briefes „Rebell durch Vererbung und milesischer Heide". Auch einen Marat hatten die Fenier in Bereitschaft, in einem gewissen O'Keefe. Er sagt in dem Schriftstück, man müsse es machen wie die Neuseeländer, die auch die Torheit eingesehen, auf Gemeine anstatt auf die Offiziere zu schießen. Die Offiziere in Irland seien die betitelten Landlords, nicht die kleinen Grundbesitzer. Wo Aristokratie, d. h. großer Landkomplex in wenigen Händen, herrsche, werde auch das Gesetz aristokratisch. Die irische Revolution müsse es machen, wie die Franzosen 1792, erst durch die „Voltairianer der liberalen Presse" die Aristokraten niederschreiben und sie dann dem wütenden Volke überliefern. Alles andere sei Unsinn. Man sage wohl, manche seien ja treffliche Leute, aber auch die Würger (Thugs) in Indien seien gute Väter, liebevolle Gatten, vorzügliche Nachbarn. — „Timeo Danaos et dona ferentes. Ich fürchte jeden, der verdäch-

London, 9. Oktober

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tig, auch selbst einen O ' D o n o g h u e . " Die französischen Aristokraten hätten doch immer noch nicht 2 Millionen armer Leute verhungern lassen. Die irische Aristokratie wäre davon die fons et origio.

— So Mr.

O'Keefe. Das ist eine Kopie von 1792 bis auf das Tz. Auch 48er Berliner Reminiszenzen werden dabei wach. Wie ähnlich doch auch ein faules Ei dem anderen! Der „Standard"

nennt den Fenianismus eine Art Mazzini-

stischen Komplotts, in welches man blutjunge Leute verlocke. Dennoch scheiterten die Versuche einzelner Fenier, mit der schwarzen Bande der anderen europäischen Revolutionäre anzuknüpfen, eben daran, daß die Voltairianer unter den Irländern denn doch sehr knapp, aber die Feinde Garibaldis überaus zahlreich sind. Auch hiesige „Eigentliche" von der deutschen Demokratie reden von den Feniern nur als von „blödsinnigen Papisten". Es scheint, daß die in London

bestehenden 20 fenischen Clubs

der St. Patricksbrüder einigen von dem schauerlichen irischen Pöbel hier „Schritt und Tritt" beigebracht haben. So passierte es in diesen Tagen, daß einige hundert „Bodenlose" sich in Crawford-Street um drei musizierende schottische Dudelsacksspieler sammelten. Als der „Mann mit den weißen Handschuhen", der Policeman, sie auf die Störung der Passage aufmerksam machte und einen Krakeeler verhaften wollte, schrie dieser: „Kein Englischer — soll uns anrühren. Fenier! Rechts schwenkt, marsch!" und im Nu stand der Janhagel in Reih und Glied (einige entlassene Soldaten in schäbiger roter Uniform darunter) und marschierte in strammem Tempo, die Dudelsäcke voran, in die Nebengassen. Die fenischen Clubs, zu denen man sonst mit leicht geborgter Karte und einem Viergroschenstück Entree immer an Sonntags-Abenden leicht Zugang hatte, tagen zur Zeit nicht, ebensowenig die zu Birmingham

und Shef-

field, welche einen Ableitungs-Krawall in den großen Messer- und Waffenfabriken zu organisieren die „Aufgabe" gehabt. Es lag im Plane, bei einem Marsch auf Dublin zugleich durch telegraphische Chiffre-Depeschen in Liverpool, Birmingham und Sheffield, wo jeder vierte Mann ein Irländer, solche Aufläufe zu kommandieren. Dieser Plan wurde im „Irish Liberator" zu London schon vor einem Jahre ganz ohne Rückhalt besprochen. Wie lächerlich auch die Geschichte in Irland selbst, in England sind wir jedenfalls ärgerem „Unfug" entgangen. Bis heute beträgt die Zahl der Verhafteten in Irland 2 0 3 , wovon acht von englischem Boden geholt wurden. Von den 5 0 . 0 0 0 amerikanischen Feniern, welche der „New York Herald" als bereits in Irland „eingeschlichen" bezeichnet, sind bis jetzt erst ein Dutzend etwa zur Haft gebracht. Die übrigen haben

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1865

die unsichtbar machende Nebelkappe noch nicht abgelegt. — Wegen Mangel an anderem Stoff lassen die Blätter wieder verschiedene Enten fliegen. Biarritz wird durchforscht bis in das geheimste KalkulationsKabinett „des Kaisers", wie man hier fast immer ohne jeden Beisatz schreibt. Ein Pfiffikus legt viel Gewicht auf das Gerücht, wonach Graf Bismarck bei James Rothschild zu Paris diniert habe. Das drohe den auf „budgetlose Verlegenheiten" spekulierenden Fortschrittsleuten Preußens den Todesstoß usw. — Die Differenz mit den Vereinigten Staaten wegen der Beraubung der Bank von St. Albans durch bewaffnete Südlinger, die aus Kanada eingefallen waren, ist bis auf einen kleinen Rest erledigt. Das Geld ist der Bank zum größten Teil schon zugegangen. Was noch fehlt, ist in „Gerichtskosten" draufgegangen, wie es heißt. — Die alten kirchlichen Gegner Dr. Newman

und Dr. Pusey sind nach zwanzigjähri-

ger Trennung wieder zusammengekommen unter dem Dache des Parlamentsmitgliedes Sir J . Simeon und haben, wie ein Provinzblatt versichert, sich völlig ausgesöhnt. — Weiterer Erklärung bedarf noch die Mitteilung, daß es im südöstlichen Europa bei Engländern Sitte geworden, mangels einer anglikanischen Kapelle das Abendmahl in der griechisch-katholischen Kirche zu nehmen. Es wird hinzugefügt, daß der Archimandrit der serbischen

Kirche die Hand dazu geboten, zwischen Anglikanern und

Serben eine kirchliche Gegenseitigkeit mit Bezug auf die Kommunion ins Leben treten zu lassen. Ich gebe diese Notiz, wie ich sie finde. — Das immer mit allerhand Geschichtchen paradierende „Court J o u r n a l " will davon wissen, der piemontesische Prinz Humbert habe bei seiner letzten Anwesenheit in England eine Zuneigung zu der Prinzessin Marguerite, ältesten Tochter des Herzogs von Nemours, gefaßt, was „der Vater in Florenz wegen westlicher (napoleonischer) Rücksichten nicht zugeben zu dürfen glaube". Doch Prinz Humbert scheine wenig Lust zu haben, sich dem Veto zu fügen. — „Le grand Lord M a i r e " ist für die Nachbarn an der Seine immer ein Etwas von sehr erhabener Unbegreiflichkeit. Die Vollmacht, einen widerspenstigen Alderman auf Stubenarrest in den Tower zu schicken oder dem Souverän das City-Tor „Temple-Bar" zu verschließen, geht nach ihrer Ansicht mit einer „Perücke" als Symbol alle Jahre auf einen anderen über. So heißt es in einem hierher gelangten Blatte : „Letzte Woche ging la perruque du Lord-Maire auf Alderman Philipps über." Diese Perücke, „welche die Köpfe wechselt", ist jedoch nicht ganz so alt, wie der 600jährige Sherry der Lordmayors. [Nr. 2 4 0 , 13. 10. 1 8 6 5 ]

London, 16. Oktober

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Allerlei Sticheleien Der amerikanische Handel und das vergessene Flottenfest Die „ A l a b a m a " und der kranke Geheimerat p* L o n d o n , 16. O k t o b e r * D i e meisten Blätter brachten a m S o n n a b e n d Leitartikel, die mit einer Entschuldigung b e g a n n e n , einer Entschuldigung dafür, d a ß sie zum zweiten oder dritten M a l e , je n a c h d e m , die publizierte K o r r e s p o n d e n z zwischen Mr. Seward, dem a m e r i k a n i s c h e n

Gesandten

in L o n d o n ,

Mr.

A d a m s , und Lord Russell andererseits besprechen m ü ß t e n . Z w a r folgte der Entschuldigung nichts Neues, nur eine U m s c h r e i b u n g des schon mehrere M a l e besprochenen Entschlusses, der aller höflichen A r a b e s k e n entkleidet, die eine unzweideutige Phrase übrig läßt: „ J o h n Bull zahlt nicht, im weitesten Sinne n i c h t s . " M a n kann manches in der Welt mit G r o b h e i t e n eintreiben, aber selten — Geld. D a r u m ist auch die Korrespondenz so überaus höflich. Auch die „Presse" beißt die Z ä h n e zusammen und feilt ein wenig mehr als sonst an dem beliebten wüsten Sentsationsstil, der berechnet ist, beim Lesen nervöse shocks hervorzurufen. Nur dem europäischen Auslande gegenüber werden alle Steine vom H e r zen gewälzt, und das „ J o u r n a l des D e b a t s " wird heute gehauen und leidet für die Kollegen in A m e r i k a . Es h a b e sich nicht so „ l ö b l i c h " ben o m m e n , wie der M o n i t e u r , der o h n e K o m m e n t a r von der K o r r e s p o n denz Notiz nehme, nicht so „ l i e b e n s w ü r d i g " , wie der „ C o n s t i t u t i o n n e l " , der nur die T o r y - B l ä t t e r Englands wegen ihres noch i m m e r bitteren T o nes gegen A m e r i k a leise rüge — das „ J o u r n a l des D e b a t s " ergehe sich in Sticheleien gegen England trotz der „international visits", trotz der „international e x h i b i t i o n s " , ja vermutlich trotz der „direkten W ü n s c h e des K a i s e r s " , in d e m , was man leider in Pariser Cafes gern lese. Es sage: „Es ist unmöglich zu leugnen, d a ß die englische Regierung ein wenig zu gern die Augen zudrückte zu d e m , was in englischen H ä f e n während des amerikanischen Krieges v o r g e g a n g e n " und „doch o h n e Zweifel von dem Streite wird nichts übrig bleiben, als eine Erinnerung an die zweideutige Rolle, welche die britische Regierung während des Krieges spielte, eine Rolle, auf die sie nicht besonders stolz sein k a n n , wie ihr in höflichsten Worten ja auch zu verstehen g e g e b e n . " D a s französische B l a t t , mehr an Regierungseinfluß und Regierungshinderungen g e w ö h n t , wirft ein wenig zuviel von der Last a u f die offiziellen Schultern einer in unserem merk* Dieser Brief ist noch vor dem Tode Lord Palmerstons geschrieben. D. Red.

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würdig verzwickten Gesetzesschematismus „verhedderten" Parlamentsregierung. Es kann wohl sein, daß ihre Befehle strikter waren, als die Willigkeit der Organe, sie auszuführen und die großen und kleinen Alabamas sahen keinen Vorteil, mit dem Absegeln zu warten, bis es zu spät geworden. Man muß in England gewesen sein um jene Zeit, um zu wissen, wie so männiglich darüber geurteilt wurde. Man hörte über das Entschlüpfen des „Alabama" überall die Redensart: „Of course, we could not help it" (Versteht sich, wir konnten nichts dafür), und dabei die spaßhaft-ernsten Gesichter und die Augen, die vor Vergnügen glitzerten. Wenn einem das auf Schritt und Tritt begegnet, so ist wohl der Schluß kein voreiliger, daß solche practical jokes bei der großen Mehrheit der Nation gebilligt und die Sache, von den regierenden Klassen des Geldes in Szene gesetzt und, obwohl ein öffentliches Geheimnis, doch so arrangiert wurde, daß der Attentäter nicht aufgefunden wurde. Bekanntlich stützte sich schon im vorigen Jahre die Abwehr der englischen Regierung wegen des „Alabama" nur darauf, daß der mit der Ausführung des Kabinettsbefehls zur Arretierung des Schiffes beauftragte „Geheimrat" grade krank war und dies einige Tage Verzug verursachte, währenddessen das Schiff die hohe See gewann. Wie immer die Sache mit den anderen konföderierten Kreuzern sich verhalten mag, in betreff des gefährlichsten, des „Alabama", ist die Regierung nicht gerade in der reinlichsten Lage. Es wäre doch ein eigentümlicher „Vorfall", wenn internationale „Mißverständnisse" mit einem kranken Geheimrat mustergültig entschuldigt werden könnten. Es müssen übrigens auch noch andere französische Journale „gestichelt" haben; denn der Pariser Korrespondent des „Daily" ist ganz aus dem Häuschen und zeigt, daß auch er die schönen Tage von Cherbourg und Portsmouth nur als halben Ernst gefeiert. Er sagt: „Die Tatsache ist, der Franzose mag den Engländer gerade so gern, wie der Engländer den Franzosen, und nicht mehr. Kommen ein Franzose, ein Engländer und ein Holländer zusammen, so werden die beiden ersteren mit dem letzten willig fraternisiern, aber untereinander — nein! Sowie der Waffenstillstand in der Krim eintrat, gingen die englischen Offiziere sofort davon und besuchten die Russen." Wem das keine Aufschlüsse gibt, der hat nie einen Hausschlüssel besessen. — Aus der amerikanisch-englischen Korrespondenz geht übrigens hervor, daß man in Washington das Thema zum Temporisieren gegenüber der Aufregung im Lande benutzte; wurde doch ein Schreiben von Adams vom Mai erst drei Monate später durch Russell beantwortet, ohne daß sich ersterer darüber im mindesten ungeduldig zeigte. Außerdem ist augenblicklich

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London, 16. Oktober dort entscheidend, was vom allerneuesten D a t u m ist. Präsident

Johnson

(so wird hier an Kaufleute geschrieben) soll durch die ungeahnte rasche kommerzielle Rekonvaleszenz in den Vereinigten Staaten zum Aufgeben manches ursprünglich hitzigen Vorsatzes bewogen sein und Äußerungen haben fallen lassen, in denen er seine größte Abneigung ausgesprochen, die Genesung durch neue Konvulsionen zu unterbrechen. Dies wäre wohl ganz in dem Charakter des Mannes, als welcher er sich bis jetzt in seinen Handlungen

gezeigt hat. — Außer den obigen Sticheleien hat auch

die Presse noch andere wegen Irlands

heute abzuwehren. Sie kommen

von allen Seiten und die Editoren sind augenblicklich in äußerst üblem Humor. Neben den deutschen Blättern steht aber wieder zu ihrem Ärger die französische Presse und sogar der „liebenswürdige"

„Constitution-

nel". Natürlich will niemand es Wort haben, daß die Sticheler Recht hätten. M a n bemüht sich, was ganz unnötig, zu beweisen, wie nötig die Maßregeln gegen Irland; — das ist aber nicht bestritten. England erhält nur den wohlmeinenden Rat, hinfüro nicht ausländische Regierungen zu schmähen, wenn diese sich gegen Insurrektionen in zweckdienlichster Weise wehren. Dennoch aber sind in Irland Dinge vorgefallen, die gleichen

dastehen.

ohne-

D a ß man auf Denunziation eines „Bäckergesellen"

hin eines angesehenen Friedensrichters Haus in dessen Abwesenheit erbricht und alle seine Briefschaften durchstöbert und darnach die ganze Geschichte für ein Versehen erklärt, ist zum mindesten originell. Noch ein anderer Fall unter mehreren: Das Schiff „Helvetia", von New York nach Liverpool fahrend, legt, wenn

es Passagiere für Irland hat, in

Queenstown an. Bei seiner letzten Herfahrt hatte es deren keine, dennoch wurde ein bewaffnetes Fahrzeug abgeschickt und der Kapitän gezwungen, in jenen Hafen einzulaufen. Die darauf befindlichen 22 Passagiere wurden gelandet, samt und sonders arretiert, in eine Remise gesteckt und dort von Kopf bis zu Füßen visitiert. Doch die Hauptsache k o m m t noch: Man

nahm

ihnen

alle Briefe

ab,

erbrach

sie und las

sie.

Da aber nichts Anstößiges darin gefunden — „konnten sie wieder geh e n " , bis auf einen, der sich noch wegen Besitzes eines Revolvers „verständigen" sollte. Das meldeten englische Blätter ohne Rüge.

ein

Wort

der

Ist es je in Deutschland, selbst zur Zeit „wirklich ausgebrochener

Revolution" vorgekommen, daß man auf einem Eisenbahnperron den Passagieren mehr als ihre Legitimation abforderte, geschweige sie ohne persönlich fixierte Verdachtsgründe rudelweise visitierte und ihre Briefschaften erbrach? Und das in Irland zu einer Zeit, wo noch keine Fensterscheibe eingeworfen oder auch nur eine fenische Katzenmusik stattgefun-

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1865

den. Auch macht es einen komischen Eindruck, zu lesen, wie selbst zur Überrumpelung eines einzelnen kleinen Hauses die bewaffnete Polizei nicht unter 5 0 — 6 0 M a n n ausrückte, um eine alte Wittfrau beim Kaffeekochen zu überraschen. Der „Telegraph" macht viel Wesens davon, daß in Irland ja nicht das Militär (wie auf dem Kontinent die „Soldateska") dergleichen ausführe. Weiß man, wie ein irischer Policeman aussieht? Er trägt einen Helm, ein Gewehr, einen Säbel, Patronentasche und Zubehör. Wenn der nicht einem Soldaten zum Verwechseln ähnlich sieht, so muß uns die englische Presse eines Besseren belehren. Akzeptieren wir jedoch solche entschlüpften Geständnisse, wie das folgende von Seiten eines liberalsten Blattes in betreff der M a ß n a h m e n gegen das Journal „The Irish People": „Handlungen, die der Gesellschaft schädlich, können keine Straffreiheit beanspruchen, nur weil die Übeltäter mit der Herausgabe einer Zeitung zu tun h a b e n . " Genau so! Dies ist eine Antwort, die all den Schwadroneurs der hiesigen Presse so oft schon vom Auslande gegeben worden. Wie würde man aber nach alledem mit wirklich „ausgebrochenem K r a k e e l " verfahren, wenn man schon wegen der „vermutlichen" Krakeeler, der Fenier, in Irland das Oberste zum Untersten kehrt? Die englische „Freiheit" hat also doch auch recht viele Haken, wenn ihr „Schutz" auf die Probe gestellt wird. [Nr. 248, 22. 10. 1865]

Besuch Sr. Majestät des Königs * t * Höxter, 21. O k t o b e r Gestern Mittag gegen 1 Uhr verkündete das Läuten der Glocken in der Stadt die Ankunft des Extrazuges, der unsern geliebten Landesvater zu uns, nach H ö x t e r und Corvey, bringen sollte, und der Jubelruf der dicht gedrängten Menge meldete denen, die keinen Platz in der N ä h e mehr hatten bekommen können, daß Se. M a j . der König bereits auf dem Bahnhofe angekommen. Der Herzog von Ratibor, Fürst von Corvey, sowie die Chefs der Behörden empfingen den König und geleiteten ihn nach Corvey. Ich übergehe hier den Glanz, den der Herzog, seinem erhabenen Gaste zu Ehren, in den Equipagen und sonst überall entwickelt hatte, und erwähne nur noch, daß vor dem Schlosse die ganzen Schulkinder von H ö x t e r aufgestellt waren. Als Se. M a j . im Schlosse abgestiegen war, kehrte Allerhöchstderselbe unerwartet zurück und trat zwischen die Schuljugend, mit dem und jenem Kinde auf die huldvollste Weise einige

Höxter, 21. Oktober

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Worte wechselnd. — Um 2 Uhr wurden die verschiedenen Behörden und Beamten vorgestellt, insbesondere vom Herzoge die Vertreter des Fürstentums Corvey, bestehend aus dem Magistrate und den Stadtverordneten von H ö x t e r und den Gemeindevorständen der Dörfer, wobei Sr. M a j . eine Adresse und ein Album mit Sammet-Umschlag, worauf ein silberner Adler sich befand, dargebracht wurde. Das Album enthält 14 Gemälde von den schönsten Punkten Corveys und H ö x t e r s , gemalt vom hiesigen Landschaftsmaler Müller. Auch war eine Deputation der Stadt Nieheim erschienen, die eine Kiste „Nieheimer Käse" überreichte. Den Schluß der Vorstellung bildete eine Deputation des hiesigen konservativen Vereins, der eine kurze Begrüßungs-Adresse Sr. M a j . darbrachte. Als die Adresse vom Präsidenten des Vereins, Oberlehrer Greve, vorgelesen war, entgegnete Se. M a j . der König darauf, „ d a ß Er den konservativen Vereinen viel verdanke, d a ß die Vereine ja fortfahren möchten in ihrem Streben und Wirken, zumal es jetzt endlich zu tagen scheine!" — Um 5 Uhr fand das Diner statt und um halb 8 Uhr begann die U m f a h r t der Allerhöchsten und H o h e n Herrschaften. In der prächtigen, mit alten Kastanienbäumen bestandenen schnurgeraden Allee von H ö x t e r nach Corvey standen zu beiden Seiten 800 Pechfackeln, die mit ihren rötlichen Flammen einen besonderen Eindruck machten. In der Stadt aber wartete am Corveyer Tore eine unabsehbare Menge Menschen, welche, als endlich eine ganze Reihe Wagen die Herrschaften in die Stadt brachte, in einen endlosen Jubelruf ausbrachen, mit dem das Läuten der Glocken sich mischte. Vorauf dem Wagenzuge ritt ein Husaren-Offizier, ein Prinz von Wittgenstein, d a n n folgten zwei berittene G e n d a r m e n , d a n n k a m ein Wagen mit dem Regierungs-Präsidenten von Minden, dem Landrat des Kreises H ö x ter, dem Corveyschen General-Direktor und dem Bürgermeister von Höxter. N u n folgte die Equipage, worin Se. M a j . der König mit dem Herzoge von Corvey saßen, und hierauf kamen Equipagen mit II. KK. H H . dem Prinzen Carl, Friedrich Carl, der Frau Prinzessin Carl, der Frau Herzogin von Corvey, sowie dem General Vogel v. Falckenstein und mehreren anderen Notabilitäten. Dieser Z u g konnte sich nur langsam bewegen; denn das Gedränge w u r d e immer größer, ein jeder wollte „den König sehen". Die Straßen leuchteten wie ein Lichtmeer: Guirlande reihte sich an Guirlande; Fahnen und Fähnchen, alle schwarz-weiß, auch wohl schwarz-grün-gelb, gab es unzählige. So ging der Z u g über die Grubestraße, die M a r k s t r a ß e , um das prachtvoll erleuchtete und mit einem Transparent geschmückte Rathaus h e r u m , die Westerbachstraße herauf und sodann durch die nämlichen Straßen wieder zurück nach

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Corvey. Die Leutseligkeit Sr. Maj. machte die zuschauende Menge kühn; alles drängte sich um den königlichen Wagen, so daß der Wagen oft einige Minuten stillehalten mußte. Eine Absperrung in den Straßen war auch gar nicht angeordnet, so daß jedermann sich nach Belieben dem Könige nahen konnte. Ein Bürger sprang an den Wagen und rief: „Majestät, wir sind alle Preußen durch und durch!" Se. Maj. nickten und grüßten überall und schienen herzliches Wohlgefallen an der Haltung des Volkes zu empfinden. Sie trug auch das Gepräge der größten Einmütigkeit; da war keine Rede von irgendwelcher politischen Meinungsverschiedenheit, alles war enthusiasmiert, und die vielen fremden Besucher aus dem nahen Braunschweigischen, Hannoverschen und Hessischen haben wohl einen mächtigen Eindruck von dieser Feier nach Hause mitgenommen. — Heute Mittag um 12 Uhr aber fuhr Se. Maj. der König mit den Königlichen Prinzen wieder ab, zunächst nach Holzminden, nachdem I. Κ. H . die Frau Prinzessin Carl schon einige Stunden vorher abgereist war. Wiederum war auf dem Bahnhofe ein zahlreiches Publikum versammelt, die Glocken läuteten und — fort brauste der Zug, geführt von der Lokomotive „Corvey". — Daß das hier garnisonierende 2. Bataillon 6. Westfälischen Infanterie-Regiments Nr. 55 ebenfalls alles tat, um die Anwesenheit des Königlichen Kriegsherrn zu feiern, versteht sich von selbst. Das Offizier-Korps war jedesmal auf dem Bahnhofe versammelt, wo auch die Regiments-Musik aufgestellt war. Eine von dem Bataillon gestellte Ehren-Wache war größtenteils aus der dekorierten Mannschaft des Bataillons gebildet. — Noch sind hier einzelne Beispiele der herzgewinnenden Freundlichkeit und Gnade Sr. Majestät in aller Munde. Namentlich gedenkt man mit Freuden der Herzlichkeit, mit der der König dem Bürgermeister von Höxter nach beendigter Umfahrt die H a n d drückte und Seine Freude über das Willkommen aussprach! Möge diese Erinnerung auf lange Zeit hin hier gute Früchte bringen! [Nr. 250, 25. 10. 1865]

Reform oder nur re-form. Mr. Gladstone und Earl Russell Die amerikanisch-französischen Kriegsgerüchte Cholera. Armensteuer p* London, 21. Oktober „Earl Russell ist von Seiten Ihrer Majestät mit Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt worden" oder „It is understood that Earl Russell has

London, 21. Oktober

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received her Majesty's commands to re-form the Administration". Diese beiden Zeilen finden sich heute in mehreren Toryblättern dicht hinter den Leitartikeln. Reform oder re-form? Das ist die Frage. Ersteres Wort würde mehr einem Scherze gleichen, da eine Reform doch eine Verbesserung bedeuten müßte; ist aber re-form die authentische Lesart, so ist sie doch nicht scharf genug gefeilt, um ganz bestimmt die Frage der neuen Premierschaft zu erledigen. Doch ist es wohl richtig, sich solcher Annahme zuzuneigen, obwohl die Toryblätter, wie der „Standard", gleichzeitig in Leitartikeln bemerken: „Mit Lord Russell ist man bei den Liberalen fertig, nicht weil er das Vertrauen des Landes verloren hat, sondern weil er 73 Jahre alt ist. Lord Clarendon ist ihnen hauptsächlich Diplomat und kaum hinreichend englisch in seinen Sympathien. Lord Granville wäre ein zuverlässiger Premier, aber da der Ruf der Nation ja nach Gladstone sein soll, möchte dieser wohl nicht unter jenem dienen." Die Ironie der Bemerkung ist handgreiflich. Es wird im weiteren Verlaufe auch der Times vorgehalten, daß sie soeben Gladstone halb auf den Schild gehoben habe. Es ist erstaunlich, daß die sogenannte große liberale Partei soeben einen Mann als den vollkommensten Premierminister betrauert und sofort den Kontrast davon in einem anderen zum Nachfolger erheben will. Man sagt von Gladstone, „er lacht niemals". Ist er so versöhnlich, wie jener war, so freundlich? Er disputiert leidenschaftlich, Palmerston vermied dies mit Eifer. War Palmerston obstinat? Gladstone war hundertmal schon bitter in persönlichen Angriffen, Palmerston war nie unmanierlich darin. Am Donnerstag schrieb die Times, „Palmerston rettete oft das Haus durch seine merkwürdige Popularität" und am Freitage, „er erwies sich oft inkompetent, das Haus zu behandeln". — Die Stimme hat allerdings etwas plötzlich bei dem Jupiter der Presse gewechselt, wie daraus hervorgeht. Die Liberalen finden die Times recht charmant wegen jenes zweiten Artikels und schätzen sich glücklich, daß ihr eigenster Gladstone noch auf der Lichtseite von „sechzig" sich befinde, nach welchem Lebensalter ja, wie Sir Robert Peel der Alte seinerzeit gesagt, man nicht mehr das Unterhaus „führen" könne. Setzen aber die Liberalen ihre Hoffnung darauf, daß Russell sich vor der „Schattenseite" genieren werde, weil er schon 73 Jahre alt sei, so kennen sie den Mann nicht genau. Der ehemalige geistreiche Kanonikus von St. Paul, Sidney Smith, Russells Gegner, machte einst dessen „pluck and daring" (unternehmende Kühnheit) folgendes charakteristische Kompliment: „Aufgefordert im Augenblicke zu handeln, würde er ohne die geringste Zögerung oder Zweifel in seine eigene Kompetenz es unternehmen, eine St.

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1865

Paulskirche zu bauen, die englische Kanalflotte zu kommandieren oder eine Steinoperation zu unternehmen, und sein Selbstvertrauen würde nicht im mindesten sinken, wenn auch die Kirche sofort in Trümmer fiele, die Flotte zusammengeschossen würde und sein Patient während der Operation ihm unter den Händen verscheiden sollte." Der Nekrolog, welchen die „Morning Post" dem Verstorbenen gewidmet, erhält eine Korrektur seitens der Toryblätter. Die „Post" hatte Palmerstons Weitsichtigkeit gepriesen, weil er 1852 „sofort" das neue Kaiserreich an der Seine anerkannt habe. Dies Verdienst, sagt die Torypresse, wolle sie unterlassen zu erörtern; indessen was von Verdienst dabei vorhanden sein könnte, müsse dem Kabinett Lord Derbys zugemessen werden, in welchem 1852 Lord Malmesbury den Posten des auswärtigen Ministers bekleidet hatte. „Das Fundament zu der entente cordiale, das so gute Früchte für die Völker beider Länder getragen, wurde tief und sicher angelegt während der kurzen Amtsperiode Lord Derbys." Soweit die Toryblätter. Diese Korrektur ist eine ziemlich müßige, wenn überhaupt ganz korrekt. Die „sofortige" Anerkennung der Resultate des 2. Dezember ist kaum ein Vorzug solcher Art, daß ein Gegenstand des „Neides" werden könnte, was kühle Zweckmäßigkeitspolitik gewesen. — Irren ist menschlich 3 9 , aber die Times irrt sich nicht, und wenn sie sich irrt, ergibt sie sich nicht. So wurde vor drei Wochen eine diplomatische Korrespondenz zwischen Mr. Seward und dem amerikanischen Gesandten Mr. Dayron „drüben" publiziert, die schon anderthalb Jahre alt ist. Die Amerikaner scheinen sich mit ihren Blaubüchern nicht zu übereilen. Jene Korrespondenz bewies, wie andere mit dem Stempel Washington getan, in ihrem Tone den Mangel eines feingeschulten Corps diplomatique und behandelte die mexikanische Frage wie ein „biderber h o m o rusticus". Was darin über die französischen Truppensendungen, namentlich über die „Neger aus Ägypten", gesagt wurde, erschien dem New Yorker Korrespondenten der Times dienlich für die Bedienung der Times. O b absichtlich oder unabsichtlich, ignorierte er das Datum, und so kam es, daß am vorigen Sonnabend in der zweiten Ausgabe das englische Blatt die an der irischen Küste aufgegebene telegraphische Depesche enthielt, welche die europäische Zeitungswelt in Alarm versetzte. Von der Gewohnheit abweichend, unterließ die Times die abermalige Aufnahme je-

„ E r r a r e h u m a n u n i est", H i e r o n y m u s in Epistolae 57, 11; „To err is h u m a n " , A l e x a n d e r P o p e in Essay on criticism (1711) II, 325

L o n d o n , 21. O k t o b e r

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nes Telegramms in ihrer nächsten M o r g e n a u s g a b e u n d d r u c k t e nur den mit demselben Schiffe, der „Australasia", a m S o n n t a g eingelaufenen Brief desselben K o r r e s p o n d e n t e n ab. Diesem mangelte schon die klassische Kürze des telegraphischen Künstlers. „Im allgemeinen" w u r d e die Wahrheit des Telegramms „wiederholt", von der „Ansicht" des Korres p o n d e n t e n begleitet, „daß, bestände der Kaiser d a r a u f , jene neuen ,Neg r o - t r o o p s ' nach M e x i k o zu entsenden, General G r a n t w a h r s c h e i n l i c h ' O r d r e erhalten werde, die Franzosen aus M e x i k o zu vertreiben". Kein anderes Blatt erhielt ähnliche I n f o r m a t i o n mit der „Australasia", w o h l aber einige N u m m e r n halboffizieller Blätter, in denen erklärt w u r d e : „ d a ß die Regierung der Vereinigten Staaten ,has taken n o recent action, nor c o n t e m p l a t e d any' neuerdings weder Schritte getan, noch in Erwägung gezogen habe, die sich mit der absoluten Neutralität nicht vertrügen, welche sie gegenüber den k r i e g f ü h r e n d e n Teilen in M e x i k o beobachte." Was an Tatsachen zu mangeln begann, ersetzte die Times mit Ansichten und erörterte in einem Leitartikel, was nicht alles geschehen k ö n n t e , „ w e n n " Amerika die M o n r o e - D o k t r i n * in den Vordergrund schöbe. Und als letztes A r g u m e n t zitierte sie, die zu stolz, auch nur eine ihrer englischen Kolleginnen zu zitieren, eine selten g e n a n n t e amerikanische Provinzial-Zeitung aus Philadelphia, die da gesagt habe, „ d a ß jem a n d gesagt" habe, General G r a n t h a b e i r g e n d w o „gesagt", Maximilian müsse M e x i k o verlassen. Es gibt übrigens k a u m ein Blatt, das der T i m e s nicht ihre Zähigkeit bestätigte, Recht behalten zu wollen, koste es w a s es wolle. — Der „ S t a n d a r d " stellt heute die Existenz einer neuen amerikanischen Depesche des e r w ä h n t e n Inhalts entschieden in Abrede u n d will n u r d a v o n wissen, d a ß D r o u y n de Lhuys d e m amerikanischen Gesandten auf mündliche A n f r a g e die Begründetheit aller G e r ü c h t e bestritten habe, welche von einem neuen ägyptischen Kontingent f ü r M e x i k o redeten. — Die Cholera hat sich bis jetzt nur in S o u t h a m p t o n , in Sheffield und in dem D o r f e T h o y d o n im Epping-Forste in Essex gezeigt. In ersterer Stadt starben drei Personen, w o v o n zwei Kloakenreiniger, in Sheffield ein mit schädlichen Chemikalien hantierender Silberpolierer und in T h o y d o n starb ein einzelnes F a r m h a u s gänzlich aus — 6 Personen in zwei Tagen. M a n h a t t e d o r t D ü n g e r aus L o n d o n e r Ställen, w o die

Die M o n r o e - D o k t r i n m a c h t keinen „casus belli" aus e u r o p ä i s c h e r bez. m o n archischer Beeinflussung a m e r i k a n i s c h e r S t a a t e n b i l d u n g e n , s o n d e r n e r k l ä r t nur, „ d a ß solche A k t i o n e n von den Vereinigten Staaten als nicht b e s o n d e r s freundlich angesehen w ü r d e n " . Dies ist wörtliches Z i t a t .

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Rinderpest geherrscht, eingefahren, und das Brunnenwasser war durch eine Kloake vergiftet. Alles Umstände, die auch ohne asiatische Cholera die Gesundheit zerstören müssen. — Z u m Schluß folgende Notiz: Nach neuestem Ausweise entrichtet England zur Zeit 6 Millionen Pfund an jährlicher Armensteuer! [Nr. 250, 25. 10. 1865J

Einiges über „Kabinett", „Premier" und „Ersten Lord des Schatzes". Opfer-Möglichkeiten p* London, 31. Oktober Die liberale Presse macht sich selbst den zukünftigen Standpunkt klar, indem sie, mit ihren Betrachtungen ab ovo anfangend, sich bemüht, eine entschiedene Antwort auf die Frage zu finden: „Was ist ein Premierminister?" Wenn nicht einer in Lord Russell leibhaftig existierte, müßte man allerdings einen solchen für eine „Fiktion" halten. Der Name „Kabinett" wurde durch Karl den Ersten eingeführt, der Titel „Premier" und „Prime-Minister" wurde den Franzosen zur Zeit Richelieus abgeborgt. Er hat aber bis heute noch nicht eine Stelle im Staats-Wörterbuche Englands gefunden. Kein Statut — und es gibt deren doch anderthalb Millionen — kennt ihn; keine Entscheidung der Kronjuristen und anderer Richter des Landes hat je davon Gebrauch gemacht. J a , das Gesetz — „the law" — erkennt nicht einmal Minister an, sondern nur „Privy-Councillors", d. h. die Geheimeräte der Krone. Deren gibt es nahezu 200. Sie sind aber nur stellenweise „Wirkliche", obwohl „theoretisch" ihre Vollmacht nicht geringer als die jener zehn oder zwölf, welche das Kabinett bilden. Denn da „viel Köpfe viel S i n n e " 4 0 haben, werden nur hin und wieder einzelne derselben von der Krone zu einem Privy-Council berufen, wenn besondere Fragen ein venerables Gutachten notwendig machen. Geheimerat dieser Art wird jeder Minister, sobald er resigniert. Kein Statut verpflichtet ihn zum Abschiednehmen, er tut dies nur dem „ H e r k o m m e n " zulieb. Ein aufgelöstes Ministerium tritt unter die 2 0 0 Privy-Councillors zurück, wie militärische Cadres in ihr Regiment. Sie geben ihre „Wirklichkeit" auf und werden „Unwirkliche". Wenn von der

40

Nach Terentius Afers Satz in Phormio tiae".

II, 4, 14: „Quot homines, tot senten-

London, 31. Oktober

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K r o n e ein M i n i s t e r z u r Bildung eines K a b i n e t t s b e r u f e n w i r d , so ist er d a m i t n o c h n i c h t P r e m i e r - M i n i s t e r . Er h a t erst die B e d i n g u n g zu e r f ü l l e n , ein K a b i n e t t z u s t a n d e zu b r i n g e n . So t a t a u c h Russell. In v e r g a n g e n e r W o c h e lud er z w e i m a l seine Kollegen zu e i n e m M e e t i n g ein — u n d sie k a m e n „alle", w o r i n eine A n e r k e n n u n g seiner A u t o r i t ä t lag. N a c h Einig u n g ü b e r die Feststellung der „ Ä m t e r " e r k l ä r t e er a m S o n n a b e n d denselb e n , er sei n u n m e h r „ d e f i n i t i v " P r e m i e r m i n i s t e r — nein — „ H a u p t von zwölf P r i v y - C o u n c i l l o r s der K r o n e " . Sein Titel existiert n u r in der C o u r toisie. D a s s e l b e ist der Fall mit seinem Titel „Erster L o r d des S c h a t z e s " . Er h a t n i c h t das m i n d e s t e mit d e n F i n a n z e n zu s c h a f f e n . A b e r n u r u n t e r j e n e m Titel e r h ä l t er eine D i e n s t w o h n u n g u n d ein G e h a l t . Als englischer P r e m i e r m i n i s t e r w ä r e er o h n e offizielles O b d a c h u n d T a s c h e n g e l d . Sein A m t k o m m t u n t e r k e i n e D e f i n t i o n . Er k a n n sehr viel o d e r sehr w e n i g t u n , w i e i h m beliebt. Er k a n n , wie einst L o r d M e l b o u r n e g e t a n , h a l b e Tage l a n g im B u r e a u - F a u t e u i l sitzen u n d f r a n z ö s i s c h e N o v e l l e n lesen o d e r , wie P a l m e r s t o n , d e r a r b e i t s a m s t e M a n n in E n g l a n d sein. Seine T ä tigkeit zerfällt in drei Teile: S a n k t i o n — g u t e r R a t — f r e u n d l i c h e E m p f e h lung. Er h a t jede Bill zu „ s a n k t i o n i e r e n " , die ein Kollege an d a s Parlam e n t zu b r i n g e n b e a b s i c h t i g t ; er h a t sie a u c h zu v e r t r e t e n u n d zu verteid i g e n , w e n n die b l o n d e n Squires des U n t e r h a u s e s wild w e r d e n sollten. Er h a t „ g u t e n R a t " zu g e b e n , ehe der M i n i s t e r des A u s w ä r t i g e n o d e r der K o l o n i a l m i n i s t e r eine D e p e s c h e v e r f a ß t u n d a b s e n d e t , vertritt u n d verteidigt sie a b e r n i c h t als eigene H a n d l u n g . Sein g u t e r R a t w i r d a u c h bei d e r Besetzung w i c h t i g e r Ä m t e r n a c h g e s u c h t ; w o es nicht g e s c h e h e n , p a s s i e r e n solche D i n g e wie der b e r ü c h t i g t e E d m u n d s - S k a n d a l . Seine „ f r e u n d l i c h e E m p f e h l u n g " e n t s c h e i d e t g e w ö h n l i c h die E r n e n n u n g von Bischöfen u n d a n d e r e n W ü r d e n t r ä g e r n d e r Kirche, u n d w a s s o n s t z u r „ P a t r o n a g e " g e h ö r t . Er s c h ü t z t d a s „ H e r k o m m e n " dieser A r t vor d e r V e r j ä h r u n g d u r c h fleißige A u s ü b u n g desselben. Von P a l m e r s t o n w i r d ein A u s s p r u c h zitiert: „Ich bin r e c h t f r o h , k e i n e V e r w a n d t e n zu h a b e n , d e n e n ich e t w a s z u w e n d e n m ü ß t e . D a s ließ m i c h d e m N e p o t i s m u s e n t g e h e n . " — D e r n e u e M i n i s t e r h a t erst den H a u p t t e i l seiner „ R e - f o r m " b e e n d e t , i n d e m , wie b e k a n n t , L o r d C l a r e n d o n d a s a u s w ä r t i g e P o r t e f e u i l l e ü b e r n o m m e n h a t . D a m i t ist dessen P o s t e n im K a b i n e t t als „ K a n z l e r f ü r die G r a f s c h a f t L a n c a s h i r e " v a k a n t . Ein n o m i n e l l e s A m t , a b e r w i c h t i g , weil n u r u n t e r diesem Titel der b e t r e f f e n d e Minister, w i e o b e n , offizielles O b d a c h u n d Subsistenzmittel e r h ä l t ; n o c h w i c h t i g e r g e r a d e jetzt, weil die V a k a n z d u r c h einen Assistenten f ü r G l a d s t o n e a u s g e f ü l l t w e r d e n soll u n d m u ß . G l a d s t o n e s Kollegen, M i t g l i e d e r des O b e r h a u s e s fast d u r c h -

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weg, können nicht im Unterhause das Kabinett verteidigen. Das ist die große Lücke, die Palmerston gelassen, und die zu verhüten er es einst ablehnte, englischer Pair zu werden. Gladstone und Assistent werden nicht nur das Finanzressort, sondern auch alles, was Armee und Flotte berührt, zu vertreten haben. Und saure Tage stehen ihnen bevor. Palmerston leistete mehr mit einem Scherze, als Gladstone mit seinem immer säuerlichen Ernste und seinen Rechentabellen, verdächtig wie er ist radikalisierenden Ehrgeizes, eines Liberalismus ohne echte Liberalität. Rufen doch die Toryblätter schon ihren „konservativen Freunden" zu: „Haltet euch fertig, Russell und Gladstone können nicht lange einig bleiben." Nach welcher Seite hin sich Russell „verbessert" im Sinne der widersprechendsten Parteiwünsche, ist abzuwarten. Ihm, als Vornehmsten vom Clan der Bedfords, wurde schon eine Grabschrift entworfen, die wenig Wärme enthält: „Die Bedfords haben sich verbessert seit den Zeiten von Charlemagne." Wer der nötige Assistenz-Kollege Gladstones

werden

dürfte, wird sich vermutlich in dieser Woche entscheiden. Die Presse empfiehlt diesen und jenen Liebling. Da wird Stansfeld genannt, der Intimus Mazzinis, dem man ein neues Amt für das schulde, aus dem ihn die Tories spediert hätten — und Forster, H o r s m a n , Hughes, sowie der Philosoph des Liberalismus J o h n Stuart Mill. Bedenken gegen die ersten beiden gründen sich auf verschiedene Fälle von Indiskretion und übler Laune — gegen die letzteren darauf, daß sie, ganz Neulinge aus erster Parlamentswahl, noch nicht den parlamentarischen Stein der Weisen gefunden hätten. Auch der durch ein Mißverständnis (wofür ihm vom Parlament Abbitte votiert wurde) ausgeschiedene frühere Unterrichts-Sekretär Lowe wird von einzelnen Blättern als zu einer offiziellen Rehabilitation berechtigt hingestellt. Einige weisen auch auf den „jungen Goeschen" als wählbar; der, obwohl erst seit einem J a h r e im Parlament, sich schon als sehr vertraut mit dem „Takte des Unterhauses" erwiesen habe. Goeschen ist kaum dreißig J a h r e alt, ist deutscher Herkunft, Kaufmann in der City und hanseatischer Generalkonsul, wurde in einem J a h r e zweimal ins Unterhaus gewählt — redete vor den Wählern „recht radik a l " aber im Hause „recht gemäßigt". Möglich, daß auch keiner der Genannten ins Kabinett k o m m t , oder mehr als „einer". Das ließe auf ein Ausscheiden dieses oder jenes Mitgliedes des jetzigen Kabinetts schließen, um Platz zu machen. D a ß dergleichen „im W i n d e " , ergibt sich aus der wiederholten Äußerung begünstigter Organe der neuen Ära. „Es könnte möglich sein, daß Opfer nötig werden." — Was in Biarritz verhandelt worden, wissen wir jetzt ganz genau. Der „ E x a m i n e r " erzählt

L o n d o n , 4. N o v e m b e r

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uns das und das Kuriosum verdient weiteste Verbreitung. „Eine große Veränderung ist mit dem Kaiser vorgegangen. Er begehrt nicht mehr Kongresse und Z u s a m m e n k ü n f t e . Er scheint ,blase' geworden zu sein, Philosoph ,wenigstens' (sie!) und denkt nach über alles, ,was eitel'. Er regiert, wie Alexander den Bucephalos, ein hitziges Volk, und wendet dessen H a u p t von der Sonne in friedlichen Schatten. Er hat Glück genug gehabt, um jeden nüchtern zu machen, und will ruhen. Seine jetzige Politik geht darauf aus, sich aus großen Unternehmungen und riskanten Positionen zurückzuziehen — R o m und M e x i k o sich selbst zu überlassen. Er will, was die Franzosen sagen — ,tirer son epingle du jeu'. Er verzweifelt nicht daran, die Rheingrenze bis Mainz zu erhalten, aber seine Politik ist, dies ohne Krieg zu erreichen. Preußen k ö n n t e ihm ja nicht ,Nein' sagen. Österreich fragt nicht nach dem, was jenseit des Rheines liegt. So interpretieren wir die Konversation zu Biarritz." Von solcher Weisheit bis nach Hinterindien ist nur ein Schritt. Und somit schließe ich meinen Brief mit einer Nachricht, wonach Nana Sahib, der Schlächter von C a w n p o r e , auf den noch bis heute vergeblich gefahndet w o r d e n , sich „irgendwo" in Hinter-Indien befinden soll. D o r t soll er M u ß e gefunden haben, den „ H a m l e t " ins Hindostanische zu übersetzen. So meldet das hiesige Wochenblatt „Public O p i n i o n " , das die Leit-Artikel in- und ausländischer Zeitungen zusammenstellt und solche Lese allwöchentlich dem englischen Lesepublikum als „öffentliche M e i n u n g " präsentiert. (Nr. 259, 4. 11. 1865]

Schlechte Laune der Times und die Erfindung der Doppel-Minister Gladstone in Schottland Die fenischen Gefangenen machen der Polizei den Prozeß Das Kuli-Depot p* London, 4. November* M a n hört viele Leute sich nach dem „Befinden" der Times erkundigen. Sie liefert ihre eigenen Bulletins in Leit-Artikeln, die noch immer auf „ungewissen G e m ü t s z u s t a n d " lauten. Als im vorigen J a h r h u n d e r t ein Drucker deutscher A b k u n f t , namens Walter, den ersten Viertelbogen des

* Wir ersuchen w i e d e r h o l t u m Erledigung unserer geschäftlichen Bitte vom 5. September. D. Red.

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Blattes in die Welt sandte, suchte er der öffentlichen Meinung, die damals noch ohne Dampf sich zurechtfand, dadurch beizukommen, daß er einen „Denker" in die öffentlichen Lokale schickte, der da herumhorchen mußte, wie das durstige Publikum über diesen oder jenen Fall dachte. Dessen bedarf der heutige Editor der Times nicht mehr. Oft über Nacht werden die Leitartikel geschrieben, wenn schon „Tier und Menschen feste schlafen" 4 1 , um keinem andern Blatt die Vorhand zu gönnen. Nur ein einsamer Gelehrter kann außerhalb des Geleises der Gewöhnlichkeit sich halten und solche neuen Staatsmedizinen entdekken, wie die Times soeben getan. Ist es der Ärger, daß ihre Winke über das wieder zurechtgerückte Kabinett keine Würdigung fanden? Wollte sie allen Ernstes aus Liebe zum harten Gelde eine Firma Gladstone-Russell, statt Russell-Gladstone? Sie ist mit allem unzufrieden. Sie will den noch vakanten Ministerposten, der unter dem Titel „Kanzler für Lancashire" existiert, abschaffen und einen besondern „Minister der Kirche" die Stelle ersetzen lassen. Sie will einen doppelten Minister des Auswärtigen, einen doppelten Finanzminister, einen doppelten Minister des Innern. „Es sei gar nicht zuviel, wenn ein Kabinettsminister im Oberhause und ein Kabinettsminister im Unterhause das Auswärtige Amt als sein eigenes vertrete." Sie will lauter „ k o o r d i n i e r t e Autoritäten". Diese Erfindung ist ganz neu. Das wird der Times auch von verwunderten Kollegen gern attestiert. Wenn ein künftiges Kabinett alles „doppelt" sehen könnte, welche Verbesserung und noch dazu bei ganz „nüchternen" Staatsmännern. Was Russell I. in einer Depesche verdürbe, könnte Russell II. in einer anderen wieder gutmachen. Rechnete Gladstone I. ein erfreuliches Plus heraus, könnte Gladstone II. einen Dämpfer mit einem schüchternen Defizit als wohlwollender Warnung daraufsetzen. Da sich die balanzierenden Tories und Whigs hin und wieder schon mit „unser Freund der Feind" anreden, wäre allem Parteihader sehr leicht abgeholfen, wenn jede Partei einen der doppelten Minister zu liefern hätte. — Gladstone wirbt sich unterdessen eifrigst Freunde in Schottland, dessen Parlamentsmitglieder fast alle liberal sind. Seine Rundreise durch die größeren Städte hat diesen Zweck, wie von seinen Organen offen zugegeben wird. Verstände er auch die Irländer zu gewinnen (und in einem so armen Lande wäre ein Finanzminister ohne Zweifel willkommen), so

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Analogie zur Eingangszeile der Fabel „Die Katzen und der Hausherr", in: Magnus Gottfried Lichtwer Vier Bücher Aesopiscber Fabeln, Berlin, Stralsund 21762, 1. Buch, 22. Fabel.

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stände er kopfzahlfest im neuen Parlament, wo die Opposition meist aus richtigen Engländern bestehen wird. Auch war wohl Schottland, wo Russell gesagt: „Laßt uns ruhen und dankbar sein", der richtige Ort, jenen Gedankenspan durch eine Miszelle zu ersetzen, wo von keiner Ruhe die Rede wäre. Gladstone verbürgte sich nämlich den Schotten dafür, Russell werde wieder der Alte werden, der richtige Reform-Russell aus dem letzten Menschenalter. Somit bliebe Russell nur „dankbar", aber nicht „ruhig" und wäre ja die Firma einig. — Ungeachtet der liberalen Rhetorik, welche Gladstone in Edinburg den Universitätsbehörden bei seinem Ehren-Rektor-Abschied zu hören gab, sollen diese auf Lord Derby ihr Auge bezüglich der Nachfolge gerichtet haben (nach anderer Nachricht auf Thomas Carlyle), und die der Universität Glasgow auf einen andern Konservativen, Disraeli. — Der englische Gesandte in Athen hatte sich vor kurzem der ionischen Insel Zante angenommen, wo allerlei Störungen vorgefallen. In seiner Entgegnung bemerkte der griechische Minster (er ists schon nicht mehr), daß er wisse, wie sehr die britische Regierung das Prinzip der Nicht-Intervention liebhabe. Die Schwierigkeiten auf den ionischen Inseln seien, wie England aus eigener Erfahrung wisse, nicht neuesten Ursprungs, sondern „of ancient date" von respektablem Alter, und es könne nicht in Erstaunen setzen, wenn nicht alles unter dem neuen Regiment so glatt gehen wolle. Übrigens wären zwei der Ruhestörer bereits im Gefängnis und alles sei wieder in Ruhe und O r d n u n g auf Zante (bis zum nächsten Male). — Wenn einmal englische Behörden Energie zeigen wollen, gehen sie durch dick und dünn, was immer bei den dann folgenden Prozessen den Advokaten des Landes die fettesten Austern zuwendet. Das irische „Privy Council" läßt die Behörden, welche das Journal „The Irish People" auslöschten und die Druckerei wegschleppten, bereits im Stich und erklärt, „es habe von den Vorgängen gar nichts gewußt und erst aus den Zeitungen die Kenntnis davon erhalten". Außerdem hat der gefangene Fenier O'Leary eine Dubliner Bank verklagt, weil sie einen von ihm gezogenen cheque (Anweisung) über 500 Pfund nicht honoriert. Die Regierung hatte sein Guthaben an der Bank mit Beschlag belegen lassen. O'Leary verlangt 1000 Pfund Schadenersatz wegen beschädigten Kredits. Die Regierung hob vorgestern schleunigst die Beschlagnahme auf. Ganze Rudel von Advokaten, von Amerika aus reichlich honoriert, machen für die Angeklagten Front gegen die Behörden und führen den Prozeß in der Weise, daß sie die Angeklagten erst zu Anklägern machen. Es handelt sich schon nicht mehr um einen, sondern schon um vierzig umgedrehte Spieße bis heute.

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Außerdem wird das noch bei mehreren Berichterstattern amerikanischer Journale geschehen, welche expreß herüber gesandt worden, um sich die junge irische Republik nahe besehen zu können. So sitzt der Korrespondent der „ N e w York Tribune", bei dem nichts Verdächtiges als 50 Pfund in unerklärlichem Gelde vorgefunden. Ein Korrespondent mit so viel Zehrgeld muß wohl verdächtig erscheinen. Übrigens sollen diese und die meisten anderen Gefangenen, von denen schon eine ansehnliche Zahl „gegen Bürgschaft" entlassen (sogar der „ M a r a t der Fenier" erlangte mit lumpigen 20 Pfund Kaution seine Freiheit) mit wahrer Freude sitzen, denn (so bemerkt ein irisches Blatt) nicht alle Tage kann ein britischer Untertan seine Regierung wegen Schadenersatzes für „false imprisonment" verklagen. Der „Daily Telegraph" bemerkt: „Polizei und Behörden bedürfen einer gewissen diskretionären Gewalt, aber machen sie Fehler, so sind sie persönlich mit ihrer Tasche dafür verantwortlich. Es ist prinzipiell zu wünschen, daß der Verleger des ,Irish People' seinen Prozeß gewinne." So ein Polizei-Kommissar im parlamentarischen Großbritannien ist nach dieser Auffassung, und sie ist keine irrige nach den hier geltenden Gesetzen, allerdings in mißlicher Lage. Solch false imprisonment, auch nur von wenigen Wochen, fällt oft lukrativ für den aus, welcher das Brot der Gefangenen, veredelt mit Portwein und Porter aus eigenen Mitteln, zu kosten hatte. Es erklärt aber auch überhaupt das laxe Vorgehen der Sicherheitsbehörden. Daß in Sachen der Fenier schließlich aller Schade in Downingstreet berichtigt werden wird, unterliegt in diesem besonderen Falle keinem Zweifel. D a wir kein Preßgesetz haben, konnte dem „Irish People" auch keine Verwarnung zugehen, konnte keine dreifache Verurteilung der Konfiskation vorhergehen. So nahm man diese mit allem Risiko für die eigene Tasche vor und konfiszierte sogar den Heiratskontrakt des Verlegers, worüber dieser, von der Entrüstung seiner Gattin unterstützt, sich bitter beklagt. Es wird gerügt, daß man diesen fenischen Toren die Ehre eines Staatsprozesses antut, der Niedersetzung einer Staatskommission, was seit 1803 nicht der Fall gewesen, als Emmet, der irische Rebell, seine nicht unblutige Insurrektion ins Spiel zu setzen versuchte. Daß wir übrigens die Irische Republik bereits haben, melden uns die neuesten Depeschen aus New York. O ' M a hony ist Präsident, ein Fenierkabinett ist gebildet, ein fenisches Parlament verfassungsmäßig berufen und Papiergeld wird auch gemacht. Und dann soll die Irische Republik N u m m e r eins zuerst in K a n a d a s Hinterwäldern versucht werden, w o man doch noch Wälder trotz der B ä u m e sehen kann. Aus dem Kuli-Depot in Kalkutta, welches nominell unter

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Aufsicht der englischen Regierung steht, werden alljährlich 8 0 0 0 über See nach Mauritius, dem Kap und Westindien exportiert. Die Presse führt „statistisch" an, daß in den letzten vierzehn Monaten über 1 0 0 0 davon auf der Fahrt umgekommen, nämlich versunken mit dem Schiffe „Eagle Speed" 2 6 2 , mit dem Schiffe „Alley" 3 1 3 , an Bord des „Clarence" 103 mangels ärztlicher und anderer Pflege an Krankheiten verstorben, an Bord des „Goldenen Südens" 120 aus gleichen Gründen verkommen, ertrunken bei Strandung des Schiffes „Füsilier" 20, nachdem die „übrig e n " (189) unterwegs Krankheiten erlegen waren. Sehr oft seien die Schiffe untüchtig trotz der offiziellen Regulationen, und die Spekulanten mit „braunem Ebenholz" wüßten, daß „starke Ausfälle" die Nachfrage und die Preise steigerten. In allen den genannten Fällen verstand es die englische Schiffsmannschaft, sich weislich außer Bereich des sinkenden oder infizierten Schiffes zu bringen. Kapitän und Pilot des letzten Schiffes, das im Stich gelassen wurde, des „Eagle Speed", sind kassiert; das ist alles. 1 · Unwillkürlich denkt man an die Worte, die Cobden im vorigen Sommer dem Unterhause zurief, als das Bombardement der wehrlosen japanischen Stadt Kagosima bekannt wurde: „Glaubt Ihr denn, daß uns für alles das nicht einmal die Vergeltung heimsuchen werde?" [Nr. 2 6 2 , 8. 11. 1865]

Kein Krieg mit Amerika. Auch der Fenier strauchelt Erst der Anfang vom Anfang. Die Metzeleien auf Jamaika Eine Fahrt in der Luftdruck-Eisenbahn Der „blühende Tod von England" p* London, 13. November Die Schwierigkeiten zwischen England und Amerika, von denen die Zeitungen reden, gestatten bereits einen minder besorglichen Kommentar. Wahr, daß alle Welt wünscht, der Kapitän des „Shenandoah" hätte sich lieber den Bewohnern des Pfefferlandes ausgeliefert, als den englischen Behörden. Das Schiff ist bereits dem amerikanischen Vize-Konsul übergeben; aber die Mannschaft ist ihrer Parole entbunden. Drei Mann hatten übrigens schon vorher das Sicherste gewählt und waren verschwun* Es sind dieses Mitteilungen (wir brachten schon früher einiges davon) aus den Rapporten der L o n d o n e r Presse, die sich in einigen Leitartikeln darüber entrüstet hat.

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The Disputed

Account

Britannia: "Claim for damages against me? Nonsense, Columbia: Don't be mean over money matters."

den. Wahr auch, daß alle mit der vorletzten nordamerikanischen Post angekommenen Blätter aus Washington, New York, Philadelphia und Boston in ihren Leitartikeln wegen der „Alabamas" „Genugtuung oder Krieg" verlangen. Wahr aber auch, daß schon die nächste letzte Post ganz anders lautet. Ursache ist, daß inzwischen die Nachricht vom Tode Palmerstons in Amerika angelangt war. Damit (so scheint es nach den Äußerungen jener Presse) betrachtet man dort den „bittersten Feind" Amerikas beseitigt. Die New York Times schreibt: „Mit Palmerston an der Spitze der englischen Regierung wäre ein Krieg zwar schwer, aber möglich gewesen; jetzt, da er gestorben, ist derselbe beinahe eine Unmöglichkeit."' Der „New York Herald" schreibt: „Der Friede hat größere Garantien. In England freilich muß dem Tode Palmerstons die radikale Agitation, die Herrschaft der Revolutionäre folgen, eine völlige Umwandlung englischer Institutionen. Darum sagen wir, nach Palmerston kommt für England die Sündflut und nach der Sündflut die britische Republik. Die Logik der Ereignisse ist unwiderstehlich." — Möglich,

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aber die Logik des „New York Herald" ist noch viel unwiderstehlicher. Sie heitert auf. Eine Revolution in England — no! In diesem Jahrhundert nicht. Es heißt, ein gewisser Caleb Cushing stehe in Washington auf dem Sprunge, sich im Auftrage Johnsons nach England zu begeben, um wegen der großen Entschädigungsfrage in Unterhandlungen zu treten, da Earl Russell es nicht abgelehnt, darüber eine gemischte Kommission debattieren zu lassen. „Punch" brachte hier eine Karikatur über den kritischen Fall. Dame Britannia, mit einem etwas kahlen Helme auf dem Kopfe, steht hoch aufgerichtet, mit gekreuzten Armen vor Fräulein Columbia in Krinoline und Löffelhut, mit einem halben Fasan darauf. Columbia hat einen lichten Negerteint. Britannia sagt: „Entschädigung? Liebe Columbia, sei doch nicht ordinär in Geldangelegenheiten." — Johnson hat übrigens den „Feniern" dort ein Präsent gemacht mit der Begnadigung des 48er Rebellen von Irland, Mitchell, welcher General bei den Südlingern gewesen. Auch sieht das amerikanische Publikum der Ausrüstung „fenischer Alabamas" gegen die englische Handelsflotte zu, wie neuere Depeschen gemeldet, die gleichzeitig erwähnen, daß die Regierung von Kanada 4 0 . 0 0 0 Mann mobil machen wolle, um dem vom fenischen Kongreß beschlossenen Einfalle in Kanada zu begegnen. Es ist wohl auch in diesen fenischen Neuigkeiten weniger Sturm, als viel Wind. Den Häupter der irischen Fenier-Rebellion, Stephens, hat man in Irland gefaßt; die ausgesetzte Belohnung von 2 0 0 Pfd. Sterl. verhalf dazu. Es soll auch Fenier geben, die solchen goldenen Sperling in der Hand der ganzen Republik der Zukunft vorzogen. — D a ß Russell erst am Anfange des Anfanges mit der Konstruktion seines Kabinetts stehe, versichert die toryistische Opposition und die radikale Presse, die auch einige Kandidaten für die grüne Wiese in Bereitschaft hat. Das Richtige ist, Russell hat keine Eile mit den „nötigen" Vakanzen und Verschiebungen. Daß Flotte oder Kriegswesen einen Ministerialvertreter im Unterhause erhalten muß, liegt auf der Hand. Dergleichen war nie das Feld Gladstones. Aber bis zum Zusammentritt des neuen Parlaments hat noch viel Wasser die Themse hinabzufließen. Es ist kein Grund, weshalb der Earl de Grey früher Platz machen sollte, als absolut nötig. Und sollte es wirklich in der Absicht liegen, Radikale in das Kabinett zu nehmen, die bekanntlich die Atlasse jeder neuen Ära sind, so ist Russell trotz alledem soviel Takt zuzumuten, daß er jetzt, wo eben erst das Grab sich über Palmerston geschlossen hat und die goldene Inschrift noch ganz frisch auf dessen Grabstein ist, nicht „ohne N o t " sich jeder Anregung der Pietät entschlage, um sofort ein Reform-Kabinett zu schaffen, von dem er weiß,

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daß der Verstorbene darüber die bittersten Witze gemacht hätte. D a ß übrigens Gladstone viel größere Trümpfe augenblicklich in der Hand hat, als Russell, bewies das Pronunciamento an der Bankett-Tafel des neuen Lord-Mayors. In sehr allgemeinen Redensarten engagierte sich Russell dafür, wieder der „Alte" werden zu wollen, sehr bestimmt Gladstone, neuer als neu zu werden. Russell erhielt schwache Cheers, auf Gladstone fiel der Beifall wie ein Platzregen. — Die grausigen Nachrichten über die Metzeleien in Jamaika durch die rebellischen „freien Neger", für deren Freilassung dereinst England 20 Millionen Lstr. den Plantagenbesitzern in britischen Kolonien vergütete, erregen hier die größte Erbitterung. Der Gouverneur der Insel hat nicht Truppen genug und hat nach den nächsten Stationen um Hülfe gesandt. Jamaika ist für einen langen Guerillakrieg wie geschaffen. Die „ M a r o n e n " , nur wenige tausend Mann stark, hielten sich in den Klüften und Dickichten gegen reguläre englische Truppen ein ganzes Jahrhundert lang und erhielten dann noch die günstigsten Kapitulationsbedingungen. Man schaffte sie nach Halifax, in dessen Nähe sie sich ansiedelten. Aber das Räubervolk hielt auch dort keine Ruhe. Man exportierte sie deshalb samt und sonders nach Sierra Leone, an der Westküste Afrikas, das seitdem das NegerGomorrha geworden, und welches die Schwärmereien der Abolitionisten vergebens als ein Eldorado darzustellen suchen. — Die Reise der beiden englischen Parlamentsmänner Sir Morton Peto und Mac Henry nach Washington, wo Johnson sie mit Auszeichnungen empfangen, steht mit Finanzspekulationen in Verbindung, indem sich englisches Kapital des verwüsteten Südens gegen Zins und Zinseszinsen anzunehmen die allergrößte Lust hat. Johnson hat den beiden sein Vaterland Tennessee als sehr bedürftig empfohlen. — Der neue Lord-Mayor Philipps hat einen Drohbrief erhalten, in welchem ihm schon in nächster Zeit von dem anonymen Schreiber „das Schicksal Lincolns" angedroht wird. Der Verfasser ist jedenfalls einer von den vielen „harmlosen Verrückten", die in England frei herumlaufen, weil Privat-Irrenhäuser zu kostspielig, die öffentlichen zu voll und außerdem diese Sache zu denen gerechnet wird, von denen das Lexikon des Self-Government sagt: „There is no help for ist." (Dagegen ist keine Hülfe.) Im Fremdenviertel Soho, wo die Polen hausen, wird Langiewicz erwartet. Eine neue Klasse von politischen Flüchtlingen sind „Südlinger", die sich nicht pardonnieren lassen. Auch der Bruder von Jefferson Davis ist in diesen Tagen dort erschienen. — Bei der jüngst stattgehabten Einweihung einer neuen pneumatischen Eisenbahnstrecke zu London fanden sich mehrere Waghälse, um als leben-

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The Pneumatic Despatch Tube: The Holborn End of the Tube on the Opening Day

dige Fracht durch die dunkle, drei englische Meilen lange Tube oder R ö h r e von 4 Fuß D u r c h m e s s e r und 4'Λ Fuß H ö h e hindurchgeschossen zu w e r d e n . Und so geschah es. N a c h sieben M i n u t e n schössen sie wieder ans Tageslicht, r u ß s c h w a r z u n d „die Sinne des G e h ö r s u n d Gesichts in merklicher K o n f u s i o n " . Einer der k o m p r i m i e r t e n Luft-Passagiere schildert die Fahrt, wie folgt: „Ich lag wie ein M a z e p p a auf einem Mehlsacke. Es ging rasend schnell. Alle H a a r e standen mir zu Berge. Es rasselte, pfiff, schrillte, u n d es w a r mir, als risse m a n mich über einen Knüppeld a m m . D a z u heulten die unterirdischen Nebel-Schallsignale. Auf das O h r m a c h t dies den E i n d r u c k , als sänke m a n in die See in einer Taucherglocke. Ich k o n n t e einen halben Tag lang nur mit M ü h e h ö r e n . Am peinlichsten w a r e n die Stöße, w e n n es um die Ecke ging. Ich tue das nie wieder." — Von seiten des H o s p i t a l s für Schwindsüchtige zu B r o m p t o n (London) sind an Bord der „ M a r i a Pia" 20 a r m e K r a n k e nach der Insel M a d e i r a geschickt, w o sie auf Kosten reicher englischer Patienten auf sechs M o n a t e verpflegt w e r d e n sollen. Eine schöne r ü h r e n d e Tat der Liebe. M a n beabsichtigt, falls das E x p e r i m e n t sich nach ärztlichem G u t achten als erfolgreich erweise, später an die öffentliche Wohltätigkeit zu appellieren, um eine größere Z a h l von a r m e n Schwindsüchtigen nach

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dem kleinen Meerparadiese zu senden. Überhaupt wandern jetzt wohlhabende Kranke dieser Art aus, wie alljährlich um diese Zeit, nach Nizza, Mentone, Cannes, in die kleinen Städte und Nester am Abhänge der Pyrenäen, nach den Hyerischen Inseln, nach der Alameda von Malaga und Kairo. Ist auch die phthisis ßorens, der „blühende Tod von England", eine Krankheit, von der die wenigsten geheilt werden, so haben doch die Lieben daheim den Trost, daß die Leidenden ein Grab finden, dessen Nähe unter Rosenblüten und Scharlach-Anemonen ihnen länger verborgen bleibt in den Orangenhainen des Südens, als im Nebellande der Heimat. [Nr. 270, 17. 11. 1865]

Die Reformen in Verlegenheit. Eine Royal-Commission Veränderungen im Kabinett. Die Presse gegen Lord Wodehouse Rinderpest und Fleischpreise P* London, 21. November „Poeta nascitur, non fit", von Brillat-Savarin in „on nait rötisseur" parodiert, heißt auf englisch „Every Englishman is born a voter" (jeder Engländer ist zum Abstimmer geboren). Dieses angeborene Wahlrecht, ganz verschieden von dem Palmerstonschen „Vertrauenspfand", wird wieder eifrig diskutiert. Doch scheint sich eine Überzeugung selbst den radikalen Blättern aufzudrängen, nämlich daß die Reform-Parteien und Reform-Clubs in Verlegenheit über das Wie und Was sich befinden, und unter drei Fortschrittlern können vier verschiedene Ansichten sich kundgeben. Dem ist auch zuzuschreiben, daß der „Daily Telegraph" und sogar der „Star", welcher „Revolution und Wiederaufbau talentvoll koordinieren" will, das in Vorschlag gekommene Auskunftmittel, die Niedersetzung einer „Royal-Kommission" über die Reformfrage mit Dank akzeptieren. Soll ja auch John Bright darin ein Votum haben. Das Kabinett würde den Teil seiner Verantwortlichkeit für Schwupper und Schnitzer los, nach welchem die Opposition immer sofort ihre Tiefquarten anzulegen pflegt. Tories, Whigs, Peeliten, Gladstonianer und Morgensterne (von „Morning Star") sollen sich zusammentun, Materialien sammeln, den Boden erst säubern und fegen, kurz, das Lexikon der Reform ausarbeiten. Damit ist die Arbeit einer Royal-Kommission begrenzt. Lord Russell soll der Idee sehr zugetan sein. Wer dann später im Parlament den Entwurf totstimmen wollte, würde ja sein eigenes Blut desavouieren, da alle Parteien in dieser recht eigentlichen Friedenskommission vertreten

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sein sollen, also auch seine eigene. Einzelne Toryblätter unterschreiben die Idee ebenfalls mit Komplimenten; nur die, welche keine Kompromisse machen und nur ihre Leute im Amte sehen wollen, sind allem entgegen, was dem Kabinett Russell seine sauren Tage fristen könnte. Zwei Veränderungen sind mit dem Kabinett soeben vorgegangen. Sir Robert Peel folgt dem Beispiel seines Bruders und tritt aus. Der neue Minister für Irland Chichester Fortescue ist von irischer Abkunft. Auch munkelt man schon davon, den neuen Lord-Lieutenant für Irland Lord Wodehouseder in Irland so wenig Glück hat, wie einst in Kopenhagen, durch einen allerneuesten, einen Edelmann von irischer Familie, zu ersetzen. Die zweite Kabinettsveränderung ist der Eintritt des Herrn Goeschen als Vizepräsident in das Handelsministerium. Damit erhält Gladstone einen Assistenten von der jüngsten Garde, von denen jeder Mann wenigstens zwei Marschallstäbe im Tornister zu tragen vermeint. Lord Cranworth hat nur dreimal auf dem Wollsack gesessen, denn sein Vorgänger trat nur wenige Tage vor Schluß des Parlaments aus dem Amte des Lordkanzlers. Aber auch ihm prophezeit man schon einen Nachfolger, Sir John Ramilly, dessen Familie mit den Russells in engster Verbindung stehen soll. Russell ist nicht so „glücklich" wie Palmerston, nämlich keine Verwandte zu haben. — Die neuesten Blätter aus Kanada haben die Börse und die Baumwollen-Jobbers von Liverpool sehr alarmiert. Jene Blätter enthalten eine Depesche aus Washington, wonach der französische Gesandte plötzlich seine Pässe gefordert habe. Solange keine weiteren Anhaltepunkte gegeben werden, muß diese Notiz als ein Coup der Börsen-Fixer angesehen werden. Und so denkt man heute hier darüber. Der „Shenandoah" ist heute als gute Prise vom amerikanischen Vize-Konsul zu Liverpool nach Amerika entsendet worden. Was die amerikanische Presse über diese Lösung ohne „Beilage gefangener Piraten" sagen wird, kann uns erst die nächste Post mitteilen. — Daß das Dubliner Gericht die Entschädigungsklage gegen den Lord-Lieutenant wegen Unterdrückung des „Irish People" ganz von der Tagesordnung gestrichen, weil seine Handlung als Staatsakt zu betrachten und ihn von der Verantwortlichkeit entbinde, hat die liberale Presse hier in Harnisch gebracht. Sie bestreitet die Berufung auf einen Präzedenzfall vom Datum vor der Union, wo ein Vizekönig von Irland verantwortliche Minister

* Der Titel „Vizekönig von I r l a n d " w a r nur vor der Union 1801 offiziell. Seitdem gibt es nur Lordlieutenants von Irland, die es jedoch nicht übel nehmen, aus Höflichkeit Vizekönig genannt zu werden.

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The Demon Butcher, or the Real Rinderpest

hatte und also im konstitutionellen Sinne persönlich „kein Unrecht tun konnte". Die verantwortlichen Minister seien 1801 in Wegfall gekommen, und wenn die neue Entscheidung des Dubliner Gerichtshofes einen neuen Präzedenzfall abgebe, so sei die Preßfreiheit in Z u k u n f t gefährdet. Diesmal sei die Sympathie des Publikums mit dem Lordlieutenant aus Antipathie gegen die Fenier, aber auch dieser Spieß könne einmal gegen das eigene Fleisch gekehrt werden. „Seid wachsam! — mahnt der ,Daily Telegraph' — und nehmt die Sache nicht leicht, denn so bereiten sich Despotismen vor." Lord Wodehouse ist dadurch ganz ohne sein Zutun in die größte Ungunst bei der Presse gefallen. — „Rinderpest, dein Name ist Fleischer!" So karikiert „Punch" diesen achtungswerten Stand, weil derselbe allein die künstliche Fleischteuerung macht und hält. Bis jetzt sind der Seuche 20.000 H a u p t Vieh zum Opfer gefallen, weniger als die Einfuhr in einer einzigen Woche ersetzt und nur ein halb Prozent vom Viehbestande Englands. Dieses halbe Prozent übersetzt sich im Fleischerladen mit 52 Prozent Aufschlag. Man grollt, räsonniert und schilt in der Küche des Lords, der seinen Fleischer mit Bank-Anweisungen honoriert,

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London, 27. November

und am K a m i n f e u e r der kleinen H a u s s t ä n d e . Um mit dieser Z e i t Schritt zu halten, sind auch Eier um 1 0 0 Prozent im Preise gestiegen, o b w o h l im allgemeinen H o r n v i e h keine Eier produzieren soll. N o c h dunkler ist die Verwandtschaft zwischen Fleischerwaren und Reis, der ebenfalls in die H ö h e geht. D a s sind aber Geschäftsgeheimnisse, vor denen J o h n Bull zartfühlenden R e s p e k t hat. N u r diesmal beginnt ihm die Geduld zu reißen. E r droht „ H e r r n Rinderpest in der blauen S c h ü r z e " , Familienclubs und K o m p a n i e n zu stiften, w e l c h e Lebensmittel im G r o ß e n herbeitransportieren sollen, sei es vom Inlande oder Auslande, wenn der g e n a n n t e G e n t l e m a n fortfahre, für ein Pfund Fleisch einen halben T a l e r zu fordern. E r w ä g t m a n , d a ß in diesem J a h r e die Vieheinfuhr vom Kontinent die v o r j ä h r i g e um 3 0 0 . 0 0 0 H a u p t übersteigt, die V i e h m ä r k t e überfüllt sind, so erweist sich die H ö h e der Preise als eine ganz künstliche und unmotivierte. Fleischmärkte sind sehr rar, und J o h n Bull, wie Lady Bull, gehen nicht auf den M a r k t . D a s würde der R e s p e k t a b i l i t ä t eine G ä n s e haut verursachen. Dies Gefühl geht bis auf die D i e n s t b o t e n herab. Sagte doch jüngst ein D i e n e r seinem H e r r n auf, weil dieser „so wenig Ans t a n d " g e h a b t , a u f dem D a c h e eines O m n i b u s sitzend, nach der City zu fahren. [Nr. 276, 24. 11. 1865]

M r . Forster, der Vize-Bright Worüber Russell-Gladstone stolpern können Neue Kompromittierungs-Listen. Stephens und die Fenier 6 0 . 0 0 0 a m Trunk gestorben. Unfreiwillige F a h r t p* L o n d o n , 2 7 . N o v e m b e r „ D a s Kabinett muß eine R e f o r m b i l l e i n b r i n g e n " , sprach M r . Forster,

der

„Vize" der englischen R a d i k a l e n unter J o h n Bright, a u f einem Meeting zu B r a d f o r d , und am nächsten M o r g e n w a r er Minister. Und an demselben Tage hielt ein Tory, M r . Adderley,

eine Rede, welche den Satz be-

tonte: „Wir würden das K a b i n e t t für unsterblich halten, wenn es länger als eine W o c h e am Leben bliebe, n a c h d e m es seine R e f o r m b i l l

dem

Unterhause v o r g e l e g t . " M r . Forster ist Unterstaatssekretär für die K o l o nien, M r . Cardwell sein Chef. Z w i s c h e n beiden soll schon jetzt eine Differenz bestehen, und zwar wegen J a m a i k a s . Forster hält den G o u v e r neur der Insel, Eyre,

so gut wie des „ M o r d e s " schuldig auf G r u n d der

H i n r i c h t u n g G o r d o n s und der H e k a t o m b e n von Farbigen, die den M a -

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nen der 16 getöteten Weißen geopfert wurden; Cardwell hält sich mehr an die Times und hat soeben nur eine ganz kleine Nase an Eyre nach Jamaika depeschiert „wegen unterschätzter Formalitäten". Über den neuen Minister für Irland, Fortescue, erfährt man, daß er ganz im Gegensatze zu seinem Vorgänger, Sir Robert Peel, und im Gegensatze zur Majorität des letzten Unterhauses ein entschiedener Gegner der Aufrechterhaltung der irisch-anglikanischen Staatskirche auf Kosten römisch-katholischer Kirchensteuer-Zahler sei. Über diesen Minister kann das Kabinett Russel-Gladstone möglicherweise stolpern. D a ß es das Risiko absichtlich übernimmt, zeugt in gewisser Beziehung von Mut; denn Sir Robert Peel dankte nur ab, weil ihm zugemutet wurde, seine Hand zu einer Bill zur Abschaffung jener Steuerpflicht zu bieten, was er verweigerte und demnächst resignierte. Goeschen ist auch ein Gegner der Kirchensteuerpflicht in England selbst und kann bald eine numerisch-starke Partei haben, da alle Dissenters in derselben Tonart eifern. Augenblicklich sind zwei Vakanzen im Ministerium; der Posten eines Kanzlers für Lancashire und der eines Lords der Admiralität sind unbesetzt. Man bezeichnet Mr. Baxter als denjenigen zivilen Zivilisten, der sich zum besagten „Civil-Lord of the Admirality" eigne und schon Anerbietungen erhalten habe, jedoch noch nicht in seinem „Geschäft" entbehrt werden könne. Gleiche Comtoir-Rücksichten sollen einen designierten Nachfolger des Lords Clarendon von der Übernahme der Kanzlerschaft für Lancashire noch zur Zeit abhalten. Russell soll sich bemühen, Gladstone so ausreichend mit Assistenten für das Unterhaus zu versehen, daß die Ämter des Krieges und der Flotte, oder eines derselben nicht auch an Mitglieder des Unterhauses fallen müßten, sondern der Herzog von Somerset und Earl de Grey and Ripon diese Portefeuilles behalten könnten. Der „Standard" schreibt die Veränderungen dem Willen zu, ganz mit den Prinzipien des verstorbenen Premiers zu brechen. Einen breiten Zipfel der neuen Ära hat man allerdings schon unter der Sargdecke hervorgezerrt. — Die neuesten Briefe aus Nordamerika liefern abermals eine Liste kompromittierter Engländer, solcher, die den Süden mit Kriegscontrebande unterstützt haben. Es sind zunächst 63 große Londoner Firmen, die so enthüllt werden. Auch der Inhaber der Kontrakte für Lieferung der Kanonen an Armee und Flotte, Sir William Armstrong, steht mit einem Posten von acht Kanonen in der Liste. Ihre genauen Adressen in London werden zitiert, auch die „stillen Kompagnons", unter andern das Parlamentsmitglied Lindsay. Die wiedergewonnenen Südlinger, welche den Präsidenten Johnson mit dieser Liste beschenkt haben, beweisen

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sich nicht eben der Dankbarkeit verdächtig mit diesen Publikationen. Auch der englische Konsul zu Havanna, Mr. Crawford, wird beschuldigt, sein Haus zu Rebellen-Stelldicheins und seinen Namen als Adresse der für den Süden über Havanna konsignierten Contrebande aus London hergegeben zu haben. Mr. Adams soll hier den Wink gegeben haben, wie wünschenswert ein „Desaveu" oder eine Bestrafung des englischen Konsuls sein dürfte. — „Stephens" ist ein Name, der weniger irisch, als kalenderhaft klingt in der Tonart von Gubitz und Nieritz, und, wenn das Buchstabieren nicht trügt, kann ein überraschender Deutscher, wenigstens der Abkunft nach, in ihm stecken. Doch, wie dem auch sei, Stephens ist „hin". Wieder hat ein Fenier gestrauchelt. Hatte ihn einer verraten, so hat ihn ein anderer gegen amerikanische Dollars (Silber natürlich) herausgelassen. Sechs, nach anderen acht schmiedeeiserne Türen öffneten sich, und darunter waren drei mit doppelten Patentschlössern; in einem derselben hat Stephens, der entflohene Chef der Lokal-Fenier der grünen Insel, den blanken Nachschlüssel stecken lassen. Es fügte sich, daß er unter einem Fenster zwei übereinander gestellte Tische fand, die ihm den Sprung aus dem zwanzig Fuß hohen Fenster erleichtert haben müssen. Aber man hat keine Fußspur auf und neben den Tischen entdeckt, wonach zu vermuten, daß er durch das Hauptportal ebenfalls durchs Schlüsselloch geschlüpft sein muß. Besondere Malice entwickelte seine Familie nach der Flucht. Frau und Töchter kamen einzeln zum Polizei-Bureau und fragten, ob es denn wirklich wahr, daß Stephens entsprungen? Ein Oberwärter Byrne ist verhaftet, und man fand bei ihm Papiere, daß dieser Oberwärter des Fenier-Verließes ebenfalls ein StammFenier. Das hat eine Art Panik in Dubliner Clubs und Kränzchen hervorgerufen und man sieht „Fenier überall", auch auf höheren Posten in Verkappung. Nach einigen ist Stephens mit einem Fischerboote einem der längst bemerkten drei „Laurer" auf der See zugefahren, nach anderen bereits in Havre gelandet. Eine dritte Ansicht ist mehr novellenartigirisch. Danach habe man Stephens „offiziell" entschlüpfen lassen, nachdem er alles entdeckt, was er entdecken konnte, und er wohne irgendwo im Sprengel von Dublin in einer offiziellen Hinterstube, um zur geeigneten Zeit wieder als Kronzeuge zu erscheinen. Klingt nicht sehr glaublich. Es ist viel eher möglich, daß wir in drei Wochen von ihm als „Geheimrat Stephens" hören, der behaglich in seinem „Bureau" dekretiere, nämlich in dem Regierungspalast, den sich die Fenier in New York mit schwerem Gelde angekauft und mit Aktenfächern und fenisch-büreaukratischen Papierkörben ausgestattet haben. Blut fließt nicht, aber Dinte, und

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harmloser hat selten eine Republik begonnen, als die der Fenier. Leute hat sie genug, aber das „Land" muß sie mit soundsoviel hundert Dollars für-die Quadratrute bezahlen. — Ein dem Lord-Mayor überreichtes Memoire der „National Temperance Ligue" erwähnt, daß wahrscheinlich 60.000 Personen im vergangenen Jahre an den Folgen der Trunksucht in England verstorben seien. — Ganz plötzlich sind zahlreiche Fleischerfamilien auf einige Zeit ihrer Erhalter beraubt worden, was indessen bei dem Geschäft keine Hungersgefahr hat. Jene hatten sich an Bord eines Dampfers begeben, für den sie regelmäßige Lieferungen zu machen haben, und versäumten, des Kapitäns „Bouteille" zeitig genug zu verlassen. Auch trat stürmisches Wetter ein, und somit sind sie samt und sonders Auswanderer wider Willen nach Amerika geworden. Hoffentlich ist keiner von ihnen unter den bewußten Contrebande-Lieferanten für den Süden. — Der Regierung von Chile sind 15 Millionen Piaster (englisch Geld) „unter der Form eines Eisenbahn-Ankaufes" angeboten, aber als „zur Zeit" noch nichterforderlich abgelehnt worden. [Nr. 282, 1. 12. 1865]

Konservative, die nicht konservativ sein wollen Jamaika, Luby und die Fenier. Mit oder ohne Kupfer p* London, 6. Dezember Die Zeit bis zum neuen Parlamente füllen die Parteien mit den gewöhnlichen kaltgestellten Schüsseln aus, nur hin und wieder mit einigen frischen Trüffeln verbessert. Sie werfen sich ihre Fehler vor, alte und neue. John Bright und John Brights „Bruder Jacob" und der einzige Literat des neuen Parlaments Hughes argumentieren gegen die Tories und berühren auch mitunter so gefährliche Themata, die zu ihrem Glück nicht auf Jamaika von ihnen berührt worden. Die Tories verteidigen sich gegen den Vorwurf, nicht liberal zu sein, und der „Standard" will nichts davon wissen, daß jene die Konservativen für den Konservatismus vor dreißig Jahren verantwortlich machen wollen; „denn die heutigen Konservativen nähmen den Standpunkt der Liberalen von ehedem ein". Das läßt nicht gerade auf feste Prinzipien schließen, da es soviel heißt, als: Wir gehen denselben Weg wie die Liberalen, nur sie als Hasen und wir als Schildkröten. Demnach wäre es nur ein Unterschied zwischen dem Geschwindtrabe und der Gemächlichkeit, während ein wahrer Konservatismus überhaupt die Bahn des modernen Liberalismus in keinem

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T e m p o einschlagen sollte. Es fehlt aber leider auch den Konservativen an Einigkeit. Die Niedermetzelung der Schwarzen auf J a m a i k a , als Präservativmittel gegen eine drei M o n a t e später vermutete Rebellion, konnte von der Partei zu einer gerechten und furchtbaren Waffe gegen die Whigs und Liberalen benutzt werden. „Kratzt einen Whig und der Kannibale kommt zum Vorschein", wäre ein zwar überkräftiges, aber doch dem parlamentarischen Parteijargon entsprechendes Stichwort gewesen. Doch die Presse der Tories ist uneinig. Die einen folgen der Times, die nie ein Unrecht eingesteht, wenn sie sich vergaloppiert. Andere dagegen halten es mit den „Daily N e w s " und brandmarken das Verhalten der Weißen auf J a m a i k a , als die blutigste Schande des Jahrhunderts. Im Publikum gährt es von Entrüstung. Jeder lächelt über die törichte Versicherung halboffiziöser Journale, daß je die Gesetzlichkeit solch eines über alles M a ß hinausgehenden Terrorismus nachgewiesen werden kann, selbst wenn es gelänge, die Gefahr einer allgemeinen Niedermetzelung der Weißen als „in drei Monaten bevorstehend" zu erweisen. Wir Festländer „mit verrotteten Institutionen", „Fürstenknechtschaft", „Polizei-Barbarismus" (und wie die Redensarten alle heißen), wir „umnachteten Ausländer" töten keine Rebellen ohne weitere Umstände, wenn nicht mit den Waffen in der H a n d ergriffen oder sonst schwer graviert, verwarnt oder rückfällig befunden; wir peitschen keine Frauen und schießen keine Rebellenkinder aus den Bäumen herunter. In einem Privatbriefe aus J a m a i k a lese ich: „Heute morgen ging ich aus, um Verwundeten Hülfe zu bringen. Hundert Schritt von meinem H a u s e las ich fünf R e bellen' auf — fünf kleine Knaben, die aus den Zweigen hoher B ä u m e herabgeschossen w a r e n . " In sehr wenigen Dörfern fand man Waffen der „allgemeinen Rebellion". Der „Daily Telegraph", welcher schon schwankt, sucht den Gouverneur Eyre vor dem einen Vorwurf „panischer Furcht" zu schützen — bekanntlich der einzige mildernde Umstand, der noch dies und jenes hätte erklären können. „Ein Mann, der mit den Ureinwohnern von Neuholland fertig geworden und auf der Insel St. Vincent das Dach eines brennenden Hauses bestieg, in dem ein großer Pulvervorrat gelegen, — solch ein Mann kennt keine Furcht." D a s Erschütterndste ist eigentlich das Betragen der Weißen auf J a m a i k a nach der Metzelei, die Herzlosigkeit, der frivole „Appetit" in den leichtsinnigen offiziellen Rapporten, die falschen Beschönigungen seitens der Presse dort und teilweise hier, — wachsen solche Früchte am B a u m e des freien Parlamentarismus? Daß die Neger übrigens keinen Widerstand leisteten, erklärt sich aus dem Umstände, daß die wenigsten überhaupt Waffen

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The Head-Quarters of the Fenian Brotherhood at New York

hatten·, sonst hätte die allernatürlichste Notwehr es entschuldigt, wenn ein Vater seine Kinder und ein Gatte sein Weib mit jeder Waffe zur Hand gegen die auf sie losgelassenen Erbfeinde, die Maronen (Buschneger), verteidigt hätte. Mehrere Journale von der Partei des harten Geldes haben den Kriegstanz der Maronen um die „behängten Bäume" unter den Augen der Offiziere ein „highly impressive spectacle" (ein sehr eindrucksvolles Schauspiel) genannt."" Auf anderem Gebiete ebenfalls, dem Auch ist ein anderes Zitat nicht zu vergessen. Der „Telegraph" äußerte in seinem ersten Artikel über die Bluttage von Jamaika: „We honestly believe, that the English are most human people in the w o r l d . " (Wir haben den aufrichtigen Glauben, daß die Engländer das humanste Volk der Erde sind.)

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der Presse, zeigt sich, wie sehr wir Festländer mit „Verwarnungen" und „ersten, zweiten und dritten Verurteilungen" noch gegen die scharfe Praxis hierzulande „zurück" sind. Der Verleger des „Irish People" Luby, der revolutionäre Fenier, ist bekanntlich zu 2 0 Jahren Strafarbeit bez. Transportation verurteilt und wird nach dem „Britischen Cayenne" an der Westküste Afrikas geschickt werden. * Gewiß hat der Mann für sein schweres Preßvergehen Strafe verdient; aber wie gut ists für unsere Verleger revolutionärer Blätter im lieben Deutschland, daß sie nicht in Irland wohnen. Zwanzig Jahre Zuchthaus für einen „ersten" juridisch konstatierten Kontraventionsfall ist eine etwas schärfere Praxis, als bei uns selbst unter dem Flammenbrande der ausgebrochenen Revolution Brauch geworden. Dazu kommt, daß man diese fenische Presse schon zwei Jahre vorher die tollsten Probleme diskutiern ließ, ohne nur eine Hand zu rühren, und daß man über die ganze Dubliner Affäre überhaupt sich halbtotlachen wollte. Wir Festländer mit der „Knebelung der Presse" usw., wir sind gewöhnlich nicht in der Stimmung, einen politischen Attentäter, der uns nur zu Gelächter Stoff gibt, auf zwanzig Jahre ins Zuchthaus zu schicken, es sei denn, er wäre ein doppelt Rückfälliger. Es liegt so etwas Stierwütiges in alledem, wie in der Affäre von Jamaika. Es ist dasselbe Temperament, nur im Grade der Hitze verschieden. — Französische Blätter wollen den flüchtigen Fenier Stephens in Paris gesehen haben. Franzosen sehen immer so etwas. Kein Mann, der von sich reden macht, verschwindet in Europa, ohne daß er einmal auf den Boulevards Kaffee trinkt und in die Blätter kommt. Diesmal war es ein angelsächsischer Brite, ein Börsenspekulant, der sich nur mit Mühe den Komplimenten der neugierigen Flaneurs entziehen konnte, die ihn für das bewußte „Haupt-Zentrum der Fenier" hielten, bis ihn ein jüdischer Makler als seinen „eher a m i " unter den Arm nahm und nach den Hallen der Börse entführte. — D a ß Kapitän Cobbett angeklagt, den britischen „SeaKing" bei Madeira damals den Südlingern verkauft zu haben (die dann das Schiff „Shenandoah" nannten), von der Jury hier freigesprochen, ist durchaus nicht merkwürdig. Die Beweise waren so stark, daß ein Blatt den alten Witz aufwärmt, „Nichtschuldig, aber tu's nicht wieder!" Man stellt doch das Temperament des Präsidenten Johnson auf eine ziemlich

Der Verurteilte sagte kurz vor der Verkündigung des Strafmaßes: „Die Regierung Britanniens, die einst selbst in vergossenem Königsblut und in der Revolution ihren Ursprung nahm, hat kein Recht, hart gegen die zu verfahren, die gegen sie selber Revolution machen!"

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harte Probe. Es heißt, man habe den nordamerikanischen Minister Seward englischerseits ersucht, seine Stellung zu den Feniern zu definieren, aber keine Auskunft erhalten, die sich in die Berliner Phrase am besten übersetzt: „Stellung ist nicht." — Die Eingesandts über „Spanien und Chile" definieren die Parteien für und wider in solche, die kein Geld in Chilekupfer stecken haben, und solche, die das haben. Die ersteren nehmen die Seite Spaniens, die anderen die Chiles. Eine schlichtere Grundlage für Grundsätze gibt es kaum, und keine, die verständlicher. So war es auch in der Peru-Querele „mit oder ohne Guano". [Nr. 289, 9. 12. 1865]

General Schofield. Mahnung für Belgien Irisches Vorparlament p* London, 14. Dezember Wenn auch einige Blätter hier in der Spur der französischen folgen und der Reise des amerikanischen Generals Schofield nur „Vergnügen mit Nutzen" zuschreiben, so sind doch andere, welche Mission und Zweck nicht verkennen. Freilich ists keine Mission mit „Pauken und Trompeten". Ein Privatbrief aus New York an einen Reeder enthält darüber folgendes: „Das Kabinett zu Washington ist zu gut informiert, um nicht zu wissen, daß der Kaiser Napoleon, selbst wenn er am liebsten seine Truppen schon auf der Rückfahrt schwimmen sähe, am allerwenigsten dies auf eine Drohung hin, oder infolge einer Mission, die eine Drohung auf der Stirn, wenn auch nicht auf den Lippen trüge, beschleunigen würde oder könnte. Schofields Reise ist ein Fühler — seine Visiten bei französischen Ministern werden zunächst nur Gedankenstriche hinterlassen, aber parallel seiner Aktion können Aktionen der nordamerikanischen Union an der mexikanischen Grenze laufen, obwohl man sehr bemüht bleiben wird, in absichtliche Mißverständnisse' mit Pulver und Blei, Dinge, die sich immer machen lassen, nur solche Streitkräfte des Kaisers Maximilian zu verwickeln, die nicht la belle France ihre Heimat nennen. Ob das ,mit' Johnson oder ,trotz' Johnson zum Knall gebracht werden soll, läßt sich freilich nicht sagen. Bis in die Armee reichen die Parteiwirren hinein und die mit Johnsons Mäßigung Unzufriedenen glauben, wenn sie nur den Druck auf ihn recht drückend machen, er zu jenen Impulsen gedrängt werden könne, welche im Beginne seiner

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Amtstätigkeit dieser eine sehr leidenschaftliche Farbe verliehen. Was diese Spekulationen vereiteln kann, ist der Umstand, daß Johnson von alledem weiß; denn diese Konspiratoren können den Mund nicht stille halten und erzählen aller Welt in ihren Journalen, wie sie den Präsidenten kirren wollen. Johnson, meine ich, lächelt mit dem Phlegma eines Tafelfreundes darüber und will keine Störung im Genesungsprozeß der erschütterten Staaten." — So dieser Privatbrief. Ein amerikanisches Blatt äußert sich über die Mission Schofields dahin, daß ihr alles, was einem Begehren oder einer Drohung ähnlich sähe, fern liege, sondern daß man eine offenherzige Schilderung der Schwierigkeiten Johnsons beabsichtige, welche ihm die Parteien bereiten, und daß damit der Wink verbunden wäre, wie praktisch ein Ersatz der französischen Kontingente durch andere europäische mit diesen oder jenen Maßnahmen beschleunigt werden könne, was jeden Konflikt einer unbeabsichtigten Tragweite berauben müsse. — Die meisten Blätter Londons brachten den Nekrolog des Königs der Belgier mit schwarzem Rande; sodann folgten Leitartikel und in zweien oder dreien die kurze Notiz am Ende derselben: „Wir haben guten Grund, zu glauben, daß dieser Todesfall keine Änderung in den Veranstaltungen Ihrer Majestät hervorrufen werde, das Parlament in Person zu eröffnen." In mehreren Leitartikeln blickt eine deutliche Besorgnis hindurch, daß die Belgier nicht Ruhe halten werden. So schreibt der „Daily Telegraph": „Einmal der Ruf nach französischer Hülfe gewispert, und Imperialisten, Republikaner und Orleanisten würden das nicht ohne Rührung anhören können. Selbst ein so honetter Denker, wie Tocqueville, wollte dem dritten Napoleon alles verzeihen, wenn er Belgien akquirierte. J e eher sich die belgischen Parteien die Lektion ans Herz legen, desto besser. Sind sie uneinig, zanken sie sich; sind sie illoyal, so kann ein Königreich, das durch eine Revolution und einen Vertrag entstanden, nicht weniger leicht durch eine Armee und eine Proklamation umgeworfen werden." — Unsere Blätter gaben in telegraphischer Depesche übrigens den Schluß des Nekrologes, welchen die Kreuzzeitung über König Leopold I. gebracht. „Halboffiziell" heißt es natürlich; dieses Adjektivum werden Sie augenscheinlich nicht mehr los. — Die Stadtresidenz des verstorbenen Palmerston, von ihm für den Jahresbetrag von 2 5 0 0 Pfd. Sterling gemietet, in äußerer Erscheinung einigen jener kleinen Palais mit einem Vorhofe ähnlich, wie sie auf der einen Seite der Berliner „Wilhelmsstraße" zu finden, wird Clublokal des „Naval and Military Club" gegen eine Jahresmiete von 3 0 0 0 Pfd. Sterling. Es ist Eigentum des Baronet Sulton, der vor einigen Jahren zur katholischen Konfession überge-

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treten. — Die 14 Punkte, über welche sich das auf Veranlassung der Irish National Ligue zusammengetretene irische Vorparlament zu Dublin geeinigt, sind heterogenster Art, werden aber von der liberalen Presse Englands als gemäßigt betrachtet. Es nahmen nur 20 der irischen Parlaments-Mitglieder an den Verhandlungen teil, welche mit dem Programm der vierzehn Punkte im neuen House of Commons auftreten werden. Die National Ligue hat sich insofern getäuscht gesehen, als die Zwanzig sich nicht dazu bewegen ließen, die alte O'Connellsche Repeal (Auflösung der Union mit Großbritannien) wieder auf das Tapet zu bringen. — Zum ersten Male seit ihrem langjährigen Bestehen hat die KristallPalast Gesellschaft eine Dividende für die Aktionäre zur Verteilung bereit, zweiundeinhalb Prozent, Überschuß 1284 Pfd. Sterling. Die Zahl der Besucher des Palastes belief sich in diesem Jahre schon auf 1. 758. 516. [Nr. 298, 20. 12. 1865]

Der Eindruck von Johnsons Botschaft Eine Demonstration Gouverneur Eyre und ein Präzedenzfall Ein Wink mit dem Zaunpfahl p* London, 18. Dezember Ungeachtet der Ausfälle auf die englische Neutralität während des letzten Krieges hat die erste Botschaft des Präsidenten Johnson hier im allgemeinen befriedigt. Ohne Angriffe auf England ginge dergleichen in Amerika einmal nicht ab, sagt man, und der „Standard" versichert, das komme daher, weil Staatsmänner in Amerika, falls sie Carriere machen wollten, billig und höflich von England eben nicht reden dürften. Jeder müsse dort „to Buncombe" reden, womit die Yankees meinen, den Hörern zu Gefallen loben oder tadeln. Man sei hier schon so an dergleichen gewöhnt, daß solche Botschaften mit Gleichgültigkeit und oft mit Amüsement in England gelesen würden. Daran ist manches Wahre, jedoch waren nicht alle Stacheln in jener Botschaft diesseit so unverdient, als die geschminkte politische Unschuld glauben machen will. Gleichzeitig mit den überseeischen Nachrichten sind auch solche aus Westindien eingegangen und zwar von der dänischen Insel St. Thomas, die das Asyl für Exilierte verschiedenster Farbe von Zeit zu Zeit gewesen. Dort wohnte der ehemalige mexikanische Diktator Santa Anna und dressierte

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Kampfhähne in friedlicher Stille, bis ihm General Bazaine die Rückkehr nach Mexico gestattete. Aber so ein alter Kater, wenn auch auf französisch verwarnt, läßt nicht von seiner Art, und binnen Jahresfrist sah sich Santa Anna wieder in St. Thomas, weil er eben das Intrigieren nicht lassen konnte. Diesen haben die Nordamerikaner soeben zu einer Demonstration verwendet. Der Kommodore eines kleinen amerikanischen Kriegsgeschwaders, das sich auf der See zwischen Cap Haytien und St. T h o m a s zu tun machte, sandte Santa Anna eine Einladung, an Bord zu kommen. Dieser folgte dem Rufe in voller Gala, auf der Brust zahllose Orden, deren Wert der Reporter aus Washington echt amerikanisch auf 9 0 . 0 0 0 Dollars berechnet hat, und mit einem kleinen, aber glänzenden Gefolge. An Bord wurde er mit den offiziell-üblichen 21 Kanonenschüssen begrüßt, und das amerikanische Offizierkorps der Kriegsschiffe erwies ihm alle solche Auszeichnungen, wie sie nur der beschränkte Höflichkeits-Kalender ihres Landes aufweisen konnte. „Wieder ein Nasenstüber für Paris!" bemerkt das westindische Blatt, welches jenen Bericht enthält. — Die Suspension des Gouverneurs Eyre von Jamaika, hat ihre besonderen Gründe in „legalen Schwierigkeiten", die man vermeiden wollte. Nachdem die Dubliner Gerichte den Lordlieutenant von Irland, gelegentlich der Lubyschen Entschädigungsklage, für „Staatsakte" außer Verantwortlichkeit erklärt, gab die erhitzte liberale Presse Winke, wie übel es dem Fortschritts-Kabinett anstehen würde, Eyre eine ähnliche Seitentür offen zu lassen. Seine Suspension stellt ihn genau auf dieselbe Stufe den Gerichten des Landes gegenüber, wie jeden beliebigen Privatmann, der sich Kontraventionen hat zuschulden kommen lassen. Die Berufung auf „Staatsakte" wird dadurch (nach der Logik des englischen Gesetzes) im voraus annulliert, was auch die Logik des gesunden Menschenverstandes gegen eine so eigentümliche, in sich selbst unbillige Fiktion einzuwenden haben möge. Andererseits wird die Suspension als eine Bekräftigung der ziemlich allgemeinen Ansicht betrachtet, daß die eigenen Rapporte, von Eyre unterzeichnet, schon selbst Beweise zur Genüge geboten haben, um jene Maßregel zu rechtfertigen. Da sein Stellvertreter Sir Henry Storks zugleich das militärische Oberkommando zu übernehmen hat, so ist damit auch eine faktische Suspension der rechten Hand Eyre, des Generals O'Connor, erfolgt. Vor drei Tagen stieg Obrist Nelson zu Southampton auf englischen Boden, derselbe, welcher in der Morant-Bai die ersten Hängeakte (jedoch gegen die wirklich an der Niedermetzelung der Weißen beteiligten Schwarzen) ausführte. Der Angekommene soll auf das Äußerste über die gereizte Stimmung erstaunt sein,

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welche er auf Schritt und Tritt in London wahrgenommen. Es wird an einen Präzedenzfall erinnert aus dem Jahre 1803. General Picton war damals Gouverneur der westindischen Insel Trinidad und ließ eine Negerin, welche einen begangenen Diebstahl leugnete, foltern. Es kam zur Absendung einer Untersuchungskommission und zu einem Schuldig. Im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde spann sich ein sechsjähriger Prozeß an, der damit endete, daß man ihn fallen ließ, „weil (so lautet der Rapport) die Strafe eine so geringfügige, so ganz außer Verhältnis zum Vergehen stehende, nach damaliger englischer Justiz gewesen, daß die bloße Verkündigung eines solchen Urteils dem Ansehen des Landes und der Regierung nicht zuträglich gewesen wäre". Picton war später einer der englischen Waterloohelden. — Der „Manchester Examiner" versichert, daß sämtliche Londoner Blätter aus dem stenographischen Berichte über die große Reformrede Brights zu Birmingham eine sehr pikante Stelle ausgelassen hätten, welche es erklärt, wie dem „Morning Star" so viele Eingesandts zugegangen, darüber Klage führend, daß John Bright kein Fauteuil in Downingstreet zum Hineinplumpen angeboten worden wäre. Der „Examiner" gibt den Wortlaut der Brightschen Äußerungen in folgendem: „Ich habe nicht nach einem Amte gestrebt. Wäre dies der Haupt-Ehrgeiz meines politischen Lebens gewesen, so wäre ich schon lange vor dieser Zeit wohl in ein Amt getreten, das Würde mit Emolumenten vereinigt. Mein gegenwärtiges ,Amt' bringt keine Emolumente, aber große Würde. Es gibt Leute, die zu Würden gelangen mit Hülfe ihrer verstorbenen Vorfahren. Ich erlangte die meinige durch die Gunst meiner Wähler, deren ehrlicher und, ich hoffe, nicht unnützlicher Diener ich bin. Ich habe keinen Ämter-Ehrgeiz gehabt, aber es könnte meine Pßicbt werden, ein Amt unter gewissen Umständen anzunehmen. Sollte dem so werden, und es ist eine kühne Redeweise (a bold figure of speech), so verlaßt Euch darauf, daß dies eben nur geschehen würde, wenn ich vollständig davon überzeugt wäre, daß ein solches Amt sich mit der Stellung verträgt, die ich als Euer Vertreter im Parlament einnehme, und als der Advokat, wenn auch in bescheidener und unzureichender Weise, der großen Masse meiner Landsleute." — Die Bescheidenheit beiseite, welch' ein Wink und mit was für einem Zaunpfahl! — Der Schotte Mr. Baxter, welcher soeben den zweimal angebotenen Sitz im Kabinett als Civil Lord of the Admirality abgelehnt, hat vor seinen Wählern zu Montrose eine heftige Philippica gegen die Times gehalten, die damit geschlossen: „Paßt auf, welchen Weg die Times einschlägt, schlagt den direkt entgegengesetzten ein, und Ihr werdet Recht haben." [Nr. 300, 22. 12. 1865]

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Boxing-day. Vergnügungsunfähig Dr. Lancasters Weihnachts-Rapport Jamaika als kirchliche Frage. Parlaments-Vorrat Die Jurys gegen die Fenier p* London, 26. Dezember Gestern, am kirchlichen Feiertag, enthielten die Blätter telegraphische Depeschen, heute, am weltlichsten der weltlichen in England, dem „boxing-day", d. h. dem Tage des Beschenkens keine. Das macht, alle Clerks, das ganze „Clerkdom" feiert. Sie haben nur zwei Tage für Vergnügungen im Jahr, am „guten Freitag" (Ostern) und heute. Ich machte heute eine Tour von zwanzig englischen Meilen und habe nur einmal fröhliche Kinder gesehen, obwohl das Wetter frühlingsartig. Weihnachten ist kein Kinderfest in England. Man stopft sie irgendwo beiseite, vermutlich, weil sie so gar unsichtbar und still an diesem Tage. Nur an den Fenstern ist mitunter ein kleines Gesicht zu erblicken, mit dem Ausdrucke kindlicher Langeweile. Familien sind beisammen und Hausfreunde; aber Theodor Fontane hat in seinem „Ein Sommer in L o n d o n " dem Hausherrn die Gedanken abgelesen, wenn er ihn wünschen läßt 4 2 : „Ach, wären sie nur wieder fort." Selten ist der Engländer vergnügter, als wenn das Vergnügen vorüber; er macht eine Arbeit oder eine Reihe von Vor- und Nachmittagsschläfchen daraus. Diesem werden allerlei falsche Ursachen zugeschrieben. Da sind Leute, die an der Sonntagsheiligung mäkeln und behaupten, der Engländer könne sich auch am weltlicheren Festtage nicht der „gedrückten Stimmung" erwehren, die, durch „Überarbeit" das ganze Jahr hindurch hervorgebracht, an den 52 Sonntagen nicht durch Erholungen gehoben werden dürfe. Aber wo — wie in England — zwei Dritteile der Nation sich an Sonntagen in Wirtshäusern aufhalten und die Mehrzahl sich berauscht, kann von einer allgemeinen Sonntagsheiligung überhaupt nicht gesprochen werden. Auch die „Oberarbeit" ist ein englisches Argument. Unsere deutschen Arbeiter, unsere Kommis arbeiten viel länger des Tages, als in England der Fall, ohne so schwerfällige Gemüter zu werden. In Ermangelung der Fähigkeit, sich geistig und gesellschaftlich zu erfrischen und zu erheitern, wirft sich alles auf den massenhaften Genuß reichlicher Viktualien. Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, die eine Hälfte der Nation betrinke sich an diesem Feste, die andere verderbe sich den Magen, und Ärzte, die das ganze Jahr über 42

Ein Sommer in London,

Das Leben ein Sturm, in: HF III, 3/1, S. 115.

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keine Patienten gehabt, machen doch eine Ernte in der einen Woche zwischen Weihnachten und Neujahr aus der Kur an solchen, die für Zwei gegessen und für Drei getrunken haben. — Die Lektüre der Zeitungen ist auch nichts weniger als feiertäglich. Sie kommen gerade an diesem Tage einer Pflicht nach, auf die Wunden des Lazarus zu weisen, der vor den Türen schmachtet, und auf andere Gebrechen. Der Wunden und Gebrechen sind so viele, daß einem bei den Schilderungen weh ums Herz wird. Es ist um diese Zeit des Jahres, wo hinter Gartenzäunen die meisten jener unheimlichen Pakete von der Polizei aufgehoben werden, die in Lumpen oder in die Times gewickelt — weggeworfene „Kinder" enthalten. Es liest sich fürchterlich, aber es ist die Wahrheit. Ein Blatt schreibt: „Das Winseln der Säuglinge, die nicht leben sollen, klingt überall im Lande durch das Getöse des Verkehrs." Im Jahre 1864 betrug jene entsetzliche „Auflese" 3000, und soeben veröffentlicht der Coroner der Grafschaft Middlesex, Dr. Lancaster, seinen offiziellen „Weihnachtsrapport", in welchem es heißt: „Der Kindermord in London hat so fürchterliche Proportionen angenommen, daß ich nicht im mindesten Anstand nehme, zu behaupten, wie unter je dreißig Personen weiblichen Geschlechts, denen wir begegnen, eine Mörderin — mit anderen Worten, daß 12.000 Weiber in London, denen jenes Verbrechen zuzuschreiben. Meine Totenschau ertreckt sich unaufhörlich auf tote Kinder, die in Gärten geworfen, in Parks verlassen, auf Bahnstationen versteckt worden. Auch Verheiratete sind oft desselben Verbrechens schuldig." Die Tatsachen sind grausenerregend; but what is to be done? (was ist zu tun?) sind die einzigen Worte, die man vom Publikum und von der Presse vernimmt. — Soweit sich jetzt schon der Arbeitsvorrat für das neue Parlament übersehen läßt, kann man die heftigsten Debatten vorhersagen, die je das House of Commons beschäftigt haben. Es sind kirchliche Fragen zumeist. Jamaika ist zur kirchlichen Frage gemacht. Fast alles Interesse wird schon durch die Frage absorbiert, ob die Dissenters (in jenem speziellen Falle die Baptisten) oder die Anglikaner den Sieg bei der „Untersuchung" davontragen werden. Dieselbe Frage wird von mehr als einem in das Parlament getragen werden und die Debatte sich um Themata erhitzen, die nie mit Mäßigung in England behandelt worden, und den Kern der Untersuchung, die Frage der Gesetzlichkeit gewisser Maßnahmen gegen die Neger, in den Hintergrund drängen und verfärben. Eine andere Sache ist der Zwist des kirchlichen Comites des Privy-Council mit den meisten Würdenträgern der anglikanischen Kirche über die künftige Verwendung vom Staate gegebener Erziehungsgelder. Bisher

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wurden diese nur für Schulen anglikanischer Kinder verwendet; das Privy-Council hat die Absicht, die Aufhebung jener Klausel zu beantragen, um die Staatsdotation auch Kindern von Dissenters zugute kommen zu lassen. „Wenn jemand eine Schule gründe und Staatshülfe begehre und erhalte, so müsse er die Schule auch Anglikanern öffnen." Ein dritter, und der herbste Zwist wird sich um die verlangte Abschaffung der irischen Kirche als Staatskirche entspinnen, indem die Katholiken jener Insel nicht länger zu deren Unterhalt Steuern zahlen wollen. Irland ist übrigens keine Ausnahme. Auch in England müssen Dissenter, Katholiken und Juden die Staatskirchensteuer entrichten, die „am Hause haftet", welcher Konfession auch der Hausmieter angehöre. In England ist die Opposition nur nicht so scharf wie in Irland, weil in England Katholiken so bedeutend in der Minderheit, während sie in Irland die überwiegende Mehrheit ausmachen. Es heißt, daß auch die Schwurgerichte über die Fenier von einzelnen im Unterhause angefochten werden sollen und nicht ohne einigen Schein der Begründung. Es scheint, als wenn die englische Justiz auch da, wo sie alle Chancen für sich hat, sich noch besondere schafft, die nicht ganz auf geradem Wege erreicht werden können. Die in Cork abgeurteilten Fenier waren alle Katholiken: Cork ist durchweg katholisch, dennoch wurde von der Staatskommission es möglich gemacht, daß unter den zur Wahl gestellten zwanzig Geschwornen aus der Stadt neunzehn Protestanten und teilweise von orangistischer „Vorliebe" waren. So kommen die Verdikte jedesmal von einer Jury, in welcher eilf Protestanten und ein Katholik saßen. Es kann nun sein, daß die englischen Blätter recht haben, in Abrede zu stellen, das Glaubensbekenntnis beeinflusse den Geschwornen in seiner Unparteilichkeit. Es kann so sein; aber es kann doch auch anders sein und ist in Irland schon oft anders gewesen, wo kein Monat vergeht, in dem nicht ein Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten mit der Faust entschieden wird. Ein Vorwand zum Angriff auf dieses Prozeßverfahren wird jedenfalls geboten und kein ganz windiger, wo so viele Präzedenzfälle vorhanden, die dem Angriffe Halt geben können. Mehrere Blätter erzählen, der entwichene Hauptfenier Stephens habe beim englischen Gesandten in Paris seine Karte abgegeben, andere, die nächste amerikanische Post werde seine Ankunft in New York melden, sowie seine Erhebung zum Präsidenten der „Irischen Republik" nach der erfolgten Absetzung O'Mahonys, von der die gestrige Post meldet. Mit größerer Spannung sieht man der nächsten westindischen Post (von Jamaika) entgegen, deren Nachrichten bis zum 8. Dezember reichen werden. [Nr. 306, 31. 12. 1865]

Theodor Fontane Unechte Korrespondenzen 1866-1870

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Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von

Luise Berg-Ehlers Helmuth Nürnberger Henry Η. H. Remak

Band 1.2

Walter de Gruyter Berlin · New York 1996

Theodor Fontane Unechte Korrespondenzen 1866-1870

Herausgegeben von

Heide Streiter-Buscher

Walter de Gruyter Berlin · New York

1996

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CAP-Einheitsaufnahme

Fontane, Theodor: U n e c h t e K o r r e s p o n d e n z e n / T h e o d o r F o n t a n e . H r s g . von H e i d e Streiter-Buscher. — Berlin ; N e w York : de Gruyter. N E : Streiter-Buscher, H e i d e [Hrsg.] 1 8 6 6 - 1 8 7 0 . - 1995 (Schriften der T h e o d o r - F o n t a n e - G e s e l l s c h a f t ; Bd. 1,2) ISBN 3-11-014076-4 N E : T h e o d o r - F o n t a n e - G e s e l l s c h a f t : Schriften der T h e o d o r - F o n tane-Gesellschaft

© C o p y r i g h t 1 9 9 5 by W a l t e r de G r u y t e r & C o . , D - 1 0 7 8 5 Berlin D i e s e s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung a u ß e r h a l b der engen G r e n z e n des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, M i k r o v e r f i l m u n g e n und die E i n s p e i c h e r u n g und Verarbeitung in elektronischen S y s t e m e n . Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : A r t h u r C o l l i g n o n G m b H , Berlin B u c h b i n d e r i s c h e V e r a r b e i t u n g : Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin E i n b a n d g e s t a l t u n g : Sigurd W e n d l a n d , Berlin, unter Verwendung von: H o r s t J a n s s e n D e r „ m i t t l e r e " F o n t a n e " (Aquarell und Z e i c h n u n g )

Inhalt

Band 2 U n e c h t e K o r r e s p o n d e n z e n 1 8 6 6 —1870 1866 1867 1868 1869 1870

613 739 827 876 977 Anhang

Glossen zu englischen Presseberichten . . . . Leitartikel Feuilletonistische Beiträge

1033 1138 1173

Editorische Notiz Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Periodikaverzeichnis Abbildungsnachweis

1183 1187 1188 1262 1273

Band 1 Unechte Korrespondenzen Zur Einführung 186 0 186 1 1862 1863 1864 186 5

I860—1865 1 71 100 182 281 310 432

Unechte Korrespondenzen 1866-1870

1866 Das Scheitern der seit Jahren als unumgänglich erkannten Parlamentsreform und — dadurch bedingt — der Sturz des Ministeriums Rüssel/Gladstone kennzeichnen Großbritanniens Parlamentssession von 1866. In der Reformfrage treffen die Meinungen über die Herabsetzung des Wahlzensus und die Neuverteilung der Parlamentssitze im Unterhaus in und zwischen den Parteien hart aufeinander und führen zur Spaltung des liberalen Lagers. Die abtrünnigen Whigs, die in der entscheidenden Abstimmung über die Reformbill in wesentlichen Punkten mit den Tories stimmen und dadurch den Wechsel zur Regierung Derby/Disraeli einleiten, werden als Adullamiten in die Geschichte eingehen, so benannt nach einem halb scherzhaften Wort John Brights, der den Abfall der oppositionellen Parteifreunde als Rückzug in die politische Höhle von Adullam bezeichnet und damit auf jene Höhle im alten Kanaan angespielt hat, in der David und die Seinen vor den Verfolgungen Sauls Schutz gesucht hatten. Während dieser Zeit hängt über dem Kontinent jene große dunkle Wolke, die sich nach dem österreichisch-preußischen Dissens über die schleswig-holsteinische Herzogtümerfrage im deutsch-deutschen Krieg entlädt und nach der entscheidenden Schlacht bei Königgrätz (Sadowa) zur Neugestaltung Deutschlands führt. Nachdem Italien von Frankreich infolge der österreichisch-französischen Vertragsabsprache Venetien erhalten hat und nachdem laut Septembervertrag von 1864 die französischen Truppen am Jahresende auch Rom geräumt haben, ist das Italien Victor Emanuels seit Jahrhunderten erstmals wieder ohne Besatzungsmacht. Der schnelle Verlauf des deutschen Krieges hat Napoleons längerfristige Pläne auf aussichtsreiche Gebietskompensationen an den Grenzen seines Landes durchkreuzt. Die Erfolglosigkeit des kostspieligen mexikanischen Kriegsabenteuers und die erstarkende Parlamentsopposition, die vor den Gefahren der Nationalitätenpolitik des Kaisers warnt, mindern weiter sein Ansehen. Spanien, von Aufständen, Militärrevolten und — am Ende des Jahres — von einem Staatsstreich der Reaktion geschwächt, ist gleich zu Beginn des Jahres mit der Kriegserklärung Chiles und seiner Allianzpartner konfrontiert. Es geht um Chiles Neutralitätsverletzung während Spaniens vorjährigem Konflikt mit Peru. Die englisch-französischen Vermittlungsbemühungen finden bei den südamerikanischen Verbündeten kein Gehör. Nach Vergeltungsangriffen auf die beiden wichti-

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18 66

gen Hafenstädte Valparaiso in Chile und Callao in Peru zieht sich die spanische Flotte aus diesem Konflikt wieder zurück. Die heimischen Themen der britischen Blätter sind vor allem dem Für und Wider der Reformbill und dem Regierungswechsel gewidmet. Daneben wird auf die Irische Frage eingehender als sonst eingegangen und der nach den Vereinigten Staaten ausgewichenen Fenier-Bewegung mehr Raum gegeben, zumal seitdem diese in New York eine „Irische Republik" ausgerufen und eine Exil-Regierung nominiert hat mit Präsident, Senatoren und Repräsentanten an der Spitze. Auch die panikartige Aufregung über den Bankrott der Handelsfirma Overend, Gurney Comp, am 10. Mai mit 19 Millionen Pfund Sterling Verbindlichkeiten, von dem auch Londoner Banken betroffen sind und in eine Finanzkrise gezogen werden, macht Schlagzeilen. Nach Königgrätz findet ein Stimmungsumschwung in den englischen Blättern in der Beurteilung der preußischen Politik statt. Vor allem Bismarck wird im Licht der deutschen Ereignisse positiver als zuvor gewürdigt; sein staatsmännischer Weitblick, seine Willenskraft und sein Durchsetzungsvermögen werden hervorgehoben.

Die Finanzlage. Hängens werte Reden Der „kranke Mann". Sir Robert Peel. Die Fenier p* London, 1. Januar Am Sonnabend brachten alle Blätter eine Jahresrundschau und heute steht an der Spitze ihrer Leitartikel eine Neujahrsbetrachtung, — je nach der Parteistellung in verschiedener Farbe; doch was Handel und Wandel betrifft, stimmen sie alle in couleur de rosa überein. Z w a r weisen die vergangenen neun Monate des Gladstonischen Finanzjahres, das um Ostern endet, ein Defizit von nahezu einer Million Pfund Sterling auf; aber nach der Regel „hoffe das Beste und erwarte das Schlimmste" schlägt auch dieses Defizit zugunsten des offiziellen Rechners aus. In seiner letzten Budgetrede verzichtete er auf 5. 200. 0 0 0 Lstr. an Zöllen und Steuern und stellte für das laufende Finanzjahr ein Defizit von 3. 801. 000 Lstr. in Aussicht. Sobald die zwölf Monate komplettiert sind, wird jene eine Million im Minus nicht zu dieser schlimmsten Erwartung angeschwollen sein und nicht einmal das Fouldsche Defizit erreichen. Wir können so kleine Ausfälle wohl aushalten und in dieser Beziehung das neue J a h r ohne Kopfweh antreten. — Morgen tritt Russell Gurney,

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London, 1. J a n u a r

der Recorder der City, die Reise nach Jamaika an, in Begleitung von Mr. Maule, Recorder der Stadt Leeds. Diese, mit dem schon auf seinen Posten abgegangenen interimistischen Gouverneur der Insel, Sir Henry Storks, bilden die Untersuchungs-Kommission betreffs der dortigen Vorgänge. Die angelangte westindische Post (vergl. die gestrige Zeitung. D. Red. 1 ) wirft eigentlich kein neues Licht auf die Sache. Die Färbung ist durchweg zu einseitig, welche Kolonisten-Journale der „Rebellion" geben, und es wird das Bemühen sichtbar, durch Übertreibungen der Ursache, der kommenden Rüge entgegenzuarbeiten. So heißt es in einem dieser Rapporte: „Gordon (der Hingerichtete) führte Reden, stark genug, zwanzig Leute an den Galgen zu bringen, wenn den Reden so schnell ein Blutbad folgte, wie das zu Morant-Bay. Diese Reden waren ζ. B., daß der Gouverneur und die Magistrate der Königin falsche Berichte zugesendet und daß die Pflanzer nicht aufrichtig handelten." Wie viele Redner gingen dann in England schon mit einem Strick um den Hals einher, wenn dergleichen ausreichte, zwanzig zu hängen. Diejenigen Organe, welche dieserhalb gegen Gordon ganz eines Sinnes mit den Jamaikanern sind, haben sich freilich nicht vor gleichem Schicksal zu fürchten, sonst führten sie nicht — so „hängenswerte Reden" selber auf demselben Zeitungsbogen. Sie reden so „stark", die Legislative der Insel für ein „Schandinstitut" zu erklären und erinnern an die Worte Disraelis, der da gesagt: „Bei uns gibt es Leute, die unter ,Regierung' verstehen, 1200 Pfund Jahresgehalt zu erhalten, und unter ,Opposition' den Versuch, dieselbe Summe in Quartalsraten zu empfangen." Der Schreiber dieser starken Rede wäre in Jamaika unzweifelhaft gehängt worden; doch vom sichern Port läßt sich gemächlich schimpfen 2 . — Unsere Türkenfreunde, welche den Muselmann doch auf alle Fälle „dividendenfähig" erhalten wollen, sind durch die letzte türkische Anleihe sehr alarmiert, weil ihnen aus Konstantinopel gemeldet worden, mit dem englischen Gelde werde nur ein kleines Loch für den Augenblick gestopft und bis zum Sommer gedenke man noch zwei- oder dreimal zu borgen. Obwohl nun bei den General-Versammlungen von Anglo-Türken in London, die in diesem oder jenem orientalischen Geschäft Gelder versenkt haben, die Chairmen jedesmal versichern: „die Türken seien grundehrlich und, wenn auch spät, zahlten die Prozente doch", so ist die Stimmung nichtsdesto-

1 2

Aus J a m a i k a , in: Nr. 1, 3. 1. 1 8 6 6 . „Vom sichern Port läßt sich's gemächlich raten", aus Schillers 1, 1.

Wilhelm

Teil,

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18 66

Physic for

Fenians

Erin: " I ' m afraid, d o c t o r dear, his s y m p t o m s are getting d a n g e r o u s . " Dr. Bull: " H a ! I see! I treated a s o m e w h a t similar case to this very successfully in India; leave him to m e . "

weniger so unbehaglich geworden, daß die Regierung hier sich veranlaßt gesehen, durch Lord Lyons sich angelegentlichst nach dem Befinden des „kranken Mannes" erkundigen zu lassen. So steht in den Korrespondenzen von Mitte Dezember in drei verschiedenen Blättern, darunter der „Daily Telegraph", der in Konstantinopel gut Bescheid weiß. Darnach hat Lord Lyons am 9. Dezember ein ziemlich präzises Billet an Ali Pascha geschrieben, worin um „detaillierte Information" über die „actual position of the imperial finances" ebenso hochachtungsvoll als ergebenst gebeten wird. „Diese Manier hat das dortige Kabinett etwas in Erstaunen gesetzt, da dasselbe immer stark des Glaubens gewesen, die britische Regierung habe vollständigstes Vertrauen in alle dort getroffenen FinanzReformen! Diese Illusion zu zerstreuen ist ein weiser Schritt unserer Regierung, die ein Recht zu jener Information hat." Wie weit der Zusatz richtig, daß Lord Lyons im vollen Einvernehmen mit dem französischen Gesandten gehandelt, mag dahingestellt bleiben. — Dem Sir Robert Peel, jüngst Minister für Irland, ist Mitteilung geworden, daß Ihre Majestät beabsichtige, ihm das Großkreuz des Bathordens zu verleihen, deren eines durch den Tod Palmerstons vakant geworden. Dieses Kreuz wird selten an Zivil-Personen gegeben und kein Commoner ist zur Zeit im

617

London, 1. Januar

Besitze dieses Ordens. Peel würde der erste sein, falls er a n n i m m t , a u c h der jüngste, der je diesen Orden getragen. D o c h k o m m t d a b e i in B e tracht, daß Sir R o b e r t Peel zuvor bereits zweimal die P a i r s w ü r d e a b g e lehnt hat, während der letzten fünfzehn J a h r e , „ i n d e m er v o r z ö g e , w i e sein Vater vor ihm getan, im Unterhause zu v e r b l e i b e n " . Sein N a c h f o l g e r im irischen Amte Chichester Fortescue hat saure T a g e . S e i n e Wähler in Lough wollen ihm kein erneutes M a n d a t z u m

irischen

Unterhause

geben, weil er nach seiner Erhebung sein W a h l m a n i f e s t v o m „ S c h l o s s e D u b l i n " , der Residenz des Lordlieutenants

datiert

habe.

Außerdem

m a c h t ihm die bereits zehntägige Panik in Dublin zu schaffen. Ich h a b e in deutschen Blättern darüber keine Notiz gefunden, jedoch vergeht kein Tag, w o nicht in den D u b l i n e r Korrespondenzen hiesiger Blätter ausführliche Berichte darüber erschienen. D a r n a c h w a r Dublin vor und während der W e i h n a c h t s w o c h e in A l a r m . Tag für Tag w a r das M i l i t ä r in den Kasernen konsigniert; in den Ställen standen seit drei W o c h e n die Kavalleriepferde gesattelt; neue Strandbatterien waren aufgeworfen und bem a n n t ; in jeder Nacht durchstrichen Patrouillen die Stadt und kein Policeman ging allein a u f seine R u n d e , sogar bei T a g e , während zwei Panzerschiffe im H a f e n ihre Kessel f o r t w ä h r e n d geheizt hielten. D i e R e gierung habe, hieß es, genaueste I n f o r m a t i o n , d a ß „etwas D e s p e r a t e s " um Weihnachten oder N e u j a h r zu e r w a r t e n . N o c h vor drei Tagen rief m a n zwei ganze R e g i m e n t e r aus Liverpool und Wales hinüber. Alles ist still geblieben. A m e r i k a n i s c h e Blätter versicherten schon lange, es sei ein Plan der Fenier, die britische Regierung in Irland selbst in „heißem Wasser" zu erhalten, u m aus K a n a d a Verstärkungen fernzuhalten. Es k ö n n t e auffallen, daß gerade um diese Z e i t die Regierung reguläre Truppenteile aus K a n a d a zurückgerufen, die vielleicht dort nötiger werden k ö n n e n , als in Irland. Übrigens hat man wieder Fenier bei nächtlichen Exerzitien betroffen, einige P o l i c e m e n als Fenier enthüllt und Leute verhaftet, welche einige Soldaten auf die „Irische R e p u b l i k " vereidigen wollten. D e r „Telegraph" e r w ä h n t , d a ß mehrere Yankees, die im irischen Korps a m P o t o m a c gedient, kurz vor Weihnachten in Irland gewesen, in eines der Forts sich Einlaß verschafften und „ P l ä n e " daraus m i t g e n o m m e n h ä t t e n . Yankees sind „ l o n g - h e a d e d " (langköpfig) sagt m a n , das heißt, sie

kal-

kulieren lange z u v o r " . D a s p o m p h a f t e Schaustück der „Irischen R e p u blik o h n e L a n d " in N e w Y o r k k ö n n t e fast als eine „geriebene" Berechnung viel eher, als ein Puff erscheinen. Es wird e r w ä h n t , d a ß derselbe ddy auf der grünen Insel sich viel leichter jetzt den Eid a u f die „bestellende R e p u b l i k " a b n e h m e n lasse, als noch vor wenigen W o c h e n , w o

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1866

man ihm nichts „Schwarz auf Weiß" darüber vorweisen konnte. Paddy ist sehr leichtgläubig und hält es für einen guten „Pfiff", daß er sich ja nur für die Irische Republik auf amerikanischem Boden zu engagieren habe. [Nr. 2, 4. 1. 1866]

Der Minister ohne Portefeuille Offizielle und private Jamaika-Comites Reduktion der Armee. Grenzstreitigkeiten am Krankenbette Gesunde Gesetze und kuriose Tatsachen p* London, 8. Januar „John Bright ist Minister ohne Portefeuille." So versichern die ToryBlätter. Er nehme in Reden und Briefen schon den offiziösen Akzent an. So erwiderte er eine Adresse mit den Zeilen: „Die Regierung hat im Vereine mit der französischen Regierung ihre guten Dienste in der spanisch-chilenischen Frage angeboten. Lord Clarendon hat, wie ich glaube, die Hoffnung, jene Streitfrage schlichten zu können. Die Vorschläge der Regierung begegneten versöhnlichem Sinne in Madrid. Mit der letzten Post sind sie nach Chile abgegangen, und die Regierung glaubt, daß wenn sie dort in demselben Geiste aufgefaßt werden, den Zwist sein Ende erreicht haben werde." Dann wieder in seiner Reformrede zu Rochdale vom neuesten Datum beschwichtigte er die früher erregten „allzugroßen" Erwartungen der Reformfreunde: „Bei Diskussion der Frage müssen wir ein wenig unsere eigenen persönlichen Wünsche außer Augen lassen und zusehen, was das Rechte, um von der Regierung erwogen werden zu können und zur Ausführung zu gelangen." Das sind die Akzente, mit denen man in Downing-Street redet, und hier sprach der radikale Demosthenes ganz wie ein Geheimerat. Dem „Standard" wird ein Wink gegeben, auf die Möglichkeit hindeutend, daß, falls Mr. Cardwell, der Kolonialminister, seines Amtes müde werden sollte, man diese Vakanz durch John Bright ausfüllen würde. „Dann wehe Dir, armer Gouverneur Eyre von Jamaika!" so schließt die Mitteilung. Ohne viel Köpfe und viel Sinne 3 wird die Untersuchung der Jamaika-Affäre nicht abgehen. Eine offizielle Kommission „schwimmt" bekanntlich schon. Außer

3

Anlehnung an Terenz Phormio

II, 4, 14: „Quot homines, tot sententiae"·

L o n d o n , 8. J a n u a r

The Officious

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Passenger

Lord John: "Excuse me, friend Bright, but do you command this ship, or do I?"

dem schickt aber ein sogenanntes „unabhängiges Comite" noch einen Repräsentanten in der Person eines Barristers Payne ebendahin. Ferner hat die Times soeben einen extraordinären Kommissarius flott gemacht, ebenfalls einen gelehrten Barrister, Frederick Clifford. Gleiches beeilen sich die „Daily News" zu tun. Vielleicht wird bei so vielen die Wahrheit in die Mitte zu liegen kommen. Wir können uns auf reichhaltigste Farbenwahl in den Rapporten gefaßt machen, und auf die außerordentlichsten Widersprüche. Sollte nun in der Zwischenzeit gar noch John Bright mit Jamaika zu tun bekommen, so würde die Frage über „schwarz und weiß" ein unkenntliches Grau werden. Auch für einen andern seiner Partei wird mutmaßlich ein Fauteuil im Kabinett leer werden, für Mr. Stansfeld, indem verlautet, Lord Clarence Paget werde das Portefeuille der Admiralität abgeben — die „secretaryship", welche er verwaltet. Auch die Armee wird nicht der Wirkung liberalster Einflüsse entgehen. Man will sie reduzieren, jedes Bataillon um zwei Kompanien, zwar nicht in den Kolonien, wo man kaum genug Soldaten hat, aber im Vereinigten

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1866

Königreiche. So meldete die „Army and Navy Gazette" wiederholentlich. Natürlich applaudiert dem die fortschrittliche Presse; denn sagt sie: „da jeder Soldat uns nur einmal 91 Lstr. kostet, doppelt und dreifach soviel, als in andern Armeen der Fall, und da Ersparnisse gemacht werden müssen, so kann dies nur durch Reduktion des Bestandes geschehen." Die alte Leier! Die Armee ist schon sehr klein, über den ganzen Erdboden verstreut, ausreichend vielleicht, weil gerade alles glatt geht; aber was soll daraus werden, wenn man einmal plötzlich Soldaten aus der Erde stampfen will und sie — kommen nicht. In Irland werden Rekruten sehr knapp, und dort war es, wo man sonst am leichtesten noch Hände fand, die beim vollen Maß Porter den entscheidenden Schilling nahmen. Die fortschrittliche Presse, weil ihre Partei gerade im Genüsse aller guten Dinge innerhalb der Peripherie der offiziellen Patronage ist, verschweigt das richtige Mittel zu Ersparnissen — eine genaue Kontrolle der Geldausgaben für die Armee, Überwachung der Lieferanten, die mit Staatsgeldern wie mit Blech umgehen; Verschleuderung der Materialien, Verwaltungssinekuren und zahllose andere Parasiten am wohlgenährten Korpus dieses hierländischen self-government, wo es immer heißt: „Erst ich und dann der Staat" — da steckt des Pudels Kern. Wären Tories am Ruder, so würde ihnen das von den Liberalen alles vorgezählt bis auf die Halsbindenschnalle. Doch, wie es steht, hält ein Liberaler den andern warm und in der Wolle. Wie sehr das Kabinett bedacht, sich für die Jahreszeiten der neuen Ära Lord Russells in Irland Freunde zu gewinnen, hat die Wahl eines Irländers zum Minister für Irland hinreichend bewiesen. Mr. Horsman, dessen Name sich deutschen Gemütern eingeprägt, weil er bei vorjährigen Debatten versichert, „die Deutschen, welche Dänemark zerflückt, könnten dem Hungertode verfallen, er werde ihnen nicht einen Schilling reichen", hat einen langen Neujahrswunsch in seinem Wahlorte geredet, wo er England wie eine „Gegenseitige Bewunderungsgesellschaft" behandelt und unter anderem sagte: „Ich erinnere mich keiner Zeit, wo unsere Gesetzgebung so gesund, unsere Gesetze so gut gehandhabt wurden, wie heutzutage." Das sind eben Ansichten. In Norfolk ζ. B. mag man anders darüber denken. Dort wurde in diesen Tagen der behördliche Armenarzt zu Fieberkranken geschickt. Es waren deren zwei in einem Zimmer. Er bemühte sich um den einen, verweigerte es jedoch, sich um den andern zu bekümmern, weil dessen Bett in einem anderen Kirchsprengel stehe! So war es auch — die imaginäre Grenze zweier verschiedener Sprengel lief mitten durch die kleine Stube der Kranken, und jedes Bett stand auf anderem Gebiete. Somit mußte nach dem Arzte

London, 8. Januar

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des andern Sprengeis gesandt werden, welcher jedoch Grenzstreitigkeiten erhob. Sollte die Bagatelle ja zu einem Prozeß kommen — dann käme es zur Frage: „Wielange muß ein Kranker ,in Grenzstreitigkeiten' warten, um vom Typhus kuriert zu werden?" Die Gesetze über solche Fälle mögen sehr gesund sein, wie Horsman versichert; reden die Tatsachen dagegen, dann um so schlimmer für die Tatsachen. Ein anderes „gesetzliches" Kuriosum verdient Erwähnung. Am Sonnabend lieferte sich ein Gentleman aus, mit der Angabe, er habe als Kassierer einer australischen Bank in Melbourne sich vor einem Jahre mit 10.000 Pfund aus dem Staube gemacht. Man hatte hier Kunde davon, weil jene Bank eine Kommandite in London hat. Der Dieb begab sich zu deren Comtoir und meldete sich. „Warten Sie ein Viertelstündchen!" hieß es nach der Eröffnung, „der Direktor ist noch nicht hier." Dieser kommt endlich. Der Dieb verspricht ihm alles Mögliche zu tun, um die Untersuchung gegen sich zu erleichtern, und geht wieder auf die Straße unbehelligt hinaus. Hier überliefert er sich einem Policeman. Dieser nimmt ihn zur Polizeistation. Man will ihn auch dort nicht, da kein Verhaftsbefehl vorliege. Endlich läßt sich die Polizei soweit erweichen, ihn zum Mansion-House, wo der LordMayor regiert, zu begleiten, „da er es ja durchaus wolle". Er erzählte dort den Hergang, den Bankdiebstahl, seine Flucht von Melbourne, und die Beamten der Londoner Kommandite bezeugten, daß der geschätzte „Gentleman" der beargwöhnte wäre. Doch sie wollten ihn nicht anklagen und der Lord-Mayor wollte ihn nicht anklagen, die Polizei wollte ihn nicht anklagen, weil kein Steckbrief aus Australien vorliege. Vergebens redet der Dieb ihnen zu, und erzählt, wie er schon auf verschiedenen Reisestationen, beim britischen Konsulat in New York, in Buenos Aires sich selbst angeklagt, aber niemand ihn festhaken wollte, und so habe er endlich zu diesem Zweck die weite Reise von Buenos Aires nach London behufs Selbstauslieferung gemacht. Doch es half ihm nichts. Das Gesetz war viel zu gesund für ihn. Der Lord-Mayor sagte: „Ich kann Sie nicht verhaften. Man muß erst nach Australien um Steckbrief schreiben. Wollen Sie aber ganz aus freiem Willen die Güte haben, sich wieder zu melden und dafür ein Bürgschaftsversprechen im Betrage von 100 Pfund aufsetzen, dann wohlan!" So geschehen, und ein gemütliches Frühstück zwischen dem Diebe und dem Direktor der mitbestohlenen Bank-Kommandite schloß die Verhandlungen nach den gesundesten Gesetzen einer benachbarten „Restauration". [Nr. 10, 13. 1. 1866]

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18 66 Die Wahl-Reform und das soziale Grundwasser Cardwell auf der Kante und Bright auf der Schwelle Fenier in London. Gefahr für Kanada. Börsenreinigung

p* London, 15.Januar Die alte Reformbill vom Jahre 1830 ging im Unterhause mit einer Stimme Majorität durch. Und damals gab es wirklich einige wunderliche Abnormitäten, wie daß ζ. B. die Städte Birmingham, Manchester und Leeds nicht mehr Anspruch auf Vertretung im britischen Parlamente hatten, als Sidon und Tyrus, während die beiden gefeierten rotten boroughs Gatton und Old Sarum fast so viele Parlamentsmänner zählten wie Einwohner. Auch gegenwärtig soll nicht geleugnet werden, daß in der Verteilung des Wahlrechts, meist durch Spitzfindigkeiten des Gesetzes hervorgerufen, Curiosa sich ausgebildet haben, deren Abschaffung eine Reform ausmachen würde, gegen welche keine Partei im Ernste etwas haben dürfte. Aber das sind administrative Wandelungen, die sich empfehlen, und keine, die nach breitester Grundlage streben. Noch kennen wir die 192 homines novi des neuen Parlaments nicht. Soll dem vorgebeugt werden, daß die Wähler der Manufakturdistrikte sich durch Herabsetzung des Wahlzensus um das Doppelte und Dreifache vermehren, daß soziales Grundwasser alles überschwemme, so liegt die Abhülfe nur in dem Veto des neuen Parlaments; denn man hält dafür, das Kabinett der neuen Ära habe sich für die ganze Tour gebucht, falls nur die Popularität dabei keinen Schaden leide. Von den gegenwärtigen Ministern soll der für die Kolonien, Mr. Cardwell, auf der „Kante" stehen, was den Freunden Brights zu weitgehenden Hoffnungen Anlaß gibt. Die neueste westindische Post bringt die üble Neuigkeit, daß in der Legislative von Jamaika eine Depesche Cardwells verlesen wurde, welche dem Gouverneur Eyre, den Behörden im allgemeinen und den Buschnegern (Maronen) im besonderen die wärmsten Komplimente für die energische Unterdrückung des gefürchteten Aufstandes macht. Das Datum jener Depeschen fällt mit demjenigen zusammen, an welchem die ersten Nachrichten über die 2000 gehängten „Rebellen" in England eintrafen. Vierzehn Tage später wählte Mr. Cardwell eine populäre Untersuchungskommission, suspendierte den Gouverneur und siegelte lange Nasen für die Behörden Jamaikas ein. Natürlich fehlt es nicht an einer herben Kritik im „Standard" und anderen Toryblättern, und da, wo es just so lebendig zugeht, wie in einem Topfe voll Maikäfer, bei den Fortschrittlern, präpariert man (und mit Recht) Mißtrauensvoten ebenfalls gegen einen

London, 15. Januar

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unzuverlässigen Minister, der vor jeder Schwankung des populären Wetterhahns die schleunigsten Bücklinge macht. Scheidet Cardwell aus, so steht Bright an der Schwelle, wie die „Gemäßigten" sogar versichern wollen, die er mit seiner Rede zu Rochdale besänftigt und auf seine Seite gebracht hat, indem er ihnen aufs Wort eines Gentleman versicherte, „er wäre gar nicht so schlimm". — Die Fenier lassen uns keine Ruhe. Sie beginnen mitten in London ihre Operationen, und es mangelt hier die Energie, sogleich gegen die Rebellen mit Erfolg durchzugreifen. Zu Dublin verurteilte man einige Zeitungsverleger wegen Preßvergehens zu lebenslänglicher Strafarbeit, man tat des Guten zuviel, sozusagen, und in London verurteilte man in letzter Woche zwei Fenier zu — sechs Monaten Gefängnis, weil sie „nur" etwa sechs bis acht Soldaten zum Treubruch verleitet, ihnen den Fenier-Eid abgenommen, sie zum Zweck der Revolte nach Irland expediert und deren Uniformen, gegen Austausch von Zivilkleidern, auf den Trödelmarkt gebracht hatten. Ein Gardesoldat, der sich bei einem ihm zu Ehren veranstalteten fenischen Trinkgelage nüchterner erhalten, als sonst eines Irländers Vorliebe gestattet, hatte die Missetäter denunziert. Früher schon habe ich darauf hingewiesen, daß die Fenier, was müßigen Unfug angeht, in England, namentlich in London, Liverpool, Birmingham und Sheffield, in den Docks und Arsenalen mehr „leisten" können, als in Irland selber. Wir haben in London einen irischen Pöbel von 6 — 7 0 0 . 0 0 0 Köpfen! Am Sonnabend verbreitete sich in der Gegend des Tower und des nahegelegenen Custom-House (Zollhaus) das Gerücht, man sei einer fenischen Verschwörung auf die Spur gekommen, um das Zollhaus und andere Regierungsgebäude in Brand zu stecken. Sir Richard Mayne, der Chef der Londoner Polizei, kam dem Chef der City-Polizei, dem Lord-Mayor zu Hülfe, das Zollhaus wurde besetzt, ganz gegen Gebrauch jede Passage von der Straße her zu demselben vor Abend abgesperrt und die Zahl der vier Wächter der Nacht auf 18 vermehrt, zugleich werden eine Anzahl Feuer-Spritzen am Quai in jeder Nacht bereit gehalten und die Schläuche auf solche Stellen gerichtet, wo die gefährlichsten Brennstoffe oder die wertvollsten Güter liegen. Nie waren säumige Kunden des Zollhauses, die ihre Waren dort lagern lassen, so schnell bereit, dieselben unter ihr eigenes Dach und Fach zu bringen, als sie es in diesen Tagen sind. In Dublin hat man 7 Fenier verhaftet, und zwar in einer Gießerei-Werkstatt mit einem ansehnlichen Vorrate von Kugeln und im Besitze von Proklamationen an die „Bürger Irländer", datiert aus New York und zwar vom 30. Dezember. Außer Schußwaffen und Sensen fand man auch mehrere Zentner Perkus-

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sionskappen. Dieser Verhaftung ging eine andere von 2 6 a m e r i k a n i s c h e n Feniern in der G r a f s c h a f t Sligo v o r a n , die über S c h o t t l a n d mit einem G l a s g o w - D a m p f e r in der G e s a m t z a h l von 10 dort gelandet waren und sich für S t e i n b r u c h - A r b e i t e r ausgegeben h a t t e n . D e r T i m e s - K o r r e s p o n dent in New York ersucht seine Landsleute hier dringend, doch die fenische Bewegung nicht zu unterschätzen.

Stehe auch Irland nicht auf dem

Spiele, so k ö n n e doch n i e m a n d sagen, was in bälde in Kanada

sich ereig-

nen k ö n n t e . M i t einem gewissen Behagen erzählen französische Blätter, d a ß die französische A n n e x i o n s - P a r t e i in beiden K a n a d a s sich gegenwärtig a u f 2 5 0 . 0 0 0 K ö p f e belaufe, und „La F r a n c e " will wissen, davon sei über die H ä l f t e w a f f e n f ä h i g und im Besitz von W a f f e n . M a n

könnte

einwerfen, d a ß diese Details aus allen E c k e n der W i n d r o s e zusammengesucht seien, und sich w u n d e r n , w e s h a l b in E n g l a n d davon nicht nachdrücklicher Notiz g e n o m m e n werde, falls dem allen so w ä r e . Dies erklärt sich a b e r aus der A p a t h i e des handeltreibenden P u b l i k u m s , aus dem U m fange der Partei der M a n c h e s t e r - L e u t e , welche n o c h Guineen

zählen

w ü r d e n , wenn schon der R ä u b e r in des N a c h b a r s H a u s e i n g e b r o c h e n w ä r e , die (und das steht über jedem Zweifel) K a n a d a fahren lassen würden, „wenn es einmal nicht anders g i n g e " , sintemalen dieses K o l o n i a l land nur „ U n k o s t e n " verursache und nur als A b s a t z m a r k t für englische Waren B e a c h t u n g verdiene. Bliebe es das auch unter einem andern Regim e n t , dann hieße es bei j e n e n , welche Patriotismus als Poesie b e t r a c h t e n , weil er nicht im K o n t o b u c h e eine R u b r i k hat: fort damit. J a , es wird schon von der Presse, ζ. B. von „Daily T e l e g r a p h " , gerügt, d a ß es so viele Engländer g ä b e , die es offen aussprächen, wenn Irland wieder aus der p a r l a m e n t a r i s c h e n U n i o n mit E n g l a n d auszutreten w ü n s c h e und das „ d u r c h a u s " wolle, so m ö g e m a n ihm das E x p e r i m e n t g ö n n e n und das beste G e s i c h t zu dem bittern G e s c h ä f t m a c h e n . — Sir J o h n Falstaff sagt in einer M i n u t e der G e w i s s e n s b i s s e 4 : „Ich m u ß dieses Leben aufgeben, und ich will es aufgeben, und tu' ich's nicht, will ich ein Schuft s e i n . " So löblichem Entschlüsse g e m ä ß reinigte sich die Pferdebörse bei T a t t e r salls im vorigen S o m m e r von ihren „ S c h w a r z b e i n e n " , und ebenso will die L o n d o n e r F o n d s b ö r s e tun. D i e B r o k e r s wollen keine neue Seifenblase von C o m p a n y mehr zur N o t i e r u n g zulassen, welche ihr G e s c h ä f t nicht einer E x a m i n a t i o n unterworfen h a b e , und auch dann nur, sobald wenig-

„I must give over this life, and I will give it over; an I do not, I am a villain", Falstaff in Shakespeares König Heinrich IV., 1. Teil, I, 2.

London, 22. Januar

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stens zwei Dritteile der Aktien soweit untergebracht sind, d a ß die Beteiligten und die A k t i o n ä r e als „ u n b e d i n g t " gelten k ö n n e n , nicht nur als Tapetenfiguren mit hochfliegenden N a m e n , um kleinen Leuten die Sovereigns aus der T a s c h e zu l o c k e n . [Nr. 15, 19. 1. 1866]

M r . L a y a r d . An der Schwelle des Kabinetts. R e f o r m L o n d o n gegen Lancashire. Mieter und Aftermieter Wieviel Zigarren sind ein Necessarium? Eine N a c h t im Armenhause p* L o n d o n , 2 2 . J a n u a r Die heutigen M o r g e n b l ä t t e r lassen nicht das mindeste über die Kabinetts-Sitzung v o m S o n n a b e n d verlauten. Sie w a r auf die M i t t a g s s t u n d e angesetzt und es hieß allgemein, die letzten L ü c k e n s o w o h l , wie „neu e n t s t e h e n d e " , würden ausgefüllt werden. Neun englische Blätter, die T i m e s an der Spitze, streiten sich darüber, o b M r . Layard,

der Unter-

Staatssekretär für das Auswärtige A m t , austreten wolle oder nicht. Layard ist ein B e a m t e r alter Schule, wie R o b e r t Peel und Frederik Peel waren. Beide hatten das liberale K a b i n e t t verlassen, und auch Layard soll das Lossteuern auf das H o t t e n t o t t e n t u m allgemeiner Wahlbrüderlichkeit nicht behagen. E r ist den Fortschrittlern zu strikt und pünktlich und zu genau. Nach anderen drohe er nur mit dem Austritt, falls M r .

Goeschen,

der h o m o novus — der als Vize des H a n d e l s a m t e s auch nur, wie er (Layard) als Unter-Staatssekretär, an der Schwelle des Kabinetts stehe — vor ihm in das K o n k l a v e als Kanzler für L a n c a s h i r e invitiert würde. L a y a r d soll das A n g e b o t eines Sitzes im Privy C o u n c i l , als „kein Äquival e n t " , abgelehnt h a b e n . D a s K a b i n e t t ist noch nicht k o m p l e t t und hängt nur lose z u s a m m e n . Soviel wird aus verschiedenen Andeutungen klar. Es soll m a n c h e geben, die nicht gern mit fallen wollen. G i n g schon 1 8 3 2 die d a m a l s viel eher zu rechtfertigende R e f o r m b i l l nur mit einer S t i m m e eines in das H a u s getragenen „ F i e b e r k r a n k e n " durch, so ist es noch gar nicht so gewiß, wie die neue R e f o r m b i l l fahren dürfte, mit der — wie Russell einer A r b e i t e r - D e p u t a t i o n erklärt — das Kabinett stehen und fallen wolle. Es ist der B e m e r k u n g wert, d a ß jede b l o ß e Herabsetzung des Wahlzensus die Arbeiter von ganz London

ausschließen würde. Kein Ar-

beiter k a n n ein H a u s in L o n d o n mieten. Billigere, als zu 3 0 Pfund M i e t e ,

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sind nicht zu finden; so hülfe dem Londoner Arbeiter die Wahlfähigkeit bei „sechs Pfund Miete", wie sie angeschlagen so wenig, wie der jetzige höhere Zensus getan. Die Arbeiter haben Russell rundheraus erklärt: Wolle man Reform, müsse es „Urwahl" lauten, weil — und die Logik ist an und für sich unwidersprechlich, aber Warnung zugleich! — weil 1) der Andrang der Arbeiter, ein Haus zu mieten, die Mieten bedeutend steigern und ihnen abermals unerschwinglich machen würde; 2) weil der neu Einziehende das Wahlrecht erhielte, aber der Ausziehende es so lange verlöre, bis er wieder ein Haus gefunden; das sei also ein unbrüderlicher Akt. 3) Weil England ohne London nicht von einer Reform dieser Art profitieren könne. Somit Urwahlen! Wenn das nicht manchen Schwärmer noch davon kuriert, an dem Wahlzensus auch nur rühren zu wollen, der bald von Stufe zu Stufe niedriger gefordert werden würde, so tut es nichts. Bringt das neue Parlament nicht schon ein gebrochenes konservatives Rückgrat mit, so gibt es einen großen Fall, den Reform-Veteranen Russell vornan. Der Wunsch ist in diesem Falle durchaus nicht der Vater des Gedankens 5 . Ist auch die Kalkulation richtig, wonach das Ubergewicht der Wahlen auf Liberale gefallen, so heißt das doch noch lange nicht soviel, daß diese Liberalen der Mehrzahl nach eine Reformbill Russischer Tendenz unterstützen würden. Es wird eine Frage der Vaterlandsliebe und der Sicherheit der Gesellschaft — und das sind Fragen, wo selbst einzelne englische Radikale, wie hitzig auch ihre Rede, bei der letzten Entscheidung sich krank melden lassen dürften. Daß übrigens von Lancashire die Haupt-Agitation ausgeht, erklärt der Umstand, daß gerade kleine und kleinste Häuser dort in Unzahl dicht zusammen und überall zu finden. In der Kontroverse London gegen Lancashire wird sich ein wesentlicher Teil der Reformdebatte bewegen. Ersterem würde dabei nur eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren, wenn seine „Aftermieter", die mitunter 50, 100, ja 200 Pfund für einen einzigen „Stock" im Gebäude entrichten, aber wahlunfähig sind, mit in die Millionen-Umarmung hineingezogen würden. Es kommt vor, daß ein Baronet, welcher einen halben Palast bewohnt, wahlunfähig, während sein Mundschenk, der mit seiner Familie ein eigenes kleines Haus gemietet, in solcher Politik weise sein darf. Dem kann eine Reform abhelfen, ohne jedoch ins soziale Grundwasser hinabzusteigen. — Was vorauszusehen war, scheint

„Thy wish was father, Harry, to that thought", König Heinrich in Shakespeares König Heinrich IV. 2, IV, 4.

London, 22. Januar

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einzutreffen, bezüglich der englischen Schwurgerichte. Sie geraten in Mißkredit. Die Presse rügt fast in jeder Woche die absurdesten Verdikte. Das Unterscheidungsvermögen der englischen Geschworenen scheint sich mehr mit einem Juste milieu zu befreunden, von dem die Justiz nichts wissen will, d. h. sie bedenken die „Folgen" ihres Verdikts für den Angeklagten oder Kläger in Zivilsachen und tun Aussprüche, die wenig über der Logik eines Primus Omnium der Sexta erhaben sein dürften. In einem scheußlichen Ehescheidungsprozesse voriger Woche sprachen sie den Verklagten ganz frei von jeder Schuld; um aber dem klägerischen Ehemann für die „Angst und Sorge" etwas zu verabreichen, ersuchen sie den Richter, ihm eine Entschädigung von dem Verklagten zukommen zu lassen. Ungeachtet aller Mahnungen beharrten sie trotzig darauf, und um schließlich aus der Verwickelung herauszukommen, wurde dem Kläger Schadenersatz von einem „Dreier" (Farthing) zuerkannt. Ebenfalls in voriger Woche ereignete sich in London ein ähnlicher Fall, mit komischen Illustrationen. Ein zorniger Vater war der Verklagte. Ein Tabakshändler verlangte von ihm Bezahlung von Zigarren, die sein 19jähriger Sohn „entliehen". Dieser Minorenne, dieses „Infant" nach englischem Gesetze, hatte für 4 4 Pfund Sterling (etwa 3 0 0 Taler) Zigarren konsumiert. Der Vater verweigerte die Zahlung, bemerkend, er habe seinem Sohne schon längst Enterbung angedroht, so er das Rauchen nicht aufgeben würde. Das Übel habe er von Bonn, wo er studierte, eingeschleppt; denn die Deutschen, nicht zufrieden, selbst unaufhörlich zu rauchen, verführten auch unschuldige Engländer zu derselben Untat. Die Jury hatte darüber zu entscheiden, ob jenes Rauchmaterial ein Necessarium für einen Neunzehnjährigen oder nicht. Sie entschied: Zigarren für 44 Pfd. Sterl. wäre jedenfalls „etwas viel", aber Zigarren für 20 Pfd. wären ein Necessarium. So, dem Juste milieu getreu, halbierten sie die Schwierigkeit und der zornige Hausvater mußte für den in Deutschland verdorbenen Minorennen bezahlen. — Die grauenhafte Mißverwaltung im Armenwesen ist ganz in den Händen engherziger Krämer, weil der gebildete Engländer (und das charakterisiert eine Seite dieses Selfgovernment) sich nicht die Mühe nimmt, zu den Vorstandswahlen zu gehen oder ein solches Amt anzunehmen, falls es ihm angeboten wird. So haben die Inferiores das Spiel in ihrer Hand und gesellen sich gleich zu gleich als Menschenfreunde der Armut und Verwalter der enormen Armensteuergelder. Die Zahl der Totenschauen über „verkommene Paupers" unter so gastlichem Dache nimmt kein Ende, sowie die Klagen, die Rügen, ja die Verwünschungen in den Blättern jeder Farbe. Da hat sich ein Curtius gefun-

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den und ist in den Abgrund gesprungen 6 . Am 8. Januar bei Anbruch der Nacht fuhr ein vornehmer Engländer in seiner Equipage in die N ä h e des Armenhauses von Lambeth, stieg als Vagabund verkleidet aus, meldete sich im Hause als obdachlos und brachte eine Nacht des Elends und des Schreckens unter den Ärmsten und auch unter dem greulichsten Gesindel zu, ging wie sie bis aufs Hemd entkleidet in der Januarnacht über einen Hof, nahm wie sie in einem offenen Stall nach hinten hinaus, der viermal mehr Schläfer fassen mußte, als Raum war, sein Lager auf einem Strohsack, teilte die ungenießbare Brotkruste mit zwei hungrigen Knaben, hörte die gotteslästerlichen Chorgesänge mit an und das Flehen einiger alten Leute, man möge doch, der anwesenden Kinder wegen, dem Sodom und Gomorrha Einhalt tun. So blieb dieser Mann die ganze stürmische Januarnacht in dieser Höhle der „Charity", stieg am nächsten Morgen wieder in seine Equipage und veröffentlichte in der vornehmen „Pall Mall Gazette", was er gesehen, und darauf in einer besonderen Broschüre: „Eine Nacht im Armenhause" 7 . Über 200.000 Exemplare sind vergriffen und die Sensation ist eine unbeschreibliche. Die Regierung „will" einschreiten. [Nr. 22, 27. 1. 1866]

Altgewohnte und Neulinge. Reformbill und Desertionen „O Mutter, so was hab' ich nie gesehn." Die Fenier p* London, 5. Februar „In diesem Momente würde der Tory-Löwe nur zu glücklich sein, neben dem liberalen Lamm zu liegen. Laß uns alle einander liebhaben, Sir, laß uns Eintracht halten. Warum, ο warum erlaubte der right-honorable gentleman nicht der Opposition eine größere Mithülfe in der Wahl des verehrten Sprechers? Es ist hart, Mißtrauen zu erleiden, hart verkannt zu werden." Als Disraeli diese sanften Worte bei der Wahl des Sprechers geäußert, hielten die Neulinge im Parlament dies ohne Zweifel für „rührend"; aber die Altgewohnten verkannten den Stachel nicht, der selten mangelt, wenn Disraeli Honig redet. Gladstone hat die Opposition ganz

6

7

Anspielung auf die römische Sage von Marcus Curtius, der sich im Jahre 362 v. Chr. durch einen Sturz in den Abgrund für sein Vaterland opferte. James Greenwood, Α Night in a Workhouse, London 1866.

London, 5. Februar

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übergangen, als er die Wahl des Sprechers vorbereitete, die schon so o f t bei neuen P a r l a m e n t e n ein heftiges Vorpostengefecht w u r d e . G l a d s t o n e soll dies unterlassen h a b e n , u m als Führer des ganzen Unterhauses zu erscheinen, nicht als derjenige einer Sektion allein. A u ß e r obigem und Brights Klage über die „Kniehosen", welche beim G a l a d i n e r des Sprechers getragen w e r d e n m ü ß t e n u n d derentwegen er so wenig wie C o b d e n je sich zu so erfreulicher Gelegenheit eingefunden, fehlte es a m ersten Tage an p i k a n t e n Episoden. Die Neuen sahen sich die Halle an, in welcher sie den m a i d e n speech (Jungfernrede) zu halten h a b e n . Die Altgew o h n t e n aber w a r e n am f r ü h e s t e n da, u m sich die Stammsitze zu sichern, unter denen, nach der P a r l a m e n t s f a m a , diejenigen die geschätztesten, welche e n t w e d e r der T ü r zur R e s t a u r a t i o n am nächsten liegen oder den Insassen a m schicklichsten „vertuschen", wenn ihm die landesüblichen „vierzig N i c k e r " bei späten Sitzungen ü b e r k o m m e n sollten. D a s „ E i n s c h w ö r e n " der Mitglieder wird heute beendet, nach der protestantischen Formel, der Q u ä k e r f o r m e l und derjenigen f ü r die Katholiken, welche die längste ist u n d unter anderen Worte enthält, in denen der Eidesleister die „ D o k t r i n " a b s c h w ö r t , w o n a c h vom Papst e x k o m m u n i z i e r t e Fürsten von ihren Untertanen o h n e Straffälligkeit geschädigt w e r d e n k ö n n t e n . Wenn nicht eine A b s c h a f f u n g , so wird doch eine neue R e d a k tion des Katholiken-Eides nicht n u r zur Sprache, sondern auch zur Entscheidung k o m m e n . Lord Derby ist f ü r eine Ä n d e r u n g der Formel, die in Zeiten e n t w o r f e n w a r d , w o religiöse Fehden m e h r an der Tagesordn u n g w a r e n als heute, A n f a n g der dreißiger J a h r e , zur Zeit der Emanzip a t i o n der Katholiken und deren Z u l a s s u n g in das P a r l a m e n t . Die „Ref o r m b i l l " gilt als vertagt. Die Regierung hat nicht die Absicht, vor O s t e r n mit diesem Versuche vor das H a u s zu treten. Möglich sogar, d a ß bei der Überfülle „alter Reste", die zu erledigen, nach O s t e r n glücklicherweise die „Saison zu weit vorgeschritten sein wird, u m so Wichtiges noch vor den langen Reiseferien zu e r ö r t e r n " . M a n glaube ja nicht, d a ß das U n t e r h a u s d e m A u f s c h u b nicht zugetan w ä r e . Die kleine radikale Fraktion k a n n nicht w a r t e n ; aber die anderen tun es sehr gern. Eine Reformbill w ü r d e eine recht f r ü h e Auflösung des jetzigen P a r l a m e n t s zur Folge h a b e n , u m die neuen Wähler nicht sieben J a h r e w a r t e n zu lassen, und mancher, der jetzt im glücklichen Besitze einer R u h e b a n k im Parlamente, ist sich b e w u ß t , bei abermaligen N e u w a h l e n in der „ K ü h l e " verlassen zu w e r d e n . Eine A u f l ö s u n g w ä r e auch die Folge, falls das H a u s die Bill verwerfen sollte, da das Kabinett nicht fallen will. Die N a m h a f ten f ü r c h t e n sich vor der Alternative zwar nicht, w a s W i e d e r w a h l an-

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geht, aber vor den Kosten; die 180 „Neuen" aber bleiben am liebsten in der Mitte zwischen Scylla und Charybdis 8 . So weit werden sich der ToryLöwe und das liberale Lamm recht gut vertragen. Viel Erbitterung erregen der liberalen Presse die „Desertionen" aus der Partei. Manchen Wählerschaften, denen der Kandidat vor der Wahl ein Reform-Versprechen gegeben, ist von den Agitatoren angeraten worden, sich die Sache jetzt ein wenig klarer machen zu lassen, und so haben viele liberale Parlamentsmänner die Zuschrift erhalten: „Bitte, lesen Sie uns die Stelle noch einmal." Aber mehrere der Eingeladenen lehnten höflich ab; einige sogar mit der unumwundenen Erklärung: „sie könnten nicht blind dagegen sein, daß die liberalen Mitglieder nicht ganz den Umfang ihrer Wahlrede befolgten, aber in der Tat sei auch die Wahlreform kein schreiendes Bedürfnis und sie sähen am liebsten, wenn sich Regierung und Legislatur mit Reformen in Verwaltung, Justiz und Koloniewesen beschäftigen wollten." Dies sind nur vorläufige Desertionen, aber wie viele Liberale werden „krank sein", wenn es einmal zur Abstimmung kommen sollte. — Jamaika k o m m t zur Sprache, sobald die Berichte der UntersuchungsKommission angelangt sein werden. General Nelson hat durch eine Indiskretion Öl ins Feuer gegossen. Hier befragt, was er denn an Notizen über das Verhör des hingerichteten Gordon von Jamaika mitgebracht, antwortete er dem Kolonialminister: „Ich habe sie ins Feuer geworfen." Dies wird als Faktum gemeldet. Der Spezial-Kommissarius der Times bezeichnet in Bausch und Bogen alle die Metzeleien als „Übertreibungen". Dem hält man entgegen, daß ja die Rapporte der Befehlshaber und die Briefe von Mannschaften selbst deren in Fülle erwähnen, und daß gerade diese Rapporte aus eigenster H a n d den Grund zur Absendung der Kommission geboten haben. Charakteristisch ist der Brief eines Unteroffiziers an seine Mutter in England: „Wenn man die toten Nigger, groß und klein, beieinander legte, würd's mehr als zwei Meilen lang. Ο Mutter, solch Ding habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Wir schössen und hingen den lieben langen Tag. Wir konnten zuletzt nicht

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Die M e t a p h e r erinnert an R e i m e des T u n n e l f r e u n d e s Lepel in „Die Z a u b e r i n C i r c e " (1849): „So m u ß t auch du, so sehr sie d r o h ' n , / Fern halten diese beiden, / Die C h a r y b d i s R e v o l u t i o n , / Die s t r u d e l n d e , v e r m e i d e n , / U n d auch die Scylla R e a k t i o n , / D a s bellende Ungeheuer, / D e m m a n c h e r S p r u n g gelungen schon / Und i m m e r d r o h t ein neuer; / Der rechte Schiffer aber hält / Die M e e r e s h ö h ' d a z w i s c h e n , / Wie laut auch rechts der D r a c h e bellt / U n d links die Strudel zischen".

London, 5. Februar

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Interior o f M o u n t j o y Prison, Dublin, where the Fenians Are Confined

mehr. Ο Mutter, so was hab ich nie in meinem Leben gesehen. Gestern peitschten wir drei ,Reverends' (Geistliche) von den Baptisten. Als ich eben

,auslegen'

wollte, kam

Gegenbefehl,

weil

,mein

Mann'

einen

schneeweißen Rücken h a b e . " Haben Amerikaner recht, wenn sie sagen, das Beisammenwohnen von Weißen und Schwarzen degeneriere die ersteren, so ließe sich vielleicht eine psychologische Erklärung jener Vorfälle finden. Liest man diese Unzahl von Privatbriefen jenes Datums von der Insel, welche allmählich an die Öffentlichkeit gelangen, von den Empfängern im Original den Zeitungen zugestellt, so vergißt man die schaurigen Tatsachen beinahe über dem „Behagen", mit dem sie geschildert werden, über den völligen Mangel an gewöhnlicher Dezenz und an Bewußtsein von der eigenen Verwilderung. — Das Journal „The Irish People" ist in amerikanischer Auflage soeben in Irland eingeschmuggelt, als offizielles Organ O ' M a h o n y s , Colonels in der Vereinigten StaatenArmee und Präsidenten der „bestehenden" Irischen Republik. Der Leitartikel droht England, man werde London, Liverpool, Manchester und Leeds in Asche legen, so es die Fenier nicht anders als

Kriegsgefangene

behandle. Ein anderes Journal, „Der Fenierchef", hofft viel von einer Erhebung am Tage des irischen Nationalheiligen, dem St. Patrickstage, der überall im Frühjahre gefeiert werde. Es geht in London an diesem

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Tage ebenfalls laut genug zu. Übrigens hat es die Regierung doch für gut gehalten, auch ihre Freunde in Irland zu entwaffnen. Die neueste Proklamation des Ausnahmezustandes umfaßt vornehmlich Distrikte, wo die Orange-Logen besonders stark sind. Viele der konfiszierten Waffentransporte hatten deren Adressen, und augenscheinlich rüstet man sich auch auf orangistischer Seite auf blutige Raufereien. [Nr. 32, 8. 2. 1866]

Der Baron of Beef in Gefahr Die Kaninchen rücken an."Zivilisation ist Ö k o n o m i e der K r a f t " Die schwarzen Diamanten. D a s neue Kabinett „Spreu und Kehricht" p * London, 13. Februar Gehen Sie an einem Sonntage um 3 Uhr mittags durch eine der breiten stillen Straßen des Westends, so wissen Sie, daß um diese Zeit in einem und demselben Front-Parterre-Zimmer der Häuser die Familie beim Diner sitzt und in jedem Zimmer seitens des hinter dem Hausherrn postierten Butler (Mundschenk) die Frage ertönt: „Sherry Sir?" Auch wissen Sie, daß an einer bestimmten Stelle am Büffet von Mahagoni neben dem Speisetisch der Rostbraten d a m p f t , der „Baron of Beef". Alle unsere Parlamentsmänner sind reiche Leute, logieren im Westend, lassen sich von den Butlers den Sherry behändigen und vermissen nie den „Baron of Beef". Die meisten fragen nach der Rinderpest nur als einer „parlamentarischen Frage", ob Torys oder Whigs, und nach dem Selfgovernment „da draußen im L a n d e " aus ästhetischer Rücksicht. Diese Gentlemen müssen wirklich glauben, sie täten dem Volke einen Gefallen damit, die Rinderpest den kleinen Behörden des Landes zu beliebiger Behandlung zu überlassen. Nachdem die Gelehrten sich monatelang darüber gestritten, was denn diese Krankheit vorstelle und, ob sie denn gar nicht auf gutes Zureden hören wolle, gar keinen Respekt vor der patentierten Konstitutionsschablone habe, wurden gestern im Unterhause Maßregeln beschlossen, wo der langen Rede kurzer Sinn der alte Schlendrian war. Diese Members of Parliament sollten nur hören, wie man ihnen dafür dort dankt, w o der runde und rüstige „Baron of Beef" auf der Schüssel nur als sehr mageres Stück erscheint und ängstliche Hausfrauen das carnis vulgaris einer Kochhitze unterwerfen, welche zwei Generationen von Trichinen zerstören müßte. Eifersüchtig, wie der Engländer auf echte Freiheiten

London, 13. Februar

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u n d auf f l e g e l h a f t e Lizenzen ist, sein G e m ü t ist d o c h in einer G ä h r u n g ü b e r die R i n d e r f r a g e , d a ß er o h n e M u r r e n es m i t a n s ä h e , w e n n m i t t e n d u r c h seine S e l b s t v e r w a l t u n g s a k t e ein R e g i m e n t P o l i z e i m ä n n e r m a r schierte, ü b e r den p r o t e s t i e r e n d e n Bürger- o d e r S c h l ä c h t e r m e i s t e r hinweg in die R e m i s e n r ü c k t e u n d alles d e m Beile ü b e r a n t w o r t e t e , w a s (ind e m m a n d e m Vieh f a k t i s c h d a s T h e r m o m e t e r an d a s H e r z hält) n u r einige G r a d e p o l i z e i w i d r i g e r B l u t w ä r m e zuviel a u f w e i s e n sollte. Vom M i n i s t e r , der sich in Z a h l e n verwickelte, bis z u m c o u r a g e u s e s t e n Fortschrittler h i n a b lief die D e b a t t e gestern i m m e r in d e m alten Z i r k e l von R e d e n s a r t e n , u n d ist erst d e r letzte O c h s e v o n Y o r k s h i r e t o t , so ist d a s w e n i g s t e n s alles p a t e n t m ä ß i g u n d rein k o n s t i t u t i o n e l l z u g e g a n g e n , u n d w i r m ü s s e n u n s m i t K a n i n c h e n u n d g e b r a t e n e n T a u b e n in den beiden stillen S t r a ß e n des W e s t e n d s b e g n ü g e n . A n f a n g s dieses J a h r h u n d e r t s h e r r s c h t e die R i n d e r p e s t 13 J a h r e in E n g l a n d , o b w o h l m a n d a m a l s n o c h eher d e n Stier bei den H ö r n e r n zu fassen sich u n t e r f i n g ; n a c h jetziger M e t h o d e w e r d e n w i r die Seuche u n e n d l i c h m a c h e n . — Liebig soll irg e n d w o gesagt h a b e n : „ Z i v i l i s a t i o n ist Ö k o n o m i e der K r a f t . " In E n g l a n d w i r d ' s die Ö k o n o m i e d e r Kohle. S c h o n vor zwei J a h r e n a l a r m i e r t e d e r g r o ß e K a n o n e n l i e f e r a n t Armstrong das L a n d mit der V e r s i c h e r u n g , d a ß in einer kleinen H a n d v o l l J a h r h u n d e r t e die letzte S t e i n k o h l e A s c h e w ü r d e , w e n n n u r d e r K o n s u m in d e m jetzigen Verhältnis f o r t w ä h r e , 93 Mill. T o n n e n im J a h r e . Eine N a t i o n mit g e s u n d e m Sinne sorgt a u c h u m d a s W o h l s p ä t e r N a c h k o m m e n , u n d gelehrte G e o l o g e n u n d G e o g n o s t i k e r h a b e n seitdem m i t A r m s t r o n g z u s a m m e n N a c h f o r s c h u n g e n angestellt. Ihre Berichte sind v o m a u s w ä r t i g e n M i n i s t e r i u m g e s a m m e l t u n d d a s R e s u l t a t ist ein n o c h viel b e d e n k l i c h e r e s , als d a s v o n 1863. D a r n a c h w i r d , v o r a u s g e s e t z t , d a ß die S t e i g e r u n g des K o n s u m s eine stetige, der erreichbare V o r r a t englischer S t e i n k o h l e n (mit E i n s c h l u ß der u n t e r M e e r e s b o d e n g e t r i e b e n e n Schächte) in w e n i g e r als h u n d e r t J a h r e n e r s c h ö p f t sein; ja, lange v o r h e r w e r d e d a s A r b e i t e n in den i m m e r tiefer g e t r i e b e n e n S c h ä c h t e n u n d M i n e n so kostspielig w e r d e n , d a ß jene „ s c h w a r z e n D i a m a n t e n " , wie m a n sie n e n n t , a u f h ö r e n m ü ß t e n , A l l g e m e i n g u t zu bleiben. Ein Blatt t r ö s t e t indes seine Leser d a m i t , d a ß f ü r „viele J a h r e " h i n a u s die englischen M a n u f a k t u r e n k e i n e n f e s t l ä n d i s c h e n Rivalen zu f ü r c h t e n h a b e n w e r d e n . „ P r e u ß e n ist d a s einzige L a n d , dessen K o h l e n p r o d u k t i o n einen Vergleich mit den j ä h r l i c h e n 93 M i l l i o n e n T o n n e n G r o ß b r i t a n n i e n s a u s h ä l t , u n d d e r E r t r a g W e s t f a l e n s allein k a n n bald die englische Kohle a u s N o r d d e u t s c h l a n d v e r d r ä n g e n . " Ü b e r h a u p t w i r d m a n im „Forts c h r i t t " d a h i n g e l a n g e n , in E n g l a n d die K o h l e zu ersetzen, u n d ein Kotte-

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let auf einem eingefangenen Mondstrahl zu spießen, oder die Rasierseife mit Reichenbachs odischer Kraft zu erhitzen. „Ökonomie der Kraft" wird schon darüber hinweghelfen und die festländischen Rivalen nicht aufkommen lassen. — Seitdem das Kabinett sich vervollständigt, werden nun auch die Posten an der Schwelle besetzt. Stansfeld, der ohne Zweifel das Unterstaatssekretariat für Ostindien erhalten, weil er den Hindus mit seinem Mazzinismus nicht hemmen kann, falls er in ihren Augen nicht jede „Kaste verlieren" will, hat sich einen radikalen Privatsekretär engagiert, und an Göschens Stelle ist der irische „Patriot", aus der Schule O'Connels, Mr. Monsell in das Handelsamt als Vize-Präsident getreten. Der Standpunkt des neuen Ministers für Irland, Chichester Fortescue, wird für gefährdet erachtet, da seine Wähler ihn durchaus nicht wieder ins Parlament wählen wollen und er dann auf seinen Posten verzichten müßte. Auch andere Mitglieder des Kabinetts, die avancierten, haben sich rapider Neuwahl zu unterwerfen. An Wahlanfechtungen fehlt es nicht. Die übliche Kommission, welche diese delikaten Dinge zu sieben und zu sichten hat, solle alle Hände voll zu tun bekommen. Daß Bright am Ministerstuhl nur mit blauem Auge vorbeigefahren, während des „Traumes Goldfrucht" 9 schon im Bereiche seiner Finger, soll unter anderm in einer Indiskretion seinen Grund haben. Der „Morning Star" brachte nämlich den Bericht der Kommission für Gutachten über die Todesstrafe früher, als dieser Bericht, dem Herkommen gemäß, Ihrer Maj. der Königin vorgelegt worden. Bright war Mitglied dieser Kommission und der „Morning Star" ist sein Organ. Es wurde dies vom Herzog v. Richmond im Oberhause gebührend gerügt. Ein Toryblatt bemerkt dazu: „Zwar wurde kein Schade mit jener Indiskretion angerichtet; aber welche ernstlichen Folgen solcher Art könnte es haben, wenn Mr. Bright je einen Sitz im Kabinett erhalten sollte!" Die Wahl des Marquis v. Hartington zum Kriegsminister findet nur mäßige Schätzung. Er war es, der als Untersekretär desselben Faches im vorigen Jahre im Unterhause die ungeeignete Bemerkung machte, die Armee bestehe aus dem „Kehricht der Landstraße und der Spreu der Gasse". In Irland, wo die meisten Rekrutierungen geschehen, wurde diese Äußerung sehr übel genommen. Wenn wahr, wäre sie doch im höchsten Grade unpassend und der Um-

9

„Und vom Wunderbaume der Nacht / Brech' ich des Schlummers liebliche Blüte, / Des Traumes Goldfrucht" — Schlußzeile aus Emanuel Geibels Gedicht „Feierabend".

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London, 23. Februar

stand, daß, mit Ausnahme von zehn oder zwölf Irländern, kein Soldat auf der grünen Insel sich mit Fenismus abgegeben, müßte bei soviel „Spreu und Kehricht" doch einige Verwunderung verursachen. [Nr. 4 1 , 18. 2. 1866]

Habeas Corpus in Irland. Drittehalbtaler-Büchsen Der Bienenvater der Reform. Die „Araber der City" p:;" London, 23. Februar Sollten Sie in Londoner Briefen deutscher Blätter noch der Phrase begegnen „Die Suspendierung der Habeas-Korpusakte in Irland beschäftigt noch alle Gemüter" — eine Phrase, die so leicht einem Korrespondenten in die Feder kommt, wenn er um eine Einleitung verlegen — so glauben Sie es gar nicht. Beträfe es selbst eine englische

Provinz, so wäre jetzt

schon die Unterhaltung darüber erschöpft. Obwohl unter den acht „Neins" im Unterhause gegen die Bill auch der Name Sir George Bowyers, der als Konservativer, ohne Tory zu sein, fast allein im Unterhause unaufhörlich der neu-italischen Ära sein vollstes Mißfallen erklärt, so sind doch die Meinungen über die Zweckmäßigkeit der Bill nur insofern geteilt, als manche meinen, die Lokalisierung der außerordentlichen Maßregel auf gewisse Grafschaften würde dem Zweck entsprochen haben. In siebzehn Grafschaften Irlands ist nämlich auch nicht ein einziger Fenier bis jetzt gesehen worden. Im ganzen Norden, wo die protestantische Bevölkerung die bei weitem überwiegende, ist die Loyalität eine altbewährte, wenn auch die Orangisten mitunter etwas ins Theatralische übergehen, mit Boxkämpfen als Zwischenakte. Ein ganzes Königreich über einen Leisten zu behandeln, ist in Irland bedenklich. Es liest sich zwar angenehm in der Presse, man werde „mit Diskretion" verfahren; indes Engländer verfahren nicht „mit Diskretion" in solchen Fällen, wie die Tagesgeschichte der Beispiele zur Genüge geliefert, namentlich an überseeischen. Bei früheren Gelegenheiten schlug solche Maßregel immer in eine Art Terrorismus aus, und zwar deshalb, weil religiöse Anfeindungen sich die Gelegenheit zunutze machten, sich in wechselseitigen Denunziationen zu überstürzen. Nach Jahrhunderten ist es übrigens noch dieselbe Misere, wie ehedem, mit Irland. Die parlamentarische Weisheit hat in dieser Frage immer Bankerott gemacht und das staatsmännische

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J u s t i c e — for Ireland

Gewissen sich mit Palliativen beschwichtigt. M a n bemühte sich in Friedenszeiten, von Irland nichts zu sehen oder zu hören und erachtete dann, es stände „all right", weil man sich den H u t über die Augen gezogen. Schlendrian heute, blindes Dreinhauen morgen und Schlendrian wieder übermorgen. Überraschend war es für die Londoner, von Sir George Grey zu vernehmen, daß nicht nur 3 0 0 amerikanische Fenier als Emissäre in Irland tätig seien, sondern auch 1 6 0 in London.

Eine eigentümliche

Tatsache ist am Sonnabend hier zutage gekommen. Jedes „Schießgewehr", das in England verkauft wird, muß eine M a r k e haben, daß es in London oder Birmingham geprüft worden. Es ist dies eine Art „Schutz" für englische Fabrikate, vorausgesetzt, daß die Examinatoren

dabei

scharf zu Werke gehen, wenn es sich um ausländisches Fabrikat handelt. Am Sonnabend erschien der Bevollmächtigte einer Firma von Birmingham vor dem Lordmayor und beschwerte sich, daß in ganz kurzer Zeit in London 8 0 0 0 Büchsen mit Hirschfängerbajonett ohne jene proofmark verkauft seien und zu dem spottbilligen Preise von 7lA Schilling (drittehalb Taler) die Büchse. Es steht fest, daß in den irischen Quartie-

London, 23. Februar

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ren eine erhebliche Anzahl abgesetzt worden. Die Büchsen sind angeblich österreichisches

Fabrikat und lagerten in London kurz vor dem ame-

rikanischen Friedensschluß. Ihre Bestimmung soll der Süden der damals veruneinigten Staaten gewesen sein. D a ß zu dergleichen die Mittel aus Amerika

k o m m e n , ist gewiß. Haben doch in Dublin über 1 0 0 0 brotlose

Arbeiter seit Wochen eine Art „Wartegeld" von Vi Tlr. den Tag von jenen Wohltätern ausgezahlt erhalten. Das Zentrum dieses revolutionären Rattenkönigs liegt in New York, und solange dort das Manöver geduldet und begünstigt wird, bleibt der Fenismus in den drei Königreichen am Leben. — Man weiß noch immer nicht, o b Lord Russell in seinem Reform-Strickstrumpf die verlorene Masche finden wird. Natürlich ennuyieren ihn die Fortschrittler fast jede Woche mit einer Deputation, und Russell sagt ihnen jedesmal „Wartet". Die allerletzte entließ er mit einem Gleichnis. „Ich erinnere m i c h " , — sagte er — „vor vielen Jahren im ,House of C o m m o n s ' gesagt zu haben, wir glichen den Bienen in einem Bienenkorbe von Glas, weil alle unsere M a ß n a h m e n und Debatten so offen geschehen. Aber ich habe auch gehört, daß die Bienen in einem solchen Glaskorbe öfters die Vorsicht gebrauchen, das Glas mit Wachs zu überziehen, so daß ihnen niemand zusehen kann. Ich denke, dies ist sehr weise von den Bienen, und ich erlaube mir, die Verkündigung unserer Ratschlüsse noch vorzubehalten und im Geheimen zu arbeiten, wenigstens bis zu dem Tage, wann wir Honig zeigen k ö n n e n . " Und wie es im Rapport heißt: „Die Deputation dankte Seiner Lordschaft und entfernte sich"; der „Bienenvater" der Reform aber arbeitet weiter an seinem Wachs. Ich schrieb Ihnen schon, daß es mit der Reformbill keine große Eile haben werde. — Lord Shaftesbury

hat neulich 2 0 0 der kleinen

obdachlosen Vagabonden — der „Araber der City" — zu einem warmen Abendessen eingeladen, sie über ihre Lebensweise befragt, „wie oft sie gegessen" und so weiter. Nachdem er gehört, daß sie alle „irgendwie" lebten, in Armenhäusern nächtigten, aber doch „lieber" auf der Straße, schlug er ihnen vor, sich für Ihrer Majestät Flotte ausbilden zu lassen. „Nehmt einmal an, es läge ein großes Schiff auf der T h e m s e , das eurer Tausend fassen könnte, mit Schulen und Werkstätten für den Seemann, würde das etwas für euch sein?" — „O yes, yes, — your Lordship" hallte es aus hundert Kehlen. Klettern und laufen können diese kleinen „Araber der City" wie die Katzen und mögen so immerhin einmal gute Schiffsjungen abgeben. Ein Comite, um die Idee praktisch auszuführen, ist zusammengetreten, und warme Abendessen gleicher Art werden vorbereitet. Einer der „ J u n g e n " erklärte dem Lord beim ersten Male: „Es wären

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unser viel mehr gekommen; aber die anderen fürchteten, ein schlechtes Abendessen zu bekommen — Grütze und hartes Brot — und daß das warme Essen nur eine Falle wäre, von wegen der Polizei." [Nr. 49, 2 8 . 2 . 1866]

Die 180 Neuen. Gladstone und die Staatslokomotive Die Opposition im Anschlag Lord Halifax. Fenier in Liverpool p* London, 27. Februar Wir haben erst wenige „Jungfernreden" gehabt. Von den 180 Neulingen im Parlamente weiß man bis jetzt wenig mehr, als daß sie häufig und pünktlich kommen. Das gibt sich mit den Jahren. Am meisten sprechen die Satyriker Lowe und Horsman, auch Bright. Sie hatten fast alle Abend etwas zu sagen — und dies kann das Unterhaus nicht leiden. Dieses Vordrängen verstößt gegen das parlamentarische Decorum. Ganz plötzlich ist Bright still geworden. Er ging hinaus, als man Palmerston ein Denkmal votierte. Er fehlte gestern bei den Debatten über den Militärund Flotten-Etat, der so vielfach angegriffen wird, weil er zwar die Kraft der Armee durch Reduktionen vermindert (s. unten), aber die Ersparnis durch teuren Verpflegungsansatz bis zu einem winzigen Rest wieder verschlingt. Man sagt Bright wolle sich noch „möglich" erhalten, mit den Offiziellen auf leidlichem Fuß bleiben und deshalb durch Nichtbesuch des Hauses die Gelegenheit vermeiden, seiner Redegabe die Zügel gegen die Finanzverwaltung schießen zu lassen. Herrn Gladstone werden in seinem Organ, dem „Spectator", viele Komplimente darüber gemacht, daß er seit Übernahme des Amtes eines Führers des Unterhauses sich so brav halte. Die Hauptfunktion eines solchen Führers besteht darin, nach irgend einer Debatte von Bedeutung eine Übersicht des Verhandelten zu geben, nicht im Namen seiner Partei oder einer Partei überhaupt, sondern im Namen des ganzen Hauses. Gladstone, heißt es, „zeige sich schmeidiger, wo er vordem Brüche zeigte, und gebe sich Mühe, das Haus bei Humor zu erhalten". Er „bittet" recht dringend öfters einen Interpellanten „den Mund zu halten". Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß ein hitziger Frager nach Gladstones Resume sagte: „Da bleibt mir nichts übrig, als meine Motion wieder zurückzunehmen." So hat er bis jetzt die Reformklippe umschifft, ebenso Irland und Jamaika, bis der überflüssige Dampf abgelassen von ihm, dem Maschinenmeister des englischen Paria-

London, 27. Februar

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mentarismus. Palmerston spielte mit dem Ventil, Gladstone beobachtet es ängstlich; Bright würde sich d a r a u f s e t z e n und die Explosion riskieren. Die Besteuerung hat gestern vielfache Bemerkungen hervorgerufen, zumeist als Frage, o b die ärmeren Klassen zu hoch besteuert wären. Jedenfalls zahlen sie „am meisten" Steuer in jenem Posten, w o es heißt, Ertrag der Steuer für stimulants 26 Millionen Pfund Sterling, weit über ein Dritteil der Staatseinnahmen — mit anderen Worten für Spirituosa. Die Redner hatten gestern gegen diese Art der Einnahme nicht das Geringste, wohl aber gegen die Verausgabung. Auch hier kühlte Gladstone die Redner ab mit dem Aussprechen der H o f f n u n g , man werde die Klage über allzugroße Ausgaben nicht zur Abstimmung pressen wollen, weil das Erwartungen im Lande und spätere Täuschungen hervorrufen könnte. Und das H a u s drängte nicht zur Abstimmung und der Antragsteller, White aus Brighton, steckte seine Klage wieder ein. Soweit geht bis heute alles glatt. Die Opposition schickt zwar mitunter einen Redner vor, doch augenscheinlich nur, um ihre Existenz notieren zu lassen; sie hält ihr Pulver trocken für J a m a i k a und für die Reform, falls diese wirklich noch gegen alles Vermuten das D a t u m 1866 tragen sollte. — „Der Türke zahlt spät, aber er zahlt doch!" In solcher Weise drückten sich bei der GeneralVersammlung der Aktionäre der Ottomanischen Bank in London die Chairmen von H a l b j a h r zu H a l b j a h r aus. Seitdem aber der Muselmann immer nur das Geld von denselben Engländern borgt, denen er damit die Dividenden bezahlen will, so hat sich jene Sympathie sehr abgeschwächt. Beginnt heut doch ein Leitartikel: „Es ist unmöglich, zu leugnen, d a ß die Z a h l denkender M ä n n e r , welche das türkische Reich für unterminiert und mit unheilbarem dry rot (Trockensäule) behaftet erachten, täglich wächst." Und an einer anderen Stelle: „ M a n hörte bald nach dem Krimkriege auf, gern von ihm zu sprechen; wollte aber ein Parlamentsmann die Bänke leeren, so brauchte ihm nur in einer Rede das Wort ,Donauf ü r s t e n t ü m e r ' entschlüpfen, oder Rumänien." Palmerston machte keine Debatte darüber. Er war der härteste Gegner der Z u s a m m e n s c h w e i ß u n g der M o l d a u mit der Walachai, während Gladstone gerade die entgegengesetzte Politik verfolgte. Ein Blatt bittet die Leser ordentlich um Entschuldigung, wieder einmal von jener Gegend „des Mississippi von Eur o p a " reden zu müssen. Fürst Cusa war eine Zeitlang Favorit der liberalen Presse, weil er den großen Grundbesitz schädigte; doch das hindert sie heute nicht, ihn (ganz richtig) eine „lasterhafte Inkapazität" zu schelten, mit dem Kommentar, „er ist gefallen". H a t t e Lord Clarendon, unser Minister des Auswärtigen, einige Grübelstunden, als die ersten Depe-

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sehen über die Ereignisse in Bukarest hier anlangten, so beruhigte auch der Telegraph wieder mit der Meldung, daß „Fürst Gortschakoff in dieser Angelegenheit pari passu mit Großbritannien gehen werde". Vermutlich in der Überzeugung, daß eine russische Armee am Pruth und eine englische weit davon, in den Kasernen von London und Dover, nicht im wörtlichsten Sinne ein par passus sein könne, kann sich die Presse der Bemerkung nicht enthalten: „Wir glauben, die orientalische Frage ist noch weit von ihrer Erledigung entfernt, und die Geldarmut, die Kreditlosigkeit und die Verschwendungssucht der Türkei geben Stoff zu sehr ernsten Befürchtungen." — Die Zahl der angefochtenen Wahlen zum Unterhause beläuft sich vorläufig auf 71, wovon die Hälfte wegen Wählerbestechung bemängelt wird. — Der Titel eines Viscount Halifax, mit welchem der bisherige Minister für Indien Sir Charles Wood zum Pair des Reiches erhoben wurde, ist kein neuer. Er wurde zuerst den Savilles, dann den Montagues verliehen, erlosch jedoch zweimal in zwei Jahrhunderten. — Sir Richard Mayne, der Chef der Londoner Polizei (die der City ausgenommen, deren Haupt der Lord Mayor ist), hat sich nach Dublin begeben, wie es heißt, auf Vorstellungen der dortigen PolizeiVerwaltung. Viele amerikanische Fenier sind von Dublin nach Liverpool übergesiedelt, wo die Habeas-Corpus-Akte noch in Kraft und jeder vierte Mann ein Irländer ist. [Nr. 55, 7. 3. 1866]

Unruhige Woche. Unzufriedenheit mit Russell Panzerschiffe. Die grüne Fahne p::' London, 5. März Soweit sich in dieser Millionenstadt, wo eine Hälfte nicht weiß, wie die andere lebt, ein „Tagesgespräch" feststellen läßt, hatten wir davon die Fülle in vergangener Woche. Es war eine unbehagliche Woche: ein Gerücht jagte das andere, ein Dementi folgte dem anderen auf dem Fuße. Ein Abendblatt meldete ein erhebliches Unwohlsein I. M. der Königin; es wurde nicht dementiert. Ein anderes sprach von bedenklicher Erkrankung des jungen Prinzen Leopold; es wurde dementiert, aber ein drittes Blatt wiederholt das Gerücht. Seit Mittwoch bis Sonnabend beunruhigte uns die Times mit ihren Klagen über die Gefahren für den „echten" Liberalismus und ließ bekanntlich Russell abgetreten und den Herzog von Somerset zur Königin berufen sein, um ein neues Kabinett zu bilden. Sofort folgte ein Dementi, die Times nahm ihre Worte aber in einer

London, 5. März

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Weise zurück, die immer noch Raum genug für die Vermutung übrig ließ, daß es irgendwo unsicher sein müsse. Schließlich hört man hin und wieder den lange verhallten Ruf „no popery!" in der Presse und Russell wurde angeklagt, zur Gewinnung Irlands an eine Besoldung der römischkatholischen Geistlichkeit zu denken. Und er denkt daran — dies ist die einzige Auslegung, welche verschiedene seiner Antworten an irische Deputationen gestatten. Ein Blatt ruft: „Lieber eine Trennung Irlands von England, als daß unsere Regierung in einen Kontrakt mit R o m trete. Solcher Kontrakt wäre schlimmer als eine Bigamie: er hieße die gesetzlich angetraute Frau beleidigen, indem man die Schlüssel einer anderen ... anvertraute." Dies ist der Ton sogar in einer sonst so respektablen Zeitung, wie die Sunday Times. Alle Welt ist wegen dieser oder jener Äußerung mit Russell unzufrieden; am meisten die Times, welche mit ihm tief zerfallen, weil er in verschiedenen Fragen mit einer gewissen Präzision genau das Gegenteil von dem getan, was der Jupiter der Presse angeraten. Seitdem hat die Times ihren hochfahrendsten Gaul, einen wahren Hochtraber, bestiegen, läßt nur die toten Staatsmänner noch Recht behalten und erklärt alle lebenden als ungeeignet für die Welt, die eine neue Partei brauche. Nur Mr. Lowe

ist ausgenommen. Er gilt als

der Führer der neuen Partei, der „Times-Partei", wie man sich bereits auszudrücken beginnt. Er steht vornan unter den Anti-Reformers und hat schon bittere Worte im Unterhause gegen Rüssel fallen lassen. Im vorigen J a h r e war er noch ein Mitglied der Administration Palmerston für Unterrichtswesen, wurde aber von den Tories hinausgenergelt; aber, da sich der ihm gemachte Vorwurf als ein Mißverständnis erwies, nahm das Unterhaus feierlich die ausgesprochene Rüge zurück. Doch er trat nicht in sein Amt zurück. L o w e steht jetzt an der Spitze aller Liberalen, die Anti-Reformers waren, sind oder noch werden wollen; er ist gern gesehen in der Gesellschaft, aber verwünscht von der liberalsten Presse und einem Teile ihrer Wähler. Diese liberalen Anti-Reformer können teilweise mit den Tories zusammengehen; nur wollen die Tories auch eine R e f o r m , aber nach dem Muster der von Earl Derby 1 8 5 9 empfohlenen, welche durch Russellsche Manöver zu Falle k a m , weil dieser dem Gegner nicht eine Initiative gönnte, zu der ihn selbst erst die Umstände drängen sollten. Über die Gruft Palmerstons soll der Weg dazu gehen. Wer den Artikel der Times über den angeblichen Rücktritt Russells gelesen, mußte außer dem Dementi noch ein Paroli erwarten. Gladstone verkündete urplötzlich (24 Stunden nach dem Times-Artikel) seine Absicht, am 12. d . M . mit der lange erwarteten Reformbill vor das Unter-

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haus zu treten. Die Times trieb unaufhörlich zur Aktion, obwohl der Reform im Grunde abgeneigt, offenbar um den Zwist zu steigern, zu einem Entweder — Oder zu treiben; aber sofort nach Gladstones Ankündigung bewies sie aus statistischen Belegen, daß seit 1831 die Wählerzahl in größerem Maße als die Bevölkerung gewachsen, mithin ein niedrigerer Zensus gar nicht vonnöten wäre. Welche Manöver und wieviel Druckerschwärze werden noch bis zum 12. über diesen Gegenstand vergeudet werden! Der „Times-Partei" ist es bereits gelungen, ein neueres Mitglied des Kabinetts Fenwick auf die Kippe zu stellen, indem er bei der angesetzten Wiederwahl durchfiel und ein Anhänger Lowes die Majorität erhielt. Gleiches Schicksal sucht man dem Minister für Irland Fortescue zu bereiten. Amtsniederlegung ist in solchen Fällen hier so gut wie unumgänglich. — Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, auch wohl, weil spanische oder chilenische Kaper für England kein spezielles Interesse hätten, sind die für Spanien und Chile auf Londoner Werften in Bau begriffenen Panzerschiffe mit Beschlag belegt. Auch enthält die offizielle „London Gazette" ein Rundschreiben Ciarendons an die Lords der Admiralität über die Pflichten eines neutralen Staates, „um zu verhindern, daß die Häfen des britischen Reiches in Europa und anderswo für die Zwecke einer oder der anderen kriegführenden Partei benutzt würden". Wie teuer übrigens Panzerschiffe der Staatskasse zu stehen kommen, ergibt ein Ausweis, der am Sonnabend veröffentlicht wurde. Danach gibt es bis jetzt sechs Schiffe dieser Art in der englischen Flotte, von denen das billigste 1. 300. 000 Tlr. kostet. — Sir Moses Montefiore hat sich in Begleitung des Dr. Hodgkin wieder nach Palästina begeben, um wegen Abhülfe des Notstandes unter seinen jüdischen Glaubensgenossen Schritte zu tun. — In Irland ereignete sich der originelle Fall, daß ein Soldat wegen Absingens des 48er Rebellenliedes „Die grüne Fahne" verhaftet wurde, sein Richter jedoch der Dichter jenes Liedes ist, damals noch Rebell und heute einer der loyalsten Justizbeamten der britischen Krone. Man hört noch nicht, wie die Sentenz in solchem Dilemma zwischen Dichter und Sänger sich gestaltet. [Nr. 57, 9. 3. 1866]

Die Reformbill und das neue Unterhaus p:;' London, 10. März Es sah anders aus am „Reform-Vorabend" im April 1831. Der Prinz von Wales würde es sich nicht erklären können, wenn er heut im Theater

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vor der Königlichen L o g e den damaligen Schrei hörte: „ R e f o r m ! " — „Kein H a u s der L o r d s ! " — „Keine A r i s t o k r a t i e ! " — „Wahlen für a l l e ! " — „Keine S i n e k u r e n ! " — „Keine C o r m o r a n t s ! " — „Keine M o n o p o l e ! " Und das freie Unterhaus beriet damals ganz frei, nur d a ß hundert Ellen v o m Portale T a u s e n d e warteten auf das g r o ß e Yes oder N o ; warteten, o b sie H u r r a h rufen o d e r die P a r l a m e n t s m ä n n e r durchprügeln sollten. Auch heute, im M ä r z 1 8 6 6 , ist der „ R e f o r m - V o r a b e n d " vor Einbringung der R e f o r m b i l l wenigstens, ist auch die Perspektive der D e b a t t e noch unbegrenzt. Es ist S o n n a b e n d abend. Arbeiter, W ä h l e r der Z u k u n f t , gehen wie sonst ruhig in die T r i n k h ä u s e r und k o m m e n unruhig wieder heraus, heute der Stütze bedürftig von der Frau, die draußen gewartet, damit der W o c h e n l o h n

nicht n o c h in andere T r i n k h ä u s e r

vertragen

werde. H i e r von „ R e f o r m " zu reden, würde mißverständlich als Tusch angesehen werden. G e w ü h l in allen S t r a ß e n vor den L ä d e n , in deren Fenster allein der E n g l ä n d e r genug p a c k t , um damit drei g r o ß e Pariser Läden g e s c h m a c k v o l l auszustatten. Dieses G e w ü h l dauert bis Schlag 12 Uhr. Kein G e d a n k e an R e f o r m oder R e f o r m b i l l , an den

kommenden

M o n t a g . G l a d s t o n e s M o n t a g , der R e f o r m - M o n t a g ! Nicht einmal neugierig sind die Leute. Die vielen Blasebälge von Zeitungspapier haben sich nur gegenseitig die Asche zugeblasen, und weil sie alle o h n e A u s n a h m e nichts von dem Inhalte der k o m m e n d e n Bill wissen, m a c h e n sie G l a d stone K o m p l i m e n t e über seine — „in England so seltene D i s k r e t i o n " . D a s Feld der Parteien ist sehr b u n t . Für und wider wird lebhaft gewühlt, d. h. nur unter dem D a c h e des Parlamentspalastes. D i e 2 0 0 beim M a r quis von Salisbury versammelt gewesenen Tories

erklärten das Meeting

für ein privates. Es ist im parlamentarischen Sinne ein „vertrauliches" gewesen, und d a r u m weiß j e d e r m a n n , was vorgefallen. Natürlich w a r man ganz einig über das Nein gegen eine R e f o r m b i l l dieses

Ministeriums.

Prinzipiell wird die R e f o r m nicht angefochten werden, weil die Tories selbst 1 8 5 9 mit der Derby-Bill schon mit dem Wahlzensus sogar bis auf die „Acht- und die Z e h n p f ü n d e r " hinuntergriffen, sich also damit leider das Prinzip

verpfuscht h a b e n . Beschlossen wurde, nicht zu schnell auf

A b s t i m m u n g anzutragen, damit die Whigs Z e i t hätten, alle Steine abzuw ä h l e n , die sie auf dem Herzen hätten, das Kabinett sich bis in das Innerste hinein enthüllen k ö n n e und auch um zu sehen, wie die D e b a t tanten und die Neulinge im H a u s e sich in der S a c h e stellen. D a n n gibt es noch die kleine Times-Partei

mit dem M o t t o : „Keine R e f o r m ; wenns

aber nicht anders geht, keine, gut oder s c h l i m m , von diesem

Ministe-

r i u m . " D i e Regierung soll a u f 2 3 0 S t i m m e n bis jetzt rechnen k ö n n e n ,

London, 10. März

645

Dank dem Mr. Brand, dem whiggistischen Whipper-in. Der Radikalen gibt es nur wenige, aber sie werden den kleinen Finger nehmen, wenn sie nicht die ganze Hand erhalten, nach der Regel O'Connels: „Nur nehmen! Nehmen! Die Regierung schuldet uns volle 20 Schillinge in das Pfund Sterling — sie bietet uns 15! Nehmen, und wegen des Restes sprechen wir uns weiter!" Dann gibt es noch die Unbestimmten, die, meist Neulinge, noch von der gelesenen politischen Ästhetik nicht lassen können und sich dahin äußern: „Nur wenn ein Parlament ganz wie die Nation in Miniatur sich ausnimmt, hat eine Regierung das Recht, das eine Reform zu nennen." Das ist schon wahr nach der anfechtbaren Regel, die ich getreu nach dem Englischen übersetze: „Wer fette Ochsen treiben will, muß selber fett sein." Als gestern Gladstone mit dem von der Regierung gesammelten statistischen Reformbill-Material in der Hand (einem Büchlein von 300 enggedruckten Seiten) im Hause erschien, empfing ihn die eine Hälfte mit Cheers, die andere mit Hohngelächter — sehr höflich gedämpft, aber doch Hohngelächter. Die Debatten vor Montag sind meist Kleingefecht. Man schont sich für die Schlacht. Der Sprecher des Unterhauses, der unwohl, bleibt zu Hause im Zwiegespräch mit der Gicht, läßt aber wissen, er tue dies nur, um sich bis Montag kurieren zu lassen. Man sagt übrigens sehr, sehr heftige Debatten voraus, obgleich die „Morning-Post" gleichsam zur Abkühlung der Russellfeinde, mitgeteilt, daß ja Russell jedenfalls später abtreten werde, auch wenn er siege, damit seine Laufbahn als Reform-Staatsmann für beschlossen betrachtend, wie mit einer Wiederholung seines verfrühten Mottos „Laßt uns ruhen und dankbar sein!" Mit solchen Mitteilungen wird versucht, den Groll gegen die „Person" für die „Sache" harmlos zu machen. Das neue Haus, das schon von Anfang in den Manieren sich veramerikanerte, wird dennoch viel Heißes in der Debatte leisten. — Überaus ernsthaft ist eine moralische Einbuße, auf die Roebuck in dieser Woche anspielte, ohne daß ein einziger ihn widerlegte. Gewohnt, bei Debatten über das Wohl von 100 Millionen indobritischer Untertanen ein gähnendes Haus zu finden, aber erstaunt, am Mittwoch fast alle Plätze besetzt zu sehen, obwohl es sich nur um die Interessen streitender Gas-Aktien-Gesellschaften handelt, rief er aus: „Das Haus ist ohne Zweifel für die Gelegenheit zurecht gepackt und kann sich wohl nicht für berechtigt halten, in dieser Sache zu richten." Der „Daily Telegraph" behandelt diesen Satz schon im zweiten Leitartikel und sagt: „Es liegt nur zuviel Wahres in jenem Vorwurf, daß Parlaments-Mitglieder Privateinflüssen sich nachgiebig erweisen, bereit, ihnen zuliebe das öffentliche Vertrauenspfand zu verra-

646

1866

ten. Z u den Zeiten Walpoles und Pitts wurden P a r l a m e n t s v o t e n gekauft, solche M a n ö v e r wie die obigen sind der erste Schritt zur W i e d e r k e h r solcher Z u s t ä n d e . " Und dasselbe Blatt schreibt heute: „Es fehlt nicht an Leuten, die Augen haben und g r o ß e G e f a h r in der Willigkeit erblicken, mit welcher P a r l a m e n t s m ä n n e r sich dem Z u r e d e n g e h o r s a m erweisen, wenn dies von aktienreichen G a s - oder Eisenbahngesellschaften k o m m t , — größere Gefahr, als von der n o t o r i s c h e n W ä h l e r b e s t e c h u n g , der allein so viele es verdanken, hinter ihren N a m e n die B u c h s t a b e n M . P. ( M e m ber of Parliament) setzen zu dürfen. Überall M i ß b r ä u c h e , die nur ein viel ernsthafteres und gewissenhafteres

H a u s beseitigen k ö n n t e ! " Diese

Worte des rücksichtslosen Blattes geben zu denken. [Nr. 63, 16. 3. 1866]

Keine Doppel-Sechs. M o d e r n s t e r Zeitungsstil Ein englischer „Arbeiter". Die Konstitutionalisten p* L o n d o n , 14. M ä r z „ J a c t a est a l e a ! " 1 0 Es ist nicht D o p p e l - S e c h s geworfen und es hängt davon ab, wer h ö h e r wirft, die Regierung oder die O p p o s i t i o n . Bis jetzt haben die fortschrittlichen G r ö ß e n noch nicht viel g e s p r o c h e n ; und nur einzelne Neulinge hielten ihren „maiden s p e e c h " (Jungfernrede), indem sie der Regierung einen D a n k aussprachen. D o c h diese angenehmen W o r t e fielen nur wie T r o p f e n a u f die G l u t des Z o r n e s , welche die G e g n e r der M a ß r e g e l z u s a m m e n g e s c h ü r t . D a s G e s c h i c k der Bill vorauszusagen, wäre voreilig. D i e Artikel der Presse geben in solchen Fällen, w o jeder glaubt, was er wünscht, kein klares Bild von der S t i m m u n g . D i e Farben werden beiderseits so dick und grell aufgetragen, d a ß ein w a n k e l m ü t i g e r Leser, der den „ S t a n d a r d " , den „ T e l e g r a p h " und den „ S t a r " gelesen, sicherlich ein gewisses M ü h l r a d im O b e r s t ü b c h e n in Bewegung k o m m e n f ü h l t 1 1 . Z u m großen Teile waren die Angriffe der O p p o s i t i o n , aus Tories und einigen Liberalen bestehend, in der D e b a t t e nur Angriffe gegen Bright,

Bright und wiederum Bright, der mit erzwungenem L ä c h e l n alles

m i t a n h ö r t e , während Disraeli 10

11

auch nicht eine M u s k e l regte, als sein di-

Nach Sueton Worte Julius Caesars beim Überschreiten des Rubikon; das Zitat steht auch am Beginn von F. C. Scherenbergs Gedicht „Waterloo". „Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum", aus Goethes Faust /, Schülerszene.

London, 14. März

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rektester Gegner Gladstone die Novität auseinanderfaltete, die — was Städte betrifft — eigentlich jeden, der nicht absolut Sansculott oder erfolgloser Bettelmann ist, sondern noch 25 Silbergroschen Wochenmiete zahlen kann, zum Staatswähler macht. Es ist alles aufs „Billigste" eingerichtet und jedes gesunde Prinzip mit einem „Fort mit Schaden" auf den politischen Markt gebracht. Mr. Lowe, der aus dem Lager der Liberalen zur Opposition übergegangen, wird als Zielscheibe der bittersten Angriffe von den verlassenen Trojanern benutzt, ebenso Laing und Marsh — diese drei und Horsman zerfetzen die Bill auf das Unbarmherzigste. Eine Probe aus der Zeitungssprache sei hiermit gegeben. So schreibt der „Telegraph": „Mr. Robert Lowe, einst vom University-College, Oxford, dann vom Magdalen-College, dann Barrister vom Lincolns-Inn, London, dann in Australien, dann Mitglied des Palmerston-Kabinetts, dann wieder auf den hintersten Bänken des House of Commons, ohne Anstellung und Beschäftigung. Wie viele andere geschickte Leute, die einige Jahre ihres Daseins, sei es freiwillig oder unfreiwillig, in der Längenbreite von Botany-Bay zugebracht,(!) ist er merkwürdiger wegen Verstandesschärfe als wegen starker moralischer Grundsätze. Wir wollen ihn nicht einen politischen ticket-of-leave-man (Verbrecher, die mit einem zeitweiligen Freipaß entlassen werden) heißen; aber es ist gewiß, daß mit dem Instinkt eines hochlogischen Garotters er sein Opfer von hinten beschleicht und es mit Pseudo-Syllogismen zu erwürgen sucht. Er ist ein ausgefrorenes Gehirn! Sein Liberalismus basiert auf persönlichem Widerwillen, je nachdem." Der „Standard" (für Lowe) kartätscht in anderer Richtung: „Wenn ein Minister Villiers aufgestellt wird, um Lowe zu antworten, wenn Logik mit Unverschämtheit bekämpft werden soll, dann kann das Schicksal der Bill nicht zweifelhaft sein. Die Verachtung, welche solche Reden, wie die des Ministers Villiers, hervorrufen, und andernteils der Eindruck solcher Argumente, wie sie Lowe gegeben, würden auch ein stärkeres Kabinett als das Russellsche über den Haufen werfen. Die Wahl steht zwischen verfassungsmäßiger Freiheit und demokratischer Zügellosigkeit." Ein Wort wird bei den ferneren Debatten die verschiedensten Auslegungen hervorrufen, dieses ist das Wort „Arbeiter". Brights Anhang, der zwar „annimmt", aber „ohne D a n k " , wirft dem Verfasser der Bill vor, mit ihren großen Ziffern der „Arbeiter", die schon bisher wahlfähig, und solcher, die es nach der Bill werden würden, den Leuten der Freiheit Sand in die Augen streuen zu wollen. Die Absicht beiseite, so ist allerdings der Begriff Arbeiter in England ein weiterer, als der deutsche. Arbeiter wird nach der Bill auch der kleinere Meister geheißen, der ζ. B.

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18 66

einen Laden von Gasröhren und Schlosser-Utensilien hält und doch mit seinen Gesellen auf Ordres ausgeht. Arbeiter ist in England auch der Maurerpolier, der Haus und Hof sein eigen nennt, einen Italiener-Warenladen durch seine Frau und einen Grünkramladen durch seine Kinder verwalten läßt. So ist er Kaufmann und Arbeiter zugleich. Derselbe Arbeiter dieser Art, der noch eben die Mauerkelle selbst auf dem Gerüste führte, wird in der nächsten Minute abgerufen, um einen Baukontrakt zum Werte von 1000 Pfund Sterling auf seine Verantwortlichkeit abzuschließen. Die absolute Gewerbefreiheit hat die Begriffe verschoben und die Grenzen der Beschäftigungen verlöscht. Diese Arbeiterklasse ist aber meist schon bisher wahlfähig gewesen. Die neue Bill führt jene „Arbeiter" ein, die Speck und Brot aus freier Faust verzehren, und den Rock, den sie Sonnabend beim Pfandleiher ausgelöst, nebst der halben Familiengarderobe schon am Montag morgen wieder auf eine Woche versetzen lassen, und das solange fortsetzen, als noch ein Faden am andern hängt. Diese Staatsbürger, die, wenn sie auch nicht in London gerade ein ganzes Haus weder für 7, noch für 20 Pfund Jahresmiete okkupieren können, kommen in den Bereich der Bill, so sie nur als Chambregarnisten oder „unmöblierte Herren" die Summe von 10 Pfund für solches Obdach erschwingen. Es mag noch erwähnt werden, daß diejenige Partei der Anti-Reformer, welche den liberalen Schlafrock halb anbehält und nur die Pantoffeln gegen gute Stiefel vertauscht 1 2 , ohne jedoch Tories zu werden, die „Partei der Times" von voriger Woche, jetzt schon einen neuen Sammelnamen erhalten hat, nämlich „Konstitutionalisten", vornehmlich in vier Führern kenntlich, Lowe, Laing, Horsman, Marsh. [Nr. 65, 18. 3. 1866]

Die neue Reformbill. In zwei Hälften „Du stehts auf einer Versenkung." Psychologische Finessen Diözesan-Bußtage p::' London, 20. März Also eine zweite Reformbill nach der allerneuesten, und zwar „über's Jahr". Dies wird nach den gestrigen Äußerungen Gladstones zur Gewißheit, „wenn es nicht regnet". Wie man in England, auf Grund der Unver12

„Ja, meine H e r r e n , ich e r k e n n e eine solche R e v o l u t i o n f ü r sehr gefährlich, g e r a d e weil m a n sich dabei in Schlafrock und P a n t o f f e l n beteiligen k a n n ,

London, 20. März

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a n t w o r t l i c h k e i t der Post, für alle ihr anvertrauten G e l d b e t r ä g e , der Sicherheit wegen eine B a n k n o t e durchschneidet und in einem Briefe die erste, im zweiten die zweite H ä l f t e sendet, der E m p f ä n g e r sie dann zus a m m e n l e i m t und bei der B a n k von England v e r s i l b e r t 1 3 , so ist es mit der R e f o r m b i l l . Eine H ä l f t e , den Wahlzensus betreffend, ist heraus, die zweite, über die Neuverteilung der Sitze und Wahlbezirke, folgt, die erste nicht verlorengeht.

wenn

D a s M a n ö v e r ist sehr geschickt berechnet.

W ä r e das G a n z e fix und fertig auf den T i s c h gelegt, so wäre die G e f a h r des F i a s k o viel größer, als bei dieser Austeilung in H ä l f t e n . Neuverteilung der Sitze und Wahlbezirke würde m a n c h e n älteren W a h l o r t , der von anderen N i c h t w a h l o r t e n an E i n w o h n e r z a h l überflügelt, seines besonderen Privilegiums b e r a u b e n , zwei oder drei ihrer Art in einen zusamm e n s c h w e i ß e n , also auch hin und wieder zwei oder drei in einen Parlam e n t s m a n n . J e d e r nun, der oft mit langer B ö r s e für seinen Sitz honoriert hat und erführe, d a ß das schöne Geld weggeworfen, d a ß sein W a h l o r t a u f h ö r t , d a ß sein Einfluß durch denjenigen paralysiert werden müsse, den andere in dem nächstgelegenen, mit dem seinigen z u s a m m e n g e w o r fenen Kreise ausüben k ö n n t e n — jeder in solcher Lage würde das Seinige tun, die Bill t o t z u s t i m m e n . Wer aber, um derb zu reden, „abgeschlacht e t " werden soll, das läßt die R e f o r m b i l l Nr. 1 noch in a n g e n e h m e m D u n k e l . Sie will erst mit der Prämisse siegen und die Konsequenzen ziehen sich nachher von selber. D e r g r o ß e R e c h e n m e i s t e r Gladstone

kennt

o h n e Zweifel schon die entscheidenden Ziffern in vielen W a h l o r t e n ; a b e r er hütet sich, diesem und jenem schon jetzt zu sagen: „ D u stehst a u f einer V e r s e n k u n g . " Wohl mit einiger Kenntnis von „politischer Psycholog i e " hat G l a d s t o n e einen Paragraphen in die Bill a u f g e n o m m e n , dessen Fall er mit G e w i ß h e i t vorausberechnen k o n n t e , ich meine denjenigen, welcher einem S p a r k a s s e n b u c h - I n h a b e r

über 5 0 Lstr. die Würde des

Staatswählers als Extrazinsen zum G e s c h e n k m a c h t . M a n lächelt nur über diese Idee, und es b e d a r f gar nicht der Bitte Brights, „das H a u s werde doch nicht für einen Augenblick dem Paragraphen A u f m e r k s a m keit schenken, wolle es nicht Geldschwindeleien aller Art T ü r und T o r

13

während der Barrikadenkämpfer wenigstens den Mut haben muß, seine Person zu exponieren." — Otto Frh. v. Manteuffel am 8. 1. 1851 in der Ersten Kammer des preußischen Landtags, ein Wort L. Börnes aus dem 56. Brief der Briefe aus Paris (4. 11. 1831) benutzend. Vgl. ζ. B. auch Κ London 22. April 1865. Persönliche Erfahrung F.s; vgl. Brief aus London an Emilie v. 18. 8. 1856 (HFA IV, 1, S. 529 f.).

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1866

ö f f n e n " . Der Paragraph fällt und über diese kleine Leiche hinweg h o f f t die liberale Partei den Rest „siegreich" zu retten. Es ist das so ein psychologischer Kniff, dieser Paragraph. Eine Bill, von der man hier und da Unwesentliches opfern k a n n , hat mehr Aussicht auf Erfolg, als eine, von der m a n kein Jota wissen will, und auf unserem parlamentarischen Parquet gibt es unter der Opposition, welcher Farbe sie auch sei, immer solche, die wenigstens „etwas" durchsetzen wollen, einen Duodezsieg, mag auch die H a u p t s a c h e den anderen Weg gehen. Mit dem Falle jenes Paragraphen erreicht Gladstone noch ein anderes — eine Schlappe für den Toryführer Disraeli; denn merkwürdigerweise ist die SparkassenIdee zuerst auf einem früheren Meeting von Disraeli angeregt. Die Regierung adoptiert sie und straft Disraeli indirekt durch das „Nein" seiner eigenen Parteigenossen, die nicht geglaubt, was auf jenem Tory-Meeting „so hingesprochen", werde staatsrechtlich von den „Whigs im A m t e " ihnen selbst zur Vorlage gemacht werden. Das sind so kleine parlamentarische Schikanen. Diese und andere Intrigen, Eifersüchteleien und Heucheleien wachsen im Schatten des großen Brotbaumes „Parlamentarism u s " , wie Sommerpilze aus dem Boden. Was die Opposition schwächt, ist die Reminiszenz an 1859, an die Reformbill des Grafen Derby. Sie w u r d e von den Tories eingebracht, um, durch Ansichreißen der Initiative, den Whigs einen Streich zu spielen, und von diesen verworfen, um sich die Initiative nicht nehmen zu lassen. Nun war aber die DerbyBill schon so „liberal", daß, mit A u s n a h m e des Paragraphen über den städtischen Wahlzensus, die Reformvorschläge der Tories von 1859 und die der Liberalen von 1866 in den verschiedenen Passus nur eben um ein einziges Pfund Sterling differieren. D a d u r c h haben sich die Tories moralisch in die H ä n d e der Gegner ergeben, ernten die „Fortgeburt der eigenen leichtsinnigen Tat" und stehen im Kampfe nur auf einem Fuße. Bright h ä m m e r t e schon zu verschiedenen Malen auf diese wunden Stelle und die Tories beschränkten sich, ihren Widerstand gegen die Bill nicht mehr mit Prinzipien, sondern mit praktischen G r ü n d e n zu motivieren, namentlich mit der „Halbheit der Bill". Um diese H a n d h a b e ihnen zu nehmen, verpflichtete sich gestern abend Gladstone, nach weiteren einjährigen Vorarbeiten die zweite Hälfte der „Banknote" zu zahlen. — Gestern beschloß das englische Unterhaus zum ersten Male, einen Diözesan-Bußtag anzuerkennen. Diözesanweise wird jetzt in England, hier an jenem, dort an einem anderen Tage ein Büß- und Fasttag wegen der „Rinderpest" abgehalten. Gladstone begehrte gestern, d a ß gewisse C o m mittees heute erst nach Beendigung des Gottesdienstes zusammentreten

London, 26. März sollten, indem der B i s c h o f von London

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einen B u ß t a g für seine Diözese

auf heute angesetzt hätte. D a r ü b e r entspann sich eine c h a r a k t e r i s t i s c h e D e b a t t e . Die Dissenters waren dagegen. Andere, die es mit Paragraphen genau n e h m e n , begehrten einen Befehl der Königin; eines Bischofs Verordnung binde das P a r l a m e n t nicht. Wieder andere meinten, nur wenn ein solcher Tag im ganzen L a n d e zu gleicher Zeit b e o b a c h t e t würde, k ö n n e strikte B e o b a c h t u n g gefordert werden; denn da C o m m i t t e e m i t glieder k o m m e n müßten*,

so k ö n n e ζ. B. an einem anderen T a g e ein

C o m m i t t e e m i t g l i e d aus Wales mit seinem Gewissen in Konflikt k o m m e n , falls an jenem Tage in seinem wälschen Wahlbezirk gerade ein B u ß t a g abgehalten würde. G l a d s t o n e a b e r bestand auf A b s t i m m u n g und siegte mit einer M a j o r i t ä t von 3 zu 1 zugunsten der A u t o r i t ä t des Bischofs von L o n d o n . Die meisten Läden in und um L o n d o n sind geschlossen und außer in der i m m e r gedrängt vollen City herrscht g r o ß e Stille überall. [Nr. 70, 2 4 . 3 . 1866]

Das Reform-Schachbrett. Die Westminsters mit 7 0 0 . 0 0 0 Lstr. M r . L o w e „der gefallene Engel der R e f o r m " Ausländischen Ursprungs p::' L o n d o n , 2 6 . M ä r z M i t dem Abfall einzelner g r o ß e r Whigfamilien von Earl Russell, zu dem sie länger als eine G e n e r a t i o n gehalten, ist eine erhebliche Veränderung auf dem R e f o r m - S c h a c h b r e t t eingetreten. Es sind nicht m e h r die B a u e r n , mit denen gespielt wird, die Offiziere rücken an und auf der offiziellen Seite sind schon die T ü r m e bedroht und Lücken g e m a c h t . Die Familie der Westminsters mit ihrer jährlichen R e v e n u e von 6 — 7 0 0 . 0 0 0 Lstr., im Unterhause durch den Sohn und E r b e n des M a r q u i s , Kapitän L o r d venor

Gros-

repräsentiert, w a r die erste, auf welche andere nur gewartet zu

haben scheinen, um das Lager der „ M e n s c h e n r e c h t l i c h e n " zu verlassen. Die fortschrittliche Presse kann sich noch i m m e r nicht darüber zur R u h e geben, und die Westminsters und G r o s v e n o r s , denen der ganze Südwesten L o n d o n s g e h ö r t , figurieren Tag für Tag in den Leitartikeln. Die

Abwesenheit ohne legale Gründe kann vom Vorsitzenden mit „Einsperrung" durch den Serjeant at Arms bestraft werden. Dasselbe galt auch früher, wenigstens theoretisch, vom Hehlen im Hause überhaupt.

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1866

Krösusse von Yorkshire, die Wentworth Beaumonts, haben ebenfalls abgeschwenkt. Andere werden ihnen folgen oder im günstigsten Falle fehlen, wenn der 12. April und mit ihm die zweite Lesung der Reformbill herangekommen. Die Gladstonianer versichern bereits, im Hause sei nichts mehr zu hoffen, ohne daß das Volk „agitiere, agitiere, agitiere!". Sie erinnern daran, daß eine Kopie der Bewegung nach dem Muster von 1832, aber ohne Gewalttätigkeiten, die kurze Spanne Zeit bis nach den Osterfeiertagen ausfüllen müsse. Damals habe man ja das Unterhaus mit Petitionen überstürmt, das Budget zu verweigern. Jetzt freilich hätte man am Unterhause selbst zu hämmern, und die Regierung zu schützen: „Bedenkt, die Regierung kann die Schlacht nicht allein ausfechten", so ruft es in sehr bezeichnender Weise heute in den Blättern, die ihre Kraftstellen, da fette Schrift nicht Mode ist, wenigstens mit den sogenannten „italics" („liegenden Schwabachern") drucken. „Das Volk muß die Reform erzwingen, Meetings halten, Petitionen frachtweise einsenden!" „Falls das Volk nicht fordert, emphatisch fordert, in heftiger Weise petitioniert, wird das gegenwärtige Parlament Mittel und Wege finden, seine ihm unangenehme Aufgabe zu umgehen." Der vielgescholtene „Deserteur" Lowe wird, weil er gesagt: „Wollt Ihr Käuflichkeit, wollt Ihr Unwissenheit, wollt Ihr Trunkenheit, wollt Ihr Einschüchterung, wollt Ihr ein jähzorniges, gedankenloses, gewalttätiges Volk, so geht zu den Klassen der jetzigen NichtWähler", wird von einzelnen Blättern „an den Pranger gestellt". Das „Penny Illustrated News Paper" vom Sonnabend bringt sein Porträt in der Robe eines Fellow der Universität Oxford, mit der Unterschrift: „Des Volkes Verleumder" — und ein anderes nennt ihn den „gefallenen Engel der Reform". Dies sind aber noch elegante Worte im Vergleich mit anderen Blumenlesen aus dem Schimpfwörter-Lexikon, und keiner der Reform-Gegner, die bis jetzt ihre Meinung ausgesprochen, entgeht einem Vergleich mit dieser oder jener Spezies aus der Zoologie oder mit den verrufensten Unholden aus den Annalen der Kriminaljustiz. Man veramerikanert sich mehr und mehr in dieser Beziehung. Nur der tausendste Teil dieser Insulten würde in anderen Ländern zu persönlichen Konflikten führen. Doch ein Parlamentsmann weiß, daß er vor allem eine sehr dicke Haut anziehen muß, ehe er sich auf seinen Sitz begibt. „Es geht nichts über Leder!" ist ein vielgebräuchliches Trostwort in den Clubs, wo die Zeitungen ausliegen. Die Tories haben sich bis jetzt meist noch hinter der Front bewegt; denn die Übergänger von der anderen Seite taten die Arbeit, welche zunächst nötig wurde. Man will von dieser andern Seite zur Annahme eines Teiles der Reform persuadieren

653

London, 3. April

und hält das Kommende geheim, da man weiß, daß wer Α gesagt, auch mit dem Β keine großen Schwierigkeiten machen könne, wenn der Wahlzensus von Schottland, Irland und die Veränderung der Wahlbezirke an die Reihe kommen sollte. Disraeli, welcher gerufen: „Man verlangt von uns einen Sprung ins Dunkel", gibt dem toryistischen „Standard" Anlaß zu folgenden zustimmenden Worten: „Solch Vertrauen kann ein unabhängiges Parlament nicht schenken. Solch blindes Vertrauen hat kein englischer Minister, kein Pitt, kein Peel, kein Strafford, kein Chatham, nicht der geehrteste, stolzeste, triumphreichste Staatsmann je von einem Hause der Gemeinen gefordert. Selbst den Liberalen muß es bei so ungeheuerlicher Zumutung vorkommen, als habe ihr langer und unbedingter Gehorsam gegen Lord Palmerston seinem Nachfolger den Kopf verdreht." Man wird ja nun sehen, was in den nächsten vierzehn Tagen in Meetings und Petitionen geleistet werden kann. Bis jetzt siehts noch sehr dünn aus. Es ist meist nur der Nordwesten mit seinem äußersten radikalen Ausläufer Glasgow, wo die Agitatoren der zufriedenen Gleichgültigkeit der Leute hitzige Gefühle abzudrücken sich bemühen. Man karrt noch zu den Frachtwagen voll Petitionen aller Orten zusammen, aber sie wollen durchaus nicht voll werden. — Es wird erwähnt, daß Lord Russell vier Gentlemen „ausländischen Ursprungs" mit offiziellen Ehren und Ämtern ausgezeichnet habe. Forster ist deutscher Abkunft, ebenso Göschen, dessen Großvater ein Leipziger Buchhändler, beide jetzt in Downing-Street installiert; Sir Francis Baring, der Chef des großen Bankierhauses, ist zum Lord Northbrook erhoben und stammt in fünfter Generation von einem lutherischen Prediger aus Bremen ab; Lord Romilly, „Master of the Rolls" jüngst zum Peer erhoben, ist der Urgroßvater eines Wachsbleichers aus der Umgegend von London, welcher als Refugie nach der Aufhebung des Edikts von Nantes aus Frankreich auswanderte. [Nr. 75, 30. 3. 1866]

Good Friday. Die Fenier und Kanada Warum sich Gladstone einen „gesunden Speaker" wünscht p* London, 3. April Z u m ersten Male sind in diesem Jahre hier Versuche gemacht worden, den Karfreitag (good Friday; kein Festtag in England) als einen Tag friedlicher Stille und Beschaulichkeit einzuführen, aber ohne Erfolg, wiewohl

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1866

die Aufforderungen, welche der Erzbischof von Canterbury erließ, allgemein als „sehr würdevoll" bezeichnet wurden. In London erschienen auch zahllose Plakate an den Mauern, welche zu einem Tage der Buße aufforderten; aber sie verfehlten ihren Zweck wohl zum Teil durch eine gewisse „unziemliche Manier", die man ihnen vorwarf und weil es hieß, daß sie von „Sekten" ausgegangen. Unziemlich war es jedenfalls, auf der Gasse die „Leiden auf Golgatha" in Worten zu beschreiben, welche dem Stil moderner Sensations-Romane entsprachen, mit einer Druckschrift, deren riesige Buchstaben in allen Regenbogenfarben schillerten. Will man den Karfreitag, wie wünschenswert, auch hier zu einem heiligen Tage machen, so mache man ihn zunächst zu einem Feiertag. (Bisher war er, in seiner äußeren Erscheinung, ein Arbeitstag wie jeder andere.) Eine solche Änderung würde in wenigen Jahren so gut kirchlich beobachtet werden, wie jetzt die ältere Tradition des Karfreitags in England, die ihn als Werktag ansieht. — In den Artikeln der hiesigen Presse über den Zwist in Deutschland findet man jetzt sehr viel Stoff zur Heiterkeit. Die „Weisheit" eines Editors, welche über deutsche Namen und Besonderheiten stolpert, wirkt unwiderstehlich. Einzelne Toryblätter, wie der „Standard", machen für die gegenwärtigen gespannten Verhältnisse zwischen Preußen und Österreich jemanden verantwortlich, der, was er auch sonst in Sachen Schleswig-Holsteins gesündigt haben mag, doch jene Vorwürfe diesmal nicht verdient. Niemand anders als Lord Russell in der historischen mausfarbenen Staatsweste ist schuld daran, weil er vor einigen Jahren der Kongreß-Idee nicht assistierte. Kaum glaublich, daß Lord Derby, wäre er um jene Zeit am Ruder gewesen, wo alle Welt die französische Idee eines europäischen Allerwelts-Friedenskongresses für eine „wohlwollende" Robinsonade erklärte, anders als mit einem Nein geantwortet hätte, höflicher gewiß, als Russell, aber doch mit einem Nein. Indes im gegenwärtigen Gewühl der Parteien von Für und Wider in Sachen der anscheinend totgeborenen „Reform", wird auch ein Hebel aus der hohen Politik geborgt, wenn andere nicht wirken. — Es ist unwahrscheinlich, daß „Kanada" den Reform-Debatten einigen Abbruch tun werde, auf welche sich alle Parlamentsmänner als Redner oder Statisten vorbereiten. Die Times hat das Publikum mit einem ausführlichen Feldzugsplane der Yankee-Fenier alarmiert, solange es an die Authentizität glaubte. Aber schon heute beginnt man, diesen Plan für einen Puff zu halten. Ein Blatt bemerkt: „Der Fenianismus ist nicht ganz so ohne Gehirn. Wir wollen den Plan nicht gerade einfältig nennen, aber wenn echt, so wäre dessen Enthüllung einem Times-Reporter zuliebe

London, 3. April

655

The Fenian Pest Hibernia: Ο my dear sister, what are we to do with these troublesome people?" Britannia: "Try isolation first, my dear, and then — ."

eine solche D u m m h e i t , d a ß deren auch ein fenisches

Haupt-Zentrum

nicht w o h l fähig w ä r e . " Im allgemeinen läßt sich sagen, man ist sich in England noch nicht klar, o b man diese G e f a h r unterschätzt oder überschätzt. In ersterer R i c h t u n g gehen die Instinkte J o h n Bulls, der sich nicht so leicht von den Karikaturen „ P u n c h s " loßreißen k a n n , die alles Irische eo ipso als etwas Schildbürgerliches behandeln. Es ist dies ein psychologischer Z u g im Engländer, der vielleicht erklären hilft, w a r u m das angelsächsische und das keltische E l e m e n t in Britannien sich i m m e r aus dem Wege zu gehen sucht. L a c h e r und k o m i s c h e Figur sind im Leben selten gute Freunde — namentlich wenn die K o m i k in irgendeiner Verkrüppelung

oder

sonstigem

Gebrechen

gefunden

wird.

Gladstones

Freunde wünschen diesem für die bevorstehende R e f o r m s c h l a c h t einen „recht gesunden M i s t e r S p e a k e r " . Es ist b e m e r k t w o r d e n , d a ß G l a d s t o n e der moralischen A u t o r i t ä t ermangele, das Unterhaus in O r d n u n g zu erhalten, wenn der „ S p r e c h e r " zu H a u s e bleiben m u ß . N o c h kurz vor den

1866

656

Ferien geriet das Haus drei- oder viermal in große Konfusion. Der zeitweilige Vertreter des kranken „Sprechers" konnte es nicht zu rechtem Einfluß bringen, und Gladstone geriet in Verwirrung. M e h r als einmal stritten sich Parlamentsmänner um das Wort und erhitzten sich etwas unzeremoniös in gegenseitigen Artigkeiten. Gladstone verließ sich auf den Vertreter des Sprechers und dieser auf Gladstone. Beide saßen wie angenagelt auf ihren Sitzen sprachlos und regungslos. Diese M o m e n t e ergriffen Disraeli

wie eine Reminiszenz besserer Tage, wo er ganz anders

Autorität als „Führer des Unterhauses" ausübte. Wenige Worte von ihm genügten, um die Gemüter zu besänftigen. M a n hat ein sehr scharfes Auge für solche Beobachtungen, und diese kleinen, aber bezeichnenden Vorfälle haben heute in Leitartikeln Anlaß zu einem Vergleiche Gladstones mit Disraeli als „Führer des Unterhauses" gegeben. Dieserhalb wünschen

Gladstones Freunde diesem im kommenden

Melee

einen

„recht gesunden Mister Speaker" zur Seite. Wo es sich, wie bei der schließlichen Abstimmung, um ein mehr oder weniger von nur 16—20 Stimmen

handeln dürfte, sind solche Disziplinfragen nicht ohne Wichtig-

keit. [Nr. 79, 6. 4. 1866]

John Bright „this fellow" Die Meetings und die ehrliche Bill Die Radikalen in Siebentaler-Hüten. Bau-Curiosa p* London, 10. April This fellow! — Dieser „Bursche!" so wird jetzt J o h n Bright im „Stand a r d " aufgeführt. Der Ausdruck ist kein gewählter, aber Bright hat in den letzten Tagen den ausführlichsten Beweis gegeben, daß er keine „demagogische G r ö ß e " ist; denn er spielt Komödie. M i t solchen Arrangements gaben sich ehemals Ädilen ab, die großen Maitres de plaisir der alten Zeit, aber nicht die Tribunen. Die Reform-Bewegung in den parlamentarischen Osterferien war eine völlig krampfhafte, berechnet, dem großen Publikum Sand in die Augen zu streuen, ein „Mittelchen zum Z w e c k " und Bright gab seine Dienste dazu her. Meetings, als groß und allseitig ausgeschrien, waren in Wirklichkeit nur spärliche an manchen Orten und das weibliche Staatsbürgertum, das in J o h n Stuart Mills Zukunftsstaat eine solche Rolle spielt, war sehr zahlreich vertreten. Unterschriften zu Monster-Petitionen sind zusammengebracht worden von

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L o n d o n , 10. April

Leuten, die selbst, wenn die Reformbill Gesetz würde, noch außerhalb des Wahlrechts stehen würden, von solchen, die für einen Pot Ale ihren werten Namen unzählige Mal kritzeln, falls es verlangt würde. Augenscheinlich waren sogar die Agitatoren knapp; denn es sind immer nur die schon bekannten britischen Schutzes und Müllers „auf Reisen". Nur im Norden und in den Fabrikdistrikten des Mittellandes kam es zu einem größeren Schauspiel; an den meisten anderen Orten wurde die Reform mehr als Familienszene zwischen Mayor, Aldermen und anderen verschwägerten Ladenbesitzern aufgeführt. Die Partisane der Regierung tun ihr Äußerstes, um die Windstille loszuwerden; der „heraufbeschworene Sturm" gleicht dem Windstoße, den Münchhausens Bläser in der bekannten Manier bewirkte 1 4 . Mehr als die Hälfte der Sprecher beginnen mit der Einräumung, daß die Bill nicht viel wert sei, aber sie sei ganz „ehrlich". Die „ehrliche Bill", dies ist der Name, den Bright dafür erfunden. Allen Einwänden wird immer die Entgegnung: „Ja, aber sie ist ehrlich." Also ehrlich, weil die Erfinder erst „hinhorchten" und die „Stimmung des Unterhauses" probierten, bevor sie dieselbe aufsetzten; ehrlich, weil sie viele zum Votum verführt, die anders denken würden, wüßten sie erst den ganzen Plan; ehrlich, weil man das Ende versteckt hat; ehrlich, weil aus einer Bewegung hervorgegangen, die von Anfang an eine Komödie gewesen. Übermorgen ist der zwölfte April (wo im Unterhause der Antrag auf die zweite Lesung gestellt werden soll). Mit Ausnahme Disraelis hat noch kein Konservativer von Namen gesprochen. Es ist schon vor Beginn der Schlacht soviel Staub aufgewirbelt, daß sich die Schlachtreihen nicht deutlich erkennen lassen. Gladstone hat das Glück, den Sprecher des Unterhauses wieder auf seinem Platz zu sehen, den man gestern mit Cheers begrüßte und ihm eine Art Trikliniums errichtete, um in halb liegender Stellung das Haus zu regieren. So kann es sich fügen, daß Gladstone mit anderthalb Dutzend Stimmen Majorität ein Loch in den Fußboden des Hauses der Gentlemen schlägt, um die große Menge in den „anständigen Saal" brechen zu lassen. Es kann von einem Paar Irländern oder Schotten abhängen, für deren Land die Bill gar keine Bedeutung hat, ob in England hinfort der Gentleman oder der Proletarier auf den Wahlplätzen die größeren Aussichten haben wird. Solange freilich britische Parlamentsmänner sich nicht Diäten bestimmen, müßte auch der Radikale unter ihnen ein „Mann von Kassa" sein. Nicht nur 14

G . A. Bürger Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande Münchhausen ( 1 7 8 6 ) , Fünftes See-Abenteuer.

des Freyherrn

von

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1866

Mr. J . A. Roebuck, Μ . P., as He Appeared in the House of Commons

Wahlen sind teuer, und würden unter der Reformbill noch viel teurer werden, da mehrfach und namentlich in Arbeiterdistrikten sich die Wählerschaften verdrei-, ja versechsfachen würden, sondern die Ehrenausgaben sind während der sechs oder sieben Jahre so groß, daß der „Demokrat mit dem großen Bart" und „weiter nichts" sich höchst geniert fühlen würde während der Saison in London. Aber auch eine kleine Zahl von Radikalen mit Guinee-Chapeaux könnten als „manierliche Volksfreunde" von großem Übel werden; schon wenn sie nur pünktlich kommen, wo die andern zu Hunderten fehlen bei großen Organisationsfragen. Roebuck gilt für einen armen Parlamentsmann, aber das sind Ausnahmen und Roebuck hat großes Talent. Als Mann „von keiner Partei"

London, 10. April

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ist er jedoch unberechenbar und man kann es mit seiner sonstigen Abneigung gegen gemeinsame Aktionen nicht reimen, wenn er in Sheffield in einen Panegyrikus für die Bill ausbrach und Phrasen hinwarf, wie die sehr unpassende: „Ich will diese Bill standhaft unterstützen und mit der Gnade Gottes werden wir sie durchsetzen!" Von Irland aus sind an irische Mitglieder des Unterhauses Adressen ergangen, ihr Votum sich von der Regierung „abkaufen" zu lassen, d. h. mit bindenden Versprechungen hinsichtlich der Grundbesitzer- und Pächterfrage in Irland. — Viel ironische Bemerkungen ruft die Unbeweglichkeit des großen fertigen Panzerschiffes „Northumberland" hervor, das noch den „Great Eastern" an störrigem Temperament übertrifft. „Wir bauen Schiffe, die nicht in See gehen wollen", bemerkt ein Blatt, „und das ist nur eine typische Charakteristik unseres Verfahrens als Nation." Es werden andere Beispiele und Curiosa angeführt, die in der Tat an die architektonische Geschicklichkeit der Schildbürger erinnern, welche die Fenster vergaßen und die Sonnenstrahlen in Säcken in das Haus zu tragen versuchten. Ich zitiere aus englischen Quellen. Der Erbauer des Parlamentspalastes hatte eine große Reihe von Nischen für Statuen offen gelassen. Da diese Statuen praenumerando bezahlt wurden, sind sie erst jetzt fertig geworden, wenn auch nicht alle. In letzter Woche ging man an die Aufstellung und sämtliche Figuren erwiesen sich als zu groß für die Nischen. Kürzlich wurde ein Theater im Westend eröffnet. Vorher erschienen die Unternehmer und Aktionäre, um sich gegenseitig zu gratulieren. Der Baumeister hielt eine schöne Rede von den Lampen aus und wies namentlich auf die „Galerie" als sehr räumlich und bequem und eine Zierde des Hauses. Alle wollten sie sehen — aber man hatte Treppen und Türen vergessen. Die Wellington dedizierte Statue ist noch immer nicht fertig, obwohl die vor der Bank in der City stehende schon schwarzen Rost angesetzt. Beide waren zu gleicher Zeit bestellt. Aber man bezahlte den Modelleur in letzterem Falle praenumerando, und nur ein einziger hat dem Parlamente die Versicherung geben können, er habe davon gehört, jemand habe das Modell beinahe fertig gesehen. Das Parlamenmt beschloß, dem Künstler noch einige Muße zu gönnen. Auch die vier Löwen am großen NelsonDenkmal, im voraus bezahlt, sind noch nicht „kenntlich" im Atelier des Künstlers, der, jetzt schon ältlich, die Ordre als Mann in den besten Jahren empfing. Der erste Löwe wurde, aber ohne Kopf und Schwanz, jüngst ausgestellt, als ein Beweis, was siebenjährige Ausdauer vermag! Niemand wird den Engländern viel praktisches Talent oder talentvolle Praxis absprechen wollen; indessen würde auch der vielgeschmähte

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„kranke M a n n " am Bosporus Erkleckliches leisten, so er Geld genug hätte, um neunzig verfehlte Experimente anstellen zu können, ehe „es glückt". Alte Seemänner schelten auf die neuen Erfindungen, welche ihnen „ d a s gute Schiff in einen Eisenkasten verwandeln wollen", und der „ S t a n d a r d " macht sich zu ihrem Organ, wo eine trübselige Liste von Schiffsunfällen lediglich den neuen patentierten Erfindungen zugeschrieben wird; denn „bis jetzt habe die moderne Wissenschaft, anstatt die Gefahren zu vermindern, nur deren neue geschaffen". [Nr. 86, 14. 4. 18661

Reformbill und Derby-Rennen. Eine „Kunst des Arretierens" Gladstones üble Laune. Wie die Partie steht p * London, 17. April „People look already a little h o r s y " beginnt man zu sagen. „ D i e Leute sehen schon ein wenig pferdemäßig a u s " , in etwas schiefer Übersetzung. Die Reformbill und die 2000 Guineen, welche auf dem nächsten DerbyRennen zu gewinnen sind, sollen die englische Kolonie zu Paris sehr gelichtet haben. Es sind viele Hunderte von Engländern von dort angekommen, die lange nur durch das Scheck-Buch mit ihrem Vaterlande oder vielmehr seinen Bankiers in Verbindung gestanden, aber durch den Eifer, mit welchem die französische Presse „la Reform-Bill" traktiert, augenscheinlich um unser Wohlergehen etwas besorgt geworden sind. Vielleicht haben aber die Vorrüstungen auf die großen Wettrennen, ungeachtet der vier Wochen Frist bis dahin, mehr Anteil an dieser plötzlich erwachten Vaterlandsliebe, als die Politik und ihr parlamentarisches Schwungbrett, von welchem jetzt in der Debatte, was man in der Schwimmkunde „Hechtsprünge" nennt, Tag für T a g unternommen werden. Wie die Agitatoren es möglich machen, Abend um Abend soviel nüchterne NichtWähler unweit des Parlamentsgebäudes zusammenzubringen, ist ein Rätsel. Sie sollen zum „wohltätigen D r u c k " dienen, und bis jetzt ist es der Polizei gelungen, wo der künstliche Enthusiasmus allzu natürlich ausfallen sollte, durch energische Aktion Ruhe zu stiften. Die Methode dabei ist unwiderstehlich. Fünf Policemen legen H a n d an den Störenfried, vier bemächtigen sich seiner Arme und Beine und der fünfte kneift ihm in die obere Magengegend. Im N u ist er vom Erdboden gehoben und wird — die Front des lieben erfreuten Publikums entlang — in

L o n d o n , 17. April

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New Palace-Yard on the Day Mr. Gladstone Moved the Second Reading of the Reform Bill

irgendeine stille Ecke getragen. Ich sah am Freitage diese Methode so oft ausgeführt, daß ich seitdem an eine Kunst des Arretierens zu glauben angefangen. Nichts entwaffnet einen englischen Haufen schneller, als ein komischer Vorfall, und mehr als einmal ist bei früheren ernstlichen Tumulten in jener Stadtgegend ein „ A a l " von magischer Wirkung gewesen, der, von einem Freunde der Ordnung in die Massen geschnellt, unter allgemeinem Jubel von Hand zu Hand geschleudert wurde, bis der „Zorn des Volkes" verraucht war. — Es läßt sich noch nicht sagen, ob in der entscheidenden Reform-Nacht dieses Mal wieder Aale notwendig werden sollten. D a ß es an Cheers für Bright und Gladstone nicht fehlt, sowie an Zischen und Gegrunze, wenn Mr. Lowe sich in das Haus begibt, ist erklärlich. Gladstone

gewinnt bei der Masse, was er im Hause

verliert. Er kann nimmer ein „Führer des Unterhauses" werden, wie be-

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1866

rühmte Staatsmänner vor ihm. Er hat nicht Selbstbeherrschung genug, und selbst seine Freunde, die sonst jeden hellen Fleck an ihm so blank wie möglich polieren, schütteln den Kopf über die Manier seiner letzten Rede, wo er mehrfach ärgerlich wurde, die Ruhe verlor und Persönlichkeiten auf Persönlichkeiten häufte. Das tat Palmerston selten, und dann mit Humor. Riß ihm die Geduld einmal, so kam es wohl zu solchen Worten: „Ich fühle mich beinahe gereizt durch den Gentleman" — worauf der Gentleman, meistens Bernal Osborne, gewöhnlich antwortete: „Nun, dann seien Sie gereizt." Allgemeine Heiterkeit folgte. An Osborne, beiläufig bemerkt, hat das neue Parlament manches verloren. Wenn früher Sitzungsberichte ein „Lachen" verzeichneten, war das meist Osborne, und das H a u s hat solche Leute gern, deren Lachen in höchstem Tenor auf das Haus unwiderstehlich wirkt. Daß bei den jetzigen Debatten schon der tiefere Ingrimm auf beiden Seiten sich fühlbar macht, beweisen die vielen Verstöße gegen das parlamentarische Herkommen. Bisher nannte nie ein Mitglied das andere bei Namen, sondern man kannte einander in der Debatte nur als „das ehrenwerte Mitglied für -shire usw". In diesen Tagen und gestern redete man einander mit Namen an und direkt mit „Sie". Gladstone ist wohl immer übelgelaunt in DowningStreet, wenn er Deputationen anredet, jetzt ist er es aber auch im Parlamente und sieht blaß und sauer drein, die allermißlichste Weise, im Hause etwas durchzusetzen. Eine Klasse im Volke spricht sich sehr bestimmt gegen die Bill aus, und das ist von Gewicht, weil diese Leute am nächsten den Arbeiter kennenlernen. Ich meine die kleinen Arbeitgeber, welche, wie das Publikum im allgemeinen, durch den „immer mehr fordernden" Arbeiter tyrannisiert werden, sei es um höheren Lohn, mehr Freistunden, gut Geld für nachlässige Arbeit usw. Diese kleinen Meister und Arbeitgeber erklären, daß die Bill auf das Disziplin-Verhältnis im Laufe der Zeit von beklagenswertem Einflüsse werden müßte, „schlimmer als allgemeines Stimmrecht, denn der Übermut der Arbeiter liebe es, Leute zu sehen, die weniger Rechte als er (der Arbeiter) haben". Die dem Kabinett freundlichen Blätter versuchen einen kleinen Druck auf die „Zauderer" im Hause auszuüben, indem sie einstimmig versichern, es sei die Absicht, das Unterhaus auf alle Fälle aufzulösen, ob die Bill durchfalle oder mit kleiner Majorität Gesetz werde. „Nur, wenn die Majorität eine glanzvolle, würde davon Abstand genommen werden. Ist aber die Majorität eine winzige, so ist es besser, nach dem neuen Wahlgesetz ein neues Parlament zu schaffen, wo die Opposition nicht so stark vertreten, als im gegenwärtigen Hause." Dies hat den Zweck, auf die 83

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London, 25. April

Zweifelhaften zu wirken. Bis jetzt (diese nicht eingerechnet) stellt sich die Partei Gladstones und die der Antireformers, mit Einschluß der sogenannten liberalen „Deserteure" von hüben und drüben auf 2 5 0 — 280. Es hängt davon ab, wie sich die „Abpaarungen" stellen und jene 83 teilen werden. Die Zahl der angefochtenen Wahlen ist noch über 40. Was die Advokaten und Parlaments-Agenten dabei „verdienen", mag das eine Beispiel der Wahl für Nottingham beweisen. Sir Robert Clifton hat seine Wahl zu verteidigen. Die Unkosten sind so enorm, daß sie ein Pfund Sterling für die Minute betragen. Sollte die Reformdebatte sich sehr in die Länge ziehen, können Wahl-Annullierungen und Neuwahlen die Ziffer für und wider noch wesentlich verändern. Merkwürdig ist, daß verschiedene Ex-Parlamentsmänner, Osborne darunter, soeben Adressen an Wähler dieser oder jener Stadt erlassen und sich als Kandidaten für das neue Parlament gemeldet haben, „da eine Auflösung des jetzigen vor der Tür stehe". Das heißt etwas früh anfangen. [Nr. 92, 21. 4. 1866]

Zur Reform-Debatte. Die mystifizierte Times Die Fenier und der Marquis v. Boissy Der O'Donoghue of the Glens ρ* London, 25. April Also Donnerstag oder Freitag, wie alle Welt hofft, in dieser Woche wird diese endlose Reformdebatte ihr Ende erreichen, oder doch das erste Ende; noch andere Enden kommen nach. Die Ungeduld zahlloser Parlamentsmänner, die, ganz neu im Hause, ihre Maiden-Speech (JungfernRede) bei so dankbarer Gelegenheit zu halten wünschten, hat wohl Schuld an dieser Redseligkeit. Manche der Größten sind schon heiser. Bright sprach gestern zwei Stunden mit einem entschiedenen April-Katarrh. Es macht das wenig aus bei Rednern; denn die Hauptsache ist, wie sich die Reden in den Zeitungen ausnehmen. Bei manchen ist es nur dem Genie des Reporters zu verdanken, wenn mitunter Sinn in die Rede kommt. Die meisten Reden lesen sich gut; aber eine Rede, die sich gut „liest", war oft eine schlechte Rede. Bright hat das Glück, beide Proben zu bestehen. Er spricht „derbe Hauptsätze" auf Meetings, und feines Englisch im Hause, um das ihn die Vornehmsten beneiden. „Freiheit lehrte ihn athenische Sprache", sagt man von ihm 1 5 — Studium hat wohl 15

Vgl. Κ London, 16. Juni 1 8 6 9 .

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mehr dafür getan. Er ist heiser und andere mehr von den Reformers. Doch auch das macht nichts aus. Abstimmungen werden in den Clubs fertig gemacht, und öffentliche Debatten sind nur Entschuldigungen für die Entscheidung vor den Augen der Welt. Ich habe die Prophezeiung gewagt, daß (falls überhaupt) die zweite Lesung der Bill mit etwa anderthalb Dutzend Voten durchgehen werde. Fünfzehn war gestern die Ziffer der Hoffnung. Heute werden schon Wetten gemacht auf weniger, und weniger als nichts sogar. Nach den Eingeständnissen liberaler Blätter mehren sich die „Desertionen" noch. Machte überhaupt ein Engländer die Geschicke seines Vaterlandes zum Gegenstande einer Wette, so riskierte er wenig, die Auflösung des Parlaments in der Proportion wie 3:1 voraussagen zu können. Geschähe aber auch das Unwahrscheinlichste, ginge die Lesung mit einer glänzenden Majorität durch, so kommt dann noch die Periode der Beratung „im Comite". Dies C o m i t e ist das ganze Haus. Es hat seinen ständigen Comitepräsidenten wie seinen Sprecher. Dieser räumt den Stuhl dem ersteren, sowie sich das Haus für Detailberatungen zum Comite konstituiert. Ein einfacher Akt. Die „ M a c e " , eine Art langstieligen Parlamentsszepters, wird vom Tische genommen und unter dem Tisch versteckt. Dadurch wird das Unterhaus zum Comite; wird er wieder hervorgeholt, so besteht das Haus wieder als Haus. Wer im Comite Nein gesagt, kann im Hause J a zu demselben Punkte sagen. Das Haus als Comite kennt das Haus als Unterhaus gar nicht. Niemand ist an seine Aussprüche als Comitemitglied gebunden. Es ist dies eine der merkwürdigsten Fiktionen. — Die Times hat zum ersten Male ein Mißverständnis, einen „ B o c k " , eingestanden. Sie wurde von einem unbekannten Spekulanten düpiert und, da nichts anderes mehr hilft, gesteht sie endlich ihr Unrecht ein. Es bezieht sich dies auf die fingierte Depesche über die Abreise des preußischen Gesandten von Wien und des österreichischen von Berlin. Hier währte die Panik nur einige Stunden. Die Amerikaner werden übler daran sein. Jene Ausgabe der Times erschien gerade am Tage des Abganges der Post nach New York, die, mit den schnellsten Cunard-Steamers entsendet, um drei bis vier Tage jeder nachgedampften Berichtigung voraneilen, also die nervösen Börsen der neuen Welt in Krämpfe versetzen wird. Die übrigen Blätter machen den Editor der Times darauf aufmerksam, daß wirkliche ministerielle „Mitgeteilts" in England nicht mit der Groschenpost verschickt werden, daß Depeschen vom Auswärtigen Amte dessen Stempel tragen und im allgemeinen Staatssekretäre sich nicht damit amüsieren, sich in verschiedenen Handschriften zu üben. Einige Kenntnis von diesen Dingen hätte die Times

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London, 2 5 . April

vor der seltenen Reue schützen können. — Die Schwierigkeiten, denen Präsident Johnson in Nordamerika begegnet, würden zu anderer Zeit hier Mißstimmung hervorgerufen haben; aber für den Moment dienen sie mehr als Beruhigungsmittel. Ein Blatt sagt: „Die neue Krisis, welcher die amerikanische Republik entgegengeht, macht eines sicher, daß man dort nicht Sinn und Zeit dafür haben wird, den Feniern in ihren Absichten auf britisches Territorium Vorschub zu leisten." Man hört übrigens, daß die Fenier Agenten an die Seeküste ausgeschickt haben, um es wegen der Fischereirechte zwischen amerikanischen und kanadischen Fischern zu einem Gewaltakt zu bringen, der seine Wirkung in New York nicht verfehlen solle. Der Marquis de Boissy war hier nie beliebt, wie man sich wohl denken kann. Neuen Anlaß zur Mißstimmung hat derselbe dadurch gegeben, daß er das Fenierhaupt James Stephens zum Diner eingeladen, zugleich mit Ollivier, Villemessant und de la Rue. Dieses Fetieren von Stephens in Paris ist nicht ganz ohne Bedeutung. Es ist ein Beweis, wie gründlich einander der Franzose und Brite „nicht mögen". Dennoch, im umgekehrten Falle, würde der Brite solche Demonstration gegen den Nachbarn nicht machen. Zu bloßem Komödiespielen (die Garibaldi-Komödie? D. R ) in ernsten Dingen findet er nicht die Zeit, wenn es keinen anderen Zweck hat, als zuzeiten des Friedens dem andern Teile „kleinen Ärger" zu bereiten. — In Irland ist der letzte Rest einer der ältesten, tausendjährigen, Herrschaften unter den Hammer gekommen, die „der O'Donoghues of the Glens" (der O'Donoghues von den Tälern), und um eine geringfügige Schuld von 12.000 Pfd. Sterling. Der „letzte E r b e " ist „der O ' D o n o g h u e " im Unterhause, erst 34 Jahre alt. In Irland, wo noch die alten Clansgefühle lebendig, werden ihm vom Volke fürstliche Ehren gegeben. Erschien er bei Wahlen und ein Gegenkandidat wollte sich geltend machen, so rief man: „Schweigt doch! der O ' D o n o ghue ist da. Er ist ein Prinz, unser Prinz von den Tälern." In sechs „lots" (Stücken, Losen) wurden die alten Gründe in letzter Woche verauktioniert. Käufer waren einige vom „neugebackenen Adel" ohne Halt an der Geschichte des Landes, deren Ahnen zum Teil noch leben und im Comtoir und in der Advokatenperücke Geld gemacht haben. Es sind meist Parlamentskollegen des O'Donoghue. Fünf „lots" waren schon dahin, da rettete man das sechste für ihn. Seine altangesessenen Clansleute legten ein Veto ein und haben ihre Ersparnisse zusammengebracht, um diesen letzten Rest für ihren „Chieftain der alten Tage" zu kaufen. [Nr. 9 8 , 2 9 . 4 . 1866]

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1866 Sieg und Niederlage. Bestechungsgeschichten Galdstone. Dänemark und Österreich

p* London, 1. Mai Die moralische Niederlage des Kabinetts ist unleugbar durch jene fünf Stimmen dargetan, mit denen es in der Reformdebatte gesiegt hat. Cäsar und Pompeius sollen sich sehr ähnlich gesehen haben, namentlich Pompeius. So ist es auch in diesem Falle mit Sieg und Niederlage. Auch den größten Reformschreiern blieb die Selbstgratulation in der Kehle stekken, die großen Kanonen der Demokratie versagten den Schuß, die ToryJournale verwiesen in ihren Leitartikeln kühl auf den Parlamentsbericht und ohne mehr als einen kurzen Vormittagsschlaf nach der um 3 Uhr morgens endenden Debatte genossen zu haben, beeilten sich die Minister am Sonnabend mittag zu Rate zu gehen, ob „bleiben oder nicht?" Bleiben — soll die Parole gelautet haben. Russell bleibt immer — er hält am Stuhle oder der Stuhl an ihm. Fünf — sage fünf — Stimmen! Es ist weniger, als die Verzagtesten vorhersagten. Fünf Stimmen mag eine Rolle spielen im Koburger Landtage. Hier aber teilten sich 635 in fast gleiche Hälften und maßen sich. Nur 27 Mitglieder fehlten! Die Whippers-in müssen Arbeit gehabt haben! Nur eine Abpaarung fand statt zwischen Roebuck und einem Tory. Von Liberalen fehlten 6, von Konservativen 3. Wahlvakanzen waren 11. Es ist selten, daß so viele sich das Haus einmal von innen ansehen, selten, daß so viele ihren Kaffee auf den Pariser Boulevards kalt werden lassen. Von Konservativen stimmten 2 für das Kabinett, von Liberalen waren ihm 33 desertiert. Im Moment, als die Ziffern bekannt gemacht wurden, erhoben sich die „Geschlagenen" — die Konservativen von ihren Sitzen, schwenkten die Hüte und ließen jene unbeschreiblichen englischen Cheers ertönen. Der moralische Sieg war gewonnen. Als Gladstone das Haus verließ, im Morgengrauen, stand Publikum noch Kopf an Kopf in der den großen Ausgang bildenden Westminsterhalle. Cheers „dankten ihm" — aber unaufhörlich klang es wie Spott durch das Getöse „nur fünf!" — „Only five!" in höchsten Fisteltönen im Gewühl der überwachten „Mitbürger". Der „Daily Telegraph" schreibt: „Vor dem Risiko einer neuen Kabinettsbildung ist die Nation dennoch bewahrt — für den Augenblick!" Dieses Organ, Eigentum eines gewissen Levi (Englisch Liwei), wird in Downingstreet protegiert, seit die „Times" grollt, und kann mitunter, wie einst ein Berliner Bankier sagte, „die Kurse riechen". Wären nicht die fatalen Wahlvakan-

L o n d o n , 1. Mai

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zen eingetreten, so wäre das anderthalb Dutzend Voten für GladstoneRussell voll gewesen. Jene Vakanzen haben ihre fatale Geschichte. Von den eilf Vakanzen fallen zwei auf Tories, neun auf verstoßene Liberale, solche, die wegen Wählerbestechung ihres Sitzes unwürdig erklärt worden. Bis heute sind die Entsetzungen von Regiergungsfreunden schon auf zwölf gestiegen. Und nicht weniger als 4 4 Wahlorte stehen unter der Anschuldigung der Bestechlichkeit. Das ist Wasser auf die Mühle für die Anhänger des „ B a i l o t s " 1 6 , der geheimen Stimmabgabe. Im Jahre 1848 hat ein Taler irgendwo in Deutschland manchen Clubbisten in Attraktion genommen. Hierzulande tut's eine Fünfpfundnote. Die „Sunday Times" bemerkt, mit einer Auflösung des Unterhauses besteuere Gladstone jeden Parlamentsmann um 1000 Pfund Sterling, als dem Minimum persönlicher Ausgaben für die Neuwahl. „Machen Sie es billiger! Sichern Sie sich eine Majorität im Hause. Statt aufzulösen, lassen sie dreißig Mitgliedern je einen Cheque über 1000 Pfund zustecken und die Sache ist gemacht mit 3 0 . 0 0 0 Pfund Sterling und spart den anderen eine halbe Million an Neuwahlkosten. Billiger kann man eine Reformbill doch nicht haben." Dieses nennt das Blatt „einen zarten respektvollen W i n k " . Ein anderes konservatives Wochenblatt schließt seine Betrachtung also: „Gladstone hat die Probe als selbsterwählter Führer des Unterhauses schlecht bestanden. Übellaunig und anmaßend, hochmütig und ungeduldig, persönlich verletzend und ohne Festigkeit hat er viele im Hause ahnen lassen, daß innerhalb des goldenen Apfels vieles faul. Seine Führung des Hauses ist zu Ende. Was zunächst? Die Reformbill ist zum Tode verurteilt und die einzige Frage ist, ob die Minister mit Anstand resignieren oder übermütig über dem Grabe ihres Kindes weiter fechten wollen. Darüber werden wir vielleicht noch Montag abend etwas Näheres wissen." (Sie werden weiter fechten.) — Mehrere Tory-Blätter, unter anderen der „Standard" nehmen von der jetzigen Lage der Dinge in Deutschland Anlaß, Palimpseste zu schreiben, d. h. die alten Leitartikel über das Dänemark von Preußen angetane Unrecht in frischer Querschrift aufzutuschen. Weit vom Schuß legen sie sich auf das, was man vulgär „hetzen" oder „putschen" nennt. So schreibt der „Standard" gelegentlich einer Kritik über die Demobilisierungsfrage: „Wenn Österreich den preußischen Depeschen nachgibt, so kann es sich darauf gefaßt machen, nicht mehr als eine deutsche Macht angesehen zu werden." Die alten Widerhaken von Düppel her stecken noch tief im Fleisch und wa16

Vgl. Anm. zu Κ L o n d o n , 28. Februar 1863.

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ren nur rostig geworden. Andere applaudieren Dänemark, angeblich weil es Hoffnung habe, „vielleicht noch wieder zu einem Stück des geraubten Landes zu kommen, so es in der Ostsee mit Österreich Kiel bei Kiel gehe". Mich wundert, daß Wiener Journale, die mit dicken Worten am liebsten Preußen aus der Welt schaffen wollen, noch nicht sich an diese englischen Quellen gesetzt haben als straußwindende Knaben. — Nach der neuesten ostindischen Post ist dort zum ersten Male seit Bestehen der englischen Herrschaft ein Gebet für die Königin Victoria in einem indischen Bethause verlesen worden. Das war zu Lahore bei der Einweihung jenes Bethauses, welches den Hindus von der englischen Regierung zum Geschenk gemacht worden! In jenem Gebet wird Ton darauf gelegt, daß die britische Herrscherin Sieger geworden „über die Könige von Arabien und den Rest der Welt". — In Bristol ist ein Fall asiatischer Cholera vorgekommen. Ebenso brach an Bord eines 1300 Passagiere führenden Schiffes, das von Liverpool nach New York bestimmt war, die Cholera aus, der 240 zum Opfer fielen. Das Schiff hat in Halifax anlegen müssen. Deutschen Auswanderern schreibt die Presse die Schuld der Einschleppung zu. Dennoch war Liverpool cholerafrei. [Nr. 103, 5. 5. 1866]

Geldsorgen. „Poor Credit is dead" Das Kredit-mobilier-Prinzip Rechnung „ohne den Hauswirt". Ernennungen p* London, 30. Mai Die deutsche Kriegssorge übersetzt sich für uns „auf unserer sichern Insel" in Geldverlegenheit. Wir haben unsere Panik gehabt und erst seitdem blickt das größere Publikum über den Kanal hinüber. Die großen Worte vom festgegründeten Reichtum Englands, so lange in der Presse gebraucht, hatten jene Volksklassen, die zunächst vom Handel und Wandel berührt werden, felsensicher gemacht. Aber was man über Schenktischen in ländlichen Wirtshäusern hier liest: „Poor Credit is dead" (der arme Bursche Kredit ist tot), das ist zur großen Wirklichkeit geworden. Trotz des Goldstaubwirbels, den ein Teil der Presse aufwirft, hat die Aufhebung der Bankakte, d. h. das der Bank von England gegebene Privilegium vermehrter Notenausgabe, nur „moralisch" und momentan gewirkt. Bis jetzt hat die Bank von der Vollmacht noch gar keinen Gebrauch gemacht. Sie soll den „moralischen Eindruck", den der Besitz

L o n d o n , 30. M a i

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T h e Panic in the City: Scene in L o m b a r d - S t r e e t

solcher Vollmacht ausübe, f ü r genügend erachten, der Krisis einen D a m m entgegenzustellen, und sie f ä h r t fort, ihr „Vertrauen" auf das äußerste M i n i m u m zu b e s c h r ä n k e n . Ein Blatt sagt: „Das lähmt den H a n del sichtlich. Die Bank hat M a c h t genug, zu verhindern, d a ß irgendein reelles H a u s falle, nur aus Mangel an rechtzeitiger U n t e r s t ü t z u n g . " Bei einem einzigen Richter sind seit gestern nicht weniger als 22 FinanzK o m p a n i e n u m Erlaubnis zum Eingehen e i n g e k o m m e n , gar nicht zu rechnen, w o angstvolle A k t i o n ä r e solche Prozedur b e a n t r a g e n , um d o c h noch die Planken des brechenden Schiffes verwerten zu k ö n n e n . Der C o u r t of Chancery, welcher solche Insolventen a b t u t , k a n n gar nicht schnell genug v e r f a h r e n , um der Rache des erbitterten P u b l i k u m s zu genügen. Die Gerichtshöfe des Masters of the Ralls und des Vice-Chan-

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18 66

cellors sind überfüllt mit Petenten, „diese oder jene Kompanie auseinander zu wickeln" (to wind up). Es sind dies meist „limitierte Gesellschaften", solche — wo die Aktionäre nur bis zur Höhe ihrer Aktien für Schulden der Gesellschaft herangezogen werden können. Sieben Bummler können in England eine Finanz-Gesellschaft „limited" bilden. Sie haben nur einen Prospectus zu entwerfen, den Namen der „Bank" zu registrieren, — besitzen die Sieben auch jeder nur gerade soviel, um für den nächsten Monat Wohnung und Kost berichtigen zu können. Ein verarmter Lord oder ein habgieriger Geldmann von Rang wird durch eine „Beteiligung in Aktien" vermocht, seinen illustren Namen auf den Prospectus zu setzen, und die Aktienzeichnungen beginnen. Kleine Leute aus der Provinz werden zumeist die Opfer, die dann angstvoll an die Türen klopfen, wenn diese eines Tages vom Bank-Pedellen geschlossen werden, um sich nicht wieder zu öffnen. Viel Schuld an der jetzigen Krisis hat der Umstand, daß der Credit mobilier sich in das „solide England" eingeschlichen, unter allerhand honetten Namen, was er jahrelang vergeblich versuchte. Ich meine nicht speziell den Pariser Credit mobilier, sondern nur die Sorte im allgemeinen. Durch hohe Dividenden, durch Verzinsung sogar monatlicher Geldeinlagen, verleitete man den kleinen Kapitalisten, seine Habe der „gefräßigen Gewissenhaftigkeit" von Wallfischen anzuvertrauen. Man hatte lange das System „limitierter Gesellschaften" als den wahren „Blumenkohl" des freien Handels begrüßt, schreit heute aber nach gesetzlicher Kontrolle, „die kein Erbarmen kennen müsse". Am meisten leidet der Kleinhandel unter der Panik, weil diese zur allgemeinsten, strengsten Ökonomie geführt, ein Akt der Notwehr, und der besten jedenfalls, auf Seiten des Publikums. Ich weiß von Geschäftsleuten, die jährlich viel Hunderte von Pfunden umsetzen und nur einmal in der Woche Fleisch auf ihrem Tische sehen, ja das Brot verschließen, damit nicht außer der regelmäßigen Mahlzeit davon genommen werde. Man gründet überall größere und kleinere Kompanien, um das Publikum zu Engros-Preisen mit seinen Lebensmitteln zu versehen. Familien tun sich zusammen und kaufen auf Vorrat, als sähe man einer Belagerung entgegen. Es ließen sich noch zahlreiche andere Züge anführen, um zu beweisen, wie sehr die Zustände auf dem Kontinente auch uns „auf der sicheren Insel" in Mitleidenschaft gezogen haben. — Zu den Dingen, welche zur Zeit das allergeringste Interesse erregen, gehört unstreitig die Reform-Bill, oder besser die Reform-Auktion. Die Auktionatoren liegen sich nach wie vor in den Haaren und „7 Pfund" oder „8 Pfund" bilden die Mottos für erbitterte Reden im Unterhause. In einem Punkte machen

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London, 6. Juni

die L i b e r a l e n im w ö r t l i c h s t e n Sinne des W o r t e s die R e c h n u n g „ o h n e den W i r t " , u n d z w a r den H a u s w i r t . Siegt der s i e b e n p f ü n d i g e W a h l z e n s u s , so w e r d e n viele t a u s e n d H a u s w i r t e in der P r o v i n z (die als Besitzende fast i m m e r k o n s e r v a t i v ) die H a u s m i e t e von 7 P f u n d auf 6 P f u n d 19 Schilling h e r a b s e t z e n u n d eine h ü b s c h e Q u o t e des h o f f n u n g s v o l l s t e n J a n h a g e l s f i n d e t sich d a n n w i e d e r im t r o s t l o s e n Z u s t a n d e des „ N i c h t W ä h l e r s " . — T o r y b l ä t t e r versichern, J^ayard w e r d e d e m n ä c h s t a u s d e m K a b i n e t t scheiden u n d sich als B a r o n e t in eine E c k e des U n t e r h a u s e s z u r ü c k z i e h e n . L a y a r d gilt f ü r einen t r e f f l i c h e n B u r e a u - B e a m t e n , a b e r nicht f ü r einen D i p l o m a t e n , d e r kritisches Tageslicht v e r t r a g e . U n t e r die Pairs w e r d e n e r h o b e n w e r d e n Sir G e o r g e Grey, M i n i s t e r des I n n e r n , u n d d e r Sprecher des U n t e r h a u s e s , Evelyn Denison. D e r Vizekönig v o n I r l a n d , L o r d Wodehouse, soll z u m Earl von K i m b e r l e y e r h o b e n w e r d e n . D a m i t w i r d er Pair, k o m m t ins O b e r h a u s , h . d . , u m „ p a r l a m e n t a r i s c h " zu scherzen, er k o m m t „ u n t e r den Scheffel"; ein P r o z e ß , o f t a n g e w e n d e t , w e n n T a l e n t e im U n t e r h a u s e einem K a b i n e t t zu u n b e q u e m w e r d e n . Dies h a t n a t ü r l i c h auf seine L o r d s c h a f t k e i n e A n w e n d u n g . E b e n s o w e n i g , wie er d u r c h seine G e g e n w a r t in K o p e n h a g e n , „ D ä n e m a r k r e t t e t e " , h a t er in Irland v e r m o c h t , die s o n s t s p r i c h w ö r t l i c h e L o y a l i t ä t d e r d o r t i g e n Bevölk e r u n g a u c h n u r ein w e n i g ü b e r d e m G e f r i e r p u n k t e zu e r h a l t e n . [Nr. 125, 2. 6. 1866]

Die große Wolke v o m Kontinent. Leichter Sieg Englische Korrespondenten. Ein D i p l o m a t als Dichter p* L o n d o n , 6 . J u n i D a s K a b i n e t t ist u n s c h u l d i g an seinem v o r g e s t r i g e n Siege im U n t e r h a u s e . Die g r o ß e W o l k e 1 7 , die ü b e r d e m Festlande h ä n g t , reicht mit ihren R ä n d e r n a u c h ü b e r d e n Kanal u n d w i r f t tiefe S c h a t t e n d u r c h die g o t i s c h e n Fenster v o n W e s t m i n s t e r o d e r St. S t e p h e n s , w o m a n „ t a g t " , s o b a l d die G a s l a t e r n e n a n g e z ü n d e t w e r d e n . L o r d Grosvenor, w e l c h e r sich L o w e s „ A d u l l a m i t e n " a n g e s c h l o s s e n u n d zu d e n D e s e r t e u r e n des L i b e r a l i s m u s g e r e c h n e t w u r d e , k e h r t e u m u n d k a m w i e d e r h e r a u s a u s der „ H ö h l e v o n 17

In den Zeitungen der Zeit verbreitetes Schlagwort; auch als Titel in der Trivialliteratur, ζ. B. Dunkle Wolken. Dramatische Kleinigkeit in 1 Akt, nach einer Idee des Fournier von F. Tietz [1864], Both's Bühnen-Repertoire des Auslandes, Nr. 223. Vgl. auch Κ London, 2. August 1866.

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1866

Adullam". (Die Partei Lowes hat den Zeitungs-Spitznamen „Adullamiten" bekommen.) Lord Grosvenor erklärte, er werde für die Regierung stimmen, nicht aus Neigung, aber zu einer Zeit großer politischer Gefahren im Auslande und finanzieller Krisen im Inlande könne er nicht mithelfen, ein Kabinett zu stürzen, das einen Lord Clarendon und Mr. Gladstone enthielte. Verschiedene andere Adullamiten machten ebenfalls kehrt. Redner der Tories, sogar Disraeli, nahmen alle die Artigkeiten zurück, welche sie früher den Übergängern gemacht; einhundert von der Opposition liefen davon, und so kam es denn zu jener eklatanten Majorität für Gladstone-Russell 403:2, nachdem ersterer, wie ein liberales Blatt versichert, so schön geredet, „daß es so still im Hause wurde, als sei es leer, während die Muse der englischen Geschichte ebenso lauschte, wie die übrigen". Diese englische Spezialmuse, die zehnte also, muß sehr leicht zu befriedigen sein. Natürlich konnte der Redner „mit Siegesgewißheit" sprechen; denn in den Clubs war schon vorher die Abstimmung fertig gemacht, jeder Parlamentsmann hatte seine Karte bekommen, sei es vom Reform-Club oder seinem Gegner, dem „Carlton", und die Majorität war schon längst gesichert „unter den vorwaltenden Umständen der auswärtigen Politik". Nur die Episode, wo einhundert Oppositionsmänner im Ärger davonliefen, stand nicht auf dem Programm und überraschte die Sieger sogar. Wohl nur noch, um bis zuletzt „Farbe" zu zeigen, hatte Disraeli noch nach Gladstone gesprochen und in ernsten Worten, die manchem Alt-Engländer bis ins Herz dringen mußten, davor gewarnt, den Interessen des ländlichen Grundbesitzes in solcher Weise Eintrag zu tun, wie jene Bill es im Gefolge haben würde. Es war ein Appell an den angeborenen Konservatismus des Engländers, verfehlte aber die Wirkung wegen der „auswärtigen großen dunkeln Wolke". Was nun den angeblichen Rücktritt des Kabinetts betrifft, welcher die Folge einer etwaigen Niederlage sein sollte, so war auch für diesen Fall schon Vorkehrung getroffen. Allerdings lag es in Absicht, allseitig abzudanken, indem man dies, im Vergleiche mit den Konvulsionen von Neuwahlen zu dieser Zeit, als das kleinere Übel betrachtete; aber der Kabinettswechsel wäre nur eine kleine Kulissenverschiebung gewesen. Russell hätte endlich sich entschlossen, zu ruhen und dankbar zu sein. Ein Ministerium Clarendon stand auf dem Programm mit Gladstone und einer Selecta aus dem zeitigen Bestände. — Seitdem der Times und dem „Daily Telegraph" gefälschte Alarmdepeschen unter Namen ihrer Pariser Korrespondenten zugegangen, denen zufolge gewisse „Bären" (baissiers) gewonnen und die „Bullen" (haussiers) verloren, haben englische Blätter

London, 6. Juni

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gewisse geheime Zeichen und kabbalistische Worte mit ihren auswärtigen Korrespondenten verabredet, welche in Zukunft zur Beglaubigung von Depeschen zu benutzen wären. Das scheint auf die Wahrheitsliebe gewirkt zu haben; denn ein solcher Korrespondent telegraphiert, daß bei Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen Preußen und Österreich die „Lübecker" Holstein besetzen und sich als schützender Friedenskeil zwischen die Parteien einschieben würden „von Bundeswegen". Das ist ein recht gelungenes Telegramm, welches jeder Fälschung spottet. Die meisten Journale haben außer ihren ständigen Korrespondenten zur Zeit noch „Spezial-Kommissarien" nach dem vermutlichen Kriegsschauplatz abgeschickt — Wien und Venedig. Die einen ambulieren in Wasserstiefeln bei Peschiera; ein anderer kann nicht begreifen, weshalb die Wiener soviel Geld verschwenden auf „Backhähnel", was er als eine feine Weinsorte entdeckte. Den ersten Feuilletonisten und Zeitungs-Satiriker Augustus Sala, einen Spanier der Abkunft nach, aber „gestärkter" Engländer in jedem Gefühl, hat der „Daily Telegraph" nach Österreich entsendet. Er schreibt zu gleicher Zeit über „Europäische Krisis", wie über „Affären in Österreich" und „Kriegsgefühle in Italien". Russische Kuriere sollen im allgemeinen keinen Ruheposten haben, ebensowenig reisende englische Reporter. Sala hat binnen 15 Monaten aus den Vereinigten Staaten und Mexiko, um Weihnachten aus Berlin, um Neujahr aus Sevilla korrespondieren müssen und hat jetzt klimatische Schwitzbäder an der Donau durchzumachen; „denn ich bin wohlbeleibt", schreibt er wehmütig. Einer dieser Spezial-Kommissarien hat auch in Schlesien hineingesehen und versichert: „Eigentlich sind doch die Preußen das erste Volk in Deutschland; nur können sie mitunter sehr unangenehm werden." — Nach einem langen Leben auf diplomatischem Felde ist Viscount Stratford de Redcliffe unter die Poeten gegangen. Der Band trägt den Titel „Shadows of the P a s t " 1 8 (Schatten der Vergangenheit). Die Gedichte sollen, nach der englischen Kritik, seiner frühesten klassischen Erziehung zu Eton und im King's College alle Ehre machen. — In verschiedenen Briefen aus Amerika ist die für die Handelswelt unwillkommene Nachricht enthalten, daß die Baumwollenernte in den ehemaligen Südstaaten nur die Hälfte des gehofften Ertrages liefere, aus keinem anderen Grunde, als weil der während der vier Kriegsjahre aufbewahrte Pflanzensame nicht überall gekeimt habe. Es gebe einige Grundbesitzer, auf deren Plantagen nicht ein Halm aufgegangen. [Nr. 132, 10. 6. 1866] 18

London, 1865.

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18 66 Erst bis zur Hälfte. Was alles gen Italien zieht Neue Geschäfte und alter Gleichmut

p* L o n d o n , 1 2 . J u n i Bis zur H ä l f t e des Zieles ist die Gladstonesche Reformbill schon durchg e d r u n g e n ; da der Weg aber enger w i r d , ist die G e f a h r noch k e i n e s w e g s vorüber. Die Opposition befolgt jetzt die T a k t i k der Verschleppung. Die Ferien sind vor der Tür, und a u c h der w a r m b l ü t i g s t e R e f o r m e r w ü r d e sich keinen Tag r a u b e n lassen mit oder ohne R e f o r m . Es ist a m ü s a n t , zu sehen, w i e H u n d e r t e die Uhr studieren w ä h r e n d solcher Debatten, die derjenigen über die leidige Bill v o r a n g e h e n , — mit w e l c h e m Wohlgefallen jedesmal die Opposition v e r n i m m t , die Zeit sei zu weit vorgerückt, u m noch heute mit der Bill zu beginnen. So sind schon drei A b e n d e unter den z w a n z i g Reformbill-Sitzungen verdehnt und m e h r e r e w e r d e n folgen. Alle Neulinge, die noch nicht gesprochen, müssen „ h e r a n " auf Seiten der Tories, nur u m „Zeit zu v e r s ä u m e n " . Bis heute ist die H a u p t s a c h e , der siebenpfündige Wahlzensus, unentschieden geblieben. Es m a c h e n diese p a r l a m e n t a r i s c h e n kleinlichen M a n ö v e r nicht g e r a d e den besten Eind r u c k , und die Gladstonesche Presse ist a u ß e r sich und plündert d a s ergiebige n a t i o n a l e S c h i m p f w ö r t e r b u c h mit Freimut. „Doggentrotz" und „schamlose H o l z k ö p f i g k e i t " sind Proben der a u s g e t a u s c h t e n Komplimente. — M a n erzählt hier, eine ansehnliche Z a h l von englischen Offizieren auf H a l b s o l d und a u ß e r Dienst h ä t t e sich an den österreichischen Gesandten in Paris mit der A n f r a g e g e w e n d e t , ob sie als Volontärs den Feldzug m i t m a c h e n k ö n n t e n . Die A n t w o r t soll g e l a u t e t haben, der Gesandte k ö n n e w e d e r ablehnen, noch a n n e h m e n ; die Petenten hätten sich besser nach W i e n zu w e n d e n . Ich halte nicht viel von dieser Geschichte. Dieselbe A u s k u n f t hätte m a n sich bei der österreichischen Gesandtschaft in L o n d o n holen k ö n n e n , w e n n m a n ihrer bedurft hätte. A n d e r e Engländer h a b e n sich für die G a r i b a l d i s c h e n Freikorps g e m e l d e t , aber eine Ablehnung e r f a h r e n . M a n hat in Italien mit den sehr kostspieligen und sehr undisziplinierten „englischen G a r i b a l d i n e r n " einer früheren Periode zuviel Schererei g e h a b t , u m d a s Stück noch e i n m a l in Szene zu setzen. Nur einzelne Ober-Offiziere englischen N a m e n s sind mit demselben R a n g e in die Freiwilligen-Korps rezipiert. A n d e r e Leute m a c h e n jedoch Italien jetzt Visiten und d a s sind die gefährlichsten: die englischen „Shoddies", die S p e k u l a n t e n und Lieferanten, S c h w i n d e l - A g e n t e n usw. Ich höre, d a ß sie in S c h w ä r m e n die Reise angetreten, Leute, die vermeinen, sie könnten Italiens R e g i e r u n g mit a l l e m a n f ü h r e n — mit P a t r i o t i s m u s

London, 12. Juni

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u n d billigen R e v o l v e r s , Liebe f ü r italienische U n a b h ä n g i g k e i t u n d 1000 M u s k e t e n auf „ l a n g e n K r e d i t " n u r gegen eine kleine „ N o t a " v o m F i n a n z M i n i s t e r . Diese R a b e n schlafen nie. Sie zivilisieren h e u t e C h i n e s e n mit O p i u m , N e u h o l l ä n d e r mit B r a n n t w e i n , liefern G ö t z e n b i l d e r mit englis c h e m Stempel f ü r die H e i d e n u n d w e r d e n reich von a n d e r e r R u i n . Seitdem m a n hier an der L o n d o n e r Börse sich an die U n g e w i ß h e i t g e w ö h n t , e r h o l t m a n sich a u c h im P u b l i k u m von d e r K r i e g s p a n i k . M a n teilt g a n z M r . Laings A n s i c h t , d e r gestern d e m U n t e r h a u s e d e n Vorschlag zur G ü t e m a c h t e , d o c h die u n n ü t z e politische K a n n e g i e ß e r e i 1 9 ü b e r ausl ä n d i s c h e Q u e r e l e n zu lassen. Sie g l a u b e n g a r nicht, w i e satt m a n hier ist. Ich r e d e g a r nicht von der ü b l i c h e n L e b e n s m i t t e l v e r g e u d u n g , w o die v e r s c h l e u d e r t e n V o r r ä t e h i n r e i c h e n w ü r d e n , d a s g a n z e P r o l e t a r i a t von L o n d o n mit satt zu m a c h e n . Finden Sie d o c h S o n n t a g m o r g e n s v o r vielen H a u s t ü r e n h a l b e L a i b e h a r t g e w o r d e n e n Brotes v e r s t r e u t , die sich w ä h rend der W o c h e a n g e s a m m e l t , w e l c h e m a n sich a b e r scheute, beizeiten zu v e r s c h e n k e n , u m „keine D i e b e a n z u l o c k e n " . Ich will m i t alledem n u r sagen, d a ß n a c h k u r z e r Ö k o n o m i e w u t d a s tägliche L e b e n w i e d e r seine alte G e s t a l t a n g e n o m m e n u n d „ d a s G e s c h ä f t b l ü h t " . N u r B u c h h ä n d l e r k l a g e n ; d e n n geistige Speise w i r d zur Z e i t w e n i g e r g e b r a u c h t als je. Selbst die m a s s e n h a f t e n „ d e u t s c h e n A u s r e i ß e r " k a u f e n sich n u r den „Kleinen E n g l ä n d e r " 2 0 u n d s c h l e n d e r n in M a s s e d u r c h d a s F r e m d e n v i e r tel; es sind a u c h Berliner K i n d e r d a r u n t e r , die sich w e n i g e r vor d e m zweierlei T u c h g e s c h e u t h a b e n , als vor d e m S t a a t s a n w a l t u n d d e m B a n k e r o t t g e s e t z , u n d die sich hier als „soziale F l ü c h t l i n g e " e t a b l i e r e n . A u c h hier k r a c h t es n o c h aller E n d e n v o n B a n k g e r ü m p e l , a b e r in vielen Fällen ist beschlossen w o r d e n , die G e f a l l e n e n w i e d e r a u f z u r i c h t e n , zu den alten Schulden n e u e h i n z u z u m a c h e n u n d eine n e u e Reise ins Blaue mit derselben B a n k zu u n t e r n e h m e n . Es gibt in der Welt keinen g e d u l d i g e r e n M e n schen als einen b e s c h w i n d e l t e n E n g l ä n d e r . W a s sich A k t i o n ä r e gefallen lassen, ist e r s t a u n l i c h ; w a s d a s liebe P u b l i k u m im H a n d e l u n d W a n d e l an G a u n e r e i e n g l e i c h m ü t i g h i n n i m m t , w ü r d e u n s e r e r u h i g s t e n L a n d s leute zur D o r f - R e b e l l i o n t r e i b e n . „ A b e r diese Schwerfälligkeit ist z u m g u t e n Teile d a s G e h e i m n i s des f r i e d l i c h e n G l e i c h g e w i c h t s " , so schrieb ein Blatt j ü n g s t . N u r k e i n e A u f r e g u n g e n . Vor drei T a g e n schlug ein italienischer O b e r s t l i e u t e n a n t , E n g l ä n d e r von G e b u r t , ö f f e n t l i c h im H y d e p a r k 19

20

Sprichwörtlich nach Ludvig Holbergs Lustspiel Der politische Kannegießer, 1723. Franz Ahn Der geschickte Engländer, oder die Kunst, ohne Lehrer in 10 Lektionen englisch lesen, schreiben und sprechen zu lernen, Köln 1844 ff.

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1866

in G e g e n w a r t von Tausenden einen englischen O b e r s t e n mit der Reitpeitsche. Beide verklagten einander, und mit einem A l m o s e n von 3 Pfd. Sterl. an die L o n d o n e r Armen wurde die S a c h e a b g e t a n . D a s ist doch „kalt B l u t " 2 1 o h n e Z w e i f e l . So kühl sind wir auch hier in der auswärtigen Politik. Solange sie tief unten an der südöstlichen D o n a u „nicht schieß e n " , bleibt J o h n Bull ein ruhiger M a n n und übt sich auf das g r o ß e für 1 8 6 7 (abzuhalten in Paris), w o f ü r der Kaiser

Taubenpreisschießen

einen verführerischen Preis ausgesetzt hat. Dies ist F a k t u m , wenn nicht alle Sportzeitungen falsch berichten. „Ein Friedenstaubenschießen

im

Jahre 1867." [Nr. 141, 21. 6. 1866 -

Beilage]

Reformbill und Ministerkrisis Parteilichkeit für Österreich. Reuter p* L o n d o n , 2 0 . J u n i G e r ü c h t e widersprechender Art kreuzen sich, seit die R e f o r m b i l l nach 19 N ä c h t e n der D e b a t t e unterlegen. Es heißt, Russell h a b e sich a u f den Weg nach B a l m o r a l g e m a c h t , um persönlich die Politik zu k o m m e n t i e ren, welche die Regierung dem Votum des Unterhauses gegenüber einzunehmen entschlossen ist. N a c h anderen ist L o r d C l a r e n d o n zur Königin gereist. W ä r e Ihre M a j e s t ä t zur Z e i t in Windsor, so hätte eine Vertagung der Staatsgeschäfte beider H ä u s e r des P a r l a m e n t s bis M o n t a g nicht stattgefunden. D i e Presse G l a d s t o n e s versichert, nicht den Tories, sondern den abgefallenen L i b e r a l e n , den Adullamiten: L o r d G r o s v e n o r , Kapitän Hayter, dem „ A g e n t e n " der T i m e s , M r . L o w e , und schließlich dem parlamentarischen h o m o novus, L o r d D u n k e l l i n , sei die Niederlage zuzuschreiben, weil sie mit ihren doppelzüngigen A m e n d e m e n t s den geraden Sinn m a n c h e r liberalen Squires verwirrt h ä t t e n . D e r letztere „ E f f e k t " ist allerdings nicht abzuleugnen. Dunkellins siegreiches A m e n d e m e n t sah sehr h a r m l o s aus. D u r c h den Vorschlag, anstatt des Mietzensus einen Haussteuerzensus einzuführen und d a n a c h das W a h l r e c h t zu bemessen, schien auf den ersten Blick nur wenig an der offiziellen Z i f f e r „Sieben P f u n d " geändert. Es wurden eigentlich nur „ f ü n f S c h i l l i n g " m e h r im J a h r e verlangt. D a aber dieser B e s t e u e r u n g s m o d u s in E n g l a n d ein unge21

„Der Brite hat kalt Blut", läßt C. F. Scherenberg Napoleon I. in seinem epischen Gedicht Waterloo sagen; Scherenberg wiederholt die Sentenz fast wörtlich in Ligny.

London, 20. Juni

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mein schwankender, ganz von dem Gutdünken der örtlichen kleinen Behörden des Selfgovernment abhängig, mit Klauseln verwoben und durch ein Wirrsal von Paragraphen verdunkelt ist, so hätte der harmlose Vorschlag des Lord Dunkellin die 1 4 5 . 0 0 0 "Wähler, welche Gladstone damit schaffen wollte, auf etwa 5 0 . 0 0 0 reduziert. Das lag freilich nicht so auf der Oberfläche und so blieben an dem entscheidenden „Morgengrauen" vom Dienstag manche Liberale fort, nichts Arges vermutend. Auch Rothschild fehlte, den man in voriger Woche zweimal im Krankensessel in das Haus tragen ließ, um seine Stimme für Gladstone nicht zu missen. Drei Wege stehen dem Kabinett nun offen: entweder die Abstimmung zu ignorieren, oder abzutreten, oder das Unterhaus in die Heimat zu schicken. O b w o h l Nummer Eins sich ziemlich bequem arrangieren ließe, da die Ferien vor der Tür, so ist man doch einem für unenglisch gehaltenen Vorgehen abgeneigt. Es fehlt demnach unter den gemäßigten Liberalen nicht an solchen, welche auch die „verkrüppelte" Bill noch immer für einen „Fortschritt" erklären und gern fünf gerade sein ließen. Nur Gladstone hat sich zum aut — aut engagiert, und da er 5 Stimmen M a j o rität als einen Sieg behandelt, muß er 11 Stimmen Minorität als eine Niederlage anerkennen. Sollte nun das Kabinett wirklich seine Demission gegeben haben, so steht eine Annahme derselben in diesem M o m e n t nicht zu erwarten, wo Tag für Tag ein wahres Hagelwetter kriegerischer Depeschen herüberfegt. (In der Tat hat denn auch die Königin die Demission nicht angenommen. D. Red.) Somit bliebe die Auflösung des Unterhauses allein übrig, und auf diese hoffen die Liberalen, in der Voraussicht, daß bei Neuwahlen verschiedene getäuschte Wählerschaften zum mindesten die verhaßten Adullamiten (die Überläufer) nicht wieder mit einem Mandat betrauen würden. O b indessen dieser Schritt sofort verkündet oder erst als eine „Verewigung" der üblichen Sommerferien eintreten würde, bildet zur Zeit noch Gegenstand der Diskussion. M a n sollte vermeinen, es sei unter der Presse die Parole ausgegeben, so antipreußisch, wie möglich, die deutsche Tagesgeschichte zu behandeln. Sie setzen die blind-parteiische Federfuchserei fort, die sie während des dänischen Krieges sich zur Regel gemacht. Der friedliebenden Lesewelt wird Entsetzen eingejagt „mit den Untaten (!) der Preußen, die schon drei ,einzelne' Regimenter Bundestruppen nach der Umzingelung beinahe bis auf den letzten Mann massakriert hätten, wovon HessenDarmstadt Haarsträubendes zu erzählen wisse, das dem englischen Königshause so nahe verwandt". Auch haben die Preußen den Sachsen „unerträgliche Kriegskontributionen" auferlegt, — „nach ihrer Gewohnheit", mit der sie ja den Jütländern bewiesen, wie der Krieg den Krieg

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1866

ernähre. Viel Schuld an diesen Lügen und Einseitigkeiten tragen wohl auch die Telegramme, welche von Mr. Reuter, dem Depeschenlieferanten für Zeitungen (ehemaligem Buchhändler am Berliner Gendarmenmarkt), den englischen Blättern täglich zugehen und an „geographischen Verlegenheiten" und „lokaler Buchstabierkunst" außerordentliches leisten. Ihrer viele tragen ein starkes Wiener Kolorit, namentlich w o versucht wird, das Telegramm wie ein Epigramm zu stilisieren. Kein einziges englisches Blatt von Rang stellt den Ausgang der Krisis zwischen Preußen und dem ci-devant Deutschen Bunde der Wahrheit gemäß dar; alle huschen über den „Bundesbruch durch den B u n d " hinweg, gleichsam um jedes Hindernis aus dem Wege zu räumen, Preußen als den „verschlingenden O g r e " darstellen zu können, der auch kein Titelchen guten Rechts sein eigen nenne. — In der Handelswelt macht man Gladstone viele Vorwürfe, weil er der Bank von England das Extra-Privilegium vermehrter Noten-Ausgabe auf so lange erteilt habe, als sie den Disconto nicht unter 10 pCt. herabsetzen könne.

Das hieße eine Prämie auf den hohen Fuß aussetzen.

Die Bankdirektoren, alles Privatgeschäftsleute von Rang, haben allerdings kaum ein Interesse, jenes periodische M o n o p o l den Kollegen in der Handelswelt zuliebe durch Herabsetzung des Disconto besonders schnell über Bord zu werfen. Die Provinzen werden von ungenannten Börsenjobbers

mit Flugblättern

und Briefen

überschwemmt,

die in

schwarzem Rahmen nichts als die Worte enthalten: „Verkaufen Sie Ihre Aktien sofort! Von einem Freunde." Die Presse verspricht nach Ausfindigmachen der Spekulanten deren Namen an den Pranger zu stellen. [Nr. 146, 2 7 . 6. 1 8 6 6 -

Beilage]

Auflösung oder Entlassung. Neubildung des Kabinetts Die Tories und die auswärtige Politik. Abgewiesen P::" London, 28. Juni „Eine Auflösung des Unterhauses wäre gleichbedeutend mit Auferlegung einer Geldstrafe von zwei Millionen Lstr., welche die Neuwahlen (abermalige nach kaum neun Monaten Zwischenraum) den 658 Mitgliedern des Unterhauses kosten würden." So schrieb die „ T i m e s " vor fünf Tagen. O b das mitgewirkt auf den Entschluß des Kabinetts Russell-Gladstone, abzudanken, bleibe dahin gestellt. Jedenfalls ist die Abdankung selbst erfolgt; sie sind „out" — wie man sich hier lakonisch ausdrückt und Lord Derby ist „in", dem Rate des „alten" Sir Robert Peel zum Trotz,

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L o n d o n , 28. Juni

der da sagte, daß kein englischer Premier über 6 0 J a h r e noch imstande wäre, die parlamentarische Equipage zu lenken. Wer mit Derby in das Kabinett treten wird, war bis heute morgen noch nicht gesichert, obwohl der edle Lord seine Hoffnung ausdrückte, noch mit den Hauptpersonen vor heute abend einig werden zu können, wo das Unterhaus nach abermaliger dreitägiger Pause wieder zusammentritt. Man hat mit einigen von Lord Russells Kollegen unterhandelt, aber diese lehnten gestern „ n o c h " ab. Dieser Refüs soll auch den Mr. Lowe, dem die Tories so vielen Dank für den Sieg schulden, veranlaßt haben, gestern „ n o c h " abzulehnen. Ich sage „ n o c h " , denn es ist noch immer der Fall gewesen, daß in solchen Krisen „Zureden hilft", sobald die erste Erbitterung sich abgekühlt hat. Palmerston, wenn er gefallen, nahm mehr als einmal Offerten des Siegers an und so ist auch anzunehmen, daß einzelne der Adullamiten nicht überzart sein werden, nur um das Fingerzeigen ihrer ehemaligen liberalen Kommilitonen zu vermeiden. Die neue Kombination „Derby-Disraeli" wird jedenfalls heute abend schon sich ankündigen, wie lückenhaft vielleicht auch noch die Ziffer der Gesamtheit zur Stunde sein möchte. Jetzt beklagt man von liberaler Seite, daß Gladstone, der Reformbill zuliebe, andere sehr nötige Reformanträge verschoben, wie ζ. B. die durch J a m a i k a in den Vordergrund geschobene Kolonial-Reform und das „was Irland n o t t u t " . Sie rufen Lord Derbys Worte u. a. ins Gedächtnis zurück: „Man

muß den Römisch-Katholischen

einen

M a u l k o r b anlegen." Wie sich diese Fragen auch stellen mögen, im Ganzen ist die Niederlage des Kabinetts ein Sieg der konservativen Sache in Irland.

Anders, fürchtet man, kann sich dies im Auswärtigen

Amte ge-

stalten, wenn Clarendon (was nicht wahrscheinlich) nicht wieder eintreten sollte. Die Tories sind alle Österreicher. Das kann mit voller Gewißheit behauptet werden; viele unter ihnen ferner sind „NeuTtalien" entweder von Anfang an Feind, oder im Laufe der Zeit Feind geworden, trotz der Tändelei mit Garibaldi bei seiner vorjährigen Aprilvisite. Nicht wenige unter ihnen sind ausgesprochenermaßen für eine Aufrechterhaltung alles dessen, was von den Verträgen von 1815 „noch übrig ist", und würden das ihrige tun, um eine Trias „England, Österreich, R u ß l a n d " zu solchen Zwecken zustandezubringen. Letzteren Gedanken finde ich allerdings nur in liberalen Blättern ausgesprochen, halte ihn jedoch der Erwähnung wert, weil, wenn auch M o n a t e zurück, diese Idee hin und wieder in der Tory-Presse in Umrissen angedeutet wurde. Die Toryblätter haben es auch unterlassen, die Gerüchte zu dementieren, welche vor etwa 14 Tagen umgingen, wonach englische Flottenoffiziere vom Mittel-

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1866

meere, den aus dem Kabinett Russell geschiedenen Admiral Paget mit eingeschlossen, sich bei einem gelegentlichen Besuche in Rom „sehr neapolitanisch" benommen hätten. Das tauchte damals so auf, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen, und ich erwähne es auch heute nur als ein Gerücht, das ohne Dementi geblieben, was sonst nicht oft vorkommt. Sie wurden am Hofe Königs Franz II. gesehen, als Italien dicht vor dem Kriege stand. So erwähnten „englische Korrespondenten". Was vielleicht Zufall und Privatcourtoisie gewesen sein kann, findet im Momente hier, wie leicht erklärlich, allerhand Deutungen. Beherztere Gemüter sagen zuletzt Reibungen mit Frankreich voraus, wenn die Tories sich allzusehr um das Jahr 1815 kümmern sollten. — (Das wäre unausbleiblich; aber eben deshalb werden die Tories, die übrigens, wie beispielsweise Mr. Disraeli, zum Teil Napoleon-Schwärmer sind, sich vorsehen. D. Red.) Wie französischen Militärs von Benedek das Mitfolgen verweigert worden, ist es auch Colonel Foley, dem militärischen Attache bei der Gesandtschaft in Wien, geschehen. Auch sind englische Ärzte und Chirurgen mit ihren Dienstanerbietungen in Wien nicht glücklicher gewesen, als ihre französischen Kollegen. Es bleibt ungesagt, ob sich auf letztere die angeblichen Worte Benedeks beziehen sollen: „In Italien kosten uns solche Mitfolger 50.000 Mann." [Nr. 153, 5. 7. 1866] Kein Koalitions-Kabinett. Stanley, Malmesbury, Cowley Chartisten-Sprache. „Standard"-Lügen p* London, 4. Juli Ein Koalitions-Kabinett, wie es in 1853 bestanden, welches man unter dem Namen „das Kabinett aller Talente" in die englischen Geschichtsbücher aufgenommen, werden wir nicht erhalten. Ungeachtet der Erbitterung über ihre Niederlage läßt die liberale Partei den „Adullamiten, den abtrünnigen Whigs" soweit Gerechtigkeit widerfahren, als sie nicht länger den Vorwurf erhebt, jene hätten aus Ämtersucht sich an die toryistischen Anti-Reformer angeschlossen. Alle Adullamiten, bei denen Lord Derby angefragt, haben ein Portefeuille abgelehnt, da die ihnen meist gestellte Bedingung, daß Lord Clarendon das Auswärtige Amt wieder erhalten solle, nicht erfüllt wurde, weil Lord Derby dies seinem Sohne (Lord Stanley) bestimmt hatte. Andere lehnten ohne Bedingung ab. Gewiß gewinnt ihre Partei an Achtung im Lande durch diese Beweise von Uneigennützigkeit. Es ist aber auch ein Akt der Vorsicht. Mit der

London, 4. Juli

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A n n a h m e eines Staatsamtes erfolgt f ü r den P a r l a m e n t s m a n n die Verpflichtung, sich von neuem seinen Wählern zu stellen. Welcher Adullamit k ö n n t e das zur Stunde riskieren? Kaum einer, D a n k den Wühlereien und radikalen A u f h e t z u n g e n . M i t einem Fiasco auf der Wahlstelle ginge natürlich auch das Staatsamt wieder aus den H ä n d e n , und so b e w ä h r t sich das alte S p r ü c h w o r t vom Sperling in der H a n d . Stanley, der vermutete Nachfolger C i a r e n d o n s , w a r f r ü h e r eine Z e i t l a n g sehr in G u n s t bei der M a n c h e s t e r p a r t e i . Seine liberalen Worte hielten sie f ü r M ü n z e n ihres eigenen Gepräges, bis sich die große Wertverschiedenheit des Metalles herausstellte. Sie n a n n t e n ihn lange ihren „ h o f f n u n g s v o l l e n " oder „den k o m m e n d e n M a n n " . Und er ist g e k o m m e n , aber nicht A r m in A r m mit J o h n Bright, wieviel A u f h e b e n s auch einige Blätter öfters von dem Umstände m a c h t e n , d a ß Lord Stanley im R a u c h z i m m e r des Unterhauses sich gern mit Bright unterhielte. Stanley ist sehr „ s ü f f i s a n t " , kalt und herb in Worten, w e n n er Minister. Er regierte einst Ostindien von Lond o n aus und schrieb an C a n n i n g d o r t h i n einen Brief, der diesen tief verletzt h a b e n soll durch die Wahl der A u s d r ü c k e . Dieser Brief wird jetzt von den Liberalen hervorgesucht, um Stanley als „gefährlich" f ü r das gute Einvernehmen mit dem Auslande hinzustellen, aber d o c h halten sie ihn f ü r weniger „gefährlich" als Lord M a l m e s b u r y . Es wird erzählt, m a n h a b e im C a r l t o n - C l u b lange d a r ü b e r debattiert, o b nicht M a l m e s b u r y auswärtiger Minister w e r d e n m ü ß t e ; Lord Derby „soll ihn jedoch f ü r zu r e a k t i o n ä r gehalten h a b e n " , schließt eine „Betrachtung der Situation" v o m S t a n d p u n k t der Friedensgesellschaften. Lord Derby hat das schwerlich gesagt. Sicher ist jedoch, d a ß Lord M a l m e s b u r y Neu-Italien nichts weniger als gewogen ist und m a n irgendwelche Verwickelungen in jener R i c h t u n g seines T e m p e r a m e n t s wegen besorgt. Aus gleichen G r ü n d e n ließ m a n den Vorsatz fallen, den englischen G e s a n d t e n Lord Cowley zu Paris durch M a l m e s b u r y zu ersetzen. Lord Cowley ist bei den Tories nicht beliebt, „weil er zu wenig repräsentativ". Einzelne toryistische Blätter schieben dies allzugroßer Vorliebe f ü r Sparsamkeit zu, und es w u r d e soviel in hiesigen Blättern d a r ü b e r räsonniert, d a ß der dem Stilleben gewogene Lord zum E r s t a u n e n der v o r n e h m e n englischen Kolonie in Paris rasch hintereinander Feten und Bälle gab. Das Mißvergnügen hatte ü b e r h a u p t bei dieser englischen Kolonie seinen Ursprung g e n o m men, welche getreue Korrespondenten f ü r die Tories liefert, wie sich zur Zeit der Stansfeld-Mazzini-Affäre herausgestellt. Disraeli wird wieder F ü h r e r des Unterhauses. Die Tories lassen sich von ihm leiten, o b w o h l ihm nicht alle gewogen. Seine M a n i e r e n sind ihnen öfters zu unenglisch

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1866

und es ist Tatsache, daß man auf jener Seite es gern gesehen, wenn Disraeli sich entschlösse, die aus der Ferne gezeigte Pairie anzunehmen und so im Oberhause zu verschwinden. Manche seiner eigenen Partei mögen seine Budgets nicht. Sie sind wie die meisten anderen im Unterhause „Geschäftsleute" — weshalb das Haus häufig ein „Club von Geschäftsleuten" cum grano salis genannt wird — und als solche haben sie sich für den Freihandel gebucht, mit Ausnahme einer ganz kleinen Abteilung von Schutzhändlern alten Stiles, die lange überschattet, jetzt Hoffnungen auf Disraeli setzen. Wie dem auch sein mag, zunächst ist an schutzzöllnerische Experimente nicht zu denken. Im liberalen Lager äußert sich Schadenfreude über die Schwierigkeiten Lord Derbys, sein Kabinett zu komplettieren und über das lange regierungslose Interim. Indessen hat nach Palmerstons Ableben Lord Russell mehr als sechs Wochen bedurft, um jeden Mann an seinen Platz zu stellen. Die Empfindlichkeit darüber, nicht zuerst gefragt zu sein, hat vielleicht auch Schuld an der Langsamkeit, mit der Lord Derby bei einzelnen Tories Erfolg hat. Es wird dabei vergessen, daß er seine Front in kaum zehn Tagen ändern mußte, weil das Koalitions-Kabinett eine Unmöglichkeit wurde, und er sich deshalb auf die Ressourcen seiner eigenen Partei „reduziert" sah, wenn man einen „Gewinn" so nennen kann. Die Koalition wäre nur eine Verlängerung des Interims. Es scheint, als würden die ganz maßlosen Reformbill-Agitatoren, unter welche sich allerhand vergessene Chartisten-Chefs eingeschlichen, nächstens eine große Niederlage erleiden dadurch, daß sie den Bogen zu straff spannen. Ankündigungen von Meetings, wie die: „Findet Euch ein auf dem Platze, wo Karls des Ersten H a u p t gefallen" finden nimmermehr Anklang bei der großen Mehrheit, die durchweg loyal. — Unter die neuesten Lügen über Preußen gehört die dem „Standard" aus Frankfurt a.M. zugegangene Notiz, daß die Preußen dem Kurfürsten von Hessen einmal Nahrung versagt und ihn gebunden mit sich fortgeführt hätten. [Nr. 158, 11. 7. 1866 -

Beilage]

Umschwung. Kriegswissenschaftliche Panik Kongreß-Aussichten p* London, 13. Juli In dem, was man in England „öffentliche Meinung" nennt (und der Begriff ist hier nicht ganz so unbestimmt, als jener Artikel, welchen unsere

London, 13. Juli

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heimatlichen Fortschrittler d a f ü r ausgeben) ist durch die böhmischen Schlachten, durch den „dreißigtägigen Krieg", eine ganz merkliche Wandelung vorgegangen. Ich rede nicht von der Presse, o b w o h l auch deren Ton zumeist ein gerechterer geworden, auch nicht von den „ Z e h n t a u send", die es jetzt mit den Tories halten und eine — schon früher von mir erwähnte — aus England, Frankreich und Rußland gebildete, gegen Preußen gerichtete Trias willkommen heißen w ü r d e n , sondern diesmal vom Publikum. Der Engländer hat eine große Vorliebe für „pluck" (soviel wie „mutige Raschheit") und so hat, nach den Tagesgesprächen zu urteilen, der Preuße bei ihm den Vogel abgeschossen. Das gilt viel bei ihm — Courage und Erfolg — und alle Verdächtigungen und Anschwärzungen, die leider von einzelnen toryistischen Blättern, wie ehedem, ausgestreut werden, prallen an dieser „öffentlichen M e i n u n g " ab. Im übrigen konzentriert sich die allgemeine Sensation in dem einen Worte „ Z ü n d n a d e l g e w e h r " 2 2 . Die Tories werfen den Whigs vor, die früher (1846) damit in England angestellten Experimente verpfuscht zu haben. Man verwarf die Waffe, weil man sich mit der „Theorie" nicht befreunden konnte, Z ü n d m a s s e und Ladung zu vereinigen. Ich glaube gehört zu haben, d a ß eine Flinte bei den Experimenten explodierte, und so lautete das Verdikt ungünstig. Wie dem auch sei, das spätere Tory-Kabinett hat die Experimente nicht erneuert und so haben sich beide Parteien jetzt wenig vorzuwerfen. Da ein ähnliches ungünstiges Urteil über die Waffe von den Franzosen gefällt wurde, indem das Gewehr „schon nach neun Schüssen für die H a n d h a b u n g zu heiß w e r d e " (s."La France"), so betrachtete man hier die Sache als abgetan. So k a m es denn, daß wir in den ersten Tagen nach der Schlacht von Sadowa hier eine Art kriegswissenschaftlicher Panik hatten. Die Zeitungskolumnen waren mit Eingesandts — Ratschläge und Vorwürfe enthaltend — übersäet, und das w ä h r t noch heute fort. Der „Daily Tel." enthielt sogar einen Artikel, w o die Formierung von Reserve-Korps für die Volontär-Armee Englands als schleunigstes Bedürfnis hingestellt wurde. Ebenso die Bewaffnung der regulären Armee mit den siebenläufigen Spencer-Revolverflinten amerikanischer Erfindung! Dasselbe Blatt versichert in Worten überstürzender Aufregung, Preußen sei mit jener Waffe auf dem Wege, Schiedsrichter Europas zu werden, obwohl Frankreich den einzigen großen Staatsmann besäße, der sich ü b e r h a u p t noch mit dem Grafen v. Bismarck messen könne. Die „Sunday Times", das große sonntägliche Bürgerblatt Lon22

Vgl. dazu F.s Schlußgedanken in: Der deutsche

Krieg von 1866, Bd. 2, S. 334 f.

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18 66

O t t o von B i s m a r c k

dons, nimmt eine Menge von Tadelsworten zurück, die es bisher gegen den Grafen Bismarck gerichtet, der doch nicht mit „gewöhnlichem Maße" zu messen sei und „mit welchem in Zwist zu geraten die anderen Staatsmänner Europas lieber hübsch bleiben lassen sollten". Der „Standard", durch einen „militärischen Berichterstatter" auf beiden Kriegsschauplätzen vertreten, sucht einigen Trost in dem Umstände, daß der Erfinder des Zündnadelgewehrs ein — Engländer (namens Moller) sei, bleibt jedoch den Beweis schuldig und übersetzt einige absprechende Urteile aus der antipreußischen „La France", welcher er besonderes Gewicht zuschreibt, weil sie das Organ der Kaiserin wäre. Ein etwas konfuses Argument in Materien der Kriegswissenschaft. Was übrigens Kriegskorrespondenten angeht, so ist derjenige des „Telegraph" der einzige, welcher mit Wärme bei der preußischen Sache ist.* Aus allem geht hervor, daß er „mit in Reih und Glied steht" und nicht zu jenen auf Gerüchte angewiesenen Feuilleton-Zivilisten gehört, die sich nicht „zu nahe heranwagen". Merkwürdig ist die Weise, in welcher die toryistischen H i e r ist d u r c h a u s d e r T i m e s - B e r i c h t e r s t a t t e r im H a u p t q u a r t i e r des P r i n z e n F r i e d r i c h C a r l a u s z u n e h m e n , der von A n f a n g an m i t E n t s c h i e d e n h e i t für die p r e u ß i s c h e S a c h e und die p r e u ß i s c h e A r m e e e i n t r a t . D . R .

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L o n d o n , 13. Juli

Korrespondenten auch Tatsachen unterdrücken, welche sie auf das bitterste kommentieren

würden, geschähe dergleichen

auf

preußischer

Seite. Sie verschweigen die Brutalitäten des verräterischen Trautenau völlig und w o ihnen das Schlachtfeld keinen Stoff zu gehässigen Nergeleien bietet, müssen die zoologischen Gärten herhalten. Ich rede im Ernste. Ich lese in englischen Blättern als „preußischen Vandalismus" die Notiz, daß die Preußen das „große außerordentliche V i e h " im zoologischen Garten zu Dresden geschlachtet und die kleinen „beasts" haben laufen lassen, wenn Leute sie nicht „geschenkt" hätten nehmen wollen. Als Quelle zitieren sie ein deutsches Blatt unter dem Titel „Land and W a t e r " (soll wohl „Land und M e e r " heißen?) und versichern ohne Stocken, daß ein ähnlicher

Vandalismus

im zoologischen

Garten

zu Köln

bevor

stehe! — Was das Innere betrifft, so wird von der liberalen Partei versucht, dem neuen Kabinett kleine Unannehmlichkeiten aller Art zu bereiten. M a n bearbeitet diejenigen Wählerschaften, denen die Minister sich zur Neuwahl präsentieren, um diesen oder jenen durch einen liberalen Kandidaten zu schlagen und so zum Austritt aus dem Ministerium zu zwingen. Doch in den meisten Fällen sind diesmal die Tories ihrer Wähler sicher, und jede Lücke, die etwa entstehen könnte, würde schnell wieder ausgefüllt. Die kurzlebige Aufregung wegen der Niederlage Gladstones und der explodierten Reformbill hat eben ausgelebt. Man ist sogar des ewigen Reformgeschwätzes überaus müde und Lord Derby könnte sich nur Freunde gewinnen, so er eine Reformbill auf die Calendas graecas vorschöbe. Wenn einzelne Blätter dem Kabinett nur eine Existenz für wenige Wochen verheißen, so irren sie sich. Vor dem 12. August, dem Eröffnungstage der englischen Jagden, haben die Ferien begonnen und es liegen keine Kabinettsfragen vor, welche vor Beginn des neuen Jahres die neue Regierung in Gefahr bringen könnten. Ohnehin hat die versprochene „Derbysche Neutralität" in gewissen „ausländischen Zerwürfnissen" ein ganzes Heer von Unglückspropheten zum Schweigen gebracht. D a ß hier Gerüchte gehen, ein Pariser Kongreß stehe bevor und Lord Clarendon wäre ausersehen, England zu vertreten, wird Ihnen bekannt sein. Kommt es zu einem Kongreß, so wird Clarendon sicherlich nicht fehlen. Er wird als „unser Einziger" betrachtet, der nicht nur selbst ein elegantes Französisch spricht, sondern auch die französische Diplomatensprache „ohne Mißverständnisse" versteht.

Jedermann weiß hier, daß

er dieses hier seltenen Talentes wegen dem Lord Russell auf dem Wiener Friedens-Kongreß nach dem Krimkriege als eine Art Geheimer Dolmet-

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London, 19. Juli

scher assistierte. J e n e s „ T a l e n t " ist in der Tat selten. So haben wir jetzt eine Art Verbrüderung auf den alljährlichen großen Schießübungen zu W i m b l e d o n C o m m o n (im Südwesten L o n d o n s ) zwischen unseren Riflemen und belgischen Volontärschützen. Die Geselligkeit wird durch die „französische S p r a c h e " eine sehr schwierige. Unter all den Tausenden von wohlerzogenen englischen R i f l e m e n finden sich nur zwei, welche in Französisch die H o n n e u r s machen k ö n n e n , Lord E l c h o , der oberste K o m m a n d e u r , und ein Gemeiner, Mr. Allen, dem die M a s s e dafür im N a m e n Englands ihren D a n k abstattet. [Nr. 162, 17. 7. 1866 -

Beilage]

Die preußischen Siege Downing Street grollt. Reformbill p* L o n d o n , 19. J u l i T i e f e n , tiefen Eindruck machen hier die militärischen und moralischen Siege Preußens, die letzteren nicht minder als die ersteren. Die M ä ß i g u n g in der „ M a c h t " — die „ G r o ß m u t " als W a f f e gegen die Verleumdung, wie sie die Waffenstillstandsbedingungen Preußens kennzeichnete, hat unserem Vaterlande in England „ P r o v i n z e n " erobert. D a s wird klar auf Schritt und Tritt. Vor und nach dem dänischen Kriege hatte der vorurteilsvolle Preußen-Neider J o h n Bull Kruste angesetzt, aber sie b r ö c k e l t unter so gewaltigen S t ö ß e n . Es ist nicht allein mehr der preußische „ P l u c k " , der hier gewinnt; es ist zur Überzeugung geworden, „Preußen habe sich durch seine politische H a l t u n g im Siege zu einer solchen H ö h e der Situation aufgeschwungen, d a ß auch der stolzeste Feind es k a u m noch als eine D e m ü t i g u n g ansehen dürfe,

vor dieser Macht

im edelsten

Sinne des Wortes sich zu b e u g e n " . In allen R i c h t u n g e n der W i n d r o s e L o n d o n s hatte ich in der vergangenen W o c h e Gelegenheit, dies als die vorherrschende M e i n u n g zu konstatieren. Es w a r nicht selten, d a ß ich bei diesem und jenem das G e s t ä n d n i s erlangte, „es sei ihm wie Schuppen von den Augen g e f a l l e n " . Ein anderer G e n t l e m a n sagte: „I am compelled to believe, we never heard the truth in E n g l a n d . " (Ich bin gezwungen zu glauben, man hat uns nie zuvor darüber die Wahrheit berichtet.) Dies bezieht sich auf die T u s c h k ä s t e n der Presse mit ihren falschen Farben. D a s O r g a n des großen Publikums, der „Daily T e l e g r a p h " , bricht sogar aus der Schale und schreibt „gut p r e u ß i s c h " zuweilen in seinen englischen Sensations-Leitartikeln, sehr verschieden vom „ S t a n d a r d " , der sei-

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1866

nen militärischen Korrespondenten in der Umgegend der preußischen Armee so antipreußisch instruiert zu haben scheint, daß in einzelnen Berichten desselben die „naive Bitte" mit unterläuft, aus halbnotgedrungener Unparteilichkeit doch dies oder jenes Lob äußern zu dürfen. Das Scheitern der Waffenstillstandsverhandlungen schreibt man nicht mehr — wie „La France" in ihrem Preußen-Neid dazu den Schlüssel gab (man übersetzt das Blatt viel in den letzten Tagen) — der Unersättlichkeit Preußens, sondern der Harthalsigkeit Österreichs zu; und was man Italien zuerst zum Vorwurf macht, die Weigerung, die Waffen niederzulegen, nach der Zession Venetiens, wird ihm jetzt schon als ein Verdienst angerechnet. Denn „Worthalten in Verträgen sei ein Ding, jedem englischen Herzen teuer". Natürlich werden Sie solche Meinungen und Gesinnungen, wie die vorerwähnten, nicht im auswärtigen Ministerium vorfinden. Dort grollt man Preußen. Das wird ersichtlich aus der Haltung der regierungsfreundlichen Blätter, denen es für einige Tage gelang, unruhige Gefühle zu verbreiten durch das — inzwischen offiziell dementierte — Gerücht über ein englisches „Manifest" zugunsten des Königs von Hannover. — Fehlte es auch nicht an einigen Namen-Preußen, welche sich der Kriegspflicht feig entzogen und in England „Sicherheit" gesucht haben, so haben andererseits gleich im Anfang der Einberufungen mehrere hundert militärpflichtige und hier angesessene Söhne des Vaterlandes ihr einträgliches englisches Gewerbe aufgegeben und sich in der Heimat gestellt, und das ehe noch ein Schuß gefallen war, — ein Pflichtgefühl, gewiß um so höher zu würdigen, als wäre es erst im Rausche über Siegesnachrichten erwacht. Deutsche Comites treten zusammen, um Beiträge für die Verwundeten nach Preußen zu senden, deutsche Frauen bereiten Berge von Charpie vor, und das merkwürdigste ist, daß bei politisierenden Versammlungen, die meist aus sieben Achtteilen aus südwestlichen Kleindeutschen bestehen, die Summe der Stimmen durchweg preußisch ausfällt. Bei dem Reichtum der deutschen Großhändler Londons ist auf Ansehnliches zu hoffen. Sammlungen haben ebenso in Belfast (Irland), Glasgow und überall, wo sich deutsche Kolonien befinden, ihren Anfang genommen, Gesangvereine voran. — Unsern Reformwühlern wird es augenscheinlich schwer, das Steckenpferd so bald abzusatteln. Um „Eindruck zu machen", projektieren sie ein Massen-Meeting von „hoffentlich" 100.000 Köpfen im Hydepark und laden Bright und Gladstone als Redner ein. Daß Gladstone sich nicht zeigen wird, ist gewiß, und auch Bright ist trotz seines Manchestertums sicherlich noch so weit „Gentleman" in der unbezeichenbaren Bedeutung dieses Wortes, um sich zu

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London, 27. Juli

kompromittieren. Und das täte er in den Augen Englands — bei einem Publikum, in dessen Augen nichts mehr gegen den guten Geschmack verstoßen würde, als wenn ein Parlamentsmitglied den „süßen Pöbel" 2 3 z u s a m m e n t r o m m e l t e , und noch dazu im vornehmen H y d e p a r k . Übrigens sollen gewisse Gesetze bestehen, die einer weiteren Auslegung fähig sind und dem Chef der Londoner Polizei Sir Richard Mayne gestatten würden, entweder die Parktore zu schließen oder doch mit Polizeimannschaften dem divide et impera gemäß, die Massen „abzumarschieren". Und er ist ganz der M a n n dazu, solch Gesetz nicht zu übersehen. Nur, wenn die Parlamentsferien begännen, w ä r e solch ein Meeting durchzuführen „innerhalb einer englischen Meile vom Sitze des Parlaments". Beales, unser Hauptpublizist in Reformsachen, bittet in einem Briefe an den immer zu solchen Dingen bereiten Editor des „ M o r n i n g Star", d a ß jeder Arbeiter Englands zur Förderung der „guten Sache" einen Sixpence (5 Groschen) durch die Redaktion an ihn befördern lassen möge. [Nr. 168, 22. 7. 1866]

Zündnadel im Kristallpalast Frankfurt und die Kriegs-Kontribution Hydepark-Krawall p* L o n d o n , 27. Juli Lord Russell hat eine ungewöhnliche Genugtuung. Schwerlich hat er sich t r ä u m e n lassen, daß seine Politik in Sachen Schleswig-Holsteins, so sehr angefochten in 1864, in diesem Jahre nicht nur in den Augen des dänenfreundlichen großen Publikums gerechtfertigt, sondern eine Art w a r m e r D a n k b a r k e i t noch nachträglich finden werde. Doch es ist so. Es ist etwas Alltägliches, d a ß Sie Äußerungen begegnen, wie die folgende: „Welch' glücklicher Zufall, d a ß wir uns nicht in die dänischen Wirren gemischt haben; was w ä r e aus unseren Landungstruppen vor dem preußischen Z ü n d n a d e l g e w e h r geworden!" Der „Daily Telegraph", dem solche Zeichen nie entgehen, widmet der Selbstgratulation einen ganzen Leitartikel und schreibt: „ D a m a l s hätten unsere Truppen dasselbe Exempel an sich selber statuiert gesehen, wie es heute Österreich tut!" Übrigens hat General Peel der Kristall-Palast-Kompanie ein Exemplar vom „Prussian 23

Mephistopheles in Goethes Faust /., Walpurgisnacht.

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Needle Gun" (Zündnadelgewehr) zur Ausstellung geliehen und allabendlich finden sich Tausende ein, dasselbe zu besichtigen und einem Vortrage eines waffenkundigen Holländers Mr. Rochussen zuzuhören, der so weit geht, ihnen das „mutmaßliche" Kompositum des geheimnisvollen „Spiegels" chemisch zu erläutern und der nationalen Selbstzufriedenheit schmeichelt, indem er nur vor der allgemeinen Rede warnt, das Needle Gun als das schlechteste der breech-loaders, d. h. der „an der Hosennaht geladenen Gewehre" zu betrachten. Nicht ohne Interesse ist es auch, in der Presse eine andere Wirkung der böhmischen Schlachten zu verfolgen, die sich in dem unverhohlenen Bekenntnis zusammenfaßt, daß „der Junker Graf Bismarck" der Fortschrittspartei gegenüber doch wohl mehr Recht gehabt, als die Welt glauben mochte, indem er der Verkürzung der militärischen Dienstzeit fort und fort opponierte. Diese Blätter betrachten damit den Hauptzwiespalt mit der preußischen Zweiten Kammer erledigt und machen einen für Engländer (denen es sehr schwer wird, sich auf andere als die eigenen Gesichtspunkte zu versetzen) seltenen Treffer, indem sie sagen, daß wohl im Grunde das preußische Volk in jener Militärfrage kaum eines Sinnes mit seinen Vertretern gewesen, sondern instinktmäßig das Urteil seines Monarchen als das richtige anerkannt habe, wie auch die Zunge mitunter gewissen „geschätzten Vorrednern" gefolgt wäre. Große Befriedigung erregen hier die friedlichen Nachrichten von der Donau, obwohl der Geldmarkt keine rapidere Bewegung zeigt, angeblich weil — wie Börsenleute in der Presse versichern — die nervöse Börse den Frieden schon vor vierzehn Tagen „diskontiert" habe. — In den italienischen Cafes im Fremdenviertel Soho wurde gestern ein Artikel des „Morning Advertiser" lebhaft diskutiert, welcher die Niederlage bei Lissa niemand anderem zuschreibt, als dem Kaiser Napoleon, denn dieser habe den Rat dazu gegeben und Persano den „Wink" teuer bezahlen müssen. Jenes Blatt ist indessen oft sehr kühn, was Facta anbelangt, und — stimmen die Facta nicht mit der Ansicht, „um so schlimmer für die Facta", tröstete es sich mehr als einmal. Ein anderes Blatt notiert das Gerücht, Rothschild in Paris sei vom Schlag getroffen, bezüglich der Kriegskontribution, welche der „Judengasse" in Frankfurt am Main auferlegt worden. General Manteuffel habe die Juden vor die Kanonenmündungen geführt und, wie der „Morning Advertiser" wiederum „hört", sogar die Frauen als „nicht sicher" bezeichnet, falls die gewissen Millionen nicht bezahlt würden. Die wüste Stimmung der radikalen Blätter, namentlich solcher, die Anlehnungen an gewisse „süddeutsche Emigranten" haben, ist übrigens erklärlich; denn sie erken-

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nen wohl, wie es der Revolution die Spielzeuge wegnehmen heißt, daß Graf Bismarck zuerst den Zankapfel Schleswig-Holstein ihnen aus den Fingern zog und jetzt mit seinem starken Hohenzollern-Deutschland ihnen jede Hoffnung entrückt, ihr Steckenpferd einer deutschen FöderativRepublik vor dem deutschen Philister zu reiten. Hat doch der rote „Eidgenosse" unlängst in einem Artikel die einst mit so vielem Pomp geforderten „Urwahlen" als beinahe freiheitsgefährlich verurteilt, solange das Volk noch nicht zur reinen Idee heranerzogen wäre, was in Zukunft der Führer Sache werden müsse. — Mutmaßlich gehen Ihnen lebhafte Schilderungen über die Hydepark-Tumulte vom Montag und gestern zu. Glaube man jedoch ja nicht, daß ganz London dieserhalb in Aufregung! Dessen Körper ist viel zu groß, um durch solche lokale Störungen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Reformagitatoren der unteren Kategorie haben ihren letzten Trumpf ausgespielt und verloren, und weder Gladstone noch Bright werden sich dem tausendköpfigen Pöbel sehr verbunden fühlen, daß derselbe ihre Namen fast mit jedem Pflasterstein verknüpfte, den er gegen die Polizei-Mannschaften schleuderte. In jenem Teile des Westends herrschte allerdings einige Stunden „Schrecken", denn es waren die Horden los, die nur aus ihren Gassen kommen, wenn Unordnung und Tumult ausgebrochen. Es fehlte nicht an den bösesten Gerüchten — die Läden schlossen sich — und niemand wollte lange an die Richtigkeit glauben; denn in solchen Stunden ist es fast, als sei der Schrecken eine Art „negativen Vergnügens". Doch nun ist alles wieder im alten Geleise und rudelweise werden die verhafteten Aufrührer zu einem Pfund Sterling Pön oder vier Wochen Arrest verurteilt. [Nr. 175, 31.7. 1866]

Ein Wölkchen am Horizont Die Bedeutung des Colenso-Falles Der Streit in der anglikanischen Kirche p* London, 2. August Unser politischer Himmel ist ziemlich klar. Um so deutlicher sieht man jede Wolke, die am Horizonte aufsteigt, erscheine sie auch nur so groß wie eine Hand. Und die kleinste im Anfang, die fernste, sie wird oft die gefährlichere am Ende. Diesmal kommt sie aus der Himmelsrichtung von Afrika und man hört weiterdenkende Männer nicht ohne Besorgnis

London, 2. August

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von ihr reden. Es bereitet sich ein tiefes Schisma in der Kirche von England vor. Bischof Colenso ist nur der „äußere" Anlaß; denn die Ursache des wachsenden Zwistes ist nicht der Rationalismus, sondern war ursprünglich eine bloße Kompetenzfrage über kirchliche Autorität daheim und in den Kolonien, greift aber schon jetzt bis in das Herz der Kirche, die dem Engländer trotz allen Dissentertums ans Herz gewachsen ist, selbst wenn er nicht mehr zu ihr gehört. Sie hat seinen unumwunden ausgesprochenen Respekt als die Mutterkirche von Alt-England und den Kolonien, und so wenig, wie selbst äußerste Liberale das gute alte Blut der Tories missen wollen, so ist es auch auf diesem kirchlichen Gebiete. In Kürze die Erklärung. Colenso wurde bekanntlich wegen seiner rationalistischen Bearbeitung des Pentateuch 2 4 von der als über ihm stehend „geltenden" kirchlichen Oberbehörde von Süd-Afrika seiner Funktionen enthoben, aber nach langläufiger Prozedur infolge von Gesetzesskrupeln durch eine Entscheidung des Geheimerats-Conseils der Königin rehabilitiert. In seine frühere Diözese zurückgekehrt, verweigerte man ihm dort die Wiederaufnahme seiner Funktionen, behielt ihm seine Emolumente inne, auch die, welche während der Periode seiner Amts-Suspension sich angesummt hatten, und nach der neuesten Post hat der Bischof der Kapstadt, Dr. Gray, durch seinen General-Vikar den Klerus der Diözese Natal nach Maritzburg entboten, um über die Wahl eines neuen Bischofs an Stelle Colensos zu beraten. Das war die Wolke am Horizont, und sie wächst stündlich. Dr. Gray, Vertreter der Hochkirche, und deren Anhänger mit ihm berufen sich auf altenglisches und unverändertes Gesetz, daß die Kirche keine Stellung als Mutterkirche für die englischen Kolonien habe, also auch die Königin für die Kolonial-Diözesen nicht als „Haupt der Kirche" angesehen werden könne. Der berühmte Sir Thomas Moore und Bischof Fisher verloren ihren Kopf eher, als Heinrich den Achten als „Head of the Church" anzuerkennen. Und wie steht das berufene Gesetz? Ganz im Sinne des Dr. Gray. Kirchliche Autoritäten wie Lord St. Leonards und Lord Lyndhurst haben vor und nach 1835 im Hause der Lords unangefochten das „Gesetz" erläutert, als dahingehend: „Wo koloniale Parlamente bestehen, kann die Krone den dortigen Bischöfen keine Jurisdiktion über kirchliche Dinge geben. Die English Church besteht in solchen Kolonien auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, auf demselben Fuße wie die Wesleyaner oder andere Dissenters." Und

24

The Pentateuch and the Book 1862-1865, vol. 1 - 5 .

of Joshua,

Critically

Examindes,

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1866

Lord Kingsdown sogar m u ß t e 1863 in seinem Buchstaben-Urteil über den Colenso-Fall u. a. einräumen: „Die Kirche von England an Orten, w o sie nicht durch ein Gesetz eingegründet wurde, befindet sich in derselben Lage, wie jede andere religiöse Genossenschaft, in keiner besseren und in keiner schlechteren. Ihre Mitglieder mögen, wie die Mitglieder jeder anderen , C o m m u n i o n ' , Regeln zur Durchsetzung (enforcing) der Disziplin innerhalb ihres Körpers vereinbaren, welche f ü r solche bindend sind, die sich ausdrücklich oder schon durch ihre bloße Verbindung mit solcher Genossenschaft mit denselben einverstanden erklärt haben." N u n ist die Kirche in Süd-Afrika nicht durch ein Gesetz eingegründet und sie kann nicht nur eigene Diziplinen wählen, sondern sogar beliebige Doktrinen zu den ihrigen machen, ja, wie der Herzog von Argyle eben im O b e r h a u s e erklärte, „wenn sie wolle, sogar die Suprematie des Papstes anerkennen, wie mehrere hervorragende Geistliche der Kirche von England sich schon dazu als ,vorbereitet' (prepared) erklärt hätten, ohne d a ß das Parlament sie daran hindern k ö n n e " . Es sind dies Konflikte, deren Tragweite nicht zu berechnen. Es ist unter anderem auch eine Fehde gegen den „gesetzgebenden" Parlamentarismus und nicht ohne Kraft, seitdem die Tories, meist Anhänger der Hochkirche, das H e f t der Regierung in H ä n d e n haben. Früher schon von Zeit zu Zeit erregte die Sache A u f m e r k s a m k e i t , aber sie k a m wenig über die Debatte in den 230 religiösen Zeitschriften Englands hinaus. Es fehlte an einem faßlichen Konflikt. Er ist gegeben. N u n k o m m e n noch die Advokaten der „Freisinnigkeit" mit ihren Finessen und machen eine Contremine, indem sie heute zu verstehen geben, d a ß wenn die Hochkirchlichen recht hätten, d a n n alle die ungeheuren Vermögen und Hinterlassenschaften Generationen zurück, welche f ü r Stiftung von Zweigkirchen und Zweigdiözesen der englischen Mutterkirche im Erdkreise weit und breit hingegeben w o r d e n , nicht im Sinne des Gebers oder Testators verwendet seien, mithin widerrufen werden k ö n n t e n . Es fehlt nicht an solchen, die zunächst Miß Burdett Couts, die Millionärin, a u f f o r d e r n , ihre Stiftungen zu widerrufen und die gegebenen Gelder zurückzuverlangen, gegeben unter der Bedingung, „daß die anglikanische Disziplin und D o k t r i n , da w o sie Bischofssitze mit ihren Mitteln in Existenz gerufen habe, im Sinne ekklesiastischer Union mit der Mutterkirche aufrecht erhalten bleibe". Die große Mehrheit der zur Staatskirche Gehörigen opponiert dieser Gesetzesauslegung der „Hochkirchlichen" in derselben Kirche und will von dieser Lostrennung der Tochterkirchen von einer Mutterkirche nichts wissen: es sei gegen die Tradition des Gewohnheit gewordenen Gefühls

London, 8. August

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der Zusammengehörigkeit. Aber das Gesetz ist hartnäckig und der Konflikt ist bedenklich. Hier sagt man nicht, wie vielleicht anderswo: „Laß das die Theologen ausfechten." Hier fühlt sich jeder mitinteressiert. Es sah fast einer Panik ähnlich, heute früh Leute mit markierten Zeitungsbogen in der H a n d einander auf der Straße die Artikel zum Lesen geben zu sehen, wobei oft die erregte Äußerung fiel: „das wird eine Revolution geben; zuletzt haben wir gar keine Kirche mehr!" und ähnliches. Das sind natürlich ausschweifende Ausdrücke; aber sie sind Zeichen dafür, welchen H a l t Kirchliches und kirchliche Tradition am Volke hat. Wer der Konservativere in dieser Frage, wage ich nicht zu entscheiden — die Partei des Dr. Gray, welche den Buchstaben des Gesetzes konserviert und damit trennt, oder die andere Partei, welche das ungeschriebene Gesetz, das traditionelle Gefühl der mutterkirchlichen Z u s a m m e n g e h ö rigkeit mit den fernsten Gemeinden des Erdballs nicht aufgeben kann, will und wird. (Nr. 180, 5. 8. 1866]

Die letzten Sitzungen. Cholera Cowley und Malmesbury p* L o n d o n , 8. August Gestern abend waren zu Anfang der Debatte 21, und gegen Ende derselben nur 6 Mitglieder im Unterhause. Dennoch haben so gefaßte Beschlüsse volle Gültigkeit; denn der Sprecher sieht nie etwas offiziell, worauf er nicht a u f m e r k s a m gemacht worden. N u r erst d a n n , wenn ein Mitglied im H a u s e sich erhebt und die Bemerkung macht, es scheine ihm keine beschlußfähige Anzahl gegenwärtig, erfolgt Z ä h l u n g und die Sitzung wird aufgehoben. Diese Bemerkung (Antrag auf Zählung) wird aber auch nur d a n n gemacht, wenn der Antragsteller irgendeine ihm mißfällige Debatte verschoben haben will — oft aus Partei-Malice. Sonst k ö n n e n Millionen Pfund Sterling von einem halben Dutzend Mitglieder bewilligt oder verweigert werden, ohne d a ß der Akt weniger legal würde, als hätten die vollen 653 Parlamentsmänner getagt. Im allgemeinen hatte man in der zu Ende gehenden Session seltener über „gähnend öde H ä u ser" zu klagen, als sonst. Reformbill und Kabinettswechsel waren der Anlaß. Aber kurz vor dem 12. August, an welchem Termin die aus Belgien und Deutschland eingeführten Füchse in ihre Verstecke entlassen und in den H o c h l a n d e n die halbzahmen Wildhühner sich wenigstens

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jagdfähig stellen müssen, würde weder eine Reformbill, noch ein Kabinettswechsel volle Häuser machen. Die „ R e f o r m " k o m m t mehr und mehr aus dem Munde. Die Frage ist, dank den Hydepark-Tumulten zur Zeit nicht mehr respektabel, d. h. Leute von Einfluß in der englischen Gesellschaft reden nicht mehr davon. Eine schlimmere Verurteilung, als nicht mehr respektabel zu sein, gibt es in England kaum. Sehr getäuscht sehen sich die Demagogen und Chartisten, welche aus Vermischung der Reformfrage mit der Parkfrage Kapital zu machen hofften, in der Hoffnung, daß die Richter, von denen manche sich öfters im Kompetenzkonflikt mit der Polizei befinden, die vielen Verhafteten mit „mildernden Umständen" bedenken würden. Selbst wo ein bei den eigentlichen Tumulten unbeteiligter Gentleman durch festes Zugreifen der Polizei hat mitleiden müssen, fallen solche Worte vom Richter, über die sich gestern im Unterhause der demokratische

Colonel Taylor beschwerte:

„Sir!

Schelten Sie den Constable nicht wegen des zufälligen Hiebes, sondern jene, welche den Abschaum und wüsten Kehricht der Stadt auf friedliche Einwohner der Stadt losgelassen hatten." Die Reformers konnten ihrer Sache keinen in englischen Augen tödlicheren Schlag versetzen, als die „Bildung" der nicht wählenden Klassen durch brutales Handgemenge zu beweisen. Tatsache ist ferner, daß das Auftreten der Cholera erst seit jenen unruhigen Nächten datiert, w o die Branntweinhöllen des Ostendes überfüllt waren. Wie schlimm die Krankheit auch in einzelnen Quartieren auftreten mag, so ergeht sich die Presse dennoch in den haarsträubendsten Übertreibungen. Erkrankungen von 1 0 0 0 — 1 2 0 0 in der Woche an Cholera und

ähnlichen, aber leichteren Krankheiten auf eine Bevölke-

rung von 3. 100. 0 0 0 Einwohnern im Vorstadtradius, rechtfertigen solche Schreckensbilder nicht. Es ist auch erkennbar, daß die Presse damit zumeist beabsichtigt, die öffentliche Wohltätigkeit für dieses oder jenes Hospital in Fluß zu versetzen. Andererseits ist es keine gute Seite im Buche volkstümlicher Selbstregierung, wenn ein Blatt, wie der „Teleg r a p h " , unumwunden das Geständnis macht, wie mehr als ein Dritteil der Londoner Bevölkerung, was Gewohnheit, Reinlichkeit und öffentliche Vorsorge betreffe, sich in der erbärmlichsten Lage von der Welt befinde. Die Scheu vor Verantwortlichkeit, genährt durch die Furcht, mit den „ungewissen Gesetzen" (und wäre es durch die beste Tat, den edelsten Eifer) in kostspieligen Konflikt zu geraten — diese Scheu ist englischer Charakterzug. Gelangte doch bis ins Unterhaus dieser Tage die Frage, ob aus einem gewissen verlassenen Hause ein Haufe infizierter Kleider entfernt werden dürfe, und das mächtige Haus sah sich außer

London, 13. August

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gesetzlicher H a n d h a b e , dort zu — intervenieren. In einem der bevölkertsten Stadtteile erwies sich die Lieferung von Röhrenwasser mangelhaft und dieses Element selbst in einem nichts weniger als empfehlenswerten Z u s t a n d e . Endlich läßt sich die Direktion der betreffenden Gesellschaft zu der Erklärung herbei, ihr Wasser-Inspektor sei im Seebade. Und damit hat es sein Bewenden. Die Beamten der Armenverwaltung jenes Bezirks erklärten diese A n t w o r t auf ihre Anfrage f ü r eine genügende, um all die Übel zu erklären und zu entschuldigen. — Die „Eule", das toryistische Witzblatt unter dem Kabinett Gladstone-Russell, ist jetzt wieder oppositionell, also liberal. Der Unternehmer hatte sich von H a u s e aus als O p p o n e n t auf alle Fälle erklärt. Auch die Mitarbeiter sind dieselben geblieben, ein Akt eigentümlicher Selbstironie. Das Blatt beschäftigt sich viel mit mutmaßlichen Ämterwechseln und erwartet Lord Cowley fast in jeder Woche von seinem Gesandtenposten in Paris und einen Nachfolger. Über Personalien ist das Blatt oft gut unterrichtet. Einige erwähnen Lord Malmesbury als Nachfolger der sich durch seine N i c h t a u f n a h m e in die „beliebteren Ressorts" des Ministeriums, (wie Auswärtiges usw.) immer noch gekränkt fühlen soll. [Nr. 189, 16. 8. 1866]

Grenzregulierung. Malmesbury Cholera p::' L o n d o n , 13. August „Die Rektifikation der französischen Grenze!" diese Depesche der „Agence Reuter" überraschte, o b w o h l man schon acht Tage vorher davon munkelte, aber nicht daran glauben wollte. Dem „ S t a n d a r d " w u r d e schon in vorvoriger Woche aus Paris geschrieben, man verhandle über deutsche Grenzregulierungen. In den toryistischen Clubs redete m a n davon und einzelne liberale Blätter, welche seit der Zession Venetiens mit dem Preise französischer Uneigennützigkeit überflössen, spotteten darüber als böswillige Erfindung. In jenen Clubs hat man jedoch viele Bezüge mit Paris. Mitglieder derselben sind häufiger auf den amüsanten Pariser Boulevards zu sehen, als auf den Promenaden des durch die Ref o r m e r h o r d e n zu einer schwarzen Fläche zerstampften Rasens von Hydepark. M a n c h e haben Häuser in Paris und ihre Familien leben dort den größeren Teil des Jahres. O h n e A u s n a h m e findet man in diesen Clubs, wie in der Presse, die französischen Forderungen selbst bis zur vollen

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1866

Ausdehnung der Grenzverträge von 1814 recht bescheiden und die toryistische Presse — wiederum ohne Ausnahme — disponiert über die Karte mit großer Freiheit. Da wird Limburg an Belgien vergeben zum Ersatz für Abtretung des südlichen Landes und Ostfriesland zerschnitten, um Holland für die Grafschaft Limburg zu entschädigen. Um Luxemburg ließe sich „kalkulieren", aber die Pfalz werde zwei Elsasser Departements bilden. Heute geht man doch soweit einen Schritt zurück, um nicht mehr von „Forderungen", sondern nur von pourparlers zu reden, welche ganz amicable vor sich gingen. Liest man den „Standard" und „Morning H e r a l d " , so möchte man mitunter vermeinen, ihre Artikel gegen Preußen wären nur Übersetzungen aus chauvinistischen Blättern in Paris. Sie drucken der „France" auch die Notiz nach, daß die große Industrie-Ausstellung zu Paris im J a h r e 1867 deshalb die österreichische Industrie sehr spärlich vertreten sehen würde, weil — „die Preußen die besten O b j e k t e fortgeschleppt hätten". Doch hätten diese englischen Blätter nicht „La France", sondern das „Memorial diplomatique"* zitieren sollen, aus welchem diese Notiz erst in die „France" übergegangen. Gerade solche vage, hingeworfene Notizen sind es, welche die ToryBlätter am liebsten wirken lassen in diesem Falle. In einem jeden Rapporte aus Böhmen oder M ä h r e n werden sie mit solchen und ähnlichen on dits bedient und unter anderem Lazarettschilderungen entworfen, welche durch die Berichte anderer Korrespondenten, die preußische Ärzte und Pflegesystem nicht genug zu rühmen wissen, völlig widerlegt sind. Es ist der G r i m m vom Dänenkriege her, welcher seine Widerhaken zurückgelassen, und in Europa ist die englische Presse diejenige, welche am wenigsten wählerisch in ihren Mitteln ist, um die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung zu zwingen. — Was ich in meinem letzten Briefe andeutete, wird von dem offiziösen französischen Journal in London „L'International", das seit Jahren nur mit ansehnlichen Opfern aufrechterhalten wird, wiederholt — nämlich die bevorstehende Entsendung Lord Malmesbury auf den Gesandtenposten in Paris. Es heißt, Lord Cowley habe dem Kabinett hier mißfallen durch den Mangel an zeitiger Information über die neuesten diplomatischen Schritte Frankreichs betreffs der Grenzregulierungen. D o c h Cowleys Rücktritt ist kein neues Gespräch. Schon mehr als einmal ließ man ihn um Abberufung einkommen, indessen scheint diesmal mehr Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel vorhanden zu sein. Lord Malmesbury hat immer in Paris für * J e n e Stelle lautet: „Un grand n o m b r e d ' o b j e t s destines a l'Exposition de Paris ont ete enleves par les Prussiens."

London, 13. August

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e i n e a n g e n e h m e P e r s o n g e g o l t e n , u n d m a n t r ä g t sich m i t

Äußerungen

s e i n e r s e i t s , die d a r l e g e n m ö c h t e n , d e r e d l e L o r d sei n i c h t s w e n i g e r als ein F r e u n d P r e u ß e n s a u f d e m G e b i e t e d e r R e k t i f i k a t i o n s p o l i t i k . — L o r d R u s s e l l h a t e i n e V o r l e s u n g ü b e r allerlei D i n g e , G e s c h i c h t e ,

Literatur,

W i s s e n s c h a f t u n d K u n s t g e h a l t e n . D i e „ S u n d a y T i m e s " zitiert d a r a u s als p o e t i s c h e M e r k w ü r d g k e i t f o l g e n d e S t e l l e : „ D e u t s c h l a n d ist n u r e r s t im A n f a n g e d e r R e v o l u t i o n , u n d v o l l w i e es ist v o n M ä n n e r n , die g r o ß e s W i s s e n u n d t i e f e A n s c h a u u n g e n b e s i t z e n , g l e i c h t es d e m I k a r u s , d e r s e i n e Flügel versucht, von G e f a h r e n b e d r o h t , e n t w e d e r von der versengenden S o n n e des m i l i t ä r i s c h e n D e s p o t i s m u s o d e r v o n d e r t i e f e n S e e m e t a p h y s i scher Spekulation drunten (underneath)." D a s Blatt besorgt, Russell pere habe von seinem Sohne Amberley jene allegorischen Floskeln

geborgt,

mit denen der letztere allerdings schon zweimal seine W ä h l e r s c h a f t e n so s e h r in E r s t a u n e n s e t z t e , d a ß sie v e r g a ß e n , i h m ihre S t i m m e n zu g e b e n . M a n e r l a u b t h i e r j e d e m S t a a t s m a n n p r i v a t i m ein D i c h t e r zu sein, u n d g e s t a t t e t i h n e n a u c h g e r n , w a s W e l l i n g t o n nie leiden k o n n t e , im U n t e r h a u s e L a t e i n zu z i t i e r e n ; a b e r p o l i t i s c h e P o e s i e zu r e d e n , w i r d f ü r zu j u g e n d l i c h g e h a l t e n , u m in E n g l a n d E p o c h e zu m a c h e n . D a r u m ist S t a n ley b e l i e b t e r , v o n d e m m a n s a g t , e r t r a g e e i n e n s e h r a l t e n K o p f a u f j u n gen S c h u l t e r n . — U n s e r A s t r o n o m und L u f t s c h i f f e r a u f d e r S t e r n w a r t e zu G r e e n w i c h , G l a i s h e r , m a c h t b e k a n n t , d a ß e r bei d e r j e t z i g e n C h o l e r a z e i t wieder denselben dünnen blauen Nebelflor über ganz London schweben s e h e , w i e zur Z e i t d e r E p i d e m i e v o n 1 8 4 9 u n d in den f ü n f z i g e r J a h r e n , ein N e b e l , d e r g a n z v e r s c h i e d e n v o n d e n g e w ö h n l i c h e n

Dunstwolken,

a u c h bei h e f t i g e m W i n d e u n v e r ä n d e r t s e i n e L a g e i n n e h a l t e . D a s O p i u m essen g r e i f t in d e n e l e n d s t e n V i e r t e l n des v o n d e r C h o l e r a h e i m g e s u c h t e n O s t e n d e s u m s i c h . D a ß die e n t s e t z l i c h e G a s s e B l u e g a t e - S t r e e t m i t t e n im Pestviertel ganz unversehrt geblieben, schreiben

die L e u t e

(und

auch

A r z t e s o g a r ) d e r G e w o h n h e i t d e r d o r t w o h n e n d e n C h i n e s e n zu, O p i u m zu essen u n d zu r a u c h e n . S e i t d e m w i r d d i e s e s L a s t e r d o r t f a s t zur M a n i e . D i e T r u n k s u c h t , die v o n S p i r i t u o s e n s c h o n z u m G e n u ß des L a u d a n u m in F i n g e r h ü t e n * ü b e r g e g a n g e n w a r , f i n d e t in d e r C h o l e r a j e t z t e i n e E n t s c h u l d i g u n g d a r i n , es w i e die „ C h i n e s e n " in B l u e g a t e - S t r e e t zu m a c h e n . B i s h e u t e h a t die S e u c h e nur

die t r a u r i g s t e n W i n k e l des E l e n d s u n d d e r

Vernachlässigung heimgesucht und schwer. [Nr. 190, 17. 8. 1866) Manche Apotheker, auch auf dem Lande, haben, gewöhnlich am Sonnabend abend, auf ihren Ladentischen ganze Reihen kleiner Phiolen mit LaudanumLiqueur für ihre Kunden (oft Kinder) fertig stehen!

1866

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Das Torykabinett und die persönliche Verantwortlichkeit M a n regiert wieder. Noch eine Reformdemonstration p* London, 22. August Obwohl im Mechanismus unseres politischen und geselligen Lebens mit Antritt der Regierung seitens der Tories nichts geändert worden, so verschließt man sich dem Eindruck hier nicht, daß sie „regieren", d. h. handeln und für Handlungen die Verantwortlichkeit übernehmen. Englische Staatsmänner hatten sich daran gewöhnt, das Regieren wie eine der „schönen Künste" zu behandeln und wie eine ins Detail gehende Kalkulation über soziale Kräfte. Niemals etwas unternehmen, wozu das Land nicht „drängt", alle Risikos im Unterhause zu vermeiden, falls nicht der Whipper-in eine Majorität vorsprechen konnte, das war die Parole der meisten liberalen Minister seit einem Menschenalter in England. Selbstsucht lag dem zu Grunde, unveredelt durch weiterstrebenden

berechtig-

ten Ehrgeiz. Staatsmänner ohne letzteren schufen nichts, sondern waren zufrieden, mit politischen Dilettanten verschiedener Parteien sich auf friedlichstem Fuße zu erhalten, ohne Ideen, ohne Glauben an ihre Sache, ohne

Enthusiasmus.

Pedantischer

Indifferentismus

leitete

die

Ent-

schlüsse, und Palmerston war das Genie dieses Indifferentismus. Nach seinem Tode fiel das Kartenhaus zusammen. Vor lauter Sichinachtnehmen vor jeder Verantwortlichkeit regierte man nicht. Der parlamentarische Organismus bot wie ein Kaninchenbau hundert Auswege. Beging der Minister des Innern einen Fehler, so gerieten die Ausleger des Gesetzes in Konflikt miteinander, wer dafür zu schelten. Der Kriegsminister half sich damit, sich hinter die Horse-Guards, wo der Herzog von Cambridge befiehlt, zu verstecken. Der Kolonialminister streifte die Verantwortlichkeiten auf die Gouverneure und Kolonial-Parlamente hinüber, der Minister für Indien warf alle Schuld auf den General-Gouverneur, der Minister für Irland retirierte in das Arbeitskabinett des Lord-Lieutenants zu Dublin. Jeder hatte seinen politischen Vikar, der die schwersten Sorgen auf sich nehmen mußte, und wenn irgendein Wirrsal im Unterhause entstand, gelang es selbst der feinsten Lupe selten, denjenigen ausfindig zu machen, der Rede zu stehen habe. Anders mit dem neuen ToryKabinett. Es hat eine sehr glückliche Zusammensetzung. Es hat junges und altes Blut, Staatsmänner, die erst einen Ruf zu verlieren haben. Da ist Mut im Minister des Innern, der die Reformer-Horden im Hydepark zu Paaren trieb, da ist Ernst im Kriegs- und Flotten-Ministerium, das neu

London, 22. August

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u n d g u t w a f f n e t u n d n a c h f o r s c h t , w o d e n n die v e r s c h i e d e n e n h u n d e r t M i l l i o n e n geblieben sind, die J o h n Bull g e d u l d i g seit e i n e m M e n s c h e n a l ter h e r g e g e b e n , u m eine Flotte zu h a b e n , w e l c h e w e d e r m i t d e r f r a n z ö s i schen, n o c h der a m e r i k a n i s c h e n sich messen k a n n . D a s f l ü s t e r t m a n nicht m e h r , d a s gesteht m a n o f f e n ein. Die A r m e n p f l e g e , s o l a n g e s c h o n d u r c h t r ä g e V e r n a c h l ä s s i g u n g u n d Scheu v o r d e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t z u m b ö s e n G e s c h w ü r a u s g e a r t e t , ist in feste H ä n d e g e n o m m e n , u n d m a n m a c h t w e n i g Federlesens mit d e n e n , w e l c h e d a s S e l f g o v e r n m e n t wie einen Fetisch a n b e t e t e n , weil es i h n e n die „ n a h r h a f t e n G e l e g e n h e i t e n " g a b , mit den S u m m e n d e r A r m e n s t e u e r alles a n d e r e zu t u n , als w a s m e n s c h e n f r e u n d l i c h , r e c h t u n d billig. H i e r u n d in vielem a n d e r e n h a t dieser o d e r jener M i n i s t e r d e n M u t , die V e r a n t w o r t l i c h k e i t auf P e r s o n e n zu fixieren, kein A u s r e d e n u n d A u f s c h ü b e zu g e s t a t t e n , u n d d a r a u f zu seh e n , d a ß f ü r so h ü b s c h e G e h ä l t e r wie 1000—5000 Lstr., m e h r g e t a n w i r d , als in den B u r e a u s t u n d e n die T i m e s zu lesen. So, w a s i n n e r e Verwaltungs-Politik b e t r i f f t , h a b e n wir u n s in den w e n i g e n W o c h e n der T o r y R e g i e r u n g a u ß e r o r d e n t l i c h verbessert u n d die u n e r s c h ü t t e r l i c h e Selbstzuf r i e d e n h e i t , w e l c h e d a s V e r a n t w o r t l i c h k e i t s g e f ü h l in Schlaf wiegte, w i r d o f t sehr r a u h a u f g e r ü t t e l t . Es h a t dies a u c h seine W i r k u n g e n . M a n h ö r t kein M u r r e n ü b e r die Tories im g r o ß e n P u b l i k u m , o b w o h l die G l a d s t o n e sche Presse so p r o p h e z e i t e , u n d b e f r e u n d e t sich mit d e m „ n e u e n Regier e n " , d a s in k e i n e Vielregiererei a u s a r t e t . Selbst in d e r liberalen Presse sind m a n c h e S t i m m e n , die i m m e r s c h a l t e n , s t u m m g e w o r d e n , u n d die B e m ü h u n g e n der R e f o r m e r s , auf k ü n s t l i c h e m Wege n o c h W a l l u n g e n zu e r h a l t e n , f i n d e n kaltes Blut vor, wie sehr m a n a u c h mit A u f z ü g e n u n d M o n s t r e - D e m o n s t r a t i o n e n zu w i r k e n s u c h t . Eine n o c h , v e r m u t l i c h die letzte, soll d e m n ä c h s t in B i r m i n g h a m s t a t t f i n d e n , w o E n g l a n d s S c h w a r z schmiede wohnen — „urbs cudibus resonans". Neue Musikbanden werden v e r s p r o c h e n u n d m e r k w ü r d i g e r w e i s e „ R e t t u n s b o o t m a n n s c h a f t e n ad i n f i n i t u m " (!) u n d Feuerleute! Z u s a m m e n mit „ S e k t e n p r e d i g e r n in P r o zession mit G e n t l e m e n u n d H a n d e l s a r i s t o k r a t e n von B i r m i n g h a m " . A u c h J o h n Bright w e r d e „vielleicht" reden u n d „ h o f f e n t l i c h " a u c h ein n o c h u n g e n a n n t e s Mitglied des e h e m a l i g e n K a b i n e t t s P a l m e r s t o n . Je t h e a t r a l i s c h e r diese G e n t l e m e n zu W e r k e g e h e n , d e s t o schneller verlieren sie die n o c h ü b r i g g e b l i e b e n e n S y m p a t h i e n der „ r e s p e k t a b l e n Gesells c h a f t " u n d das „ t ö t e t " in E n g l a n d , weil a u c h in den n i e d e r e n Klassen, leider o f t in übel a n g e b r a c h t e r K a r i k a t u r , die G e s i n n u n g e n u n d M a n i e ren „of o u r b e t t e r s " n a c h g e a h m t w e r d e n . [Nr. 197, 25. 8. 1866]

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1866 Die römische Frage. Die Kathedrale des Stillen Ozeans Der letzte Krieg

p* London, 12. September Mr. Odo Rüssel, englischer Agent in R o m , der sich zuerst durch verschiedene Indiskretionen bekannt gemacht, bald desavouiert, bald als ein geschickter Mann belobt wurde, reist zwischen London und Rom hin und her und diese Reisen finden verschiedene Ausleger. Odo Rüssel war der Erfinder des sogenannten „Malta-scheme", des Planes, dem Papst nach Erfüllung der September-Konvention ein Stilleben auf Malta zu empfehlen. Es gibt wirklich sehr erhitzte Anglikaner, die daran glauben und nach allerhand Wahrscheinlichkeits-Momenten haschen. Sie hören ein „Wispern" vom Vatikan her und biegen die Worte, welche der katholische Erzbischof von Westminster Dr. Manning in der Belmont-Kathedrale gesprochen, in die ihnen genehmste Richtung. Der Prälat sagte: „Was ist die temporal power of the Vicar of Jesus Christ? Meint sie Besitz von Reichtümern, Flotten, Armeen, Domänen? Nichts davon! Sie besteht vornehmlich in göttlichen Gesetzen — erstlich, daß der Stellvertreter des fleischgewordenen Gottessohnes nie weltlicher Macht Untertan werden könne — er muß frei sein — unabhängig. Weder die Akte der Gesetzgeber, noch die Befehle der Fürsten waren je imstande, noch werden sie es je sein, die Unabhängigkeit des Vikars von Jesus Christus zu fesseln. Und es ist zweitens ihm die oberste Führung und Leitung über jede Seele auf der Erde übertragen." Hieraus eine Chance für das MaltaProjekt herauslesen zu wollen, erfordert eine bedeutende Einbildungskraft. Der dringende Wunsch nach solcher „Verinselung" des Papsttums ist hier indessen bei manchen so intensiv, daß die unmöglichsten Pläne, wie etwa die Peterskirche und den Vatikan nach Art amerikanischer Häuser vom Platze zu rücken und nach Malta zu verschiffen, Subskribenten für soundso viele Pfunde Sterling finden würde. Ich rede völlig im Ernste. Die neuitalienische Ära hat den Eifer, Proselyten in Italien zu werben, in England zu einer solchen Höhe getrieben, daß schon mehr als einmal Klage geführt wurde, wie der innern Mission im Heidentume des verwahrlosten vollen Dritteils der Londoner Bevölkerung Mittel entzogen würden. Ein großer Teil der Presse unterstützt dieses Vorhaben und beruft sich darauf, daß in Paris wenigstens das Malta-Projekt Freunde finde, sogar in der katholischen Presse, da die „Monde" erkläre, eine Residenz auf Malta würde sowohl dem Papst, wie den Kardinälen

London, 12. September

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größere Freiheit verschaffen. — Man erfährt jetzt, daß die jüngst beendete europäische Reise der Königin Emma von den Sandwich-Inseln (zur Zeit in New York) mit dem anglikanischen Missionswesen in engster Verbindung stand. Königin Emma hatte Besprechungen mit vielen Würdenträgern der englischen Kirche und engagierte einen der ersten Londoner Architekten, auf dem Mittel-Eiland jener Inselgruppe eine mächtige Kathedrale zu bauen, die „Kathedrale des stillen Ozeans". Die schon zur Zeit ihrer Anwesenheit hier subskribierten Baugelder wurden nur zur Hälfte gedeckt. Als der Königin Emma diese Mitteilung gemacht wurde, sagte sie: „So baue ich die Kirche halb. Bleibt sie Ruine, so wäre dies ein Denkmal der Gleichgültigkeit in der alten Welt. Ich baue." — Pariser Korrespondenten hiesiger Journale sprechen einstimmig die Verwunderung darüber aus, „daß die bitterbösen Reden über Preußen im sonst so flüchtigen französischen Publikum und in der Pariser Presse so lange währen". Der „Standard" meint, es gehe dies aus dem Gefühl hervor, wie sehr das french prestige gelitten habe. Dasselbe Blatt versichert, ein aus Militärs und Zivilpersonen zusammengesetztes Comite berate einen Plan, die französische Armee zum Notbestande von 1. 5 0 0 . 000 Mann zu heben, ohne die Handels- und Ackerbau-Interessen zu schädigen. Mir scheint dieser Artikel eine späte Übersetzung eines Projekts, das Eugen Forcade vor Jahren empfohlen. Fast komisch klingt die Bemerkung des Engländers: „Es ist eigentümlich, daß die französische Regierung einem Winke der Revue des deux Mondes folgt." Interessant sind folgende Bemerkungen, welche ein „Reise-Korrespondent" desselben Blattes (des „Standard") über Norddeutschland macht: „Es ist bemerkenswert, wie wenig der Krieg trotz der Tatsache, daß man volle 4 0 0 . 0 0 0 Mann in der vollen Kraft des Lebens ihrem gewohnten Berufe entzog, die Fabrikindustrie Norddeutschlands beeinträchtigte. Was schadete, war die Furcht vor dem Kriege. Keine der von flehenden Handelskammern gefürchteten Folgen sind eingetreten. Wahr, für eine Zeitlang hatten die Fabrikherren weniger Aufträge, aber keiner der größeren stellte die Arbeit ganz ein. Sie arbeiteten ,kurze Tage' während einiger Wochen. Im Moment, wo der Friede eintrat, wurden sie mit Aufträgen überstürmt und haben jetzt mit ,Überzeit' zu arbeiten. Und die zu Hause gebliebenen Preußen! Die große Menge der Bevölkerung hat nichts durch den Krieg gelitten und in Norddeutschland stirbt die so oft das abergläubische England paralysierende Meinung aus, als bedeute Krieg immer Zerstörung des Handels, Aufhören der Produktion und Elend auch für solche, die den Kriegsszenen ferne bleiben. Die preußische Regierung wäre ganz leicht imstande,

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einen neuen Krieg zu unternehmen, selbst wenn ein künftiges Norddeutsches Parlament darüber gehört werden wollte." So schreibt ein Engländer, der mit den Bedürfnissen der Handelswelt vertraut ist. Auch dies alles spricht für die Weisheit der königlichen Armee-Reorganisation, zum Schaden des „fortschrittlichen prestige" der Zitterer und Heuler. [Nr. 215, 15. 9. 1866]

Zu Belgien. Englische Riflemen T h o m a s Carlyle über Parlamentarismus Erzbischof Manning ρ * L o n d o n , 17. September M a n spricht hier in dieser parlamentarischen Ferienzeit a m meisten über das, wovon man am wenigsten weiß. Und Zeitungsleser wollen einmal unterhalten sein. Dies weiß man auch auf dem Bureau des „Internation a l " , zu welchem originellerweise der Eingang durch einen englischen Makulatur- und Tapetenladen führt. D a s genannte Journal kostet unserem Alliierten an der Seine ebensoviel Zuschuß, wie die ehemalige Frankfurter Postzeitung dem Fürsten von T h u m und Taxis. D a s Blatt vernichtet Belgien alle Tage einmal zugunsten Frankreichs, und englische Blätter lassen sich von ihrem Wiener Korrespondenten versichern, daß das „philo-ottomanische E n g l a n d " sich weder diesmal für den Großherrn noch für Belgien schlagen werde, „weil es ja Dänemark im Stich gelassen h a b e " . Der „International" gilt als offiziös und nicht mit Unrecht. Dennoch bleibt es fraglich, ob das Annektieren Belgiens, sein gegenwärtiges Lieblings-Thema nicht zu jenen Dingen gehört, über welche auch offiziösen Redakteuren ein Privat-Urteil zu veröffentlichen erlaubt ist. Der „ S t a n d a r d " erfährt, daß Graf Bismarck nach seiner Wiederherstellung von einem Fußleiden den Fürsten Metternich in Biarritz treffen und dann in Beratung mit dem Kaiser das Schicksal Belgiens entschieden werden solle. Der „ S t a n d a r d " ist ein Blatt, das sehr rasch mit Fakten bei der H a n d ist. Obgleich fast unter einer und derselben Verwaltung wie der „ H e r a l d " , oft sogar im wortgetreuen Besitze eines und desselben Korrespondenten, hat es doch seine Tage, wo es von dem letztgenannten Blatte ( „ H e r a l d " ) bedeutend abweicht. Sein heutiger Leitartikel ist so herb gegen Preußen, als wäre er aus einer Blumenlese zur Zeit des preußisch-dänischen Krieges entstanden, während der „Morning H e r a l d "

London, 17. September

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sich d o c h schon zu mehreren M a l e n zu gerechteren Würdigungen der „Tat P r e u ß e n s " veranlaßt gefühlt hat. Verwunderung erregt übrigens hier in der Presse die Naivetät einiger belgischer Blätter, welche in dem bevorstehenden B e s u c h e der Mitglieder englischer R i f l e - K o r p s (Schützen) in Brüssel einen „politischen W i n k " für Belgiens N a c h b a r n

erblicken.

Diese Vergnügungsreise der Riflemen geschieht nur in Erwiderung der Visite, welche belgische Scheibenschützen im S o m m e r hier g e m a c h t haben. Z u r vollen entente cordiale k o n n t e es nicht k o m m e n , weil unter den viel Tausend englischen Schützen sich nur zwei fanden, die gut französisch parlieren k o n n t e n . Unsere R i f l e m e n zu Werkzeugen eines politischen Prinzips stempeln zu wollen, das k a n n eben nur ein belgisches Blatt. D e r englische Besuch in Brüssel wird sehr zahlreich sein, denn es sind die letzten W o c h e n der Ferienzeit, w o fast jeder L o n d o n e r Kaufm a n n seinem K o m m i s seine jährlichen acht T a g e Freiheit zugute k o m men

läßt.

Die englischen

Riflemen

verdienen

übrigens

vor all

den

„ S c h ü t z e n " anderer N a t i o n e n das L o b , d a ß sie nie politisieren, sondern sich nur um ihren Sport b e k ü m m e r n , und auch die kulantesten Belgier würden sie nicht zu anderer M a n i e r verführen k ö n n e n . „ T h e stony british stare" 2 · 5 (ein Blick versteinerter Verwunderung) würde die A n t w o r t sein. — Unsere Liberalen haben bekanntlich mehrere ihrer Chefs an die Tories abgegeben zur Z e i t des K a m p f e s um die R e f o r m b i l l . Lange zählten jene auch T h o m a s Carlyle für einen der ihren a u f alle Fälle. Es hatte dies j e d o c h schon öfters sein A b e r ; denn Carlyles b e k a n n t e s

Motto:

„ G l a u b e — Pflicht — A r b e i t " h a r m o n i e r t e sehr oft nicht mit dem Unterfangen jener Partei; d a ß er für Beschützung des abgesetzten G o u v e r n e u r s von J a m a i k a , Eyre, sich entschieden, nicht weil er die vorgefallenen Ausschreitungen billigt, sondern weil er die blinde A n i m o s i t ä t radikaler Verfolgungssucht mißbilligt, hat den gelehrten M a n n in die H ä n d e literarischer Feinde geliefert. So schreibt eines dieser Blätter: „Persönlich einer der freundlichsten M ä n n e r , hat Carlyle einen intellektuellen G e s c h m a c k für Blutvergießen

kultiviert, eine literarische Lust am

Abschlachten.

D u r c h H i n g a b e an diesen G e n u ß findet er Wollust in G r a u s a m k e i t . W i e der alte L e a r im Z u s t a n d e des Wahnsinns, droht er die Szene zu verlas-

25

Zit. aus Tennysons Gedicht „Maud", Part I, XIII, 2; F. erwähnt es in seinem Tennyson-Artikel in „Männer der Zeit" (vgl. NFA X X I / 2 , S. 702). Die Erstausgabe Maud, and other Poems (1855) enthält auch das v. F. übersetzte Tennyson-Gedicht „The Charge of the Light Brigade", vgl. Κ London, 1. April 1868 u. Anm.

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1866

sen, murmelnd 2 6 : Töte! Töte! Töte!" Es möchte scheinen, als hätte die Erbitterung gegen Carlyle einen anderen Grund. Er hat trotz seiner liberalen Weltanschauungen sich von Anfang an und neuerdings wieder zu öfterem gegen den Parlamentarismus in seiner originell-sarkastischen Weise ausgelassen: „This institution is talkee-talkee, palaver and sham." (Diese Institution ist Schwatzen, Plappern und Spiegelfechten.) — Der katholische Erzbischof Manning hat sich in Briefen an die Editoren mehrerer Blätter gegen die willkürliche Auslegung gewisser Teile seiner Predigt verwahrt, in denen er über die temporal power des Papsttums gesprochen. Vorgestern wurde ihm zu Leeds, nach Einweihung einer Kirche, ein Bankett gegeben. Bei dieser Gelegenheit antwortete er auf einen ihm dargebrachten Toast unter anderem folgendes: „Warum werden Kontroversen jetzt so selten in England? Weil ein so großer Teil der Geistlichkeit von der Staatskirche (established church) dem katholischen Klerus die Arbeit abgenommen hat, gewisse Doktrinen zu bekämpfen. Den Katholiken ist die glücklichere und friedlichere Aufgabe geblieben, das Feld abzuernten." (Lachen und Applaus.) Diese Art, kirchliche Dinge beim Dessert zu behandeln, ist keinesfalls eine besonders taktvolle — obwohl englisch. [Nr. 221, 22. 9. 1866]

Anspielungen. Amerika im Mittelmeer Was die Tories halten würde. Ergötzen und Bedauern Helgoland und sein Gouverneur p* London, 29. September Man ist hier nicht sehr erfreut über die Manier, in welcher die Alliierten an der Seine in unseren Gedanken lesen wollen. Augenscheinlich kennt man dort britische Empfindlichkeit gegen Anspielungen. Die „Patrie" erzählt, man bereue hier das Verzichtleisten auf die ionischen Inseln, und die „Patrie" hat recht. Die „France" versichert, Earl Derby sei so fest entschlossen, England in den Stand zu setzen, „um jenen Ereignissen zu begegnen, welche sich auf dem Kontinente vorbereiten, daß er im Falle parlamentarischer Opposition eher das Unterhaus auflösen, als abtreten würde". Die „France" kann auch hierin recht haben; nur ist es viel mehr

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Shakespeare King Lear, IV, 6.

London, 2 9 . September

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das östliche Mittelmeer, um dessentwillen hier so viele Depeschen an Schiffskommandanten in entlegenen Erdteilen geschrieben und „entbehrliche Breitseiten" gefordert werden. Auch ist es wohl nicht Zufall, daß gerade jetzt ein Teil der liberalen Presse dem Chef des Kabinetts vorrechnet, wie jede Auflösung des Unterhauses an bloß legalen Ausgaben dem Lande, d. h. der Tasche der Wahlkandidaten eine volle Million Pfund Sterling kosten würde, geschweige die Extras, welche den Wahlbestechungs-Inquirenten soviel Not machen. Man übersetzt außerdem fleißiger als sonst aus russischen Blättern, und die Idee der M o s k a u e r Zeitung, wonach für die Amerikaner „bei der bevorstehenden Auflösung des türkischen Reiches" eine permanente Flottenstation mit Hinterland abfallen müsse, hat einen leicht begreiflichen Grimm erregt. Schenkte das ToryKabinett dieser Stimmung Beachtung, so bliebe den Reformers nichts anderes übrig, als ihre Manöver zum Sturze der Tories auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Einige dieser Manöver sind sehr unparlamentarisch. D a ß Londoner Arbeiter die Königin um eine Audienz bitten, damit ihr eine Petition wegen Entlassung des Kabinetts persönlich überreicht werden könne, ist mindestens originell. Natürlich wurde die Audienz verweigert, und die Petition hat den schriftlichen Geschäftsgang zu gehen. Aber ein Versuch, „das Mittelmeer

zu amerikanisieren"

würde mehrere

Trafalgars kosten und ein Kabinett, welches dagegen Stand nähme, in Popularität so alt werden können, wie Lord Palmerston. Anspielungen auf alle diese Dinge hat man fast täglich von Pariser Blättern hinzunehmen, die schon das Resultat derselben Gedanken deutlich hinstellen, die man zu hegen hier erst angefangen. Man rächt sich seitens der britischen Presse mit Auslegungen des Zirkulars des Marquis de Lavalette und gibt den Franzosen zu hören, daß jenes Zirkular, ganz nahe besehen, doch nur eine Entschuldigung für eine Schwäche sei. Ein Blatt bemerkt, G r a f Bismarck habe die ärgerliche Stimmung in Frankreich für einen Krieg wegen Grenzregulierungen eine Zeitlang „absichtlich geschürt" (?!), aber der Kaiser dieses „ K o m p l o t t " (!) entdeckt und die Falle vermieden. Solche Worte müssen genügen, dem Alliierten von Portsmouth und Cherbourg die Laune zu verderben. Der „Morning Advertiser" bringt lange Artikel mit der Überschrift „Weshalb Frankreich keinen Krieg gegen Preußen u n t e r n o m m e n " und findet die Antwort, die geschwächte Gesundheit des Kaisers sei der einzige Grund. Es würde ihm unmöglich sein, einen Feldzug persönlich zu führen, und einen Marschall, wie M a c M a h o n , der keinen Anteil am 2. Dezember gehabt, die Siege zu überlassen, sei gefährlich für einen Napoleoniden, der keinen Rivalen in militä-

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1866 KÖNICSSTRASSE !

Peace — and no

Pieces!

Bismarck: " P a r d o n , m o n ami; b u t w e really c a n ' t a l l o w you t o pick u p a n y t h i n g h e r e . " N a p (the Chiffonnier)·. "Pray, d o n ' t m e n t i o n it, M'sieu! It's n o t of the slightest c o n s e q u e n c e . "

rischer Glorie auf französischer Erde dulden dürfe. O h n e auf diese politische Psychologie, in welcher die englische Presse nicht immer Glück hat, besonderen Wert legen zu wollen, f ü h r e ich dies nur an, um den Grad der wechselseitigen entente cordiale zwischen den beiden Nationen zu beschreiben. Keiner der beiden Alliierten läßt eine Gelegenheit vorübergehen, w o er irgendeine Verlegenheit des anderen mit stillem Ergötzen bedauern k a n n . — Die große Deputation aus Kanada hat täglich Konferenzen mit dem Kolonialminister Earl C a r n a r v o n . M a n weiß, d a ß es sich um britischen Schutz gegen die Vereinigten Staaten handelt, w o die Ferner, welche sich mit den Radikalen gegen J o h n s o n vereinigt, „Nemesis!" rufen. Es ist im Plane, die kanadische Küste mit der fernen Südwestgrenze durch eine Eisenbahn von 360 Meilen Länge zu verbinden. Da diese aber n u r den Wert einer Militärstraße hätte und, nach Briefen von dort, der Personenverkehr k a u m 100 Personen die Woche betragen

London, 29. September

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würde (indem die Bahn der geraden Linie wegen mitten durch Wildnisse führen soll), so fehlt es an Kapitalisten, um Geld in solchen Aktien anzulegen. Gefahren um Kanada jenseit des Ozeans und diesseits eine russisch-amerikanische Allianz werden hier schon als die Meilensteine zu einem großen Ringen betrachtet, für welches es zur Zeit noch an jedem Maßstabe fehlt. J e mehr die Presse bemüht ist, die Sorgen in Leitartikeln zu beschwichtigen, desto deutlicher sind sie vorhanden. Was die Sprache hinsichtlich Preußens angeht, so ist sie im allgemeinen eine viel würdigere geworden, als je zuvor. Doch gibt es gewisse Klassen, die grollen, und namentlich Finanzmänner diskutieren die Haltung der preußischen Regierung betreffs gewisser Hannoverscher (beim Beginne des Krieges hierhergebrachter) Aktien und Wertpapiere mit Heftigkeit und munkeln von möglichen ernstlichen Reibungen. Doch außerhalb der Börse munkelt man nicht mit. Englische Sportsmen haben ihre besondere Bekümmernis. In der ihren Interessen gewidmeten Presse wird darüber geklagt, daß die preußische Regierung „englischen Hunden" den Einlaß über die Grenze selbst „gegen P a ß " verwehre!! J a , sehr bissige Exemplare würden an der Grenze von den Preußen sofort „aufgehängt". (!!) Jedenfalls liegt alledem eine wunderliche Verdrehung von Tatsachen zugrunde und in der Mitte der Jagdsaison muß man es mit der Phantasie von jagdbeflissenen Briten nicht zu genau nehmen, falls sie sich mit „ornithologischen Gerüchten" befassen, wie man in England die „Enten" nennt. Wir bekommen eine „Helgoländer Frage". Die Helgoländer haben ihren englischen Gouverneur bei der Königin verklagt. Sein Name ist Makse; er war Kavallerie-Offizier in der Krim. Ein Reise-Korrespondent des „Daily Telegraph" erwähnt in seiner Skizze, wie die Helgoländer sich darüber beschweren, 1) daß Makse ihre alte Gemeindeverfassung umgestoßen und neumodische Beamte englischen Kolorits über sie gesetzt habe, 2) daß Makse Kaninchen eingeführt, ein gefährlich Ding für die Düne, und 3) daß Makse aus ihnen zugehörigen Balken und Planken ein Theater erbaut habe. Mit der Unterschrift „des Gouverneurs Bruder" ist zunächst eine Antwort in demselben Blatt erschienen, wo derselbe das Geschehene als auf Regierungsbefehl geschehen bezeichnet; auch sei Makse nur deshalb nicht beliebt, weil er Neigung zeige, die Helgoländer Spielbank aufzuheben. Darauf antwortet man hier: „Das hätte er schon längst von recht- und gesetzeswegen tun messen." Wie klein auch dieser Sturm im Wasserglase, er beweist wieder einmal, wie wenig der Engländer an anderen schont, was er zu Hause mit Eifersucht hütet, das selfgovernment. Der „Telegraph" empfiehlt, Helgoland aufzugeben, weil es Ursache grö-

1866

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ßerer Schwierigkeiten werden könne, als die Insel wert sei, vor allem aber der Spielbank ein Ende zu machen. Und das ist jetzt ziemlich sicher. Man wird keine Interpellation im Parlamente abwarten und die Tage der Croupiers von Helgoland sind wohl gezählt. [Nr. 2 3 0 , 3 . 1 0 . 1 8 6 6 ]

Die Zeitungen und die Vorgänge in Deutschland Moden und Mythen. Die Reform-Agitation „Die schlimmste Stadt der Erde" p* London, 11. Oktober Der Protest des früheren Königs von Hannover hätte vielleicht eine günstigere Beurteilung in der englischen Presse erfahren, wäre das Schriftstück würdevoller gewesen und hätte es nicht so grelle Ausdrücke der Erbitterung enthalten, wie man sie wohl in Leit-Artikeln von hiesigen Parteiblättern findet, die aber auf dem Kontinent zu den seltenen Ausnahmen gehören. Nur der „Morning Advertiser" — das Blatt der Radikalen, und zwar jenes Radikalismus, der sich sentimental gebärdet — überrascht mit einem Artikel, der, wenn auch in sehr umwundener Weise, das Begehren ausspricht, England solle irgend etwas tun in Sachen Hannover. Was? wird nicht gesagt, und nachdem beiläufig bedauert worden, daß der Chef der englischen Armee, der Herzog von Cambridge, durch die Vorgänge ein Thron-Erbrecht einbüße, welches ihm im Falle eines künftigen kinderlosen Königs von Hannover zugestanden (?), läuft der Artikel darauf hinaus, zu empfehlen, England müsse irgendeinen Schritt tun, der beweise, wie sehr man die drei entthronten deutschen Fürsten schätze im Gegensatz zur preußischen Politik. Es ist Tatsache, daß ein deutscher Demokrat 2 7 mit der Redaktion dieses Blattes liiert ist, und man nimmt gewöhnlich an, daß die deutsche Angelegenheiten berührenden Leitartikel seiner Feder zuzuschreiben seien. Eines steht fest, daß sich fast alle durch eine falsche Färbung auszeichnen, und in dem vorerwähnten Produkt ist die Unwahrheit des Schmerzes über deutsches Fürstenunglück ganz transparent und fadenscheinig, so daß die Absicht keinen Augenblick zweifelhaft bleibt. Andererseits macht die spöttische Weise, in welcher andere Blätter den Fall der Fürsten besprechen, einen

27

i. e. Karl Blind.

711

London, 11. O k t o b e r

n i c h t m i n d e r u n a n g e n e h m e n E i n d r u c k , u n d m a n e r s t a u n t , in e i n e m k o n s e r v a t i v e n B l a t t e W o r t e zu f i n d e n , w i e die f o l g e n d e n : „ F ü r u n s e r e n T e i l b e s o r g e n wir, d a ß die V o r s e h u n g n i c h t l ä n g e r e i n e s e n t i m e n t a l e

oder

k o m p u l s i v e M a c h t ist, s o n d e r n ein D i n g o h n e P a r t e i u n d L e i d e n s c h a f t , d a s g e r a d e s o v i e l I n t e r e s s e an e i n e m g e f a l l e n e n F ü r s t e n h a t , w i e an e i n e m g e f a l l e n e n B a u m . " — M o d e u n d S p o r t h a b e n die g e w a l t i g e n d i e s e r S o m m e r z e i t in i h r e r W e i s e a u s g e b e u t e t . L a d i e s t r a g e n Schärpen

und S a d o w a - J a c k e n

Garibaldi-Blousen,

anstatt der i m m e r w ä h r e n d e n

d e n e n s o g a r die k l e i n s t e n K i n d e r n i c h t

Ereignisse Sadowablutroten entgingen,

u n d m e h r e r e R e n n e r v o n R a n g sind u n t e r d e m N a m e n B i s m a r c k ,

Sa-

d o w a , N a c h o d f ü r die n ä c h s t e n W e t t r e n n e n e i n g e t r a g e n . E s ist m e r k w ü r dig, w i e die K u n d e v o m „ N e e d l e - G u n " ( Z ü n d n a d e l ) b i s in S c h i c h t e n d e r B e v ö l k e r u n g g e d r u n g e n , die nie e i n e Z e i t u n g l e s e n , u n d , w i e g e w ö h n l i c h bei

mündlicher

Tradition,

macht

die

Phantasie

eine

ungeheuerliche

W a f f e a u s d e m Z ü n d n a d e l g e w e h r , d a s s o l c h e n B e s c h r e i b u n g e n n a c h alle H ö l l e n m a s c h i n e n w e i t h i n t e r s i c h l a s s e n m ü ß t e . E i n e a n d e r e S a g e ist, G r a f B i s m a r c k suche M o n i t o r s und andere amerikanische Panzerschiffe in M a s s e a u f z u k a u f e n , und u n t e r h a n d l e j e t z t m i t J o h n s o n w e g e n Ü b e r lassung eines W i d d e r s t u r m s c h i f f s , dessen Spitze aus e t w a 1 0 0 Fuß ges c h l i f f e n e n S t a h l s b e s t e h e und in f ü n f M i n u t e n drei K r i e g s s c h i f f e a u f s p i e ß e n k ö n n e . — E s s t e h t fest, d a ß die l i b e r a l e n M i n i s t e r a . D .

übereinge-

k o m m e n , sich a u ß e r h a l b d e r R e f o r m b e w e g u n g zu h a l t e n , u n d m a n w e i ß v o n E r k l ä r u n g e n i h r e r s e i t s , d e n e n z u f o l g e a b z u w a r t e n sei, o b u n d w e l c h e S c h r i t t e d a s T o r y - K a b i n e t t in j e n e r F r a g e t u n w e r d e . E i n e a u f Z u w a r t e n v e r w e i s e n d e E r k l ä r u n g des e h e m a l i g e n o f f i z i e l l e n W h i p p e r - i n im D i e n s t e des a b g e t r e t e n e n K a b i n e t t s , M r . B r a n d , w u r d e v o n d e n B l ä t t e r n m i t d e r Ü b e r s c h r i f t v e r ö f f e n t l i c h t „ D i e l i b e r a l e n M i n i s t e r u n d die R e f o r m b i l l " . M a n h a t sie, o h n e W i d e r s p r u c h zu b e g e g n e n , als e i n e K o l l e k t i v e r k l ä r u n g des f r ü h e r e n K a b i n e t t s h i n g e n o m m e n . I n z w i s c h e n v e r f o l g t Bright

eine

sehr u n e n g l i s c h e T a k t i k . E r s a g t d e n A r b e i t e r n , die K ö n i g i n s t e h e a u f S e i t e d e r R e f o r m e r s u n d f ü h l e sich s e h r g e k r ä n k t d u r c h d a s F e h l s c h l a g e n der R e f o r m b i l l . D i e s wird ausgebeutet, um der S a c h e der R e f o r m e r s eine g e w i s s e G l o r i e zu g e b e n , die a u f F a b e l e i b e r u h t , u n d d a s K a b i n e t t als G e g n e r v o n K ö n i g i n u n d V o l k zu c h a r a k t e r i s i e r e n . D a s m a g im N o r d e n w i r k e n u n d die R e f o r m e r s t u m m e l n sich f a s t a u s s c h l i e ß l i c h im N o r d e n . H i e r im S ü d e n s c h w e i g t , a u ß e r in d e r P r e s s e , alles I n t e r e s s e an d i e s e r m i t Fahnenschwenken und bunten chinesischen Papierlampen ausgestatteten nachträglichen Reformbewegung.

— Wie der „Liverpool M e r c u r y "

er-

z ä h l t , g i b t sich die P o l i z e i d a s e l b s t M ü h e , den „ G e l e h r t e n " e i n e s g e h e i -

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men Lehrinstituts auf die Spur zu kommen, das sich mit dem Unterricht in der „Kunst zu stehlen" beschäftigt. Es zirkulieren wirklich in gewissen greulichen Quartieren des notorisch lasterhaften Liverpool Prospektusse über „The Liverpool College for the Education of Thieves", in denen angeführt wird, daß ordentliche Professoren beiderlei Geschlechts in allen Branchen unterweisen. Es wird erwähnt, daß der Pöbel von Liverpool fast dem von Edinburgh gleichstehe und nicht weniger als 80 Prozent aller Morde und Totschläge in Liverpool stattfinden, die Totenliste der Stadt verhältnismäßig die längste sei und die Bewohner mancher Quartiere in Unreinlichkeit und in überfüllten Winkelhöhlen verkommen. Ein Blatt bemerkt: „Die Lokalverwaltung der Stadt ist die unfähigste, die gedacht werden kann, und es ist Zeit, daß Hand angelegt wird, um die Stadt vor dem Verrüfe zu schützen, dem sie rapide zu verfallen droht, die schlimmste Stadt der Erde zu sein." [Nr. 241, 16. 10. 1866]

Tory-Reformbill. John Brights bedenkliche Reden Die Riflemen in Belgien. Argyll und C o m p . Prinzessin Murat p':" London, 20. Oktober Nicht nur auf Hörensagen, sondern auf sicheren Mitteilungen beruht die Meinung, daß das Tory-Kabinett eine eigene Reformbill einbringen werde, jedoch nicht vor Ausgang des Frühjahres. Dieselbe soll im wesentlichen eine bessere Zusammenlegung der Wahlkreise bezwecken — eine Minderung des sehr erheblichen Unterschiedes zwischen städtischem und ländlichem Wahlrecht usw., begleitet von einer Bill, um der Korruption, der Wählerbestechung, zu welcher verschiedene Ortschaften neuerdings so eklatante Illustrationen geliefert haben, in einigem zu steuern, ohne sich zum Bailot entschließen zu müssen. D a s wird freilich den Reformers nicht genügen und am wenigsten John Bright, der — obwohl mit Einstreuung verschiedener Wenn und Aber — doch in diesen Tagen Reden geführt hat, welche einem Staats-Anwalte, gäbe es deren in England, eine leichte Handhabe bieten könnten, eine Anklage zusammenzusetzen, ähnlich in vielem derjenigen, laut welcher einige Dutzend Fenier in Londoner Strafanstalten beschäftigt werden. Bright verlangt Änderung der Eigentumsverhältnisse „am Lande". Er schreibt alle erdenkliche Mißregierung den 150 Landeseigentümern Englands und den zwölf in Schottland zu. Was wir an Mißregierung jedoch besitzen, ist wahrlich

London, 20. Oktober

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nicht durch die kleine Z a h l der „glücklichst situierten M i n d e r h e i t " verursacht, sondern gerade durch die liberale Mittelklasse, deren Koryp h ä e n in Kabinetten, w o Russell oder G l a d s t o n e fungierten, vierunddreißig J a h r e lang am R u d e r gewesen mit k a u m n e n n e n s w e r t e n Pausen. D e r „ S t a n d a r d " schreibt Leitartikel mit Scheidewasser gegen diese Brightschen M a n ö v e r s , welche die politische A p a t h i e f ü r eine Reformbill in sozialistischer Erhitzung über Mein und Dein zu v e r w a n d e l n suchen, w e n n auch nur u m d e m Mangel an politischer A u f r e g u n g zu H ü l f e zu k o m m e n . Sehr richtig sagt der „ S t a n d a r d " : „Bright verlangt von der Gesetzgebung A b h ü l f e gegen die A n h ä u f u n g großen L a n d e i g e n t u m s in wenigen H ä n d e n , aber die Gesetzgebung k ö n n t e nur konfiszieren. Es ist u n m ö g l i c h , Land den jetzigen Eigentümern zu n e h m e n , u m die Z a h l kleinerer Eigentümer zu v e r m e h r e n , o h n e legalisierten R a u b . Bright w ü r d e sich selbst mit Z ä h n e n u n d Nägeln gegen jede Verteilung seiner eigenen H a b e w e h r e n und gegen die H a b e seiner M i t f a b r i k a n t e n , u m jene ländlichen Arbeiterklassen glücklich zu m a c h e n , deren Los er so beklagt. D o c h , vergesse er nicht, solche neugeschaffenen G r u n d b e s i t z e r kleineren Schlages m ü ß t e n d o c h Kultur-Kapital h a b e n , und da sie schwerlich Leute finden d ü r f t e n , die ihnen borgen, so m ü ß t e n Fabrikanten u n d G e l d m ä n n e r a m E n d e beisteuern zu dem, was Bright ,ein Eden' n e n n t ,schön mit Blumen u n d reich an F r ü c h t e n ' . " — M a n hört in diesen Tagen k a u m a n d e r e Gespräche, als solche über den brillanten E m p f a n g , welcher die 1200 englischen Riflevolontärs in der belgischen H a u p t s t a d t zuteil g e w o r d e n u n d über die Siege der englischen Büchsenmänner. Es k ö n n t e so scheinen, als f ä n d e m a n den E m p f a n g und die gastliche Aufn a h m e fast zu gut. M i ß t r a u e n w o h n t immer in einer englischen H e r z t a sche und in nicht weniger als drei Leit-Artikeln lese ich heute die Frage „gewinkt", o b die guten Belgier nicht am Ende d a m i t „politische Absicht e n " v e r b ä n d e n . Der „Daily T e l e g r a p h " beeilt sich mit spaltenlangen Umschweifen wieder und wieder zu b e t o n e n , „ d a ß die besten Freunde Belgiens diejenigen seien, die ihm in dieser Zeit der Grenzberichtigungen anrieten, so wenig wie möglich auf ausländische Sympathie und Beihülfe zu h o f f e n " . Eine a n d e r e Sorge, „zärtlich zugleich und naiv", liefert Stoff zu Leit-Artikeln, wie sie kein festländisches Blatt solchem T h e m a widmen w ü r d e . Es ist die Sage, die englischen Gentlemen k ö n n t e n im vin d ' h o n n e u r des G u t e n zuviel t u n . Es müssen doch irgendwelche Neuigkeiten solchen Inhalts schon hierher gelangt sein, wenn es sich auch nicht gerade um g r o ß e Exzesse handeln mag. Im Leitartikel des „Daily Teleg r a p h " heißt es wörtlich: „Unsere Zivil-Soldaten, o b w o h l a d m i r a b l e

London, 27. Oktober

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K u m p a n e (fellows) in ihrer eigenen schlichten und m a n n h a f t e n Weise, mögen sich nicht immer vorteilhaft ausnehmen nach späten Sitzungen, bei einer Partie, w o die Lieferung guter D i n g e eine unbeschränkte ist. Unsere Armee, d a s wissen wir, fluchte gar schrecklich in Flandern. H o f fen wir, d a ß unsere Riflemen sich nicht zu frei mit der S ü d b r a b a n t e r T r a u b e (?) abgegeben haben. Der Brite auf Reisen ist mitunter fähig, insolent zu sein; und Freundlichkeit, anstatt ihn zu bessern, gibt ihm nur eine übertriebene Idee von seiner Wichtigkeit. Es ist g a n z gut, daß wir diese D i n g e lieber gleich offen einräumen, ehe unsere paßlichen Kritiker drüben uns d a s zu verstehen g e b e n . " N a c h einer so köstlichen Offenherzigkeit werden die Flamländer nicht umhin können, „mildernde Ums t ä n d e " gelten zu lassen. — D a s „ J a m a i k a - C o m i t e " , welches Eyre den Prozeß machen will, läßt s a m m e l n , um die S u m m e von 10.000 Pfund Sterling z u s a m m e n z u b r i n e g n , welche die Sache kosten dürfte. — Ein jüngerer Sohn des H e r z o g s v. Argyll eröffnet ein k a u f m ä n n i s c h e s G e s c h ä f t unter der Firma „Argyll u. C o . " Leitartikel „ f e i e r n " d a s Ereignis. N o c h nie hat ein C a m p b e l l zuvor zu Elle oder M a ß gegriffen. — O h n e weitern Z u s a t z erwähnen englische Blätter, daß die Prinzessin Achille M u r a t sich a m M i t t w o c h zu Liverpool an Bord begeben, um eine Reise nach B o s t o n und H a l i f a x zu unternehmen. Die Suite blieb zurück. [Nr. 248, 24. 10. 1866]

Die R e f o r m b e w e g u n g . R e f o r m - L a d i e s Hinterladungsgewehre und M r . Snider Regierungs-Schlendrian p * L o n d o n , 27. O k t o b e r Trotz alles A u f w a n d e s von Anstrengung ist es den R e f o r m e r s bis jetzt nicht gelungen, die R e f o r m b e w e g u n g zu einer allgemeinen zu machen. Es ist immer Manchester, B i r m i n g h a m und Liverpool in verschiedener Reihenfolge, w o d a s Feuer unterhalten wird. Der g a n z e Süden und Osten, g a n z Wales ebenfalls, haben sich nach einzelnen Meetings von allerhand Volk beiderlei Geschlechts wieder zur Ruhe begeben. N u r im N o r d w e s t e n sind es die Weber und Spinner, die über sozialistische D i n g e grübeln, oder die Bergleute in Staffordshire, die hart, sehr hart arbeiten und in jedem, w a s neu, eine Erleichterung ihrer L a g e vermuten. Die Reformer-Presse faselt von der weitergreifenden Bewegung; doch diese

716

1866

greift nicht weiter. Es sind immer dieselben Statisten um die Rednertribüne und die Redner bleiben dieselben, wie Pariser Komödianten, die an einem Abend auf drei Bühnen zu agieren haben. Der ganze Süden, Osten und Westen ist still — ersterer ist vornehmlich konservativ an der See. Was Sie von großen Umzügen lesen, ist tatsächlich richtig; nur ist zu erwägen, daß kein Engländer sich gern einen Feiertag entgehen läßt. Diese sind zu rar. Wenn also in solchen Bienenkörben, wie Manchester und Glasgow, einmal ein Extra-Sonntag von den Arbeitsherren den Reformers zulieb bewilligt wird, so macht Kind und Kegel daraus soviel als möglich. Schaulust ist nicht erstickt durch das unvermeidliche „No time!" Jung und Alt schließt sich den Umzügen an, ohne sich im besonderen viel Gedanken um Reformbills zu machen. In London „bewegt" es sich nur in der Presse. Man macht die Prinzipien des Gegners lächerlich, erschöpft den englischen Wahl-Meidinger, ein ungeschriebenes, aber reichhaltiges Buch, wie das dänische Schimpfwörter-Lexikon, und kein Parlamentsmann von Einfluß geht zu Bett, ohne in Druck und Schrift während des Tages mit den verschiedensten Lasttieren der Zoologie verglichen zu sein. Einen Versuch jedoch will man in London zur Bewegung machen, der durch Neuheit frappiert. Es ist erinnerlich, daß in Deutschland 1848 an Orten, wo im Krawall einige geblieben, diese, der Aufregung wegen, durch die Straßen zur Schau getragen wurden, mit den nötigen roten Fahnen usw. Die Londoner Reform-Ligue hat nun den Entschluß gefaßt, ein Meeting aller derer zusammenzuberufen, die bei den jüngsten Hydepark-Krawallen körperliche Verletzungen oder Garderobe-Beschädigungen davongetragen. Das ist wirklich ernsthaft gemeint, wird aber viel belacht. Ein sehr liberales Blatt sogar erklärt diese beabsichtigte „Ausstellung alter Beulen" für eine Art, dessen Weisheit bezweifelt werden müßte, und für jedenfalls geschmacklos. Ohnehin wird der Effekt keineswegs so schaurig ausfallen, als die „Volksfreunde" wünschen. Erstlich sind die Narben vom Kampftage verharscht und wohl nur die Stelle aufzuweisen, wo dergleichen gewesen, und andererseits, wie der „Daily Telegraph" mit psychologischer Kenntnis seiner Landsleute voraussagt, könnte die Ligue doch nicht wissen, ob jeder Reformer, der sich über Mißhandlungen beschwert, im Hydepark wirklich gehandhabt worden ist. Es gab seitdem viele Sonnabende und leider auch Sonntage, wo in den Bierhäusern Nachahmungen solcher Kämpfe im kleinen nicht zu den Seltenheiten gehören, ohne irgendeine Rücksicht auf das Beste der Reformbill. Der Umstand, daß zwei Ladies, Mistress Bodichon und Doktor Mary Walker, auf dem diesjährigen Social Science Congress

London, 27. O k t o b e r

Mill's Logic; or, Franchise

for

717

Females

"Pray clear the way, there, for these — a — persons."

für „Urwählerrecht der Frauen" gesprochen, für welches sie beim stärkeren Geschlecht nur den Philosophen des Liberalismus John Stuart Mill auf ihrer Seite haben, gibt dem „Punch" Anlaß zu erläutern, daß, indem ein Stimmrecht den Frauen auch eine Stimme über die Armee-Organisation geben müßte, ein solches Recht nicht ohne Verpflichtung zum Milizdienste statthaben könne. „Die Ladies, welche nach politischem Wahlrecht seufzen, sollten keine Zeit verlieren, Amazonen-Regimenter zu bilden, um darzutun, daß mit der Forderung seines Rechtes sie auch die Pflichten des Staatsbürgers akzeptieren." Beiläufig sei bemerkt, daß, zum großen Ärger der Reformers, die Regierung bis auf den heutigen Tag die während des Reform-Krawalls niedergerissenen Eisengitter des Hydeparks unausgebessert gelassen. Nur mächtige grobe Holzwände sind errichtet, welche die Aussicht verschließen und das Vorgefallene allen, die es angeht, ins Gedächnis zurückrufen. Seit jenen Tagen ist der Park sehr unsicher in den frühen Abendstunden und wird gemieden. An Beraubungen fehlt es nicht. — Betreffs der Einführung von Hinterladungsgewehren in der englischen Armee hat man sich bekanntlich für das Sniderscbe System entschieden. Der Erfinder lebt hier sehr arm und sehr krank."' * Snider ist inzwischen gestorben, wie wir in Nr. 2 5 3 berichtet haben. D. Red. [Tagesbericht, in: Nr. 2 5 3 , 30. 10. 1866]

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1866

Als er vor sieben Jahren der liberalen Regierung seine Erfindung anbot, gestattet sie ihm Proben, aber verklagte ihn vor Gericht um ein Pfund Sterling, einen Schilling und zwei Pence — den Betrag nämlich für das dabei verschossene Regierungs-PulverU Als es ihm dennoch gelang, die Regierung von der Trefflichkeit des Systems zu überzeugen, handelte sie ihn in seiner Forderung bis auf 1000 Pfd. Sterling herunter, womit Sniders Gläubiger bezahlt wurden. Die Sache wird viel besprochen, wird aber allem Anscheine nach mit dem „Mohren, der seine Pflicht g e t a n " 2 8 , enden; denn wenn einmal in England ein Geschäft Zug um Zug abgeschlossen, wird weitere Großmut der Börse des großen Publikums überlassen. — Als Beitrag zur Geschichte, „wie man Flotten baut", wird neuerdings wiederum ein Fall berichtet. Ein neues Flaggenschiff, gebaut unter der letzten Regierung, machte in voriger Woche seine erste Probefahrt im Kanal, wobei ein Teil der Maschine in Stücken ging, die Mehrzahl der inneren Balken zerbrachen, Raaen und Spiren auf das Verdeck „brökkelten" und schließlich entdeckt wurde, daß das Grundholz des Kieles völlig in Fäulnis übergegangen. Dies ist Nummer „acht" seit September. „Was England braucht, ist eine — Regierung", hört man allenthalben sagen. Auch das jetzige Kabinett hat leider nach einigen kräftigen Ansätzen manchen Hebel wieder aus der Hand gelegt, gelähmt durch ParteiRücksichten, wie es heißt. Die Mode ist mächtig, sagt man; aber Schlendrian ist es auch, und er hat sich tief eingefressen in die parlamentarische Maschine. [Nr. 254, 31. 10. 1866]

Herr v. Beust. Die Verlegenheiten der Radikalen Die Anglo-Romanen. John Bright in Dublin Streiten hin und her. James Stephens p* London, 2. November Die Ernennung des Freih. v. Beust zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Österreich erfährt hier dieselbe Beurteilung, wie in deutschen Blättern. Auch hier teilen sich in der Presse die Meinungen. Während auf der einen Seite versichert wird, Österreichs Regierung erkenne

„Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen", Schiller, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783), III, 4.

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London, 2. November

die vollbrachten T a t s a c h e n an und Hr. v. Beust selbst h a b e in einem P r o m e m o r i a den O s t e n und nur den O s t e n als die Aufgabe der künftigen auswärtigen Politik Ö s t e r r e i c h s bezeichnet, bleibt die andere Meinung dabei, ihn den M i n i s t e r des Temporisierens zu nennen, um

„einmal"

nach gehöriger Vorbereitung R e v a n c h e für S a d o w a zu n e h m e n . An letzterer M e i n u n g halten vornehmlich solche d e m o k r a t i s c h e J o u r n a l e fest, denen nichts Übleres begegnen k ö n n t e , als die Festigung eines H o h e n z o l lern-Deutschlands.

Diese Blätter, der „ M o r n i n g A d v e r t i s e r "

obenan,

sympathisieren mit jenen Leuten der „ D e u t s c h e n R e v o l u t i o n " , die gerade deshalb mit der veränderten O r d n u n g der D i n g e grollen, „weil ihnen Preußen die ohnehin spärlich gewordenen Agitationsmittel aus den H ä n den gerissen". Aus Schleswig-Holstein mehr erpreßt

oder erheuchelt

werden

kann kein

Schmerzensschrei29

— die Einheit

und

Einigkeit

D e u t s c h l a n d s ist aus ihrem P r o g r a m m e g e n o m m e n , — die H o h e n z o l l e r n Flotte zeigt schon die W i m p e l am H o r i z o n t e , und ein P a r l a m e n t kann nicht mehr als ein vorenthaltenes G u t von ihnen bezeichnet werden. D e r „ M o r n i n g A d v e r t i s e r " , der sich am meisten um den Uhlandschen „Tropfen d e m o k r a t i s c h e n Ö l s " 3 0 b e k ü m m e r t , sieht deshalb nur schwarz. Ihm ist nichts gewisser als ein neuer Ausbruch der Feindseligkeiten a u f deutschem Boden im J a h r e 1 8 6 8 , nach

der großen Industrie-Ausstellung zu

Paris. — Vor kurzem bestritt ich in einem Briefe, d a ß das Z u s a m m e n t r e f fen mehrerer Minister des früheren Kabinetts ( G l a d s t o n e , Russell und M i l n e r G i b s o n ) in R o m irgendeine politische Tendenz habe oder mit der „ R ö m i s c h e n F r a g e " in Berührung stehe. * D a s Z u s a m m e n t r e f f e n w a r und ist z w a r nicht ein zufälliges, sondern ein h e r k ö m m l i c h e s . M a n hat nur in früheren J a h r e n dies nicht besonders beachtet. M a n m u ß wissen, d a ß es unter den „oberen

Zehntausend",

der „regierenden

Klasse",

eine

g r o ß e Z a h l gibt, die man hier „ A n g l o - R o m a n e n " heißt, die in R o m so zu H a u s e sind, wie hier in H y d e p a r k . Sie bilden eine g r o ß e englische Kolonie nahe der Porta del P o p u l o . D a r u n t e r sind die Familien Russell, C l a r e n d o n und viele andere. Wen von diesen nicht A m t oder G e s c h ä f t in England fesselt, der w o h n t im H e r b s t und W i n t e r in R o m , gibt engli-

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Vgl. Anm. zu Κ Posen, 23. November 1861. „Glauben Sie, meine Herren, es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist", Schlußsatz der Rede Ludwig Uhlands vor der Frankfurter Nationalversammlung am 22.1.1849. Jene Herren sollten angeblich auch in Athen erwartet werden. D. Red.

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1866

sehe Diners, empfängt, reitet durch die Campagna, stört arbeitsame Künstler in ihren Ateliers und läßt kein großes Fest der katholischen Kirche vorübergehen, ohne gegenwärtig zu sein. Es ist kaum glaublich, wie zahlreich diejenigen Briten, die völlig italienisiert sind. Sie haben sich jener südlichen Natur sogar leichter assimiliert, als den Pariser Manieren trotz der größeren Nähe der letzteren. In jeder römischen Fremdenliste würden sich alljährlich im Herbste ebenso viele Namen von englischen Staatsmännern finden, die einmal Minister gewesen, als in diesem Jahre. Nur man achtete weniger darauf mit dem Auge des um Neuigkeiten verlegenen Argwohns. — Jetzt beginnen hier die Minister-Conseils von neuem; die Ferien sind vorüber, welche von Parlamentsmännern und solchen, die es werden wollen, mit politischen Vorträgen für Wähler in den Provinzen ausgefüllt worden. Selten wurden Wähler so rasch hintereinander und mit so vielen Reden, besonders mit allen erdenklichen Ansichten über Reformbills traktiert; aber unter allen diesen Banquets ist keines von solcher Bedeutung, als das Herrn Bright in Dublin gegebene, keine Rede, die einen so großen historischen Kommentar zuläßt. Wie Bright, so haben auch andere Redner die früher in Preußen getroffenen Maßregeln zur Vermehrung bäuerlichen Grundbesitzes als Muster aufgestellt. In der Landfrage liegt das Schicksal Irlands ohne Zweifel; die alten Bezüge zwischen Grundherrn und Pächtern sind zerrissen, seitdem Emporkömmlinge anstelle der alten Familien getreten und aus der Ferne ihre Herrschaften verwalten ließen. Andererseits sind jedoch diese alten Familien nicht ausgestorben, sondern die Nachkommen sind arme Leute geworden, die sich oft noch an eine Hütte klammern, die gegenüber demselben Schlosse auf dem Hügel steht, wo noch ihr Großvater ein „geliebter Herr" gewesen. Durch jene englische Akte, welche mit einem Schlage hunderte der irischen Gentry ruinierte, indem sie ohne Zeitgewährung plötzlich die liegenden Gründe zu Pfandobjekten machte, ist ein Proletariat geschaffen, das, vom ältesten Blute, in so kurzer Zeit nicht vergessen kann, daß „drüben" dort im Herrenhause jetzt der Advokat N. oder Bankier X . aus London seinen Renten-Eintreiber wohnen läßt. Diese Klasse berührt freilich John Bright nicht in seiner Rede; aber infolge der Sympathien, die sie unter den umwohnenden alten GutsInsassen noch heute findet, wird auf den andern, glücklicheren, immer mit tausend Fingern als den verhaßten Sassenach gewiesen, „der mit Klauseln und Paragraphen die alte gute Zeit erwürgt habe". Dies ist nur eine Farbe aus dem grellen Kaleidoskop der Irischen Frage. Bis jetzt ist die vielausgesprochene „beste Absicht" Englands, der „vielhundertjäh-

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L o n d o n , 10. N o v e m b e r

rigen Mißregierung" Irlands im Parlamentswege ein Ende zu machen, noch nicht weiter gediehen, als zu gegenseitigen Vorwürfen zwischen den beiden balanzierenden Parteien im Reiche. Es ist in der Tat nur die Rede davon, ob denn den Whigs oder den Tories dies Elend Irlands zuzuschreiben sei, dem Kabinett Soundso, dieser oder jener Akte etc. Jeder will Recht behalten. So gehts und gings in der Presse wie im Unterhause, und inzwischen währt die irische Auswanderung fort. In Irland wird das Gerücht umgetragen, James Stephens, der Fenier, sei wieder in einigen Wochen zu erwarten. Dies ist doch sehr zweifelhaft bei einem Risiko von lebenslänglicher Strafarbeit. Soviel ist richtig, daß Stephens ein Abschiedsmeeting in New York gehalten und zwar, wie es heißt, nach Empfang der Nachricht, daß der ehemalige „irische Rebell" Mitchell Paris verlassen, um Stephens bei den Feniern als einen Vergeuder von Revolutionsgeldern zu verklagen. — Wie Ihnen schon bekannt sein wird, ist der in meinem letzten Briefe erwähnte Erfinder des neuen englischen Hinterladungsgewehrs Snider in Wales gestorben, an Mangel und „von seinen Gläubigern zu Tode gehetzt", wie ein Blatt hinzufügt. Die vom Minister bewilligte Geldgabe kam zu spät. Das Parlament soll um eine Dotation für die Hinterbliebenen angegangen werden. [Nr. 2 6 0 , 7. 11. 1866]

Tory-Fortschritte. Mehr Eisen im Blut Brot- und Fleischpreise p* London, 10. November11" Allem Anschein nach verbessern sich die Beziehungen Englands zu den Vereinigten Staaten und die Alabama-Frage, die so lange Zeit hindurch geschwebt und die Gemüter „unserer Vettern drüben" verbittert hat, steht auf dem Punkte, durch Lord Derbys Geschicklichkeit beigelegt zu werden. Überhaupt gewinnen die Torys an Terrain. Es ist ersichtlich, daß sie sich nicht nur die Landesverteidigung (das taten die Whigs auch), sondern überhaupt die Wehrhaftmachung des Landes angelegen sein lassen. Sie fassen die Möglichkeit einer Offensive ins Auge und daran ist nicht nur die veränderte Weltlage schuld, nicht die orientalische, am

* An den Herrn Korr. — Ein unliebsamer Zufall hat gewaltet; daher die freie Restauration. D . Red.

Ill

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allerwenigsten die belgische Frage. „Die Torys haben mehr Eisen im Blut", so klingt es wieder, wie eine Reminiszenz aus Tagen, die u m ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Besonders ist es die Panzerflotte und das Hinterladungsgewehr, worauf das Tory-Kabinett seine Aufmerksamkeit richtet, aber auch die Frage wird lebhaft diskutiert: inwieweit es überhaupt möglich sei, das preußische System für England nutzbar zu machen. An allgemeine Wehrpflicht ist hier freilich aus hundert Gründen nicht zu denken; aber die preußische Armee weist ja noch andere Vorzüge auf, die sich immerhin partiell verwerten ließen, ohne auf den Kardinalpunkt einzugehen. — D a s preußische Heer und seine Erfolge sind auch Ursache, daß man sich wieder eifriger um Deutschland kümmert. Dabei müht man sich, des bisherigen Grolles, der eigentlich nur vom dänischen Kriege her datiert, nach Kräften Herr zu werden. Selbst die Toryblätter sprechen von einer gemeinschaftlichen A u f g a b e Englands und Deutschlands: die Wächter der gefährdeten europäischen Kultur zu sein, und variieren ein altes englisches Sprüchwort dahin: „Wenn England mit seinem deutschen Vetter grollt, so grollt es nur für eine S a i s o n . " Und diese Saison scheint nun vorüber und einer freundlicher gesinnten Platz zu machen. — Im übrigen leiden wir hier unter der Mißernte dieses Sommers. D a s Brot wird immer kleiner und die Bäcker, die jedem der ihrigen, der nicht hohe Taxe hält, eine Pön auferlegen, befinden sich in einem Zustande der Verschwörung gegen das Publikum. Die Fleischpreise sind verhältnismäßig niedrig, doch hat dies zunächst darin seinen Grund, daß die Viehzuchts-Grafschaften, namentlich Yorkshire, ihr Vieh nicht mehr ernähren können und es massenhaft auf den M a r k t bringen. M a n seufzt bereits nach Regelung dieser Verhältnisse und würde eine durch Kontrollbehörden festgesetzte Taxe nicht ungern sehen. [Nr. 266, 14. 11. 1866]

Deputation aus K a n a d a . Gaunereien Mr. C a v a n a g h und Mr. Fawcett Häkeleien. Winternot p::' L o n d o n , 20. November Die Lage K a n a d a s bildete in vergangener Woche neben den Budget-Items den vornehmsten Gegenstand der nach den Ferien wieder aufgenommenen Ministerberatungen, und tut es auch in diesen Tagen. Heute oder

London, 20. November

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morgen wird eine zweite Deputation von Delegaten der „Kanadischen Konföderation" erwartet, um mit der Regierung M a ß n a h m e n zu beraten, die zur Verwirklichung des Unionsplanes führen könnten und zur Anlage einer großen Z e n t r a l b a h n , welche man für unerläßlich erachtet, um den entlegenen bedrohten Grenzstationen Kriegsmaterial und Truppen jederzeit zuführen zu können. Hiesige Blätter sind sehr indigniert über den in höflichem Tone ausgedrückten Wunsch des amerikanischen Staatssekretärs Seward, den verurteilten Fenierchefs in Kanada Pardon angedeihen zu lassen. M a n hat ihnen ja eben erst den Galgen erlassen. Andere Blätter, als die bezogenen, rügen die „hysterische" Indignation ihrer Kollegen und erinnern daran, d a ß englische Diplomaten anderen Mächten gegenüber viel gröber sich ausgelassen. England habe vom Könige von Neapel seinerzeit die Auslieferung der Ingenieure von Cagliari ertrotzt und ebenso von Österreich die Freigebung des Colonels Türr, als dieser, ein Deserteur, im Auftrage der englischen Regierung in der 1849 von den Österreichern besetzten Walachai Pferdeankäufe m a c h t e und vom Obersten seines früheren Regiments verhaftet w u r d e . „Wir sehen in Mr. Sew a r d s Schreiben nichts, was schlimmer w ä r e als unsere Intervention in Sachen T ü r r " , heißt es weiter. Wie aus Irland gemeldet wird, k o m m e n verdächtig große Massen von früher ausgewanderten Irländern aus Amerika zurück, die allgemein für Fenier gehalten werden. Tatsache ist auch, d a ß in Irland zur Zeit Maßregeln zum größeren Schutze der Kasernen getroffen und Munitionsvorräte Woche u m Woche von England hinübergeschafft werden. — Es wird Ihnen schon gemeldet sein 3 1 , d a ß am vergangenen Freitage sich in L o n d o n das Gerücht verbreitete, der Prinz von Wales sei das O p f e r eines M o r d a t t e n t a t s in St. Petersburg geworden. M a n c h e glaubten sich im Besitze von Details, wie, d a ß ein irischer Rebell von hieraus dem Prinzen nachgereist und auf ihn gefeuert habe. Eine andere Version ging darauf hinaus, der Prinz sei auf der Eberjagd durch einen Fehlschuß der Jagdbegleitung tödlich verwundet usw. M a n glaubt den Urhebern des Gerüchts, das auf die Kurse durch einen Druck „von !/4 Prozent Börsenkraft" wirkte, auf die Spur g e k o m m e n zu sein. Stockbroker werden e r w ä h n t , die mit diesem M a n ö v e r operierten, und gerade an einem Tage, w o der Prinz von Wales bereits auf dem Wege nach M o s k a u war, ein authentisches Dementi also, selbst auf telegraphischem Wege, einige Zeit erfordert. Ähnliche Gaunereien waren bekanntlich An-

" London, 17. November, Skilied und killed, in: Nr. 272, 21. 11. 1866.

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laß der Panik im Mai dieses Jahres, wo Spekulanten Sturmläufe auf Banken eröffneten, durch anonyme Warnungen Privataktionäre zum Schleuderverkauf ängstigten, und, wie eine starke Kette nie stärker als ihr schwächstes Glied, eine Reihe von Gesellschafts-Bankerotts herbeiführten, die noch nicht zu Ende. Laufen doch bei den Gerichten wöchentlich nicht weniger als 15 — 20 Anträge ein, ebenso viele Finanz- und Aktiengesellschaften zur Auflösung zu nötigen — „to wind u p " wie es genannt wird. D a s wirkt trübe auf die Arbeiterverhältnisse. Viele tausend Arbeiter im Osten Londons verdanken ihre Entlassung lediglich diesen „Auflösungen", die wiederum ihren ersten Stoß zum Falle in jenen Maitagen erhielten. Andererseits ist dabei soviel „Verwesung" zutage getreten, daß die Presse offen eingesteht, die Gewissenlosigkeit grassiere wie eine Epidemie und das allseitige Mißtrauen paralysiere mit kalter H a n d die gesundesten Bestrebungen des englischen Handelsgeistes. — Pope Hennessy, Katholik, der „Polenfreund" von der letzten Revolution her, ist wiederum bei einer Parlamentswahl, und zwar in Dublin, durchgefallen. Den an seiner Statt gewählten Cavanagh, Tory und Orangist, nennen die Zeitungen ein außerordentliches Parlamentsmitglied, weil er ohne Arme und Beine geboren sei. Anstelle der letzteren gebraucht er künstliche Präparate, sich auf den Hüften fortbewegend und die Arme sind nicht länger als 4 Zoll und nur künstlich verlängert mit einem so vortrefflichen Mechanismus, daß, wie ein irisches Blatt mitteilt, Cavanagh nicht nur ein exzellenter Kalligraphist, sondern auch ein unermüdlicher Tänzer, geschickter Zeichner, sicherer Schütze bei Preisschießen und einer der erfahrensten Yachtschiffer ist. Im übrigen ist seine Gestalt von überaus kräftiger Haltung im vollen Mannesalter von 40 Jahren. Er ist der Chief (Häuptling) des alten Clanes M a c Murrough-Cavanagh. Seine Vorfahren waren die ersten, welche sich mit den englischen Eroberern vor 600 Jahren aussöhnten und viel dazu beitrugen, die Union der beiden Königreiche vorzubereiten. Noch ein anderes Parlamentsmitglied gibt es, das trotz völliger Blindheit sich zu einem Gelehrten ersten Ranges ausgebildet, Professor Fawcett. Seine Blindheit rührt von einem tragischen Unfälle her. Er hatte bis zum 25. Jahre völlig gesunde Augen und sich die Ehren eines Graduierten der Universität O x f o r d erworben. Einige Tage darauf ging er mit seinem Vater auf die J a g d . Durch ein unglückliches Versehen erhielt er hierbei eine Ladung Schrot in beide Augen, und zwar von der H a n d seines eigenen Vaters. Wenige J a h r e später wurde er in das Unterhaus gewählt, wo er sich der Manchesterpartei zu einer Zeit anschloß, wo diese sich in der Handelspolitik gewisse

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unbestreitbare Verdienste erwarb und noch nicht um Wahlreform agitierte. — Die politischen Parteien reiben sich wieder schärfer, je kürzer die Frist bis zum Wiederzusammentritt des Parlaments. Dieser Antagonismus geht bis in Privatzirkel hinab. So hat einerseits die konservative Oxford Union Society mit großer Majorität das Thema der Diskussion bejaht, „ o b John Bright nicht eine Schmach für sein Geburtsland wäre", und den Beschluß veröffentlicht; andererseits hat die Wählerschaft der Stadt Calne darüber abgestimmt, ob Mr. Lowe, ihrem Parlamentsmitgliede, ein Bankett zu geben sei oder nicht. Mit Ausnahme von dreien verpflichteten sich alle, dem Feste nicht beizuwohnen, sondern Mr. Lowe, der von den „Reformfreunden" abgefallen, mit jenen dreien unter acht Augen speisen zu lassen. Alle diese kleinen Häkeleien werden den Zeitungslesern täglich aufgetischt. Viel ernster als Reform und Reformbill tritt für den mit ungewöhnlichem Frost angetretenen Winter die Frage der Not an uns heran. Arbeitslosigkeit, Strikes, Überschwemmungen, sehr kärgliche Ernte wirken im Norden und Nordosten zusammen, um ernste Besorgnisse zu veranlassen. Frost, beiläufig bemerkt, weil sonst nur eine Ausnahme, schlägt Tausende in England. Ärzte versichern in den Zeitungen, daß in jeder festkalten Woche die „Sterbelisten der Armen" sich um 10.000 in England zu erhöhen pflegen. — Gestern ist im Lager von Aldershott der Anfang gemacht, die Truppen mit dem neuen Snider-Gewehr zu bewaffnen. [Nr. 278, 28. 11. 1866]

John Bright und Lord Derby Radikale Worte und Tory-Taten Schulzwang. Die Ritualisten p * London, 26. November Man hat den Reformers vorgeworfen, daß sie in ihren Manövern auf unenglische Weise zu Werke gingen und nach dem Gewalt-Modell amerikanischer Agitation arbeiteten, in einer Haltung, dergegenüber kein Verhandeln möglich, weil sie die einer fanatischen Sekte von Politikern sei, die alles auf einen Krieg der Klassen zurückführt. Sie wollen auch das Gute nicht aus den Händen der Tories annehmen, nur weil es Tories sind. Während die Whigs und die hervorragenden Führer der Partei des in Rom feiernden früheren Kabinetts erklärt haben, auch mit einem Tory-Ministerium sich verständigen zu können, so dessen zu erwartende

London, 26. November

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Reformbill nur einige ihnen genehme Rubriken aufweisen sollte, rufen die Radikalen: „Weg mit diesem Ministerium!" Ihr Hauptorgan, der „Morning Star", lehnt es sogar ab, über die Reden konservativer Parlamentsmänner auch nur zu diskutieren. Ein anderes Manöver ihrerseits ist, den arbeitenden Klassen Lord Derby fortwährend als einen versteckten Gegner ihrer Interessen zu schildern und nur mit Schweigen auf die gegenteiligen Beweise zu antworten. Als Lord Derby zur Zeit der Baumwollennot rastlos umherreiste und Vermögen verschenkte, hatte Bright nicht einmal eine Trostrede für die Leidenden auf seinem sonst überfüllten Stapel. Die Firma Bright u. Co. stand auf keiner der Subskriptionslisten, zu der die ärmste Witwe ihr Scherflein beisteuerte. Nie hat Bright eine Bill für das Wohl, für die Erziehung der arbeitenden Klassen eingebracht, nie einer Comitesitzung zu solchem Behufe beigewohnt, während die „Feinde des Volkes", Lord Derby und Mr. Lowe, sich der anstrengendsten Arbeit unterzogen. Auf Vorstellungen hatte Bright nur die eine Antwort: „Das sind alles Aristokraten. Nur erst fort mit diesem Hause und alles andere macht sich von selbst." Wer hat vorzugsweise die Faktorei-Akten durchgesetzt zum Schutze der Fabrik-Kinder? Wer ist zu rechter Zeit eingeschritten, um die Anlage schädlicher Manufakturen von Arbeiterquartieren und den Spazierparks der Armen fernzuhalten? Wer dringt auf Entschädigung für die kleinen Familien, denen eine neue Eisenbahnanlage die Wohnungen über dem Kopf zusammenreißt? Wer rührt sich am meisten für administrative und gesundheitliche Reform zum Wohle der Arbeiter? Wer anders, als die Konservativen? Sie haben die ruchlose Armenhausverwaltung zum ersten Male, soweit als erzwingbar, zu einer Sache der Regierung gemacht, nicht die Maulhelden 32 . Mit Recht nennt man deren Gebaren unenglisch. Es ist ein englisches Rühmen, auch dem Gegner jederzeit freien Ellenbogen-Raum, fair play, zu gestatten, damit er zeigen könne, was er kann; aber die neue amerikanische Schule will nicht hören, will nicht sehen — nur „Weg mit diesem Ministerium!" Weil der Lordkanzler den Hauptdemagogen Baines nicht ferner als unparteiischen Schiedsrichter bei Sichtung der konservativen und liberalen Wahlstimmen (ein wichtiger Juristenposten) zuläßt, hat jener den Beinamen „Sklavenhändler" eingeerntet, und so geht es fort nach dem abgegriffenen Schimpfwörter-Lexikon der Demokratie. Nur einer unter diesen Volksführern hat „einen Tag von Damaskus" 3 3 gehabt 32 33

Wendung nach Plautus' Komödie Miles gloriosus. Wendung nach N T Apostelgeschichte, 9. Kapitel.

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18 66

und macht einen Stand gegen den Strom. Dies ist der einzige Journalist im Unterhause, Mr. Hughes, Parlamentsmitglied für den großen südwärts der Themse gelegenen Stadtteil Londons, Lambeth. Er hat die Courage, den Vergötterern der „absoluten Ungeschorenheit" des selfgovernment, zu erklären: „Es wird nicht besser mit dem Volke, ehe nicht der — Schulzwang eingeführt wird." Das ist noch nie von englischen Lippen so unumwunden ausgesprochen. Dann fuhr er fort: „Was die Reformbill angeht, so verpflichte ich mich, das Kabinett zu unterstützen, falls die Reform eine gesunde Basis haben sollte. Kein Mann soll ein Votum haben, der nicht wenigstens sein Votum richtig schreiben gelernt hat." Übrigens findet der Vorschlag der Reformer, auch in London eine Massen-Prozession zu veranstalten, nur geteilten Anklang bei den Arbeitern selbst. Die gebildetste Klasse derselben, die Setzer und Drucker von London, haben auf die ergangene Einladung erwidert: „Unsere Assoziation ist keine politische." Eine mustergültige Antwort ohne Zweifel. — Einiges Aufsehen erregt der Übertritt von sieben anglikanischen Geistlichen zur römisch-katholischen Konfession. Sie gehörten zu den „Ritualisten" — ein Name, unter welchem man jetzt alle Anglikaner begreift, welche den Puseyismus im weitesten Sinne in den Ritus der Kirche eingeführt haben. Diese Spaltung geht von den Bischöfen bis zu den Laien hinab. Es ist zu den ärgerlichsten Auftritten und Störungen bereits in verschiedenen Gotteshäusern gekommen, indem ein Teil der Gemeinden, katholische Prozessionen nachäffend, während des Gottesdienstes in die Kirchen drang. In einem Falle verdrängte man den Prediger vom Altar und ein Bube kniete an seiner Stelle nieder und sang eine lateinische Hymne unter aberwitzigen Gestikulationen. Daß Ritualisten-Prediger mit dem Rufe: „Go to Rome!" unterbrochen werden, gehört keineswegs zu den Seltenheiten. In Brighton wurde der Unfug so groß, daß der Geistliche in einer öffentlichen Erklärung kundgab, er werde sich hinfort auf den früheren „rein kathedralischen" Ritus beschränken. „So wehe dies auch seinem Herzen tue, so bringe er doch dieses Opfer der apostolischen Weisung zulieb, Frieden mit allen Menschen zu halten." „Bruder Ignatius", dessen anglikanisches Benediktiner-Mönchskloster zu Norwich Schulden halber unter den Hammer gekommen, hat vom Bischof von London eine Kuratensteile in der City erhalten. Es werden Maßregeln getroffen, um etwaigen Störungen vorzubeugen. Die gesetzlichen Handhaben sind schwach. [Nr. 280, 30. 11. 1866]

London, 5. Dezember

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Reform-Gala-Versammlung. Die Massen-Demonstration J o h n Bright und die schiefe Ebene Gerüchte. Eine Prophezeiung p* London, 5. Dezember Gestern hatte unser Tribun seinen Gala-Tag, John Bright,

unter der

Creme der Demokratie in St. J a m e s ' Hall. Ansehnliche Entreegelder — die beschränkte Galerie ausgenommen — sicherten ihm solche Zuhörerschaft. Auch Ladies waren zugegen, und um an die lebhaftesten Phantasien des Zeitgeistes zu erinnern, erschien an der Seite eines ReformbillColonels die wohlexaminierte Heilkünstlerin Doctor Mary Walker, zu Ehren der Gelegenheit in vollem Bioomer-Kostüm. Es ging zuzeiten stürmischer zu, als bei der großen Demonstration in freiem Regen am Montag, wo die „allgemeine Teilnahme" so groß gewesen, daß von den 3 — 4 0 0 . 0 0 0 Arbeitern Londons sich zu keiner Stunde mehr als 2 0 . 0 0 0 auf dem Platze befunden haben. Es ging bei dem Umzüge ganz ordentlich zu — Unfugstifter hätten keinen Ellenbogenraum im festgerammten Zuschauer-Spalier finden können, und der Dezember-Sturm war der Art, daß jede leidenschaftliche Gestikulation von Rednern und Hörern unzweifelhaft mit dem Verlust eines weitentführten Hutes gerügt worden wäre. Anders in der Creme. Man saß im Trockenen und Warmen und rupfte die Aristokraten

natürlicherweise

moralisch

in Stücke.

Sehr

schlimm kam der abwesende Mr. Lowe weg. Dieser hatte bekanntlich, angesichts einer alljährlichen Totenliste von 8 0 . 0 0 0 Trunkenbolden in Britannien, im Parlament den NichtWählern einige Wahrheiten gesagt. Unter anderen vernichtenden Invektiven gegen solches Unterfangen war auch folgende: „Mir fällt etwas über Seelenwanderung ein. Nach jener Doktrin gehen nach dem Tode die Seelen in den Leib von kleinen Kindern über. Mr. Lowe muß geboren sein, als gerade niemand gestorben." Dies als Probe. Die aufgestellten Banner trugen nicht mehr die zahmen Inschriften vom Sommer dieses Jahres, sondern solche, wie „Urwahlen", „Jeder Mann ein Wähler", „Geheime Abstimmung", „Ehren-Bright unser Leitstern", „Beales und das Recht zur Volksversammlung in den Parks". Brights Rede war völlig im Einklänge mit diesen goldgestickten Mottos auf roten Fahnen. Er, der noch vor wenigen Monaten „nicht so weit" gehen wollte, ist so weit geschoben, wie es anderen Zeitgeist-Menschen gegangen ist, welche zu eitel waren, um sich gegen die äußersten Konsequenzen einer anfangs idealistischen Theorie lange sträuben zu können.

London, 5. Dezember Ein M o d e r a d o , M r . Ayrton,

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Parlamentsmitglied, welcher in der Park-

frage auf Seiten der Regierung sich stellte, wurde s t u m m gebrüllt mit I n t e r m e z z o - S t i m m e n : „turn him o u t " (werft ihn hinaus). Bright tierte wieder (und dies ist seine T a k t i k ) , d a ß die Königin

poin-

mit ihren Sym-

pathien a u f Seiten der R e f o r m e r stehe, wie ihre T h r o n r e d e bewiesen, und wenn ihr jetzt ein Minister zur Seite stehe, welcher solchen Verbesserungen entgegen sei, so sei das nur der Fall, weil die bekannten

Regeln

p a r l a m e n t a r i s c h e r Praxis ihr keine andere Wahl gelassen. Z u m Schluß vereinigte man sich darüber, an einem andern „blauen M o n t a g " (der Tag wird am liebsten gewählt) vor dem W i e d e r z u s a m m e n t r i t t des P a r l a m e n t s ein großes Meeting in L o n d o n a b e r m a l s zu veranstalten und zwar in Hyde-Park.

Das

ist also

wieder

eine

Herausforderung

— der

alte

Fausthandschuh ist wieder hingeworfen. Die Polizei wird ihn aufnehmen. Einzelne Blätter drucken L o n d o n e r Korrespondenzen nach, die nur in schottischen J o u r n a l e n erschienen und denen zufolge im Kabinett eine Spaltung bestehe. Disraeli

habe mehreren Sitzungen nicht beigewohnt,

sondern statt dessen Besuche bei Freunden a u f dem L a n d e g e m a c h t . M o t i v sei die nächste R e f o r m b i l l von 1 8 6 7 . Disraeli soll sich seinen Kollegen gegenüber dahin erklärt h a b e n : er schlage vor, eine Bill einzubringen, „kühn im Vertrauen und viel freisinniger", als die des vorigen Kabinetts, um der O p p o s i t i o n im L a n d e Agitationsmittel zu entwinden. Seine Kollegen, angeblich H o c h - T o r i e s , hätten sich dem Ansinnen widersetzt. Diese Historie hinkt jedenfalls und ist wohl k a u m mehr, als H ö r e n s a g e n . Von einer Ministerkrisis dieserhalb zu reden, w ä r e a b e r noch voreiliger, da es gar nicht im Plane liegt, überhaupt die Tory-Bill vor Ausgang des W i n t e r s einzubringen. D e n n alle diese geräuschvollen D e m o n s t r a t i o n e n in Straßen und Parks beschleunigen den legalen Entwickelungsgang nicht um eine Stunde; sie dienen nur dazu, die G e m ä ß i g t e n einzuschüchtern und J u w e l i e r e unter Geschäftsverlust zur weisen Schließung ihrer Läden an solchen G a l a t a g e n der Volksexerzitien zu veranlassen. — In einem alten M a n u s k r i p t hat ein Besucher des British M u s e u m folgende Prophezeiung entdeckt: „ N a c h E d w a r d V I . wird die Messe 3 0 0 J a h r e zur R u h e gehen und mit E d w a r d VII. zu alter G l o r i e a u f e r s t e h e n . " D a der Prinz von Wales unter dem N a m e n E d w a r d V I I . die Regierung antreten würde, fehlt es nicht an K o m m e n t a r e n zu jener alten Schrift, angesichts der Lebhaftigkeit der Ritualisten und der schnellen Z u n a h m e r ö m i s c h - k a tholischer G e m e i n d e n in B r i t a n n i e n . [Nr. 287, 8. 12. 1866]

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1866 Wieder die Alabama-Frage Die Times, die Fenier und die Orangisten Schlechtes Reisen in Irland. Fenier und Chartisten

p* London, 12. Dezember Wir haben in der letzten Woche weniger über den Stand der AlabamaFrage vernommen, als früher. Da indessen bei derselben eine ansehnliche Zahl von amerikanischen Reedern, Kaufleuten und Privaten beteiligt sind, welche mit englischen Geschäftsleuten in Verbindung stehen, so kommt uns auch auf diesem Wege dann und wann Information. Jene Amerikaner haben zusammengerechnet, daß England ihnen die Kleinigkeit von 5 Millionen und einigen hunderttausend Pfund Sterling schuldet für Schiffe, die der „Alabama" versenkt oder verbrannt oder die er gegen hohe Wechsel, die alle einkassiert sind, ihre Fahrt hat fortsetzen lassen. Nicht zu vergessen ein halbes hundert wertvoller Schiffschronometer und tragbare Uhren, von denen Kapitän Semmes nicht versäumte, eine Sammlung anzulegen. Aus Briefen obigen Inhalts geht auch hervor, daß in jenen interessierten Kreisen kein Zweifel vorwaltet, daß das Geld oder doch ein Pauschquantum von hier seinen Weg nach New York finden wird. Es handelt sich nur um das „Wann?" und um die beste Manier, viel Lärm zu vermeiden. Kann John Bull die runde Summe, mittels weitläufiger Formalitäten in der Verständigung, drei Zinsquartale länger im Säckel behalten, so tut er es gewiß. Daß er es dieserhalb wegen zu „Breitseiten" wird kommen lassen, glaubt er selber nicht. Vermeidet die amerikanische Regierung verletzende und peremptorische Ausdrücke, so ist nichts zu besorgen. An die Leitartikel der amerikanischen Presse kehrt man sich nicht und überläßt der eigenen Presse die Abfertigung, die nicht minder w a r m ausfällt. Die Schraube, die angesetzt wird, ist der Fenismus. Ein Blatt sagt naiv: „Fünf Millionen Pfund Sterling? Sofort,— wenn wir nur sicher sein können, daß die Amerikaner uns dafür von den Sorgen wegen der Fenier befreien." Im „Morning Adv." empfiehlt dagegen ein „alter Finanzmann" Repressalien. Er versichert, der Fenismus werde schleunigst aussterben, sobald englische Geschäftsleute sich gegenseitig verpflichten, gewisse zahlreich vertretene amerikanische Staatsschuldenpapiere nicht mehr für Importe dorthin in Zahlung zu nehmen oder darin Geschäft zu machen. Die Stellung der Regierung ist eine sehr schwierige. So wunderlich es erscheinen mag, so ist doch viel Wahrheit in folgender Äußerung der Times. Sie sagt: „Kelte und Angelsachse sind

London, 12. Dezember

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noch dieselben, welche sie 1798 und 1830 waren. Das fürchterliche Blutbad von damals ist unvergessen — unterschiedslos wie es war. Nun erwäge man doch in Irland, daß es immer angeht, eine Rebellion zu unterdrücken, aber daß es niemals angeht, die ,unterdrückenden' Untergebenen der Regierung bei solchem Akte zu zähmen." Eine seltsame Theorie, welche vom englischen Standpunkte die üble Jamaika-Affäre erklärt. „Also mit unterschiedslosem Abschlachten droht die Times" — so rügt ein konservatives Blatt diese Worte. Und doch ist viel Wahres im Tatsächlichen, worauf die Drohung fußt. Ließe, sozusagen, die Regierung die Orangemänner los, die schon schäumen, dann wäre kein Halten auf lange. Angeboten haben die Orangelogen von Ulster bereits dem Vizekönig ihren loyalen Beistand. Und sie sind felsenfest loyal. Sie bitten durch ihren Sprecher Lord Enniskillen nur um Waffen. Aber aus Regen würde dann Traufe. Die Orangemänner sind englisch-gesinnt, aber sie sind noch viel mehr religiöse Fanatiker im verwegensten Sinne des Wortes, als Engländer. Wehe allen — auch den loyalsten Katholiken. Natürlich hat die Regierung die Offerte nicht akzeptiert. Ohnehin ist vor dem Gesetz der Orangebund eine ungesetzliche Gesellschaft. Die Dekrete, die (eine Generation zurück) das publiziert haben, sind noch in voller Kraft. Dazu kommt, daß die Orangemänner in Ulster seit den letzten Jahren viel Gegner in der eigenen Provinz haben. Die Tumulte von Belfast bewiesen das. Ulster ist reich — und Massen von armen Irländern aus dem katholischen Süden sind seit den letzten Jahren in Fabriken der Provinz geströmt. Die Panik in London, welche vor vierzehn Tagen sich kundgab, ist geschwunden. Man hört nicht mehr auf der Straße überall von Stephens reden und von seiner Absicht, sich der Bank von England zu bemächtigen, oder die Themseschiffe in einer Nacht durch schwimmendes Petroleum, das schon vor Anker liege, in Brand zu stecken. Es ist kein Zweifel, daß — um solchen Ausdruck zu gebrauchen — die jetzt alle Tage zur H a f t gebrachten Verdächtigen in Irland „viel unschuldiger" sind als die vorjährigen. Das soll heißen, sie tragen weniger „Beweise" an ihrer Person und in ihren Koffern herum. Selbst gegen Meany ist bis jetzt nur der Besitz einer Photographie von Stephens als Gravaman ertappt. Es muß überhaupt nicht gut sein, jetzt in Irland reisen zu wollen. Ich selbst besitze zwei Bilder von Stephens in meinem Album, eines wie das andere „ohne Bart", auch einen Monatsgang des „Irish Liberator" als Kuriosität — ein Blatt, aus welchem die Engländer in London schon vor drei Jahren entnehmen konnten, was sie heute wissen — aber ich würde mich wohl hüten, mit solchen Dingen nach Irland überzusiedeln.

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1866

Es wäre positiv sicher, daß ich für die nächsten neun Monate meine Briefe von Mountjoy-Prison datieren müßte. Was die amerikanischen Fenier wollen, haben sie erreicht — d. h. nach englischem Eingeständnis selbst alle entbehrlichen Truppen in Irland festgenagelt. Im übrigen kann ich nur eine frühere Ansicht wiederholen, d a ß — k o m m t es zu Tumulten, diejenigen in gewissen englischen Städten solche auf irischem Boden weit in den Schatten stellen würden. Diese Städte liefern schon seit langem sehr verdächtige Emigranten nach Irland. In Liverpool, Sheffield, Birmingham ist fast jeder vierte Mann ein Irländer — in London sind deren eine halbe Million. Und wer hier vermeint, daß der Pöbel der Sassenachs und die niedrigsten mit chartistischem Instinkt begabten Schichten der aufgewühlten englischen Reformer sich mit den Kelten beim Unfug nicht sehr gut vertragen würden, der irrt sich. Es sind ferner nicht amerikanische Waffen gerade, die man fort und fort in Irland konfisziert. Es gibt Geschäftsleute, die so kosmopolitisch in Geldfragen, daß sie, wenn ihre eigenen Landsleute mit Maoris oder Sepoys im Kriege, letztere als Kunden für englischen Stahl und Blei nicht verschmähen. In jedem anderen parlamentarischen Staate hätte man, anstatt den gesetzgebenden Körper zwei- oder dreimal zu vertagen, ihn einberufen, um, was wirklich an irischer Reform brennende Frage, sofort in Debatte zu nehmen. Die Regierung allein kann kein Gesetz machen. Alle Parteien hier sprechen es offen aus, „daß eine mehrhundertjährige Mißverwaltung stattgefunden hat"·, aber der parlamentarische Schlendrian hat die Sache in einen gordischen Knoten gezerrt, und die Presse hält es für viel wichtiger, ausfindig zu machen, ob Whigs oder Tories am längsten „mißregiert" haben. [Nr. 293, 15. 12. 1866]

Steuerverweigerung und ihre Mißlichkeiten Reaktion gegen die Strikes Vier Stephens und keiner p* London, 24. Dezember An die Spitze einer ihrer letzten Nummern bringt „La France" die Notiz, die Radikalen in England beschäftigten sich mit dem Plane, eine Steuerverweigerung der NichtWähler im Lande zu organisieren. Verschiedene französische Blätter liebäugeln seit einiger Zeit mit dieser englischen Reformbewegung, dabei so etwas wie „liberte" gleichsam durch die hohle

London, 24. Dezember

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Hand blasend, und verhehlen kaum ihre Freude, daß die „perfiden Engländer" doch auch ihren Alp besitzen. Sogar vielverwarnte Blätter druckten die Schilderungen, welche der sonst verpönte Louis Blanc von der letzten Londoner Arbeiterparade entworfen, mit französischer Akklamation nach. Welches immer die Quelle der erwähnten Notiz über Steuerverweigerung sein mag, so hat das Projekt, wenn es existiert, gewiß nur sehr wenige Anhänger, und das aus mehreren Gründen. Erstlich zahlen die meisten NichtWähler im Lande, wie Stubenmieter etc., überhaupt keinen Heller als Steuern, sondern nur die Mieter ganzer Häuser. Mieter ganzer Häuser sind aber in London und in anderen Städten von Rang Wähler, weil ihre Mieten dazu hoch genug ausfallen. Zweitens würde der Regierung durch solches Konspirieren weder Furcht eingejagt, noch ihr ein Groschen entgehen. Schon jetzt heißt es in jeder Zufertigung einer Klage des Steuerkollektors an solche Personen sogar, die nicht zahlen können, daß sie wegen „Verweigerung" an dem und dem Tage vor dem Richter zu erscheinen haben. Dann würde sotanem steuerverweigernden Reformer eine kurze Frist gestellt und, so er fortverweigert, wird ihm des „broker's man", d. h. ein Dienstbeflissener des gerichtlichen Sheriffs ins Haus gesetzt auf Herberge und Zehrung, so lange bis er zahlt in gewöhnlichen Schuldsachen. Bei Steuern jedoch werden schon in ein paar Tagen dem Verweigerer dreimal und viermal soviel Mobilien entführt, als der Betrag ausmacht; denn gewöhnlich ist immer ein Möbelhändler bei der Hand, die Sachen nur gegen Spottpreis zu kaufen. Findet der Broker die Tür verschlossen, so wartet er auf eine Gelegenheit, um durch List ins Haus zu kommen. Handelt es sich jedoch um Queen's Taxes, d. h. Steuern für die Schatulle der Königin, so steht ihm frei, sogar die Tür mit Gewalt zu sprengen und sofort sich zu befriedigen. Würde der steuerverweigernde Reformer etwa „steuerflüchtig", so hat er bei Habhaftwerdung noch 25 Pfund Sterling Strafe zu zahlen. Dies die Aussichten für einen Steuerverweigerer auch im „freien England". Ich führe diese Details an, um darzulegen, wie schnell auch wohl der hitzigste Reformer von solchem Steuerverweigern kuriert werden dürfte. Ein gewisser ostpreußischer Siegelring als Pfandobjekt würde ihm nicht helfen, denn das Objekt wird nicht verauktioniert, sondern geht in Privathände in schleunigem Verkauf über.* Soviel als häusliche Illustration zu dem

* Bei dieser Gelegenheit sei einer besonderen H ä r t e bei Exekutionen wegen Hausmiete erwähnt. Nicht nur das Mobiliar des Hausmieters verfällt dem Hauseigentümer, sondern er kann auch die Mobilien, welche Abmietern im

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angeblichen radikalen Projekt. Die größte Sorge macht übrigens dem Reformer der Gedanke an die Möglichkeit, das Kabinett könne im Unterhause mit einer befriedigenden Reformbill nach Ostern Erfolg haben. So schreibt der „Morning Star": „Wir müssen einen Druck anwenden, stark genug, nicht nur die Tories zu vertreiben, sondern an deren Stelle ein Ministerium zu sichern, das sein Amt übernähme, um als Werkzeug (instrument) des Volkes und seiner gerechten Forderungen zu dienen." Übrigens breitet sich unter der Arbeiter-Bevölkerung eine Art reaktionärer Bewegung aus, die zunächst nicht politisch, aber eine solche werden kann. Die Arbeiter halten Meetings, um ihrem Mißtrauen gegen die Anzettler der Verbindungen zu Strikes Ausdruck zu geben. Es beginnt ihnen einzuleuchten, daß sie schließlich doch immer im Verlust geblieben sind, da selbst eine zeitweise ertrotzte Lohnerhöhung nicht das Versäumte einbrachte. Eine ganze Menge müßiger Leute, Kommittenbeamten und Sekretäre leben von den Beiträgen, die für solche „ArbeiterUnionen" aus der Tasche des Arbeiters kommen, und so sind es jene, die des hübschen Postens wegen zu Strikes animieren. Das beginnt, wie gesagt, den Arbeitern klar zu werden, um so klarer, seitdem sie zu ihrer Bestürzung wahrnehmen, wie der Ausländer die Lücken füllt, die sie mit ihren Strikes in den Wohlstand der Fabrikherren zu reißen hofften. Da sind jetzt belgische Schienen auf englischen Bahnen, belgische Eisensäulen in englischen Markthallen, schwedische Balkengerüste in englischen Dächern, belgische Lokomotiven, belgische Wagen und öfters belgische Arbeiter. Die „Reaktion" hat begonnen und wird zur „Bewegung" werden. Das kann auf das politische Element nicht ohne Rückschlag bleiben. — Unter anderen Meetings im Lande sind noch diejenigen der Irländer in verschiedenen Ortschaften zu erwähnen, wo Loyalitäts-Erklärungen abgegeben werden. Dies hindert jedoch die Polizei nicht, auch auf Fenier in England zu fahnden. Daß schon mehrere „Stephens" verhaftet wurden, ist bekannt. Der richtige soll jedoch noch ruhig in Amerika verweilen. Ein Arzt der italienischen Marine, Baron L., wurde binnen drei Tagen nicht weniger als viermal als Stephens in Irland verhaftet und losgelassen und gab es zuletzt in Verzweiflung auf, seine Reise fortzusetzen. Der italienische Konsul begleitete ihn bis an Bord des Schiffes, das ihn nach Schottland überführte. [Nr. 1, 1. 1. 1867]

Hause gehören, in Beschlag nehmen und verhandeln. Sogar Abpfändungen von Särgen mit der Leiche darin sind vorgefallen.

London, 29. Dezember

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England und die türkische Frage. Der Jamaika-Prozeß Die Fenier. Panik und Sorglosigkeit p* London, 29. Dezember „Alle Kreter lügen" ist, wie Türkenfreunde versichern, ein antikes Sprüchwort. „Alle Türken lügen" ist, wie Philhellenen versichern, ein ganz frisches. Der Widersprüche sind viele. Auch die Korrespondenten, die einzelne Londoner Blätter auf dem Kriegsschauplatze haben, sind nicht eins in ihren Berichten. Daß eine Intrige zu Athen englischerseits im Gange gewesen oder noch ist, wird hier kaum bezweifelt. Englische Konsuln in Griechenland haben sich an kretafreundliche Comites angeschlossen. Das ist Tatsache — mit welchen Hintergedanken, läßt sich nicht erraten. Heute publiziert man hier in Übersetzung einen schon älteren russischen Ukas über Reduktion der Geschwader in den südrussischen Gewässern, und ein Blatt versichert, was der Krimkrieg nicht völlig zustande brachte, sei dem neuesten Verhalten Englands in der KretaFrage zu danken. Ich zitiere dies nur zur Signatur. Wir werden dadurch um kein Titelchen weiser. Das Publikum denkt weniger in solche Ferne, nur die Geschichte vom Kloster Arkadi hat einen Eindruck gemacht, der in Konstantinopel nicht behagen dürfte. Es fallen dort Worte, wie: „Soll unsere Politik wirklich mit soviel Christenblut bezahlt werden?" Der toryistische „Standard" sagt heute: „Es ist das Recht zivilisierter Nationen Europas, zu urteilen und zu entscheiden, sobald der Kampf einen gewissen Punkt erreicht hat, der einfach barbarisch und zermalmend wäre. In solchem Urteil werden die Türken unterliegen." Bei allem griechischen Leichtsinn erachtet man es hier doch nicht für glaublich, man werde in Athen so schnippisch die türkische Entrüstung behandeln, stände nicht ein verläßlicher Springer im Schachbrett, der plötzlich um die Ecke „schlagen" dürfte. Englische Politik ist schon öfter ein psychologisches Rätsel gewesen. Würde es hier einmal klar, daß eine mit Vorliebe eingeschlagene Bahn absolut nicht mehr innezuhalten, so wäre es gar nicht so unmöglich, daß man sich in die direkt entgegengesetzte schlüge. Man hat die ionischen Inseln nicht für umsonst griechisch werden lassen. Ein Schachspiel wird immer langsam gespielt, namentlich auf Entfernungen und wenn auf drei oder vier Brettern. — Mit dem vom Jamaika-Comite gegen den früheren Gouverneur der Insel, Eyre, arrangierten Prozeß scheint es doch ernst zu werden, obwohl die auf 10.000 Lstr. veranschlagte Kostensumme noch nicht durch Subskriptionen ge-

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deckt ist. Der Philosoph des Liberalismus John Stuart Mill hat es übernommen, als freiwilliger Staatsanwalt die Anklage zu führen, und aus eigener Tasche 5 0 0 Lstr. zu den Kosten beigesteuert. Andere vom Jamaika-Comite, wie Mr. Hughes, Parlamentsmitglied, können sich nicht auf die „Sache" beschränken. Es fallen da Worte in ihren Reden, die einen weiteren Horizont öffnen, wie: „Die Frage ist, ob Prärogative oder Gesetz obenan stehen sollen." Auf solche abstrakte Phrase hin wird Eyre gewiß freigesprochen. Solche Kontraste gerade zur Zeit einer Reformbewegung auf die Plattform zu bringen, läßt noch andere Absichten erraten. Der gemeine Mann übersetzt das ganz absonderlich. Prärogative ist ihm alles, was er nicht hat oder haben kann, aber haben will, und Gesetz ist für ihn sein „Wunsch". — Wie schon im vorigen Fenier-Winter, so erweist sich auch in diesem, daß, wie zuzeiten das Gehenlassen bis zum äußersten Leichtsinn getrieben wird, zu anderen, unter einer Art von Panik, der Züchtigungs-Eifer über das Ziel hinausschießt. Wer in Irland einen starken Bart trägt oder einen amerikanischen Kinnzwickel, oder gar, wie Stephens, ein wenig mit den Augen blinzelt, einen Brief auf der Straße liest oder ein Paket trägt, das einen Pistolenkasten enthalten „kann", ist verdächtig. Ein naher Verwandter des Vizekönigs, Lord Langford, wurde beim Aussteigen aus einem Coupe erster Klasse verhaftet, weil er, ein sehr alltägliches Ding in dieser Saison, eine Jagdflinte im Futteral mit sich führte. Alles Protestieren half nichts; erst nach mehrstündigem Gewahrsam, vor den Polizeirichter geführt, erfolgte seine Entlassung. Das hat etwas gewirkt, aber wieder in verkehrter Richtung. Man lacht über grundlose Furcht; dieselben Blätter, welche unter den haarsträubendsten Schilderungen dessen, was einmal die Fenier tun „könnten", die Regierung anzustacheln suchten, „mit eiserner Ferse die Rebellion auszustampfen", dieselben Blätter, welche das Flüchten von viel hundert wohlhabenden Familien aus den entlegeneren Distrikten Irlands hervorgerufen, machen jetzt rohe Witze über die „Fenier-Riecherei" und sind nahe daran, alles für blauen Dunst zu erklären. Man kann indessen wohl sagen, daß von je 50 Verhafteten zwei Dritteile gegen mäßige Bürgschaft wieder auf freien Fuß gesetzt sind, und daß bald niemand, der nicht gerade ausruft: „Ich will sterben für Alt-Irland!" auch beim Spazierengehen sich nicht allzu militärisch stramm hält oder zu sehr im Exerziertakte wandelt, auf Meilen-Weite länger einen Schatten im Gefolge haben wird, den die 2 0 0 0 Pfund Sterling Belohnung für die Habhaftwerdung des Fenier-Haupt-Zentrums nicht schlafen lassen. [Nr. 4, 5. 1. 1867]

1867 Die Frage der Wahlrechtsreform bringt Bewegung in den englischen Parlamentarismus. Das Volk drängt die Regierung zum Handeln. Große Demonstrationen begleiten die Debatten des Unterhauses über die von Disraeli eingebrachte Reformbill. Nachdem Reformvorschläge der Liberalen in vielen kontroversen Punkten aufgenommen sind und schließlich jeder Inhaber einer städtischen Wohnung wahlberechtigt wird, stimmen beide Häuser dem Gesetzentwurf zu. Damit gewinnt der englische Parlamentarismus mit einer nahezu verdoppelten Wählerschaft eine breitere demokratische Grundlage. Neben diesem Thema beherrscht der irische Ruf „Justice for Ireland" die Tagespolitik, wesentlich ausgelöst durch die neu hervorbrechende Radikalisierung des Fenierbundes, der zunehmend auch auf englischem Boden agitiert, so bei dem Angriff auf das Schloß von Chester, wo man sich in den Besitz dort aufbewahrter Waffen bringt, bis hin zu jenem Explosionsattentat auf das Londoner Clerkenwell-Gefängnis im Dezember zur Befreiung zweier Fenier-Anführer, durch das einige Menschen in den durch die Explosion zerstörten umliegenden Häusern ihr Leben verlieren. Die Lösung der Irischen Frage erscheint dringender denn je. Während in Paris die große Internationale Industrieausstellung der Magnet für Europa ist, führt die Luxemburger Krise Frankreich und Preußen nahe an den Rand eines kriegerischen Konflikts. Den Zeitgenossen erscheint das ganze wie eine „vom Zaun gebrochene Querele"1, ausgelöst durch die seit der Erweiterung des preußischen Machtbereichs gewachsenen Kompensationsabsichten Napoleons III. auf das seit dem Wiener Kongreß zum Deutschen Bund gehörende Großherzogtum Luxemburg. Napoleons Kaufvertrag mit König Wilhelm III. der Niederlande, der in Personalunion Großherzog von Luxemburg ist, versagt Preußen seine Zustimmung. Auf einer nach London einberufenen Konferenz der Großmächte wird der Konflikt beigelegt, Luxemburg als unabhängig unter die Kollektivgarantie der unterzeichnenden Mächte gestellt und zur Neutralität verpflichtet. Diesem Fehlschlag napoleonischer Außenpolitik folgt im Sommer die „mexikanische Tragödie"1: Ein Jahr nach dem Truppenabzug der Franzosen fällt Kaiser Maximilian von Mexiko in die Hände der Republikaner und wird, auf Hochverrat ange-

1 2

Vgl. Κ L o n d o n , 2 5 . April 1867. Vgl. Κ L o n d o n , 11. Juli 1867.

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1867

klagt, nach dem Urteil eines Kriegsgerichts standrechtlich erschossen. Die jahrelangen mexikanischen Opfer Napoleons waren vergebens. Neue Verwicklungen entstehen auf italienischem Boden: Die Römische Frage gerät erneut ins Rampenlicht. Die Nationalliberalen Italiens streben den Besitz des Kirchenstaats und Rom als Hauptstadt des neuen Italien an. Im Spätherbst dringt Garibaldi mit seinen Freischaren in die päpstlichen Besitzungen ein. Das unüberlegte Unternehmen scheitert an den päpstlichen und an den diesen zu Hilfe geeilten französischen Truppen. Frankreichs Vorschlag, die Römische Frage zum Thema einer Konferenz zu machen, findet keine Zustimmung. Italiens Lage bleibt schwierig. Bedeutende außenpolitische Verwicklungen hat Großbritannien in diesem Jahr nicht; die heimische Presse widmet sich um so intensiver den inneren Problemen des Vereinigten Königreichs. Neben der Reformfrage und den Mordanschlägen und Attentaten der Fenier sind weitere Themen, die sich vor anderen herausheben, die Arbeitslosigkeit in vielen Erwerbszweigen und die Verarmung und Brotnot unter den Arbeitern, der durch betrügerische Manipulationen ausgelöste Zusammenbruch zahlreicher Betriebe, die im modernen „Netzwerk von zusammenhängenden Industrien"3 zur Stagnation des Geschäftslebens führen und zum Einbruch des seit Jahren gewohnten Überschusses der Staatsfinanzen. Auch die Enthüllungen über die Anwendung roher Gewalt der zu Trade Unions vereinigten Arbeiter den unorganisierten oder abtrünnigen Arbeitern gegenüber sind ein vielbesprochenes Thema. Die Neugestaltung der Dinge in Deutschland beiden antagonistischen Staatsmänner Bismarck englischen Presse gleiche Anerkennung.

und Osterreich und die und Beust finden in der

Mexiko und die Spekulationsmühle Kann Johnson angeklagt werden? Wunsch nach einem geliehenen Präfekten In den Schnee geschrieben p* London, 9. Januar Neben den dringenden häuslichen Fragen „Schnee und Frost" beschäftigten hier die mexikanischen Angelegenheiten und die der Vereinigten 3

Vgl. Κ London, 26. Januar 1867.

L o n d o n , 9. J a n u a r

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Staaten zunächst unsere Handelspolitiker der Börse und dann die Presse. Alle die Schwankungen — Orizaba und die neuen Manifeste in Mexiko — waren Wasser auf der Spekulationsmühle 4 . Enorme Summen wurden verloren und gewonnen, nach den Rapporten zu urteilen, und die Depesche, wonach ein Umschwung in der amerikanischen Politik in Sachen der Monroe-Doktrin zu gewärtigen, hat schon zur Etablierung einer eigenen Hausse und Baisse für alle Möglichkeiten geführt. Was die Absicht der Radikalen betrifft, Johnson in Anklagestand zu versetzen, so sprechen englische Juristen, denen die Paragraphen der amerikanischen Konstitution nicht nur im Wortlaut, sondern auch in der traditionellen Auslegung vertraut sind, einstimmig ihre Ansicht aus, daß auf geradem Wege ein Verdikt gegen den Präsidenten nicht erzielt werden könne. Die amerikanische Konstitution „nenne" nur zwei Vergehen: Landesverrat und Bestechlichkeit, packe jedoch alles andere in die elastische Tasche „high crimes and misdemeanors" (Staatsverbrechen und Amtsvergehen). Freilich aber würden gegen ihn Leute agieren, welche Ankläger und Richter in einer Person sein wollen, was geschichtlich als der mit Vorliebe gewählte Modus der Revolutionstribunale festgestellt sei. Ferner lasse sich eine Amtssuspension eines Präsidenten für die Zeit der bloßen Untersuchung aus keinem amerikanischen Gesetzesparagraphen ableiten. Ein Blatt bemerkt: „Wendet Johnson nicht Gewalt an, so verliert er solchen Anklägern gegenüber sein Amt, die Legislative käme obenauf und hinfort würde ein amerikanischer Präsident nur eine Stellung einnehmen, mehr analog der eines venetianischen Dogen als der eines Nachfolgers von George Washington." Auf einer Karte scheint Johnson zu gewinnen. Dies ist die Alabama-Frage. Es wird Ihnen um diese Zeit schon bekannt sein 5 , daß die frühere Weigerung englischerseits (Russell), die gestellten Forderungen Nordamerikas überhaupt der Erwägung zu unterziehen, beiseite gelegt worden ist. „Es ist diesseits in voriger Woche nur der Wunsch kund gegeben, man möge von Hause aus solche Forderungen stellen, über die sich reden ließe als unter Umständen annehmbar." Zunächst hat nun amerikanische Jurisprudenz die „items" festgestellt und dann die englische Jurisprudenz diese mit ihren „items" zu vergleichen und dann wird genau dasjenige geschehen sein, was ich vor einigen Wochen als das mutmaßliche Resultat hinstellte, nämlich „daß John Bull sein Geld für drei Zinsquartale länger im Säckel behält" aber schließlich 4 5

Vgl. A n m . zu Κ L o n d o n , 2 8 . Februar 1863. L o n d o n , 8. J a n u a r . Die englische Regierung . . . , in: Nr. 7 , 9. 1. 1 8 6 7 .

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D i s t r i b u t i o n of Relief at the M a n s i o n H o u s e t o Distressed Persons of t h e E a s t - E n d

doch zahlt. Im Hochsommer wird aber sicherlich die Alabamafrage der finanziellen Literaturgeschichte angehören. — Daheim und zwar in London sind wir den beiden größten Gefahren, die einem englischen Selfgovernment (das nur bei schönem Glückswetter Parade machen kann) passieren können, zur Zeit entgangen. Nämlich dem Schnee und Frost. Drei Tage Frost und eine einzige Vorstadt Londons, Lewisham, war mit 5000 schnell hergewanderten Obdachlosen und Bettlern überschwemmt. Und ebenso erging es den andern Vorstädten. Da London keine andere Regierung hat, als eine papierne, da nach dem englischen Sprüchwort das, „was jedermanns Aufgabe, eigentlich niemandes Aufgabe ist", so stritten sich Stadtverwaltung und Reinigungs-Kontraktoren so lange darüber, ob Schnee als eine Unreinlichkeit anzusehen sei oder nicht, bis das Tauwetter die Frage im natürlichsten Wege löste. Und diesmal, weil langsam eintretend, ohne die vorjährigen Überschwemmungen. Eingesandts stellten die bescheidene Anfrage, „ob der Kaiser Napoleon uns nicht vielleicht einen Präfekten auf drei Monate leihen könnte". Anfangs mit H o h n aufgenommen, wird jetzt in der Presse mit Wahrheitsliebe ein

London, 26. Januar

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Buch neueren D a t u m s zitiert, welches ein Franzose M . de Pontes soeben publiziert. Dieser, ein ehemaliger Präfekt, „hat sich herausgenommen, einen längeren Aufenthalt in England lediglich zum Studium der sozialen Verhältnisse zu verwenden". Sein Buch ist ein Buch voll Weh und Grausen, voll zwingender Statistik. Es wird jetzt hier zugegeben, d a ß unser Pauperismus f ü n f m a l so groß als der von Paris, die Verschiedenheit der Einwohnerzahl schon in Rechnung gezogen. D a d u r c h , d a ß m a n durch ein schwerfälliges ungeheures Armenhaussystem den Armen zu einer Art Staatspensionär gemacht, hat man der selbsttätigen Menschenliebe den Puls zugebunden, andererseits aber dem Armen den Z u t r i t t zu O b d a c h und Beistand durch ein verwickeltes System von kleinen und großen Zertifikaten aufs äußerste erschwert. M a n hat in englischen Städten nie H a u s a r m e . Alles ist zu einem großen Rechenexempel gemacht, zu einer Maschine, die bei schönem Wetter leidlich arbeitet, aber bei der ersten Kalamität — und drei Tage Schnee und Frost sind eine große Kalamität bei uns — stillsteht. Ein Kapitel der Geschichte dieses Selfgovernment war für drei unvergeßliche Tage im Schnee geschrieben — jene tausend blutiger Fußstapfen von wunden Füßen der obdachlos Wandernden auf Meilen und Meilen auf und ab durch die Millionenstadt. Und das im Lande, das in der Stadt, die sich die reichsten der Erden nennen, mutmaßlich weil ein „anderer unsichtbarer Reichtum" weniger vorhanden. [Nr. 10. 12. 1. 1867]

Reformbill. Das Operieren mit der „Volkslawine" Die Arbeitslosigkeit und ihre Ursachen Elf Taler Tagelohn und kein Bett. Lernt sparen p::' London, 26. J a n u a r Falls es sich bewahrheiten sollte, d a ß Lord Derby sich dahin erklärt, keine Reformbill in diesem Jahre einbringen zu wollen, so w ü r d e damit erwiesen sein, d a ß Disraeli sich der M a j o r i t ä t seiner Kollegen gefügt hat. D a ß Differenzen dieserhalb beständen, wurde bereits mitgeteilt. Auffällig bleibt, d a ß die Times in zwei Januar-Artikeln eine nicht ungewöhnliche Schwenkung macht und, sehr im Widerspruch mit bisherigen Argumenten, die Reformbill-Angelegenheit sobald als möglich erledigt sehen will. Z u dieser Wandelung scheint Ungeduld das meiste getan zu haben; denn im G r u n d e sagen die Artikel nichts weiter als: „Wir sind dieses

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ewigen Redens und Drängens um Reform müde, — es ekelt uns an, — so macht kurzen Prozeß und gebt die Reform." Ein Argument, das alles andere sein kann, aber nur nicht staatsmännisch. Obwohl die ReformLiga ihrer Sache schon so sehr damit geschadet, daß sie hier und da im Lande Massen-Meetings ins Leben rief, so scheint uns doch in der zweiten Woche des Februar eine Wiederholung solcher Massen-Demonstration nicht erlassen werden zu sollen. Die besseren Führer schlugen vor, distriktweise Meetings an einem und demselben Tage zu halten, aber die „Reform-Völker", sich ihrer einzigen Kraft als „Masse" bewußt, bestehen auf einer ungeheuren Volkslawine, die sich auf dem Westend-Platze Charing-Cross zu sammeln und dann nach einer großen Halle im Norden zu marschieren hätte. Selbst der „Daily-Telegraph" und andere Gladstonesche Blätter tadeln dies, weil dadurch der ohnehin beschwerliche Verkehr in den belebtesten Geschäftsteilen der Stadt fast zu einem Stillstand gebracht würde. Indessen daran liegt der Masse nichts, im Gegenteil, es dient zur „Schraube". Die Masse mißtraut jedem Führer, so er sich den Interessen der Gesellschaft akkommodiert. Bright ist ihr schon zu sehr gemäßigt und es werden Stimmen vernehmlich, die es an „diesem und anderen Gentlemen" schelten, daß sie nicht die jetzt herrschende Arbeitlosigkeit der verweigerten Wahl-Reform in die Schuhe schieben. Ein radikales Winkelblatt sagt mit Naivetät: „Wir hören, daß radikale Führer auf dem Kontinent sich eine solche Gelegenheit nicht hatten entschlüpfen lassen." Doch das sind glücklicherweise nur einzelne Stimmen. Bis jetzt zeigt sich keine Absicht, die Brotnot mit der parlamentarischen Frage in einen Topf zu werfen, und es scheint nicht, daß englische Radikale die kontinentale Manier kopieren konnten, wenigstens die Führer nicht, wennschon es auch an aufregenden Reden dieser Art „aus Reih und Glied" bei der beabsichtigten Monstre-Demonstration nicht fehlen wird. Die Masse ist nie dankbar, und solche Vorsätze der konservativen Regierung, die Beschränkung der Arbeitszeit auf zehn Tagesstunden im ganzen Lande und bei jedem Industriezweige beim Parlamente beantragen zu wollen, finden kaum ein erkenntliches Wort. Radikale werden durch nichts mehr erbittert, als wenn eine Regierung Schritte tut, welche dem Volke wohltun, und somit den Parteiwühlern die Agitationsmittel verkürzt. Daß die Regierung aber auch gerade bei den Arbeiterklassen das lange wegpersuadierte Vertrauen gewinnt, beweisen die zahlreicher werdenden Meetings „konservativer Arbeiter". J a , in Rochdale sogar, wo die Manchesterschule seit Cobden — es war sein Wahlbezirk — allein zu regieren glaubte und einen vollwichtigen Radika-

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len für das Parlament durchsetzte, hat sich ein großer konservativer Arbeiter· Verein gebildet. — Seit drei Tagen ist Schnee, Eis und Frostwetter verschwunden, mithin ein Leiden von den Schultern der Tausende von Hungernden genommen. Aber der Hunger bleibt. Nur mit einem geringen Teile der Brotlosigkeit hat der Frost zu schaffen. Die Themse-Ufer auf Meilen Länge waren schon lange vorher lautlos — kein H a m m e r schlag — kein Ton der Säge. Die Not begann mit den meist durch Schwindeleien herbeigeführten künstlichen Bankerutts in der Handelswelt, und wo ein Schlag tausend Verbindungen schlägt, wie in unserem Netzwerk von zusammenhängenden Industrien, hungert der Kleine in der Wiege, weil ein Börsen-Agent ein paar Stunden lang geschwindelt hat. Dies in Multiplikation gebracht, erklärt den größten Teil des Elends, das jeder Beschreibung spottet. Frost und Cholera waren nur Akzidenzien. Ersterer konnte nur an zwei oder drei Tagen mit einem mäßigen deutschen Frost verglichen werden. Aber der Arbeiterstaat der Industrie ist hier so von Wind und Wetter abhängig wie von Handelsfluktuationen und erweist sich hier als ein Etwas, das nie einen stabilen Boden hat, also viel häufiger der Stütze bedarf, als Stütze bietet, solange nicht das schöne Wetter des guten Glücks vorwaltet. Dies allein sollte die Ehrlicheren unter den Weltverbesserern überzeugen, daß dort keine politische M a c h t zu vergeben ist. Im Osten des Landes leben auch die „reichen Arbeiter" jetzt von Almosen. Das sind die Schiffszimmerleute, die ihre Tageseinnahme oft nach Pfunden Sterling berechnen, wie der „Teleg r a p h " schreibt, „große Portwein-Dejeuners" gaben und ζ. B. zur Zeit des Krimkrieges, w o man ihrer am meisten bedurfte, „vier Pferde lang spazieren fuhren". Aber wie die Puddelöfen-Arbeiter in Staffordshire nicht mit 11 Tlr. den Tag auskommen, so flog auch in London das Gold jener Arbeiter in alle Winde. Genug, um Haus und H o f zu kaufen, vergeudete die Familie dieser Schiffs-Arbeiter oft in zwei Jahren. Sie sind alle jetzt an den Bettelstab gekommen, ihre Wohnungen und Häuser im buchstäblichen Sinne des Worts leere Wände — die Feuerroste aus den Nieten gerissen und verkauft und ein Laken als Bettuch für vier oder sechs auf bloßer Diele. Der kleine Arbeiter wehrte sich viel länger — er hatte hin und wieder ein Guthaben in der Sparkasse. Es ist hier ein eigentümliches Zeichen, daß bei Kalamitäten der sehr hoch bezahlte Arbeiter viel schneller der Not verfällt, als der kleinere, welcher den Schilling „umdrehen" mußte. Die Spargelder kleiner Leute im verarmten Irland sogar beliefen sich 1865 auf nicht weniger, als 14 Millionen Pfund Sterling. [Nr. 2 7 , 1 . 2 . 1 8 6 7 ]

London, 2. Februar

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Gladstone in Paris Die Weltausstellung und Eifersüchteleien Reformbill und „question irlandaise" Bright und der O'Donoghue p* London, 2. Februar Die römische Siesta der Exminister ist vorüber und Tag für Tag meldete man uns aus Paris die Ankunft eines Heimkehrenden, alles Liberale, um ihre Fahrt in das Unterhaus von Westminster fortzusetzen. Daß Gladstone bei dem Kaiser dinierte, fand natürlich allerlei Auslegung. Finanziers, die immer an ihr Fach zunächst denken, waren eitel genug, zu vermuten, der Kaiser habe sich mit Gladstone über eine neue französische Anleihe unterhalten — andere brachten das zusammenhanglose Gerücht in Umlauf, man habe bei Tische über die Möglichkeit eines Aufschubs der Eröffnung der Welt-Industrie-Ausstellung gesprochen. Beides vermutlich Erfindung. Was eine Anleihe betrifft, so weiß man wohl, daß in London, wie in Paris von Wien aus einmal wieder „hingehorcht" worden, aber eine französische Anleihe „allgemeinen" Namens hält man hier für eine böswillige Erfindung, weil Frankreich, das auf der Ausstellung seine Prosperität beweisen wolle, doch nicht mit einer Anleihe gerade jetzt die Illustration dazu liefern könnte. Es kann dem Zeitungsleser nicht entgehen, daß die Pariser Korrespondenten Londoner Blätter die bevorstehende Ausstellung im voraus mit etwas schnippischen Witzeleien behandeln. Eifersucht, die man hierzulande nur ungeschickter versteckt, mag dabei mitspielen, um so mehr, da gewisse Hauptartikel englischer Manufaktur nur sehr dünn vertreten sein dürften. Seitdem gemeldet worden, man beabsichtige mitten im Garten der Ausstellung die Kronjuwelen Frankreichs unter einem großen Glaskasten in der Sonne auszustellen, mit einer Versenkung im Boden, um in etwaigen kritischen Momenten die Schätze mittels eines Federmechanismus der Zudringlichkeit zu entrücken, so gibt es wirklich Leute, die es bedauern und es sagen, daß die englischen Kronjuwelen nicht als Seitenstück ausgestellt werden könnten. Übrigens sendet England etwas Ungewöhnliches. Spanien, heißt es hier, sende Stierfechter und wir senden — Boxer in die Arena, vermutlich aber nur „zum Ansehen". Diese Leute sind sofort kenntlich unter Hunderten — die niedrige Stirn — der dicke Schädel — der Bullnacken — die schiefe Nase — facies non omnibus una, nec diversa tarnen. Dies und ähnliches wird uns von Paris gemeldet, und noch

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anderes Englische, was wir hier selber nicht wußten. Das Unerfreulichste ist, daß das englische Bureau mit dem französischen Bureau der Arrangeurs schon seit Wochen auf allergespanntestem Fuße steht, was einen nur einigermaßen instruierten Ethnologen durchaus nicht Wunder nehmen wird. — Man hört jetzt Bestimmteres über die Absichten der Regierung in betreff der Reformbill. Die sanguinischen Liberalen hielten es nicht für „möglich", das Kabinett könne anders, als sofort dem Drucke nachgeben. Dann hieß es, wenigstens gleich nach den Osterferien werde man in Downing Street daran denken. Jetzt ist es schon viel wahrscheinlicher, daß eine solche Bill, wenn überhaupt in diesem Jahre eingebracht, erst im November vor das Unterhaus kommen soll. Der November ist freilich ein Monat, der seit Jahren das Parlament nicht versammelt gesehen, indessen erwartet man eine solche Fülle von parlamentarischen Geschäften, daß die Minister vorhaben, ausnahmsweise eine Herbstsession vorzuschlagen. Das wird aber Mühe kosten, denn der Parlamentsmann wird fühlen, man könne daraus einen Präzedenzfall machen, und er liebt Ferien sehr und feiert den Oktober gern in Florenz oder Rom. Es wird übrigens den Reformers nicht leicht werden, die künstliche Bewegung so lange in vollem Atem zu erhalten; denn nicht allen unter ihnen ist es Ernst um die Sache, daß sie das Streben nach dem Besitz dem Besitz selbst vorzögen. Zum ersten Male reden übrigens die Blätter von einer „Irischen Frage", was man lange zu vermeiden wußte und unangenehm berührt wurde, wenn französische Journale unter den verschiedenen Fragen auch eine question irlandaise aufzählten, von deren Existenz man hier nichts wissen wollte. Man wurde sofort argwöhnisch, England irgendwie mit einer „question" in Verbindung gebracht zu sehen. Aber — man gestatte mir die Worte — es fühlt sich hier heraus, daß bei Sadowa noch etwas anderes zerbrochen wurde, als eine nachbarliche Suprematie. Das soll heißen, man ängstet sich hier nicht mehr um „überraschende questions" oder „Neujahrswinke" gewisser Art seit dem Tage von Königgrätz? Sie glauben kaum, wie dankbar Ihnen der „denkende" Politiker in England für jenen Tag geworden ist — ihm ist auch ein Alp vom Herzen gehoben. Was die „Irische Frage" betrifft, so hat sie lediglich zwei Angelpunkte — die Abschaffung gewisser großer finanzieller Privilegien der protestantischen Kirche in Irland und eine Änderung des legalen Verhältnisses zwischen Grundherren und Kleinpächtern. Die irischen und englischen Liberalen machen Versuche, sich in eine Phalanx gegen die Trias zu vereinigen. Brights Besuch in Dublin und des O'Donoghue in Rochdale sind die Einleitung. [Nr. 3 1 , 6 . 2 . 1 8 6 7 ]

London, 9. Februar

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Die Reform-Agitationen und ihre Gefahren Die verwöhnten Arbeiter und ihre Ansprüche p::" London, 9. Februar O b wir wirklich vor einer Revolution stehen, wie man von den Radikalen geflissentlich verneint, aber merkwürdigerweise von Organen besonnener Richtung mehrfach angedeutet wird? Diese Reform-Agitation macht auf einen großen Teil der Bevölkerung einen einschüchternden Eindruck — bringt ein weit sich ausbreitendes Gefühl von Unsicherheit hervor. Dennoch fehlt es an bestimmten Indizien. Es „liegt in der Luft", „es schwelt irgendwo", „Klasse macht Front gegen Klasse" — das sind so alltägliche Redensarten geworden, und man wird originellerweise an die „Ungläubigen" der „Fabel vom Wolf" gemahnt, wenn man nicht mit diesen vagen Befürchtungen übereinstimmt. Daß der Kampf zwischen Arbeit und Kapital auf eine große Krise losarbeitet, ist nicht zu leugnen; aber der Grundbau der englischen Gesellschaft ist sehr konservativ, selbst da, wo die Leute es selbst nicht glauben oder Wort haben wollen, daß sie konservativ sind. Eine politische Revolution würde an diesem konservativen Instinkt der Nation scheitern; aber geschäftlicher Ruin, eine Katastrophe ums liebe Brot, die hängt von anderen sehr möglichen Störungen ab. Schon hat ein Auswandern von „großen Brotherren" begonnen, d. h. Eisenfabrikanten gehen damit um, mit Sack und Pack nach Belgien und anderen Gebieten des Festlandes überzusiedeln und dort ihr Geschäft fortzusetzen, wo die Arbeiter mit bescheidenerer Löhnung zufrieden seien. Der Arbeiter hat sich von seinen Freunden so lange als den Mittelpunkt des Universums schildern hören und sieht sein Lob so oft schwarz auf weiß gedruckt, daß er sich für ein äußerst tolerantes Wesen zu halten beginnt, weil er den „besseren Leuten" überhaupt noch freien Ellenbogenraum lasse. Wie sehr der Arbeiterstand in England verwöhnt worden, so sehr, daß er in Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegen gesellschaftliche Gemein-Interessen reißende Fortschritte macht, beweist ein neues „Movement". Kaum hat die Regierung Lord Derbys ihre Absicht erklärt, für alle Industriezweige die Einführung zehnstündiger Tagesarbeit zu befürworten, so treten die Clubs zusammen, zunächst in den Baumwoll-Distrikten des Nordwestens, und verlangen die Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden, was in Wirklichkeit nur sechs und eine halbe Stunde bedeuten will, da für Frühstück und Mittagbrot ausgedehnte Arbeitspausen ohnehin gestattet werden. Dieser Modus ist schon von den Kohlenarbeitern vielfach ertrotzt. Zweifelsohne

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führt jenes Begehren bald zu neuen Konflikten mit den Brotherren, die jedoch das öffentliche Urteil auf ihrer Seite haben werden. Selbst solche Blätter, welche aus Reformliebhaberei den Arbeiter als ein Modell von Verläßlichkeit hinzustellen gewohnt sind, scheinen stutzig zu werden und warnen vor Mißbrauch — sicherlich vergebens. Die Clubs motivieren ihr Begehren sogar mit national-ökonomischen Gründen. „Überproduktion hat sich als ein großes Übel erwiesen. D a s einzige Mittel ist, weniger zu produzieren, also Verkürzung der Arbeitsstunden." Aber von Verkürzung des Arbeitslohnes ist keine Rede. Wie dieser Lohn oft vergeudet wird, davon noch ein Beispiel. In einer östlichen Vorstadt Londons haben viele Drahtarbeiter, nach „Stück" bezahlt, bis kurz vor Weihnachten, 7 — 8 Pfund Sterling die Woche verdient. Um alles verjubeln zu können, pflegten sie nur die elendeste Wohnung zu mieten. Als die erste Woche der Arbeitsnot eingetreten, waren sie ohne einen Heller und meldeten sich ohne Scheu sofort bei den Armen-Suppenküchen in der Nachbarschaft oder gingen in Trupps auf die Straße, als „Arbeiter in Elend" Almosen ersingend. Kaum aber bessert sich der Arbeitsmarkt und der Frühling naht, so sind sie obenan mit anderen zu agitieren und mit Strikes Unbilligstes zu ertrotzen. [Nr. 37, 13. 2. 1867] Fenier und Radikale Die Reform-Demonstration und die fremden Elemente Was der Fenismus ist p * London, 18. Februar Daß die letzte große Reform-Demonstration so nahe mit den Putschen der Fenier zusammenfiel, hat zu verschiedenen Kommentaren Anlaß gegeben. So schreibt die sonst sehr ruhig urteilende „Sunday Times": „Die Journale der Radikalen witzeln über den Minister des Innern, den Kommandeur en Chef, den Mayor von Chester, die Polizei von Liverpool usw., und der Ton, in welchem sie die aufregenden Ereignisse der letzten Woche besprechen, würde (kennten wir nicht die unverbesserliche Verblendung der radikalen Gemüter) die Frage erlauben, ob nicht irgendein hochverräterisches Einverständnis zwischen den Radikalen Englands und den irischen Fenier obgewaltet. Sicherlich, wenn die ,Daily News', der ,Star' und der ,Daily Telegraph' an der Verschwörung beteiligt gewesen wären, hätten ihre Urteile kaum mehr dazu beitragen können, die beabsichtigten Pläne zu fördern." — Darin ist viel Wahres. Als ein liberales

London, 18. Februar

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Kabinett mit einem wahren Schmiedehammer auf die ersten Knopsen des Fenismus losgeschlagen, rief der „Daily Telegraph" Bravo! „Ein kurzes Gebet um einen langen Strick. Mit eiserner Ferse muß jeder Versuch zur Rebellion ausgestampft werden." Diesmal, bei viel ernsteren Vorgängen, trifft ein Tory-Ministerium seine Maßregeln, und dasselbe Blatt lacht sich halbtot über soviel Aufwand von Streitkräften und läßt sich die Fabel aus Chester telegraphieren, als sei der Zusammenfluß von verdächtigen Charakteren nur das Rendezvous zu einem von der Polizei geheim gehaltenen Boxerkampf gewesen. Bis noch vor kurzem rügten die genannten Blätter den irischen Ruf nach „Justice for Ireland" und heute nennen sie die Fenier unsere „politischen Gläubiger" und der sonst nach Strick und Galgen schreiende „Telegraph" ergeht sich in poetischsentimentaler Weichheit, die um des Gegensatzes willen so widerlich erscheint: „Unser Verhalten Irland gegenüber, selbst wenn das ganze Land in Rebellion flammte, müßte das einer starken Schwester gegen die in Paroxysmus verfallene schwächere sein — fest, sanft, voll Erbarmen und voll Hoffnung. Die Geschichte der Behandlung, die wir Irland haben angedeihen lassen, gibt uns kein Recht, zu fluchen und ihm Kinder in Hekatomben ohne einen Seufzer zu opfern. Wenn es einen unnötigen Blutstropfen kostet, können keine Tränen den hinwegwaschen; wenn ein einziges Leben verloren ginge, das geschont werden könnte, würden nur die Feinde, nicht die Freunde Englands das Recht haben, zu frohlocken." — D a ß übrigens das fenische Element auch bei der großen Reform-Demonstration vertreten war, darüber ist kein Zweifel. Es ist bekannt, daß mehrere ihrer Führer früher schon darauf hingewiesen haben, eine französische Revolution zu kopieren. Vorgefundene Dokumente beweisen das und die Reform-Demonstration hatte verschiedene sehr ausländische Färbungen. Da spazierten Kerle (um diesen unumgänglichen Ausdruck zu gebrauchen) zum ersten Male durch die Straßen Londons, Jakobinermützen auf Liktorenbeilen tragend — viele Franzosen, die sich zum Wohle ihres Vaterlandes im Auslande aufhalten, und deren politisches Verständnis im schmalen Kompaß der Jahre I-IV der ersten französischen Revolution liegt — da klang die Marseillaise, von Reform-Musikanten gespielt, viel häufiger, als die englischen Nationalmelodien, — da war eine Mosaik von Flüchtlingen verschiedener Nationen — und auch Deutsche mit roten Schärpen trugen unter anderem ein Banner mit der Inschrift: „Proletarier! Rüstet euch zur Selbstverteidigung." Das ist alles Fenismus, nur in eine andere Nationalität übersetzt, und ich möchte die in Erin selbst wohnenden irischen Fenier noch als die mildere Couleur betrachten. Bei ihnen gibt es viele, die nur mit dem englischen Paria-

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ments-Mechanismus grollen, die unsägliche Leiden ihres Landes mitangesehen und bei denen Verzweiflung sich mit einem kurzsichtigen Enthusiasmus mengt; viele, die nicht über die „Repeal" hinausgehen und ein H o c h auf die Königin mit demjenigen auf ein national-irisches Parlament vereinigen w ü r d e n . Die eigentliche Infamie der Revolution drückt ihr Brandmal n u r einer gewissen Clique unter den Führern auf, die mit französischen Mustern der Jacquerie und der „ D a m e Guillotin" zu arbeiten und Pöbelherrschaft zu etablieren begehren, und wohlweislich die leicht erregte Phantasie des irischen Volkes ausnutzend, auf irische H a r f e n und Psalter die phrygische Mütze pflanzen. M a n hat wohl hin und wieder kalkuliert, wie viele Fenier sich in London befinden mögen. D a ß die dreizehn fenischen Direktorien in London nicht den ganzen irischen Pöbel formell als Fenier vereidet haben, ist selbstverständlich — doch die irische Bevölkerung Londons auf mindestens eine halbe Million angen o m m e n , läßt, nach Abzug der besseren Schichten, sicherlich 400.000 „unvereidete" Fenier übrig, d. h. Leute, die bei erster bester Gelegenheit einen politisch-sozialen Krawall mitmachen und ausbeuten w ü r d e n , ungerechnet das Kontingent, das der englische M o b zu gleichen Zwecken gesteilen würde. Noch ungünstiger stellt sich das Bevölkerungsverhältnis in Liverpool, Sheffield, Chester und in den cymbrischen Distrikten von Nord-Wales. Die schottischen H o c h l a n d e sind zu „reingefegt", um dort etwa einen gälischen Schmerzensschrei 6 zu etablieren, und in Cornwall starb die cornische Sprache mit einer alten A m m e schon vor zwanzig Jahren aus, so d a ß dort kein den Angelsachsen feindlicher Partikularismus mehr ins Leben zurückgerufen werden könnte. Der Fenismus ist eine Karikatur des allermodernsten Nationalitätsprinzips und existiert erst seit den ersten Erfolgen Neu-ltaliens — aber sie ist eine gefährliche und w u r d e von H a u s e aus mit englischem Spleen behandelt. [Nr. 45, 22. 2. 1867]

Disraeli und die „Adullamiten" Mr. Lowe über Reform Der „Cousin aus der Provinz". Der Schirm p* L o n d o n , 25. Februar Es ist von den Reformers versucht w o r d e n , den Glauben zu verbreiten, Disraelis Verfahren habe Unzufriedenheit im eigenen Lager erregt und 6

Vgl. Anm. zu Κ Posen, 23. November 1861.

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ζ. Β. die sogenannten Adullamiten (ehemalige Whigs, die sich zu den Tories halten) vor den Kopf gestoßen. Das ist Fabel. Der Führer der letzteren ist bekanntlich Lowe, und kein Tory kann sich mißtrauischer gegen eine weitgehende Reformbill aussprechen, als dieser, welcher aus der Phalanx des Liberalismus sich abgelöst hat. In einer Rede bei einem Lord-Mayors-Bankett zu London sprach Lowe soeben die Worte: „Das Unterhaus ist aufgefordert worden, nun selbst zu urteilen, selbst zu wägen, was an Reform nötig sein könnte. Wie die Forschung ausfallen wird, weiß ich nicht. Gebt uns Eure besten Wünsche. Wünschet für uns, daß wir im Geiste der Aufrichtigkeit handeln, um unsere Irrtümer zu erkennen. Wünschet für uns, daß wir mit ehrlichem Herzen verfahren. Wünschet für uns, daß wir Festigkeit und Mannheit genug beweisen, um uns zu helfen, wo etwas vom Übel, ohne Scheu und ohne Gunst, daß wir an uns selbst bessern, was sich als unrichtig erwiesen. Wünschet für uns, daß wir unsere Pflicht tun. Und, ο Gentlemen, vor allen Dingen, wünschet für uns, daß — wenn wir solche Pflicht getan haben, kein menschliches Motiv und kein menschliches Interesse uns verleite, mehr zu tun." Nichts kann die Stimmung des denkenden Teils der Bevölkerung richtiger wiedergeben. Zum ersten Male ist man sich klar, daß man ganz andere Elemente zu bekämpfen hat, als sonst in Parlamentsminen in England sich regten — wir haben die Demokratie im Lande und zwar nach ausländischer Schablone. Sie ist da. Was Carlyle ihre Löwenfüße nennt, die auf allen Gassen stampfen 7 — sie sind hörbar geworden. Die letzte Monstre-Demonstration war schon mehr als ein „Schaumspritzen". Der „Wille" ist da und ein konservatives Kabinett kam zur rechten Stunde, um den Gladstonianern die lockeren Zügel aus der Hand zu nehmen, und mit Energie zu reformieren, wo das Gebäude das verlangt. In den wenigen Monaten ihrer Regierung haben, und das wird im Lande erkannt, die als Stillstands-Enthusiasten verschworenen Konservativen beim Unterhause mehr Reformen, d. h. Neuerungen, die zugleich Verbesserungen sind, beantragt, als das vorige Kabinett in ebenso vielen Jahren, trotz all des humanistischen Wortgeklingels in Reden und Schriften. Heute Abend werden von Disraeli weitere Auseinandersetzungen über die Stellung der Regierung zur Reform erwartet. Er hat sie zugesagt. Es wird gemutmaßt, Disraeli werde eine viel breitere Wahlbasis vorschlagen, um das Haus zugleich für Genehmigung von Pluralitätsvoten zu gewinnen, wonach derjenige Mann im Lande, der an Bildung und Wohl7

Vgl. Κ London, 5. November 1864.

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stand andern überlegen, auch proportionell „mehrere Voten" besitzen solle, was der Überschwemmung der Wahlstellen durch das eine überwiegende Element der Arbeiter vorbeugen würde. Der Gedanke ist nicht ganz ungewohnt, denn bei vielen Munizipalwahlen in England verfährt man nach dem System der Pluralitäts-Voten — aber neu wäre es, „sie auf das politische Gebiet zu übertragen". Sollte diesem System das Haus widerstreben, so will, wie es heißt, das Kabinett nur eine beschränkte Herabsetzung des Wahlzensus befürworten. In dieser Frage haben die Tories im Hause überhaupt viel mehr stille Anhänger selbst bei der Gegenpartei, als diese glauben lassen will. Es k o m m t ganz auf Taktik an, diesen „Mut" zu machen. — Alle Briten, welche nicht zu London gehören, werden unter dem Sammelnamen „Cousins aus der Provinz" begriffen, ohne daß damit irgendein verwandtschaftliches Verhältnis gemeint wäre. Dem Cousin aus der Provinz ist die Ehrfurcht vor „seinem Parlamente" auch nicht durch Partei-Broschüren-Lektüre abwendig gemacht. Er bringt noch Enthusiasmus mit. Sein erster Gedanke bei der Ankunft in London gilt „seinem Mitglied", d. h. demjenigen Parlamentsmann, den er hat mitwählen helfen. An diesen wendet er sich um eine Einlaßordre. Ist er aber mehr als nur ein Wähler mit einsamem Votum aus der großen Reih und Glied, ist er eine distinguierte Person, so etwa wie ein gefürchteter und unbesoldeter Kirchspiel-Vorsteher, der sich auf Wahlcomites und aufs Armenhauswesen versteht und auf die sparsamste Anlage der dazugehörigen Kirchhöfe, so aspiriert er auf einen besseren Sitz, als auf der Fremdengalerie. Er geht ohne Umschweife ins Haus, schreitet fest an dem ersten Paar Constabler vorüber, die im Korridor Wache stehen und ihm wohl die Wichtigkeit an der Nase ablesen und schickt seine Visitenkarte in die Sitzung an das „honorable Member" für Ν . Und sein Mitglied kommt sofort heraus, schüttelt ihm mit seinem schönsten Lächeln die Hände, lauscht mit gut angelegtem Interesse einer weitläufigen Einleitungsrede über allerhand heimatliche Kleinigkeiten und, sein eigentliches Anliegen ahnend, kommt er ihm mit der leicht hingeworfenen Frage entgegen: „Wollen Sie sich nicht das Haus ansehen?" Versteht sich, der will. Und sein Mitglied faßt ihn unter den Arm und laviert ihn mit leichter Schiebung durch mehrere Paare von Constablers und setzt ihn ab im Sitzungssaale selbst, dicht neben dem Sergeant-at-Arms, der als Hauspolizei-Kommissarius einen Galanteriedegen führt und, wie männiglich bekannt, widerspenstige Parlamentsmänner äußerstenfalls ins Karzer sperren kann, das sich irgendwo im Hause (unweit der Restauration) befinden soll. In obiger Weise kommt ein einflußreicher

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„Cousin aus der Provinz" zu einem Platz. Anders aber ergeht es Madame la Cousine, so auch sie nach der Metropole gekommen sein sollte. Ihr kann sein Mitglied nicht helfen. Bunte Reihe wird im feierlichen Unterhause nicht gestattet. Madame kommt hinter den — Schirm. Dies ist ein gewöhnlicher Schirm, von Eichenholz sogar, nur in gebrochener Arbeit, auf der Brüstung der Ladies-Galerie. Auch selbst diejenigen Ladies, welche dahinter auf der vordersten Bank einen Platz erhalten, sind nur da, um wenig zu hören, noch weniger zu sehen und was für manche ebenso schmerzlich ist, nicht gesehen zu werden. Vergeblich ist der Ruf nach Abschaffung dieser „Barbarei" bisher gewesen. Vor drei Tagen schlug Bernal Osborne eine Radikal-Reform vor. Aber vergebens. Jenes Herkommen ist versteinert. Selbst die Liberalsten waren darin konservativ. Die Masse meint, es seien vornehmlich die Eheherren im Hause, die vermeiden wollen, daß ihnen ihre liebe Gemahlin gerade in solchem Momente ins Gesicht sehen könnte, wenn sie gerade einmal oder öfters eine Dummheit coram publico gesprochen. Im Oberhause ist die Damengalerie offen. Im Unterhause merken nur die schwergeplagten Stenographen die Anwesenheit der Ladies, denn gerade unter dem Schirm sitzend, stört sie das Rascheln der Seidenkleider und das Kritisieren da oben am meisten im Geschwindtempo ihrer sauren Arbeit. [Nr. 50, 2 8 . 2 . 1867]

Toryismus über Konservatismus Das Haushalt-Stimmrecht. Ein Wettrennen p* London, 9. März Eine radikale Reformbill mit den Erdbeerblättern der Earlkrone eines Derby garniert und von dem konservativen Führer des Unterhauses Disraeli aufgetischt, dessen neuester Schritt es fast zweifelhaft machen könnte, ob er noch vor wenigen Jahren nur aus Selbstironie sein jugendliches Poem, „ein revolutionäres E p o s " neu auflegen ließ! 8 Es kann nichts nützen, über ein übel Ding einen schönen Firnis zu legen. Man hat seitens der Regierung den Konservatismus dem Toryismus geopfert. Die beiden Namen meinen von dieser Woche an nicht mehr dasselbe Ding. Bestand einmal der Parlamentarismus im Lande, so stand es Dis-

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The Revolutionary Epick (1834), London 2 1864.

London, 9. März

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raeli kaum an, vor kurzem vorzuschlagen, man möge vermeiden, die Reform-Frage wieder zu einer Kabinettsfrage zu machen. Eine wichtigere, eine mehr das Staatsfundament angreifende gab es nicht. Disraeli hat seinen Sitz im Fauteuil lieber gehabt, als sein Prinzip. Man nenne das Ding nur beim rechten Namen — der Konservatismus in diesem Kabinett hat abgedankt in der Haupt- und Lebensfrage. D a ß die Reformblätter darüber Witze machen — nun, man kann ihnen die „mildernden Umstände" für solche Unart nicht verweigern. Liegt auch die Bill noch nicht auf englischem Patentpapier gedruckt auf dem Tisch des Hauses — die „Idee" dazu war genug. Die Konservativen im Hause müssen sich andere Führer suchen und ein „Adullamit" (von den Whigs abgefallen) wie Lowe, der seine Farbe veränderte, freilich zum Bessern, als er die ungeschminkte Wahrheit über den „moralischen Zustand" der bisherigen NichtWähler ausgesprochen und den man im Volke dafür Spießruten laufen ließ, wäre keineswegs der am wenigsten Verläßliche. Es ist noch eine Möglichkeit vorhanden, daß das Unterhaus im Herbste die Bill nicht annehmen werde. Geschieht es aber, nun so hat das wählende Land selbst über seine Zukunft Wache zu halten. Ein „Haushaltswahlrecht" meint freilich nicht den Haushalt auf Aftermiete, sondern auf das Innehaben eines Hauses begründet. Aber es gibt so kleine Käfige dieser Art, die man Häuser nennt, bis zu 3, 2, ja zu einem Zimmer herab, mit einem Schindeldach ohne Rauchfang, sogar in manchen Gebirgsgegenden, daß John Bright eigentlich alles erreicht haben wird, was er selbst als das Ziel gepriesen; denn dem allgemeinen Urwählertum hat er bis heute noch nicht seinen unbedingten Beifall angedeihen lassen. Ein „Logier-Wahlrecht" läßt sich von dieser radikalen Idee kaum noch trennen. Es läge kein Grund vor, wenn man dem Holzhacker (der ein Haus, aus zwei Kammern bestehend, bewohnt) das politische Wahlrecht vindiziert, dasselbe Recht dem Mieter einer teuren Wohnung, in einem Londoner Hause zum Beispiel, zu verweigern. Der Stiefelputzer in dem kleinen Vorstadthause würde ja dann ausgezeichnet vor dem Beamten, der nur ein halbes Haus mit seiner Familie bewohnt. Es war eine wirre Woche. Stunde um Stunde geschahen Schachzüge der beiden balanzierenden Parteien und ein Photograph hätte sehr entsetzte Gesichter auf den liberalen Bänken des Hauses kopieren können, als ihnen die Gegner einen Trumpf ausspielten, einen politischen Gefallen taten, der ihr größtes Mißfallen wurde. Selten — mit Ausnahme leidenschaftlicher Krisen — folgten Manöver so schnell auf Manöver auf beiden Seiten, als in dieser Woche, in der Geschichte des englischen Parlamentarismus. Die Hauptschlacht

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wird wohl erst in den Spätsommer oder den Frühherbst fallen — die Entscheidung im Hause selbst. Einzelne Reformblätter können sich nicht enthalten, das Verhalten des Kabinetts als eine „ruse" zu charakterisiern, lediglich um Zeit zu gewinnen und dann den Fall der Bill mit der Widerspenstigkeit des Hauses zu entschuldigen. Wäre dem wirklich so, so würde, ganz abgesehen davon, wie wenig würdig es für ein starkes konservatives Kabinett gewesen, zu solchen Schubladenstückchen zu greifen, doch das Faktum bleiben, daß die angesehensten Führer der Partei sich das bisher verpönte radikale Programm vor der Öffentlichkeit angeeignet hatten — wie in dieser Woche geschehen — und daß Disraeli und Bright einmal das gewesen waren, was Lowe sie nannte: „Große Zwillinge". Seine neuliche Rede schloß mit den Worten: „Die Wahrheit ist: Das, was im vorigen Jahre ein Konflikt gewesen, ist ein Wettrennen in diesem Jahre geworden. Beide Parteien versuchen sich nicht mehr an der Frage, wer das Bestehende angreifen und wer es verteidigen soll, sondern wer von beiden den anderen überholt im Versuche, das Ziel einer vollständig nivellierenden Demokratie zu erreichen." Die nächste und erste Kalamität jedoch, welche einer solchen Bill auf dem Fuße folgen würde, ist die schroffste Gegenüberstellung von Arm und Reich, wie Lord Carnarvon, einer der eben ausgeschiedenen Minister, sich am Montage unverhohlen ausdrückte. [Nr. 61, 13.3. 1867]

Alte Freunde, neue Feinde. Ein neuer Whipper-in General Peel und Oberst Dickson. „The whole hog" Bradlaugh der Bilderstürmer und Potter der Markör p* London, 16. März Die jüngsten Wandelungen innerhalb der Parteien gegenüber der Reformfrage haben Gegner zu Freunden und Freunde zu Gegnern gemacht. Eine der ältesten, wenn auch längst schon zusammengeschrumpften Parteien ist im letzten Stadium der Auflösung, die der alten Whigs, von denen Lord Rüssel der Älteste. Er, der sich von Hause aus als Reformer vor allen etabliert hatte, der die erste Reformbill durchsetzte, steht eigentlich jetzt auf der äußersten Rechten. Die Liberalen geben ihn auf. Der demokratische „Morning-Advertiser" hält der Kombination DerbyDisraeli eine Lobrede und lacht über „Johnnys (John Russells) Reaktion". Lord Russell hat es mit jenem Dinge, das man öffentliche Meinung

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nennt, augenscheinlich verspielt, weil er nicht wie G l a d s t o n e sich der radikalen R e f o r m - I d e e des K a b i n e t t s a k k o m m o d i e r t , sondern soeben a u f einem M e e t i n g der liberalen Unterhausmitglieder auf die lange geübte Führerschaft so formell als möglich verzichtet hat. S o wird wenigstens überall versichert und seine W o r t e , „er k ö n n e sich nur dazu verstehen, die besten Arbeiterklassen zum W a h l r e c h t zuzulassen", trennen ihn allerdings von den R e f o r m e r s neuesten D a t u m s und setzen ihn neben M r . Lowe

auf die B a n k der A n t i r e f o r m e r s von 1 8 6 7 . D e r „Daily- T e l e g r a p h "

m a h n t ihn an seine eigenen W o r t e „ L a ß t uns ruhen und d a n k b a r s e i n " und pensioniert ihn als ausgedient. Auch die „rechte H a n d " jedes Führers des Unterhauses, der Whipper-in Brand

hat längst a b g e d a n k t und

die Liberalen haben sich für den Fall, d a ß an ihnen bald wieder die R e i h e ist, im Minister-Fauteuil zu sitzen, einen M i l l i o n ä r zum Whipperin erwählt, den C h e f eines großen B a n k h a u s e s der City, Grenfell

Glyn,

der sein G e s c h ä f t dem neuen A m t e des Z u s a m m e n t r o m m e i n s der Parteim ä n n e r zu opfern bereit ist. Sein A m t beginnt schon jetzt. Die Presse sagt, d a ß es doch nicht so faul im S t a a t e D ä n e m a r k 9 stehen k ö n n e , wenn ein g r o ß e r B a n k i e r einen Posten voll harter Arbeit mit dem Verzicht auf ein fürstliches E i n k o m m e n bezahle, das ihm unter König J a m e s eine B a r o n i e erkauft hätte. J o h n Bright

soll sehr zufrieden mit der neuesten

Wendung der R e f o r m f r a g e sein und man lacht nicht mehr über die Prophezeiung eines Satirikers von 1 8 6 1 , der da meinte, es k ö n n e noch einmal dahin k o m m e n , Bright und Stanley in einem und demselben K a b i nett zu sehen. Unsere Konservativen im H a u s e erhalten Z u w a c h s aus den Reihen der liberalen Mitglieder, deren größere Anzahl der radikalen R e f o r m - I d e e Disraelis keinen Gefallen a b g e w i n n t . Unter den ausgeschiedenen drei Ministern hat n a m e n t l i c h der alte G e n e r a l Peel eine P r o b e fester Gesinnungstreue abgelegt. W ä r e er nämlich nur eine einzige W o c h e länger im Kabinett geblieben, hätte er nur für sieben Tage mit seinen Grundsätzen K o m p r o m i s s e abgeschlossen, so wäre ihm für seine Dienstperiode als Unterstaatssekretär eine jährliche Pension von 2 0 0 0 Pfund Sterling auf Lebenszeit zugefallen. Nur sieben Tage fehlten zur K o m p l e t tierung des Anspruchs. Er verzichtete d a r a u f o h n e Besinnen und vers c h m ä h t e es auch nur eine Stunde Fangeball mit seinen

felsenfesten

Grundsätzen zu spielen. Er w a r f die g r o ß e Pension über B o r d , trat Knall und Fall aus, rasch und fest wie ein S o l d a t , und ging in das Unterhaus,

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„Something is rotten in the state of Denmark", Marcellus in Shakespeares Hamlet, I, 4.

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The Honest

Potboy

Derby (aside): "Don't froth it up this time, Ben. Good measure — the inspectors have their eye on us."

wo er der schweren Brust Luft machte. Dann trat er auf den Korridor hinaus, wo er seinem Antipoden, dem sogenannten „demokratischen Obersten", Colonel Dickson, begegnete, welcher der Hauptführer der Reform-Liga ist, alle Urwähler, wenigstens geistig, an sein Herz drückt, der Stolz aller sozialistischen Tiefenbacher 10 Londons. Peel, den alten Waffengefährten erkennend, trat voll Bewegung auf ihn zu und rief: „Colonel! Nun erreichen Sie ja, was Sie wollen. Nun können Sie ja die ganze Schwerenot durchsetzen!" (Now you can go the whole hog). Die Reform-Liga fährt im „Druck auf das Parlament" fort. Wie bekannt, veranstaltet sie jetzt an jedem „blauen Montag" abendliche Meetings mitten auf dem großen Platze Trafalgar Square, wo das vornehmere Westend „Laß sie gehen! sind Tiefenbacher, Gevatter Schneider und Handschuhmacher!", Erster Jäger in Schillers Wallensteins Lager, 10; vgl. auch die Verwendung des Zitats in Graf Petöfy, 10. Kap. (HFA I, 1, S. 751).

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Gratifying Radical Newsvendor (recognising Public Character, who has stepped in to buy a penny paper). " O w do you find yourself this mornin', Sir? (Refusing the coin.) Oh, don't mention it, Sir! We sell such a quantity of your cart de wizeets, Sir, I couldn't think of charging you anythink, Sir!"

beginnt und die Parlamentsstraße mündet. Die Creme der Führer schickt jedoch nur Stellvertreter, die Mähnenschüttler der Demokratie, dorthin, um bei Fackelschein Politik zu machen. Namentlich sind es zwei Kleons, die sich in die Arbeit teilen: Bradlaugh, der „schon längst aufgehört hat, an einen Gott zu glauben", von den Seinen Ikonokiast (Bilderstürmer) geheißen, und ein milderer Tribun, Potter, ehemals Marqueur, jetzt Redakteur des Leib- und Magen-Journals aller „Arbeiter versus Kapital", aller Strikelustigen, des „Beehive" (Bienenkorb). Am Montag voriger Woche rief Bradlaugh: „Wir fürchten uns nicht. Unsere Zugführer mit den weißen Stäben fürchten sich nicht, das Volk von diesem Platze direkt in das Portal von St. Stephens (Parlaments-Palast) marschieren zu lassen." Doch die „fettigen Kappen", wie Shakespeares Julius Cäsar sagt, „flogen nicht in die Luft". Trafalgar Square ist kein Boulevard und für englische Ohren verlor die Renommage ihre Pointe. Der Bilderstürmer erhielt sofort seinen Rüffel vom Kollegen Potter und zwar in edlerer

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Sprache, als der Stil seines Blattes zu sein pflegt, indem er die Phrase dahin ergänzte: „Und wenn wir dort angelangt wären, würde ich das Volk bitten, seitab mit mir in die Westminster-Abtei zu marschieren, um zu Gott um Abwendung einer nationalen Kalamität zu beten." Unter den verschiedenen politischen Karikaturen des Tages seien zwei erwähnt. Die eine stellt das Innere eines Public-House dar, Derby als Wirt, Disraeli als Bier abzapfenden „Potman", während vor der Trinkbarre John Bull in Stulpstiefeln eben in die Tasche greift, um für sein Bier zu bezahlen. Durch eine Glastür beobachten die scharfzugespitzten Gesichter Gladstones und Russells (letzterer mit einem schändlichen H u t im Nacken) die Szene. Derby zum Potman, durch die Hand zischelnd: „Diesmal mache nicht zu viel Schaum, Ben, denn die Inspektoren haben ihr Auge auf uns." Das andere Bild stellt John Bright dar, welcher sich eben den „Star" in einem Zeitungsladen kauft. Radikaler Verkäufer spricht: „Wie geht es Ihnen diesen schönen Morgen, Sir? Bezahlen? Ο nicht doch! Ich verkaufe so viele Visitenkarten-Porträts von Ihnen, daß ich von Ihnen kein Geld annehmen kann." [Nr. 67, 20. 3. 1867]

Einige Mühlsteine Das hippokratische Gesicht der Reformbill Die „Compound householders". Radikale Brummtriesel Die politische Lage und die Pariser Ausstellung p* London, 26. März Mehrere konservative Journale, am meisten erbittert über die Haltung des Kabinetts, hatten vorausgesagt, Disraeli würde gestern abend von neuem — d. h. zum vierten Male — die Farbenstellung wechseln. Freilich geschah dies nicht, aber es wird geschehen, möglichenfalls schon in nächster Woche. Die Partei kann die wiederholten Demütigungen, welche sich das Kabinett selbst appliziert, schwer ertragen. Es zeigen sich schon Brüche, und zum ersten Male seit langem beginnt in der ToryPartei eine mißliche Kristallisation — die von Fraktionen. Disraeli hat seinem Reformkinde mehrere Mühlsteine umgehängt, und die Times erkennt schon das hippokratische Gesicht und zählt die Tage des Ministeriums. Disraeli hat Klauseln in die Bill gebracht, die auf gar keinem Prinzip mehr beruhen, rein äußerliche Nebendinge und Bequemlichkei-

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London, 26. M ä r z

ten berühren und die zuverlässigeren Wähler ausschließen, die unwerteren zulassen. Zu diesen Klauseln gehört u. a. bekanntlich die Bedingung, daß der Wähler die an seinem Hause haftenden Steuern persönlich

be-

zahle. Hat ζ. Β. Α ein Haus zum jährlichen Mietzinse von 2 0 Pfd. Sterling gemietet und zahlt er die Steuern — ungefähr 3 Pfd. St. — im Laufe des Jahres an den Steuer-Kollektor, so ist er Wähler. Zahlt jedoch B. für ein Haus desselben Umfanges 23 Pfd. Sterl. Miete, indem der Eigentümer, wie tausendfach der Fall, die am Hause haftenden Steuern für den Mieter bezahlt (und um die H ö h e dieses Betrages die Miete desselben steigert), so verliert B. sein Wahlrecht. M a n nennt solche Mieter C o m pound householders, d. h. solche, welche Miete und Steuer in einer Summe bezahlen. In vielen Städten ist das Regel, oft durch Lokalgesetze eingeführt, und in Brighton

ζ. Β. würde die radikale Reformbill über das

Haushalts-Wahlrecht in der 7 2 . 0 0 0 Einwohner zählenden Stadt nur 14 neue Wähler zulassen; denn alle anderen sind einem Lokalgesetz zufolge Compound-Householders und haben sich persönlich

um den neuen Kol-

lekteur nicht zu bekümmern. Nun ist aber gerade diese Klasse der Mieter die am meisten seßhafte, die nicht nur Passagier im Hause und alle J a h r e Dach und Fach wechselt. Sollten diese Klauseln Gesetz werden, so könnte ein mit demokratischem Öle gesalbter 1 1 Häusereigentümer sämtliche Konservative unter seinen „Tenants" ganz nach Belieben zu politischen Nullen machen und sie als Wähler vernichten, indem er eines Tages ihre Steuerzahlung übernimmt und den Betrag auf die Hausmiete schlägt. Anderes Wirrsal wächst daraus, daß Disraeli die alte Reformbill mit der neuen verknotet, obgleich beide nicht in allen Punkten harmonieren, und deshalb nur die Keime zu neuen Konflikten gelegt werden. Nach der alten Bill hatte nur der zehnpfündige Mieter in städtischen Wahlflekken das Wahlrecht, falls er auch nur ein J a h r in einem und demselben Hause wohne. Zahlt einer nach der neuen Bill auch nur einen Schilling weniger und wohnte er auch 23 M o n a t e in demselben Hause, so hat er kein Wahlrecht, ist also, obwohl seßhafter als der erstere, dennoch gegen jenen in Nachteil. Ein konservatives Blatt ruft: „Wollte doch Disraeli nur schlicht und einfach reden und nicht so überaus geschickt in Künsteleien sich verwickeln." Unter den Konservativen im Lande ist der Unwille nicht gering. Sie sehen, wie man ihr Gebäude aus seinen alten Fundamenten gehoben, und gleich einem amerikanischen Ingenieur dasselbe

11

Vgl. Anm. zu Κ London, 2. November 1 8 6 6 .

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auf Hebel, Stollen und Schrauben gestellt hat, ohne eine neue Baustelle finden zu können. Es hieß gestern allgemein, das Kabinett habe sich entschlossen, die meisten jener Klauseln zu streichen; aber man hat die Prozedur verschoben auf eine oder zwei Wochen. D a ß die liberale Partei die zweite Lesung ohne erhebliche Opposition zugelassen, wird von dem „Daily Telegraph" lebhaft getadelt, der wieder den Ruf erhebt: „Erst weg mit diesem Ministerium, besser gar keine Reformbill in diesem Jahr, als eine verpfuschte." Hätte das Kabinett von Hause aus erklärt, der künstlich erhitzten Reform-Bewegung keine Einräumungen machen zu wollen, es hätte seine Stellung nur gestärkt; denn das Land ist seit den letzten Jahren, je größer die Werte seiner materiellen Erfolge geworden, auch konservativer geworden, trotz der radikalen Brummtriesel, die in den Fabrikdistrikten losgelassen werden. Disraeli aber hat die Partei zu einem Eiertanz engagiert und somit ihre Phalanx gelöst. — Die Veröffentlichung der Allianzverträge zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten wird nicht nur in ihrer vollen Tragweite, sondern auch was die Wahl des Zeitpunktes

der Veröffentlichung betrifft, völlig verstanden.

Dies ist, was früher der englischen Presse bei deutschen Angelegenheiten nicht oft glückte, und mit nicht geringem Gefühl von Überlegenheit versichern mehrere Blätter heute der französischen Presse, „daß dieselbe Deutschland und fremde Nationen überhaupt nicht verstände. Sie beweise das von neuem durch die Übertreibung der Frankreich Deutschland drohenden Gefahren." Der „Daily Telegraph"

von

schreibt:

„Unter den neuen Institutionen ist Deutschland viel weniger als ein künftiger Friedensstörer in Europa zu betrachten, als wenn es in fortdauernder Zerteiltheit gewesen wäre. Wäre das Neue aber ein Übel, so ist es eine vollendete Tatsache, und das Werk, das bei Sadowa ausgeführt und bei Nikolsburg ratifiziert wurde, könnte nur durch solche Anstrengungen und solche Opfer beeinträchtigt werden, zu denen Frankreich sehr natürlich und sehr gerechterweise keine Lust hat." In anderen Blättern finden sich Pariser Berichte, die darauf hindeuten, man fühle in Paris heraus, daß die Weltausstellung den leitenden Politikern recht sehr in die Quere gekommen, ja schon, ehe sie nur begonnen, zu einer Last wird. „Man hätte, als man den Plan vor drei Jahren entwarf und den Erdkreis dafür zu interessieren begann, nicht an das J a h r 1866 gedacht." Ein Korrespondent schreibt: „Die Fremden sind in Masse gekommen, jeder aber, der London kennt, sollte wissen, daß im April von England kein Zufluß zu erwarten. Die Londoner Saison macht dann ihr Recht geltend

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L o n d o n , 4. April

bis Ende M a i , und der Derbytag, die Ascot- und Goodwood-Rennen auf der einen Seite des Kanals, eine Ausstellung, ohnehin nichts Neues für die oberen Klassen Englands, auf der anderen, — wo glauben Sie wohl, wird das englische Publikum vorziehen zu bleiben?" [Nr. 76, 30. 3. 1867]

L u x e m b u r g und die englische Presse Allerlei Strike. M a h n u n g zur Vorsicht p * London, 4. April In mehreren Blättern, so ζ. B. im „Daily Telegraph", wird heute fast in gleichem Wortlaut eine kurze Notiz dicht hinter die Leitartikel gesetzt des Inhalts, daß „die neutralen Mächte Holland angelegentlichst empfohlen haben, von den Verhandlungen über eine Zession Luxemburgs an Frankreich zurückzutreten". An dem Tage, wo Graf Bismarck die Interpellation Bennigsens beantwortete, „tanzten", wie die Rapporte melden, „die Kurse der Börsenpapiere hier wie Korkstöpsel auf wogender See". Doch die telegraphische Depesche beruhigte alles, wenn auch nicht in dem Grade, als der Moniteur sich das Ansehen gibt, beruhigt zu sein. In hiesiger Presse bemerkt man heute, in einem offiziellen Blatt (dem Moniteur), daß es die Rede des Grafen Bismarck anders gelesen, als sie gelautet, wenigstens in einem Kardinalpunkte. „Der MoniteurPublizist begehe eine Konfusion, indem er die Festung L u x e m b u r g mit dem L a n d e identifiziere und somit der in Berlin anerkannten unabhängigen Souveränetät Hollands über L u x e m b u r g eine unrichtige Tragweite andichte." In einer Pariser Korrespondenz wird die „ s c h w e i g s a m e " Eröffnung der Weltindustrie-Ausstellung L u x e m b u r g zugeschrieben, was sich immer viel leichter sagen, als beweisen läßt. Eines ist gewiß, daß ungeachtet mehrfacher deutscher Studien, welche englische Publizisten seit vorigem Jahre gemacht haben, ihnen die Geographie der Luxemburger Frage noch sehr unklar ist. Der „Telegraph" versicherte seinen Lesern sogar, daß durch einen eventuellen Besitz L u x e m b u r g s die französische Grenze um mehrere hundert Meilen dem Rheine näher zu liegen käme. — K a u m ist der Eisenbahn-Strike vorläufig beigelegt, so wollen die Schneider striken. D a s Beispiel ihrer Pariser Kollegen hat gewirkt und sie haben jenen eine Gratulationsadresse vor drei Tagen zugehen lassen und erklären selbst ihre Absicht, ihre Brotherren und alle, die erst durch Kleider zu Leuten gemacht werden, jetzt beim Wechsel der Jahreszeit

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und Mode in Verlegenheit zu setzen. Auf das Gerücht hin, daß nach den Schneidern auch die Pariser Schuster dasselbe „legalisierte Erpressungsmittel" in Anwendung bringen wollen, werden auch hier dieselben unruhig. Die „Trade-Unions" hier und drüben arbeiten sich so in die Hände — vielleicht nur die Anfänge der „Tyrannei der europäischen Arbeit" über Kapital und Gesellschaft, auf welche die meisten sozialistischen Theorien hinarbeiten. Es ist das ein Material zu einem neuen Kapitel für Carlyles „Sartor R e s a r t u s " 1 2 . In Edinburg versuchten im Herbst die Schneider ähnliches, aber, da deren Brotherren sich sofort deutsche Gesellen über Hamburg kommen ließen, brach der Strike zusammen. Den armen Deutschen, die nun selbst brotlos gemacht wurden, ging es traurig und öffentliche Wohltätigkeit mußte die Opfer der Spekulation aus dem Elende reißen. Es mag dies deutschen Arbeitern daheim als eine Warnung dienen, falls die oben erwähnten Strikes in London eine Rolle spielen und dann mit Import deutscher Kräfte über den Kanal beseitigt werden sollten. Ohne sehr sorgfältige kontraktliche Garantien würden die Importierten sich nach Ausgleich der hiesigen Zerwürfnisse in mißlichster Lage befinden, ganz abgesehen davon, daß immer der Versuch gemacht wird, einen englischen Kontrakt wie einen Fuchsbau anzulegen, wenn es sich um Ausländer handelt. [Nr. 84, 9. 4. 1867]

Spanische Angelegenheit Strikes und Sehnsucht nach einer Regierung p* London, 2 0 . April Man merkt es dem Tone der heutigen Leitartikel an, daß ihren Schreibern in der spanischen Angelegenheit ein Stein vom Herzen gefallen. Das Prisengericht zu Cadix hat sich den englischen Anschauungen akkommodiert und so wird eine große Ausgabe für Rüstungen erspart, die man bereits in Downing-Street im voraus auf das vermutliche Verlustkonto geschrieben. Es ist viel über jene Schiffsangelegenheit geschrieben, die Presse hat ihr ganzes Entrüstungslexikon über die spanische Regierung ausgeschüttet, ohne indes viel mehr als einen haltbaren Einwand klar definieren zu können, nämlich den, daß die spanischen Gerichtsdolmetscher den breiten schottischen Dialekt mehrerer verurteilter Seeleute 12

Sartor Resartus. The Life and. Opinion of Herr Teufelsdröckh, London 1834.

London, 20. April

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nicht verstanden hätten. Das Comite englischer Gläubiger in spanischer Staatsschuld befand sich in Verzweiflung während der Krisis. Es arbeitet unter der Führung eines gewissen Richardson, der für den größten englischen Staatsgläubiger Spaniens gilt, unermüdlich daran, den Kurs der Papiere zu bessern. Die englischen Gläubiger Mexikos waren meist glücklicher. Ihnen ist es gelungen, sich im Chaos bezahlt zu machen, indem sie auf die Franzosen die Bürde hinüberpackten, als mexikanische Schulden an der Pariser Börse ein gesuchter Artikel waren. Mit dem Borgen an Spanier, auch republikanischer Färbung, haben englische Kapitalisten nie Glück gehabt. Chile allein wird auf dem Posten befunden. Die peruanische Eisenbahn-Assoziation in London hat soeben Bankerott gemacht und die englischen Gläubiger von Venezuela erhalten in diesem Jahre wieder keine Zinsen, weil die ehrenwerte republikanische Regierung aber- und abermals die von ihr zur Zinszahlung verpfändeten Steuerkassen von Caracas selbst in Beschlag genommen hat, was schon seit Jahr und Tag regelmäßige Prozedur geworden. — Mit der wärmeren Jahreszeit kommen die Strikes. Man hat sich an die alljährliche Wiederholung gewöhnt. Im Winter wird das Brot des Brotherrn stillschweigend angenommen; im Frühjahre und Sommer sucht der Empfänger dem ersteren alle möglichen Verlegenheiten zu bereiten. Vieles trägt dazu bei, daß sehr viele Leute vom Strike „leben". Erstlich gibt es eine große Anzahl Faulenzer, die lieber auf halber Ration, die ihnen der „Verein" reicht, vom Nichtstun leben, anstatt mit voller Arbeit und Ration auf soundso viele Wochen Strike-Ferien zu verzichten. Dann aber hat sich eine Art Strike-Bureaukratie organisiert, je mehr der Widerstand der Arbeit gegen das Kapital in ein System gebracht worden. Da gibt es zahllose Sekretäre und Schreiber und sonstige Handlanger der Komitees, die hungern würden, wenn die Arbeiter nicht ihre regulären Strikes machten, und sobald irgendein Zwist im Werden, so sind jene Employes die ersten, den Brand zu schüren in Gemeinsamkeit mit Paukrednern, die ihre Namen gern im Blättchen lesen. Die Arbeitervereine haben soeben folgenden Grundsatz aufgestellt: „Wir kümmern uns um die Brotherren gar nicht in dieser Angelegenheit. Wir blicken auf sie als Männer, welche mit ihrem Kapital auftreten und daraus den größtmöglichen Vorteil ziehen wollen, und wir wollen den größtmöglichen Vorteil aus unserer Arbeit ziehen." Es ist dies der Bodensatz der ganzen Gährung. Alles Dienstund Pflichtverhältnis ist auf den Kontrakt reduziert, einen ungeschriebenen dazu, dessen Kräftigkeit nur im „Recht des Stärkeren" sich betätigt. Der Arbeiter macht nur dann meistens einen Strike, wenn er wahr-

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nimmt, daß der Arbeitgeber größere Kontrakte und Lieferungen auszuführen hat, und also den Druck, der auf ihn ausgeübt wird, am schwersten empfindet. Solchen Moment hat auch der Eisenbahn-Strike gewählt. Der Sommerverkehr ist um vieles bedeutender als der Winterverkehr, und eine Bahnlinie, die nordöstliche, wird seit einer Woche von 8000 Arbeitern weniger bedient, als vorher. Achttausend Mann legten ohne Kündigung ihre Arbeit nieder, und Unfälle sind an der Tagesordnung, da der schnell engagierte Ersatzmann „das neue Pferd" nicht kennt. Ein gedienter Maschinist versichert Ihnen: „Ich kenne meine Lokomotive, wie der Kavallerist sein Pferd." Er spricht von ihr mit dem persönlichen Fürwort „she", wie der englische Matrose sein Schiff als ein belebtes Wesen in der Rede behandelt. Nun k o m m t dazu, daß der „neue M a n n " den noch im Dienst Gebliebenen verhaßt ist und also — man denke! — oft mitten auf der Fahrt Schaffner und Maschinist sich gegenseitig allen möglichen Tort antun. Und unter solchen angenehmen Verhältnissen riskiert das Publikum Leben und Gut auf jener großen Bahn seit acht Tagen. Mehr! Die Vereine der Bahnarbeiter haben dem Handelsminister durch Deputation erklärt, daß, wenn die Forderungen der Arbeiter nicht Genehmigung fänden, alle Maschinisten auf allen Bahnen des Landes an einem und demselben Tage die Hände in den Schoß legen würden. Der Chef des „Board of Trade" hat bedauernd die Achseln gezuckt und erklärt, seine Behörde sei machtlos. Es wäre fast zu wünschen, daß die Krise nicht zeitweise beschwichtigt wird, sondern zum klaren Bruche kommt. Dann würde das liebe Publikum zum „Ungetüm" und unser Schlendrians-Parlament die Regierung in einem energischen Schritt unterstützen müssen, in der bis jetzt erst im Plan befindlichen Errichtung eines Eisenbahn-Ministeriums. Seitdem auf allen Gassen die neue Theorie gelehrt wird, das Kapital beschäftige nicht die Arbeit, sondern die Arbeit das Kapital, hat sich das Publikum schon in mehreren Dingen nach einer „Regierung" gesehnt. [Nr. 9 6 , 2 5 . 4 . 1867J

Luxemburg und Tory-Presse Zum Schneider-Strike ρ* London, 25. April Liest man die Auslassungen der englischen Presse über die Luxemburger Angelegenheit, so werden allerhand Erinnerungen wach. Zur Zeit des

L o n d o n , 2 5 . April

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letzten dänisch-deutschen Krieges war es vornehmlich die toryistische Presse, welche jede Aktion Preußens in das gehässigste Licht stellte und in verschrobenen Darstellungen noch mehr leistete, als die sonst nichts weniger skrupulöse Times oder „Jupiter minor", der „Daily Telegraph". Obenan in jener Verfälschung von Tatsachen und Nachrichten stand bekanntlich der „Standard". Die Ereignisse von 1866 fanden auf derselben Seite, auch in solchen Momenten, wo sich ihr die bessere Überzeugung aufzwang, nur kaltes Referat, oder gar eine Bereitschaft, jeden kleinsten Schatten in eine dunkle Wolke zu vergrößern. Dieselbe Presse, die, obwohl toryistisch, doch für unseren festländischen Konservatismus nur stellenweise ein Verständnis hat, macht jetzt Front gegen Preußen in der Luxemburger Frage und ergeht sich, wie heute der „Standard" wiederum, in Lobhudelei der gemäßigten Haltung der französischen Journale. Liest man im Bureau des „Standard" die Artikel Girardins etwa hebräisch, von links nach rechts, oder läßt man sich durch die geflissentliche Geschliffenheit des Hetzers „durch die Blume", „la France", (gern oder unabsichtlich) irreführen? Auch Blätter anderer Farbe machen Abklatsche von den französischen Nörgeleien; doch die toryistische Presse rächt Dänemark augenscheinlich in der Luxemburger Frage. Der Widerhaken ist im Herzen geblieben. Nach ihr ist Preußen der Friedensstörer, weil es sich nicht dem einseitigen Begehren Frankreichs in dieser vom Zaun gebrochenen Querele fügt. „Graf Bismarck drängt mit Gewalt auf einen Krieg (so ruft der ,Standard'). Wir wollen natürlich nicht sagen, daß die französische Regierung nicht schon seit letztem Sommer einen Krieg in Absicht genommen; aber war dem so, so hat man das Geheimnis wundervoll bewahrt und die Vorbereitungen vortrefflich maskiert. Aber das sagen wir, daß die preußische Regierung ihr Äußerstes getan hat, Frankreich zum Kriege zu reizen und alle Möglichkeit einer gütlichen Ausgleichung zu verhindern." — Hinter diesem Manöver steckt vielleicht nicht mehr, als die private Meinung des „Standard". „Daily Telegraph" gibt noch nicht jede Hoffnung auf, daß in friedlichem Wege eine Verständigung möglich wäre; der Friedensgesellschaftler, der „Star", hält jedoch den Krieg für unvermeidlich, hofft indessen, „daß England sich nicht ernsthaft in die Sache verwickeln werde". Ohne weiteren Kommentar zitiere ich aus einer irländischen Zeitung einige Zeilen, in denen, wenn auch als Hypothese betrachtet, doch mehr Sinn und Verstand enthalten ist, als in all dem obigen Geschreibsel zusammengenommen. Die Fassung ist etwas wunderlich, aber deutlich: „Man sagt (so meint das irische Blatt), der alte Moltke sei dafür, sofort draufzugehen,

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um all den Pariser Finten ein Ende zu machen und die Friedensstörer Urfehde schwören zu machen, ehe sie sich nur besinnen können, wie ihnen geschieht. Wenn der alte Moltke wirklich das für das Beste hält, so besorgen wir, daß der alte Moltke recht hat." — Das neueste angebliche „Projekt Preußens, um allem die Krone aufzusetzen", ist übrigens nach Pariser Korrespondenzen, daß Preußen Holland annektiert, Frankreich Belgien, und daß sich beide Mächte in die holländischen Kolonien teilen!! Unser Spießbürger glaubt das alles und ihm steigen im public house beim Kannegießern 13 die Haare zu Berge über den „preußischen Ehrgeiz". — Wie verlautet haben die hier im Strike befindlichen Londoner Schneider Zirkulare an die ausländischen Gewerke in Frankreich, Belgien und Deutschland erlassen, worin sie ihren Kollegen vorstellen, sich ja nicht verleiten zu lassen, ihren englischen Brüdern hier während der Arbeitseinstellung die Plätze wegzunehmen. Übrigens haben sich mehrere englische Meister mit deutschen Arbeitern aus dem Ostende versehen, was möglichenfalls zu Reibungen führen kann. Der Hauptzweck der Londoner Schneider ist, die Brotherren zur Annahme solcher Verrechnung für Stückarbeit zu nötigen, daß den Arbeitern ein Stundenlohn von 7 Pence (ungefähr 6 Silbergroschen) erwachse. Charakteristisch ist, daß der bisherige Prozentsatz ein solcher war, den die Arbeiter selbst in einem früheren Strike den Brotherren diktiert hatten. Es kommen Dinge zutage, woraus hervorgeht, daß schon seit langem die Gewerkvereine bis zur äußersten Beschränkung geschäftlicher Freiheit die Meister und die nicht zum Verein gehörigen Arbeiter terrorisiert haben. RegierungsKommissare unterrichten sich über all diese Vorkommnisse und es kann dahin kommen, daß den Anhängern des Arbeiter-Terrorismus einmal von demselben Parlamente der Übermut gedämpft wird, das ihnen mißbrauchte Konzessionen auf dem Boden des Gesetzes gemacht hatte. [Nr. 99, 28. 4. 1867]

Die Konferenzen Der Advertiser als Teutschester der Teutschen Die Reformbill p* London, 1. Mai Seitdem die Nachricht über eine neue Londoner Konferenz sich bestätigt, beschäftigt sich die Presse vorzugsweise mit Rückblicken auf frühere 13

Vgl. Anm. zu Κ London, 12. Juni 1866.

London, 1. Mai

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Konferenzen und mit dem, was diese nicht zustande gebracht. Einige Blätter kommen in ihrem Raisonnement nicht über das „Omen" hinweg, was schon in dem bloßen Namen liege; andere, viel sanguinischer, sehen schon nichts als klaren Himmel am Horizonte. Nur ein Journal drückt sich in einer Weise aus, die erwähnt zu werden verdient. Dies ist der politisch-radikale „Morning Advertiser". Dieser ist fast noch preußischer, als wir Preußen, in seinem Tone, noch deutscher, als ein Dutzend Bennigsen. Er erklärt sich beinahe gegen jede Konzession an Frankreich und erklärt jedes Nachgeben in betreff Luxemburgs, jede Räumung der Festung, unter was für Garantien auch, für einen Umsturz alles dessen, was Sadowa geleistet, für einen Verzicht auf das Prestige, das Norddeutschland in den Conseils Europas gewonnen usw. Das könnte unter Umständen zu Ohren klingen; man muß sich aber doch die schöne Rede etwas näher ansehen. Schon früher wies ich darauf hin, daß der „Advertiser" zu deutschen Dingen sich den Schlüssel von einer bestimmten Kategorie der Londoner deutschen Demokratie borgt. Es ist notorisch, daß einer der Chefs dieser Fraktion der hauptsächlichste Mitarbeiter für die deutschen Leitartikel des Blattes ist. Somit ist der Schluß wohl kein leichtfertiger, daß in der langen Papierkolumne über Luxemburg sich so etwas, wie ein Pferdefuß versteckt. Gehören in Frankreich die Malkontenten der „Partei des Entschlusses" zu denen, welche am eifrigsten nach Krieg schreien, so könnte sehr leicht dasselbe Manöver auch unseren deutschen Roten in den Kram passen, von denen noch immer gilt, daß sie „nichts gelernt und nichts vergessen haben" 1 4 . Der deutsche Patriotismus mit dem Motto „keine Konzession — keinen Schritt nachgeben" in Sachen der Luxemburger Frage ist in jenen Artikeln des Blattes so dick aufgetragen, daß man die Absicht kaum mißdeuten kann. — Die Debatten über die Reformbill in den verschiedenen Blättern dauern fort. Fast aus jedem Wahlorte kommen Berechnungen, wie viel oder wie wenig der eine gewinnen, der andere verlieren würde. Bedauerlich bleibt es, daß von dem Führer der Konservativen des Unterhauses eine Bill ausgegangen, welche das Prinzip des Hausstands-Wahlrechts aufgestellt und die üblen Folgen durch Klauseln zu paralysieren sucht, die auf keinem Prinzip mehr beruhen, sondern Jobberei Tür und Tor öffnen, zugleich ganz untergeordneten Leuten, wie Steuer-Einsammlern und deren keineswegs feuerfesten Agenten, ein Intrigenspiel in die Hand liefern, das sehr bald zu unablässigen Querelen Anlaß geben wird. In jedem Wahlorte, wo das 14

T a y l l e r a n d zugeschriebene Wendung: „Iis n'ont rien appris ni rien o u b l i e . "

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liberale Element vorwaltet, wird die Zahl der wahlberechtigten Konservativen von der liberalen Munizipalität und deren Finanzminister — dem Steuer-Kollekteur — durch solche Dinge, wie Buchführung, Register-Aufnahme, kleine Rechen-Exempel, Zusammenwerfen von Miete und Steuer usw., auf das möglichste Minimum reduziert werden können, und allerdings auch umgekehrt, je nachdem diese oder die andere Partei in einem Orte prädominiert und den Säckel führt. [Nr. 104, 4. 5. 1867]

Das Montagsmeeting im Hydepark p::' London, 4. Mai Hoffentlich ist kein neuer Hydepark-Tumult am Montage zu befürchten, wie gelegen ein solcher einer Clique in der Reform-Liga auch kommen würde, für welche der neue Kleon Bradlaugh die grobe Handarbeit jederzeit zu übernehmen bereit ist. Die eigentlichen Chefs der Liga sind seit drei Tagen sehr amtseifrig, den Zweig-Clubs auf das dringlichste einzuschärfen, nicht zuerst „zuzuschlagen", wenn es zu einem Handgemenge kommen sollte. D a auf Seiten der Polizei ähnliche Weisungen ergangen sind, so kann möglichenfalls die Affäre ruhig ablaufen. Es heißt, die Behörde werde die Parktore nicht schließen, sondern wie gewöhnlich bis zu den üblichen Abendstunden dem Publikum offenhalten, ein Begriff, der also auch die zu politischem Vergnügen dort lustwandelnden Reformers umfassen kann. Man scheint auf beiden Seiten für dieses Mal die Sache friedlich hingehen lassen zu wollen, bis die Regierung festeren Boden hat, d. h. durch eine neue Parlamentsakte ein gewisses Herkommen in einer solchen Weise präzisiert haben wird, daß in Zukunft dergleichen nicht wieder vorfallen könne, ohne die Kontravenienten mit Sicherheit vor dem Gesetze als Übertreter belangen zu können. Es fehlt an einem genau formulierten Paragraphen. Man wirft, wohl nicht ohne einigen Grund, der Regierung Saumseligkeit vor. Anstatt jetzt eine solche Park-Bill einzubringen, hätte dasselbe schon unzweifelhaft vor Monaten geschehen können und das Verbot wäre dann Gesetz zu dieser Stunde. Dann wären viele von der Liga, falls sie nicht dem rauflustigen Teil angehören, bewogen worden, sich an dem neuen Versuch, ein „Recht" geltend zu machen, in keiner Weise zu beteiligen; denn offen und rücksichtslos gegen ein bestimmtes Gesetz anzulaufen, liegt nicht im englischen Charakter, wohl aber schwache Stellen zu benutzen oder sich

London, 4. Mai

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T h e R e f o r m Meeting in Hyde Park

durch feine Rechtskünstler die gelassenen Schlupflöcher zeigen zu lassen. Beales

ist Jurist und Präsident der Liga. Es ist übrigens gestern der Regie-

rung eine mit zahlreichen Unterschriften versehene Petition eingereicht, welche gegen die Benutzung der Parks zu politischen Clubs Einspruch erhebt. Unterzeichnung erfolgte von allen Klassen, auch von Arbeitern sogar, vornehmlich indessen von den Residenten in der Umgegend, die bei solchen Tumulten am meisten zu leiden haben. Der Häuser- und Geschäftswert würde leiden, wenn jene Stadtgegend zum Stelldichein boxfertiger Clubbisten auserlesen bleiben sollte. Vorgestern, als die Sache noch bedrohlicher aussah, ging das Gerücht, es werde eine besondere Proklamation der Königin erscheinen, welche friedlichen Leuten den Besuch des Parkes an jenem Abende abraten würde. Auch die „Eule" teilte

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dasselbe mit. Doch seitdem hat die Lage der Dinge mildere Farben angenommen, und tut das Unterhaus seine Schuldigkeit, so dürfte das nächste Montagsmeeting das letzte solcher Art im Hydepark werden. Die Reformer wollen ein Amendement zu der Parkbill einbringen, wonach in Zukunft ein bestimmter Teil des Parks für politische Meetings abgezweigt werden solle. Solcher Vorschlag hat indessen wenig Aussicht auf Erfolg; denn der Janhagel würde auch die eingezäunten Reformer als Kern einer Kristallisation sehr schmutziger Färbung benutzen, und die besser gekleideten Mitglieder der Liga wissen sehr wohl, weshalb sie ihre goldenen Uhren zu Hause lassen, wenn sie sich zu einem solchen Meeting begeben. Ihr eigener Präsident ist noch jedes Mal ausgeplündert worden. [Nr. 106, 7. 5. 1867]

Friedenskongreß-Idee Reformbill für Schottland p* London, 15. Mai Der „Globe" stand allein da mit seiner Mitteilung, daß I. M . die Königin bei den Ministern den Gedanken eines Friedens-Kongresses angeregt hätte, der sich aus der Luxemburger Konferenz entwickeln und zu einer Verständigung über allgemeine europäische Entwaffnung führen möchte. Fast von allen Blättern wurde jenem Gerüchte sofort widersprochen, das vermutlich seinen Ursprung in dem hergebrachten Gedanken hat, daß eine Konferenz in London immer dazu bestimmt sei, sich hinterher noch mit ganz anderen Dingen zu befassen, als dem ursprünglichen Programm. Der „Morning Advertiser", der bitterste Gegner des Napoleonismus auf Grund demokratischer Theorien, wärmte die Idee auf, daß von der Seine her alle Anstrengungen gemacht würden, um die früher schon einmal explodierte Friedens-Robinsonade eines Kongresses jetzt in Szene zu setzen. Lord Russell lehnte dergleichen damals ziemlich barsch ab und Lord Stanley würde dasselbe getan haben, nur in höflichster Form; nicht aus Abneigung gegen die „schöne Idee", sondern aus jenem englischen Mißtrauen gegen solche Ideen, welche in zu dunklen Umrissen auftreten und deren Tragweite von Zufällen beeinflußt werden kann. Lord Stanley ist mehr als je populär geworden, mag auch die Presse, wie immer, das „ausschließlich englische Verdienst" bei der Friedensstiftung in zu grellem Ocker auftragen. — Was die Refom-Bill anbelangt, so hat

London, 22. Mai

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Disraeli durch seine Generosität gegen die Schotten die alte Eifersucht zwischen den Landen diesseit und jenseit des Tweed wieder ins Leben gerufen. Die Schotten erhalten in ihrer Reformbill mehr Zugeständnisse infolge gewisser Landeseinrichtungen, die in England unbekannt sind. Dort zahlt der Mieter eines Hauses von 4 Pfund Sterling Jahresmiete gar keine Steuer; aber der Eigentümer darf sie im Namen des Mieters erlegen. Somit wird letzterer von der englischen Klausel, welche persönliche Steuerzahlung als Vorbedingung zum Wahlrecht hinstellt, gar nicht inkommodiert, während in England selbst derjenige, welcher nach dem bisherigen Wahlgesetze als Hausmieter über 10 Lstr. ein Wahlrecht ausgeübt hat, dies durch die Disraelische Bill für die Z u k u n f t verliert, falls er nicht persönlich Steuerzahler ist oder wird. Somit erhält Schottland fast ein absolutes Hausstands-Wahlrecht, England ein beschränktes. In Leitartikeln wird schon scharf gearbeitet. Ohne in das Für und Wider einzugehen, vom konservativen Standpunkte ist zu bedauern, daß die Sache sich nicht umgekehrt stellt; denn — ungeachtet der Fortschritte in den Fabrikdistrikten — ist England im großen und ganzen viel konservativer, als das fast durchweg radikale Schottland. Disraeli hat kein Glück mit seiner Hausstands-Idee. Das schottische Volk ist radikal gemacht, namentlich in den Hochlanden, wo man gegen die alten aristokratischen Instinkte und Herkommen von England aus immer einen bitteren Krieg geführt hat. Durch parlamentarische Dragonaden hat man den Clansman zum Radikalen umgeschaffen. [Nr. 116, 19. 5. 1867]

Die Compound-Household-Bill Bradlaugh „der Bilderstürmer" Atheistenprediger in Whitechapel p::' London, 22. Mai Die Regierung hat einen Z a u m nach dem andern fallen lassen, den sie in Form von Klauseln und Bedingungen dem politischen Pegasus der Reform angelegt. Auch der letzte und ihr wichtigster — die Bedingung der persönlichen Steuerzahlung — wird durch einen parlamentarischen Kniff der Opposition beseitigt werden. Dieser besteht darin, daß ein Parlamentsmann, zum Schein, ganz von der Reform-Bill absehend, ein neues Gesetz über den Modus von Steuerzahlungen vorschlagen will, wonach zu verfügen wäre, daß gewisse Steuern immer von dem Mieter

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eines Hauses selbst und nicht vom Eigener bezahlt werden müßten. (Es ist dies die sogenannte Compound-Householder-Bill, worüber wir mehrfach berichtet. D. Red.) So würde ein weiter ausgesponnener Zwist mit der noch an jener Klausel festhaltenden Regierung vermieden und das, was den Fortschrittlern nach der radikalen Bill noch mangelt, durch ein solches Steuerverwaltungsgesetz ersetzt und auf einem Umwege erreicht, was die Regierung, welche sonst der Opposition in so vielem den Willen getan, bis jetzt der guten Manier wegen nachzugeben sich weigerte. Daß Männer wie Bright die Bill als einen Fortschritt in der richtigen Linie erklären, ist schon Beweises genug für den Geist der Bill. Wie das immer bei radikal-politischen Bewegungen der Fall zu sein pflegt, kommen allerlei Elemente an die Oberfläche, die im trübsten Gewässer zu fischen versuchen. Der „Bilderstürmer", welchen Namen jetzt der Straßendemokrat, Reformer Bradlaugb, für sich adoptiert, will Bresche in die Sonntagssitte machen. So hält er jetzt an Sonntagen politische Meetings in Lokalen, zu welchen der Eingang durch Privathäuser geht, und glorifiziert den letzten Sieg des Volkes im Hydepark erst als den „Anfang des Anfanges". Große Aufregung unter dem Volke erregt übrigens die Sonntagsbill von Hughes. Dieser, ein Mitglied des Parlaments, ist Demokrat und Reformer, hat aber seine Hände rein gehalten. Schon früher erwähnte ich, daß er öffentlich erklärte, nur derjenige dürfe ein Wähler werden, der eine gewisse Schulbildung nachweisen könne. Jetzt beantragt er ein strengeres Sonntagsgesetz, um Handel und Verkehr, die allmählich in gewissen Stadtteilen den Sonntag in störender Weise gebrochen, auf ein Minimum zu beschränken; ebenso das Offenhalten der Trinkhäuser. Darüber schreit der große Haufen Gewalt, um so mehr, da der Antrag von einem „Volksfreunde" kommt, und Plakate und Zeitungs-Artikel fordern schon auf, äußersten Falles wieder einmal ein Hydepark-Meeting zu veranstalten, aber mit „größeren Konsequenzen". Genug, das Wühlen geht aller Enden vor sich. Begegnet man doch an Sonntagen in der großen Whitechapel-Road, welche das Ostende in großer Breite auf Meilenlänge durchschneidet, einer ganz neuen Art „Sonntagsprediger", oder besser Atheistenprediger. Sie wandern auf und ab, die Bibel unter dem Arm, vom Janhagel gefolgt, und wo sie irgendeine Gruppe sich um einen Straßenprediger zum Choralsingen versammeln sehen, fassen sie Posto und erklären der Menge, aus der Bibel beweisen zu wollen, daß alles, was die Geistlichen lehren, Lügen seien. Leider sind es vornehmlich Deutsche, die der englischen Sprache hinreichend mächtig, um sich Bravos bei der Menge zu sichern. Sie greifen in ihren Vorträgen (aus gesetzlichen Gründen) nie die Religion als solche an, son-

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London, 29. Mai

d e m nur die „Geistlichen". Welcher Gesellschaftsstufe übrigens diese Leute angehören, beweist ein Satz, mit welchem der lauteste und „beliebteste" dieser Lästerer jedesmal, was er seine Predigt für das Volk heißt, zu schließen pflegt: „Und nun, meine Freunde, da ich mich nicht in der Lage befinde, auf das himmlische Mannah warten zu können, will ich mich vorläufig mit Bier begnügen." Und der H u t geht herum! Das sind alles Erscheinungen, die beweisen, welche Geister diese Reform-Bewegung losgelassen. Uns Festländer setzt das nicht in Erstaunen auf Grund der 48er Erfahrungen — es sind auf jedem Boden dieselben Konsequenzen aus denselben Prämissen. [Nr. 122, 26. 5. 1867]

Bright und Disraeli. Der Sultan erwartet Sieger und Opfer des Turf p* London, 29. Mai Eine seltene Szene war es, als gestern im Unterhause John Bright ein Druckstück aus der Tasche zog und aus dessen Wortlaut bewies, daß die Konservativen im wesentlichen seine eigene Reformbill von 1858, wie er sie damals vorgeschlagen, ausgeführt hätten. Damals wäre er mit einem Wahlrecht zufrieden gewesen, das bei dem Steuerwert eines Hauses auf vier Pfund Sterling stehenblieb, und er habe das für einen gedeihlichen Fortschritt gehalten; jetzt werde er aber freilich nicht weniger liberal als die Tories sein und nicht zu der damaligen Beschränkung zurückkehren. „Der Schatzkanzler hat das äußerste Hausstandswahlrecht für boroughs eingebracht, das ich jemals auch nur privatim zu empfehlen gewagt. Es wäre undankbar von mir, solcher Bill meine Unterstützung zu entziehen. In der niedrigsten Klasse dieser Householders werden viele gefunden werden, deren Zulassung dem Charakter des Wahlrechts nicht gut tun wird. Ich will nicht über Wandlungen spötteln, aber diese Bill da ist ein Wunder der Zeit. ... Es wäre wohl besser gewesen, zwei Schritte zu tun, anstatt des einen zum Hausstandswahlrecht in äußerster Konsequenz, nämlich einen Schritt jetzt und einen anderen ein Vierteljahrhundert später. Aber wie es ist, danke ich doch von Herzensgrunde den Konservativen für das, was erreicht worden." — Selten hat Bright mit so attischer Höflichkeit gesprochen, und selten mußte Lob von dieser Seite so scharf in ein toryistisches Gewissen schneiden. Es war ein Moment seltsamer Erregung im Hause, und der Versuch Disraelis, das mit einer gewissen ironischen Überschwenglichkeit gespendete Lob von der brennenden

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Wange abzuweisen, dieser Versuch mißlang. „Tatsachen sind üble Kunden" sagt ein englisches Sprüchwort. Es ist keine Frage, daß unter solchen Umständen diesem toryistischen Kabinett das Fauteuil auf Jahre gesichert bleibt mit Unterstützung der Manchester-Männer. Ich erklärte zu Anfang meiner Korrespondenz über diesen Gegenstand schon das Logis-Wahlrecht der „möblierten und unmöblierten Herren" nur für eine Frage der Zeit; aber Disraeli war auch in diesem Punkte der Opposition mit Rapidität gefällig. So ist auch die Ausdehnung des äußersten Hausstandswahlrechts auf das „Land" wohl nur eine Frage der Zeit; denn zwischen dem kleinen Pauper-Householder der bevorzugten boroughs und dem etwas gröberen, aber honetteren Ackerknecht hinterm Pfluge ist kein Unterschied, der solche toryistischen Gewissen berunruhigen könnte. Im Gegenteil, der kleine ländliche Householder ist seiner tellurischen Natur nach um einige Prozent verläßlicher, als der bodenlose Kleinwähler in Städten. Es mag zweifelhaft sein, ob das jetzige Unterhaus seine sieben Jahre aussitzen wird; daß das Kabinett Disraeli das tut, ist ziemlich sicher, ganz unvorhergesehene Vorfälle abgerechnet. Man hat auf seiner Seite so viel vom toryistischen Prinzip geopfert, daß man unwichtigeren Bagatellen auch aus der Gefälligkeit die höchste Tugend zu machen fortfahren wird, oder „auflöst" und mit Bright bei den Neuwahlen wieder einen neuen Pachtkontrakt für den Ministersitz abschließt. Eine Neuerung Disraelis bewährt sich jedoch: es ist die, das Unterhaus bei fleißiger Arbeit zu erhalten in ungewohnten Morgenstunden. Früher gab es nur einen Tag in der Woche, wo des Vormittags gearbeitet wurde; dies war der Mittwoch in den Sommermonaten. Aber jetzt wird damit fast alle Tage so verfahren. Anfangs kamen die Gesetzgeber sparsam; aber zu aller Erstaunen findet die goldene Morgenstunde jetzt mitunter Hunderte beisammen. Es ist Jahre her, daß das Haus so voll gewesen, wie in dieser Ära. Sonst, wenn es sich um das Wohl von 100 Millionen indischer Untertanen handelte, waren selten mehr als 25 auf ihren Sitzen anwesend, jetzt sind 4 0 0 und mehr keine Seltenheit. Freilich ist der Magnet die so tiefe Interessen durchpflügende Reformbill; aber anderen Fragen kommt das rare Plenum dennoch mit zugute. Und es ist Aussicht, daß auch nach Erledigung der Bill die neue Gewohnheit noch andauern wird, aus Mißtrauen gegen Disraeli, von dem die sonst Säumigen und Lässigen jederzeit irgendeine überrumpelnde Überraschung gewärtigen, die bei dünnen Häusern immer am besten zu gelingen pflegt. — Der Sultan kommt nach London über Paris. So versichert man in der Presse. Da außer Verwandten des Königlichen Hauses frem-

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London, 15. Juni

den Fürsten keine Wohnung in den Schlössern eingeräumt wird, und dieselben als Gäste sich in Hotels zu logieren haben, so wird auch der Padischah seine Wahl treffen müssen; denn, wie versichert wird, ist das Hotel des türkischen Gesandten hier nur ein Privatwohnhaus mäßigen Umfanges und nicht auf eine türkische Neuerung, wie die einer Auslandsreise eines Sultans, vorbereitet. (Er wird in

Buckingham-Palace

wohnen.) — Während wir hier unsere Arbeiter auf ökonomischem Wege nach dem alle ausbeutelnden Paris zu schicken versuchen, schickt uns Paris von seinem Überfluß etwas — Schauspieler. Wir hatten bisher nur etwa alle sieben J a h r e französische Komödie. In diesem Sommer wird im St. J a m e s - T h e a t e r eine Reihe von französischen Vorstellungen gegeben werden, da in den vergangenen sieben Jahren die Zahl der Französisch lernenden Briten sich bedeutend vermehrt hat und ein solcher Eifer, wie der jenes Clerk, der mit A h n s 1 5 französisch-englischer G r a m m a t i k bewaffnet, hier 1 8 6 0 in die Pariser Komödie ging, mit der Zeit seine Früchte tragen mußte. — Gestern war der Zahltag für die Wetten der Derby-Woche. Der junge Marquis von Hastings bezahlte nahezu eine Million Taler; der zuletzt gegen sein eigenes Pferd wettende Eigner des „ H e r m i t " , Mr. Chaplin, gewann ebensoviel aus älteren Rennen. Der schon von Gläubigern nur noch auf seinen Gütern geduldete junge Erbe Herzog von Hamilton hatte kurz vor dem Siege des „ H e r m i t " eine gegen dieses Pferd unternommene Wette von 8 0 0 . 0 0 0 Tlr. glücklicherweise redressiert. Der J o c k e y Daley, bis dahin ein Stallbursche, der nie gewonnen, hat mit seinen Siegen am Derbytage und dem folgenden etwa 8 0 . 0 0 0 Tlr. an Douceurs geerntet. Solche Extravaganzen haben sich hier an das edle Wettrennen geheftet. [Nr. 129, 5 . 6 . 1867]

Pariser Ausstellung. Besuch des Sultans Flotten-Revue. Z u r Reformbill P::' London, 15. Juni In unsere Alltagsarbeit klingt die rauschende Musik von der Seine seltsam herüber; denn von früh bis spät lesen wir selten etwas anderes in 15

Analog gemeint; Franz Ahn w a r Hg. einer in zahlreichen Auflagen erschienenen Fratizösische[nj Grammatik für Gymnasien und höhere Bürgerschulen, 1. Aufl. Mainz 1 8 3 2 , und einer Englische[nJ Grammatik für Gymnasien und Realschulen, 1. Aufl. Mainz 1 8 6 3 .

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den Zeitungen als blendende Festberichte ohne Ende. Aber wir hören nichts davon sprechen. Ebensowenig wie der Engländer Theater-Enthusiast ist, ebensowenig enthusiasmiert er sich für Paris. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, es seien fast immer nur dieselben habitues gewesen, die zwischen Paris und London gingen und kamen, und die Franzosen tun uns Unrecht, wenn sie von der Gleichgültigkeit des größeren englischen Publikums behaupten, sie sei erkünstelt aus Ärger über die geringen Erfolge, welche englische Industrie-Erzeugnisse bei diesjähriger Weltausstellung gefunden — eine Suprematie in nur 12 Klassen aus der Zahl von neunzig. Man hat das tief genug empfunden und die Ursache des Rückganges in der höheren Geschicklichkeit je nach Parteifarbe in verschiedenen Ursachen gesucht. Aber Ärger ist nicht Apathie, und diese ist die vorherrschende unter einem Publikum, das mit einer gewissen Ironie von Feiertagsleuten (holiday-people) zu sprechen pflegt. „We are rough workers and traders" — „wir sind rauhe Werkleute und Händler" ist eine übliche Redensart. Heute läßt sich ein Blatt schreiben, der Kaiser von Rußland würde London einen Besuch gemacht haben, wäre man hier in der Lage, um einen Kaiser zu empfangen. Wir wissen nicht einmal, wie einem Trupp belgischer Volontärs eine Quit-Fete in großem Stil zu veranstalten ist, und während ein französischer Maitre de plaisir bei prächtigen Festen mit Leib und — esprit bei der Sache ist, würde der englische seinem Nachbar zuflüstern: „What bother! I wish ist was over!" (Welche unbequeme Störung, ich wollte es wäre vorüber.) Ja, als die Festberichte aus Brüssel hier anlangten, quälte man sich schon im voraus mit dem Gedanken, über den „bother", den die Erwiderung der Gastfreundlichkeit für uns haben könne. Eine Weltausstellung in London enthusiasmiert wegen des Verbums „Verdienen", das als H a u p t w o r t immer groß geschrieben wird, und man verzichtet gern auf alle unnötigen Feste als bloßes Vergnügen. Engländer nennen das einen ererbten skandinavisch-ernsten Charakterzug. — Jetzt heißt es — der Sultan kommt. Da regt sich die alte Türkenliebe, für welche psychologisch gebildete Historiker bei einer Skizzierung des Engländers noch den Schlüssel zu finden haben; denn Erklärungen, wie die von einem Börsen-Jobber in vulgären, aber malerischen Worten gegeben: „Wir sitzen zu tief d'rin mit dem Muselmann" reichen nicht aus. Von der Angabe der „France", wonach der Sultan hier zum Ritter des Hosenband-Ordens geschlagen werden solle, weiß man bei uns nichts. Der Lordmayor wird der City Ehre machen. Von den 5000 Lstr. Tafelgeldern ist in diesem Jahre noch viel da. Ließe sich der Kristallpalast von Sydenham in einer Julinacht als Mondschein-

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L o n d o n , 15. J u n i

stück arrangieren, so könnte einem Orientalen keine Szene größeren Zaubers voll gezeigt werden. Manöver zu veranstalten, verbietet die spärliche Zahl der Truppen, sehr gelichtet ohnehin durch die nach Irland geschickten Abteilungen. Die Armee ist über die ganze Erde verstreut. Aber die Flotte wird dem Großtürken gezeigt werden, und wenn das geschieht, so ist das ein Nationalfest, dem wenige gleichkommen. Der Yachtclub wird alle seine Seemöven fliegen lassen. Freilich wird das Flottenbild solche früherer Jahre nicht erreichen; denn die meisten imposanten Dreidecker sind seit dem amerikanischen Kriege, der die Poesie der Marine in schwimmende Eisenkoffer eingesperrt, zum Abbruch als altes Holz und Eisen verkauft; „aber, sagt ein Blatt, können wir auch nicht mehr eine Flotte ohnegleichen zeigen, so ist der Seemann, the old british Tar, derselbe geblieben". Es versteht sich übrigens von selbst, daß die Art des Empfanges, welchen man dem Padischah bereiten will, eine besondere politische Pointe haben soll und wird. — In den englischen Munizipien wächst die Aufregung der Väter der Stadt sichtlich. Die Manier, wie das Unterhaus unter der Führung Disraelis den Compound-Householder trotz aller ursprünglichen Klauseln in die Reformbill als Wähler hineinlaviert hat, bringt die größte Unordnung in den Steuerverwaltungen fast jedes Ortes hervor. Sobald in dem Falle der Kleinmieter die Steuern von diesem und nicht mehr vom Eigner eingezogen werden, steht ein Steuerausfall von 25 pCt. in unzweifelhafter Aussicht und des Zankes wird es kein Ende haben, weil ζ. B. der Mieter eines kleinen Hauses, der dasselbe vielleicht nur auf wenige Wochen gemietet, zur Entrichtung der ganzen halbjährigen Steuer gezwungen werden kann, während sein unmittelbarer Nachfolger bis zum Ende des gerade laufenden Halbjahres frei ausginge. Deputationen der Ortsbeamten Londons an Gladstone haben ihm das Geständnis entlockt, daß mit Annahme jenes Amendements allerdings eine Narrheit (folly) begangen worden. Er selbst habe nur dafür gestimmt, um von zwei Übeln das kleinere zu wählen, „wie ein Mann, der sich lieber ein Bein abnehmen läßt, als sein Leben verliert"; aber sie könnten gewiß sein, die Ärgernisse im Lande würden schon so groß werden, daß das Parlament einen Ausweg werde finden müssen nach sechs bis sieben Jahren! — D a ß übrigens nach sechs bis sieben Jahren seltener als jetzt „Gentlemen" im Unterhause sitzen werden, dafür sorgt die Disraelische Reformbill, deren Wirkung dann erst fühlbar werden wird, wenn die „umschlungenen M i l l i o n e n " 1 6 ihre Leute durch16

„Seid umschlungen, (1787).

Millionen!"

aus Schillers

Gedicht

„An

die

Freude"

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gesetzt haben werden. Selbst sehr liberalen Blättern ist die toryistische Bill zu radikal und der „Daily Telegraph" schreibt ζ. B.: „Wir wissen wirklich nicht mehr, was liberal oder konservativ heißt. Vielleicht sind es nur verschiedene Namen für dasselbe Ding, für den Wunsch nach Fortschritt, ein Wunsch, der nur rücksichtsloser auf der letztgenannten Seite auftritt." — Der „International" hält seine Mitteilung aufrecht, wonach die Reise der Königin nach Paris „im Prinzip" entschieden sei, und nach dem Besuche des Sultans am Hofe zu Osborne (auf der Insel Wight) stattfinden werde. [Nr. 140, 19. 6. 1867]

Arbeiter-Feme in Sheffield p * London, 23. Juni Ein Schauder geht durch das Land. Man hört seit drei Tagen nichts anderes sprechen, als über die entsetzlichen Enthüllungen von Sheffield. Diese beweisen, welche Greuel, unerhört seit Menschengedenken, sich unter der modernen Zivilisation verborgen halten und nur von Zeit zu Zeit durch die dünne Kruste brechen, die den Flammenherd böser Leidenschaften überwölbt und „Zivilisation" genannt wird. Mord ist da nicht mehr ein einzelner M o r d , er ist enthüllt als — „Sitte"; eine ArbeiterTyrannei wird der Welt offengelegt, eine Feme der brutalsten Art, ohne jede auch die geringste psychologische Erklärung, als die einer völligen Gewissensfälschung und eines Egoismus, der so noch nie zuvor in ein System gebracht worden ist. Jede Zeile in den langen stenographischen Berichten über die Verhöre spricht Schrecken, jeder Satz aus dem Munde des Hauptzeugen ist eine „Apotheose Kains". Robespierre hat seinen Partner im neunzehnten Jahrhundert gefunden und er heißt Broadhead, der wie jener von dem „ K u m m e r " spricht, den es ihm verursacht, wenn er einen Bravo gedungen, um diesen oder jenen Arbeiter aus der Welt zu schaffen, falls ein solcher sich den Gesetzen des Gewerkvereins „TradeUnion" nicht fügte; der im Verhör unter Tränen versichert, wie weh es ihm getan, diesen und jenen zu dingen, um seit Jahren die Häuser unfolgsamer Arbeiter mit Pulver in die Luft zu sprengen, namentlich wenn deren Familien mit darin gewohnt. Aber er habe das als Sekretär des Vereins für notwendig gehalten, um die Kasse vor Verlusten zu bewahren und den Vereinsgesetzen unbedingten Gehorsam zu sichern. In dem Manne kulminiert der Arbeiter-Terrorismus; er hat so gehandelt

L o n d o n , 2 3 . Juni

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mit stillschweigender Genehmigung des leitenden Comites und hat die Blutgelder regelmäßig gebucht als „geheime Dienstausgaben". Nur einer der Morde wurde bekannt, dessen „Werkzeug" statt des Anstifters nun in Untersuchung ist. Broadhead, der „Zahlmeister", bleibt auf freiem Fuß; er ist „Zeuge" und hat gestern erklärt, alle Aufklärungen geben zu wollen, wenn die Mitwisser und Mithelfer aus dem Vereine straflos blieben. Dies wurde ihm als „selbstverständlich" zugesagt. Da es sich nur um einen bestimmten M o r d handelt, dessentwegen die Kommission niedergesetzt worden, so werden die andern Fälle strafgesetzlich ignoriert, um Zeugen zu erhalten, wie schuldig diese an andern Verbrechen, die vorher nicht zur Kenntnis gekommen, auch sein mögen. Broadhead hat gestern nun, wie man in England sagt, „eine reine Brust g e m a c h t " . Noch ist das Verhör nicht zu Ende. Aber gestern allein gestand er seine intellektuelle Autorschaft an mehreren Morden mit Windbüchse, Totschläger etc. oder an schweren Verwundungen ein, letztere namentlich durch Pulverminen verursacht, die er in den Häusern ungehorsamer Arbeiter legen ließ, oder dadurch, daß Pulver in die Schleifkästen solcher Verfemten versteckt wurde, welches dann beim Gebrauch des Apparats durch die von dem Arbeitenden verursachten Funken explodierte. Broadhead behauptet, er habe in den äußersten Fällen nie Tötung beabsichtigt, sondern nur Verwundung als „Denk- und Mahnzettel". Was jedes „ J o b " (Geschäftchen) gekostet, nahm er aus der Vereinskasse; denn er habe nur in dessen Interesse gehandelt und seine Handlungsweise für recht gehalten. Der Mensch ist so vollständig von dieser einen Idee besessen, daß er noch zur Stunde sich gar nicht seines Unrechts bewußt ist und öfter die Worte fallen ließ, der Z w e c k habe in all den Fällen die Mittel heiligen müssen. Er ist auf freiem Fuß und geht und k o m m t täglich ruhig, um sich verhören zu lassen, ist aber nur mit M ü h e vor der Volksjustiz zu schützen. Er weint nur mitunter über die traurige „Notwendigkeit", dem Gesetze des Vereins absolute Geltung zu verschaffen gegen fahrlässige Beitragszahler und abtrünnig gewordene — alles in majorem gloriam rei publicae. Wenn befragt, warum er auf den oder jenen habe schießen lassen (wofür er je nach „Wichtigkeit" 6 bis 3 0 Pfund Sterling aus der Vereinskasse zahlte), so ist meist seine Antwort nach der Fa^on Robespierres: „Er schadet unserm Verein der Säger" — oder: „Er konnte eine Lohnerniedrigung verursachen" — oder: „Er hielt mehr Lehrlinge, als der Verein den Mitgliedern (6000 in Sheffield, 6 0 . 0 0 0 in England) zu halten gestattet, und weil durch deren Arbeit soundsoviel erwachsene Arbeiter überflüssig gemacht werden usw." Der gestrige Bericht, umfas-

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send das Verhör über eine seit 1849 fortgesetzte Feme dieser Art, dehnt sich über zwei Kolumnen aus und immer nur wiederholt sich die Frage: „Wieviel bezahlten Sie dafür, daß R.'s Haus mit Pulver gesprengt wurde oder auf N. geschossen wurde?" Antwort: „Soundsoviel." — „Wer hatte das , j o b ' auszuführen?" — „Der und der." Diese Zwangsmaßregeln mit Pulversprengung sind übrigens Charakterzüge der Vereine zu Sheffield und Liverpool. D a ß dergleichen vorging, wußte jedes Vereinsmitglied. Es kannte seine eigene Gefahr im Fall des Ungehorsams und betrachtete jeden, der nicht dem Verein beitreten wollte, als einen Feind, der durch Terrorismus gezwungen werden müsse. Nur die „ M o r d e " sind neu und auf „Vereinsunk o s t e n " von dem schrecklichen Polizeiminister der Gesellschaft, dem Sekretär, als gut und dienlich angeordnet und bezahlt seit länger als einem halben Menschenalter. Die gedungenen Werkzeuge sind des Brotherrn würdig. In einem Falle verfolgten zwei Vereinsmitglieder wochenlang ihr „ O p f e r " mit der Windbüchse und dem „stillen Totschläger" auf Schritt und Tritt, bei Tag und Nacht sein Haus umlauernd, bis sich der rechte M o m e n t gefunden. Und alle diese Leute glauben recht gehandelt zu haben, weil das gemeinsame Vereins-Interesse gewahrt werden mußte.

Mil-

dere Zwangsmittel gegen Ungehorsame und Abtrünnige sind übrigens auch bei anderen trade unions Sitte. So läßt solcher Verein oft zahlungssäumigen Mitgliedern die Werkzeuge vom Arbeitsplatze ihrer Brotherren stehlen und so lange verstecken, bis sie dem Vereine gerecht geworden. Diese Lynch-Exekution heißt „rattening". Und wehe dem Arbeiter, der mehr arbeitet und in kürzerer Zeit, als die vom Verein aufgezwungene und ihm als Gesetz auferlegte. Er darf nicht besser sein wollen, nicht geschickter, als die anderen. Als Norm ist die „Mittelmäßigkeit" aufgestellt. Alle diese Manöver kulminieren dann von Zeit zu Zeit in Strikes, deren Ausdehnung sich erst erklärt, wenn man den Terrorismus kennenlernt, unter welchem die Sozietät Mitglieder und Nichtmitglieder des speziellen Vereins meistert und einschüchtert. Alles das erklärt auch die Tatsache, daß die englische Werktüchtigkeit nicht mehr ihren ersten Platz behauptet, und erklärt es, daß auf der Weltausstellung zu Paris ausländische Manufaktur die englischen Produkte nur in 12 Klassen nicht überflügelt. Sheffield — und gerade Sheffield — der Schauplatz des Arbeiterterrorismus, ist in Paris am dürftigsten vertreten. Einfach logische Konsequenz, die zur Landeskalamität zu werden droht. Es wird erwähnt, daß die Arbeiter in Sheffield durch die stündliche Gefahr, der ihr eigenes Leben bei ihrer Stahl- und Eisenarbeit

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ausgesetzt ist, so gleichgültig gegen dasselbe werden, wie gegen das andere. Davon ein haarsträubender Beweis. Um die Arbeiter bei den Schleifereien und Nadelfeilen vor dem Eindringen der Splitter und des Stahlstaubes in die Lungen zu schützen, hat man magnetische Netzmasken für das Gesicht eingeführt. Da jedoch die dadurch herbeigeführte größere Gefahrlosigkeit der Arbeit einen größeren Zufluß von Arbeitsuchenden für dieses Gewerbe zur Folge hatte, so haben die „Vereine" ihre Mitglieder genötigt, die schützenden Masken abzulegen. So wird der hohe Lohn geschützt, der sehr hoch ist wegen der Lebensgefahr, denn selten überlebt ein ohne Maske tätiger Arbeiter das 40. Jahr. Wollte Gott, dieser Gehorsam bis zum Tode gelte einer höheren Macht, als der in ein eisernes Gesellschaftssystem verkleideten Neid- und Habsucht! — [Nr. 146, 26. 6. 1867]

Vier Krawalle in einer Woche Orange und Grün in Birmingham. Stilproben England und die orientalische Frage p* London, 24. Juni Ein Tumult in Cork, ein blutiger Krawall in Waterford in Irland, eine Knüppelschlacht zwischen Arbeitern der konservativen Assoziation und der Reformliga in St. Jameshall in London, wobei erstere nur auf Verteidigung ihres eigenen gesprengten Meeting standen — und dann Aufruhr in Birmingham — das ist die Liste der letztvergangenen Zeit. Zu Cork und Waterford galt es der Befreiung gefangener Fenier amerikanischer Herkunft; in London war es eine Nachlese aus der Drangperiode der politischen Reformfrage. In der St. Jameshalle warfen einige Giganten einen ganzen Sessionstisch mit Bier und Dinte der Reporters der Presse auf den Kopf und die Gattinnen und Töchter der Mitglieder der konservativen Assoziation wurden nur mit Mühe von den Zuschauer-Galerien gerettet, als die Reformers unter Absingung der Marseillaise, durch alle Galerien hindurchstürmten, unter einem Führer, der eine rote Fahne über den Tisch- und Stuhlbarrikaden schwang. Selbst der „Daily Telegraph", der sonst sehr freundlich über die Fehler der Reformers denkt, meint, daß die Freunde der Reform mitunter derselben mehr Schaden als Nutzen bringen. Der Aufruhr in Birmingham nährt sich aus religiösen Zwisten — es sind die Farben orange und grün, die dort zum Anprall gekommen: der Protestantismus vehementer Enthusiasten und der Katholizis-

London, 24. Juni

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mus Irlands, da in jener Stadt jeder dritte Kopf auf den Schultern eines Irländers sitzt. Intellektuelle Urheber des Aufruhrs waren die Protestanten, materielle die Katholiken, ein ungeheures Holzkreuz vor sich hertragend, mit den grünen Bändern Erins umschlungen. Den Anlaß gab die Wiederholung einer Vorlesung Murphys, eines orangistischen Irländers, dem der unbeugsamste Fanatiker Whalley vom Unterhause assistierte. Murphys Fehde gegen „Papismus" erging sich in den ungeheuerlichsten Phrasen, welche die Priester Roms als Verbrecher aller Art bezeichneten. „Ich will die Redefreiheit ausüben, und würden sie über meine Leiche marschieren"; oder: „Hätten die Papisten nur die Macht, sie würden mich rösten, wie Cramner, Latimer und Ridley", und zum Schluß: „Ich kann ebensogut Euer Geld erhalten, wie der Papst." Steinhagel war die Antwort; mehrere Straßen Birminghams sind wie verwüstet. Man riß die Ziegel aus den Dächern und manche Splitter aus Ladentischen und Fensterschaltern. Man mißhandelte die Polizei und gab Vivats auf die Husaren, die doch zeitweise die Gassen räumten. Soweit sich aus der ersten flüchtigen Voruntersuchung ergibt, hat eine Horde, die sich „Partei der Ordnung" nennt, die Polizei düpiert. Sie ließen sich, nachdem, wie das Gesetz erfordert, zwei Hausbesitzer vor dem Magistrat erklärt, daß ein Aufruhr bevorstehe, als Spezial-Constables einschwören und verübten den größten Unfug unter der Decke des Amtes. In der Tat, es fand sich, daß ζ. B. viele Taschendiebe in der Eile als Spezial-Constables eingeschworen waren und zuletzt von der Polizei selbst arretiert werden mußten. Was solche „Fabrikstädte" einmal leisten werden, wenn nach der Bill Disraelis Neuwahlen zum Parlament dort stattfinden und die kleinen Pauper-Hausmieter ihr Staatsbürgerrecht geltend machen, läßt sich aus solchen Proben schließen. Es ist nur zu billigen, daß Disraeli vermieden hat, die zur Vakanz gekommenen neuen Wahlflecken in Fabrikstädte zu verlegen, sondern vorgezogen hat, sie der Landbevölkerung zugute kommen zu lassen. Das erbittert aber die Reformer, wie verschiedene ihrer Organe unverhohlen aussprachen, die der Fabrikarbeiter Lob singen. „Was kann ein Landvolk, halb vertiert (!), aus Mangel an Erziehung und aus Armut gegen den Arbeiter ausrichten, der an freie Gedanken und freie Sprache und Beobachtung der laufenden Ereignisse gewöhnt ist?" ruft eines. „Was können Farmer ausrichten in der Führung, verglichen mit städtischen Ladenbesitzern, die jeden Tag Politik studieren, während jene einmal in der Woche über ihrer Zeitung einschlafen und nur aufwachen, um von Ochsen und Gerste zu sprechen." Daß der Vorschlag, Liverpool, Manchester, Birmingham und Leeds mehr Vertreter im Unterhause zu gewähren, vom Hause verworfen wurde, enragiert

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diese Presse aufs äußerste. Hier eine Blumenlese: „Disraeli ist ein Hektor. Er schreit einmal auf, und die Radikalen laufen zu ihren Schiffen!" — „Die große liberale Partei sinkt in die Knie wie ein unbewaffneter Bajazzo vor der blanken Lanze Disraelis." — „Wenn er mit dem Fuß auftritt, dieser orientalische Despot, so haben alle Liberalen dringende Abhaltungen und fehlen im Hause bei der Abstimmung." — „Er hat das Oberhaus in Lord Derbys Tasche und das Unterhaus in seiner eigenen. Doch unser Sieg ist nur aufgeschoben. Ende gut — alles gut und Maß für Maß! 1 7 " — Einige Journale fahren fort, die Besuche der Souveräne in Paris als einen „Kongreß mit Ablösungen" über die orientalische Frage zu behandeln. Es habe sich um Kreta gehandelt, versichern diese BestUnterrichteten. Über Vermutungen und nur Vermutungen werden lange Leitartikel geschrieben, deren Raisonnement im Grunde auf die Klugheit der Vorsicht hinausläuft, es „mit dem Sieger zu halten, wenn englische Politik ihr Votum zu geben haben sollte. Die Absendung vieler seiner Truppen aus Konstantinopel bildet den Angelpunkt für diese Vorschläge zur Güte. Dem Sultan müsse die Initiative überlassen werden. Folge man diesem weisen Rat Englands nicht, so würde allerdings eine Konferenz unvermeidlich sein, und in diesem Falle würde weder die Türkei noch Europa von der Abwesenheit Englands profitieren. Englands wahre Politik sei, zu beobachten, wie die Dinge ablaufen auf Kreta selbst. Sollten die Kreter im Kampfe mit den neuen Kerntruppen unterliegen, so falle damit jeder Vorwand zu diplomatischer Einmischung, und das sei das Wahrscheinlichere; im entgegengesetzten Falle müsse man allerdings an Änderungen denken, aber immer unter Initiative des Sultans, mit dem Lord Stanley hier demnächst Besprechungen haben müsse. — Der Lordmayor von London, der Lordprevost von Edinburg und das Oberhaupt der Stadt Dublin sind mit noch 27 anderen Aldermen der drei Städte von der Pariser Ausstellungs-Kommission eingeladen worden, der am 1. Juli stattfindenden Preisverteilung beizuwohnen. Der Chef der City soll indessen ablehnen wollen, weil die Vorbereitungen zum Bankett für den Sultan, welcher die im Namen der City ergangene Einladung angenommen, die ganze Amtstätigkeit desselben in Anspruch nehmen. Ein Blatt schlägt vor, falls der Sultan als strenger Türke den uralten Sherry von sechshundertjährigem Gewächs verschmähen sollte, ihm das beste Ingwer-Bier zu präsentieren, das Londoner Fabrikanten liefern können. [Nr. 150, 30. 6. 1867] 17

All's Well That Ends Well und Measure for Measure, peare.

Komödien von Shakes-

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London, 2. Juli Die Parteien ein C h a o s . Z u r Lage Der Sultan und das annektierte England p* L o n d o n , 2 . Juli

Die „ T o r i e s " am R u d e r unseres Staatsschiffes haben seit M o n a t e n sich zu so vielen K o m p r o m i s s e n über Prinzipien verstanden, d a ß es wirklich schwer hält, die alten Farben noch zu unterscheiden. Bei D e b a t t e n im Unterhause führt dies öfters zu ganz seltsamen Allianzen, zu K o n f u s i o n , und auch in der höheren Politik finden sich zuweilen die Ansichten gewisser liberaler Mitglieder von R a n g und N a m e n mehr im E i n k l a n g mit dem T o r y i s m u s , als die der Tories selbst. Als jüngst die Lords D e r b y und Stanley den Vertrag über L u x e m b u r g in einer Weise auslegten, welche ernstlich erwogen Z w e i f e l an politischer Ehrlichkeit begründete und in der deutschen Presse die gebührende Abfertigung fand, trat bekanntlich Lord Russell sofort a u f und erklärte, er teile L o r d D e r b y s Ansicht über die eventuelle Unverbindlichkeit des Vertrages für England nicht. Auch Stanleys „ A u s l e g u n g " , welche mit der seines Vaters parallel lief, fand selbst auf selten der friedlichsten M a n c h e s t e r p r e s s e keinen Applaus. D a s Land scheint in der T a t nicht g e s o n n e n , aus den ministeriellen Klügeleien Vorteil ziehen zu wollen und wie sehr auch im alltäglichen Leben, wie schon öfters b e m e r k t , eine Scheu vor

Verantwortlichkeits-Übernahme

ein eingewurzelter C h a r a k t e r z u g ist, so liebt doch auch der Engländer nicht, diese „ S c h w ä c h e " auf dem Präsentierbrett von E u r o p a von seinen S t a a t s m ä n n e r n ausgestellt zu sehen. Was die oben e r w ä h n t e Konfusion der Parteistellungen angeht, welche die R e f o r m b i l l , dies Flickwerk aller C o u l e u r e n , hervorgerufen, so gab es davon neulich wieder ein burleskes Beispiel, w o b e i es sich glücklicherweise nur um eine N e b e n s a c h e handelte. D e r A t t o r n e y - G e n e r a l b r a c h t e eine gewisse Änderung in den Terminen der Steuer-Erhebungen in bezug auf die R e f o r m b i l l in Vorschlag. Er sprach als M a n n der Regierung für seinen Vorschlag, a b e r mit fast allen Konservativen des Hauses sofort dagegen,

stimmte

während die

Minister mit den blassen und e x t r e m e n Liberalen dafür s t i m m t e n . G l a d stone stellte den A t t o r n e y - G e n e r a l über diesen merkwürdigen

Wider-

spruch zwischen W o r t und Tat zur Rede. A u f k l ä r u n g k a m — das G a n z e war eine K o m ö d i e Disraelis, w o r ü b e r ihm übrigens heute konservative Blätter ihre M e i n u n g aussprechen. Dies als Beispiel, wie verworren die Parteiunterschiede g e w o r d e n , so d a ß zur Stunde die G l a d s t o n i a n e r , wenn auch weniger aus Prinzip als aus Eifersucht, die konservativsten unter

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allen Reformers des Unterhauses genannt werden können. Man sagt, daß Gladstone übrigens sub rosa öfters gestanden, er bereue seinen vorjährigen Schritt, mit dem Kabinett abzudanken um einer Differenz willen, die jetzt gar nicht mehr in Betracht komme. Er wäre darauf nicht gefaßt gewesen, daß das folgende toryistische Kabinett noch „herodischer als Herodes" ausfallen und mit den äußersten Reformers Kontrakte machen würde. Der demokratische „Morning Advertiser" ist des Preises der Regierung voll, und unzweifelhaft hat Disraeli sein Fauteuil fast unerschütterlich für längere Zeit auf den Trümmern seiner Prinzipien festgestellt. — Irland wird doch eine Reform-Bill erhalten. Disraeli hatte es versprochen, und bleiben die Irländer nur etwas zähe, so ist der ehemalige Verfasser des „revolutionary epos" 1 8 (heute Disraeli hoch in den Neunundvierzigern) nicht der Mann, sich von Reformers lange bitten zu lassen. Ein Blatt bringt heute eine Karikatur, welche Britannia mit der Merkurskappe darstellt, wie sie einem barfüßigen Bauernmädchen, Irland, ein Dokument mit der Aufschrift überreicht: „Pardon für die zum Galgen verurteilten Fenier." Irland erwidert: „Ich bin Dir sehr verbunden, liebe Schwester, doch ich hoffe, dies ist nicht alles, was Du für mich tun wirst." Es ist dies das radikale Witzblatt „Tomahawk", dem ein konservatives „Judy" Konkurrenz macht, so daß mit „Punch" (der etwas zahnlos und der Times verwandt ist) und „Fun" (Spaß), dem Ausbunde des Liberalismus, wir jetzt vier Karikaturen-Blätter haben. Das bilderlose Blatt „The O w l " klatscht nur in pikanter Weise und läßt mehr den Humor der Tatsachen reden, als den des Wortes. — Wir sehen zwei großen Festwochen entgegen. Am 10. Juli kommen die auf Quit-Visite eingeladenen 1000 Schützen aus Belgien herüber und am 15. oder 17. der Sultan. Wir hören zu unserm Erstaunen, daß für die Zeit seines Besuches England der Türkei annektiert wird. In anderer Weise haben die Mollahs, die Ausleger des Islam, den Verstoß gegen türkisches Herkommen nicht gut machen können, da sie den Sultan allüberall sich nur als Eroberer und auf eigener Scholle zu denken vermögen. Somit gehört Frankreich auf 14 Tage zur Türkei, und dann kommt an uns die Reihe. Ein Blatt bemerkt: „Schade, daß der Sultan nicht auch Luxemburg und zwar auf die Dauer annektiert; dann hätten Mylords Derby und Stanley nicht nötig, Verträge rückwärts zu lesen." Den Mollahs kann man nach obigem ein diplomatisches Talent erster Klasse nicht absprechen. In ihrer Manier kann die Quadratur des Kreises „sich machen" und ein diploma1S

Vgl. Anm. zu Κ London, 9. März 1867.

L o n d o n , 11. Juli

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tischer Glanzstiefel sogar einem Elephantenfuße sich anbequemen. Ein Gerücht geht, Lord Stanley werde zur Zeit des Besuches des Sultans nicht in England sein, um leichter mit seiner im Unterhause gegebenen Erklärung im Einklänge zu bleiben, „daß es unpassend wäre, den Großherrn bei solchem Besuche mit Politik und orientalischer Frage zu ennuyieren". In Paris denkt man mutmaßlich anders in diesem Falle und wird nicht unterlassen, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden. Doch Englands Politik steckt in orientalischen Fragen solange als irgend möglich den Kopf in den Busch, wie gute harte Alt-Türken zu tun gewohnt sind. Korrespondenten und Reporters studieren zur Zeit ruhig Reisebeschreibungen und Geschichte aus der Türkei, um, wenn sie, voran einer Kohorte reisender Photographen, dem Padischah hier auf Schritt und Tritt folgen werden, ihre Briefe an das liebe Publikum mit dem echten orientalischen Parfüm versehen zu können. — Auf der großen Blumenausstellung zu Brighton in voriger Woche hatte einer der Hauptradikalen des Ortes, ein Gärtnereibesitzer, der Reformbill zuliebe eine neue Geranium-Art unter dem Namen des Ministers „Gathorne H a r d y " ausgestellt und eine neue Rose ohne Dornen „Disraelis Rose von Saron" benannt. [Nr. 154, 5. 7. 1 8 6 7 ]

Die mexikanische Tragödie. Nüchterne Betrachtungen „Genug an einem Abessinien." Der Vizekönig und der Sultan Das Kriegskommissariat p* London, 11. Juli In hiesigen Blättern erschien dieser Tage ein Eingesandt an den „Editor", unterzeichnet „Ein Engländer, der in Mexiko gefochten", in welchem all die gehässigen Beschuldigungen von Grausamkeit bestritten werden, deren einzelne Organe der Presse den Kaiser Maximilian geziehen, um Juarez als die berechtigte Nemesis schildern zu können. Als die ersten Nachrichten über die Ermordung des Kaisers Max hier anlangten, war nur ein Aufschrei der Entrüstung in der Presse. Der „Daily Telegraph" schrieb eine glühende Philippica gegen Juarez — doch in wenigen Tagen ist die edlere Glut schon verraucht. Nachdem die „Morning Post", die vornehme Zeitung, mit kalter politischer Philosophie sich das „Ding" so zurechtgelegt, wie es englischer Politik und den englischen Gläubigern Mexikos am besten paßt, geraten die radikalen Blätter wieder in die alte Fährte, der „Morning Advertiser" voran. Dem veränderten Ton liegt

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unverkennbar ein Art von Furcht zu Grunde, daß man sich als „Vertreter der öffentlichen Meinung" zu sehr avancieren und irgendeine Gefahr entstehen könne, die, wie auch immer, England in Händel verwickeln möchte. „Wir haben genug an einem Abessinien", ruft der „Advertiser" und hofft, daß man wenigstens die englischen Residenten in Mexiko ungeschoren lassen und nicht in dieselbe Lage bringen werde, in der sich die Gefangenen des schwarzen Theodorus befinden. Andere Blätter stellen Mexiko als ebenso unzugänglich, wie Abessinien hin und raten den Nachbarn an der Seine ab, irgend etwas mit einer neuen Expedition zu tun zu haben. „Ihr möget Vera-Cruz bombardieren", bemerken sie, „aber Vera-Cruz war dem Kaiser die treueste Stadt bis ans Ende." So weit die Presse. Der diplomatische Vertreter Englands in Mexiko, Campbell Scarlett, früher in Athen, war während der Katastrophe nicht in Mexiko, sondern schon seit mehreren Wochen auf Urlaub in England. Ein charge d'affaires vertrat ihn bei der Kaiserlichen Regierung und hat zur Stunde keine offizielle Stellung mehr in der Republik, von welcher der Bischof von Pachuca einem englischen Reisenden folgende Skizze entwarf: „In dieser Stadt lebt kein Mann von dreißig Jahren, der nicht wenigstens drei Menschenleben zu verantworten hätte und hängte man alle Diebe in diesen Mauern, so blieben nur die Säuglinge übrig." — Der Aufmerksamkeit entgeht die Weise nicht, in welcher der Vize-König von Ägypten hier empfangen worden, im Vergleich mit dem Pompe, mit welchem man Eindruck auf den Stoizismus des Sultans machen will, wenigstens in der City. Noch im letzten Moment hätte der Vize-König, sozusagen, in Schlafstelle gehen müssen in einer kleinen Villa in der Vorstadt Blackheath bei seinem diplomatischen Agenten, hätte nicht Lord Dudley sein Palais angeboten. Niemand empfing den Vize-König, außer dem Gastgeber und ein Piquet Husaren. Vielleicht legt man der Sache gewichtigere Gründe unter, als sie verdient. Tatsache ist, daß der Vize-König es bisher abgelehnt hat, für England nach Abessinien zu ziehen und so zur Befreiung der englischen Gefangenen zu wirken. Unzweifelhaft ist man über die zu beobachtende Kriegspolitik in jenen Himmelsstrichen noch nicht mit sich einig. Man rät der Regierung verschiedene Dinge. Von der einen Seite wird empfohlen, England solle mit dem Insurgentenchef Hand in Hand gehen, der gerade jetzt die Truppen des Theodorus sehr in die Enge getrieben haben soll. Von anderer Seite hält man das Gegenteil für ersprießlicher, nämlich dem Kaiser englische Hülfe gegen die Aufrüher anzubieten, unter der Bedingung sofortiger Freigebung der Gefangenen. Doch auf alle Fälle bleibt ein Krieg ohne englische Mitwirkung

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ein großes Risiko, selbst wenn man die vermeintlich erforderten 20.000 M a n n in Ostindien entbehren kann, w o f ü r die m o n o t o n e Depesche „Ruhe herrscht in Bengalen" keine zuverlässige Garantie gibt. Eine Springfeder schnellt sofort empor, falls der Druck a u f h ö r t und von großen Landstrecken H i n d o s t a n s ist England nur so lange Eigentümer, als es „Besitzer" ist. Für solche Kriegsfälle gibt es ein Ding, das Engländern immer die größte Sorge macht, und wie wenig sie im allgemeinen geneigt sind, Mängel zu bekennen, in dem einen Punkte tun sie es, durch traurige E r f a h r u n g genötigt. Dies ist das Kriegskommissariat. Das heillose Liefer a n t e n t u m ist so mit einem schwerfälligen Offizialismus hier verwachsen und verschwägert, d a ß ein Kriegs- und Flottenminister nach dem anderen, wie sehr er auch zur Reform geneigt war, die Sache zuletzt als ein „bad j o b " (schlimmen Handel) aufgab. Die Vernachlässigung der Truppen in der Krim ist noch immer in frischem Andenken. Sie hat Bataillone gekostet. Geschah es doch vor drei Tagen, d a ß mehrere zum Manövrieren ausgerückte Regimenter zehn Stunden lang in glühender Sommerhitze sich ohne jede N a h r u n g befanden. Bäckerei und Schlächterei m u ß wohl auf solche Extratage nicht vorbereitet gewesen sein, aber Tatsache ists und wohl nicht mit Unrecht fragt ein Blatt: „Wenn wir schon ein kleines Truppen-Manöver nicht veranstalten k ö n n e n , o h n e die Truppen halb verschmachten zu lassen, was soll da im Ernst des Krieges und auf tausendmeilige Entfernung vom fetten London werden? M a n sagt wohl, unser Verpflegungssystem werde in jedem Kriege binnen 14 Tagen zusammenbrechen, — es ist schon in 24 Stunden zusammengefallen." [Nr. 163, 16. 7. 1 8 6 7 ]

Der Sultan und der Landregen Wie man die Türken photographiert Die Wirte, die sich selbst bewirten Die belgischen Gäste p* L o n d o n , 13. Juli Nach mehrwöchentlicher sonniger D ü r r e — Regen; Landregen, gleichzeitig mit dem Sultan. Ein graues Gewölbe über uns, o h n e einen Sonnenblick. Die ersten R a p p o r t e über die L a n d u n g in Dover sind heute morgen gelesen, sowie die über die A n k u n f t in L o n d o n auf einer Bahn, welche auf Meilenweite über den Dächern der Häuser läuft. In jedem R a p p o r t ist die Verwunderung ausgedrückt, d a ß sich der Sultan über nichts ver-

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Visit of t h e Sultan of T u r k e y : H i s Imperial M a j e s t y L a n d i n g at D o v e r

w u n d e r t . Dies „nil a d m i r a r i " b r a c h t e schon die Pariser zu einer Art Verzweiflung. Auch hier fällt wohl die Frage: „Gefällt sich der Sultan in E n g l a n d ? " — A n t w o r t : „They say he d o e s " (man sagt so). Dagegen scheint das Gefolge sich lebhafter zu ä u ß e r n . W ä h r e n d der Fahrt von D o v e r hierher vermeinten sie sich in einer a n d e r n Welt zu befinden. Unter d e m Gefolge fällt eine Persönlichkeit auf, welche im O r i e n t eine ganz besondere F u n k t i o n hat — nämlich die, ein „ M e m e n t o m o r i " darzustellen. Es ist der R u f e r bei Festmählern, welcher hinter den Sessel des Sultans zu treten pflegt und ruft: „Wir müssen alle s t e r b e n " und d a n n sich zurückzieht. Französische u n d englische K o r r e s p o n d e n t e n berichten die Geschichte — ich erzähle ihnen nur nach. D e r Betreffende, allein aus d e m Gefolge, ist fadenscheinig gekleidet, als solle er die Vergänglichkeit, orientalisch a u f g e f a ß t , als lebendes Bild darstellen. N a c h französischen Berichten b a d e t der Sultan täglich in Nil-Wasser, das in großen Fässern verschifft ist, und genießt n u r Trinkwasser, das von der Quelle KhirwayBee, u n w e i t K o n s t a n t i n o p e l , h e r s t a m m t . N u n , nach England hat m a n kein Nilwasser m i t g e b r a c h t und ebensowenig Quellwasser von Konstantinopel. Ü b e r h a u p t h a b e n die sechzig T ü r k e n das heimatliche Z e r e m o n i ell ziemlich an den Nagel gehängt u n d n e h m e n es sogar nicht übel, d a ß

London, 13. Juli

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ihnen a l l e r w e g e n auf R ä d e r gesetzte P h o t o g r a p h i e - M a s c h i n e n folgen u n d s o w i e ein solcher M u s e l m a n n sein G e s i c h t a u c h n u r en f a c e o d e r p r o f i l in S c h u ß l i n i e b r i n g t , ist i h m , lichtbildlich g e s p r o c h e n , s c h o n „ d e r Kopf a b g e n o m m e n " . W i e b e k a n n t , schickte der S u l t a n in Paris z w e i m a l zu e i n e m d e j e u n e r ä la f o u r c h e t t e , zu w e l c h e m er invitiert w a r , F u a d P a s c h a als Stellvertreter. So m e l d e t e die „La F r a n c e " a u s d r ü c k l i c h . H o f f e n t l i c h w i r d d e r L o r d - M a y o r , der d a s g a n z e G a r d e r o b e n h a u s der offiziellen City leert, u m ein B a n k e t t in K o s t ü m herzustellen, n i c h t so e n t t ä u s c h t w e r d e n . D i n i e r e n u n d S o u p i e r e n d u r c h Stellvertreter w ä r e ü b r i g e n s die sublimste N e u e r u n g in u n s e r e n B r e i t e n g r a d e n u n d , sollte ja Fuad P a s c h a dieselbe Rolle w i e d e r z u f a l l e n , w i r d er an englischen T a f e l n gewisse pieces de resistance v o r f i n d e n , auf die ihn Paris n i c h t v o r b e r e i t e t e . D i n e r s u n d S o u p e r s u n d „ l u n c h " , dieses e i g e n t ü m l i c h e M i t t e l d i n g , u m 1 U h r m i t tags, f o l g e n sich jetzt Schlag auf Schlag u n d f ü r die n ä c h s t e n Tage ist d e r K ü c h e n m e i s t e r die r e c h t e H a n d f ü r jeden emsigen K o r r e s p o n d e n t e n . Die z w e i t a u s e n d Belgier in d e r G u i l d h a l l der City t a f e l t e n gestern an e i n e m g a n z f o r m i d a b l e n „ l u n c h " . Was a b e r n o c h viel m e r k w ü r d i g e r ist, d a ß die G a s t g e b e r , d . h. die g r o ß e n u n d kleinen W ü r d e t r ä g e r der City sich in solcher M a s s e selbst eingeladen h a t t e n , d a ß f ü r 3 0 0 ihrer belgischen G ä s t e t a t s ä c h l i c h kein Bissen ü b r i g b l i e b . D r e i h u n d e r t Belgier k a m e n g a r n i c h t in d e n Saal, s o n d e r n m u ß t e n d r a u ß e n auf d e r S t r a ß e stehen u n d f ü r einige S t u n d e n „ z u h ö r e n " , wie g u t es d e n a n d e r e n d r i n n e n s c h m e c k t e , o h n e jede a n d e r e N a h r u n g , als — M u s i k , d a r g e b r a c h t von B l e c h i n s t r u m e n t e n in den H ä n d e n d e u t s c h - b ö h m i s c h e r M i n s t r e i s , jener L o n d o n d u r c h w a n d e r n d e n K n a b e n . Ein Blatt b e m e r k t : „ M a n w i r d einw e n d e n , d a ß der Belgier zu viele f ü r ihre W i r t e g e w e s e n , a b e r w i r k o m m e n d o c h ü b e r die T a t s a c h e nicht h i n w e g , d a ß d e r W i r t e zu viele f ü r die Belgier, die als G ä s t e der N a t i o n u n d der H a u p t s t a d t d e r N a t i o n , d r a u ß e n h u n g r i g u n d m ü d e stehen m u ß t e n , w ä h r e n d die W i r t e d r i n n e n festlich t a f e l t e n u n d j u b i l i e r t e n . " Ein A u g e n z e u g e b e r i c h t e t , d a ß es einigen A m a t e u r - Z e r e m o n i e n m e i s t e r n s c h o n vor T i s c h e M ü h e k o s t e t e , die Väter d e r S t a d t , w e l c h e s c h o n alle „ s a ß e n , ehe n u r d e r erste Belgier im P o r t a l e e r s c h i e n e n , a b z u h a l t e n , sich f r ü h e r ü b e r die S u p p e h e r z u m a c h e n , als ihre G ä s t e Platz g e n o m m e n h a t t e n . " D i e D e k o r a t i o n e n d e r City w a r e n „ p r o f u s e " , wie m a n sich hier a u s d r ü c k t , u m e t w a s Reichliches zu b e z e i c h n e n u n d , w a s seit J a h r h u n d e r t e n n i c h t g e s c h e h e n , d a s s c h w a r z e kleine CityTor, T e m p l e - B a r , auf d e m sich n o c h die Spitzen b e f i n d e n , w e l c h e die K ö p f e d e r J a k o b i t e n von 1745 t r u g e n , w u r d e mittels einer Feuerspritze a b g e w a s c h e n — „ f a s t zu reinlich, u m w a h r zu b l e i b e n " — b e m e r k t d e r

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„Telegraph" dazu. An einer andern Stelle heißt es: „Die Belgier müssen nachgerade sich an das Verpackenlassen gewöhnt haben, so nahe sitzen sie Schulter an Schulter bei jedem Bankett hier, weil immer halb soviel Engländer mitessen wollen, als Gäste geladen. Augenscheinlich ziehen die Zweitausend unser Ale unserem Chamapgner vor, den einige sehr schief ansahen. Auf dem ganzen Marsche nach der Guildhall löste sich rottenweise mitunter der Zug in die Bierhäuser auf. Es war aber auch sehr heiß — indeed." Einen höchst komischen Eindruck macht es, zu beobachten, wie man im Publikum mit Angst jeden Tagesabschluß abwartet und dann erleichtert aufjauchzt: „Wieder alles gutgegangen." Man kennt sich selbst als so schlechten Vergnügungsmeister, daß man beinahe mit Verzweiflung die Kunde vernahm, es würden tausend mehr als die ursprünglich veranschlagte Zahl kommen. Wehe den Arrangeurs, wenn irgendwelche große blunders verfallen sollten — die Presse, ebenfalls in fieberhafter Spannung, würde ihnen den Garaus machen. Außer jener Episode vor Guildhall und der Tatsache, daß auf dem englischen Schiffe, welches 2000 Belgier überführte, nur 400 Pfund trocknes Brot, eilf Pastetchen und 14 rohe Hammelkeulen als Schiffsproviant vorhanden gewesen und die Belgier sich den Riemen sehr eng schnüren mußten — ist bis jetzt nichts Unangenehmes passiert. Doch, wie schon früher erwähnt, unsere Verpflegungsbehörden behandeln Verpflegungen als Allotria — ein alter Schade, der Kruste angesetzt hat. [Nr. 166, 19.7. 1867]

Die Reformbill im Oberhause Die „Reine Hortense" im Hafen von Dover Die Mermaid-Affäre p::" London, 24. Juli Die Heerführer beider Parteien des Oberhauses haben zum Sammeln geblasen. Die langen Debatten, über die Reformbill, welche schon das Haus beschäftigt, werden vielfach nur als Vorgefecht bezeichnet. Die Opposition soll ihre Hauptangriffe aufsparen für die Zeit, wenn das Haus sich nach der gestrigen zweiten Lesung als Komitee konstituiert haben wird. Das den Aftermietern unter Bedingung der Zahlung einer Steuerquote des Hauses (die bei Dachstuben allerdings sehr klein ausfallen dürfte) gewährte Wahlrecht wird im Oberhause am meisten gerügt, weil es noch über das Haus-Wahlrecht hinausginge. Will man auf Präze-

L o n d o n , 2 4 . Juli

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denzien hin schließen, so wird schwerlich ein Beschluß der Lords die Bill verändern. Das letzte Mal, wo das Oberhaus mit dem Unterhause in hartnäckigen Konflikt kam, war der Widerstand gegen die Aufhebung der Papiersteuer. 1 9 Die Presse war außer sich darüber und es geschah ihr der Wille nach langen Debatten. Es wird ihr auch jetzt der Wille geschehen, aber merkwürdigerweise ist sie mit dem Siege im Unterhause in gewissem Sinne unzufrieden. Der „Telegraph" ζ. B. bemerkt, wie anders wäre doch der Kampf um die erste Bill 1832 gewesen, damals hätten Peel und Wellington jeden Fußbreit bis zum Äußersten verteidigt, solange das Schnupftuch noch nicht in der Tasche brannte. Diesmal aber hätten die Liberalen gar nicht zu einem erfrischenden Kriege, zu einem Sturmlaufen kommen können. Damals hätte der Mann der Freiheit, echauffement im Gesicht, den Sieg behalten. Diesmal hätte er kaum Zeit gehabt, seinem Feinde ordentlich böse zu werden; denn derselbe hätte nur ein wenig Blindekuh gespielt und sich dann ergeben. So das Blatt. Andere reden in ähnlichem Tone. In der Tat die Schilderung trifft zu. Die Blätter sind deshalb verstimmt, weil das Volk nicht lebhaft genug geworden, nicht durchwühlt genug gewesen, der Sieg so bequem wurde, daß es zu keiner tieferen Leidenschaftlichkeit und Aufregung in Stadt und Land gekommen. J a , es sei Gefahr vorhanden, daß das Gros der Liberalen, das Politik im friedlichen Rosinenladen macht, sich bei den künftigen Wahlen ziemlich apathisch verhalten werde, ohne viel Gewicht auf den Unterschied zwischen eigentlichen und uneigentlichen Liberalen zu legen. Der Reform-Liga ist der Todesstoß gegeben durch Wegräumung jedes Motivs zur Unzufriedenheit; denn sie kann nicht darauf rechnen, in England, wo man den Tag in 24 Schillinge einteilt, auf Jahre hinaus bis zu einem neuen Reform-Konflikt das Thermometer der Unzufriedenheit hoch über dem Gefrierpunkt zu erhalten. Man kann nicht tausend Wochen hindurch an jedem Sonnabend oder blauen Montag rebellieren und die Wahlreform kann nicht wieder zum Kassenstück werden. — Heiterkeit erregt hier eine Schilderung in französischen Blättern in betreff der Landung des Sultans in England. Der Schriftsteller Mr. Georges Maillard meldet darin, daß am Abend vor der Abfahrt von Boulogne der englische Admiral eine Depesche an den französischen Admiral La Ronciere gesandt, des Inhalts, er werde in der Mitte des Kanals den Sultan an Bord des englischen Schiffes nehmen. Darauf hätte La Ronciere geantwortet, er habe Befehl, den Sultan auf englischem Boden ab19

Vgl. Κ L o n d o n , 11. August 1 8 6 0 .

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zusetzen und nichts werde ihn davon abhalten. Angesichts der Kanonen von Dover sei nun dies Schiff „La Reine Hortense", den Sultan an Bord, mit vollstem Ungestüm mitten durch die englische Flotte gefahren, ohne sich um das hundertfache „Stop her!" (Halt ihn auf!) zu kümmern. Dreißig Minuten hätten zur Landung genügt und kühn habe die „Hortense" wieder kehrt gemacht, eine Breitseite den Engländern als Salut vorgefeuert und sei nach Cherbourg abgedampft. „Im Vergleich mit ihrem Kanonendonner hätten die Schüsse der englischen Stückpforten sich ausgenommen, wie das Bellen eines Schoßhundes zu dem Bariton eines Bulldogs." Nun, diese ganze Rodomontade ist von Anfang bis zu Ende Wind. Kein Blatt läßt sich hier die Gelegenheit entgehen, den Artikel abzudrucken. — England befindet sich bekanntlich wieder im Mißverständnis mit dem Kabinett von Madrid. Es besteht ein Übereinkommen, wonach die Batterien von Ceuta, falls ein englisches Schiff in unerlaubter Nähe vorbeifahren sollte, nur blinde Warnungsschüsse, keine Vollkugeln senden sollten. Das Kauffahrtei-Schiff „Mermaid" erhielt einen solchen Warnungsschuß „in Voll" und sank. Die Mannschaft rettete sich in Booten. Die spanische Regierung wendet ein, jener Schuß habe das Schiff gar nicht erreicht, sondern die ganze Affäre sei eine betrügerische Komödie der englischen Mannschaft gewesen, die, um die Assekuranz zu erschwindeln, Auftrag gehabt, das Schiff zu versenken und den Moment so abzupassen, daß die Schuld auf die spanischen Artilleristen von Ceuta geschmuggelt werden könnte. Ein etwas überraschender Einwand; indes, es passieren auch unglaubliche Dinge. Die erste große englische SchiffsAssekuranz-Gesellschaft „Lloyd" hat ein langes Register solcher Betrügereien gebucht; nur dieses Raffinement in dem einzelnen Fall wäre etwas ganz Neues. Die Presse schüttelt den Kopf in moralischer Entrüstung, aber tritt doch sanfter in Worten auf, als sie sonst gegenüber den Schwächeren aufzutreten pflegt. [Nr. 174, 28. 7. 1867]

Der Sultan und die Belgier. Ist kein Derby da? Disraeli lächelt. Mr. Beales und die schiefe Ebene Kandioten und Irokesen p* London, 1. August Die Festwochen sind vorüber und wie die Marktberichte mit Naivetät melden: „Sultan, Vizekönig und Belgier sind fort, das wird man bald an

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den Preisen für Viktualien merken." „Business" (Geschäft) hat wieder begonnen. Das einzige, was uns noch geblieben, sind auf italienische Leierkasten gesetzte türkische Märsche, eine ganz merkwürdige ZickZack-Musik in Baßschlüssel und Fistelwind, und die Konditoren preisen Zitronen-Eis an, als Lieblingsgenuß des Sultans. Die Belgier waren es bereits müde, zugleich mit den Türken fetiert zu werden und „Beaucoup de Sultan" war häufige Redeweise. Da der Empfang des Sultans in London auf Kosten des indischen, bez. muhamedanischen Budgets geschah, so haben teilweise auch die Belgier auf dasselbe Konto ihr Vergnügen gehabt; denn es hatte sich so hübsch gemacht, daß beide Visiten auf dieselben Jahrestage fielen. Wie das indische Budget diesen Aufwand ertragen wird, ist noch fraglich. Erst mühsam ist man dort aus den Defizits herausgekommen und nach Berichten aus dem Innern ist es noch immer nicht möglich geworden, dem Hungertode von Tausenden „aus dem Budget" zu steuern. Die Nutzanwendung, eine ziemlich peinvolle, liegt nahe. Das Oberhaus hat zur Ernüchterung ohnehin beigetragen durch die Amendements im Comite, das über die Reformbill zu Rate sitzt. Die liberalen Blätter bitten Lord Derby flehentlich, seine Gicht loszuwerden, welcher schon die Klausel zugunsten der Aftermieter dem letzten Teile nach zum Opfer gefallen. Bekanntlich verlangt das Comite 15 Pfund Sterl. Aftermiete, anstatt der 10 Pfund, welche im Unterhause als Norm durchgegangen. Es heißt, Lord Derby werde es möglich machen, heute abend im Hause zu erscheinen, andernfalls bittet ihn der „Daily Telegraph", seine Rede zu Papier bringen und von einem Kollegen ablesen zu lassen. Dasselbe Blatt, immer argwöhnisch, behauptet von Disraeli, daß ihm diese Gicht sehr gelegen komme und er mit Vergnügen durch die Zensur des Oberhauses dem Unterhause die Tortur entgelten lasse, der man ihn unterworfen. Ein Reporter will sogar bemerkt haben, wie Disraeli eigentümlich gelächelt habe, als er auf einige Minuten im Oberhause erschien und die Aftermieter-Klausel, wie sie gewesen, zu den gewesenen Dingen geworfen wurde. Diese Korrektur hat eine bedeutende Tragweite, wenn bis zuletzt aufrecht erhalten — über hunderttausend Wähler aus den niederen Ständen werden gelöscht, allein in London. Die schon schlaff hängenden Segel der Reform-Liga haben den neuen Wind aufgefangen, und da ohnehin die Parkbill die Erbitterung dieser Gentlemen vom Bodensatz erregt, so wird die Agitation wieder sich auf die Straße werfen. Mr. Beales, Präsident der Reform-Liga, hat ja schon vor einigen Tagen erklärt, das Volk habe trotz alles Parlamentarismus kein Gesetz gegen sich und müsse die Wanderungen nach den

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Parks fortsetzen: „Will man durchaus einen Krieg der Klasse haben, so laßt ihn kommen, wir werden unsere Pflicht tun!" Auf nächsten Montag ist eine neue Parteidemonstration festgesetzt. Immer der blaue Montag. Beales ist ein Beispiel, wie vom ersten Schritt auf schiefer Ebene an nur eine Bewegung bergab möglich. Er begann als liberaler Gentleman, wurde dann abgesetzter Beamter, ist jetzt Clubbist und wird vielleicht als Jakobiner enden. Hätten wir eine liberale Regierung, wäre noch ein anderes Ende möglich, — ein neues Amt. Mehr als ein Dutzend irischer Agitatoren wurden im Laufe der letzten dreißig Jahre durch Zuwendung eines Amtes gezähmt, das heißt einer reichen Sinekure. Das ist in Irland so bekannt, daß eine Zeitlang es als eine ziemlich sichere Spekulation galt, durch Ennuyieren der Regierung in die Wolle zu kommen. Nur als die Spekulanten zu zahlreich wurden, sperrte man diese Fenierchefs doch lieber ein. Die neue Reform-Agitation kommt übrigens den Parlamentsmännern des Unterhauses sehr ungelegen. Da die veränderte Bill wieder an letzteres zurückgelangt, so müssen die meisten Mitglieder einen Teil ihrer gehofften Ferienzeit opfern und das will etwas heißen, wenn der 12. August so nahe. Mit diesem Tage beginnt die offizielle Jagdzeit in Berg und Moor. Schon am 13. August sind Rebhühner in London und sind zu 2 Tlr. das Bündel von dreien und billiger zu haben. Jeder Parlamentsmann hat seine Flinte schon geputzt und Bright seine Lachsangeln im Stande. Er ist der passionierteste Angler Englands und seine Blätter unterlassen selten, dem Lande mitzuteilen, was er gehakt hat. Alle ehrlichen Liberalen werden heute in Leitartikeln aufgefordert, sofort auf ihren Posten zurückzukehren, „denn man habe mit dem Lande gespielt!" — Es geht das Gerücht, eine Deputation von Candioten werde nach Paris und London kommen. Sie kämen nirgends ungelegener als hier. Wie 1848 den demokratischen Magyarophilen in Deutschland die Deputation der um Rettung ihres Deutschtums bittenden Siebenbürger als die unangenehmsten Gäste erschienen, so würden auch die armen Candioten kaum die kalten Schüsseln vorfinden, welche von den Türkenfesten übriggeblieben. Sehen doch die englischen Konsuln auf der Insel viel weniger als die jeder anderen Nation und jeder Fortschritt Omer Paschahs wird hier mit offenster Befriedigung aufgenommen. — Aus Kanada ist unter Führung eines Freiwilligen-Offiziers eine Gesellschaft von 18 Indianern vom Stamm der Irokesen angekommen; jener Kanadier, „die Europens übertünchte Höflichkeit nicht k e n n e n " 2 0 , wie auf deutschem 20

„Ein Kanadier, der noch Europens/ übertünchte Höflichkeit nicht kannte", aus dem Gedicht „Der Wilde" (1801) von J . G. Seume; vgl. dazu Cecile, 25.

Kap. (HFA I, 2, S. 300), Frau Jenny Treibet, 5. Kap. (HFA I, 4, S. 342).

London, 10. August

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Schul-Actus schon seit Großvaters Zeiten deklamiert worden. Ihre Mission ist, die Engländer ein neues — Ballspiel zu lehren, „La Crosse" genannt. Lord Kanelagh hat ihnen seinen Park eingeräumt zu BeaufortHouse, wie er ihn einst den Reformers zu einem Meeting einräumte, um ihnen den Hyde-Park zu ersetzen. Wo damals in Politik gemacht wurde, gellt jetzt der indianische „Whoop" und Ladies und Genteimen wohnen dem Schauspiel bei. Die Presse bringt ausführliche Beschreibungen und hofft, daß das Spiel „La Crosse" bald ebenso eine nationale Institution werden dürfte, wie das vielgerühmte „Cricket". [Nr. 181, 6. 8. 1867]

Die Minoritätswahlen Brief-Abstimmung. Schluß p::" London, 10. August Die einzige, nicht nur im Namen, sondern auch im Prinzip konservative Klausel ist das Minoritätsvotum in mehreren größeren Städten, das von den Lords beschlossen und den Gemeinen angenommen ist. Freilich sind es nur dreizehn Stimmen, von den Liberalen spöttisch „das Bäcker-Dutzend" genannt; aber von weniger als 13 Voten hat in schweren Stunden im politischen Würfelspiel des reinen Parlamentarismus Gewichtiges abgehangen. Für jene Städte hat die Reformpartei den Namen „dreieckige Wahlflecken" erfunden. Berechtigt, drei Vertreter in das Parlament zu senden, entgeht der liberalen Majorität dieser großen Fabrikstädte dennoch der „dritte M a n n " , der ihnen kurz vorher erst durch das Unterhaus zum Präsent gemacht worden. Kein Wähler darf für mehr als zwei Kandidaten stimmen. So lautete das Amendement des Lord Cairns, und zum Erstaunen der Fortschrittler hat das Unterhaus die Korrektur nicht übelgenommen. Wie gesagt, es ist die einzige gesunde Stelle an der Reformbill, und zum ersten Male ist eine solche Klausel unter die englischen Statuten geraten. Dieser scheinbar kleine Sieg ist von Wichtigkeit, weil er einen Präzedenzfall für die Zukunft feststellt, eine Handhabe bietet, mit der eine fest und ernst gegliederte konservative Partei (sobald wir wieder eine solche besitzen werden) gelegentlich Größeres wird leisten können. Auch die, welche jahrelang über Reform gekanngießert haben, werden derselben nicht mehr froh. Die Bill hat etwas Unenglisches an sich — sie experimentiert gegen die besten Traditionen des Landes. „Wie das wohl ausfallen, wie das enden wird!" sind Redensarten, die tagesläufig geworden. Die unparteiische Partei des „Komforts" im Lande, die

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sich selten erwärmt und welcher die Bequemlichkeit der Alltagsstille über das Prinzip geht, fühlt sich unbehaglich. Sie legte die Hände in den Schoß und ließ den Lärmschlägern des Feld mit Massen-Demonstrationen, ohne auch selbst nur zwei oder drei dürftige Deputationen für das alte Recht zustande zu bringen. Weiter und tiefer sieht kein Wort in die Zukunft Englands, als Lord Ellenboroughs Manifest, wo er prophezeit, „es werde im Laufe der Zeit aufhören, eine gesuchte Ehre für Gentlemen zu sein, von so veränderten Wählerrotten in das Unterhaus geschickt zu werden." Dieser gesellschaftliche Codex vom „Gentleman" ist aber ein mächtiger in England, unübersehbar wie das Wort „Gentleman". Er eignet sich in England zu allem Tüchtigen, nur nicht zum Front-Machen gegen Rohheit. Kommt einmal in das nächste oder zweitnächste Parlament eine gewisse dickbeinige und breitschultrige Kategorie von „Volksvertretern", wie wir sie hin und wieder in Deutschland gekannt haben, so halten die Gentlemen nicht Stand und von Neuwahl zu Neuwahl werden sich weniger Kandidaten aus dem „Range der Gentlemen" um die „Ehre" bewerben. Amerikanisiert kann ein englisches Unterhaus werden, aber nicht jenes Material kann amerikanisiert werden, aus dem es zur Zeit noch besteht. Die Reform-Bewegung wird sich jetzt nur noch in den großen Städten fortsetzen, die je ihren dritten Parlamentsmann an die Minorität abzugeben haben. Immerhin noch ein Haufen Zunder, denn jene Städte sind es überhaupt ja nur gewesen, welche die ReformBewegung in Schwung erhielten, — anderswo trat die Aufregung nur sporadisch auf. Und daß die liberale Partei sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen will, mit dem Kabinett noch ein Hühnchen zu pflücken, ergibt sich aus den in Leitartikeln hingeworfenen Worten mehrerer Journale, wie: „Nun hat die Arbeit von neuem zu beginnen." Die von den Lords beschlossene Klausel über „Wahlzettelwahl" ist im Unterhause mit überaus großer Majorität verworfen. Es stimmten 251 Liberale und 7 Tories dagegen. Was das heißt, in jetziger Saison, wo man schon allenthalben Jagdpulver riecht, ein solches Haus zusammenzubringen, kann man nur schätzen, wenn man den Enthusiasmus für „Ferien" kennt, der jedem Parlamentsmann angeboren scheint. Und er ist nach so schwerer Session auch erklärlith. Die liberale Partei hat den geschicktesten Whipper-in, den sie je gehabt. Früher war es Mr. Brand, jetzt Mr. Glyn, einer der ersten City-Magnaten der Börse, Bankier im größten Stil, der dennoch, wie ihm die liberale Presse anlobt, seine Zeit und seine lohnende Arbeit aufgibt, um als Zusammentrommler der Partei ex officio im Unterhause zu „dienen", — er eine Armee in sich selber und seine Organe Eilboten und Eildroschken, Telegraphisten und Sekretäre. Wie ge-

L o n d o n , 26. August

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schickt sich auch ein auf Vergnügtsein Versessener, und wohin er sich auch verstecken mag, seinen Parteimann findet Glyn immer. Und seinem „ K o m m " entzieht sich selten einer. — Am M o n t a g k o m m t die ReformBill zum zweiten Male an die Lords zurück, mit den vom Unterhause verworfenen Amendements. M a n zweifelt an einer Wiederholung derselben Prozedur, und in diesem Falle sähe der nächste M o n t a g oder Dienstag das „Ende vom Liede". [Nr. 188, 14. 8. 1867]

Rückblick aufs Parlament Gladstone, Bright und Beales p* L o n d o n , 26. August Das Parlament ist geschlossen, die Reform-Akte veröffentlicht. Damit ist diese Bill ein Law of the Land geworden. Neun Folio-Bogen enthalten die Arbeit einer ganzen Session, — eine Arbeit, die andere Reformen ad Calendas Graecas verschoben und sehr dringende wenigstens aus dem parlamentarischen Arbeitsbuche für 1867 gelöscht hat. Sollte übrigens — wozu augenblicklich keine Aussicht vorhanden — aus irgendwelchen G r ü n d e n , die allenfalls in etwaigen Verwickelungen der auswärtigen Politik zu suchen wären, die formellen „Vertagungen" des Unterhauses sich nicht, wie gewöhnlich, bis über N e u j a h r hinaus wiederholen, so kann bei etwaigem Konflikt mit dem Kabinett der Fall von Neuwahlen eintreten, und zwar ohne d a ß die Reform-Akte in allen Punkten Geltung hätte. Das Logis-Wahlrecht kann erst im Laufe des Jahres 1868 beansprucht werden und solch ein Anspruch nur durch den Nachweis z w ö l f m o n a t lichen Wohnens in einem und demselben Logis bei dem „Registrator der Wähler" in Stadt und Land angemeldet werden. Diese „zwölf M o n a t e " dezimieren übrigens die wahlfähigen „möblierten und unmöblierten Herren aus dem Volke" namentlich in großen Städten. Ist schon der Engländer als Hauseigentümer sogar nur Passagier auf G r u n d und Boden, so ist der Hausmieter sehr o f t N o m a d e und der Aftermieter, was Beständigkeit betrifft, schon mehr Zigeuner. Von den 100.000 Aftermietern, welche die Reform-Akte in London zu Wählern machen will, müssen über zwei Dritteile mit der „guten Absicht" der Gesetzgeber sich genügen lassen. Es würden wenig mehr als 25.000 in London zu finden sein, die selbst mit dem Wahlrechte als Lockspeise ihrem Wirte die nötigen zwölf M o n a t e treu bleiben w ü r d e n . Es ließe sich ein amüsantes Feuilleton über dieses Wahlrecht der Schlafstuben und Schlafstellen schreiben.

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Höbe man — wie es in einem englischen Romane geschieht — die Dächer wie Schachtel-Deckel von den Londoner kleinen Familien-Hausständen mit einem oder zwei Fenstern, und von dem täglichen Krieg und Frieden zwischen Wirt und Mieter, und käme nun dazu noch der politische Parteihader auf Treppen-Absatz und in der gemeinsamen Hausküche unter der Erde, so könnte kein farbenreicheres „Genrebild" sich bieten. Vor und um die Wahlzeit würde das vollgepfropfte Londoner Haus von durchschnittlich 6 und 8 Zimmerchen einer zugekorkten Flasche voll widerstrebender Säure verglichen werden können, und an Explosionen wird es bei solcher Gärung nicht fehlen. Die Blätter halten jetzt Revue über die vergangene Session. Jede Partei bestattet ihre Toten und moralisiert über ihre Überläufer und Abtrünnigen. Mit ganz reinen Händen sind aus der langen Bataille nur wenige hervorgegangen. So äußerte die Rechte, welche viel konservativer als Lord Derby, und die u. a. die um der Reformbill aus dem Kabinett geschiedenen Lord Carnarvon, Lord Cranborne im Oberhause und den alten General Peel im Unterhause umfaßt. Ferner gehört dazu ein Teil der Adullamiten, die „echt liberal zu sein" anders verstehen, als das unterschiedslose Gros des Liberalismus. Lowe steht an der Spitze dieses Häufleins. Diese beiden Abteilungen waren im Reformkampf das, was man in der englischen Militärsprache „a forlorn hope" nennt, die „verlorene Hoffnung", die dem letzten Kommando „Freiwillige vor!" gehorcht und gegen die Batterien gestürmt sind, um nichts als die Ehre zu retten. Alle anderen und namentlich die Tories haben einen Kompromiß auf den andern gepfropft und ganze Sitzungen vergeudet, um für ihre Entschuldigung noch Entschuldigungen zu erfinden. Zwei Persönlichkeiten sind aus der Mode gekommen — Bright und Gladstone. Beide waren der Reformbill von Hause aus feindselig, weil sie von den Tories ausging; indessen die immerhin derbere, aber gerade Natur des Demagogen Bright gab dieses Spiegelfechten bald auf. Nur Gladstone setzte es allein fort, als eingefleischter Whig, als einer der letzten Whigs, die noch vorhanden und die alte harte Formel Whig versus Tory nach den ältesten Ausgaben des Parteiwörterbuchs fortsetzen will. Seine letzten Fehden gegen die Bill strotzten von Ärger und Malice und ließen alle seine Fehler des Temperaments in früherer Farbe erscheinen und den Groll über den Verlust jeder Aussicht, bald wieder in Downing Street regieren zu können. Seine eigene Presse hat aufgehört, seinen Namen in jeden Leitartikel zu verflechten, als den eines Mannes, „dem die zehn Gebote auf dem Gesicht geschrieben ständen", und sogar der „Daily Telegraph", der ihm alles verzeiht, hat die Reform-Bill als ein angenehmes fait accompli begrüßt. —

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London, 28. August

Die R e f o r m - L i g u e will die Session mit einem R e f o r m - B a n k e t t abschließen. D i e feierliche R e s o l u t i o n wurde nur gefaßt, da sonst nichts mehr zu fassen übrig geblieben. D a s letzte Agitationsmittel, die Park-Bill, ist vom K a b i n e t t vorläufig „ins T a u b e n l o c h " gesteckt. Dies ist die landesübliche Bezeichnung für gewisse kleine Bureaufächer, in welche man Papiere steckt, die man nicht dringend g e b r a u c h t . D e r „ S t a n d a r d " hofft zwar, d a ß die Bill im nächsten J a h r e wieder, und zwar mit g r ö ß e r e r Energie, vor das H a u s g e b r a c h t werden dürfte; a b e r er k a n n seine H o f f nung nur d a r a u f gründen, d a ß die R e f o r m - L i g u e

bis dahin sich

in

D u m m h e i t e n überbieten und durch wiederholten M i ß b r a u c h des sogenannten

Versammlungsrechtes

im H y d e p a r k

dem K a b i n e t t wie

dem

Unterhause die G a l l e ü b e r s c h ä u m e n machen würde. J e n e R e t i r a d e w a r die letztmögliche des T o r y - K a b i n e t t s am E n d e der Session, und da C o u rage die kleinste Tugend dieses Kabinetts, so wird man auch im nächsten J a h r e sich nicht beeilen, sich wieder mit der Park-Bill offiziell zu befassen. Beates

der D e m a g o g e hat gesiegt; ja er hat bei den letzten Sitzungen

des Unterhauses das M a n ö v e r seiner Parteifreunde im H a u s e von der Galerie aus mimisch geleitet. Es ließ sich voraussehen, d a ß es so k o m m e n würde. M a n h a t t e offiziellerseits in ersterer S a c h e die konservativen Prinzipien übers Knie g e b r o c h e n und k o n n t e daher für etwas Wiese und grüne B ä u m e keine G e f a h r e n ü b e r n e h m e n . [Nr. 202, 30. 8. 1867]

Ein Feldzug gegen Abessinien Ein Vorschlag Karl Blinds ρ* L o n d o n , 2 8 . August M a n hat lange gezögert und erwogen, ehe man sich zum Kriege gegen T h e o d o r u s von Abessinien entschlossen. Tag für Tag brachten die Zeitungen Eingesandts von Reisenden, welche Beschreibungen über die terra ignota an die H a n d g a b e n . A u f telegraphischem Wege erhielten angloindische Offiziere in B o m b a y O r d r e , sich nach jener Küste zu begeben und Untersuchungen über die b e s t m ö g l i c h e M a r s c h r o u t e anzustellen und zwischen Schiffernachrichten und den Schilderungen verlogener Neger die Wahrheit herauszufinden. L a n g e lauteten die Mitteilungen

nieder-

schlagend, um so mehr, da der stärkste Arm Englands — die Flotte — dem Binnenlande nicht b e i k o m m e n k a n n . Blätter, welche es mit den Friedensgesellschaften halten, fahren heute noch fort, dem G e s c h l e c h t e der Unglücksraben den R a n g streitig zu m a c h e n und gegen die Nützlich-

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keit der Befreiung der abessinischen Gefangenen ein Heer von Gefahren in die Waagschale zu werfen. Briefe von gefangenen Missionaren, in ganzer Länge veröffentlicht, geben so viele Details über den blutdürstigen Wahnsinn des Negerkönigs, daß man von vornherein eine Wirkung des an ihn abgegangenen britischen Ultimatums für verloren gibt. So hat die Admiralität Kriegsschiffe von Brasilien nach Bombay abgeordert und hier Befehl gegeben, Transportschiffe von 18.000 Tonnen Gesamtlast fertig zu halten, teils für Truppen, teils für Verpflegung. Bei weitem der größte Teil der Armee wird aus Ostindien abgeholt und wesentlich aus eingebornen Regimentern bestehen, die, an tropisches Klima gewöhnt, es mit der unbeschreiblich feuchten Atmosphäre des dampfenden Habesch aufnehmen können. Man geht hier, wie leicht erklärlich, mit dem Gegenteil von Enthusiasmus an diese leidige Expedition, die, ganz abgesehen von Gefahr, einen starken Zuwachs zur Nationalschuld bringen muß. Die Bergkette von Halai ist diejenige, welche die britische Armee zu überschreiten haben wird, ungefähr 9000 Fuß über dem Meeresspiegel; an einer Stelle wird man sogar eine Höhe von 14.000 Fuß überwältigen müssen. Von Artillerie, ausgenommen kleine Gebirgskanonen, die auf Saumpferden verladen werden, kann keine Rede sein. Übrigens wird der Armee eine Schar von Nichtkombattanten folgen, englische Sportsmen und Naturforscher. Ersteren bemüht sich die Presse in Leitartikeln Appetit zu machen auf Madogua und Bisas, Antilopenbraten und wildes Rindvieh, Hippopotamusse und Honig, Wachteln und rotbeinige Rebhühner. Gewiß sähe man es nicht ungern, wenn man sich in die Gefahr mit dem Alliierten an der Seine teilen könnte. Aber Theodorus hat es merkwürdigerweise vermieden, sich an Franzosen zu vergreifen. Nur Lejean, einem französischen Konsul, der einen Brief Napoleons überbrachte, widerfuhr es, in Ketten geworfen zu werden, weil er mehr als einmal um eine Audienz gebeten. Ein anderer Brief Napoleons machte jedoch soviel Eindruck, daß Lejean binnen vierundzwanzig Stunden das Land verlassen durfte. Seitdem haben Franzosen sich wenig um die Schönheiten jenes Alpenlandes bekümmert, ausgenommen einen jetzt in Birmingham wohnenden französischen Tanzmeister, der die halbe Welt durchreiste, um die schönste Art — Tauben ausfindig zu machen, und diese brachte er, hundert Gefahren entschlüpfend, aus Abessinien. Eins ist übrigens sicher, hat man die Not, so will man auch den Lohn behalten, d. h. die englischen Blätter denken alles Ernstes daran, Abessinien zu behalten und ihm eine englische Regierung zu oktroyieren. Ein Offizier schreibt, man habe nicht viel Widerstand zu erwarten, weil die Abessinier keine starken Leute wären; denn sie hielten ihre Fasten sehr streng

L o n d o n , 14. September

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und zwar an 192 Tagen im Jahre! Das ist ein in England völlig verstandenes, faßbars Argument. — Der „Morning Advertiser" bringt, wie aus den Germanismen des Stils leicht erkennbar, einen Leitartikel aus der Feder Carl Blinds über die Notwenigkeit, angesichts der von Juarez bewilligten Auslieferung der sterblichen Reste des erschossenen Kaisers Max — für Robert Blum ein D e n k m a l auf der Brigittenau zu errichten und ein gleiches zu Ehren Trützscblers und Genossen in M a n n h e i m zu tun. Der Artikel schließt: „Ein Vorschlag dazu ist in diesen Tagen abgegangen. Bewilligung oder Verweigerung k a n n man als einen Prüfstein für die Reife der deutschen öffentlichen Meinung in betreff der Freiheit ansehen." In demselben Artikel wird aufs Wort versichert, d a ß die Preußen in Baden „schlimmer als Albas" 2 1 gehaust und das Land so entvölkert (!) hätten, d a ß noch zwölf Jahre später weniger Einwohner in Baden gewesen wären, als vor dem bewaffneten Einschreiten. Er entnehme das offiziellen Quellen. Und das druckt so ein englisches Blatt o h n e Räuspern ab, ein Blatt, das mehr als einmal Berichte über die starke Auswanderung aus dem südwestlichen Deutschland gebracht, die eine solche „blutdürstige Entvölkerung" auf natürlichstem Wege erklärt. [Nr. 203, 31. 8. 1867]

Die norddeutsche Thronrede Die Presse und Graf Bismarck p:;' L o n d o n , 14. September Jedes Blatt hat die norddeutsche T h r o n r e d e im Wortlaute gebracht und in einem Leitartikel Betrachtungen angestellt. Es scheint, als wenn der englischen Presse, die sich sonst so schwer in das Verständnis deutscher Dinge hineinfindet, seit vorigem Jahre der Blick geklärter geworden. Seit jener Zeit sucht m a n vergebens noch in den Spalten nach den wegwerfenden Spitznamen, welche dem N a m e n Preuße oder Deutscher angehängt wurden, und aus denen sich um die Zeit des Dänenkrieges ein komplettes Lexikon zusammensetzen ließ, w o alles Schimpfwort w u r d e — Interjektion, Adverb und Z e i t w o r t sogar. Das ist jetzt anders, weit anders. Die T h r o n r e d e , wie sie ist, in ihrer einfachen Würde, wäre zu anderer Zeit hier wie eine Lokalangelegenheit angesehen w o r d e n , weil sie sich fast ausschließlich mit den häuslichen Angelegenheiten Nord21

Anspielung auf die G e w a l t h e r r s c h a f t H e r z o g Albas, G e n e r a l k a p i t ä n Philipps II., in den spanischen N i e d e r l a n d e n in den J a h r e n 1567 bis 1573.

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deutschlands beschäftigt. Doch der politische Blick ist auch darin endlich den englischen Organen gekommen. Sie erkennen die Feinheit der Komposition und einzelne verhehlen ihre Bewunderung nicht, den tiefen stattsmännischen Takt erkennend, welcher in Berlin über innere Politik redet und in Karlsruhe über die auswärtige. Man merkt es dem Tone an, daß die Mehrzahl dem französischen Kabinett diesen trefflichen Gegenzug aus dem politischen Schachbrett gönnt. Die ganze Salzburger Affäre, so prophezeit man hier, werde mit einer moralischen Enttäuschung für Frankreich enden. Man spricht hier von Veränderungen der diplomatischen Vertretung Frankreichs bei süddeutschen Höfen, die aus keinem anderen Grunde erfolge, als aus der tiefen Mißstimmung, welche in den Tuilerien darüber herrsche, daß die Stimmung in Süddeutschland sich ganz anders erwiesen, als die vor der Reise eingezogenen Rapporte der diplomatischen Agenten glauben ließen. Dies soll dem Staatsminister Rouher schon eine Epistel zugezogen haben. Ob Tatsache, oder nicht, — es genügt, daß diese Ansichten hier sich so aussprechen, indem sie den Ton des politischen Gemüts verraten. Ein Wiener Korrespondent versichert, jene französischen Rapporteurs, welche nach Paris glänzende Berichte über den „Rachedurst wegen Sadowa" gesendet, bewegten sich nur in den Zirkeln der höchsten Fashion und hätten deren Ausdrücke für die Wünsche des Volkes ausgegeben. Man amüsiert sich hier nicht wenig über das Kreischen der „Epoque" und „Liberte", das, wie der „Daily Telegraph" bemerkt, „den Deutschen lediglich die Überzeugung verstärkt, daß sie den richtigen Weg zum Erfolge eingeschlagen". Auch Herr Fröbel wird einmal in englischer Schrift erwähnt. Man betrachtet seine Idee, einen politischen Kindergarten aus Süddeutschland zu machen, als ein fossiles Kuriosum und erinnert ihn daran, die Mauer nicht zu vergessen, welche Baden zwischen ihm und dem französischen Kinderfreunde aufrichte, — eine Mauer, die von Eisen wäre, sobald neben der badischen Schildwache zu Kehl pommersche Grenadiere ständen. So wird hier gedacht, gesprochen und gedruckt. Während früher die Blätter nicht genug „Gräßlichkeiten" vom Grafen Bismarck zu erzählen wußten, begegnet man jetzt in Übersetzung Skizzen aus seinem Leben, welche deutschen Journalen entnommen. Ein Engländer erzählt folgenden Scherz: Als Graf Bismarck als Schüler sich mit einer Karte Deutschlands beschäftigte und mit der Feder die Grenzen „durchfensterte", fiel ein Tintenklecks gerade auf Berlin. Weil das Papier löschte, vergrößerte sich der Fleck zuerst über Norddeutschland, über den Main hinaus, ergriff einen Teil Belgiens, Lothringen, Elsaß, Süddeutschland, zwei Dritteile

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London, 18. September

der Schweiz, Deutsch-Tirol und eine Hälfte Österreichs. Da rief er aus: „Das ist Preußen!" Diese kleine Geschichte — freilich wird sie erfunden sein — ist unter der Überschrift: „Der Tintenklecks des Grafen Bismarck", hier in die kleinsten belletristischen Blätter übergegangen. Nicht ohne eine gewisse Selbstironie ist ein Doppelblatt von Karikaturen im „Fun", betitelt: „Ein Ultimatum von 1864 und ein Ultimatum von 1867." Ersteres stellt den kleinen Russell im höchsten Zorne dar, wie er mit einer großen Gänsefeder, auf welcher er ein Ultimatum aufgespießt, den Grafen Bismarck im Rücken angreift, während dieser mit süperber Verachtung den Kopf umwendet und sich den kleinen Zeterer ansieht. Das Seitenstück enthält den Kaiser von Abessinien in einer knickbeinigen Positur höchsten Entsetzens, dicht vor der Nase die Spitze eines langen Schwertes, ebenfalls mit einem Ultimatum verziert, gehalten von Lord Stanley, der im feinsten Visitenanzug, den Hut in der Linken, dem Negerfürsten den Denkzettel überreicht. Ein anderes Blatt, der „Tomahawk", von scharfem Tone und mehr der ernsten Illustration zuneigend, brachte zur Zeit der Zusammenkunft von Salzburg eine große ergreifende Aquarelle. Ein stiller Alpen-Weiher, an seinem bergigen Ufer die beiden Kaiser und aus den Wellen steigt das bleiche Haupt des ermordeten Kaisers Maximilian auf, die Augen geschlossen, der Bart mit dem Wasser flutend. Darunter die Inschrift „Ein Märtyrer". [Nr. 218, 18. 9. 1867]

Zur abessinischen Frage. Die Fieschi-Kanone Das Tory-Kabinett und Irland p* London, 18. September Die abessinische Frage ist obenan im Tagesinteresse. Es steht sehr viel auf dem Spiele. In Ostindien blickt man mit Enthusiamus auf die Sache. Englisches prestige ist in jenen Längenbreiten des Orients Lebensfrage für die Anglo-Indier, und käme es nicht zum Kriege, so würde das, was hier als eine große Herzenserleichterung angesehen würde, dort einer Enttäuschung gleichkommen. Die ostindische Presse will sich auch an der Freilassung der Gefangenen, falls sie in der eilften Stunde erfolgte, gar nicht genügen lassen, sondern für die Expedition ein neues Billet schreiben — Kostenersatz für Rüstungen, d. h. Einverleibung usw. Auch die Suezfrage steht dabei am Horizonte. Obgleich wir hier an einer Überfülle von Kapitalien leiden, an der Börse neulich sogar 10 Millionen

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Taler vergeblich zu V/2 Prozent ausgeboten wurden, ohne daß sich ein Borger finden wollte, so knöpft man doch dem elegantesten Französisch der Anleihe-Agenten des Herrn v. Lesseps gegenüber ergrimmt die Tasche zu. — Gewisse Pariser Korrespondenten hiesiger Blätter beschäftigen sich jede Woche mit einem neuen Gerüchte über neuerfundene Schußwaffen, die größtenteils von Kaiser Napoleon erfunden seien. Namentlich der Berichterstatter des „Daily Telegraph" fährt darin emsig fort, obwohl er mehrfach schon Meidingerscher Charakterscherze 2 2 schuldig befunden. Sein Blatt stempelt seine Anspielungen zu Tatsachen und meldet in einem Leitartikel, daß preußische Offiziere, als Bauern verkleidet, gewisse „versteckt gehaltene" Schießstände bei Meudon umschlichen und Artilleristen berauscht zu machen versuchten!! Die neue Kanone sei eine verbesserte Höllenmaschine nach der Konstruktion Fieschi. „T)och die neue Maschine wird uns kaum Harm antun. Wenn es sich um Erfinden handelt, so können wir ein Dutzend Big Wills und Swamp-Angels erfinden in einer Woche; aber wie wir auf Franzosen blikken und Franzosen auf uns, so ziehen wir es vor, Rechnungen zu erfinden, Packetbriefe, gedruckten Kattun, Messer und Gabeln und Topfgeschirre im Austausch für articles de Paris und Bordeaux-Weine." Jedenfalls ist es der neuen französischen Höllenmaschine bis jetzt noch nicht gelungen, eine solche Sensation in englischen Gemütern hervorzubringen, wie das preußische Zündnadelgewehr, wenn auch das Späßemachen in Leitartikeln durchaus nicht von Herzen kommt. Die Antipathie zwischen einem Alt-Pommern und Franzosen ist noch um verschiedene Grade sanfter als der tief im Innern verborgene alte Groll des Briten gegen den in Eisenwirtschaft mit ihm rivalisierenden Alliierten an der Seine. Jede neue Erfindung drüben, jeder neue Panzerkiel zu Cherbourg macht den alten Zunder aufglimmen. — Das Tory-Kabinett ist das erste seit langer Zeit, welches sich in Irland Sympathien erwirbt durch eine hierzulande seltene Unparteilichkeit. Nachdem es die Fenier gezüchtigt, wird den schlimmen Ausschreitungen der Orangisten gegenüber der Arm des Gesetzes in Aktion gesetzt. Dieselben erfreuten sich seit einem halben Menschenalter einer gewissen Straflosigkeit, obwohl längst statutenmäßig als ungesetzliche Verbindung verpönt. Im Norden Irlands hat das energische Einschreiten gegen eine große Anzahl Unfugstifter aus den 22

Soviel wie „altbekannte Anekdoten" nach J. V. Meidinger, seit 1783 den Schülergenerationen durch seine Praktische Grammatik der franzosischen Sprache bekannt, vor allem durch den dazu herausgegebenen Textband Aus-

erlesene

Histörchen.

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London, 24 Oktober

Reihen bewaffneter Banden und Prozessionen ein großes Erstaunen hervorgerufen; unter der katholischen Bevölkerung aber werden dadurch moralische Sympathien erobert. Irland leidet nicht nur an kranken Gesetzen, sondern an fahrlässiger Ausführung der besten zu seinem Schaden. Man macht sich davon im Auslande kaum eine Vorstellung. Das irische Ehegesetz ζ. B. ist ein Monstrum der beleidigendsten Art. 2 3 Ein Protestant, der in Irland eine Katholikin ehelicht, sich aber bei der Trauung für einen Katholiken ausgibt, kann seine Frau jederzeit verlassen und eine neue Ehe eingehen, ohne weder für die Lüge am Altar, noch wegen Bigamie später belangt zu werden. Und an solche Ungeheuerlichkeit hat noch nie ein auf seine Freisinnigkeit pochendes Parlament auch nur die verbessernde Hand gelegt. Vor kurzem fand die Londoner Polizei eine Bettlerin mit vier Kindern spät zur Nacht auf den Treppenstufen eines schönen Hauses kauern. Es stellte sich heraus, daß drinnen ihr angetrauter Gatte mit seiner neuen Frau im Wohlstand lebte. Sie, als Irländerin, darbt mit ihren Kindern. Nachdem er ihr Vermögen vergeudet, benutzte er das gesetzliche Schlupfloch und annullierte seine Ehe nach Belieben. Kann ein herzhaftes und religiöses Volk tiefer beleidigt werden? Solcher Brandmale in der parlamentarischen Gesetzgebung für Irland gibt es mehrere und sie erklären vieles an der Unruhe des Landes. (Nr. 2 2 1 , 2 1 . 9. 1 8 6 7 ]

Das Feniergespenst. Der Prozeß gegen Groves Die „Hartschwörer". Prozeß Roeder P* London, 24 Oktober Gegen die Fenierfurcht scheint sich endlich eine Reaktion hervorzuarbeiten. Die Leute in Northumberland und anderen Grenzgrafschaften diesseit und jenseit des Tweed sind höchlichst erstaunt über die Warnungen, welche ihnen von London zugesandt werden. Man hat den in einem sicheren Versteck gebrachten Karabinern der Miliz die Feuerschlösser abgeschraubt, um sie für die Fenier unbrauchbar zu machen, fast alle Zeughäuser der freiwilligen Schützen ausgeräumt und zum Erstaunen der Einwohner an zwei Orten sogar zwei geladene Kanonen vor den ausgeleerten Waffendepots aufgestellt. Eingesandts, unterzeichnet „ein 23

Vgl. dazu den Fall Yelverton, erörtert in K K L o n d o n , 9. M ä r z 1 8 6 1 , 18. Juli 1 8 6 2 u. 17. August 1 8 6 4 .

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Militär-Mann" oder „ein Rifleman", fragen, ob sie mit Knüppeln oder Spazierstöcken exerzieren sollen? In beiden Korps ist die gereizte Stimmung nicht gering. Es liegt außer Zweifel, daß man nicht den geringsten Verdacht gegen ihre Loyalität hegt; aber man vermeidet den Schein nicht. Man ließ die Mannschaften ihre Waffen zuerst nach Hause nehmen, forderte sie dann aber zurück und stapelte sie in Kastellen auf. Wären in der Tat Fenier dort (in den Grenzgrafschaften) in besorgniserregender Anzahl vorhanden, so würde Stadt und Land dadurch gerade seiner Beschützer beraubt, indem man nur wenige reguläre Truppen für jene Provinzen entbehren kann, seit Liverpool, der eigentliche Herd des Fenismus zur Zeit an beiden Seiten des irischen Kanals, Regimenter über Regimenter fordert. Zwischen Liverpool, Manchester, Birmingham und Sheffield wohnen Irländer zu Hunderttausenden, und Liverpool, wie Sheffield haben im allgemeinen sich einen sehr üblen Ruf erworben, was ihre aus allen drei Nationen gemischte Arbeiter-Bevölkerung angeht. Im Norden, an der Grenze ist hingegen alles still und die Aldermen von sieben Städten von Northumberland haben gestern der Regierung alle Revolver und krummen Säbel als unnötig zurückgestellt, welche ihnen zur Selbstbewaffnung einige Tage zuvor überschickt waren. Hat man für den Winter einen Ausbruch zu fürchten, so erfolgt er, einige sporadische Krawalle in anderen Distrikten abgerechnet, ohne Zweifel in Lancashire und Cheshire und im Osten und Südosten Londons, in Greenwich, Blackheath und Deptford. Namentlich wimmelt es an letzterem Orte von arbeitslosen Irländern zu Tausenden. Aber die ganze Presse des Nordens protestiert Tag für Tag gegen die dort getroffenen Maßregeln und das größte Blatt von Newcastle bezeichnet es als einer großen und einigen Nation unwürdig, so mit grundlosem Alarm Parade zu machen. Ein einziger anonymer Brief, der irgendeinem kleinen Mayor im Süden Englands zugeht, genügt, um ihn zu einer schleunigen Depesche an das Kriegsministerium in London zu veranlassen, und unaufhörlich haben einzelne Kompanien Soldaten hin- und herzureisen, um irgendeinem entsetzten Stadtvater „aus seinem bösen Traum zu helfen". Fast aller „fenische Alarm", der täglich in den Blättern eine besondere Rubrik erhält, löst sich in Gerüchte, Mißverständnisse und anonyme Denunziationen auf. Dasselbe gilt von dem Prozeß gegen den vermeintlichen Fenier Groves in London, indem die einzige Belastungszeugin von Wichtigkeit selbst von dem Advokaten der Anklage als unglaubwürdig verworfen wird, da sie zu den gefährlichen Weibern gehöre, die einen ausgesetzten Denunziantenpreis „eben um jeden Preis gewinnen wollen". Übrigens

London, 9. November

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beschränkt sich dergleichen nicht auf „gefährliche Weiber". Was man in England „hart schwören" nennt, ist ein nicht ungewöhnliches Vorkommnis, befördert durch die Milde der Richter. Es kommt öfters vor, daß der Richter einem Zeugen, der in eklatanter Weise widerlegt worden, die Warnung gibt: „Du hast jedenfalls falsch geschworen und ich könnte dich strafen, wenn der Beschädigte dich dieserhalb anklagen sollte." Von der oben erwähnten Zeugin im Prozeß Groves ist erwiesen, daß sie schon bei zwei anderen Gelegenheiten, wo eine öffentliche Belohnung in Aussicht gestellt wurde, mit ähnlichen sehr detaillierten Zeugenaussagen ihr Glück versuchte. Diesmal wurde sie beim Verlassen des Verhörzimmers nur mit Mühe der Erbitterung des Volkes entzogen, welches zu Hunderten den Cab, in welchem sie unter polizeilichem Schutz das Weite suchte, auf Meilenweite mit wütendem Geschrei verfolgte. Groves wurde von der Anklage des Mordes schon im ersten Stadium der Untersuchung entbunden, und es wurde ihm seine Freilassung gegen Bürgschaftsleistung zugesichert, indem eine Anklage wegen Realinjurien gegen ihn reserviert werde. — Auch in einem zu Woolwich schwebenden Mordprozeß gegen einen deutschen Bäcker Ernst Koeder spielt eine Zeugin eine verdächtige Rolle. Sie hatte schon früher gedroht, den Genannten an den Galgen zu bringen und sich als Augenzeugin der Tat, der Tötung eines Kindes, freiwillig gemeldet. Sie wollte dem Verbrechen durch ein Schlüsselloch zugesehen haben, indessen stellt sich vor dem Coroner heraus, daß von jenem Schlüsselloch aus kein Teil des Zimmers übersehen werden kann. Der deutsche Rechtsschutzverein hat sich Roeders angenommen, und da keine andere Aussage, als die erwähnte, als belastend vorliegt, außerdem eine Menge moralischer Entlastungszeugen erschienen, so wird seine Freilassung als außer Zweifel stehend betrachtet. [Nr. 255, 31. 10. 1867]

Die verurteilten Fenier Beilegung des Prozesses Baron Beust p!:" London, 9. November Man begegnet überall der Frage: „Was werden wir mit den zum Tode verurteilten Feniern anfangen?" Es deutet dies auf Zweifel daran, daß das Todesurteil zur Ausführung kommen werde. Da auf allen, dem Führer jener Rotte, welche Kelly und Deasey gewaltsam befreiten, den Zeu-

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Trial o f the Fenians at M a n c h e s t e r : T h e Special C o m m i s s i o n in the Assize C o u r t h o u s e

genaussagen zufolge, die persönlichste Schuld fällt, vermutet man eine Umänderung der Sentenz mit Ausnahme dieses einen. Andererseits werden auch zu seinen Gunsten in den irischen Stadtbezirken Englands Petitionen in Umlauf gesetzt, welche als Hauptmotiv für die Begnadigung seine Jugend hervorheben. Im Polizeiregister als neunzehnjährig aufgeführt, hat er dennoch dieses Alter noch nicht vollendet und wird als von jüngerem Aussehen beschrieben, denn das eines Sechzehnjährigen. Es scheint übrigens eine irrige Annahme zu sein, daß die amerikanische Regierung irgendwelche Schritte getan, um für diejenigen unter den Gefangenen, welche zugleich amerikanische Bürger sind, eine Art privilegierter Stellung zu beanspruchen. Bisher fand hier gerade das Gegenteil statt. Der amerikanische Gesandte Adams hatte vielmehr die an ihn von einzelnen gerichteten Gesuche, daß ihnen mangels eigener Mittel, als amerikanischen Bürgern, ein Verteidiger von der Gesandtschaft designiert werden möge, mit zwei Ausnahmen ignoriert. Ebensowenig hat derselbe ein Fürwort für den Amerikaner Colonel Warren eingelegt, über welchen soeben zu Dublin das Schuldig gesprochen, und welchem die von ihm begehrte Einsetzung einer gemischten Jury, zur Hälfte aus Irländern, zur andern Hälfte aus Amerikanern bestehend, auf Grund des Ausnahmezustandes verweigert wurde. Wie verlautet, sind von Irländern

London, 9. November

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Schreiben an ihre Landsleute jenseit des Ozeans ergangen, die Aufforderung enthaltend, ohne Verzug auf die Exekutive und Legislative dahin wirken zu lassen, daß von dort Instruktionen an den amerikanischen Gesandten in London ergehen möchten, um jetzt für die „amerikanischen Irländer" Begnadigung zu erwirken. Da „Regierung" wie „Opposition" dort den Gewinn irischer Wahlstimmen nicht als eine Kleinigkeit betrachten dürfen, so ist es sehr wahrscheinlich, daß eine solche Vorstellung nicht ganz erfolglos ausfallen wird. In England wohnende Amerikaner haben sich angeblich bereits an Mr. Adams in dieser Beziehung gewendet und den Ton darauf gelegt, daß die englische Regierung sich kaum unwillfährig erweisen könne angesichts der energischen Loyalität, mit welcher die amerikanischen Zivil- und Militärbehörden an der kanadischen Grenze es sich angelegen sein lassen, jeder Wiederholung eines fenischen Einfalles vorzubeugen. Dies ist allerdings von der englischen Presse wiederholentlich und mit wärmsten Ausdrücken anerkannt worden. Heute früh ist übrigens Ordre von London nach Manchester ergangen, die fernere Untersuchung gegen 15—17 andere ebenfalls des „konstruktiven Mordes" angeklagte Fenier fallen zu lassen. Richter und Advokaten kehrten sofort hierher zurück, nicht minder überrascht als das Publikum über den Zusammenfall des außerordentlich großen Gerichtsapparats. Der totale Freispruch der zweiten Serie von Gefangenen von der Schuld des nur im englischen Statut existierenden „konstruktiven Mordes" hat den Anlaß gegeben, von ferneren Verdikten Abstand zu nehmen, die bei der dritten und vierten Serie der Mindergravierten ebenfalls hätte auf Freispruch lauten müssen. Ohnehin werden bereits zwei der ersten fünf Verdikte, welche Todesurteile zur Folge hatten, als irrige bezeichnet. In dem einen Falle ergeben sich die Beweise für ein „Alibi" so stark, daß ein von zwanzig Reporters und Stenographen der Presse unterzeichnetes Begnadigungsgesuch an den Minister des Innern abgegangen ist und drei andere Petitionen folgten. — Mit großem Bangen sieht man hier ausführlichen Mitteilungen über den Orkan von St. Thomas entgegen. Es verlautet, daß unter den 60 vernichteten Kauffahrteischiffen über zwei Dritteile zur englischen Flagge gehören. Zahlreiche Fallissements werden als unabwendbare Folge der Katastrophe bezeichnet, die nur von dem früheren Sturm auf den Antillen an grausiger Gewalt übertroffen wurde. — Baron Beust hat bei seinem jüngsten Hiersein kein Hehl aus einem gewissen Gefühle der Enttäuschung gemacht, das sich ihm durch die verschwiegene, reservierte Haltung der englischen Staatsmänner aufgedrängt habe. Engländer erklären dies einfach mit der

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Antwort: „Wir vermissen in der neueren napoleonischen Politik jeden Gedanken einer Stabilität und engagieren uns deshalb in keiner Weise weder direkt noch indirekt der Unberechenbarkeit gegenüber." Mehrere Blätter und namentlich die „Pallmall-Gazette", die fast immer über alle Dinge, die zwischen Paris und Wien passieren, leidlich gut orientiert ist, spricht dasselbe in unumwundener Sprache aus. [Nr. 266, 13. 11. 1867]

Zur Konferenzfrage. Fenierschrecken Drohbriefe. Das Elend in Ost-London p* London, 16. November In der Presse wird keine einzige Stimme laut, welche der französischen Einladung zu einer Konferenz über die römische Schwierigkeit irgendeine praktische Bedeutung beilegt, wenn auch nicht alle so offen mit der Sprache heraustreten, als der toryistische „Standard". Dieser erklärt unverblümt, er halte das Konferenz-Manöver lediglich für eine „Finte", darauf berechnet, für eine längere Okkupation römischen Territoriums durch französische Truppen einen schicklichen Vorwand abzugeben. Man vernimmt in den großen Clubs, daß in diesen Tagen eine englische Beantwortung des französischen Einladungs-Zirkulars nach Paris abgehen werde, und zwar weder Ja, noch Nein unumwunden, obwohl die Antwort praktisch einer höflichen Ablehnung gleichkommen würde. Die Bedingung, unter welcher England eine Konferenz ersprießlich halten könne, läge völlig außer dem Bereiche nächster Möglichkeit — nämlich eine bestimmte Grundlage für die Beratungen, die sonst wiederum ohne Beteiligung eines Vertreters des Papstes zu nichts anderem, als einem zeitweiligen Kompromiß führen könnten. Zu solchem bloßen Hinausschieben neuer Verwickelungen auf italienischem Boden wolle England keine Hand bieten. Die Times weist ebenfalls auf eine solche Antwort hin und die liberalen Blätter warnen vor einem neuen Schritte, der irgendwie zu ähnlichen Garantien führen könne, wie die in Sachen Luxemburgs geleistete. „Es sei daran genug, einmal den Sprung ins Blaue getan zu haben." — Die Abendblätter „Express" und „Globe" fahren fort, Tag für Tag kleine Alarmartikel aus Italien zu bringen, denen man unter einem anderen Kabinett eine gewisse offiziöse Intention zuschreiben würde. Doch zur Zeit kann dieses wiederholte Hämmern auf denselben Nagel eben nur den finanziellen Interessen der stark in Spekulationen

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engagierten Eigentümer beider Journale zugemessen werden. Der „ G l o b e " riecht bereits den Brandschaden einer sofort ausbrechenden Revolution voraus und legt den Ton darauf, daß, seitdem Rattazzi sich der Linken angeschlossen, das Kabinett Menabrea nicht mehr auf Gnade zu rechnen habe. Die erste Publikation des neuesten Manifestes Mazzinis erfolgte im „Morning Advertiser" als originales Eingesandt. Dieses Blatt macht es möglich, einen scharf ausgeprägten kirchlichen Konservatismus für England mit Sympathie für alles, was außerhalb Englands die Welt in Brand setzen kann, zu vereinigen. — Es werden augenscheinlich Versuche gemacht, eine neue Fenier-Panik zu etablieren. Die wahnsinnigsten Gerüchte fliegen von Mund zu Mund und finden Glauben. Kelly, „fenischer Kapitän", laut Patent der irischen Republik, soll es darnach abgelehnt haben, seinem befreiten Mitflüchtlinge nach Amerika zu folgen. Er habe eine Pflicht gegen die eigentlich seinetwegen zum Tode verurteilten Fenier zu erfüllen, und wie der „Cork Herald" mitteilt, verweile er noch in England, um mit 1000 „auserlesenen Feniern" in Stadt und Dorf mit griechischem Feuer Brand zu stiften, falls Allen und Genossen, seinen Befreiern, ein Haar gekrümmt werden sollte. (Nach andern Berichten ist Kelly in Belgien. D. Red.) Deasy, den sichern Port vorziehend, habe sich durch seine Flucht nach Amerika schweren Undanks schuldig gemacht, da er nicht die Hand zu solchem Rachewerk bieten wolle. Drohbriefe sind nun eine „Epidemie" in Irland zu allen Zeiten gewesen, wenn es sich um Opposition gegen die herrschende Rasse der Sassenach gehandelt hat. Die katholische irische Presse bezeichnet im allgemeinen jene Drohbriefe als Machwerk der Orangisten, welche damit die Hinrichtung der Verurteilten von Manchester mehr und mehr als eine politische Notwendigkeit darstellen wollten. Dennoch bleibt es wahrscheinlich, man werde Gnade für Recht ergehen lassen. Einigen Anhalt gibt in solchen Justizangelegenheiten sehr oft die Haltung der Times. Sonst nicht zu milder Denkungsart 2 4 geneigt, schließt sie ein längeres Raisonnement über die Verurteilten von Manchester mit der Bemerkung, „das Publikum möge die Entscheidung über Tod und Leben in dieser Frage ganz der ,Weisheit und Humanität der Regierung' überlassen". Zu anderer Zeit, wenn die Times Leben forderte, fand sie härtere Sprache. — Es ist dies alles das Thema des Tages und wird lebhafter diskutiert, als die auswärtige Politik und der heimische Pauperismus im Osten Londons, wo fast eine Million Menschen sich dem Zustande der Nahrungslosigkeit 24

Vgl. Anm. zu Κ L o n d o n , 2 4 . J u n i 1 8 6 5 .

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von Woche zu Woche nähert. Es heißt, die Regierung werde im Unterhause schon in den ersten Tagen nach dessen Zusammentritt eine Änderung in der jüngst beschlossenen neuen Straßenordnung Londons beantragen. Es handelt sich ganz unumwunden darum, ob 5 0 . 0 0 0 Hausierer verhungern, ins Arbeitshaus gehen oder stehlen sollen. Parlamentsmänner versichern, man habe die Tragweite gewisser Paragraphen jener Bill nicht vorbedacht. „Wie? (ruft ein Blatt) Ihr Weisen des Parlamentarismus wußtet nicht einmal, was in Eurer Hauptstadt sich zuträgt, und wollet über das Wohl und Wehe des fernen Indiens Eure halbverschlafenen Voten geben?" [Nr. 273, 21. 11. 1867]

Die Wurzel des Übels Reform des Schulwesens p* London, 2. Dezember Lord Russell hat in der Tat Gelegenheit, seinen Namen in England in einer Weise zu verewigen, wie wenige Staatsmänner vor ihm. Er berührt die Wurzel aller Gebrechen sozialen Charakters, den Mangel an Erziehung in diesem Lande und tut jetzt den ersten Schritt zu einer Reform, für die ihm das offene Buch des Volkslebens das reichhaltigste Material bieten mußte. Das auf die Spitze getriebene Selfgovernment hat im Armenwesen unter grauenvollen Verhältnissen Bankerutt gemacht und die mit dem „Gelderwerben" verbundene Engherzigkeit und Gewissenlosigkeit hat zu solchen Resultaten geführt, daß auch diejenigen, die der Theorie des Selfgovernment huldigen, (welches beim Yankee sich in die Phrase „I shall do as I d-n please!" „Ich werde tun, was mir beliebt!" übersetzt) nunmehr dazu getrieben sind, in der Einführung des Schulzwanges den einzigen Hebel anzusetzen, der wenigstens die kommende Generation bessern helfen soll. Freilich wird der Schritt nicht sogleich getan; aber was geschehen soll, ist nur ein Übergang. Was jetzt dazu treibt, dem Übel auf den Leib zu gehen, ist die politische und soziale Notwendigkeit, welche durch die Reform-Bill allen Denkenden aufgezwungen worden ist. Es erhalten Elemente Einfluß auf Parlament und Regierung, die nicht nur schmutzige Stiefel, sondern auch leider schmutzige Gesinnungen in den Rat der Quiriten mitbringen würden. Seit Ende der Sommersaison ist es demnach das T h e m a fast aller Ferienreden hervorragender Parlamentsmänner gewesen, daß das „Material für die Zuk u n f t " auf die künftige Verantwortlichkeit vorbereitet werden müsse.

L o n d o n , 2. Dezember

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Disraeli hat das Thema in Edinburg aufgenommen, der energische Lowe, der konservativste Politiker, den wir zur Zeit besitzen, obwohl er sich zu den Liberalen zählt, bringt für die Debatte seine ganze Erfahrung mit, zu deren Erreichung ihm sein früheres Amt als Direktor des Unterrichtswesens Gelegenheit geboten, und Lord Russell hat jüngst Irland zu dem Zweck bereist, um über das irische Schul- und Unterrichtswesen Notizen zu sammeln. Irland hat die verhältnismäßig besten Schulen und trotz aller Rebellionsintrigen gibt es den Kriminalgerichten sehr wenig zu tun. Russell geht in seinen vor das Parlament gebrachten Vorschlägen auf das Fundament der Frage. Die erste Resolution erklärt die Notwendigkeit einer „Verbesserung und Ausdehnung der Erziehung der arbeitenden Klassen". Es kommt darin der Satz vor: „Jedes Kind hat ein Recht auf den Segen einer Erziehung und es ist Staats-Pflicht, dieses Recht zu schützen und aufrechtzuerhalten." Ferner: „Die Heranziehung der Jugend zur Arbeit darf dieselbe nicht der Erziehung berauben." Die zweite Resolution behandelt das „Wie" der Praxis. Es wird an die Regierung die Aufforderung gestellt, mit dem Parlamente gemeinsam dadurch zur Besserung der Mittelklassen-Erziehung beizutragen, daß eine Revision der durch Wohltätigkeitsvermächtnisse etablierten Unterrichtsanstalten den vielen großen Mißbräuchen, die sich dort eingeschlichen, ein Ende mache. Die Zustände in den sogenannten „Grammar-Schools" sind haarsträubende für jedes Gewissen, nicht nur für das des Philologen. Fabrikmäßiger Schlendrian ohne jede Erziehung im eigentlichen tieferen Sinne des Worts ist Tagesordnung. Hierüber ist ein besonderer Rapport ausgearbeitet, der in Bälde direkt an die Königin gesandt werden soll und Enthüllungen über schamlose Mißverwaltung der kolossalen Summen enthalten wird, welche die Dotation zahlloser Schulen ersten und zweiten Ranges ausmachen. Die dritte Resolution begehrt eine vermehrte Nutzbarmachung der Landes-Universitäten Oxford und Cambridge, erfordert aber eine so große „Delikatesse" in der Behandlung, daß Lord Russell zur Behandlung des Falles die Einsetzung einer besonderen Königlichen Kommission vorschlägt. Die vierte Resolution begehrt eine Neuerung, die Einrichtung eines besonderen Ministers der Krone für das Unterrichtswesen, mit Sitz und Stimme im Kabinett, als heilsam für das Wohlergehen des Landes. Politische Parteistellungen und religiöse Fragen werden nur durch den Universitätsparagraphen mehr oder weniger direkt berührt. Es herrscht übrigens die Ansicht vor, daß es zwar zu einer genauen Besprechung des Themas in beiden Häusern kommen wird (zunächst in dem Hause der Lords), aber eine Realisierung, ja nur eine

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entscheidende Abstimmung längere Zeit erfordern werde als die Durchsetzung der Reformbill. Handelte es sich um Palliative, der Erfolg wäre ein schleunigerer; aber der Hebel ist tief angelegt und greift in sehr alte Fundamente hinein. (Wie schon mittlerweile berichtet, hat das Haus der Lords nach kurzer Debatte die Anträge Russells in der milderen Form der Bejahung der „Vorfrage" verworfen. Wie es heißt, sollen sie später von anderer Seite im Unterhause eingebracht werden. D. Red.) [Nr. 2 9 0 , 1 1 . 12. 1 8 6 7 ]

Die schwindende Betäubung Vorschläge zu Friede und Versöhnung Londoner Nebel p* London, 26 Dezember Die große Betäubung — und eine solche war es im vollsten Sinne des Wortes, welche dem Explosions-Attentat der Fenier 25 folgte — und die damit verbundene Lähmung beginnt zu schwinden. Es lag 48 Stunden lang in der Macht der Presse, unmittelbar nach dem entsetzlichen Trauerspiel einen Rassenkampf zu entzünden, wäre sie damals ihrer gewöhnlichen Neigung zur Auftragung eines starken Kolorits gefolgt. Aber die Times gaben den Ton zu einer maßvolleren, ruhigen Betrachtung, und es muß dem größeren Teil der Presse zur Ehre nachgesagt werden, daß sie der starken Verlockung widerstanden. Die in London lebenden Irländer können das nie genug anerkennen. Die Presse hat sogar mehr getan. Indem sie den Racheruf, welcher sich tausendfach bereits kundgab, beruhigte, hat sie von Tag zu Tag mehr und mehr den Nachdruck darauf gelegt, daß das Übel nur in Irland kuriert werden könne und daß in großherzigem Vergessen gegenseitiger Unbill der „Moment tiefer Demütigung vor den Augen Europas" von der angelsächsischen und keltischen Rasse zu einer Versöhnung benutzt werden müsse. So schreibt der „Spectator" — und die von ihm ausgesprochene Ansicht hat zur Zeit Aussicht, populär zu werden: „... Die Zeit der Milde, dem Fenismus gegenüber, ist vorüber; die Zeit der Erbitterung gegen Irländer muß niemals kommen. Nichts geht über eine ruhige, stetige, aber unermüdliche Ausübung von Gerechtigkeit, um eine Opposition zu beseitigen. Mit 23 Millionen auf ihrer Seite hat die Regierung volle Gelegenheit und Muße, eine solche 25

Vgl. Die P u l v e r - E x p l o s i o n in C l e r k e n w e l l , in: N r . 2 9 5 , 1 7 . 1 2 . 1 8 6 7 .

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Politik durchzuführen. Außerdem ist dies gerade die Zeit, alles zu einer Aussöhnung mit Irland zu tun. Es gibt ja kein edleres Schauspiel, als ein herrschendes Volk mit einer Hand ruhige und strenge Herrschaft ausüben zu sehen, während es mit der andern die letzten Überreste des ungleichen Rechtes, die letzten Spuren von Unduldsamkeit, die letzten durch unterschiedene Rasse und Religion hervorgerufenen Klagen beseitigt." Ein anderes Blatt sagt: „Die größte Schwierigkeit besteht darin, die Irländer zu veranlassen, endlich an unseren guten Willen zu glauben, nachdem wir ihnen seit einem Jahrhundert so viele Versprechungen gebrochen haben, und selbst, wo wir den Schein angenommen, dies oder das beseitigen zu wollen, mehr als ein Menschenalter haben verstreichen lassen, ohne einen einzigen andern Schritt dafür zu tun, als regelmäßig fruchtlos endende Parlamentsdebatten zu buchen." Wie die Stimmung sich geändert, beweist der Umstand, daß mehrere Blätter (was sie noch vor 14 Tagen als eine lächerliche Arroganz behandelten) nachstehende erstaunliche Vorschläge des Publizisten Goldtvin Smith nicht nur kopieren, sondern als der Erwägung wert bezeichnen. Smith begehrt obenan periodische Residenz des Königlichen Hofes in Dublin, um dem Absentismus, d. h. der Übersiedelung aller Familien von Rang nach London, die seit der Union 1801 Irland jährlich 5 Mill. Lstr. in England verzehrter Privateinkünfte entzogen, teilweise ein Ende zu machen und dem loyalen Teile der Bevölkerung zu zeigen, daß man sie ebenso wert hält, als die Untertanen der anderen Schwester-Königreiche. Ferner — etwa alle drei Jahre — ein gemeinsames Parlament in Dublin abzuhalten, damit die Zustände Irlands den englischen und schottischen Mitgliedern näher unter die Augen geführt würden, als bisher geschehen sei. Endlich ein lokales Selfgovernment herzustellen. „Ich meine damit nicht, eine Parlamentsmacht für ganz Irland einzusetzen; denn die Nordostprovinz, das protestantische halbschottische Ulster, ist in sich selbst ein von den anderen drei Provinzen weit verschiedenes Land. Ich würde jeder Provinz einen eigenen Landtag geben und jedem legislative Befugnisse zumessen (natürlich der Suprematie des großen gemeinsamen britischen Parlaments unterworfen). Jene Landtage sollen über alle Dinge entscheiden, welche die politische und legale Einheit des Reiches nicht tangieren, als ζ. B. lokale Erziehungsverhältnisse usw. Diese Landtage müßten aus Wahlen hervorgehen, und zwar aus denselben Wahllisten, welche nach der Reformakte für das große Parlament in London aufgestellt zu werden pflegen." Damit werde einer, die Besonderheiten von Rasse und Religion unterdrückenden parlamentarischen Gesamtnivellie-

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