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German Pages 908 [922] Year 1861

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Table of contents :
Vorrede
Inhalts-Verzeichniß des ersten und zweiten Heftes
Ueber die Rechtsparömie: I. „Kauf bricht Miethe". Eine vergleichende Darstellung der betreffenden Grundsätze des Römischen, gemeinen Deutschen und des Preuß. Allgemeinen Land-Rechts
II. Haben die Hypothekengläubiger als solche einen Anspruch auf die Feuerversicherungsgelder, und wie würde eventuell das in Rede stehende Rechtsverhältniß im Wege der Gesetzgebung am angemessensten zu regeln sein?
III. In wie weit kann nach kanonischem Rechte und nach Französischem Civilrechte eine Ehe wegen Irrthums in der Person angefochten werden?
IV. Ueber die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen. Kann ein geistliches Gericht in Preußen noch auf separatio quoad thorum et mensam erkennen, und welche Wirkung hat ein solches Urtheil?
V. Ueber die genera et formulae actionum des Römischen Rechts und deren Anwendung auf das Prozeßverfahren in Preußen
VI. Interpretation der lex 43 Dig. de usuris (XXII, 1). Wie ist der darin erwähnte Fall nach den Grundsätzen des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu entscheiden?
VII. Ueber die Bestrafung des verbrecherischen Versuchs
VIII. Referat in einer Nichtigkeitsbeschwerdesache
IX. Ueber das beneficium inventarii. Allgemeines Landrecht Th. I. Tit. 9. §. 427
Front matter 2
Inhalts-Verzeichniß
X. Entsteht auch aus einem Vertragsverhältniß, bei welchem die gesetzlich vorgeschriebene Form nicht beobachtet worden ist, eine active und passive Correal-Obligation?
XI. Beurtheilende Vergleichung der in §8. 517—523 Titel 20 Theil II. des Allgemeinen Landrechts und im 8.41 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 enthaltenen Vorschriften über die Nothwehr
XII. Ueber Litisrenunciationen nach Preußischem Recht
XIII. Ueber die Gültigkeit holographischer Testamente, errichtet am Bord eines Französischen Schiffes
XIV. Auf welche von mehreren Forderungen des Gläubigers ist eine von dem Schuldner geleistete Zahlung anzurechnen, und auf welchem Wege ein hierüber zwischen den Betheiligten obwaltender Streit!zum Austrage zu bringen?
XV. Ueber Competenz-Conflicte
XVI. Gutachtliche Aeußerung darüber, ob es zu empfehlen sein möchte, die im §. 22. der Verordnung vom 3. Januar 1849 für den Strafproceß gegebenen Vorschriften über die Wirkungen der Beweise und die Freiheit der richterlichen Beurtheilung derselben principiell auf den Civilproceß auszudehnen
XVII. Wird durch telegraphische Offerte einerseits, und telegraphische Annahme andererseits, ein schriftlicher Vertrag begründet?
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Archiv für

rechtswissenschasiliche Abhandlungen herausgegeben

von

Schering, Geheimer Ober-Justizrath.

Band I.

Berlin. Verlag von I. Guttentag. 1861.

Vorrede.

Die vor Kurzem von mir herausgegebene Anleitung zur Anfer­ tigung von Referaten, wissenschaftlichen Arbeiten, Anklageschriften rc. hatte sich die Ausgabe gestellt, den jüngeren Juristen für die­

sen Theil ihrer praktischen

Ausbildung

geeignete

Anweisungen

an die Hand zu geben und dadurch die Schwierigkeiten zu min­

dern, mit denen sie bei der Ausarbeitung größerer Schriftsätze, insbesondere bei Anfertigung der schriftlichen

Probearbeiten zu

den juristischen Prüfungen, zu kämpfen haben. Die günstige Aufnahme, welche das Werk gefunden hat, läßt

annehmen, daß es seinem Zwecke im Wesentlichen entspricht. Von mehreren Seiten bin ich jedoch darauf aufmerksam ge­

macht worden,

daß

es

wünschenswerth

sei,

die Anleitung mit

einer größeren Anzahl gediegener Beispiele begleitet zu sehen, da die ertheilten Anweisungen um so leichter Eingang finden und um so nachhaltiger wirken, wenn sie durch gute Beispiele erläu­

tert und dem Leser anschaulich gemacht werden.

IV

Indem ich diese Bemerkung ais richtig anerkenne, habe ich

mich entschlossen, eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zu

veröffentlichen, welche ganz dazu geeignet erscheinen, den jüngeren Juristen als Vorbilder zu dienen.

Es sind dazu hauptsächlich

solche Aussätze gewählt, welche-von Kandidaten der dritten juristi­ schen Staatsprüfung angefertigt und von 5er Jmmediat-Ju-

stiz-Examinations-Kommifsion

als besonders

gelungen,

d. h. als sehr gut oder vorzüglich bezeichnet worden sind.

Es darf angenommen werden, daß diese Sammlung für die

angehenden Juristen, welche sich zur zweiten oder dritten Prüfung vorbereiten, und denen es bisher an solchen Vorbildern gänzlich fehlte, von besonderem Interesse sein wird.

Allein ich

glaube nicht fehl zu greifen, wenn ich auch die Aufmerksamkeit der älteren Justizbeamten, und zwar nicht blos in Preußen,

sondern in dem

gemeinsamen deutschen Vaterlande,

auf diese

Sammlung lenke, und sie insbesondere denen zur Beachtung em­ pfehle, welchen es nicht genügt, ihre alltäglichen praktischen Dienste

zu leisten, sondern welche als ächte Jünger der Themis den Sinn für die Wissenschaft des Rechts und das Streben nach fortwäh­ render weiterer Ausbildung in sich bewahrt haben.

Denn einerseits sind die Aufgaben, welche die JmmediatJustiz-Examinations-Kvmmission zu den wissenschaftlichen Probe­ arbeiten

auswählt,

für die dritte juristische Prüfung mit großer Umsicht

in der

Regel

höchst

interessant,

indem

sie

theils

schwierige, streitige Rechtsfragen, theils wichtige Rechtsmaterien nicht blos aus dem Bereich des Allgemeinen Landrechts, sondern auch aus dem Gebiete des Römischen, Kanonischen,

gemeinen

Deutschen und Französischen Rechts betreffen; andererseits darf

wohl vorausgesetzt werden, daß wissenschaftliche Arbeiten, welche die

in

mission

und

strenge

ihrem Urtheil so

gut

als sehr

welche von

oder

jungen

als

Männern

Jmmediat-Prüfungs-Kom­

anerkennt,

ausgezeichnet

angesertigt

sind,

die nach

dem triennium academicum sich bereits eine Reihe von Jahren im praktischen Justizdienste bewährt haben, sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalte nach so gediegen sein werden, daß

mit Recht darauf Anspruch

machen dürfen,

auch

sie

in weiteren

Kreisen Interesse darzubieten.

Und in der That sind die Mten des Justiz-Ministeriums, in denen

diese Probearbeiten aufbewahrt werden,

so reich

an

vortrefflichen Arbeiten, daß es zu beklagen wäre, wenn sie der Wissenschaft und ihren Verehrern für

immer entzogen bleiben

sollten.

Seine Exzellenz der Herr Justiz-Minister Dr. Simons hat

die

Veröffentlichung

derselben

mit der größten Bereitwilligkeit

gestattet. — Eben so ist von den Verfassern der Aufsätze die Zustimmung zu dieser Veröffentlichung — theils mit theils ohne

Nennung des Namens — bereitwillig ertheilt worden, was ich hiermit dankbar anzuerkennen mich verpflichtet fühle. Sofern das Unternehmen Beifall findet, ist es die Absicht,

damit in der Art vorzugehen, daß alljährlich drei Hefte, von de­ nen jedes 3—4 Aufsätze enthalten und 9—10 Druckbogen um­

fassen soll, erscheinen.

Ich glaube schließlich

noch

die Bemerkung hinzufügen zu

müssen, daß diese Sammlung zwar hauptsächlich dazu bestimmt

ist,

die besten wissenschaftlichen Probearbeiten von Kandidaten

der dritten juristischen Staatsprüfung aufzunehmen, daß es aber



VI



dämm nicht ausgeschlossen ist, auch andere gediegene Aufsätze von Preußischen oder anderen deutschen Juristen auf diesem Wege zu veröffentlichen. Im Gegentheil werden dergleichen Aufsätze von dem Herausgeber mit dem größten Danke entgegen­ genommen werden. Berlin, den 28. November 1860.

JilhM-Verzcichiliß des ersten und zweiten Heftes.

Seite Vorwort.................................................................................................................. IH I. Ueber die Rechtsparömie: „Kauf bricht Miethe." Eine verglei­ chende Darstellung der betreffenden Grundsätze des Römischen, ge­ meinen Deutschen und des Preuß. Allgemeinen Landrechts. Vom Gerichts-Assessor Dr. (Sosberg in Halle a. S................................. 1 II. Haben die Hy p o th eke u g lä u b i g er als solche einen Anspruch auf die Feuerversicherungsgelder, und wie wurde eventuell das in Rede stehende Rechtsverhältuiß im Wege der Gesetzgebung am ange­ messensten zu regeln sein? Von dem Gerichts-Assessor Theodor Schmidt II in Zossen.......................................................................... 47 HI. In wie weit kann nach kanonischem Rechte und nach Französi­ schem Civilrechte eine Ehe wegen Irrthums in der Person an­ gefochten werden? Vom Advokat-Anwalt Schi lling in Elberfeld. 91 IV. Ueber die katholisch - geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen. — Kaun ein geistliches Gericht in Preußen noch auf separatio quoad thorum et mensam erkeuuen, uud welche Wirkung hat ein solches Urtheils Vom Kreisrichter Meinck zu Loitz in Neuvorpommern. 139 V. Ueber die genera et formulae ac.ionum des Römischen Rechts und deren Anwendung auf das Prozeßverfahren in Preußen. Vom Gerichts-Affesser Dr. Bartsch in Breslau................................. 201 VI. Interpretation der lex 43 Dig. de usuris (XXII, 1). — Wie ist der darin erwähnte Fall nach den Grundsätzen des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu entscheiden? Vom Gerichts-Assessor Francke in Gardelegen...............................................................................271

Ueber die Rechtsparömie:

I. „Kauf bricht Miethe". Eine vergleichende Darstellung der betreffenden Grundsätze deS Römischen, gemeinen Deutschen und des Preuß. Allgemeinen

Land-Rechts. Vom Gerichts-Affeffor Dr. Colberg in Halle a. S.

Einleitung. Der §. 358. Th. I. Tit. 21. des Allg. Landrechts bestimmt: »Durch einen freiwilligen Verkauf wird in den Rechten und Pflichten des Miethers oder Pächters nichts geändert." In den Rechtfertigungsgründen dieses Paragraphen bemerkt Suarez:

„Der entgegengesetzte Grundsatz „Kauf bricht Miethe" sei zwar in L. 9. Cod. de loc. cond. gegründet; aber über die Reception dieser Gesetzstelle

seien die Rechtsgelehrten so wenig einverstanden, als darüber eine allge­ mein gültige Observanz bisher stattgefunden habe."*) In der That zeigt auch ein Blick in jedes namentlich ältere Compendium des gemeinen Rechts eine ganze Controversen-Literatur über den

Sinn und die Ausdehnung der von Suarez alleg. L. 9:

„Eintorem quidem fundi necesse non est stare colonp, cui prior dominus locavit, nisi ea lege emit.a Auch das Volk bemächtigte sich

dieser kontroverse, und wie es seine

Rechtsanschauungen meist in kurzen schlagenden Parömien wiederzugeben

pflegt,

so finden wir einerseits Aussprüche,

Auffassung der L. 9.

enthalten,

und

welche die gemeinrechtliche

andrerseits

Rechtssprüchwörter,

welche von dem im §. 358 aufgestellten Grundsätze Zeugniß geben. Denn ebenso oft wie: „Kauf bricht Leihe, — der Käufer jagt den

*) Vergl. Suarez, amtliche Vorträge bei der Schluß-Revision deS Allg. Landr. (Jahrbücher für Preuß. Gesetzgebung Band 41. S. 67).

2 Pachter, — Achat passe louage, — Vente rompe le hall, — oder Koop brecht Huyr —" Heißt es auch:

„Gewinn geht vor Kauf, — Kauf

bricht Miethe nicht, — Huyr gaat voor Koop" und dergl.*)

Erwägen wir aber, daß die L. 9. Emptorem — wenn wir sie, wie

eS in der folgenden Abhandlung versucht ist, in ihre richtigen Grenzen einschränken — auf ein Rechtsprinzip gegründet ist, das in diametralem Gegensatze zur Germanischen Rechtsanschauung steht, so werden wir er­

klärlich finden, daß das Volk nur mit Widerstreben in die Reception

eines Grundsatzes sich fügte,

der

tief in sein bisheriges Rechtsleben

einschnitt.

Denn unsere L. 9. ist nur aus der Consequenz zu erklären, mit

welcher das Römische Recht an der aus seinem dominium entspringenden

absoluten Herrschaft über die Sache festhält, wie denn zugleich auch jene lex die scharfe Sonderung erkennen läßt, in welcher das Römische Recht

dingliche und nur persönliche Rechte einander gegenüberstellt. -

Ganz anders im Deutschen Recht.

unbeschränkten Zertheilung fähig;

Hier ist das Eigenthum einer

an einer

und derselben Sache sind

Herrschaftsverhältnisse in unendlicher Zahl möglich, und persönliches und

dingliches Recht, statt streng geschieden zu sein, fließen vielfach in ein­

ander. Mit Hervorhebung dieses Gegensatzes beider Rechte haben wir aber

zugleich den Gang, den unsere

„Darstellung der Grundsätze des Römischen, gemeinen Deut­ schen und Preuß. Allg. Landrechts über die Parömie „Kauf bricht Miethe" nothwendig nehmen muß, angedeutet.

Wir werden zunächst (im ersten Abschnitt)

bemüht sein, die richtigen Grenzen für unsere Parömie (resp, die L. 9. Cod. de loc. cond.) im Römischen Recht abzustecken und sie von ge­

meinrechtlichen Mißverständnissen zu klären suchen. Demnächst

(im zweiten Abschnitt) werden wir aus den Grundprinzipien des Deutschen Rechts nachzuweisen

uns bemühen, daß dasselbe nothwendig den unserer Parömie entgegen­

gesetzten Grundsatz aufstellen mußte; und — nach einer dogmengeschicht­

lichen Skizze der gemeinrechtlichen Auffassung der L. 9.

*) Vergl. Ayrer, de genere actionum etc. opusc. tom. I. p. 223 seq.; Gerhard, dissertatio de regula „Kauf geht vor Miethe". p. 5 seq; .

- 3 endlich (un dritten Abschnitt) $it zeigen unternehmen, wie unser vaterländisches Recht zum Theil an der Hand der sogenannten „natürlichen Billigkeit" zu ben Prinzipien des Germanischen Rechts zurückgekehrt ist.

I. Abschnitt. Römisches Recht. A. Gilt die Regel „Kauf bricht Miethe" in Bezug aus das Ver­ hältniß des Vermiethers zum Miether? Die locatio conductio rerum ist der Vertrag, wodurch der eine Kon­ trahent dem andern gegen einen in Geld bestimmten Preis die Benutzung eines Gegenstandes zu gewähren verspricht. Sie unterscheidet sich da­ durch wesentlich vom Kauf, daß die Gewährung der Sache bei der Miethe nur ein persönliches Recht giebt (ohne den juristischen Besitz, daS Eigenthum oder sonstige dingliche Recht des Vermiethers zu verändern), während beim Kauf') die Tradition in der Regel zum Eigenthum oder doch wenigstens zum juristischen Besitze führte) Das rein persönliche Verhältniß, in welchem Miether und Vermiether zu einander stehen, ist in den Römischen Rechtsquellen so cousequent festgehalten, daß die Vermiethung gar nicht als Beschränkung des Eigenthums, gar nicht als Veräußerung betrachtet wird: Non solet locatio dominium mutare (L. 39 Big. loc. cond. 19', 2.). DaS Eigenthum bleibt bei dem Vermiether, ja er verliert nicht einmal den juristischen Besitz, vielmehr gehört die locatio conductio zu denjenigen Rechtsgeschäften, in welchen mit der Detention nicht zugleich der juristifche Besitz übertragen wird.3) Der Miether und Pächter üben den Be-

9 ELgenthumsübertragung liegt zwar an sich nicht in dem Be­ griffe des Kaufs, ja sie wird sogar in vielen Stellen'davon ausgeschlossen; L. 16. Dig. de cond. causa det. 12. 4; L. 25. §. 1. Big. de contr. ernt. 18. 1; L. 30. §. 1. Big. de act. ernt. vend. 19. 1; L. 3. Cod. de evict. 8. 45; u. a. — Bergt. Unterholzner, Schuldverhältnisse II. §. 455. — Arndts, Pand. §. 302.

9 Unterholzner a. a. O. §. 456. — L. 25. §. 1; L. 28; L. 65. Big. de contr. ernt 18. 1; L. 11. §. 2. Big. de act. ernt. vend. (19. 1.) — Brinz, Pand. S. 200. 3) Vergl. Savigny, Besitz^ V. Ausgabe S. 280. S. 93. u. a. 1*

4 sitz des Verpächters und Bermiethers auSJ) Daher ist, wie auch schon Unterholzner hervorhebt, wenn es im §. 1. L. 15 Dig. b.t. heißt: die conducti actio stehe dem Miether dann zu, wenn „possessio totius

agri aut partis non praestatur“, dabei nicht an den juristischen Besitz, sondern nur an das factische Jnnehaben zu denken, weshalb auch nicht von einem Weggeben — tradere —, sondern nur von einem Einräumen —

praestare — der Sache die Rede ist. Dies Einräumen der Sache, das

Gewähren des vertragsmäßigen Gebrauches und Fruchtgenusses derselben,

ist der wesentliche Inhalt der Verpflichtung des Vermiethers.a) Daraus ergiebt sich einerseits von selbst, daß der Verpächter oder Vermiether weder Eigenthümer zu sein, noch überhaupt selbst ein

dingliches

Recht zu haben

braucht,

um eine gültige Verpach­

tung oder Vermiethung vorzunehmen.3* )* Es kann vielmehr Jeder ver­

mieden, der ein persönliches Benutzungsrecht an der Sache zu

bestellen vermag. Daher ist z. B. auch der, welcher selbst erst die Sache gemiethet oder gepachtet hat, zur weiteren Vermiethung oder Ver­

pachtung berechtigt (vergl. L. 6 Cod. locat. cond. 4. 65). Andrerseits folgt

daraus

auch,

daß

eine

von

-

dem Vermiether

oder Verpächter vorgenommene Veräußerung an sich noch keinen Einfluß

auf seine Verpflichtung auö dem Miethscontract hat.4)

Denn wenn es

dem Vermiether ungeachtet der Veräußerung noch möglich ist, dem Mie­ ther fortdauernd den vertragsmäßigen Gebrauch oder Genuß der Sache

zu gewähren, so ist nicht abzusehen, wie durch den Wechsel des Eigen­

thums allein der Miether von seinen Gegenleistungen frei werden sollte, da wir nachgewiesen haben, daß die Frage: welches Recht dem

4) „Et colonus et inquilinus sunt in praedio, et tarnen non possident“ (L. 6. §. 2. Dig. de precario) — Et per colonos et inquilinos nostros possidemus (L. 25. §. 1. Dig. de adqu. vel amitt. poss. 41. 2.). Savigny a. a. O. S. 68.

a) Vergl. L. 15. §. 1. L. 9. pr. Dig. h. t. (19. 2). Unterholzner a. a. O. §. 500. 3) Daß man selbst Sachen, an denen man gar kein Recht hat, fremde Sachen, gültig vermiethen kann, so daß beide Contrahenten einander völlig ha ft en, sagt L. 9. §. 6. Dig. h. t. ganz klar. — Dolus des einen Contrahenten giebt natürlich nur dem Betrogenen Ansprüche. 4) Diese Ansicht haben übereinstimmend fast alle Steueren, z.B. Unter­ holzner a. a. O. §. 499; Puchta, Pand. §.369; Arndts, Pand. §.313; Brinz, Pand. S. 506; Vangerow, Pand. §. 643; Wening-Jngenheim, gem. Civilrecht Band II. S. 207; — wogegen noch Mackeldey (und Roß­ hirt) in der elften Auflage des Lehrbuchs des heutigen Röm. Rechts II. S. 248. und selbst Göschen Vorl. Band II. Abth. 2. §. 511 lehren: die Ver­ äußerung hebe die loc. cond. auf.

5 Bermiether an der vermieteten Sache zustehe, auf die Gültigkeit der

Vermiethung an sich keinen Einfluß hat. Dem entsprechend bestimmt die sonst häufig als „Ausnahme" *) von der Regel — Kauf bricht Miethe — ausgeführte L. 25 §. 1 Dig. h. t.

(loc. concL 19, 2): „Qui fundum fruendum, vel habitationem alicui locavit, si aliqua ex causa fundum vel aedes vendat, curare debet, ut apud emtorem quoque eadem pactione et colono frui et inquilino habitare liceat: alioquin prohibitus is aget cum eo ex conducto.“ Viele 2) benutzen diese Stelle auch als Beleg unsrer Regel, sowie auch 2) zum Beweise dafür, daß der Miether nicht zur Fortsetzung des

Contracts mit dem neuen Eigenthümer verbunden sei.

Allein betrachtet

man die L. 25 cit. unbefangen, so liegt in ihr nur die Bestätigung des

oben Gesagten. Der Jurist räth dem Verpächter oder Vermiether, bei der Veräußerung dafür Sorge zu tragen, daß dem Miether oder Päch­ ter das frui oder uti Heere auch ferner gewährt werde — widrigenfalls, fährt er fort, dem letzteren die actio conducti zustehe. Also erst dann hat der Miether oder Pächter das Klagerecht, wenn ihm „apud emtorem“ das habitare oder frui nicht gewährt wird. In der Stelle liegt nichts, was uns zwingt, sie etwa auf eine Erneuerung des Miethsverhältnisses nunmehr zwischen Käufer und Miether zu beziehen, sie zeigt

vielmehr, daß auch „bei dem Käufer", d. h. also ungeachtet des Verkaufs, das alte Miethsverhältniß fortbestehen kann, indem der ursprüngliche Vermiether durch zweckentsprechende Verträge mit seinem Successor dem Miether das habitare licere auch ferner verschaffen kann. Nur wenn der Vermiether in dieser Weise nicht für die Fortgewährung seiner Ver­ pflichtungen sorgt, oder wenn ein solcher Vertrag von dem Käufer nicht gehalten wird, dann kann der Miether mit der actio locati sein Inter­ esse fordern.*) Mit Recht halten wir daher fest, daß der Verkauf an sich, ja sogar die Eigenthumsübertragung auf den Käufer keinen Einfluß auf das alte Miethsverhältniß äußere: erst wenn der Käufer den Miether an dem

Fortgebrauch der Sache hindert, wird jenes Mißverhältniß über­ haupt berührt. O Vergl. Gesterding Nachforschungen, Theil III. S. 243. a) z. B. Göschen a. a. O. S. 384. und fast alle Älteren; unter andern Westphal, Lehre vom Kauf, Pacht :c. S. 779. 8) z. B. Mackeldey a. a. O. S. 248; Wening-Jngenheim a. a. O. S. 207. 4) Aehnlich versteht Vangerow a. a. O. S. 427. diese Stelle, und die­ selbe Auslegung findet sich schon bei Ayrer „de genere actionis adversus conductorem emtori cedere nolentem instituendae“ (vergl. opusc. tom. I. pag. '231) angedeutet. Auch der Verfaffer der Abhandlung im Rechtslexikon

Band VH. S. 763. tritt ihr bei.

6 Mer auch in diesem Falle ist nicht die Aufhebung des Mieths-

contracts die nothwendige Folge. (Man könnte vielmehr sagen, daß nun­

mehr seine bindende Kraft erst recht augenfällig hervortritt.) Denn entweder — der Vermiether gewährt dem Miether statt der alten Sache eine neue, die demselben ebenso genehm sein kann.

Diesen

Fall entscheiden Nlpian und Pomponius in der Ja 9. pr. Dig. Ji. t. da­

hin : si locator paratus pit, aliam habitationqm non minuB commodam praestare,

aequissimum esse, absojvi

(seil, von der conducti actio). **)

locatorejn

Die neue Sache soll dann als Ersatz

für das geforderte Interesse dienen. In der Billigkeit und in der gegen­ seitigen^) Natur der Obligation aus dem Miethsvertrag liegt es aber,

da durch den Ersatz der Pächter oder Miether so gut wie volle Nuzzung erlangt, daß er seinerseits auch seinen Verpflichtungen genüge. 3)

In diesem Falle wird also der ursprüngliche Miethscontract nicht auf­

gehoben, da auf beiden Seiten Leistung der contractlichen Verbindlich­ keiten nach wie vor stattfindet.

Dasselbe muß man aber, richtig erwogen, auch sagen, selbst wenn

nach der Veräußerung der neue Eigenthümer den Miether in dem Fort­ gebrauch der Sache hindert und es dem Vermiether nicht möglich ist, „aliam habitationem non minus commodam praestare“, indem dann die andere Alternative seiner Verpflichtung — Prästation des Interesse —

in Wirksamkeit tritt.

Denn da die Handlungen überhaupt nur von

Seiten ihres Vermögenswerths bei den Obligationen in Betracht kom­

men, so ist dieser Vermögenswerth — dieses Interesse, welches die Nicht­ leistung der Handlung für den Berechtigten hat — wenn man sich so

ausdrücken darf, die eventuelle Prästationspflicht eines jeden Schuld­

ners aus einer Obligation.*)

Muß daher in unserem Falle der Ver­

miether statt der nicht mehr zu gewährenden habitatio dem Miether

’) Vergl. auch L. 28. Dig. h. t., L. 60. pr. eodem. *) Vergl. Puchta, Paud. §. 232. und §. 303; Vorlesungen Band II. Seite 31. ’) Unterholzner a. a. O. S. 338. — Die locatio conductio ist über­ haupt im höchsten Grade bonae fidei (vergl. §. 5. Inst, de loc. 3. 24.) und viele Stellen weisen auf das in ihr vorzugsweise herrschende Element der aequitas hin: L. 9. pr. und §. L; L. 19. §. 7; L. 24. pr. und §. 4; L. 27. pr.; L. 58. §. 1; L. 60. §. 2. Dig. h. t. *) cf. Puchta, Pand. §.220. §.224.; Arndts, Pand. §. 2Q2: Prinz, Pand. S. 584. — Damit stimmt auch überein, daß im Römischen Civilprozeß jede Eondernnation eventuell auf eine bestimmte Geldsumme geht, mag übrigens der Gegenstand der Forderung sein, welcher er wolle: cf. Gajus IV. §. 48. und 52: „judex non insam rem condemnat eum, cum quo actum

est-------- (sed) aestimata re pecuniam eum condemnat.“ — Vergl Puchta, Institutionen II. §. 175. Treitschke, Kaufcontract §.

7 das Interesse prästiren, so ist dies gleichfalls eine Folge aus dem Miethscontract, und von einem Auflösen dieses Contracts durch den Verkauf kann demnach keine Rede sein. Man hat bei dem Aufstellen der den Vorwurf unsrer Abhandlung bildenden Rechtsparömie die bloße Aufhebung des factischen Verhältnisses zwischen locator und conductor mit der Aufhebung des

Contractes selbst durchaus verwechselt.*)

Auf diesen hat, wie sich aus

unserer bisherigen Darstellung ergeben haben wird, weder der Verkauf,

noch die Eigenthumsübertragung, ja nicht einmal die Vertreibung oder Flucht des Pächters einen seine fernere Wirksamkeit aufhebenden Einfluß.

B. Hat die frühere Bermiethung einen Einfluß aus den Kaufcontract an sich? Zunächst geht der Inhalt des Kaufcontracts, wie wir bereits ge­ sehen haben, auf ein bloßes tradere: „in primis ipsam rem praestare venditorem oportet i.e. tradere“ (L. 11. §. 2. Dig. de act. ernt. vend. 19. 1.), was jedoch, wie gleichfalls schon hervorgehoben ist, im natur­ gemäßen Entwickelungsgänge des Geschäfts zum Eigenthum führt: „quae res, si quidem dominus fuit venditor, facit et emtorem dominum (eit, §. 2. L. 11.). An sich besteht also die Obligation des Verkäufers zu­ nächst nur darin, dem Käufer die Sache zum ungestörten Besitz zu über­ liefern: „Qui rem emit et post possidet, quamdiu evicta non est, auctorem suum propterea, quod alienata vel obligata res dicatur, convenire non potest“ (L. 3 Cod. de evict. 8, 45; ebenso ausdrücklich L. 1. pr. Dig. de rerum permut. 19, 4. u. a. in.). Erst wenn dem Käufer die Sache aus Grund eines schon zur Zeit des Kaufs entstandenen Rechts ganz oder theilweise ab gestritten ist, hat er die

actio emti gegen den Verkäufer auf das Interesse.') An und für sich ist es daher für die Wirksamkeit des Kaufcontracts im Allgemeinen unerheblich, ob der Verkäufer Eigenthümer der Sache — und im letztern Falle, ob etwa sein Veräußerungsrecht eingeschränkt

*) Vergl. Puchta, Pand. §. 369; ner a. a. O. Band II. §. 497.

Brinz, Pand. S. 506;

Unterholz-

a) Vergl. L. 11. Dig. de act. ernt. vend. (19. 1.); L. 6. Cod. de evict. 8. 45; L. 16. §. 1; L. 21. pr. §. 1; L. 60, L. 67, L. 70. Dig. de evict. 21. 2. — Unterholzner a. a. O. Band II. S. 260. — Treitschke, Kaufcontr. S. 125.

8 gewesen ist;1) vermag der Verkäufer die ungestörte possessio zu verschaffen,,

so steht dem Käufer keine Klage aus dem Contract zu (vergl. die eit..

L. 3. Cod. de evict.); ist ihm dies aber nicht möglich, dann tritt mit

der actio emti auf das Interesse — in ähnlicher Weise, wie wir es bet

der Miethe gesehen haben — die Obligation aus dem Kaufcontract erst

recht in Wirksamkeit.

Wenn sonach der Verkauf einer Sache, deren Eigenthums- oder Veräußerungsrecht dem Verkäufer gar nicht zusteht, völlig wirksam bleibt^

dann muß selbstredend die vor dem Verkauf geschehene VermiethunA oder Verpachtung derselben noch weniger Einfluß auf die Wirksam­

keit des Kaufcontracts zu äußern im Stande sein, nachdem im vorigem

Paragraphen bereits nachgewiesen ist, daß die Verpachtung oder Ver-

miethung

eine Veräußerung

oder Beschränkung

des Eigenthums gar

nicht enthält.

Es sind auch hier wesentlich nur zwei Fälle ins Auge zu fassen: Erstens: der Pächter tritt dem Käufer nicht thatsächlich hindernd

in den Weg.

Dann ist ungeachtet der Verpachtung Seitens des Ver­

käufers der Kaufcontract erfüllt, da der Pächter nicht besitzt, vielmehr trotz seiner Anwesenheit auf dem Gute der Käufer vacua possessio» erhalten hat.?)

Denn diese ist nach den Quellen überall schon da vor­

handen — und somit der Pflicht, den Besitz eines Grundstücks zu tra-

diren, genügt — wo kein dritter das Grundstück animo besitzt.') Wenn aber — zweitens — der Pächter der Besitzergreifung Sei­ tens des Käufers sich widersetzt, so hat der letztere (ganz abgesehen vom

den ihm etwa gegen den Pächter zustehenden Rechtsmitteln, die im fol­

genden Abschnitte geprüft werden sollen) gegen den Verkäufer die actio» emti wegen nicht geleisteter Uebergabe („Si res vendita non tradatur»

in id quod interest, agitur“4)

und es tritt damit der ev entuelle

Inhalt der Obligation aus dem Kaufcontract, die Prästationspfiicht des» Interesse, ins Leben.

Sonach ist in beiden Fällen, sei es, daß der Pächter den Käufer

J) Vergl. cit. L. 3. Cod. de evict.; L. 13. §. 21. Dig. de act. ernt, vend.- (19. 1.) — Treitschke a. a. O. — Ausgenommen ist jedoch wieder,, wie bei der Miethe, der Fall wissentlichen Verkaufs einer fremden Sache,, die dem Käufer für eigen ausgegeben und von diesem dafür gekauft ist: Treitschke §. 64. a) Vergl. Unterholzner a. a. O. II. §. 456; L. 2. §. 1. Dig. de act, ernt. vend. 19. 1; L. 3. pr. eod. L. 11. §. 13; L. 52. §. 1. eod. L. 5. Cod, de evict. 8. 45. ’) Vergl. Savigny, Besitz S. 198. S. 162 seq. und den dort citirtem Brissonius sub voce „vacua“. Ferner Gesterding a. a. O. S. 260. S. 223. seq, 4) Vergl. L. 1. pr. Dig. de act. ernt. vend. — Unterholzner a. a. O, §. 456; Glück, Commentar Bd. XVIII. S. 21.

9 gutwillig Besitz ergreifen läßt, oder daß er sich widersetzt, die Wirksam­

keit der Obligation aus dem Kaufcontract ebensowenig berührt, wie umgekehrt an sich die Obligation aus dem Pacht- oder Mieths-Contract durch die geschehene Veräußerung.

C. Wie weit gilt die Regel: „Kauf bricht Miethe" in Bezug aus das Verhältniß des Käufers zum Miether? Indem wir zu diesem Theil unserer Untersuchung uns wenden, be­ rühren wir den eigentlichen Wirkungskreis unserer Regel. Um aber hierbei nicht (wie die älteren gemeinrechtlichen Juristen, die Begründer unserer Regel, wie sich im Fortgänge der Abhandlung ergeben wird) auf Abwege zu gerathen, müssen wir zwei Fundamentalsätze des Römischen Rechts in Erinnerung bringen.

Erstens: das Eigenthum ist die volle rechtliche Macht über eine Sache, die absolute Herrschaft über dieselbe. Einschränkungen dieser Macht können nur durch ein erlangtes dingliches Recht an der Sache

ausgeübt werden.*) Rein persönliche Beziehungen aber zu dem Eigenthümer können kein dingliches Recht begründen und daher dessen Dispositionsrecht über die Sache an sich nicht einschränken. Roch weniger vermögen rein persönliche Ansprüche, welche ein Dritter aus Contracten mit einem früheren Eigenthümer etwa erlangt haben mag, auf das Eigenthumsrecht des gegenwärtigen Eigenthümers einen Einfluß zu äußern. Es folgt dies einmal aus der angedeuteten absoluten Macht, welche in dem Römischen Eigenthum liegt; dann aber auch aus dem Wesen der Obligatio. Denn die Obligatio ist ein unübertragbares

Rechtsverhältniß; sie läßt sich von der Person des Gläubigers oder Schuldners nicht trennen, ohne sie selbst aufzuheben, und nur durch Uni­ versal-Succession, die „eine Veränderung der Person in der That nicht enthält," nicht aber durch bloße Singular-Succession ist ein Eintreten in die Obligation möglich. (Vergl. Puchta Pandecten §. 369 zu Ende; §. 280, §. 291.) Der zweite Grundsatz, auf den wir oben hindeuteten, betrifft die

*) Vergl. Schmidt, prinzipieller Unterschied zwischen Röm. u. German.

Recht, S. 248. 223. Richt hierher gehören die gesetzlichen Beschränkungen des Eigenthums; über diese und die [streitige] Wirksamkeit von Privatver­ äußerungsverboten vergl. Puchta, Pandecten §. 145. und Vorlesungen Bd. I. S. 318 seq., Arndts, Pand. §. 132.

10 Erwerbung des Eigenthums: die Uebertragung desselben unter Lebenden *) kann nicht durch einfache Willenserklärung des Gebers und Erwerbers

geschehen; sie fordert den hinzukommenden Act der Tradition: „Traditionibus et usucapionibus , non nudis pactis dominia rerum

transferuntur.“ L. 20 Cod. de pact. 2, 3. Diese beiden Sätze festgehalten, kann es nicht zweifelhaft sein, daß

durch den Kauf an sich ein rechtlichesUebergewicht des Käu­

fers über den Miether gar nicht hervorgebracht wird.

Der Miether und Pächter haben, wenn ihnen gleich (wie Brinz, Pand. S. 175 sagt) die Befugniß zu gewissen „sachlichen Handlungen"

zusteht, dennoch kein Sachenrecht.

Entweder sie haben jene contractliche

Befugniß noch nicht (das Haus, Grundstück ist ihnen noch nicht ein­ geräumt), — dann liegt nichts vor, als eine Forderung; oder aber sie

haben die Einräumung der Sache erlangt, dann liegt eben darin nur

eine fortschreitende Erfüllung der Forderung. Ebenso hat auch der Käufer an sich nur ein persönliches For­

derungsrecht, und erst dann, wenn auf Grund des Contracts die Tra­

dition erfolgt ist, geht djes persönliche Recht in das Eigenthum (oder wenigstens in den eventuell durch Usucapion zum Eigenthum führenden

juristischen Besitz) über. Da beide Contrahenten aus den verschiedenen Contracten mit der­

selben Person (dem Vermiether, Verkäufer) contrahirt haben, so gerathen allerdings beide (Käufer und Miether) insofern in Kollision miteinander,

als jeder von ihnen die Befriedigung seines persönlichen Rechtes auf ein und dieselbe Sache fordert.

Eine allgemeine Bestimmung über eine derartige Kollision der Obli­ gationen

einem

Quellen nichts)

solventen Schuldner

gegenüber

findet sich in den

Aus zwei speziell entschiedenen Fällen (L. 33 in fin.

Dig. de legat. I. und L. 26 Dig. locati 19, 2.) hat man bad Prinzip

construirt: daß bei gleichzeitig entstandenen Forderungen derjenige, der die seinige früher zur Litiscontestation bringt, auch vorzugsweise die

Leistung in natura fordern kann, daß dagegen bei ungleichzeitig ent­ standenen Forderungen die ältere den Vorrang hat.

Der Fall jedoch, den unsere Regel „Kauf bricht Miethe" so ge­

waltsam entscheidet, liegt anders; hier wird vorausgesetzt,8) daß der

i) Rur von einer solchen (Verkauf) ist vorläufig die Rede. Bekannt­ lich giebt es auch gewisse Fälle des Eigenthumöerwerbs ohne Besttzerwerb (Adjudication, Verwirkung des bisherigen Eigenthümers, Zuschlag an den Pfandgläubiger, Erbfolge, Vermächtniß u. a. vergl. Puchta §. 161. seq. und Göschen §. 243. seq.) — eine Notiz, von der wir am Ende dieses Abschnitts Gebrauch machen werden.

-) Vergl. Göschen, Vorles. Bd. II. 2. Abth. S. 151. 3) Daß in der That vorzugsweise auf diesen Fall die Regel im gemeinen

11 Käufer den Miether, der sich bereits in possessione der Sache

befindet, „vertreiben" könne. Es fragt sich aber, durch welches Rechtsmittel der Käufer ein so bedeutendes Uebergewicht über den Miether zu realisiren vermag?

Zunächst kann er sich die Rechte, die dem Verkäufer (Vermiether) dem Miether gegenüber aus dem Contracte zustehen, abtreten lassen.

Allein dies setzt voraus, daß für den Vermiether überhaupt schon ein Klagerecht entstanden war.

Die Rückgabe kann der Locator jedoch

nur, wenn der Eontract abgelaufen oder irgend ein anderer rechtlicher

Grunds eingetreten ist,

verlangen.

Da aber die Klage mit allen ihr

entgegenstehenden Exceptionen abgetreten wird, so steht dem ex jure cesso des Locators vor Ablauf der Contractzeit klagenden Käufer stets

die exceptio pacti oder doli generalis entgegen. 9

Ebensowenig kann sich der Käufer mit Erfolg die den bisherigen

juristischen Besitz des Verkäufers schützenden Jnterdicte abtreten lassen.

Die

possessorischen Jnterdicte

sind

wesentlich

Persönliche Klagen:

„Interdicta omnia, licet in rem videantur concepta, vi tarnen ipsa per-

sonalia sunt. L. 1. §. 3. Dig. de interd. 43, 1. — Der Verkäufer kann sie daher, wie jede andere Klage, nur in derselben Weise dem Käufer

cediren, als er sie selbst geltend machen konnte, und die ihrer Anwendung bei dem Verkäufer entgegenstehenden Einreden werden auch den Käufer bei ihrem Gebrauch beschränken.3* )*

Nun kann aber der Verkäufer den Besitz nur dann von dem Pächter

zurückverlangen, wenn der Pachtcontrakt auf irgend eine Weise rechtlich aufgehoben ist (vergl. oben Notel); denn so lange der Eontract dauert, ist der Verpächter gerade auf Grund desselben, wie wir oben gesehen

haben, verpflichtet, dem Pächter possessionem rei zu prästiren (L. 15. §. 1. Dig. loc:

„Competit — — ex conducto actio — — quia pos­

sessio — non praestatur“).

Wie also den vom Verpächter vor Ablauf

des Contracts angestellten Besitzklagen vom Pächter die exceptio doli

(vergl. oben Note 2 und 3) mit Erfolg entgegengesetzt werden würde, ebenso dem Käufer. Recht bezogen worden, wird sich in einem folgenden Abschnitt ergeben; vor­ läufig genüge der Hinweis auf Ayrer a. a. O. S. 223. 9 Vergl. Puchta, Pand. §. 369. 9 Et generaliter seien dum est, ex omnibus in factum exceptionibus doli oriri exccptionem, quia dolo facit, quicunque id, quod quaqua exceptione elidi potest, petit; nam etsi in ter initia nihil dolo malo fecit, attamen nunc petendo facit dolose“ etqs. L. 4. §. 5. Dig. de doli except. 44. 4. Vergl. Arndts, Pand. §. 102. Rechtslexikon S. 796. 3) Vergl. Schmidt, Jnterdictenverfahren der Römer: S. 96. Savigny, Besitz S. 32. S. 410. S. 498. Glück, Commentar Bd. 18. S. 23. Rechts­ lexikon S. 797.

12 Dasselbe sagen auch nur die von Vielen *) zum Beweise des abso­

luten jus

expellendi des Käufers

benutzten L. 12. und L. 18. Dig.

de vi (43, 16). In der ersten Stelle lag der Fall vor, daß der Pächter den Käufer des verpachteten Landguts, nachdem dieser von dem Verkäufer (Ver­

pächter) in den Besitz „eingewiesen" worden, nicht zugelassen und später der Pächter von einem Dritten (ab alio) selbst vertrieben worden war.

Der Jurist (Marcellus) entscheidet nun die Frage hinsichtlich der Competenz des Jnterdicts dahin:

„Es sei einerlei, obl)er Pächter den Eigen­

thümer selbst oder den Käufer an der Betretung des Grundstücks ver­ hindert habe, dem der Erstere den Besitz zu übergeben befohlen.

stehe daher das Jnderdict „unde vi" dem Pächters dieser selbst werde den

er

dem Verpächter

zu.

Es

Aber auch

durch jenes Jnderdict verpflichtet,

insofern mit Gewalt vertrieben, als er dem Käufer den Besitz

nicht übergeben habe: er müßte denn eine rechtmäßige und ge­ nügende Ursache dazu gehabt haben.

Wenn es im Wesen des

Miethsvertrags liegt, daß dem Miether die possessio (naturalis) prästirt werde,

so

ist

es

jedenfalls

eine nach dem eben interpretirten Gesetze

„rechtmäßige und genügende Ursache" dem Verpächter und somit deffen Cessionar (dem Käufer) die Rückgabe der Sache zu verweigern, wenn sie vor Ablauf des Contracts verlangt wird.

Der Verpächter handelt

dolose, wenn er den Käufer beauftragt, wider Willen des Pächters einen diesen hindernden Besitz zu ergreifen.3*)*

Dies bestätigt nun ausdrücklich der Schluß der eit. L. 18. (Pa­

pianus) :

„Quaesitum est, an emtori succurri debeat, si ex voluntate

venditoris colonum postea vi expulisset?

Dixi, non esse juvan-

dum, qui mandatum illicitum susceperit.4)

i) Vergl. Ayrer a. a. O. S. 240. und die dort Citirten.

J) Diesem deshalb, weil von dem Moment der geschehenen Dejection deS Eigenthümers ein eigener Besitz des Pächters anfing; vergl. Savigny a. a. O. S. 281. und Ayrer a. a. O. S. 238. 3) Will der Käufer den Pächter in possessione lasten, dann interessirt den Letztern der Wechsel des Eigenthums nicht (vergl. oben S. 6.), und er kann den Käufer auch den juristischen Besitz ergreifen lasten, indem er sich der Uebergabe nicht widersetzt und künftig in des Käufers Namen den Besitz auszuüben erklärt. Das ursprüngliche Miethsverhältniß wird, wie wir gesehen haben, dadurch nicht berührt.

4) Ebenso erklärt Glück a. a. O. S. 22. u. 23. und der von ihm citirte Adolph Dietrich Weber in den Beiträgen zur Lehre von gerichtlichen Klagen

und Einreden S. 99. diese Stellen. Auch der Verf. der mehrfach citirten Mhandlung im Rechtslexikon scheint derselben Ansicht: vergl. S. 796 und 'S. 797.

13 Prüft man also beide Stellen unbefangen, so constatiren sie keines­

wegs das jus expeUendi im Sinne unserer Parömie, sie sind ihm viel­ mehr entgegen, indem in der ersten Stelle dem Pächter das Recht bei­ gelegt wird, die Herausgabe der Sache zu verweigern, „wenn er eine rechtmäßige Ursache hierzu habe" — und in der zweiten Stelle die ge­ waltsame Vertreibung des Pächters durch den hierzu vom Verkäufer

beauftragten Käufer als mandatum illicitum bezeichnet wird. — Ebensowenig wie die Contractsklage würde endlich dem Käufer die cedirte Vindication des Verpächters von Nutzen sein, da auch dieser gegenüber der Pächter sich mit der exceptio pacti oder doli wirksam

würde schützen können. Demnach sind alle auf das Recht des Verpächters gegründete

Angriffe des Käufers gegen den Pächter vor Endigung der Pacht wirkungslos, — anders ist es aber, wenn der Käufer die Vindication oder die Besitzklagen aus eigenem Recht anzustellen vermag. Das Fundament der Vindication ist das Eigenthum: „in rem actio

competit ei, qui aut iure gentium aut jure civili dominium adquisivit“

L. 23. pr. Dig. h. t. (6, 1) Zum Eigenthumsübergang ist aber, wie wir gesehen haben, beim Kauf zuvörderst noch Besitzerwerb erforderlich. Die zum Besitzerwerb sowohl beweglicher, als unbeweglicher Sachen nothwendige körperliche Handlung braucht nun allerdings, wie Savigny, Besitz §. 14, seq. die frühere irrige Apprehensionstheorie berichtigt hat, nicht in einer unmittelbaren oder symbolischen Berührung durch den eigenen Körper zu bestehen, es genügt vielmehr bei beiden Arten von Sachen die körperliche Gegenwart des neuen Besitzers in der unmittel­

baren Nähe der zu übergebenden Sache. *) Durchaus festzuhalten ist aber bei allen solchen Fällen, in denen nicht eine wirkliche, sondern nur eine fingirte Apprehension stattfindet, daß die „Gegenwart" nur insofern den Besitz giebt, als es möglich ist, die Sache in jedem Augenblicke wirklich zu ergreifen (vergl. Savigny a. a. O. S. 207. und 211.)

Man wird daher nicht, wie Gesterding in der citirten Abhand­ lung S. 260 und S. 236, aus jenen den Begriff der Apprehension ausdehnenden Grundsätzen folgern dürfen, daß die Existenz des Pächters

*) In Bezug auf Grundstücke vergl. L. 18. §. 2. Dig. de poss. 41. 2.: „Si vicinum mihi fundum mercatum venditor in mea turre demonstret, — — non minus possidere coepi, quam si pedem finibus intulissem.“ — Hin­ sichtlich beweglicher Sachen vergl. L. 1. §. 21. Dig. loc. eit.: „Si jusserim venditorem procuratori rem tradere, cum ea in praesentia sit, videri mihi traditam------- non est enim corpore et tactu necesse adprehendere possessionem, sed etiam oculis et affectu. — Vergl. ferner die bei Savigny S. 200. seq. allegirten Stellen.

u auf dem Gute für den Besitzerwerb des Käufers ünter allen Um­

ständen gleichgültig ist (vergl. oben S. 8.

Note 2), vielmehr wird

eine solche, wie überhaupt jede Apprehension nur stattfinden können, wenn die Detention des Pächters entweder nicht eine ausschließende

ist (z. B. wenn ein aus verschiedenen Vorwerken bestehendes Gut ver­ pachtet worden), oder wenn der Pächter in die Besitzergreifung Seitens des Käufers selbst ausdrücklich eingewilligt oder endlich sich wenigstens

ihr nicht widersetzt hat. Dieser dergestalt

erlangte Besitz

giebt

nunmehr nicht nur dem

Käufer die Jnterdicte aus eigenem Recht, falls der Pächter ihn in

dem einmal

erlangten Besitz

hindert,

sondern das durch den Besitz­

erwerb zur Existenz gelangte Eigenthumsrecht des Käufers gewährt ihm

auch jetzt die Vindication, gegen welche (wenn er sich nicht durch den Erwerb einer Hypothek oder durch besondere, mit dem Käufer geschloffene

Verträge gesichert hat) der

Pächter völlig

schutzlos ist.1)

Denn die

Einreden des Letzteren aus dem Miethsvertrage sind rein persönlicher Natur, können daher nur gegen den Vermiether oder dessen Universal-

Successor wirken und vermögen gegen die in der Natur des Römischen Eigenthums

liegende absolute Herrschaft über die Sache nicht durch­

zudringen.

Was von der Vindication des Käufers gesagt worden, gilt auch

von der Publiciana,2) ja es gilt überhaupt von allen dinglichen Klagen, und

wo

daher das Eigenthums- oder sonst ein dingliches Recht ohne

vorhergegangenen Besitzerwerb entsteht (z. B. bei Erwerb durch Legat

oder bei den Servituten — vergl. Göschen, Vorlesungen Band II. §. 307.)

wird der Berechtigte stets über das nur persönliche Recht des Miethers den Sieg davontragen.

1) Irrig ist es, wenn Einzelne, z. B. Gesterding a. a. O. S. 255. und der bei Glück S. 24. citirte Bünemann dem Käufer auch in diesem Falle die Vindication absprechen, weil ihm als Besitzer die Klage nicht zustehe, die vielmehr gegen den Besitzer gehe. Dem entgegen entscheidet unter wört­ licher Bezugnahme auf den Conductor Ulpian in der L. 9. xDig. de rei vind. 6. 1: Puto autem ab omnibus, qui tenent, et habent restituendi facultatem, peti posse. Vergl. über diese Stelle Savigny, Besitz S. 380., ferner Puchta, Pand. §. 168. 2) Denn diese Klage ist eingeführt: ut is, qui bona fide emit, possessionemque ejus ex ea causa nactus est, potius rem habeat — L. ult. Dig. de public. 6. 2. und §. 4. Inst, de action. 4. 6; L. 7. §. 6. Dig. h. t. „Publiciana actio ad instar proprietatis, non ad instar possessionis respicit.“ — Die Publiciana beruht auf der Fiction des vollendeten Usucapionsbesitzes und damit erlangten Eigenthums: sie ist also eine Art (analoge) Eigenthumsklage: Puchta, Pand. §. 173.

15 Dies und nichts anderes sagen denn auch nur die von jeher zur Bestätigung des jus expellendi in Bezug genommenen Digesten­ stellen: 1) die schon oben, Seite 5, benutzte L. 25. §. 1. loc. cond. (19, 2): „Qui fundum fruendum, vel habitationem alicüi locavit, si aliqua ex causa fundum vel aedes vendat, curare debet, ut apud emtorem quoque eadem pactione et colono frui et inquilino habitare liceat: alioquin prohibitus is aget cum eo ex conducto. Um den Beweis des jus expellendi aus dieser Stelle zu beseitigen, braucht man dieselbe nicht, wie dies Gesterding a. a. O. Seite 266. thut, nothwendig von solchen Fällen zu verstehen, da das Grundstück dem Pächter vom Verkäufer noch gar nicht überlassen ist, — sie ist vielmehr schon oben zum Nachweis benutzt worden, daß ungeachtet des Verkaufs das alte Miethsverhältniß ungehindert fortbestehen könne. In dem „alioquin prohibitus“ ist nichts enthalten, was uns zu der An­ nahme veranlassen könnte, der Jurist (Gajus) lege dem Käufer ein blos aus dem Kaufcontract (abgesehen von einer etwa bereits erfolgten Besitz- und Eigenthumsübertragung) hervorgegangenes jus ex­ pellendi dem Miether gegenüber bei, dessen juristische Unconstruirbarkeit wir oben nachzuweisen gesucht haben. 2) L. 32. Dig. Loc. Cond.: „Qui fundum — — locaverat, decessit; et eum fundum legavit: — — — Quod si colonus vei­ let co le re, et ab eo, cui legatus esset fundus, prohiberetur, cum berede actionem colonum habere:------- sicuti si quis rem, quam vendidisset, necdum tradidisset, alii legasset, Leres ejus emptori et legatario esset obligatus. Diese Stelle bestätigt unsere Regel „Kauf bricht Miethe" in keiner Weise, -da sie von einer Singular-Succession durch Vermächtniß redet, also einem Falle, in welchem Eigenthum auch ohne Besitzergreifung erworben wird (vergl. Puchta, Pand. §. 541. und die dort alleg. Stellen). 3) Dasselbe gilt von dem ersten Absatz der L. 59. §. 1. Dig. de usufr. (7, 1.) „Quidquid kn fundo nascitur, vel quidquid inde percipitur, ad fructuarium pertinet etc.": — das dingliche Recht deS Usufructuars entsteht lediglich auf Grund des Vertrags.*) Wenn ttit* Fortgang der Stelle gesagt wird: „ad exemplum venditionis... potest usufructuarius conductorem repellere“, so ist — ganz abge­ sehen davon, daß das Wort repellere auf den Fall der noch nicht geschehenen Ueberlassung des Guts an den Pächter zu deuten scheint, — hier, wie in der sub 1. erörterten Stelle, über die Natur und Entstehung des jus expellendi des Käufers nichts entschieden. 4) Von L. 120. §. 2. Dig. de legatis I. „Fructus ex fundo

*) Vergl. Göschen, Vorl. Bd. H. §. 307. Puchta, Pand. §. 167.

16 pure legato, post aditam hereditatem a legatario perceptos ad ipsum pertinere: colonum autem cum berede ex conducto habere actionem“

— gilt das zu der Stelle sub 2 Bemerkte: mit dem Antritt der Erb­

schaft war dem Legatar das Eigenthum der vermachten Sache erworben. Was endlich 5) die Hauptquelle unserer Regel, die berühmte L. 9. Cod. de loc. cond. (4, 65.) betrifft, so lassen die hauptsächlich hierher gehörigen Worte derselben:

„Emtorem quidem fundi

necesse non est stare colono, cui

prior dominus locavit, nisi ea lege emit. —" zunächst recht wohl die Auslegung zu, daß in dem vorausgesetzten Falle

nur erst der Pachtcontract errichtet und dem Pächter die Sache selbst

noch gar nicht gewährt ist1) Aber auch abgesehen hiervon, giebt diese Stelle keinen Grund, dem

Käufer an und für sich und aus dem bloßen Contracte ein Uebergewicht über den Anspruch des Miethers zu verleihen.

Sie läßt immer

noch die Ergänzung zu, daß der Käufer bereits in den Besitz gesetzt worden — und zu dieser Interpretation muß man unseres Er­

achtens seine Zuflucht nehmen, will man anders diese Stelle mit den

oben dargelegten Prinzipien des Römischen Rechts über Kauf und Miethe, über dingliches und persönliches Recht in Einklang bringen.*)

Schluß des Abschnitts I. Resultate für das Römische Recht. Fassen

wir die

in unserer bisherigen Darstellung

untersuchten

Grundsätze des Römischen Rechts über Kauf und Miethe und über die Collision des Kaufs mit der Miethe zum Schluß nochmals zusammen, so hat sich ergeben:

Der Kauf an sich hindert weder das Fortbestehen des MiethS-

contracts, noch umgekehrt — da beide Contracte rein persönliche For­ derungen

einem Dritten

gegenüber begründen, und da auch der auS

jedem der beiden Contracte zur Gewährung derselben Sache Ver­

pflichtete der Verbindlichkeit aus der einen Obligation nachkommen kann, -ohne nothwendig die aus der andern zu verletzen. Vergl. Gesterding a. a. O. S. 265. ’) Schließlich mag noch auf die L. 3, Cod. h. t. hingewiesen werden, in der nur drei Fälle angeführt werden, in welchen der Miether wider Wil­ len ausgetrieben werden kann, unter denen aber der Fall der Veräußerung sich nicht findet: „Aede, quam te conductam habere dicis, si pensionem

-------- solvisti, invitam te expelli non oportet, nisi propriis usi-

17 Erst dann, wenn der Kauf durch Besihübertragung zum Eigenthum geführt hat,

liegt es

in der ausschließlichen Natur,

in der absoluten

Macht dieses Rechts, welche Beschränkungen durch Dritte nur auf Grund dinglicher Rechte zuläßt, — sowie in der scharfen Sonderung, in

welcher im Römischen Recht das Sachen-Recht und die Obligation ein­

ander gegenüberstehen, und in der Unübertragbarkeit der letzteren außer durch Universal-Succession, — daß der Käufer mit den ihm nunmehr

zustehenden Eigenthumsklagen dem Miether die Sache und deren Be­ nutzung mit Erfolg streitig macht, ohne daß dieser aus seinem ihn nur dem Vermiether oder dessen Universal-Successor gegenüber berechtigenden

rein persönlichen Rechte eine schützende Einrede entgegenzusetzeu vermag.

Jene absolute Macht ist aber, wie gesagt, ein Ausfluß des Römi­ schen Eigenthums,

nicht des Kaufs, und eine gleiche Macht steht

daher jedem aus einem andern Rechtsgrunde zum Eigenthum Gelang­ ten, ja überhaupt jedem dinglich Berechtigten, nicht blos dem Miether,

sondern jedem Dritten gegenüber zu, der nur ein rein persönliches Recht

zu derselben Sache hat. Es wird daher ebenso wie das Eigenthum des Käufers das Eigen­

thum

oder sonstige dingliche Recht z. B. des Legatars oder

Usnfructnars

das blos

Persönliche

Recht des

Miethers

oder

LeiherS

überwinden. Hieraus ergiebt sich denn, daß unsere Parömie „Kauf bricht Miethe"

einerseits im reinen Römischen Recht nicht begründet erscheint, — da

nicht der

Kauf,

„die Miethe bricht"

das

durch

sondern

das

durch ihn vermittelte

Eigenthum

—, andererseits zu eng gefaßt ist, da nicht blos

Kauf erlangte,

sondern jedes Eigenthum und überhaupt

jedes dingliche Recht die rein persönlichen Ansprüche nicht allein des Miethers, sondern jedes Dritten, soweit es durch dieselben gehin­

dert wird, zu elidiren vermag.

IL Abschnitt. Ueber die Parömie „Kauf bricht Miethe" im gemeinen Deutschen Recht. Das sogenannte gemeine Deutsche Privatrecht beruht bekanntlich auf der Vermischung von Rechten verschiedenen Ursprungs.*)

Zum Theil

bus dominus eam necessariam esse probaverit, aut corrigere domum maluerit, aut tu male in re lccata versata es.“ Vergl. Gesterdiug a. a. O. Seite 268. *) Vergl. Maurenbrecher, Lehrbuch des heutigen gemeinen Deutschen Rechts §. 1. und §. 4. Gerber, Deutsch. Priv. Recht §. 1. Philipps, §. 2. 2

18 gründet es sich auf den Inhalt fremder Rechte: des Römischen und

canonischen Rechts, de§ Longobardischen Lehnrechts; zum Theil auf ein­ heimisches Rechts, und es giebt fast kein Institut des letztem, welches nicht durch den Einfluß des fremden, namentlich des Römischen Rechts bis in seine Wurzeln erschüttert worden wäre. Einzelne sind in dem Conflict mit dem Römischen Recht fast ganz erlegen, — dies gilt na­ mentlich von dem einheimischen Obligationenrecht, das, noch im Werden begriffen, von dem bis ins feinste Detail ausgearbeiteten Römischen Obli­

gationenrecht fast überall verdrängt wurde,a) — während andere ein­ heimische Rechtsinstitute, namentlich im Familien- und im Sachenrecht, sich, wenn auch modifizirt, doch im Ganzen siegreich bis in die Gegenwart zu behaupten wußten. Ja wir finden sogar die Thatsache, daß einzelne Particular-Rechte den fremden Einfluß fast ganz abzuwehren verstanden, während andere im Fortgänge ihrer historischen Entwickelung (dies gilt namentlich auch, wie sich im III. Abschnitt ergeben wird, von unserem Preußischen Rechte) vielfach das Fremde zu beseitigen und sich das Ein­ heimische wieder zu erringen wußten. Aus dem Gesagten folgt, daß bei der Prüfung eines im gemei­ nen Deutschen Rechte geltenden Grundsatzes zum richtigen Verständniß desselben die Untersuchung nöthig ist, ob er sich in ungetrübter Reinheit

aus dem einheimischen Rechte entwickelt hat, oder erst mit dem fremden Rechte recipirt respect. wesentlich durch dasselbe verändert uns über­

liefert ist.31) * Demgemäß zerfällt auch unsere Darstellung der Grundsätze des ge­ meinen Deutschen Rechts über die Parömie „Kauf bricht Miethe" noth­ wendig in zwei Unterabtheilungen: A. in die Untersuchung, ob jene Grundsätze bereits vor der Re­ ception des fremden Rechts galten, oder B. erst durch Einfluß des letzteren entstanden sind. —

A. Hatte der Grundsatz „Kauf bricht Miethe" vor Reception des Römischen Rechts Geltung? Grundbegriff alles Rechts ist im früheren deutschen Mittelalter der Begriff der Freiheit. Sie erscheint praktisch als Verth eidigungs-

1) Eichhorn, Nechtsgesch. §. 269. §. 442. Phillips, Deutsches Priv. Recht §. 1. -) Phillips a. a. O. §. 11. §. 70. 3) Vergl. v. Savigny, vom Berufe unserer Zeit zur Gesetzgebung, S 118. und Phillips a. a. O. S. 218.

19 Befugniß, und diese

äußert sich wieder nach zwei Richtungen:

Vertheidigungsbefugniß von Personen — und

Befugniß von Sachen.

alS

als Vertheidigungs-

In ersterer Hinsicht tritt sie unter dem Na­

men des Mundium, in zweiter

Beziehung

unter dem Namen der

Gewere hervor: jene giebt den obersten Begriff des Deutschen öffent­

lichen und Personenrechts, diese die Grundlage des Deutschen Sachen-,

ja zum Theil auch des Obligationen-Nechts. *) Zunächst erscheint die Gewere als die einfache Jnnehabung einer

Sache,2) wenn sie nur mit der Absicht verbunden ist, sich in derselben zu behaupten und die Sache gegen Andere zu vertheidigen, wobei es sogar

zuvörderst gleichviel ist, ob der Inhaber einen Rechtsgrund für sich hat, und ob er in bösem oder gutem Glauben sich befindet.3)

Die Hauptwirkung dieser „lediglichen",

„hebbenden", oder „gemei­

nen" Gewere^) ist, daß sie als solche den Schutz des Richters genießt, d. h. 1) jeder Besitzer, der das Recht eines Andern nicht an­

erkennen will, braucht ihm nur nach Urtheil und Recht zu weichen, •) 2) jeder Besitzer hat wegen des unrechtmäßigen Verlustes seiner Gewere

oder wegen Störung in derselben eine Klage.

In dem wenigstens vorläufigen Schuhe, den auch das Römische Recht seiner possessio im Engern (dem juristischen Besitz — vergl. Puchta

§. 124) gewährt, hat es Aehnlichkeit mit den Grundsätzen des Deutschen

Rechts über jene Gewere.

Unser Recht. weicht

aber darin wesentlich

vom Römischen ab, daß es die Rechte jener (gemeinen) Gewere nicht blos

dem Besitz im eigenen Namen (mit dem animus domini), sondern auch demjenigen ertheilt, der das Eigenthum eines Andern anerkennt, z. B.

dem Commodatar, dem Depositar, namentlich aber auch dem Pächter. *) Der gemeinen Gewere steht die höchste Stufe der Gewere gegen­

über:

die rechte Gewere.

1) Vergl. Albrecht, Gewere, S. 11.; Phillips, Deutsches Private. §. 11. (S. 87.) §. 58. (S. 374.) 2) Anfangs findet sich der Begriff der Gewere nur bei Immobilien, später wird er auch auf bewegliche Sachen ausgedehnt: cf. Phillips a. a. O. S. 374., Zöpfl, deutsche Rechtögeschichte 'n. 2. §. 104. . 3) Albrecht a. a. O. S. 4. 4) Albrecht, S. 7. 6) Albrecht, §. 3. (S. 14.); Zöpfl, §. 104. «) Vergl. Albrecht, S. 3. 86. 98. 118. 127. 159. 165. — Ferner u. a. Nichtsteig, Landrecht II. 17: „item als du fragest, du habest gut in dei­ ner ledigliken geweren, dat habest du verweygeret und habest es in nut2"; — Albrecht billigt die Uebersetzung v. d. Lahrs: quod possideas praedium tamquam conductor — wegen der folgenden Worte: „und es sey dir geantwortet (tradirt) für benempte pfennige.“ Vergl. Albrecht a. z. B. eine Frau vor dem Beamten selbst laut er­

(P. 437 s.).

kläre, ihre Einwilligung zu versagen,

dann werde man den Beamten,

welcher diese dennoch beurkunde, vor den Strafrichter stellen, die Nich­

tigkeit der Ehe selbst aber brauche nicht durch Erkenntniß ausgesprochen zu werden. — Rdal entgegnete, der Heirathsakt bestehe bis zum Urtheil

in Kraft (P. 438), und auch Tronchet blieb bei dieser Meinung. — Bona­

parte wandte sich dann wieder zum Begriffe des erreur sur la personne; und schon verwirft er selbst die so eben noch festgehaltene Einordnung

des Irrthums

über

die qualitds

civiles unter

diesen Begriff!

Von

einem eigentlichen erreur sur la personne könne man bei der Einwil­ ligung

in

eigentlich

das

gegenwärtige Individuum nicht reden;

(dans Vordre social meme)

aber auch un­

machten keineswegs Stand und

Name die Person aus: seitdem es keine Kasten-Unterschiede mehr gebe, seitdem man den Menschen nur nach seinen natürlichen Gaben beur­ theile, würde es barbarisch sein, Gatte den andern,

eine Ehe zu vernichten, trotzdem ein

von Charakter und Gestalt, wohl gekannt habe.

(P. 439 s.) — Emmdry wollte bei der durch die bisherigen Gesetze sanktionirten Annahme eines Irrthums über die Person verbleiben, wenn der

Geburtsakt sich als falsch erweise, weil die Einwilligung auf das Kind

eines bestimmten Individuums gerichtet sei; jene Annahme war aber nur sanktionirt beim error circa quäl, in pers. red., welchen Emmdry nicht

gehörig unterschied. — Regnier wollte die Entscheidung, ob der Irrthum

122



auf den Konsens eingewirkt habe, ganz den Gerichten überlassen (P. 440). Darauf kehrt der erste Konsul wieder zu seiner ursprünglichen Meinung zurück, die Ehe müsse für nichtig nur dann gehalten werden, wenn die Frau sich einen Betrug habe zu Schulden kommen lassen (P. 440 s.); und ruft gegen R4al, welcher die Ehe auch in diesem Falle für gültig erklärt, das Interesse der guten Sitten an. — Regnier stimmt der vorhin vom ersten Konsul verfochtenen Ansicht bei, daß ein Irrthum über die Person nur bei einer Verwechslung zweier Individuen vorliege, und die

qualit4s civiles nur im System der Kasten-Unterschiede in Betracht ge­ kommen seien (P. 441). — Maleville weist diese letzte Annahme zurück: man habe bisher stets, und mit Recht, den Irrthum über Adel oder Reichthum, wie über sonstige Eigenschaften, für gleichgültig, den Irr­ thum über die Person dagegen, und zwar nicht bloß die physische, son­ dern auch die personne sociale, und nicht bloß den durch einen Betrug, sondern auch den ohne diesen entstandenen Irrthum für ein Hinderniß des Konsenses und folglich der Ehe erklärt. (P. 441 s.). Die Bezugnahme auf das alte Recht, welches Maleville sehr wohl kannte (vergl. seinen Kom­

mentar zu den Art. 180 f.), und namentlich die entschiedene Erklärung, daß der einfache Irrthum über Eigenschaften nicht die Befugniß zur Anfechtung der Ehe ertheile, stellen es außer Zweifel, daß Maleville unter dem s. g. erreur sur la personne sociale, nichts Anderes, als den alten error circa quäl, in pers. red. verstand; um so mehr ist zu bedauern, daß er diesen nicht genau bestimmte, vielmehr durch jenen höchst un­ glücklich gewählten Ausdruck die Verwechslung mit dem einfachen Irr­ thum über s. g. sociale Eigenschaften fast unvermeidlich machte. So faßte gleich der erste Konsul seine Aeußerung auf; denn er wehrte den Vorzug der socialen vor den natürlichen Eigenschaften ab, hielt dafür

aber an der Richtigkeit der Ehe im Falle des Betrugs fest. — CambaceröS trägt nochmals die alte Lehre vor: nur die Personenverwechslung, nicht

der Irrthum über Eigenschaften vernichtet die Ehe; cependant on a consid4r£ le consentement comme erron4, lorsque l’individu qui l’a donnä 4pouse la fille d’un autre que celui avec lequel il croyait s’allier. (P. 442.). Also auch erbeutet auf den error circa quäl, in pers. red. hin, ohne ihn genau zu beschreiben. Der Justizminister stimmte seiner An­

sicht bei, unterstützte sie aber schlecht durch die Betrachtung, daß die Ehe ein Band auch unter den Familien bilde, und daß es zu hart sein

würde, Jemanden, der eine Frau als die Tochter seines Freundes geheirathet hätte, nach Entdeckung seines Irrthums zur Fortsetzung der Ehe zu zwingen. (P. 442 s.) — Bonaparte entgegnete: die meisten Ehen würden doch mit Rücksicht auf die Person, nicht die Familie des Gatten,

geschlossen; — ein Einwand, welcher den Beweis, nicht die Natur und die Wirkungen des error circa quäl, inpers/red. trifft; und gewiß sei es eine

Härte, die am Irrthum unschuldige Frau zu verstoßen; — eine Betrach-

123 hing, welche für die Behandlung des einfachen Irrthums über Eigen­ schaften Werth haben mag, die aus dem Wesen des error e. quäl, in pers. red. sich ergebenden Folgerungen aber nicht beseitigen kann; — und der Bemerkung des Justizministers, es sei genug, daß der gute Glaube der Frau die Legitimität ihrer Kinder sichere, begegnete er mit der For­

derung, daß jener vielmehr der Ehe selbst Bestand verleihe. — Wiewohl Tronchet den unwiderleglichen Einwand erhob, daß das Gesetz nie auS fremdartigen Gründen eine wesentlich nichtige Ehe (un mariage essentiell e-

ment nul) gültig machen könne: wollten Regnier und Kretet doch die Heilkraft des guten Glaubens nicht fahren lassen (P. 443). Das von Kretet angezogene Beispiel, daß während der Ehe eine Klage auf Unter­ schiebung die Frau des bisher geführten Namens beraube, veranlaßte einige unbedeutende Bemerkungen. Cambac^res erklärte hier die Ehe ohne Weiteres für gültig; der Justizminister gab für dieselbe Entschei­ dung als Grund an, daß der Standesbesih der Frau den Irrthum im Konsens des Mannes-ausschließe, — Maleville, daß es nicht auf nach der Ehe eintretende Beränderungen in den Eigenschaften ankomme, — der erste Konsul gar, daß di? Mitgift nur ein Beiwerk, die Einwilligung in die gegenwärtige Person die Hauptsache sei! Cambac6res erklärte abermals die Ehe beim Irrthum über die Familie des Gatten, wegen Mangels der Einwilligung, für nichtig; natürlich entfernte er sich durch diesen, theils zu weiten, theils zu engen Ausdruck noch mehr von dem wahren Element seiner Ansicht, der Begriffsbestimmung des error c. quäl, in pers. red.; und es kann nicht Wunder nehmen, daß er mit der Berufung auf die bonne foi als die grande rdgle des contrats so wenig ausrichtete, als mit jener auf eine Jurisprudenz von 1500 Jahren. — Der erste Konsul meinte^ die Jurisprudenz könne sich auf die Annahme eines

von der Frau gespielten Betrugs oder auf feudale Ideen gründen! (P. 444.). Regnier erhob den treffenden Einwand, beim Irrthum über den Namen und die Familie erscheine es ungewiß, ob die Ehe nicht vielmehr mit Rücksicht auf die moralischen Eigenschaften eingegangen sei.

(P. 444 s.). Tronchet suchte aus dem Streit über die Wirkungen des guten Glaubens Vortheil für seinen Vorschlag zu ziehen, die Anwen­ dung deS Grundsatzes: beim Irrthum kein Konsens, und ohne Konsens keine Ehe, den Gerichten zu überlassen. (P. 445.). Regnier verwarf

die Entscheidung aus den Umständen als unsicher, hielt aber noch immer au dem Wahne fest, es könne für die Gültigkeit der Ehe nur auf die Vorschriften der Ehre und des Gewissens ankommen. (P. 445 s.). Der erste Konsul meinte dann mit einem Male, die angerufenen Grundsätze seien nur brauchbar gewesen zu einer Zeit, wo die Trauungen durch

Vollmachtträger gestattet waren. (P. 446.). Röderer äußerte, bei der Trauung mit einer gegenwärtigen Person richte sich immer die Ein­ willigung

auf diese, und ein Irrthum betreffe höchstens den Namen:

124 si, ensuite, le mari vient dire que son dpouse lui ddplait, c’est un fourbe, c’est un läche, qui ne mdrite aucune faveur. (P. 446 s.) Tronchet bemerkte hierauf: Regnier's Ansicht, daß der Konsens trotz des Irrthums vermuthet werden könne, möge die Anwendung, nicht aber

die Verfügung des Gesetzes leiten; und gegen Röderer: seine Meinung widerspreche der Erfahrung, daß der Ehekonsens gar oft nicht sowohl durch das Aeußere, als vielmehr durch die von dem Charakter, der Fa­ milie und Erziehung des Gatten gewonnenen Vorstellungen bestimmt werde. Doch die eigentliche Frage sei, ob der Irrthum bloß in dem

Falle wirke, wo ganz unzweifelhaft der Konsens vermißt werde, nämlich da, wo der Irrthum durch einen Betrug des andern Gatten unterhalten

sei. (P. 447 s.) Röderer wollte diese Frage bejaht wissen. Auf den Vorschlag von Cambacörös aber ward der zweite Satz des Art. ganz gestrichen. (P. 448.) Die Gesetzgebungssektion des Tribunats schlug zum Art. 2 (= 146 Cod. civ.) den Zusatz vor: „L’interdit pour cause -de d&nence ne peut contracter mariage (P. 451), und beantragte, im Art. 28 (— 181 Cod. civ.) die einjährige auf eine sechsmonatliche Frist herabzusetzen. (P. 455.) In der neuen, von Real am 6. Brüm. XI. vorgelegten Redaktion deS Titels, deren 44 erste Artikel (= 144—193 Cod. civ.) der Staatsrath ohne Diskussion annahm, lautete Art. 3 (= 146): „II n’y a pas de mariage lorsqu’il n’y a point de consentement.“ Art. 31 (— 180): „Lorsquil y a erreur dans la personne, le mariage ne peut etre attaquö que par celui des deux öpoux qui a etö induit en erreur.“ Art. 32 (— 180): „Dans le cas des artt. pr(jc. (C. c.: de 1’art. pr£c), la demande en nullite n’est plus recevable, toutes les fois qu’il y a eu cohabitation continu^e pendant six mois depuis que l’epoux a acquis sa pleine libertd ou que l’erreur a 6t6 par lui reconnue." §. 3. Das Ergebniß der Berathungen für unsere Frage ist ein negatives: die Grundgedanken des Entwurfs sind davon unberührt ge­ blieben. Zwar im Art. 146 ist an die Stelle des Ausdrucks: „Le mariage n’est pas valable“, jener: il n’y a pas de mariage“ getreten. Allein hieraus folgt keineswegs, daß in gewissen Jrrthumsfällen die Ehe von Rechtswegen nichtig, und schlechthin wirkungslos sei, in anderen der Art. 180 ein richte reiches Erkenntniß der Nichtigkeit erfordere, der Art. 181

aber die Möglichkeit einer Heilung dieser Nichtigkeit eröffne. Denn 1) die Rechtsvermuthung einer gültigen Ehe wird, wie im Kanonischen Recht an die priesterliche Einsegnung, so im Französischen an die Trauung durch den Civilstands-Beamten geknüpft; die Nichtigkeitsklage

zielt darauf, diese Nechtsvermuthung zu entkräften, sie ist nicht ein6 action en rescision ou annulation, sondern eine action en d^claration de nullitd Sie ist daher auch im Französischen Recht nicht bloß bei heilbaren, d. h. privaten, sondern auch bei öffentlichen Ehehindernissen

125 0. Art. 184, 190, 191), kurz überall da, aber auch nur da nothwendig, wo ein förmlicher Trauungsakt vorliegt.

Diesen Grundsatz hielten ins­

besondere für den Fall des Irrthums über die Identität der Person

acks leitenden fest: Portalis in der Sitzung vom 26. Fruct. IX., Tronchet und R6al in jener v. 24. Frim. X.

Der erste Konsul behauptete zwar

in beiden Sitzungen das Gegentheil; aber am 4. Vendem. X. ging er ausdrücklich auf jene Unterscheidung ein, und wünschte namentlich auch eine Fassung des heutigen Art. 181, wonach selbst die Nichtigkeit einer

mittels eines Irrthums über die Identität der Person zu Stande gekommenen Ehe geheilt werden könne.

Diesem Wunsche entspricht die dem Art. 181

gegebene Fassung, während gegenüber der früheren, am 24. Frim. X. auftauchenden Meinung Bonaparte's, Real und Tronchet das

wieder

letzte Wort behielten.

Ihre Ansicht ist auch offenbar die systematisch

richtige; und an sich greift der Ausdruck: „il n’y a pas de mariage“ der

Frage, ob die Nichtigkeit ohne Weiteres angenommen oder erst durch ein

richterliches Erkenntniß festgestellt werden müsse, so wenig vor, als der ne peuvent (ne peut) contracter

anderwärts gebrauchte Ausdruck:

manage“ (Art. 144, 147, 148), oder „le mariage 68t probids“ (Art. 161 — daß aus der heutigen Fassung deS

Hierzu kommt,

163, vergl. 184).

Art. 146 so wenig, als aus den darüber gepflogenen Verhandlungen zu entnehmen

ist,

welche Art des Irrthums denn die Ehe gar nicht zu

Stande kommen lassen, welche Art bloß ein Recht zu deren Anfechtung begründen solle.

Denn die Erwähnung des Irrthums im Entwurf des

Art. 146 ward gestrichen, nicht weil man sich über die Arten des zu berücksichtigenden Irrthums geeinigt hätte, 'sondern offenbar weil man

an einer Einigung über die aus dem allseitig anerkannten Grundsätze für den besonderen Fall des Irrthums zu ziehenden Konsequenzen ver­ zweifelte. — Erwägt man endlich, daß auch die Anfechtbarkeit der Ehe

nach Art. 180 nur auf die Rechtsvermuthüng des fehlenden Konsenses zu­

rückgeführt werden kann, so muß der letzte Schein für die hier bekämpfte

Meinung schwinden. 2) Der Ausdruck

ist

aus

180)

des Art. 180: erreur dans

dem Entwurf, Art. 4 (—

er

beibehalten;

ward

als

la personne

146 C. c.) u. Kap. 4 Art. 2 (=

gleichbedeutend

mit

dem Ausdruck:

erreur sur la personne gebraucht, so schon im Discours preliniinaire,

so insbesondere in der am 26. Fruct. IX. angenommenen Fassung des

Art.

146, und in

Art. 180, 181.

der am

4. Vendem. X. vorgelegten Fassung der

Er bezieht sich sowohl nach dem strengen Wortsinne,

als nach seiner althergebrachten, von den Redactoren festgehaltenen tech­

nischen Bedeutung nur auf den Irrthum über die Identität der Person. Die Verhandlungen haben keine Einigung über eine abweichende Be­ deutung erzielt, geschweige einer solchen einen Ausdruck in der Fassung

des Gesetzbuchs verschafft.

Die Aeußerungen der einzelnen Staatsraths­

mitglieder kommen um so weniger in Betracht, als viele in ihren An-

126 sichten unaufhörlich schwankten, wenige den Beifall des einen oder des andern, geschweige der Mehrzahl der Sprecher gewannen, keiner ein nch-

tiges Prinzip mit den wahren Gründen verfocht.

So erkannte Bma-

Parte im Eingänge der Berathung jedes irrthümliche Motiv zur Ehe als einen Anfechtungsgrund an; in der zweiten Sitzung läßt er zwör-

derst durchblicken, daß er jenen Irrthum als einen durch Betrug hewor-

gebrachten dachte, hält dann seiner eigenen Ansicht das Interesse der guten Sitten entgegen, wird plötzlich von der Idee ergriffen, wesentlich

seien nur die moralischen, nicht die socialen Eigenschaften, bestärkt sich

hierin durch die Erwägung, daß hier ein unverschuldeter Irrthum auf

beiden Seiten denkbar sei; klammert sich dann wieder an die Meimng,

die Personenverwechslung begründe die radikale Nichtigkeit, der durch

Betrug des Ehegatten veranlaßte Irrthum über seine Eigenschaften bloß • die Anfechtbarkeit der Ehe, erklärt die Bedeutung dieses Unterschiedes dahin, daß dort nur eine ddclaration de nullite, hier auch eine Heilung

der Nichtigkeit

möglich

sei, will

endlich

doch in beiden Fällen rinen

stillschweigenden Verzicht auf die Nichtigkeitsklage zulassen, und außer dem Irrthum über das Individuum nur den, durch Betrug bewirkten

Irrthum über die Familie berücksichtigen.

In der Sitzung vom 24. Zrim.

X. kommt

radikalen Nichtigkeit und der

er

auf

den Unterschied der

bloßen Anfechtbarkeit zurück, hält dort sogar die ddclaration de nillitd

für überflüssig, macht einen heftigen Ausfall gegen die vernichtende Kraft des Irrthums über sociale Eigenschaften, und will endlich wieder den

Betrug als Anfechtungsgrund zulassen. — Käme es darauf an, aus diesen schwankenden Aeußerungen eine Ansicht als die wahre des ersten Konsuls auszulesen, so möchte wohl die Zulassung

des Betrugs als Grund der Anfechtung am meisten für sich haben. Denn von dieser Ansicht ging er aus, sie hat er nie eigentlich aufgegeben, vielmehr

kommt er noch zuletzt darauf zurück; sie hat offenbar auch in der Auffassung der Ehe als Vertrag, sei das obligatorische Band noch so wichtig und innig,

oder vielmehr gerade wegen dieser Innigkeit, einen guten inneren Grund. Allein so wenig diese, als irgend eine andere von Bonaparte vorgetra­

gene Meinung fand ungeteilten Beifall, und seine noch zuletzt dar­ gebotenen Gründe

waren

Denn anstatt die

vernichtende Kraft

auch

ungeeignet,

ihr

solchen zu verschaffen.

des Betrugs aus dem darin lie­

genden Mißbrauche des Vertrauens, der Grundbedingung aller Rechts­

gemeinschaft und insbesondere der Verträge, abzuleiten (vergl. Savigny B. III. S. 115 f.), sah der erste Konsul vielmehr die Nichtigkeit der Ehe beim Irrthum in den Motiven als die Regel, den guten Glauben des an­

dern Gatten, d. h. dessen eigenen Irrthum, als eine Art Gegengift an.

Es

ist

zu

verwundern,

daß

diese

Anschauungsweise

an

Regnier

und Röderer so eifrige Vertheidiger fand; die Andern schreckte sie gewiß eher von der Anerkennung des Betrugs als Ansechtungsgrund ab.

Gleich-

127 wohl griff die Neigung, diesen Grund zuzulassen, um sich, wie die Schlußäußerung von Tronchet zeigt, als Cambacdrös den Faden der Erörterung abschnitt. Man konnte zwar noch versucht werden, die Schlußworte des Art. 180: „celui des deux dpoux qui a etd induit en erreur“ auf den Fall des Betrugs zu beziehen; allein dies geht erstlich darum nicht an, weil dann im Art. 180 bloß von dem durch Betrug veranlaßten Irr­ thum die Rede wäre, während doch der auf den Art. 180 ausdrücklich

Bezug nehmende felgende Artikel für alle Jrrthumsfälle gelten sollte; dann

aber namentlich, weil jene Schlußworte nur mit dem Zusatz: (induit en erreur) par l’autre dpoux denjenigen Betrug ausdrücken würden, wovon überhaupt als Anfechtungsgrund Rede gewesen war. Endlich suchten ge­ schulte Juristen, wie Maleville, Cambacdrös u. A., zwar von der Vernunft­ mäßigkeit der alten Lehre zu überzeugen; allein wie konnte dieser Ver­ such gelingen, wenn jener z. B. eine durch Eigenschaften im Geiste ge­ bildete Personenvorstellung „personne sociale“ nannte, dieser gar sich auf die bonne foi zu berufen für nothwendig hielt?

Aber ungeachtet dieser schwachen Vertheidigung im StaatSrathe, ist für das Gesetzbuch an der alten Lehre festzuhalten; denn abgesehen von dem angeführten entscheidenden Grunde, daß jene im Entwurf einen Ausdruck erhalten, und dieser Ausdruck im Gesetzbuche keine wesentliche Aenderung erfahren hat: ist auch im Französischen Recht, nach den oben §♦ 1 am Ende gegebenen Andeutungen, allein der Irrthum in der Per­ son, sowohl der error personae im eigentlichen Sinne, als der error circa quäl, in pers. red., nach dem Begriffe der Ehe als Grund zu deren Anfechtung anzuerkennen, während die auf jeden andern Irrthum gestützte Anfechtung eine positive Gesetzesvorschrift zu Hülfe nehmen muß. Und

da diese im Code civil vermißt wird, kann nur Willkür dem Irrthum über irgend welche Eigenschaften des Ehegatten für sich allein, d. h. da wo die Ehe objektiv statthaft ist, vernichtende Kraft beilegen. Verlangt man für dieses Ergebniß noch Autoritäten, so tritt dafür die stärkste, welche es, nächst der Berathung im Staatsrath, für die Auslegung des

Code civil giebt, in die Schranken, - das Expose des motifs, Portalis bemerkt darin einfach (Locre T. IV, P. 510): L’erreur, en matiere de mariage, ne s’entend pas d’une simple erreur sur les qualitds, la fortune ou la condition de la personne ä laquelle on s’unit, mais d’une erreur qui aurait pour objet la personne meine. Mon Intention declaree dtait d’epouser une teile personne; on me trompe, ou je suis trompd par un concours singulier de circonstances, et j’en dpouse une

autre qui lui est substitude a mon insu et contre mon grd: le mariage est nul. — Dasselbe Resultat zog Maleville aus der Berathung, indem er zum Art. 180 bemerkt: Mais apres bien des dlucubrations, on convint de ne pas entrer dans ces ddtails; et les choses en sont restdes

128 sur le pied des lois anciennes (Commentar, übersetzt von Blanckard,

Bd. I. S. 196).

Gegen diese Zeugnisse von Männern, welche sowohl

an der Redaktion des Entwurfs, als an den Staatsraths-Verhandlungen thätigen Antheil genommen haben, kann die Rede des Tribunen Bcutte-

ville nicht aufkommen, welcher zwar im Art. 146 blos das Prinzip für die Vorschriften des Art. 180 findet, aber die Meinung Tronchet's sich an­

geeignet hat, die Bestimmung der Jrrthumsfälle hänge ganz von den

Umständen ab: Point de consentement, consdquemment de consentement parfaitement libre, point de mariage. Ce fanal dirigera bien plus süre-

ment les juges, que des idäes mdtaphysiques ou complexes qui pour-

raient ne faire que les embarrasser ou les ^garer (P. 553). Im Uebrigen bietet die Auslegung der Art. 180 und 181 keine

Schwierigkeit dar. Insbesondere ist man ziemlich allgemein einverstanden, daß einzig aus dem fortgesetzten Zusammenleben während 6 Monaten auf

eine stillschweigende Konsenserneuerung geschlossen werden darf, jeder aus­ drückliche Verzicht auf die Anfechtung aber volle Wirkung äußern muß. l)*

Eine Verjährung der Nichtigkeitsklage dürfte, weil diese im Grunde nmunter den Gesichtspunkt einer stillschweigenden Konsenserneuerung fallen würde, nicht anzunehmen fein;3) jedenfalls wäre nur jene von 30,3) nicht

die von 10 Jahren,*) zuzulassen.

Endlich leuchtet ein, daß die Grund­

sätze über Putativ-Ehen (Art. 201, 202) auch auf die wegen Irrthums nichtigen Ehen Anwendung finden.

§.4.

Ueber die Hauptfrage gehen die Ansichten der Schriftstel­

ler und der Gerichte weit auseinander.

Zachariae hat von der

ersten Auflage (1808) an die richtige Ansicht präcisirt. Er lehrt §♦ 467 (4.Aufl.l837): „Das impedimentum erroris ist auf den Fall zu beschrän­

ken, da sich der eine Ehegatte oder da sich beide Ehegatten 'gegenseitig in

dem physischen Jndividuo des andern Ehegatten geirrt haben;" und be­ ruft sich, Note 3, auf die Rechtsregel: in dubio pro matrimonio — die Autorität des Juris canonici und darauf, daß es sonst keine feste Gränze

gebe.

Hierbei ist allein zu tadeln der Ausdruck:

„Irrthum in dem

physischen Jndividuo", welcher allerdings bei der Berathung als gleich­ bedeutend mit: erreur sur la personne gebraucht ward, aber nur weil man sich den Begriff des error circa quäl, in pers. red. nicht klar machte.

*) Die Gründe für beide Sätze hat schon Grelman (Ausf. Handb. über den C. N. 1811. Bd. II. S. 293—296) befriedigend ausgeführt. Dergl. Zachariä, Bd. HI. §. 467. N. 5 u. 6. Marcadö zum Art. 181,1. u. II. N. 644. 645. Demolombe (Brux. 1847) Bd. II. N. 261-268. a) Dergl. Windscheid, Zur Lehre des C. N. von der Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte, S. 78 ff. 3) Sacharin, Bd. in. §. 464. N. 5. Marcadd zum Art. 181. HI. N. 646. *) Düranton, Bd. II. N. 278. Demolombe, Bd. II. N. 268.

129 Grolman (Bd. II, S. 48—54) entscheidet sich, nach einer systematisirenden und ungenauen Analyse der Staatsraths-Verhandlungen, für die Meinung des Tribunen Boutteville, weil das Ermessen der Gerichte bei der Anwendung genereller Regeln da von selbst frei sei, wo keine gesetzliche Verfügung es beschränke; doch seien im Allgemeinen die bür­ gerlichen Verhältnisse der Gatten heut zu Tage nicht als die wesent­ lichen Voraussetzungen für ihre Einwilligung anzunehmen. Vorher hat er schon auszuführen gesucht, daß die „Geschlechtsfähigkeit" die ein­ zige Eigenschaft eines Gatten sei, welche man als wesentliche Vor­

aussetzung bei der Ehe, und als eine Art des Irrthums in der Person betrachten könne (S. 33—48); die Bestimmung des Art. 180 nämlich, daß bei der Ehe nur der Irrthum über die Person wesentlich sei, ent­ halte lediglich eine Anwendung der im Art. 1110 für Verträge überhaupt aufgestellten Regel, und nach dieser sei unzweifelhaft ein Irrthum über die wesentlichen Eigenschaften des Gegenstandes als ein wesentlicher zu betrachten. Allein im Staatsrathe hat man sich darüber verständigt, auf die Ehe nicht einfach die Bestimmungen über Anfechtung der Ver­ träge überhaupt (welche, beiläufig bemerkt, noch gar nicht berathen waren) anzuwenden (s. §. 1); dies lehrt auch schon die bloße Ansicht des Gesetz­ buchs, welches ein besonderes System der Gründe der Anfechtung und Auflösung des Ehevertrags aufgestellt hat. Grolman verfällt auch schon in den Fehler so Mancher nach ihm, die Frage nach dem Einflüsse der Impotenz an sich und die nach dem Einflüsse der Unkenntniß dieses Ge­

brechens zu vermischen; so, wenn er beispielsweise die Ehe mit einem Individuum, welches sich nachher als zum Geschlechte deö andern Gat­ ten gehörig ausweise, wegen wesentlichen Irrthums für ungültig erklärt (S. 45), da sie vielmehr aus objektiven Gründen für nichtig zu halten ist. Menn die Berathung im Staatsrath das Bild eines unentschiedenen Kampfes der Meinungen aufrollt, so sieht man dagegen mit Staunen in Toullier's Darstellung die widersprechendsten Grundsätze friedlich neben einander gelagert. Den einfachen Irrthum über Eigenschaften, auch den durch einen Betrug veranlaßten, erklärt er für gleichgültig,

unter Berufung auf das alte Recht und

die allgemeinen Bestimmun­

gen der Art. 1110 und 1116 (Ed. de Brux. 1829. T. I. n. 512, 516, 517, 519, 520). Auch der error circa quäl, in pers. red. kommt bei ihm, als eine Unterart des Irrthums in der Person, zu Ehren, natürlich aus Rücksicht auf die Aelteren; auf gleiche Linie mit jenem aber wird, zufolge Arti­ kel 1116, der durch einen dolus causam dans hervorgebrachte Irrthum in den Eigenschaften gestellt; nur für diesen Irrthum, nicht für jenen über das Individuum, bedürfe es der Frist des Art. 181 (N. 521, 522). Gleich darauf spricht er sich aber wieder dahin aus, daß der Betrug einen wirklichen Irrthum über die Identität der Person zu Wege ge, bracht haben müsse (N. 523). Dann wird daraus, daß die StaatS-

9

130

raths-Berathung keine Entscheidung herbeigeführt habe, der Schlrß ge­ zogen, daß der Richter das Dasein eines gültigen Konsenses nah den Umständen zu beurtheilen habe (N. 524). Schließlich wird der Irrthum über die Impotenz für unwesentlich erklärt (N. 525), ausgenommen jenen über impuissance accidentelle et manifeste, namentlich auch weil der unvermögende Gatte sich nicht auf ein consentement surpris pa* dol personnel berufen könne (N. 526). — Man sieht, Toullier hat so ziemlich alle Meinungen, d. h. im Grunde keine. Richt viel konsequenter ist Duranton (Ed. belg. 3me dd. 1830. T. I. sect. 2). Er findet zunächst im Art. 146 einen Grundsatz ausge­ sprochen, dessen Anwendung der souveraiuen Entscheidung der Gerichte unterliege (N. 22—25). Der Betrug, selbst der dolus causam dans, ist ihm beim Schweigen des Art. 180, und um der höheren Bedeutung der Ehe willen, kein selbstständiger Anfechtnngsgrund (N. 26, 60, 65). Von den Arten des Irrthums läßt er nur jenen sur la substance m&ne du contrat, sur la chose qui en est l’objet principal, d. h. über die Per­ soll (N. 55), nicht den Irrthum über moralische Eigenschaften (ST. 56), und noch weniger den über äußere Vorzüge (N. 57), als Anfechtungs­ grund zll. Auch den Jrrthiun über die qualites civiles, Stand und Familie (N. 58), und den über die Nationalität (N. 59), erklärt er für gleichgültig. Dann aber macht er plötzlich eine Schwenkung zu dem entgegengesetzten System; er beklagt die Ungewißheit, welche die Be­ rathungen über die wahre Meinung des Gesetzgebers zurücklassen (N. 61, 62), wendet gegen die Beschränkung der Richtigkeit auf den Falt einer­ wirklichen Personenverwechslung. die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Falles und die Andeutung im Art. 180 ein, daß der Irrthum erst län­ gere Zeit nach der Heirath entdeckt werden möge (N. 63); führt das von D'Hericourt für den error circa quäl, in pers. red. aufgeführte Bei­ spiel so an, daß er dessen Schwerpunkt verrückt und zur Läugnung die­ ser Jrrthumsart gelangt (M 64), und erklärt schließlich den Irrthum über die impuissance naturelle für unwesentlich (N. 68), den über die impuissance accidentelle für einen Grund zur Anfechtung der Ehe. —Del­ l'-ine ourt (Cours de Code civil Dijon, 1834. T. I, p. 151) trägt die richtige Ansicht vor, hebt auch den error circa quäl, in pers. red. heraus, billigt aber doch das unten angeführte Urtheil des Colmarer Appelhofs als tres-moral. Merlin stellt sich ün Repertoire (M. Empechements de mariage §. V art. 1 n. 4) auf die Seite von Portalis und Maleville, und unterscheidet" namentlich, im ausgesprochenen Gegensatze zu der verschwommenen Dar­ stellung Toullier's, scharf und richtig den error circa quäl, in pers. red. von dem einfachen error qualitatum. Daß er den Irrthum über die impuissance accidentelle et manifeste als Grund zur Anfechtung der Ehe zuläßt (M. Impuissance n. 2), beruht wohl weniger auf einer Ver-

131 läugnung seines Princips, als auf einer unbewußten Vermischung der

Fälle der Nichtigkeit ans objektiven und aus subjektiven Gründen; hier­ aus deutet wenigstens die gewählte Analogie des Falles hin, wo eine Frau eine in Mannskleidern eiubergehende Frau geheirathet habe.

Da­

gegen hat Merlin in den Qucstions de droit (M. Mar. §. 9) seine ursprüng­

liche Ansicht aufgegeben, und aus den durch Lorse s Le'gisl. civile voll­ ständig bekannt gewordenen Staatsraths-Verhandlungen die Ueberzeugung

geschöpft, daß durch die Art. 180 und 181 der Irrthum über die qualit£s civiles jenem über die Identität der Person gleichgestellt worden

sei.

Im Eingänge seiner Analyse dieser Verhandlungen hebt er noch­

mals den error circa quäl, in pers. red. als im älteren Recht schon dem error personae im engeren Sinne gleichgestellt, hervor.

Er zieht sodann dar­

aus, daß man in der Sitzung vom 6. Brümaire X der Anfechtungsklage

eine längere Frist setzte, den Schluß, daß die Majorität des Staatsraths auch den Irrthum über den Namen oder die Familie für wesentlich er­

achtet, und diese Ansicht durch die Annahme der vorgeschlagenen Fassung des Art. 181 zum Gesetzentwurf erhoben habe.

Auch in der Sitzung

vom 24. Frim. X habe der Staatsrath einstimmig bei jener Ansicht ver­ harrt, und nur über die Frage gestritten, ob nicht jener Irrthum durch

Betrug veranlaßt sein müsse. Der erste Konsul habe zunächst beantragt, beim Irrthum über die qualites civiles die Frist der Nichtigkeitsklage auf 6 Monate herabzusetzen, dann, jenen Irrthum, sofern er nicht durch Betrug hervorgebracht werden sei, gar nicht zu berücksichtigen; dieser

Antrag sei indeß unter der schonenden Form der Streichung jeder Er­ wähnung des Irrthums im Art. 146 verworfen worden, und es sei so bei dem durch die Annahme des Art. 181 festgesteltten Grundsätze verblieben. Offenbar schlägt Merlin

in dieser

Abhandlung,

welche zuerst

als Konsultation zu Gunsten einer wegen Irrthums über Eigenschaften klagbar gewordenen Frau geschrieben ward, die Bedeutung der Staatsraths-

Verhandlung v. 6. Brüm. X viel zu hoch an. Denn einmal entscheidet die Verfügung des Art. 181 nur die Frage,.wie lange das Zusammenleben nach

Entdeckung des Irrthums gedauert haben müsse, um den sicheren Schluß

auf stillschweigende Konsenserneuerung zu gestatten, und bewegte sich

hauptsächlich um diese Frage auch die Berathung am 6. Brümaire X;

dann kann zwar die Entdeckung des error personae im eigentlichen Sinne kaum, sehr wohl aber jene des error circa quäl, in pers. red. einige Zeit

nach der Trauung auf sich warten lassen, und daher auch im alten Sy­ stem sehr wohl der Zeitpunkt der Trauung von jenem der Entdeckung des Irrthums

unterschieden

werden.

Und

daß

diese

Unterscheidung

wirklich schon im ersten Entwurf, welcher bestimmt nur den Irrthum

über die Identität der Person berücksichtigte, enthalten war, und daß

dieser erste Entwurf (abgesehen von der Abkürzung der Frist) im heu­ tiger Art. 181 wörtlich reproducirt ist, benimmt dem Schluffe von der

9*

132 Aufnahme jener Unterscheidung in das Gesetzbuch auf die stillschweigende Adoption eines neuen Systems jede Kraft. Der Art. 181 hat ferner für die Frage, welche Arten des Irrthums als

Anfechtungsgründe zugelassen seien, höchstens einen enunciativen, keinen dis­ positiven Charakter; und in diesem Sinne hat ihn auch der Staatsrath am 6.Brümaire X berathen; denn hätte diese Berathung jener Frage vorgreifen sollen/ so würden gewiß die so sehr verschiedenen Ansichten hierüber nicht zu­ rückgehalten worden sein. Der Schwerpunkt der Erörterung jener Frage fiel naturgemäß in die Berathung der Art. 146 und 180, worin der zur Anfechtung der Ehe berechtigende Irrthum bestimmt bezeichnet war, d. h. in die Sitzungen vom 4. Bend, und 24. Frim. X. Den Sinn dieser letzten Verhandlung hat nun Merlin ganz verzerrt durch die nir­ gends angedeutete Zurückbeziehung auf einen schon gefaßten Beschluß, und durch die Auffassung einiger hingeworfenen Aeußerungen des ersten Konsuls als successive zu jenem Beschlusse gestellter Amendement's, um welche sich die ganze Debatte bewegt habe. Am unglücklichsten ist die Idee, mit der Aeußerung: mais aujourd'hui qu’on ne considere plus Fhomrne qu’en soi et tel qu’il est dans la nature, il serait barbare de d&ruire, apres six mois, un mariage oü chacun des 6poux a connu parfaitement Findividu auquel il a voulu s’unir, — habe der erste Konsul eine Herabsetzung der einjährigen auf eine sechsmonatliche Frist bezweckt; offenbar kam es dem ersten Konsul nicht auf die Frist, nach welcher, sondern darauf an, ob überhaupt die Verstoßung zugelassen werde. Aber es ist auch grundfalsch, wenn Merlin voraussetzt, Emmery, Maleville,

Carnbacsres u. A. hätten den Vorschlag des ersten Konsuls nur darum bekämpft, weil er dem angeblich schon beim Art. 181 angenommenen Grundsätze widersprochen habe; vielmehr traten sie selbst diesem Grund­ sätze entschieden und so entgegen, daß sie unverkennbar die Frage nach seiner Annahme oder Verwerfung als eine offene betrachteten. Merlin geht am Schluffe so weit, Maleville's Aeußerungen im Staatsrath und in der Analyse raisonnde den Sinn unterzuschieben, als berechtige der Irrthum über Namen und Familie nach dem Code civil, gerade so wie nach der alten Jurisprudenz, zur Anfechtung der Ehe;

d. h. er thut nicht nur den Worten Maleville's Gewalt an, sondern er vergißt auch ganz die von ihm selbst für die alte Jurisprudenz durch­ geführte Unterscheidung des error circa quäl, in pers. red. und des error qualitatum. Marc ad 6 wirft dem alten Recht Inkonsequenz vor (5me äd. Par. 1855, T. I„ ad art. 180. III. N. 630, 631.), insofern es der Verwechslung mit einer bekannten jene mit einer früher nie gesehenen Person gleichstelle: dort liege ein Irrthum über die Identität der Person, und folglich gänzliche Abwesenheit des Konsenses, hier nur ein Irrthum in

den Eigenschaften, folglich ein bloß durch falsche Motive bestimmter

133 Konsens vor;

denn der Geist könne sich eine nie gesehene Person nicht

als eine von der gegenwärtigen verschiedene vorstellen.

Abgeschmackt sei

das alte Recht auch darin, daß es sogar beim Irrthum über das Indi­ viduum von einer Bestätigung der Ehe rede; diese könne nur durch den nachträglichen Konsens zu allererst entstehen; natürlich sei aber hier, wie sonst, der (nachträgliche) Ehekonsens vor dem Beamten förmlich zu erklä­ ren.—Die Läugnung der spezifischen Verschiedenheit deS error circa quäl,

in pers. red.

vom error

Marcads

jenem keinen Begriff hat.

von

qualitatum rührt unverkennbar daher,

daß

Vollends kämpft er gegen

Windmühlen, wenn er dem alten Recht den Gedanken unterschiebt, die Ehe bedürfe nicht sowohl einer Konsenserneuernng, als einer einfachen

Bestätigung. Pothier, den er anführt, bemerkt richtig, daß beim gehei­ men Irrthum schon die frühere Trauung die Oeffentlichkeit der später

wirklich geschlossenen Ehe vermittele (s. die Stelle oben §♦ 2.).

Bei

solchen Mißdeutungen überrascht es kaum noch, daß Marcadö das Mär­ chen aus den Diskussionen wieder auftischt, das häufige Vorkommen der

Ehen durch Bevollmächtigte und die Furcht adeliger Familien vor Miß-

heirathen hätten den Anstoß zu den Kanonischen Satzungen über Irrthum

als

Ehehinderniß gegeben,

welche hiernach als ebenso unsittlich, wie

unvernünftig geschildert werden (N. 632). Rach Marcad6 (N. 633, 634) sieht der Art. 180. nur den Irrthum über

die Eigenschaften vor; darum sage er nicht, wie Pothier: erreur sur la personne, oder, wie der Abänderungsvorschlag des Kassations-Hofö: erreur sur l’individu, sondern: erreur dan s la personne, — ce qui indique une erreur 86 realisant avec une seule personne en jeu, et sans aller d’un individu ä un autre. Der Irrthum über die Identität der Person sei schon durch

den Art. 146. vorgesehen, könne auch heutzutage, wo die Heirath unter

Abwesenden unstatthaft sei,

und bei der genauen für den Heirathsakt

erforderten Personenbeschreibung (Art. 76.) gar nicht mehr vorkommen.

Der erste Satz des Art. 180., folglich auch der zweite, habe einen bloß fehlerhaften, nicht einen gänzlich mangelnden Konsens zum Gegenstände.

Endlich beständen heutzutage einige, im älteren Recht statuirte Nichtig­ keitsgründe nicht mehr, z. B. Sklaverei, Impotenz, Empfang der höheren Weihen, und sei gerade für solche Fälle die Anerkennung des Irrthums

in den Eigenschaften als Ehehinderniß durch die Moral geboten. — Allein, daß aus dem Wechsel der Ausdrücke: erreur sur la personne und dans

la personne nicht das Mindeste für eine verschiedene Bedeutung gefol­

gert werden könne, ist oben aus der Entstehungsgeschichte der Art. 146.

und 180. dargethan worden; und auch nach dem Sprachgebrauch beruht der von Marcads zwischen beiden Ausdrücken gemachte Unterschied auf

reiner Willkür.

Ob eine Regel mehr oder weniger oft, vielleicht gar

niemals zur Anwendung kommt, ändert an ihrer Bedeutung im Rechts­ system nichts; auch für das Kanonische Recht hat sich gezeigt, daß, un-

134 geachtet seiner ausgedehnten Geltung in Raum und Zeit, das Vorkonmen

eines Irrthums in der Person allem Anschein nach nie konftatirt worden ist. Am

Schein hat

meisten

beim Zwange

zwar

Konsens vorliege,

ein

noch

die

fehlerhafter, aber

Annahme doch

Marcads's, daß

immer ein wirklcher

und bei dem im Art. 180. mit dem Zwange auf

gleiche Linie gestellten Irrthum dasselbe anzunehmen sei.

Allein tiefer

Gedanke ist so wenig der des neuen, als der des alten Rechts, waches Marcade (N. 631.)

wegen

der Gleichstellung

Irrthums über die Identität hart anläßt.

des Zwanges und des

Denn der Entwurf, und

noch die in der Sitzung vom 26. Fruct. IX. angenommene Fassunc des

Art. 146., begriff den Zwang ausdrücklich unter die Fälle des fehlmden Konsenses, und

die bei der endgültigen Redaktion erfolgte Streichung

der hervorgehobenen Fälle ist um so weniger von einer Ausscheidung derselben zu verstehen, als die Berathung sich nur um den Umfang der

aufgezählten, aber gar um keine anderen Fälle bewegt hatte.

Im Gegen­

satze zu Marcade läßt sich daraus, daß der Irrthum über die Identität der Person, ein Fall des gänzlich fehlenden Konsenses, also der nach

Art. 146.

nichtigen Ehe,

im Art. 180. hervorgehoben wird,

darauf

schließen, daß auch, die ebendaselbst ausgesprochene Nichtigkeit der erzwun­

genen Ehe auf den Grundsatz des Art. 146. zurückzuführen sei. übrigens für ein Recht, welches

Daß

die sittliche Bedeutung der Ehe als

einer Einigung der freiheitbegabten Geister festhält, die freie Einwil­ ligung zum Dasein der Ehe gehört, der erzwungene Konsens dem gar nicht ertheilten gleichsteht (vergl. Entwurf des Art. 146.: Le manage n’est

pas valable,

si les

II n’y

libre.

epoux

n’y ont pas donne un consentement

a pas de consentement, s’il y a eu violence etc.),

ist vollkommen begriffgemäß.

Endlich die Ehehindernisse der Impotenz,

der Ordination u. s. w. haben als

objektive mit dem Willensgebiet,

worauf sich das Hinderniß des Irrthums bewegt, nichts zu schaffen. —

Hierauf wendet sich Marcade (IV.) zur näheren Begründung seiner Ansicht durch

geradezu

eine

Analyse

der

Staatsraths-Verhandlungen,

einen romanhaften Charakter trägt.

welche

Der Held des Schau­

spiels ist der erste Konsul; die Entwickelung zeigt, wie dieser den Zäuberkreis der aus der alten Jurisprudenz vererbten unvernünftigen Ideen, worin die andern Redner festgebannt waren, durchbricht und eine neue,

heilbringende Idee zum Siege führt: le grand principe de la difference

entre le mariage non existant pour döfaut de consentement, et le mariage

annullable pour consentement vicieux.

Die Art, wie Marcade

diese

Erzählung in Scene setzt, die Bewunderung, welche er für den Scharf­ blick und die Konsequenz Bonaparte's zur Schau trägt (N. 637.), muß

Jeden, welcher die Berathungen ganz gelesen hat, mit Staunen erfüllen;

gerade mit Rücksicht auf diese beispiellose, gleichwohl von den Neueren

mit Beifall aufgenommene Kühnheit, ist oben ein getreuer Auszwg aus

135

bett Berathungen mitgetheilt, worauf hier einfach verwiesen werden kann. — Für die Praxis bleibt natürlich, beint Stillschweigen des Ge­ setzbuchs, die Entscheidung ttach den Umständen, jene in den Berathun­ gen so hart bekämpfte und auch vom ersten Konsul ungünstig beurtheilte Norm, als die einzige übrig. Marcade versucht, einige Eigenschaften als wesentliche zu kennzeichnen (N. 638.); wie weit man aber damit kommen würde, zeigen Aeußerungen wie: La Prostitution de la femme, ou l’ötat de forgat du mari pourraient n’etre plus de causes süffisan­ tes d’annullation, si le conjoint n’avait pas lui-meme une grande moralite. II en serait de meine, dans le second cas, si les circonstances du fait, qui a motive la condainnation, montraient un komme plutöt malheurcux que scelerat u. s. w. Den Betrug erkennt Marcade als besondern Grund zur Vernichtung der Ehe nicht an, will ihn vielmehr nur als Moment bei Schätzung der Tragweite eines dadurch bewirkten Irrthums gelten lassen: denn die Rechtswirkung des Betrugs sei eine reine Schadensklage, und diese zweckentsprechend und statthaft nur bei Verträgen über Geldwerthe, nicht beim Ehevertrage, welcher den ganzen Menschen zum Gegenstände habe, oü par consequent tonte compensation, tonte indemnite, tonte remise des choses an mcme etat que devant, est impossible (VI. N. 639— 641). Offenbar aber lehnt sich diese Betrachtung gegen die ganze Theorie Marcade's über nnllite und annullabilite der Ehe auf; denn ist bei dieser in integrum restitutio undenkbar, so lassen siä) alle Gründe zur Anfechtung der Ehe schlechthin nur entweder als Gründe zu deren nachträglicher Trennung, die Klage nur als Ehescheidungsklage, oder als Hindernisse der anfäng­ lichen Existenz der Ehe, die Klage nur als action en declaration de nullite, auffassen. Den Irrthum über die Impotenz erklärt Marcadd für schlechthin wesentlich, und verwirft die Unterscheidung der impuissance naturelle und accidentelle (N. 567.), wofür in der That durchweg Gründe angeführtwerden, welche gegen die Zulassung der impuissance natu­ relle als objektives Ehehindernisi streiten, als welches im Französischen Recht keine Art.der Impotenz anerkannt ist. — Demolombe (Ed. belg. T. II. N. 251 - 255., vergl. N. 240 — 243.) und Boileux (6mo ed. T. I. p. 141—145.) eignen sich die Ansicht und-die Gründe Marcade's an, und auch An schütz zu Zachariae (B. III. §. 467. N. 3.) erklärt diese letzten für entscheidend. Dagegen wird nach Wind scheid (a. a. O. S. 78 ff.) durch die Bestimmungen des Code Nap. zwar ein Unterschied zwischen absoluter und relativer Nullität der Ehe begründet, aber kein Gegensatz zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit. Die Französischen Gerichte haben sich bald, unter Bezugnahme auf das alte Recht und den Wortlaut des Gesetzbuchs, gegen, bald, aus dem Gesichtspunkte der reinen Vertragstheorie, für die vernichtende Kraft

136 des einfachen Irrthums über Eigenschaften erklärt. So wies der Appel­ hof zu Genua, durch Urtheil vom 7. März 1811, die Anfechtung einer Ehe wegen Impotenz zurück, indem er unter andern erwog: „Att. qu’inutilement all^guerait-on qu’il y a eu erreur de la part de l’individu qui a contractd mariage avec une personne incapable de la consommer, et que cette erreur viele son consentement, sans lequel il ne peut exister de mariage, puisque l’erreur en cette.mati&re ne s’entend point, comme l’observait le conseiller d’dtat Portalis, d’une simple erreur sur les qualitds, la fortune ou la condition de la per­ sonne ä laquelle on s’unit, mais d’une erreur qui aurait pour objet la personne meme; que la capacite de consommer le mariage n’est qu’une qualit^ de la personne, et que l’epoux qui en est privd n’en est pas moint identiquement le meme individu avec lequel on s’etait engag£ par le contrat." Ebenso der Appelhof zu Niom, am 30. Juni 1828: „Att. que l’erreur de la personne n’a pour objet que l’identitd de l’individu, et ne s’dtend pas a ses qualites morales et physiques; que si, voulant dpouser tel individu, ou lui en fait ^pouser un autre par erreur ou superclierie, le mariage est nul: voilä ce que la loi a entendu, et c’est l’explication qu’en ont donne les auteurs anciens et notamment D’Hericourt dans ses lois civiles et dans ses lois eccl^siastiques; que teile a 6t6 l’explication donnee par le celebre Portalis, etc." Das Bezirksgericht zu Straßburg erhielt am 13. Juli 1811 die, wenige Tage nach der Trauung von der Frau angefochtene Ehe mit einem Organisten, welcher ihr seine Eigenschaft als Ordensprofeß verschwie­ gen hatte, aufrecht: „Att. que la demanderesse ne peut soutenir qu’il y a erreur dans la personne du d^fendeur, dans le sens de l’art. 180. C. c.; car c’est Charpion qu’elle a £pousd et a voulu 6pouser; ce n’est pas un autre individu: on ne peut donc pas dire que sous ce point de vue il l’ait induite en erreur, en passant sous silence sa ci-devant qualitd de frere lai-capucin, qualitd qui n’existe plus etc." Der Appelhof zu Colmar dagegen gab der Nichtigkeitsklage Statt, durch Urtheil vom 6. Dezember 1811: „Cons. que le consentement pour le mariage, ainsi que pour toutes les autres conventions civiles et sociales, doit porter les caracteres imprimds en la sect. lre, cliap. 2., tit. 3., liv. 3. C. c.; Att. qu’en celant ä l’appelante un fait aussi essentiel (sav. qu’il dtait lie par des voeux incompatibles avec l’dtat de mariage), l’intim^ n’a obtenu son consentement que par une espece de dol et de surprise; Que de cette circonstance il suit que l’appe­ lante peut soutenir avec raison qu’il y a eu erreur, et que, d’aprös l’art. 1110 C. c., l’erreur est une cause de nullite, lorsque la considdration de la personne est la cause principale de la Convention." In einem Falle, wo ein wegen Diebstahls verurtheilter Ausländer in der, mittels falscher Zeugnisse behaupteten Eigenschaft eines Barons und

137 Obersten eine Herrath zu Stande gebracht hatte, wies das Bezirksgericht zu TMe, am 17. August 1826 die Nichtigkeitsklage der Frau, in con­ tumaciam des Beklagten, zurück: „Att. que l’erreur sur les qualitds ne pent faire annulier le mariage, lorsque la personne est certaine, est la meme que Fon a voulu epouser; Que, dans la discussion sur le Cod. civ., on a examind, si l’erreur sur les qualites morales et sociales ne devait pas etre admise comme cause de nullitd du consentement, et cependant on a laissd substituer dans la loi, le mot persönne; Que, d’aprds cela, il doit demeurer pour constant que Fon a voulu laisser en vigneur les anciens principes, d’aprds lesquels l’erreur ne rendait le mariage nul, que lorsqu’elle tombait sur la personne meme; Que la demanderesse ne conteste pas avoir dpouse la personne meme qui avait demandd sa main et qu’elle connaissait; qu’ainsi, il n’y a pas eu erreur dans la personne; Qu’il parait bien qu’il y a eu erreur sur les qualites morales et sociales de Ferri; mais si Fon pouvait dire que cette erreur doit vieler le consentement, ce ne serait que dans les cas extremement rares, comme Findiquent les exemples donnds, par les auteurs, dans des circonstances tont autres que celles oü se trouvait la demoiselle Beauger, et lorsque, de plus, les qualites sur lesquelles il y a eu erreur, ont ddtermind le consentement, etc." Der Hof Von Bourges aber erklärte die Ehe, am 6. August 1827, in con­ tumaciam für nichtig: Cons. qu’avant la Publication du Cod. civ., on lisait dans le projet, que le mariage peut etre attaqud quand il y a erreur dans la personne; quel a cour de cassation ayant proposd de substituer le mot individu ä celui de personne, aprös un long examen et les plus savantes dissertations dans le conseil d’dtat, le mot individu n’a pas dtd admis, le mot personne est restd dans la loi; d’oü il saut conclure que ces deux acceptions expriment deux choses differentes; Qu’en esset, dans l’dtat de nature, le mariage n’est que l’union des individus; mais que, dans l’etat de la socidtd civilisde, on considdre ndeessairement et essentiellement tout ce qui constitue l’dtat, qui personnifie l’individu, et que c’est Findividu ainsi personnifid auquel on donne son consentement; que, si la saintetd du mariage, son importance dans la socidtd, Findissolubilitd du lien peuvent harter les eiTeurs rdsultants, dans un cas, du plus ou moins de Fortune; dans un autre, des emplois plus ou moins dminens; ailleurs d’une existence sociale plus ou moins relevde, on ne peut admettre la meme ddeision dans le cas oü rien n’existe de ce qui constitue l’etat civil annoned, puisqu’alors ce n’est plus la personne ü qui le consentement a dtd donnd; que teile est Fopinion de plusieurs peres de FEglise romaine, celle de plus savans Juris consultes, et la seule idde qui puisse naitre des tarmes sainement entendus du Cod. civ.; Que si on ajoute que l’erreur dans laquelle a dtd entrainde Fdlicie Beauger, est Fouvrage du dol et du faux de celui avec lequel eile a contractd; qu’il est, dös lors, impossible de

138 ne pas reconnaitre qu’il n’y a pas de contrat, ou qu’au meins, ce con­ tra! est nul ä defaut de consentement, tant suivant la r&gle particuliöre aux mariages, qu’ils peuvent etre attaqu4s quand il y a eu erreur 6ur la personne, que suivant la rögle gän^rale sur les conventions, qu’il n’y a point de consentement valable, s’il a 6t6 donn6 par erreur ou surpris par dol (art. 1109, 1110, 1116. C. c.)." Urtheile von Erstinstanz - Gerichten gegen die Zulassung des Irr­ thums über Eigenschaften führt Gilbert ad art. 180. aus der Gazette des Tribunaux an; er selbst erklärt sich für jene Zulassung (N. 5. und 6.), ebenso Devilleneuve und Carette in einer Note zu dem Colmarer Urtheil V. 6. Dezember 1811 (Rec. des lois et des arr. HI. 2. P. 588 s.), und Pailliet (Manuel de droit civil 9me ed. Brux. 1833) zum Art. 180. N. 2. Dagegen halten Teulet, d'Auvillier und Sulpicy (Les Codes franyais annot4s T. I. 1843) zum Art. 180 f., N. 4, 18, 23) an der strengeren Ansicht fest.

Druck von I. Blumenthal in Berlin, Adlerstr. S.

IV. Ueber die katholisch-geistliche Gerichtsbar­ keit in Ehesachen. Kann ein geistliches Gericht in Preußen noch auf separatio quoad thorum et mensam erkennen, und welche Wirkung hat ein solches Urtheil? Don dem KreiSrichter Meinck zu Loitz in Neuvorpommern.

Einleitung. Ueber den Begriff und die Natur der Ehe, nament­ lich nach der katholischen Glaubenslehre. Kein Rechtsinstitut hat in neuester Zeit,

sowohl in materieller

wie in formeller Beziehung, die gesetzgeberische Thätigkeit in Preu­ ßen so sehr in Anspruch genommen, wie das Eherecht. ES ist dies freilich um so erklärlicher, als die Ehe nicht allein in juristischer Be­

ziehung, sondern noch weit mehr aus dem staatlichen, socialen und kirch­ lichen Gebiete ihre Wirkungen äußert. Wer wollte leugnen, daß dieses Institut neben dem bürgerlichen Vertrage, aus welchem allerdings die Wirkungen auf dem juristischen Gebiete fließen mögen, ein viel erhabe­

neres Moment, eine geistige Weihe in sich schließt, — daß die Ehe ihrer Natur nach gleichsam die Verkörperung der Sittlichkeit, der Moral und überhaupt jedes edleren Gefühls ausmacht, — und daß sie in dieser Veredlung des Menschengeschlechts die Grundlage der Familie, und da­

durch wieder im Ganzen und Großen die Grundlage des Staats und der kirchlichen Gemeinschaft bildet. Gerade darin liegt der unendliche Vorzug der christlichen Lehre vor allen übrigen Religionen der alten und neuen Zeit, daß die Ehe zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurück­ geführt ist, daß daS Concubinat der Römer, daß die Vielweiberei der

140 Mohamedaner mit dem innersten Princip dieses Instituts, d. h. mit der das ganze Leben der Ehegatten durchdringenden körperlichen und geistigen Gemeinschaft unvereinbar sind. Man verkennt daher gänzlich das Wesen

der Ehe, wenn man ihr nur die Natur eines bürgerlichen Vertrages beilegt. Wenn auch zunächst die freie Entschließung der Ehegatten den Grund der Ehe bildet, so ist doch das höhere, von dem Willen derselben unabhängige sittliche und religiöse Moment der Ehe zu allen Zeiten an­ erkannt. Es geht dies schon aus der von den römischen Juristen gege­ benen Definition hervor: Nuptiae autem sive matrimonium est viri et mulieris conjunctio, individuam vitae consuetudinem continens, §. 1. Inst. I. 9. und: Matrimonium est consortium viri et mulieris, divini et humani Juris communicatio. L. 1. D. de rit. nupt. 23. 2. Zum größeren Bewußtsein und zur Vollendung der Heiligkeit und der religiösen Matur der Ehe ist es aber erst im Christenthum gekommen. Diesen Standpunkt haben auch die Reformatoren festgehalten; denn wenn von ihnen die Ehe bisweilen als ein weltlich Ding bezeichnet wird, z. B. in Luthers Werken Bd. X. S. 892, so ist dies nur im Gegensatz zu der strengeren Auffassung der katholischen Kirche, welche die Ehe für

ein Sacrament erklärt, geschehen. cf. Richter's Kirchenrecht (4. Ausgabe) S. 511. Sonst ist in den Bekenntnissen und den Schriften der Reformatoren vielfach das Bewußtsein Aller ersichtlich, daß die Ehe zunächst zwar ein bürgerliches Verhältniß, zugleich aber ein der göttlichen Gnade und des Segens der Kirche bedürftiges Institut sei, die Pflanzschule nicht blos des Staats, sondern auch der Kirche und des Reiches Christi bis an der Welt Ende. cf. Aug. Art. 27; Apol. art. XI. Luther's Werke, Bd. I. S. 442. Richter's Kirchenrecht S. 512.

Darin aber weichen, wie bereits angedeutet, die beiden HauptConfessionen der christlichen Religion von einander ab, daß die katho­ lische Kirche, namentlich auf Grund des Tridentiner Concils, die Ehe

für ein Sacrament erachtet, während die Protestanten ihr diese Eigen­ schaft nicht beilegen. Aus der Sacramental-Natur folgt aber, daß nach dem katholischen Dogma das eheliche Band selbst unauflöslich ist, also nur eine Trennung der Ehegatten quoad thorum et mensam erfolgen kann. Durch die Sacramental-Natur wurde es ferner bedingt, daß die Ehesachen als sogenannte res mere ecclesiasticae von jeher vor daS geistliche Forum gezogen wurden. In neuerer Zeit ist nun aber selbst in katholischen Ländern die geistliche Gerichtsbarkeit entweder ganz beseitigt, wie in Frankreich, oder doch sehr eingeschränkt worden, wie in einzelnen Ländern Deutschlands.

141 Auch in Preußen, wo in mehreren Provinzen bis zum Jahre 1849 geistliche Gerichte bestanden, sind dieselben durch §. 1. der Verordnung

vom 2. Januar des gedachten Jahres in so fern aufgehoben, als ihnen die Gerichtsbarkeit in allen weltlichen Angelegenheiten, namentlich auch in Prozessen über die civilrechtliche Trennung, Ungültigkeit oder Nichtig­ keit einer Ehe entzogen ist. Es entsteht nun die Frage: „Kann seitdem ein geistliches Gericht noch auf separatio quoad thorum et mensam erkennen, und welche Wirkungen hat ein solches Urtheil?" Zuvörderst ist hervorzuheben, daß es sich bei der Beantwortung der

vorliegenden Frage nur um die katholisch-geistlichen Gerichte handeln kann, da die geistliche Gerichtsbarkeit für die evangelische Bevölkerung Preußens zum größten Theil schon im 18. Jahrhundert aufgehoben, und in Neuvorpommern, woselbst sie bis zum Jahr 1849 allein noch bestand, durch die Verordnung vom 2. Januar gänzlich beseitigt ist. In dem letztgedachten Landestheile nämlich wurde bis zum Jahr 1849 die geistliche Gerichtsbarkeit, jedoch nur für die erste Justanz, durch daS Königl. Consistorium zu Greifswald und für die Stadt Stralsund durch deren eigenes Consistorium ausgeübt. Diesen Gerichten stand zugleich die Entscheidung in Ehesachen der Katholiken zu, nachdem diesen durch die Verfügung der Landesregierung vom 6. November 1775 Aufent­

halt, Seelsorge und Gottesdienst in einem Privat- oder Bethause ge­ stattet war. cf. Entwurf zum Provinz.-Recht für Neuvorpommern, II. 11. §. 758. und die Motive dazu. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849, namentlich durch

§. 24. derselben, sind diese Gerichte gänzlich aufgehoben, und damit ist in Neuvorpommern die Gerichtsbarkeit in Ehesachen lediglich an die

weltlichen Gerichte übergegangen.

Sonach bewegt sich die vorliegende Frage nur auf dem Gebiete der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit, ein Gebiet, welches in der neueren Zeit mit Rücksicht auf die veränderte Stellung der Kirche zum Staat häufig zu Conflicten zwischen der Kirchlichen und der StaatsGewalt Veranlassung gegeben hat, und welches auch in Preußen in den Kammerverhandlungen der letzten Jahre, öfters zur Sprache gekommen ist. Seitens der katholischen Abgeordneten ist wiederholt die Herstellung

ber geistlichen Gerichte für Ehesachen beantragt, und zwar mit größerem Umfange und größeren Befugnissen, als ihnen vor dem Jahre 1849 zu­ gestanden haben. Die Regierung hat diese Anträge zwar nicht definitiv abgelehnt, bis jetzt aber mit Rücksicht auf die Wichtigkeit des Gegen­ standes und die in Folge dessen nothwendigen Vorbereitungen hinaus­ geschoben und weiteren Verhandlungen vorbehalten.

142 Um nun aber die vorliegende Frage beantworten zu können, d. h. um klar zu ermitteln, welchen Einfluß die Verordnung vom 2. Ja­

nuar 1849 auf die damals bestehende katholisch-geistliche Gerichtsbar­ keit in Preußen hat haben können und demgemäß wirklich gehabt hat, ist es nothwendig, historisch zu entwickeln, wie sich dieses Institut über­ haupt und insbesondere in Preußen ausgebildet, und in welchem Um­

fange es daselbst vor dem Jahre 1849 bestanden hat.

Der erste Theil dieser Abhandlung wird sich daher als ein histo­ rischer charakterisiren, der zweite und dritte werden die dogmatische Seite der Frage behandeln, und im vierten Theil werden als Schluß einige Resultate und Folgerungen, welche sich aus der dogmatischen Erörterung ergeben, kurz zusammengestellt werden.

Erster Theil. Historische Entwickelung und Ausbildung der katho­ lisch-geistlichen Gerichtsbarkeit.

Erster Abschnitt. Die ältere Zeit bis zur Reformation. §♦ 1. Bevor die christliche Religion im römischen Weltstaat zur herrschen­ den erhoben wurde, hatte sich nach dem Vorgänge der Apostel bereits eine Gerichtsbarkeit der Bischöfe und der Synoden gebildet, welche sich eineStheils aus Rechtsstreitigkeiten über eigentlich kirchliche Verhältnisse,

anderntheils auf solche Rechtssachen bezog, welche durch ein Kom­ promiß der Parteien dem schiedsrichterlichen Ausspruch des Bischofs un­ terworfen wurden. In dieser Beziehung ist eine der wichtigsten Stellen der heiligen Schrift die erste Epistel St. Pauli an die Corinther, Cap. 6. V. 1—6, dahin lautend:

1. Wie darf jemand unter Euch, so er einen Handel hat mit einem Andern, hadern vor den Ungerechten, und nicht vor den Heiligen? 2. Wisset Ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? So denn nun die Welt soll von Euch gerichtet werden, seid Ihr denn nicht gut genug, geringere Sachen zu richten?

3. Wisset Ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden? Wie­ viel mehr über die zeitlichen Güter?

4. Ihr aber, wenn Ihr über zeitlichen Gütern Sachen habt, so neh­ met Ihr die, so bei der Gemeine verachtet sind, und setzet sie zu Richtern.

143 5. Euch zur Schande muß ich das sagen.

Ist so gar kein Weiser

unter Euch? Oder doch nicht einer, der da könnte richten zwischen Bruder und Bruder?

6. Sondern

mit dem andern hadert,

ein Bruder

dazu vor

den

Ungläubigen."

In Folge von derartigen Ermahnungen der Apostel an die Gemein­

den wurde es Sitte, daß dieselben die Schlichtung ihrer Rechtsstreitig­ keiten nicht den heidnischen weltlichen Richtern überließen, sondern den Bischof als Schiedsrichter bestellten.

Jedenfalls wollten aber die Apo­

stel den Bischöfen keine unbedingte Jurisdiction beilegen, sie hatten viel­ mehr, wie auch der Wortlaut der obigen Epistel zeigt, nur das Ver­

hältniß des Christen zu dem heidnischen Richter im Auge, und es hätte

daher ebenso gut wie auf den Bischof, auch auf jeden andern Christen aus der Gemeinde das Kompromiß gestellt werden können.

cf. Eichhorn's Grundsätze des Kirchenrechts der Katholischen und Evangelischen in Deutschland Bd. 2. S. 131 folg.

Als Constantin der Große die christliche Religion zur Staatsreligion erhob, wurde die bischöfliche Jurisdiction nicht allein in der bisherigen

Weise anerkannt, sondern noch dahin erweitert, daß selbst dann, wenn

nur eine Partei auf das bischöfliche Gericht provocire, die Sache an dieses abgegeben, sein Spruch für unumstößlich gehalten und von jedem

Richter vollzogen werden solle.

cf. die

in

dieser

Beziehung

ergangene

Constitution

Con­

stantins in Richters Kirchenrecht S. 381. —- Anmerkung

Nr. 4 u. 5. In der

späteren

Kaiserzeit

wurde

zwar

diese

schiedsrichterliche

Kompetenz der Bischöfe wieder beschränkt und kam zuletzt ganz außer

Gebrauch, cf. Richter's Kirchenrecht S. 379 und die in der Anmerkung 6 daselbst

(S. 382)

abgedruckte

C. 7. Cod. Tust, de ep.

und I. 4. dagegen wurde aber in den Constitutionen der Kaiser anerkannt, daß

dem Bischöfe das Entscheidungsrecht in religiösen Sachen gesetzlich zu­

In dieser Beziehung ist namentlich hervorzuheben die C. 1. Cod. Theod. de relig. 16. 11. „Quoties de religione agitur, episcopos convenit judicare, ceteras vero causas — legibus oportet audiri.” stehe.

cf. Richter's Kirchenrecht S. 380 und Eichhorn's Kirchenrecht rc. S. 131 folg.

Dieser Begriff der sogenannten religiösen Sachen wurde mit dem Wachsen der kirchlichen Macht immer mehr erweitert, und so kam er,

daß häufig auch an sich weltliche Verhältnisse dem Gerichte der Kirche

144 unterworfen wurden, sobald in ihnen nur irgend eine Beziehung zur Religion oder zur Kirche sich zeigte, z. B. Testamentssachen, Eid u. s. w.

Auch in subjectiver Hinsicht wurde die Competenz der geistlichen Gerichte immer ausgedehnter, seitdem die Geistlichen einen Privilegirten Gerichtsstand vor spruch nahmen.

ihresgleichen für alle ihre Angelegenheiten in An­

Seitens der weltlichen Macht wurde diesen Erweiterungen der geist­ lichen Gerichtsbarkeit zu Anfang des Mittelalters nichts in den Weg

gelegt; erst seit dem 13. Jahrhundert tritt hier und da ein Wider­

spruch hervor, —- cf. Eichhorn'S Rechtsgeschichte Bd. 3. §. 467 — der aber zu schwach war, um nachhaltig gegen die noch immer wach­ sende Macht der Kirche zu wirken. Eine entschiedene Opposition auch auf diesem Gebiet ist erst durch die Reformation bewirkt worden. Rach dem canonischen Recht steht nun der Kirche vorzugsweise das Recht der Entscheidung in allen denjenigen Sachen zu, welche die Sa-

cramente, die Lehre, den Cultus und die Disciplin betreffen; es sind dies Sachen, welche an sich als Spirituellen gelten, die sogenannten causae mere ecclesiasticae. Diese können nur von geistlichen Richtern entschieden werden, weil das Entscheidungsrecht in Betreff ihrer aus der durch daß Amt der Schlüssel und das Hirtenamt symbolisirten Gewalt

abgeleitet wird, die Christus den Aposteln vertraut hat. cf. Matthäus, Cap. 16. B. 18 u. 19. Johannes, Cap. 21. B. 15—17.

C. 8. X. de arbitr. 1. 43. C. 2 u. 3. X. de judiciis, 2. 1. Eichhorn'S Kirchenrecht Bd. 2. S. 131 folg. Zu denjenigen Gegenständen, welche schon früh und fast ausschließ­ lich der geistlichen Gerichtsbarkeit anheimfielen, gehörten die Ehesachen. In der heiligen Schrift wird die Ehe dem Verhältnisse zwischen Christo und der Gemeinde verglichen,

cf. Matthäus, Cap. 5. V. 31 folg.

Epheser, Cap. 5. V. 22 folg. und hierdurch erklärt es sich, daß in der christlichen Kirche schon früh­ zeitig eine kirchliche Abschließung der Ehe, nämlich ihre Einsegnung durch den Priester, vorkommt. Es blieb zwar die freie Ehe des rö­ mischen Rechts daneben anerkannt, allein die Kirchenväter mißbilligen diese Ehe, indem sie dieselbe als nahe bei der Sünde liegend bezeichnen, während die im Geiste der Kirche eingegangene Ehe des göttlichen

Segens gewiß sei. cf. Richter'ß Kirchenrecht S. 511

und

die daselbst

in den

Noten 2 und 3 aufgeführten Stellen des Tertullian: de

puduc. cap. 4. u. ad uxor. L. II. ad fin.

145 Don diesem Standpunkte aus wird die Ehe besonders von dem hei­ ligen Augustinus ein Sacrament genannt. cf. z. B. c. 10. c. 27. qu. 2. (August). c. 17. ibid. (Leo I.) Wenn man nun auch der Ansicht Richter's folgt, welche er in sei­ nem Lehrbuch des Kirchenrechts (S. 511) ausstellt,

daß nämlich bei dem Ausspruch Augustins an die eigentliche Be­ deutung des Sacraments nicht zu denken, vielmehr mit jenem Ausdruck nur eine res sacra in Hinsicht auf die Vergleichung der Ehe mit der Verbindung zwischen Christus und der Kirche und auf das Moment der Unauflöslichkeit verstanden sei, so steht doch fest, daß sich während des Mittelalters in der römisch-ka­ tholischen Kirche die Sacramental-Natur der Ehe immer mehr entwickelte,

und daß als Folge davon sowohl die Gesetzgebung, wie die Gerichtsbar­ keit in Ehesachen, soweit es sich um die Frage, ob eine gültige Ehe vorhanden sei, handelte, lediglich der Kirche zustand, während die Wirk­ samkeit des Staats auf diesem Gebiete höchstens auf die Ordnung der Vermögens- und Standesrechte beschränkt war. cf. Walter's Lehrbuch des Kirchenrechts S. 327 folg. Richter's Kirchenrecht S. 513. Jedenfalls war während des Mittelalters die geistliche Gerichtsbar­ keit in Ehesachen, wie sie päpstlichen Bestimmungen entspricht,

cf. c. 16. X. de offic. et potest. jud. deleg. 1. 29. c. 3. X. de ordine cogn. 2. 10. c. 7. X. qui filii sint legit. 4. 17. c. 12. X. de excess. prael. 5. 31. in Deutschland durch unzweifelhaften Gerichtsgebrauch anerkannt, und es gehörten daher diese Sachen nicht zur Competenz des Reichskam­ mergerichts. cf. Concept, der R. K. G. O. II. 1. §. 3. Was endlich die Wirkung einer von dem geistlichen Gericht ge­ sprochenen Entscheidung betrifft, so konnte die Kirche diese anfänglich nur durch die ihr selbst zu Gebote stehenden Zwangsmittel hervorbringen, indem sie denjenigen, der den Canones zuwider eine Ehe einging, von der Gemeinschaft ausschloß. Doch blieb hierbei, weil der weltliche Arm nicht hinzutrat, die Ehe in bürgerlicher Beziehung bestehen. Als

jedoch später die Gerichtsbarkeit der Bischöfe Seitens des Staats an­ erkannt wurde, änderte sich dies, und es hörten jetzt, in Folge des von dem geistlichen Gericht gefällten Ausspruchs, auch die bürgerlichen Wir­ kungen der Ehe auf.

146

Zweiter Abschnitt. Die geistliche Jurisdiction nach den Grundsätzen der Reformation und nach dem Concilium Tridentinum. §♦ 2. Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts wurde allmählich eine feste Haltung der Staatsgewalt in dem Bestreben sichtbar, die geistliche Ge­ richtsbarkeit zu beschränken.

In Frankreich trat diese Einschränkung am

frühesten ein; aber auch in Deutschland wurden im Laufe der Zeit selbst

einzelne Arten der sogenannten causae spiritualibus adnexae nicht mehr als solche anerkannt, und die Landesherren, die Reichsgerichte und sogar die Reichsgesetze unterstützten das Bestreben der weltlichen Gerichte, ihre ausschließliche Gerichtsbarkeit in solchen Sachen zu behaupten. cf. Eichhorn's Grundsätze des Kirchenrechts, Bd. 2. S. 144 folg. Am nachhaltigsten wirkte in dieser Beziehung die Reformation ein,

welche die geistliche Gerichtsbarkeit, den Grundsätzen der katholischen Kirche entgegen, so viel wie möglich zu beschränken suchte. Auch auf dem Gebiete des Eherechts blieb die kirchliche Jurisdiction nicht unan­ gefochten. Die Protestanten legten z. B. schon in der ersten Zeit der Reformation den Landesherren das Recht bei, Ehegesetze zu erlassen. Wem dagegen die Ausübung der Gerichtsbarkeit in Ehesachen zustehen solle, darüber herrschte Streit, weil die Reformatoren selbst wider­ sprechende Ansichten in dieser Beziehung äußerten.

Luther erklärte sich häufig dagegen, daß die Ausübung der Gerichts­ barkeit in evangelischen Ländern den Geistlichen überlassen blieb. Er meint:

»Die Ehe gehe die Kirche nichts an, sei außer derselben ein zeit­ lich weltlich Ding, darum gehöre sie vor die Obrigkeit. Auch wären solche Fälle sehr hoch, breit und tief und brächten große Aergerniß. Diese würde dem Evangelio zur Schande und Un­ ehre gereichen. Darum — fährt er fort — will ich mit solchen

Sachen unverworren sein. Mich grauet vor den Exempeln des Papstes, welcher sich in dies Spiel gemengt und solche weltliche Dinge an sich gerissen, bis er ein lauter Weltherr über Kaiser

und Könige worden ist u. s. w." cf. Luther Ehesachen Fol. Ausg. sowie Bd. 22 pag. 440 in Voigt's Kirchen- und Eherecht der Katholiken und Evan­

gelischen Th. II. S. 123 folg. ferner: Dr. M. Luther über die Ehe, herausgegeben und ge­ sammelt von v. Strampff, S. 413—430. Rach Voigt's Ausführung soll jedoch aus andern Stellen der Schriften Luther's hervorgehen, daß er nicht die Meinung hatte, alle

147 Mitwirkung der Geistlichen von der Theilnahme an der Jurisdiction in Ehesachen auszuschließen.

Man müsse vielmehr zufolge mehrerer zur

Zeit der Reformation erlassener Anordnungen und erschienener Schrif­

ten annehmen, daß man die Einsetzung eines gemischten Ehegerichts, bestehend aus Geistlichen und der weltlichen Obrigkeit, beabsichtigt habe,

cf. die Jnstruktions-

und Visitationsformeln von

1527 bei

Voigt a. a. O. Diejenigen aber, welche behaupten, daß die Protestanten die Ehe­ sachen schlechthin als weltliche betrachtet hätten, beziehen sich hauptsäch­

lich auf folgende Stelle der Schmalkaldischen Artikel, de potestate et jurisdictione episcoporum: „Reliqua est jurisdictio in iis causis, quae jure canonico ad forum, ut vocant, ecclesiasticum pertinent, ac praecipue in causis matrimonialibus. Haec quoque habent episcopi humano jure, et quid em non admodum veteri, sicut ex Codice et Novellis Justiniani apparet, judicia matrimoniorum tune fuisse apud magistratus. Et jure divino coguntur magistratus mundani haec judicia exercere, si episcopi sint negligentes. Idem concedunt et canones. Quare etiam propter hanc jurisdictionem non est necesse obedire episcopis. Et quidem quum leges quasdam condiderint injustas de conjugiis et in suis judiciis observent, etiam propter hanc causam opus est, alia judicia constitui, quia traditiones de cognatione spirituali sunt injustae, — — — Sunt et alii laquei conscientiarum in eorum legibus, quos omnes recitare nihil attinet. Illud satis est recitasse, quod multae sunt injustae leges Papae, propter quas magistratus debent alia judicia constituere ............ Ipsi autem meminerint, opes datas esse episcopis tanquam elumosynas propter administrationem et utilitatem ecclesiarum.......... Quare non possunt bona conscientia possidere illas elumosynas, et ecclesiam interim defraudant, cui opus est illis facultatibus ad ministros alendos et juvanda studia, et suppeditandum certis pau. peribus, et constituenda judicia, praesertim matrimonialia. Tanta enim varietas et magnitudo est controversiarum matrimonialium, ut his opus sit peculiari foro, ad quos constituendum opus est ecclesiae facultatibus.”

Mit Rücksicht hierauf sagt Eichhorn in seinem Kirchenrecht Bd. 2. S.301: „Die evangelische Kirche hat stets die Gesetzgebung über Ehefachen aus dem Gesichtspunkt betrachtet, daß sie ein bürg er-

liches Verhältniß betreffe, bei dem der Staat, welchem sie dem­

nach anheimfalle, nur die religiöse Bedeutung, welche dieses zu­ gleich habe, berücksichtigen müsse."

148 cf. auch Eichhorn's Kirchenrecht Bd. I. S. 732 u. 735. Gitzler Handbuch des gemeinen und preußischen Kirchen-

und Eherechts

der Katholiken und Evangelischen Bd. 2.

S. 36.

Richter führt dagegen in seinem Kirchenrecht §. 51. (S. 97) auS: „Der Protestantismus betrachte keineswegs die Ehesachen schlecht­

hin als weltliche.

Zwar das verkenne derselbe nicht, daß die Ehe

als ein rechtliches Institut der Ordnung des Staats unterliege;

dagegen nehme er für die Kirche das Recht,

auch von ihrem

Standpunkt auf die Ehesachen einzuwirken, um so mehr in An­ spruch, je mehr auch er anerkenne, daß die Ehe nach der einen

Seite ihren Canon in der Offenbarung finde/ Ebenso versucht Dr. Stahl in seinem Buche „die Kirchenverfaffung

nach Lehre und Recht der Protestanten" (S. 72) darzuthun, „daß eS nicht in der Absicht der Reformatoren gelegen habe, den Geistlichen die Gerichtsbarkeit in Ehesachen ganz zu entziehen;

die Schmalkaldischen Artikel.besagten nur, daß die Sorge für Auf­ rechterhaltung christlichen Gebots in diesen Sachen und somit die

äußere Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit eben so sehr der welt­ lichen als der geistlichen Obrigkeit zukomme, im Gegensatze zum Bann, der allein der Kirche gebühre."

Mag man nun auch die Schmalkaldischen Artikel auslegen wie man

will, so viel steht fest, daß die Reformatoren die sacramentale Natur der Ehe nicht anerkannten und in Folge dessen aussprachen, daß die

weltlichen Richter über Ehesachen gleichfalls entscheiden könnten. §♦ 3. Im Gegensatze zu dieser Ansicht der Reformatoren wurde in der

katholischen Kirche auf dem Concilium von Trient (v. 1545—1563)

die sacramentale Eigenschaft der Ehe besonders anerkannt und befestigt, und als Folge davon wurde denn auch die Gesetzgebung und die Ge­ richtsbarkeit in Ehesachen ausschließlich der Kirche vindicirt, indem daS

Concil diese Berechtigung der Kirche als dogmatischen Satz aussprach. Die betreffenden Vorschriften des Tridentiner Concils sind folgende:

Sessio 7 Decr. de sacramentis can. 1.: „Si quis dixerit, sacramenta novae legis non fuisse omnia a Jesu Christo Domino nostro instituta, aut esse pluria vel pauciora quam septem, videlicet — — — et matrimonium, aut etiam aliquod horum septem non esse vere et proprie sacramentum: anathema sit.” Sessio 24 can. 1 de sacramento matrimonii: „81 quis dixerit, matrimonium non efese vere et proprie unum ex septem legis evangelicae sacramentis a Christo Domino insti-

149 tutum, eed ab hominibus in ecclesia inventum, neque gratiam conferre, anathema sit.” 8 essio 24, can. 12: „81 quis dixerit, causas matrimoniales non spectare ad judices ecclesiasticos, anathema sit.” Namentlich auf Grund dieses Canon 12 wird von den Katholiken daS Entscheidungsrecht der Geistlichen in Ehesachen beansprucht. cf. Dr. Schultes Handbuch des Katholischen Eherechts S. 20 folg.

Wiese Kirchenrecht Th. II. S. 585. Schon vor jener im Jahr 1563 gehaltenen 24. Session des Tri­ dentiner Concils hatte der Augsburger Religionsfriede vom 25. Septem­ ber 1555 in §. 20. zur Wahrung des in den Schmalkaldischen Artikeln bezeugten Bekenntniß-Grundsatzes der Evangelischen die Gewalt der rö­ misch-katholischen Bischöfe über die Augsburgischen Confessionsverwandten in Ehesachen suspendirt und nach der gewöhnlichen Annahme den evan­

gelischen Landesherren das äußere Kirchenregiment, das jus epjscopale, übertragen. cf. Böhmer princ. jur. can. §§. 42 u. 43. Richter'S Lehrbuch des Kirchenrechts §§. 30 u. 51.

Der Westphälische Friedensschluß erweiterte diese Suspension dahin, daß auch in den Ländern katholischer Reichsstände diejenigen Unterthanen, welche im Normaljahr 1624 von der katholischen Gerichtsbarkeit befreit

gewesen, diese Befreiung auch ferner genießen sollten.

Instrum. Pac. Osnabrug. Art. 5.: §. 48. „Jus Dioecesanum et tota jurisdictio ecclesiastica cum omnibus suis speciebus contra Augustanae Confessionis Electores, Principes, Status, comprehensa libera Imperii nobilitate, eorumque subditos, tarn inter Catholicos et Augustanae Confessioni addictos, quam inter ipsos solos Augustanae Confessionis Status usque ad compositionem Christianam dissidii religionis suspensa esto et jntra terminos territorii cujusque jus dioecesanum et jurisdictio ecclesiastica se contineat Eodem etiam jure Augustanae Confessionis Magistratuum Catholici subditi censeantur, itaque hos, qui anno 1624 publicum religionis Catholicae exercitium habuerunt, jus dioecesanum quatenus Episcopi illud dicto anno quiete in eos exercuerunt, sa'lvum esto.” §. 49.: „In quibus civitatibus vero imperii mixtae religionis exercitium in usu est, Catholicis Episcopis contra cives Augusta­ nae Confessionis nulla sit jurisdictio, at Catholici juxta observantiam dicti anni 1624 suo jure experiantur.” So kam es auch, daß in den evangelischen Stammlanden der Preu­ ßischen Monarchie, sowie in den ihr später einverleibten rein protestan­

tischen Gebieten die katholisch-geistlichen Gerichte seit der Reformation

150 Auch wurde, als später den Katholiken in diesen Gebieten die freie Religionsübung von den Landesherren wie­

zu bestehen aufgehört haben.

derum eingeräumt wurde, dabei die geistliche Gerichtsbarkeit hier nicht wieder hergestellt. In den katholischen Ländern dagegen, wo das Concilium Triden-

tinum bindende Norm war, waren die katholisch-geistlichen Gerichte an­ erkannt, und stand ihnen auch die Entscheidung in Ehesachen zu, aller­

dings in verschiedenem Umfange, der Regel nach aber so, daß sie nur über die Gültigkeit resp. Trennung der Ehe zu entscheiden hatten, wäh­

rend die daraus entstehenden bürgerlichen Wirkungen zur Competenz deS weltlichen Richters gehörten. Bei den Entscheidungen der geistlichen Gerichte wurde in materieller Beziehung das canonische Recht zu Grunde gelegt, und hiernach konnte, was die Trennung der Ehe betrifft, mit Rücksicht auf die Un­ auflöslichkeit

des BandeS nur auf eine separatio

quoad thorurn et

mensam.perpetua seu temporalis erkannt werden. cf. Richter'S Kirchenrecht S. 570. Thibaut'S System der Pandecten Bd. 2. §. 712.

In keinem Falle war also nach canonischem Recht die Wiederverheirathung der getrennten Ehegatten gestattet; dagegen äußerte die se­ paratio quoad thorum et mensam perpetua in vermögensrechtlicher Be­

ziehung ihre besonderen Wirkungen, cf. C. 2. leg. X. de don. inter vir. et uxor. 4. 20. c. 10 X. de consuet. 1. 4. welche jedoch häufig durch Landesgesetze modificirt wurden. In neuerer Zeit wurde sogar in streng katholischen Ländern den

geistlichen Gerichten die Competenz in Ehesachen gänzlich entzogen. Dies geschah z. B. in Oesterreich durch das Ehepatent Josephs II. vom 16. Januar 1783; auch nach dem allg. bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 (§§. 97, 103 u. 107) stand die Entscheidung über die Se­

paration den ordentlichen Gerichten zu. cf. Richter'S Kirchenrecht S. 514 folg. In neuester Zeit ist freilich die geistliche Gerichtsbarkeit in Ehe­

sachen für Oesterreich in größerem Umfange wiederhergestellt. Der Code Napoleon (Art. 144—342) kennt kein kirchliches Mo­ ment der Ehe, fordert aber auch keine kirchliche Abschließung, und fol-

gerecht hörte daher mit der Einführung der Civilehe in Frankreich die geistliche Gerichtsbarkeit ganz auf. Besonderes Interesse für die vorliegende Abhandlung gewährt aber die Frage, wie sich die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Preußen

ausgebildet, und in welchem Umfange dieselbe bis zum Jahr 1849 be­ standen hat.

151

Dritter Abschnitt. Die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Preußen bis zur Verordnung vom 2. Januar 1849. §. 4. a)

Geschichtliche Darstellung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in den einzelnen Provinzen Preußens,

es, darüber:

Die

Abhandlung von Dr. Löwenberg in HinschiuS' juristischer

Wochenschrift für 1835, Uebersicht der Verfassung der katholisch­

geistlichen Gerichtsbarkeit in den verschiedenen Landestheilen der Monarchie, S. 137 folg. Starke, Darstellung der bestehenden Gerichtsverfassung im preuß.

Staat, 1839. Bd. 1 S. 344 folg. Justiz-Ministerialblatt pro 1856, nicht amtlicher Theil S. 252 f. Ergänzungen znr Allg. Ger. Ordn. Bd. 8 S. 125 folg. u. Bd. 9

S. 481 folg. Um ein vollständiges und übersichtliches Bild von dem Umfange der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in Preußen zu erlangen, ist eS nothwendig, für jede einzelne Provinz die Entwickelung und das Be­ stehen derselben zu verfolgen. Es ist dies um so mehr erforderlich, da die Ausdehnung der gedachten Gerichtsbarkeit sowohl in Betreff der örtlichen Begrenzung, als auch in Ansehung der den Richtern zustehen-

den Jurisdictionsbefugniß

in

den verschiedenen Provinzen wesentlich

anders gewesen ist. In den vorwiegend protestantischen Districten Preußens haben über­ haupt keine katholisch-geistliche Gerichte exiftirt.

Es sind dies die Provinzen Brandenburg und Pommern.

1) Brandenburg.

WaS zunächst die Provinz Brandenburg betrifft, so ist die katho­ lische -Kirche, selbst als sie die weiteste Duldung in Bezug auf ReligionSÜbung erhalten hatte, ohne jedwede geistliche Jurisdiction geblieben. In diesem Zustande ist auch durch die Bulle „de salute animarum“ vom 16. Juli 1821 (Ges. Samml. v. 1821 S. 118 folg.), in Preußen mit Ge­ setzeskraft versehen durch die Kab. Ord. vom 23. August 1821, nichts geändert, obgleich durch diese mehrere katholische Pfarreien der Aufsicht des Fürstbischofs zu Breslau untergeordnet sind.

Nur in einigen wenigen, früher zu Schlesien gehörig gewesenen, später mit der Mark vereinigten Districten, nämlich dem Schwiebuser Kreise Md mehreren Ortschaften aus dem Sorauer Kreise, stand dem

152 Bischof von BreSlau nach den für Schlesien geltenden Normen eine Gerichtsbarkeit zu. cf. im Uebrigen Just. Min. Bl. pro 1856 S. 253. 2) Pommern.

In Pommern, woselbst die Katholiken seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts freie Religionsübung erhalten haben, blieben dieselben gleichfalls ohne anerkannten Verband mit dem Episcopat, und ist dem­

zufolge daselbst von einer katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit nie die Rede gewesen.

3) Westphalen. In Westphalen hat sich die geistliche Jurisdiction verschieden ent­ wickelt. Bei der Abtretung des Bisthums Minden an Kur-Brandenburg durch Homagial-Receß vom 22. Februar 1650 wurde die jurisdictio civilis über geistliche Personen und deren Gesinde dem Domcapitel zu Minden übertragen.

cf. LapeyreS Geschichte und Berfasiung der katholischen Kirche Preußens Thl. I. S. 217. In dem Herzogthum Cleve nebst der Grafschaft Mark und dem

Herzogthum Geldern, welche, wenn auch jetzt nicht zu Westphalen ge­ hörig, damals doch in engster Verbindung damit standen, wurde die

katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in beschränkter Weise auch in Ehe­ sachen durch Receß von 1672 Art. III §. 2 und durch einen Vertrag vom 12. März 1713 sanctionirt und dem Bischof übertragen.

cf. Lapeyres a. a. O. S. 241 u. 253 nebst Anmerk. 9. Im Herzogthum Westphalen übte das Offizialgericht zu Werl (spä­

ter Menden) die Gerichtsbarkeit in causis ecclesiasticis bis zum Jahre 1802 in sehr ausgedehntem Maßstabe; später wurde indessen diese Competenz bedeutend eingeschränkt. Bei dem Anfall der westphälischen Provinzen an Preußen wurde die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit unter Preußischer Landeshoheit noch aufrecht erhalten, — dagegen wurde dieselbe unter der Französischen Fremdherrschaft mit Einführung der Französischen Gesetzgebung aufge­ hoben, und da sie demnächst bei der Wiedereinverleibung Westphalens nicht wiederhergestellt ist, so haben die geistlichen Gerichte dort seit 1806 zu bestehen ausgehört. cf. Besitzergreifungspatent vom 21. Juni 1815 (Ges. Samml.

S. 195); Patent wegen Einführung des Allg. Landrechts

iu das Herzogthum Westphalen vom 21. Juni 1825 (Ges. Samml. S. 135). 4) die Rheinprovinz.

In der Rheinprovinz hängt, so weit darin das Französische Recht

153 gilt, die Entwickelung und Aufhebung der geistlichen Jurisdiction auch

mit diesem zusammen. Die Pseudo-Jsidorischen Decrete über die Stellung

der Kirche zum Staat, die Macht der Päpste u. s. w. find in Frankreich nie in Aufnahme gekommen.

In Ehesachen blieb jener die geistliche

Jurisdiction, jedoch mit einem Recurse an den weltlichen Richter oder König (appel comme d’abus). Die Französische Revolution indessen nahm

dem Clerus alle Macht und jegliche Jurisdiction in weltlichen Angele­ genheiten, und somit wurde auch die Gerichtsbarkeit in Ehesachen in so weit ausgehoben, als sie das civilrechtliche Gebiet betraf.

poleonische Gesetzgebung

D.ie Na­

bestätigte diese Aufhebung, und sonach steht

denn in der Rheinprovinz, deren beim Uebergange an Preußen vorge­ fundene Verfassung beibehalten wurde, den katholisch-geistlichen Gerich­

ten jedenfalls keine Entscheidung in foro externo zu.

In dem sogenannten ostrheinischen Departement dagegen bestanden vor dem Erlasse der Bulle: „de salute“ zwei apostolische Vicariate der

Trierschen und kölnischen Diöcese zu Ehrenbreitstein und Deutz.

Nach

zweien für diese Vicariate maßgebenden Nassauischen Verordnungen vom 16. und 31. August 1803 sollten Matrimonialsachen nur dann vor das

geistliche Gericht gehören, wenn die Ehe nicht als ein bürgerlicher Eon-

tretet, sondern als Sacrament in Betracht komme; in allen übrigen Fällen dagegen, wo nicht von einem impedimento. canonico und eigenen

Religionsgesetzen die Rede sei, sollte die Entscheidung dem weltlichen Rich­ ter zustehen.

Mit dem Erlasse der Bulle „de salute“ ist das Vicariat

zu Deutz eingegangen, und von dem zu Ehrenbreitstein, welches allein

geblieben, ist nicht ersichtlich, daß es seit 1821 irgend eine Jurisdiction

in Ehesachen ausgeübt hätte.

cf. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 256 u. 257. 5) Sachsen. In den jetzt zu Preußen gehörigen Sächsischen Landestheilen war die Ausdehnung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit verschieden, je nach­

dem dieselben zu den eigentlich Sächsischen Erblanden, wo das protestan­ tische Element bedeutend überwiegend war, oder zu den in Folge des

Prager TraditionSrecesseS vom 30. Mai 1636 hinzugekomrnenen Gebie­ ten der Ober- und Niederlausitz gehörten, woselbst die beiden Confessionen gleichberechtigt waren.

Seit der Einverleibung der Sächsischen Gebiete in Preußen beschränkte sich die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in der Provinz Sachsen auf die Gebiete des Fürstenthums Erfurt und des Eichsfeldes.

Im erstem

wurde die Jurisdiction durch ein zu Erfurt residirendes Gericht, die des Eichsfeldes durch das geistliche Commiffariat in Heiligenstadt ausgeübt. Die Competenz dieser beiden Gerichte war eine sehr ausgedehnte, nament­

lich hatten beide die volle Jurisdiction in den Ehesachen der Katholiken.

154 Die höheren Instanzen waren verschieden organisirt. — Während der Französischen Fremdherrschaft verlor daS Commissariat zu Heiligenstadt seine Gerichtsbarkeit; dagegen wurde das Gericht zu Erfurt, wenn auch

nicht ausdrücklich anerkannt, doch auch nicht ausdrücklich außer Besitz

seiner Jurisdiction gesetzt, und so kam eS, daß — ungeachtet das Pa­

tent vom 9. September 1814 (Ges. Samml. S. 89) »wegen Wiedereinführung des Allg. Landrechts und der Allg. Ge-

richtsordnung in die vom Preußischen Staat getrennt gewesenen und wiedervereinigten Provinzen" der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in Sachsen gar nicht Erwähnung thut, — doch das Erfurter geistliche Gericht zu Preußischer Zeit als fortbestehend angenommen wurde und daher in Uebung blieb. Für die höheren Instanzen wurde seitdem ein anderes geistliches Gericht substi-

tuirt. In allen Rechtssachen hinsichtlich der Form und der Verfahrungsart hatte das Oberlandesgericht zu Naumburg die Oberaufsicht; auch

stand demselben die Entscheidung eingehender Beschwerden zu. cf. Lapeyres a. a. O. S. 617 folg. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 244 u. 255. Am bedeutendsten und ausgedehntesten war die geistliche Jurisdiction in Schlesien, Posen, West- und Ostpreußen. 6) Schlesien.

Als Schlesien an Preußen kam, zerfiel es in vier bischöfliche Diöcesen, in die der Erzbischöfe zu Prag, Olmütz, Krakau und des Bischofs zu Breslau. In allen diesen Diöcesen wurden bei der Besitznahme katholisch-geistliche Gerichte vorgefunden und von der Krone Preußen in ihrer vorgefundenen Verfassung beibehalten. Die im Auslande residirenden Bischöfe mußten jedoch, um nicht Ausländern eine Jurisdiction über Preußische Unterthanen einzuräumen, für ihre Schlesischen Diöcesen Dechanten bestellen, denen die Wahrnehmung der bischöflichen Rechte in Bezug auf die Gerichtsbarkeit modo delegationis übertragen wurde.

Die erste Preußische Verordnung, welche besondere Bestimmungen über die katholisch-geistlichen Gerichte enthält, ist das NotificationSpatent, betreffend die Einrichtung bei dem weltlichen und geistlichen Justizwesen im Herzogthum Niederschlesien vom 15. Januar 1742, cf. Korn Edictensammlung I. von 1742 S. 16, ausgedehnt durch ein ferneres Patent vom 23. Mai 1742 cf. Korn a. a. O. S. 85 auf die Grafschaft Glatz, und durch daS Patent vom 17. Novbr. 1742

cf. Korn a. a. O. S. 214 auf Oberschlesien. DaS NotificationSpatent bestätigte die vorhandenen geistlichen Ge­ richte, indem eS in §. 26 ausdrücklich bestimmte:

155 „Die eausas matrimoniales wollen Wir, wenn beide Theile der

katholischen Religion zugethan seien, dem bischöflichen Amte über­ lassen." Das Königl. Reglement vom 8. August 1750 (sub 7)

cf. Korn Nachtrag zur Edictensammlung S. 414 theilte wiederholt die Entscheidung der Ehesachen, wenn beide Theile katholisch seien, dem bischöflichen Consistorio zu und setzte fest, daß die Appellation in zweiter und dritter Instanz an die bestellten Synodal­ richter gehe, wie solches bereits unterm 6. October 1748 verordnet und festgesetzt sei. — Später wurde den geistlichen Gerichten wiederholt ein­

geschärft, sich streng innerhalb der ihnen zustehenden Jurisdictionsbe-

fugniß zu halten.

Zn dieser Weise dauerte die geistliche Gerichtsbarkeit bis zum Jahre 1821 unverändert fort. Damals trat durch die Bulle „de salute“ in­ sofern eine Aenderung ein, als die Decanate Beuthen und Pleß, welche zur Divcese Krakau gehört hatten, von dieser abgetrennt und der fürst­ bischöflichen Kirche zu Breslau zugelegt wurden. cf. Bulla de salute, Ges. Samml. pro 1821 S. 135. Schlesien zerfiel demnach seit dieser Zeit in drei bischöfliche Diö-

cesen:

1) die Diöcese des Erzbischofs zu Prag, die Grafschaft Glatz um­ fassend, 2) die des Erzbischofs zu Olmütz, die Fürstenthümer Troppau und Jägerndorf Preußischen Antheils begreifend und

3) die des Fürstbischofs zu Breslau, wozu die übrigen Theile von Schlesien nebst dem im Frankfurter Regierungsbezirk belegenen Schwiebuser Kreise und einige Ortschaften des Sorauer Kreises gehörten. Sowohl die Organisation wie die materielle Kompetenz der geist­

lichen Gerichte in diesen drei Diöcesen war von jeher eine verschiedene. Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs zu Prag, welche durch

das Dechanat-Amt zu Habelschwerdt ausgeübt wurde, erstreckte sich nur auf die res mere spirituales, zu denen auch die Sponsalien- und Ehe­ sachen gehörten, wenn beide Theile katholischen Glaubens waren. Die

Competenz war dabei aber auf die Entscheidung der Fragen beschränkt, welche die Fortsetzung oder Annullirung der Ehe, oder die separatio

quoad thorum et mensam in perpetuum vel ad tempus betrafen. DaS gefällte geistliche Erkenntniß mußte sodann zur Prüfung und Bestätigung quoad effectus civiles dem Obergericht zu Breslau vorgelegt werden. Die höheren Instanzen waren von jeher streitig.

Dagegen umfaßte die durch den Dechanten in Kätscher geübte Ge­ richtsbarkeit des Erzbischofs zu Olmütz und die durch das Consistorium zu Breslau verwaltete Gerichtsbarkeit des Fürstbischofs nicht blos die 11

156 spiritualia, sondern auch die temporalia. — Die Sponsalien- und Ehe­

gerichtsbarkeit des Erzbischofs zu Olmütz wurde in erster Instanz von einem weltlichen Richter zu Leobschütz und einem Geistlichen, in zweiter von einem andern Richter und einem andern Geistlichen, in dritter end­ lich von dem Director des weltlichen FürstenthumsgerichtS und dem Dechanten administrirt. Die geistliche Gerichtsbarkeit für die Diöcese Breslau wurde durch

das dortige General-Vicariat-Amt ausgeübt, welches in das VicariatAmt und das Consistorium getheilt war. Das Consistorium behandelte die Sponsalien- und Ehescheidungssachen, und entschied in diesen auf Grund der canonischen und anderer geistlichen Rechte selbstständig, auch über die effectus civiles. Es zerfiel in drei Abtheilungen, welche die drei Instanzen bildeten. Bei jeder Abtheilung waren den geistlichen Räthen einer oder auch mehrere weltliche Justizbeamte beigefügt. Das Oberaufsichtsrecht über diese geistlichen Gerichte, namentlich auch Justizvisitationen, übte das Oberlandesgericht zu Breslau auS. cf. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 257 folg. 7) Posen. Die Beibehaltung der bei der Besitznahme dieser Provinz vorge­ fundenen katholisch-geistlichen Gerichte wurde von der Krone Preußen durch die Besitznahme-Patente vom 24. März und 8. Mai 1793 cf. N. C. C. T. IX. S. 1561 zugesichert, und diese Zusicherung durch die Constitution vom 25. August

1796, cf. Rabe's Sammlung Bd. 13 S. 311 worauf sich zugleich die Verfassung der geistlichen Gerichte gründet,

wiederholt. Rach dieser Constitution sollten dieselben lediglich und allein über causas mere ecclesiasticas zu cognosciren befugt sein (§. 1); in Ehe­ sachen sollte sich ihre Competenz nur auf die Entscheidung der Fragen, welche die Fortsetzung oder Annullirung der Ehe, so wie die Scheidung von Tisch und Bett in perpetuum oder ad tempus betreffen, beschrän­ ken, und daher die Entscheidung über die effectus civiles der geistlichen Gerichtsbarkeit nicht zustehen (§. 4). In Ansehung der materiellen, ihren Erkenntnissen zum Grunde zu legenden Gesetze wurden die geistlichen Gerichte auf die canonischen und anderen geistlichen Rechte, in Bezug auf das Verfahren in Ehesachen aber auf die auch für die weltlichen Ge­ richte maßgebende Allg. Proceß-Ordnung verwiesen.

Später traten indessen noch Beschränkungen dieser Competenz in Betreff der Scheidung katholischer Ehegatten ein. Das Circular des Staatsraths vom 10. August 1799

cf. Rabe's Sammlung Bd. 5 S. 514

157 bestimmte, daß katholische Glaubensgenossen bei ihren Ehescheidungen das Forum bei den weltlichen Regierungen durch freiwillige Prorogation begründen konnten, wenn beide Theile sich nach ihrem Gewissen für

berechtigt hielten, auf Grund einer von der Regierung erfolgenden Tren­

nung der Ehe zur anderweiten Heirath zu schreiten. Man nahm an, daß eine solche Prorogation den Gesetzen analog sei, da sie auch dann

stattfinde,

wenn sich Katholiken mit Protestanten verheirathet gehabt

hätten — und hielt überdies diese Einrichtung für wohlthätig, weil da­ durch die Parteien dem weit beträchtlicheren Zeit- und Kostenaufwande ausweichen könnten, welchen sie bei den geistlichen Gerichten zu erwarten hätten, diese auch häufig Bedenken trügen, die mit dem canonischen Recht nicht übereinstimmenden Landesgesehe sich zur Richtschnur dienen zu lassen. Dies wurde demnächst durch das Justiz-Ministerial-Rescript vom 18. October 1799 cf. Rabe's Sammlung Bd. 5 S. 385 noch auf Ehescheidungen wegen böslicher Verlassung ausgedehnt. Die innere Verfassung der geistlichen Gerichte wurde durch die Constitution von 1796 in der bisherigen Weise bestätigt, den Regierun­

gen aber ein Oberaufsichtsrecht eingeräumt. Nach der hergebrachten Verfassung wurde die Ehegerichtsbarkeit erster Instanz vom erzbischöflichen Official in Posen und Gnesen, als dem eigentlichen Richter, unter Concurrenz beisitzender Räthe des erz­ bischöflichen ConsistoriumS und eines Justitiarius gehandhabt. Als

zweite Instanz fungirte wechselseitig für Posen der Officialrichter in Gnesen und für Gnesen der in Posen. Die dritte Instanz für die

ganze Erzdiöcese bildete das Prosynodalgericht in Posen, aus einem Domherrn als Präsidenten, zwei Canonicis als Richtern und einem welt­ lichen Justitiar bestehend. Diese Synodalrichter wurden vom Erzbischof vermöge päpstlicher Delegation auf 3 Jahre ernannt und landesherrlich bestätigt. Das Prosynodalgericht hat aber zuweilen die Prätension auf volle Unabhängigkeit von der erzbischöflichen und landesherrlichen Gewalt

erhoben und sich auch päpstliches Prosynodalgericht genannt, weil es die vormals im Lande üblich gewesene päpstliche Nuntiatur vertrete und so­ mit nur vom Papste abhängig sei. In dieser Weise verblieben die geistlichen Gerichte in Posen bis

zur Abtretung Südpreußens an das von Napoleon gestiftete Großherzogthum Warschau. Die dort im Jahre 1808 eingeführte Französische Gesetzgebung hob die geistlichen Gerichte aus und verwies die Ehesachen der Katholiken an die weltlichen Gerichte. Als aber Preußen den in Folge der Wiener Verträge zurückgefallenen Theil des GroßherzogthumS Warschau wieder in Besitz nahm, wurde auch die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in der vor der Abtretung bestandenen Weise wiederher11*

158 gestellt.

DaS Patent wegen Wiedereinführung der Preußischen Gesetze

in daS Großherzogthum Posen vom 9. November 1816 cf. Ges. Samml. für 1816 S. 225 bestimmte nämlich in §. 23: „Die geistliche Gerichtsbarkeit soll vom 1. März 1817 in der

Art wieder ausgeübt werden, wie solche vor Abtretung der Provinz nach Unsern früheren Verordnungen bestand." Die freiwillige Prorogation der katholischen Eheleute auf den welt­ lichen Richter, welche durch den aus dem Rescript des Staatsraths vom

8. September 1802 cf. Nabe's Sammlung Bd. 7 S. 239 entstandenen Anhangsparagraphen 287 zur Allg. Gerichts-Ordnung all­

gemein auf alle Ehescheidungsklagen ausgedehnt war, wurde in Folge der Cabinetsordre vom 25. Februar 1833, cf. Ges. Samml. pro 1833 S. 24 welche die Prorogation des Gerichtsstandes in Ehesachen ohne Ausnahme

verbot, aufgehoben. cf. auch die Ministerial-Rescripte vom 31. Juli und 17. Octo­

ber 1835. Die Diöcesan-Eintheilung Posens endlich ist durch die Bulle „de salute“ zwar wesentlich geändert, die Verfassung der geistlichen Gerichte ist aber seit 1821 unverändert geblieben. cf. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 261 folg.

8) Westpreußen.

Bei der in Folge des Petersburger Theilungsvertrages vom 5. Aug. 1772 geschehenen Erwerbung Westpreußens durch die Krone Preußen wurden daselbst mehrere katholisch-geistliche Gerichte unter dem Namen „Consistorien" vorgefunden.

Das Notificationspatent vom 28. September 1772 cf. N. C. C. T. 5 Th. I (1771—1772) S. 451 folg, erhielt diese Gerichte aufrecht, beschränkte ihre Competenz aber auf die

causas mere ecclesiasticas und in specie auf die causas matrimoniales, wenn beide Ehegatten der katholischen Religion zugethan waren. Zu­ gleich wurde auch festgestellt, daß in solchen Fällen das canonische Recht,

in so weit es der Landeshoheit in geistlichen Sachen nicht entgegenstehe, zur Anwendung kommen solle. Genauere Bestimmungen enthielt in die­

ser Beziehung noch die Regierungs-Instruction vom 21. September 1773, cf. N. C. C. von 1773 S. 2125 welche aber im Wesentlichen das Notificationspatent bestätigte. Während der Französischen Zwischenherrschast wurde auch in West­ preußen die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit aufgehoben; bei der Wie-

159 derbesitznahme durch Preußen indessen wurde dieselbe durch das Patent

vom 9. November 1816 cf. Ges. Sammt, pro 1816 S. 217. in dem früheren Umfange wiederhergestellt.

Ueber die Berfassung der katholisch-geistlichen Gerichte Westpreu­ ßens enthielten das Patent von 1772 und die Instruction von 1773 keine specielle Vorschriften, verwiesen vielmehr aus die althergebrachte Verfassung. Da diese aber keinesweges bestimmt war, so wurde auf das in dieser Beziehung erlassene Rescript vom 17. Juli 1800

cf. Rabe's Sammlung Bd. 6 S. 105—203 zurückgegangen.

In diesem Rescript war unter anderm bestimmt: „daß die Befugniß der geistlichen Gerichte, in Ehesachen katho­ lischer Eheleute Recht zu sprechen, sich nur auf die Fragen von Annullirung der Ehe und Scheidung von Tisch und Bett, nicht aber auf die effectus civiles erstrecke, daß es bei der Behandlung

der Ehesachen lediglich auf die Vorschriften der Proceß-Ordnung ankomme," und daß zwar das canonische Recht zur Anwendung kommen solle, je­ doch mit der Maßgabe, daß, falls diese Anwendung in einer Art ge­ schehe, welche der Wohlfahrt des Staates und den auf diese berechneten Grundsätzen des Allg. Landrechts widerspreche, existente casu durch die

weltliche Macht Annullirung solcher Sentenzen und Verfügungen der geistlichen Gerichte erfolgen könne.

Zugleich wurde durch das gedachte Rescript die Kompetenz der geist­

lichen Gerichte in folgenden Fällen ausgeschlossen: 1) bei der Trennung einer zweiten Ehe, welche ein schon verheirathet gewesener und in perpetuum von Tisch und Bett geschiedener Ka­ tholik eingegangen war; 2) wenn die Trennung einer katholischen Ehe verlangt wurde, die aus

rein canonischen Gründen unerlaubt und deshalb von einem pro­

testantischen Geistlichen eingesegnet war; 3) wenn bei der katholischen Ehe die Fälle des Allgem. Landrechts Th. II Tit. 1 §§. 13, 14, 30 folg., 34 folg, und 45 folg, vor­ kamen. Ein Aufsichtsrecht über die geistlichen Gerichte hatte die Regierung. Die Diöcesan-Eintheilung ist in Westpreußen gleichfalls durch die Bulle „de salute“ geändert; im klebrigen ist aber die Verfassung der

geistlichen Gerichte daselbst unverändert geblieben.

Diese selbst erkann­

ten als Konsistorien in den von den Officialaten instruirten EhescheidungSsachen durch drei Instanzen mit Hülfe gegenseitiger Substitution, cf. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 263 folg.

160 9) Ostpreußen.

In Ostpreußen bestanden bei der Erwerbung durch die Krone Preu­ ßen im Jahre 1772 nur im Bisthum Ermland katholisch-geistliche Gerichte, die zwar beibehalten, deren Kompetenz jedoch durch das auch

für das Ermland geltende Notificationspatent vom 28. September 1772 und die Instruction vom 21. September 1773 in gleicher Weise wie

die Gerichtsbarkeit in Westpreußen beschränkt wurde. In subsidium wurde für die Ermländische Gerichtsbarkeit auch auf die Südpreußifche Constitution vom 25. August 1796 und das Ministerial-Rescript vom 17. Juli 1800 zurückgegangen. Uebrigens war die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit lediglich auf das Bisthum Ermland beschränkt, wie dies durch mehrere Rescripte

ausdrücklich ausgesprochen ist. Die Verfassung und die innere Einrichtung der geistlichen Gerichte des Ermlandes, welche sämmtlich in Frauenburg ihren Sitz hatten, wurden im Jahre 1831 neu geregelt.

Seit dieser Zeit entschieden in

erster Instanz drei geistliche Richter unter Zuziehung eines rechtsver­ ständigen weltlichen Juftitiarii; die Appellationsinstanz bildete der bi­ schöfliche General-Osficial und ein Justitiar; die dritte Instanz endlich war das aus vier geistlichen Richtern und einem weltlichen Justitiar bestehende Prosynodalgericht. Diese sämmtlichen Richter wurden vom Bischof ernannt und von der Landesregierung bestätigt. Ein Auffichtsrecht übte das Oberlandes­

gericht zu Königsberg aus. cf. Just. Min. Bl. pro 1856 S. 267 u. 268.

Aus der vorstehenden Darstellung erhellet, daß die katholisch-geist­

lichen Gerichte in denjenigen Landestheilen Preußens, in welchen sie bis zum Jahre 1849 noch bestanden, eine sehr verschiedene Organisation und

einen verschiedenen Umfang ihrer Zuständigkeit, insbesondere auch in Ehesachen, gehabt haben. Sie erkannten überall nur über rein katho­ lische, nicht über gemischte Ehen, in der Regel ferner nur über Fort­ setzung oder Annullirung der Ehe und Scheidung von Tisch und Bett, nicht aber über die effectus civiles, d. h. nur über das persönliche Band,

nicht über die Vermögensverhältnisse, Ehescheidungsstrafen und andere

Folgen.

Hierüber hatten vielmehr die weltlichen Richter zu entscheiden.

Rur das fürstbischöfliche Gericht zu Breslau erkannte auch über die effectus civiles und bedurfte dazu keiner bürgerlichen Bestätigung.

Ueberall stand aber die geistliche Gerichtsbarkeit unter der höheren

Gewalt des Staats. Die Staatsregierung hatte nämlich eine Einwirkung auf die Bestellung der Gerichte; die Besetzung der geistlichen

161 Richterstellen, die dem Bischof zukam, bedurfte

der

landesherrlichen

Bestätigung; die Staatsregierung übte endlich ein Aufsichtsrecht aus

sowohl durch die Gerichte, wie auch durch die Behörden der Provinz. Diese konnten Beschwerden annehmen, Berichte fordern, mandata justitiae erlassen, Justizvisitationen vornehmen u. s. w.

Alles dieses stand

ihnen zwar nur bezüglich der Form und der Versahrungsart zu, doch

sollten sie, wenn sie in den Materialien der geistlichen Erkenntnisse er­ hebliche Fehler oder Ungerechtigkeiten wahrnehmen würden, an das JustizMinisterium berichten, dem sonach die höchste Ueberwachung auch hierin zustand. — Das canonische Recht endlich war als Norm für die Ent­ scheidung der geistlichen Gerichte zwar anerkannt, aber zugleich der Staatsgewalt vorbehalten- ihre Entscheidung zu annulliren, falls sie

wesentlichen Grundsätzen des Allgem. Landrechts widerspreche. cf. bes. das Rescript vom 17. Juli 1800 in Rabe's Samml. Bd. 6 S. 105 folg. §. 5.

b) Einfluß des Allg. Landrechts, der Allg. Gerichts-Ord­

nung und der Verordnung vom 28. Juni 1844 auf die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Preußen. Das Allg. Landrecht hat die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit durch die in dem §. 734 Th. II Tit. 1 enthaltene Bestimmung anerkannt.

Der §. 734 nämlich, welcher lautet: „Wird unter katholischen Ehegatten aus eine beständige Separa­ tion von Tisch und Bett erkannt, so hat dies alle bürgerlichen Wirkungen einer gänzlichen Ehescheidung." kann sich nur auf die katholisch-geistlichen Gerichte beziehen, da diese allein den Bestimmungen des canonischen Rechts gemäß auf separatio quoad thorum et mensam erkennen konnten, während das Landrecht nur eine vollständige Scheidung dem Bande nach kennt, und daher die welt­ lichen Gerichte auch nur darauf ihre Entscheidung richten dursten. —

Durch den in der Bestimmung des §. 733 leg. cit. liegenden Gegensatz, daß auf bloße Scheidung von Tisch und Bett nicht erkannt werden solle, sobald auch nur einer der Ehegatten der katholischen Religion zugethan sei, — und da in §. 734 nicht angedeutet ist, daß nur eine von der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit erfolgte Scheidung von Tisch und Bett vorausgesetzt sei, könnte allerdings der Zweifel entstehen, ob

nicht auch nach dem Allg. Landrecht dann auf bloße Scheidung von Tisch

und Bett erkannt werden dürfe, wenn beide Eheleute katholisch seien. — Die Materialien zum Allg. Landrecht ergeben aber, daß die Absicht dahin gegangen sei, die Scheidung von Tisch und Bett bürgerlich über­

haupt nicht anzuerkennen, und sie also denjenigen Gerichten, welche ledig­

lich nach den Landesgesetzen zu erkennen hätten, gänzlich, also auch wenn

162 beide Theile katholisch seien, zu verbieten, wie auch daS in den Anh. §. 287 zur Allg. Gerichts-Ordnung wörtlich aufgenommene Rescript vom 8. September 1802 voraussetzt. Der §♦ 734, — welcher im Entwurf fehlte, — ist aus der Ent­ scheidung der Gesetz-Commission vom 10. October 1786 entnommen. Das diese Entscheidung bestätigende Rescript vom 26. October ejusd. anni lautet aber: „Es ist allhier (den 11. August 1786) angefragt:

in wie fern, wenn unter katholischen Eheleuten eine Scheidung von Tisch und Bett nach den Grundsätzen ihrer Religion er­ folgt, alsdann die im Edict vom 17. November 1782 enthal­ tenen, die effectus civiles betreffenden Vorschriften Anwendung

finden könnten?" Diese Frage ist nach eingegangenem Gutachten der Gesetz-Com­ mission dahin entschieden worden, daß in den Fällen, wo unter

katholischen Glaubensgenossen nach den Grundsätzen des canonischen Rechts statt einer Ehescheidung auf eine beständige Separation von Tisch und Bett und ein Ehegatte für den schul­ digen Theil erkannt wird, eben die Grundsätze quoad effectus ci­ viles anzunehmen, welche das Edict vom 17. November 1782 auf den Fall einer gänzlichen Ehescheidung festgesetzt hat; daß hingegen,

wenn nur auf separationem a thoro et mensa temporariam er­ kannt wird, wenn auch ein Theil Schuld daran hat, dennoch jene Vorschriften keine Anwendung finden." cf. Ergänzungen zum Allg. Landrecht Bd. 3 S. 159 u. 160. Hieraus geht zur Genüge hervor, daß der §. 734 sich nur auf die Entscheidungen der katholisch-geistlichen Gerichte hat beziehen sollen und können. Die bürgerlichen Wirkungen der separatio quoad thorum et mensam perpetua sind nach dem Landrecht dieselben, wie die einer gänzlichen Ehescheidung. Es steht also sowohl dem durch ein geistliches Gericht

separirten, als auch dem durch das weltliche Gericht wirklich geschiedenen katholischen Ehegatten frei, sich anderweitig zu verheirathen. Um aber den Widerspruch, welcher in dieser Bestimmung des Gesetzes mit dem dogmatischen Grundsätze der katholischen Kirche von der Unauflöslichkeit

des ehelichen Bandes liegt, in etwas zu mildern, dazu sollte der §. 735 Th. n Tit. 1 des Allg. L. R. und der Anh. §. 287 zur Allg. GerichtsOrdnung dienen, welche wörtlich lauten:

Der §. 735: „In wie fern aber ein geschiedener Ehegatte nach den Grund­ sätzen seiner Religion von dieser erfolgten Trennung der vorigen Ehe zur Vollziehung einer andern Gebrauch machen könne und

dürfe, bleibt seinem Gewissen überlassen."

163 Anh. §. 287: — wörtlich ausgenommen aus dem Rescript des StaatsrathS an die

West-, Süd- und

Neuostpreußischen Landescollegien vom 8. Septem­

ber 1802 — cf» Rabe's Sammlung Bd. 7. S. 240. „In allen Fällen, wo sich katholische Eheleute mit ihren Eheschei­

dungsklagen bei den Gerichten melden, muß ihnen gleich bei Ein­ leitung des Prozesses bekannt gemacht werden, daß zwar ihre Klagen blos nach den Vorschriften der allge­ meinen Landesgesetze geprüft werden würden, und wenn sie hiernach gegründet befunden werden sollten, alsdann die Tren­ nung der Ehe mit allen bürgerlichen Wirkungen erfolgen werde,

auch es lediglich ihrem Gewissen überlassen bleibe, inwiefern sie davon zur Vollziehung einer zweiten Gebrauch machen wollten;

daß aber, wenn bei erfolgter Wiederverheirathung die katholischen Geistlichen aus den Grundsätzen ihrer Religion Veranlassung nehmen sollten, ihnen die Sacramente zu versagen, solche zu deren Verabreichung nicht angehalten werden könnten; so wie

denselben auch nicht zugemuthet werden könne, eine von ihnen einzugehende zweite Ehe durch die Trauung zu vollziehen." Keineswegs hat aber durch diese Bestimmungen das bürgerliche Ge­ setz dem geschiedenen Katholiken das Recht zur Wiederverheirathung ent­ ziehen wollen; im Gegentheil ist dieses Recht durch ein Rescript vom 10. Oktober 1816 cf. Jahrbücher Bd. 8. S. 239. anerkannt, da hiernach die Nichtigkeitserklärung einer solchen zweiten

Ehe Seitens einer geistlichen Autorität ohne alle bürgerliche Wirkung sein soll. Dieses Rescript wurde durch folgenden hier einschlagenden Fall veranlaßt: In Schlesien war eine gemischte Ehe vom Oberlandesgericht ge­ schieden worden, und die katholische Frau hatte sich anderweitig verheirathet.

Wahrscheinlich durch die ihr deshalb verweigerte

Zulassung zum Abendmahl bewogen, suchte sie die Wiederauflösung dieser zweiten Ehe nach, und da ihr zweiter Mann auch katho­ lisch war, so gehörte diese zweite Scheidung vor die katholisch­

geistlichen Gerichte und zwar nach der dort bestehenden besonderen Verfassung vor das erzbischöfliche Conststorium zu Prag. Dieses trennte die zweite Ehe als nichtig, weil die erste noch bestehe,

und es wurde darauf angetragen, dieses Nichtigkeitsurtel quoad effectus civiles zu bestätigen. — Dies schien dem Oberlandes­ gericht bedenklich, und die Minister des Innern und des Kultus erklärten die Bestätigung für unzulässig, da das Erkenntniß mit den Vorschriften des Allg. Landrechts im Widerspruch stehe.

cf. Ergänzungen zum Allg. Landrecht Bd. 3. S. 161.

164 Auch durch die Allg. Gerichts-Ordnung und die Nachträge dazu,

namentlich den Anh. §.288, wonach alle Sponsalien- und Ehesachen

vor diejenigen Gerichte gehören, welchen der Verklagte oder der Ehemann persönlich unterworfen ist, wurde in der Competenz der katholisch­ geistlichen Gerichte nichts geändert; denn in Bezug auf die Katholiken ist durch die beiden Rescripte vom 22. Januar 1790 und 3. Januar 1803

anerkannt, daß der gewöhnliche Gerichtsstand für sie nur dann eintrete, wenn kein katholisch-geistliches Gericht competent sei. Diese Rescripte lauten: Rescr. vom 22. Januar 1790 an die Pommersche Regierung wegen deö Fori in katholischen Ehescheidungssachen: „Auf Eure Anfrage vom 8. d. M. wegen der Einleitung und Entscheidung der zwischen katholischen Eheleuten entstehenden Ehe­ scheidungsprozesse, lassen Wir Euch hiermit gnädigst bescheiden,

daß, da in dortiger Provinz kein katholisch-geist­ liches Gericht existirt, Ihr die Ehescheidungssachen zwischen katholischen Religionsverwandten rechtlich einzuleiten und zu ent­ scheiden habt." cf. Rabe's Sammlung Bd. 13. S. 199.

Rescr. vom 3. Januar 1803: „Auf Eure Anfrage vom 17. v. M., ob die Einleitung und Ent­ scheidung eines zwischen katholischen Eheleuten entstandenen Ehe­ scheidungsprozesses einem katholischen Consistorio überlassen wer­

den müsse, oder bei Eurem Collegio erfolgen könne? gereicht Euch hiermit zum Bescheide: wie das in der Edictensammlung befindliche Rescript an die Pommersche Regierung vom 22. Januar 1790 auch auf die Neumark Anwendung findet, und den katholischen Eheleuten nach dem Allg. Landrecht Th. II. Tit. 1. §§. 734 u. 735 zu überlassen ist, welchen Effect sie in religiöser Rücksicht der Trennung der Ehe durch eine andere als eine ka­ tholische Behörde beilegen wollen und können." cf. Rabe's Sammlung Bd. 7. S. 290. Ergänzungen zur Allg. Ger. Ordn. Bd. 8. S. 123. Durch die Rescripte vom 31. Juli und 17. October 1835 ist, wie bereits oben angeführt worden, die freiwillige Prorogation der Katho­

liken zur Entscheidung der Ehesachen auf weltliche Gerichte für den Umfang, für welchen die katholisch-geistlichen Gerichte nach der bestehenden Gesetzgebung competent waren, ausgeschlossen und dadurch die alleinige Competenz der letzteren in diesen Fällen anerkannt. Dasselbe war in Betreff Schlesiens bereits durch das Rescript vom 2. Juli 1831

cf. Jahrbücher Bd. 38. S. 93. angenommen. cf. Ergänzungen zur Allg. Ger. Ordn. B. 8. S. 124.

165

Endlich ist auch durch die Verordnung vom 28. Juni 1844 in Betreff der katholisch-geistlichen Gerichte keine Aenderung eingetreten, denn der §. 73. leg. eit. bestimmt ausdrücklich:

„In der Gerichtsbarkeit und dem Verfahren der katholisch-geistlichen Gerichte wird durch gegenwärtige Verordnung nichts geändert." Das Resultat der vorstehenden Ausführung ist also, daß die ka­ tholisch-geistliche Gerichtsbarkeit durch die landrechtliche und die damit in Verbindung stehende Gesetzgebung nicht geändert ist, dieselbe vielmehr in den einzelnen Provinzen Preußens bis zur Verordnung vom 2. Ja­

nuar 1849 in der sub a dieses Abschnitts entwickelten Weise bestan­

den hat.

6. c) Kurze Schlußdarstellung, wie die JurisdictionSbefugnisse inEhesachen vor dem 2. Januar 1849 in Preußen geordnet waren, wenn beide Theile der katholischen Religion angehörten, und welche Wirkung eine Ent­ scheidung des geistlichen Gerichts auf Trennung von Tisch und Bett damals hatte. Nach der bisherigen Erörterung ist es leicht, festzustellen, wem die Jurisdictionsbefugnisse in Ehesachen bis zur Verordnung vom 2. Ja­

nuar 1849 in Preußen zustanden, wenn es sich um die Trennung zweier der katholischen Religion angehörigen Ehegatten handelte. Die Competenz war in dieser Beziehung zwischen den weltlichen

und den katholisch-geistlichen Gerichten getheilt. In denjenigen Provinzen Preußens, in welchen nach der sub a ge­ gebenen Darstellung keine katholisch-geistliche Gerichte bestanden

oder

in welchen sie aufgehoben waren, wie in Pommern, Brandenburg, West­ phalen und dem größten Theil der Rheinprovinz, sowie in denjenigen Districten der Provinzen Sachsen und Ostpreußen, in welchen gleich­ falls die gedachten geistlichen Gerichte nicht anerkannt waren, hatten lediglich die weltlichen Gerichte über die Scheidung zweier katholischen

Eheleute zu erkennen. In Neuvorpommern waren die Consistorien zu Greifswald und Stralsund competent, welche zugleich in den Ehescheidungssachen der

Evangelischen erkannten. Sie legten ihren ScheidungSurteln das prote­ stantische Kirchenrecht zu Grunde, wonach eine separatio quoad thorum et mensam im Sinne des canonischen Rechts nicht vorkommen konnte. Das protestantische Kirchenrecht kennt nämlich nur alsdann, wenn die unter den Ehegatten stattfindenden Mißhelligkeiten von der Art sind, daß sie die Hoffnung einer Versöhnung nicht ausschließen, eine zeitige

Trennung von Tisch und Bett, welcher nach fehlgeschlagener Hoffnung die wirkliche Ehescheidung zu folgen pflegt. cf. Thibauts System der Pandecten, Bd. 2. L. 61. (§. 713.)

166 Hiernach wurde auch in diesem Landestheil die Ehe der Katholiken dem Bande nach getrennt, und war daher den geschiedenen Ehegatten

die Wiederverheirathung nach dem bürgerlichen Gesetze gestattet. Dies sand überhaupt in allen denjenigen Landestheilen Preußens statt, in welchen die katholisch-geistlichen Gerichte nicht competent waren. Ueberall, wo weltliche Gerichte erkannten, löste das rechtskräftige Schei­

dungsurtel die Ehe der Katholiken dem bürgerlichen Gesetze zufolge auch dem Bande nach auf und gab ihnen das Recht der Wiederverheirathung. Ob sie von diesem Recht Gebrauch machen wollten, war lediglich ihrem Gewissen überlassen. (§. 735. Th. II. Tit. 1. d. Allgem. Landrechts.)

Rur in so fern respectirte das bürgerliche Gesetz das Dogma der katholischen Kirche von der Unauflöslichkeit des ehelichen Bandes, als es die katholischen Geistlichen nicht zwang, die zweite Ehe durch die Trauung zu vollziehen, und ihnen zugleich die kirchlichen Zwangsmittel

zur Verhinderung der anderweitigen Verheirathung, z. B. Versagung der Sacramente, zugeftand. (Anh. §. 287. z. Allg. Ger. Ordn.) Im Uebrigen aber ignorirte das bürgerliche Gesetz das katholische Dogma. In denjenigen Territorien dagegen, in welchen katholisch-geistliche

Gerichte bestanden, waren diese allein zur Entscheidung der Eheschei­ dungssachen zweier katholischen Eheleute competent, da eine prorogatio fori auf den weltlichen Richter nicht statthaft war. Die geistlichen Gerichte legten ihren Entscheidungen daS canonische Recht zum Grunde und erkannten daher nur auf separatio quoad thonun et mensam perpetua vel temporaria. Die letztere hatte weiter keine vermögensrechtliche Wirkungen, als daß über die der Frau zu reichenden

Alimente und die sonstige interimistische Gestaltung der den Eheleuten zustehenden Rechte Bestimmungen zu treffen waren. cf. Richter's Lehrbuch des Kirchenrechts S. 571. Die erstere dagegen hatte in Preußen nach dem in dieser Bezie­

hung durchgreifenden §. 734. Th. II. Tit. 1. d. A. L. R. ganz dieselben Wirkungen, wie die wirkliche von dem weltlichen Gericht ausgesprochene Scheidung. Also auch die von den katholisch-geistlichen Gerichten in der gedachten Weise getrennten Ehegatten konnten sich nach dem bürger­ lichen Gesetze wiederverheirathen; auch diese waren nur in ihrem Ge­ wissen durch die Grundsätze ihrer Religion gebunden. Die katholisch-geistlichen Gerichte hatten aber, wie oben auSgeführt worden, der Regel nach nur über das persönliche Band, d. h. darüber zu erkennen, ob die Ehe fortzusetzen sei, oder ob genügende Gründe zur

Scheidung der Eheleute von Tisch und Bett vorlägen. Die sogenannten effectus civiles dagegen, d. h. die durch eine solche Scheidung nach dem bürgerlichen Gesetze bedingten Folgen in Betreff der Vermögensverhält­ nisse der Ehegatten, der Statusrechte der Kinder u. s. w. gehörten zur

167 Competenz der weltlichen Gerichte. Nur allein dem fürstbrschSflichen Gericht zu BreSlau stand auch hierüber die Entscheidung zu. Nichtsdestoweniger hatten aber auch die Erkenntnisse der übrigen

katholisch-geistlichen Gerichte insofern civilrechtliche Wirkungen, als der

weltliche Richter sie als bindend anerkennen mußte, und als dadurch die bürgerlichen Folgen, welche das Gesetz an die Schei­ dung knüpfte, bedingt waren. Dies war der thatsächliche und rechtliche Zustand der katholisch­ geistlichen Ehegerichte

in Preußen bis zur Verordnung vom 2. Ja­

nuar 1849, und es fragt sich nun, welchen Einfluß dieses Gesetz auf

die in Rede stehenden Gerichte gehabt hat.

Zweiter Theil. Einfluß der Verordnung vom 2. Januar 1849 auf die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Preußen.

Erster Abschnitt. Geschichte der Verordnung vom 2. Januar 1849.

§. 7. Eine von den nachhaltigen und durchgreifenden Gesetzesreformen, welche wenn auch nicht gerade veranlaßt, so doch gewiß durch die Be­

wegungen des Jahres 1848 beschleunigt wurde, ist die Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit und des eximirten Gerichtsstandes. Die provisorisch erlassene Verordnung vom 2. Januar 1849, welche vom 1. April desselben Jahres ab (§. 41) in Kraft getreten ist, und für den ganzen Umfang der Preußischen Monarchie mit Ausschluß des

Bezirks des ApellationsgerichtshofeS zu Cöln Geltung hat, bestimmt in dieser Beziehung in §. 1.:

»Die st andesherrliche, städtische und Patrimonialgerichtsbarkeit jeder Art in Civil- und Strafsachen wird aufgehoben. Fortan soll die Gerichtsbarkeit überall nur durch vom Staate bestellte

Gerichtsbehörden, deren Einrichtung und Competenz die nachfol­ genden Vorschriften bestimmen,

in Unserem

Namen

ausgeübt

werden. Einer gleichen Aufhebung unterliegt die geistliche Gerichtsbarkeit in allen weltlichen Angelegenheiten, namentlich auch in Prozessen über die civilrechtliche Trennung, Ungültigkeit oder Nichtigkeit einer Ehe.

Alle solche Rechtsangelegenheiten gehören vor die

ordentlichen Gerichte."

168 Diese provisorische Verordnung wurde nachträglich, und zwar ohne jedwede Erinnerung gegen den allegirten §. L, von den Kammern ge­ nehmigt, und demgemäß auf's Neue unterm 26. April 1851 (Ges. S.

pro 1851 S. 181) als Gesetz verkündet. Hiernach ist die Verordnung vom 2. Januar 1849 als auf verfassungsmäßigem Wege entstanden an­ zusehen, da sie die nach Art. 62. der Verf. Urkunde vom 31. Januar 1850

nothwendige Zustimmung des Königs und der beiden Kammern, welche zusammen jetzt die gesetzgebende Gewalt in Preußen bilden, erhalten hat. Darüber kann also kein Zweifel obwalten, daß die Aufhebung der

geistlichen Gerichtsbarkeit formell gültig erfolgt ist, und daß die ge­ dachte Verordnung zur Begründung des jetzigen Rechtszustandes in der fraglichen Beziehung vollkommen genügte.

Es fragt sich nun aber, welches ist der jetzige Rechtszustand der geistlichen Gerichte in Preußen in Betreff ihrer Jurisdiction in Ehe­ sachen?

Die durch die Verordnung vom 2. Januar 1849 gleichfalls auf­ gehobenen evangelisch-geistlichen Gerichte in Neuvorpommern scheiden auS, da diese Gerichte gänzlich beseitigt sind; es bezieht sich die vorlie­ gende Frage also nur auf die katholisch-geistlichen Gerichte, welche

bis zum Jahre 1849 in Preußen bestanden haben. Die speciell gestellte Frage ferner, ob ein geistliches Gericht auch nach dem 1. April 1849 noch auf separatio quoad thorum et mensam erkennen könne, und welche Wirkungen ein solches Urtheil habe, wird durch die allgemeinere Frage, ob und event, welche Jurisdiction in Ehe­ sachen den katholisch-geistlichen Gerichten überhaupt noch zustehe, we­ sentlich bedingt. Es ist daher zunächst diese Frage zu erörtern.

Zweiter Abschnitt. In wie weit ist die Jurisdiction der katholisch-geistlichen Gerichte tn Ehesachen durch den §. 1. der Verordnung vom 2. Januar 1849

aufgehoben? Zuvörderst ist auch hier wieder zu bemerken, daß diese Frage sich nur auf diejenigen Landestheile beziehen kann, in denen bis zum Jahr 1849 die Jurisdiction der katholisch-geistlichen Gerichte mit bürgerlichen Wir­ kungen anerkannt war. Die gewöhnliche Meinung geht dahin, daß die geistliche Gerichts­ barkeit in Ehesachen der Katholiken keineswegs ganz aufgehoben sei,

daß sie vielmehr

hinsichtlich der kirchlichen Wirkung fortbestehe,

(pro foro ecclesiastico), die geistlichen Gerichte also in foro intemo

169 oder wie auch gesagt wird, quoad spiritualia nach wie vor erkennen

könnten, vergl. auch den Aufsatz von Korb, Just. Min. Bl. 1851 S. 301. Es soll dies zuletzt folgen aus dem Wortlaut der Verordnung selbst,

welche nur die Prozesse in weltlichen Angelegenheiten und in specie über

die civilrechtliche Trennung der Ehe u. s. w. an die weltlichen Gerichte

verweise.

In diesem Sinne heißt es auch in Schering's Notizen zur

Verordnung vom 2. Januar 1849 Note 5 zu §. 1. S. 14 folg.: „Die weltlichen Angelegenheiten sind jetzt den-geistlichen Gerichten

entzogen, sie behalten künftig nur noch die causae mere ecclesiasticae

vel spirituales und die Entscheidung über die Amtsvergehen der Geistlichen.

Damit kein Zweifel darüber obwalte, daß die Spon-

salien- und Ehesachen im Sinne des Gesetzes nicht zu den geistlichen, sondern zu den weltlichen Angelegenheiten gehören, sind sie als solche in der Verordnung mit aufgeführt worden.

aus dem. beigefügten Worte

Man hat zwar

„civilrechtliche" folgen wollew, daß

den geistlichen Gerichten in Matrimonialsachen nur die Entschei­ dung über die effectus civiles entzogen, der Ausspruch über die

Trennung, Ungültigkeit und Nichtigkeit der Ehe ihnen aber nach wie vor verblieben sei.

Allein es ist einleuchtend, daß eine solche

Auslegung dem Sinne und den Worten des Gesetzes widerspricht. Die Absicht desselben geht offenbar dahin, daß die Matrimonial-

und Sponsaliensachen, so weit es dabei auf daß Civilrecht an­ kommt, namentlich also alle Prozesse über Ehescheidungen vor die

weltlichen Gerichte gehören sollen.

Dagegen bleibt eö den Katho­

liken nach wie vor freigestellt, sich in dergleichen Angelegenheiten

an die geistlichen Behörden zu wenden, wenn es ihnen daraus an­ kommt, zur Beruhigung ihres Gewissens den geistlichen Ausspruch

nachzusuchen." Ferner wird in den Motiven zu der Verordnung vom 2. Januar

1849, Anh. Nr. 2, ausgeführt: „Die erste Abtheilung spricht auch die Aufhebung der in einigen

Provinzen, z. B. Posen und Schlesien, noch bestehenden geistlichen Gerichtsbarkeit für alle weltlichen Angelegenheiten aus.

Es kann

keinem Bedenken unterliegen, daß auch die letztere gleich jeder an­ deren nicht vom Staate ausgehenden Gerichtsbarkeit jetzt weg­

sallen muß." Nachtrag zu Art. 10: „Der Sinn deß Gesetzes ist, daß die Erkenntnisse der geistlichen

Gerichte in Ehesachen keine civilrechtlicherf Folgen mehr nach sich ziehen sollen.

Dagegen ist das bischöfliche Recht, die Lösung eines

Ehebandes in kirchlicher Beziehung auszusprechen, oder die lebens­ längliche oder zeitige Sonderung der Eheleute von Tisch und Bett zu gestatten, durch die Verordnung vom 2. Januar nicht aufge-

170 hoben, vielmehr als fortbestehend zu erachten. — Den Parteien

bleibt es freigestellt, sich zu diesem Zwecke nach wie vor an die geistlichen Gerichte zu wenden."

cf. Schering a. a. O. Endlich sind in dieser Beziehung aus dem Bericht der Commission

für Rechtspflege, betreffend die vorläufige Verordnung vom 2. Januar 1849 — (erste Kammer Nr. 567) — und aus dem Bericht der Com­ mission für das Justizwesen — (zweite Kammer Nr. 203) — noch folgende Bemerkungen zu dem §. 1 der Verordnung hervorzuheben: „Die von einer Seite angeregte Frage nach dem Fortbestände der geistlichen Gerichte in Ehesachen hat sich durch Hinweisung aus das Justiz-Ministerial-Rescript vom 5. Juni 1849 erledigt, indem

darnach der Fortbestand jener Gerichte nur in Betreff der Cog­ nition über den rein spirituellen Charakter der Ehe als nothwen-

. dig anerkannt ist, dadurch aber die Competenz der weltlichen Gerichte in Ansehung des civilrechtlichen Characters der Ehe nicht ausgeschlossen wird;"

und: „Die Commission empfiehlt diese Bestimmungen zur Annahme und bemerkt, daß, wenn in Alinea 2 des §. 1 die geistliche Ge­ richtsbarkeit nur in allen weltlichen Angelegenheiten aufgehoben ist, darin das Anerkenntniß liegt, daß die geistlichen Gerichte in Betreff der Cognition über den rein spirituellen Character der

Ehe fortbestehen." Es wird ferner für die Fortdauer der gedachten Gerichtsbarkeit quoad spiritualia die Analogie .der Rheinprovinz angeführt, indem die östlichen Landestheile durch die Verordnung vom 2. Januar 1849 unstreitig in keine andere Lage gekommen seien, als in welcher die Rhein­ provinz schon früher gewesen, woselbst aber die geistliche Gerichtsbarkeit auf kirchlichem Gebiete niemals in Abrede gestellt sei. Sodann ist wiederholt in den Kammerverhandlungen, namentlich

bei Gelegenheit der Berathungen über die Reform der Ehescheidungs­ gesetzgebung, sowohl Seitens der Vertreter der Regierung, als auch von den Abgeordneten bestimmt ausgesprochen, daß die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit pro foro interne noch jetzt bestehe. In der neunzehnten Sitzung der ersten Kammer vom 13. März 1855 bemerkte z. B. der Herr Justizminister: „Der Standpunkt sei der, daß die Ehe nicht in ihrer Gesammt­ heit als ein bloK kirchliches Institut aufgefaßt werde, sondern daß nach dem Gange, den die Staatsgesetzgebung einmal genommen habe, die Ehe, in so fern sie Gegenstand richterlicher Entscheidung

werde, nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten aufgefaßt worden sei, nämlich nach dem spirituellen Character, worüber man die

171 geistlichen Gerichte befinden lasse, und nach dem bürgerlichen, wor­ über nur die Civilgerichte entscheiden sollten;" ferner der Herr Cultusminister:

„Der katholischen Bevölkerung sei nach

wie vor unbenymmen,

sich in allen Ehesachen an die geistlichen Gerichte zu wenden, sich ihren Entscheidungen zu unterwerfen und sich bei diesen Entschei­ dungen zu beruhigen;" der Abgeordnete Dr. Stahl: „Die bischöfliche Jurisdiction in Ehesachen bestehe bereits.

Sie

zu entreißen habe der Staat nicht Fug und werde es nicht thun; er habe es auch niemals in Preußen gethan, d. h. in Preußen habe der geistliche Richter über die kirchliche Seite der Ehe und über das Gewissen pro foro interne zu er-

ken neu." cf. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der ersten Kammer von 1854—55, Bd. I. Ebenso ist auch in der zweiten Kammer wiederholt und namentlich Seitens des Herrn Justizministers hervorgehoben, daß die katholisch-geist­

lichen Gerichte auf dem spirituellen Gebiet in anerkamlter Wirksamkeit fortbestehen. cf. Stenographische Berichte über die Verhandlungen im Hause der Abgeordneten von 1856—1857, Bd. I., namentlich S. 397 u. 399. Insbesondere ist aber hervorzuheben, daß die Staatsregierung die fortdauernde Competenz der katholisch-geistlichen Gerichte in Ehesachen

quoad spiritualia wiederholt anerkannt hat, indem dieselben nicht blos im Staatskalender als bestehend aufgeführt werden, sondern ihnen zur Ausübung dieser ihrer Gerichtsbarkeit die Unterstützung des weltlichen Arms geboten wird. Demzufolge sind die weltlichen Gerichte bei gege­

bener Gelegenheit angewiesen worden, den Requisitionen der geistlichen Gerichte Behufs Ausübung der ihnen zustehenden Jurisdiction Folge zu

leisten.

Namentlich ist hierüber Bezug zu nehmen auf das Circular-

Rescript des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten vom 30. April 1851, cf. Ministerialblatt der inneren Verwaltung von 1851, S. 83. betreffend die Gerichtsbarkeit der Diöcesanbehörden der katholischen Kirche in Disciplinarsachen gegen katholische Geistliche, so wie in Ehesachen, welches dahin lautet:

„Aus Anlaß eines von mir befürworteten Antrags des Herrn Cardinals. und Fürstbischofs von Breslau hat der Herr Justiz­ minister den sämmtlichen Königl. .Obergerichten, mit Ausschluß des Appellationsgerichtshofes zu Cöln, eröffnet, daß nach Lage der gegenwärtigen Gesetzgebung die.Gerichtsbarkeit der Diöcesanbehör12

172 den der katholischen Kirche in Disciplinarsachen gegen katholische

Geistliche, so wie in Ehesachen und zwar bei letzteren, so weit es sich von der Nichtigkeitserklärung einer Ehe oder von der se­

paratio quoad thorum et mensarn in rein kirchlicher Beziehung handelt, als fortbestehend zu betrachten sei, und folgeweise die Civilgerichte den Requisitionen der geist­ lichen Gerichte um eidliche Vernehmung von Zeugen und um Ein­ ziehung von Kosten in solchen Sachen Genüge zu leisten haben. — Bezüglich des Appellationsgerichts in Cöln ist von einer ent­

sprechenden Mittheilung deshalb Abstand genommen worden, weil durch die von dem Königl. Justizminister unterm 20. Januar und 31. März 1834 erlassenen Verfügungen den Rheinischen Justizbehörden die Erledigung der Requisitionen der geistlichen Gerichte bereits zur Pflicht gemacht ist, bei der Einziehung der Kosten aber eine Mitwirkung der dortigen Gerichte nur in so weit stattfinden kann, als dieselben überhaupt sich darauf zu be­ schränken haben, Urtheile, Beschlüsse und Kostendecrete anderer Gerichtsbehörden auf desfallsigen Antrag executorisch zu erklären. Auch will der Herr Justizminister genehmigen, daß, wo nicht besondere Bedenken eine Ausnahme erheischen, Civilrichtern katho­ lischer Confession auch fernerhin gestattet werde, bei geistlichen Gerichten als Syndici ohne ein bestimmtes Einkommen zu fungiren, und sich nur mit Bezug auf die Allg. G. O. Th. HL Tit. 3. §. 19 die Genehmigung zur Uebernahme eines solchen Syndicats bei den einzelnen Richtern Vorbehalten. Die Königl. Appellationsgerichte sind angewiesen worden, die Untergerichte ihres Departements hiernach mit der erforderlichen Instruction wegen Genügung der Requisitionen in Matrimonial-

und Disciplinarsachen zu versehen." cf. Ergänzungen zum Allg. L. R. Bd. 13 Suppl. 3 zu den

§§. 62—92 Th. II. Tit. 11 S. 279. cf. auch Richters Kirchenrecht S. 588, wo es heißt: „In Preußen ist die bürgerliche und die geistliche Seite geschie­ den, die bischöflichen Gerichte erkennen mithin allein noch über

die letztere." Aus diesem Allen wird gefolgert, daß der betreffende Passus des §. 1 der Verordnung vom 2. Januar 1849 wörtlich zu verstehen und also der katholischen Geistlichkeit von den ihr früher eingeräumten Befugnissen nicht mehr entzogen sei, als die Verordnung ausdrücklich erklärt. Dagegen ist man darüber allgemein einig, daß die geistliche Ge­

richtsbarkeit in Ehesachen pro foro externo, also hinsichtlich ihrer bür­ gerlichen Wirkung, mit der Verordnung vom 2. Januar überall aufgehört

173



hat; d. h. nicht etwa blos, daß die Entscheidungen deS geistlichen Gerichts keine Anerkennung im Staate hinsichtlich der effectus civiles (d. i. der Vermögensverhältnisse u. s. w.) haben, denn diese hatten sie

auch früher nicht, mit Ausnahme Schlesiens, sondern sie haben nun auch keine Anerkennung im Staate mehr hinsichtlich des ehelichen Bandes selbst. Die Erkenntnisse der bischöflichen Gerichte über Gültigkeit und Ungültigkeit einer Ehe, so wie über lebenslängliche resp, zeitige Abson­ derung sind nunmehr für die bürgerlichen Gerichte und Behörden durch­ aus nicht mehr maßgebend, ja von ihnen gar nicht zu beachten. Das kann schon nach dem klaren Wortlaut der betreffenden gesetzlichen Be­ stimmung keinem Zweifel unterliegen und ist, wie sich aus Obigem er-

giebt, sowohl in den Motiven zu der Verordnung, als auch später durch wiederholte Erklärungen der Vertreter der Regierung, so wie endlich

auch in den Lehrbüchern anerkannt. cf. Richters Kirchenrecht a. a. O. — Mit dieser hiernach wohl nicht zu bezweifelnden Ansicht stehen

scheinbar zwei Erkenntnisse des ersten Senats des Königl. Obertribunals vom 14. Juni 1852 und 20. September 1854 im Widerspruch. In dem ersteren ist der Grundsatz ausgesprochen:

„Die anderweitige Ehe des durch ein Urtheil des geistlichen Ge­ richts nach Aufhebung seiner früheren Gerichtsbarkeit in Ehesachen

geschiedenen Ehegatten ist keine nichtige Ehe." cf. Striethorst's Archiv, Bd. 5 S. 318 und Ergänzungen zu den §§. 942 u. 944, Th. II. Tit. 1 des A. L. R. Bd. 13 Suppl. 3 S. 193.

In dem letzteren ist ausgeführt: „Der von einem katholisch-geistlichen Gericht auch nach dem 1. April 1849 rechtskräftig erkannten, von den betheiligten Pri­ vatpersonen als ungültig nicht angefochtenen beständigen Trennung

eines Ehepaars von Tisch und Bett ist die bürgerliche Wirkung einer gänzlichen Ehescheidung nicht abzusprechen." cf. Entsch. des Königl. Obertribunals Bd. 28 S. 336 und

Ergänzungen zu §. 734, Th. H. Tit. 1 des A. 8. R.

Bd. 14 Suppl. 4 S. 184. Der factische Sachverhalt, welcher diesen beiden Entscheidungen zum Grunde liegt, ist folgender: „Herrmann v. H. war mit der Agnes v. F. verheirathet. Beide gehörten der katholischen Religion an. Im Jahre 1846 verlangte der

Ehemann die beständige Trennung von Tisch und Bett seiner Ehefrau, auch daß sie für den allein schuldigen Theil erklärt werde, indem er sie der Verletzung der ehelichen Treue beschuldigte. Das fürstbischöfliche Consistorium zu Breslau erkannte am 12. April 1849, also nach einge­

tretener Wirksamkeit der Verordnung vom 2. Januar 1849: 12*

174 „Daß es dem Klager Herrmann v. H. zu gestatten, für immer von Tisch, Bett und Wohnung seiner Ehegattin getrennt zu leben, diese für den allein schuldigen Theil zu erachten und sie mit ihrer

Widerklage abzuweisen." Die v. H. verheirathete sich hierauf anderweitig mit dem L.

Die

von der Staatsanwaltschaft nunmehr gegen dieses Ehepaar angestellte

Klage auf Nichtigkeitserklärung dieser Ehe wurde in drei Instanzen, zu­ letzt durch Erkenntniß des Königl. Obertribunals vom 14. Juni 185’2

zurückgewiesen. In den Gründen dieses Erkenntnisses ist ausgeführt: „Nach §. 942 Th. IT. Tit. 1 des A. L. R. sei eine Ehe nur für eine ungültige (im Gegensatze zu einer nichtigen) zu erachten, wenn die früher bestandene Ehe aus unverschuldetem Irrthum für getrennt angenommen worden. Für einen solchen unverschuldeten Irrthum

solle es aber nach §. 944 daselbst gehalten werden, wenn die vorige Ehe durch ein richterliches Erkenntniß, dem ein we­ sentliches Erforderniß der Gültigkeit mangelt, für getrennt erklärt worden ist. Dieser Fall trete hier ein, indem daS geistliche Gericht nach dem 1. April 1849 über die civilrecht­ liche Trennung der Ehe nicht mehr erkennen durfte, folglich dieser Behörde die Competenz ermangelte, doch aber jenes als Gericht bestanden habe und noch bestehe, und daher jenes Er­ kenntniß des geistlichen Gerichts erst hätte für nichtig erklärt wer­ den müssen, ehe die jetzige Klage anzustellen gewesen, diese Nich­ tigkeit aber wiederum blos wegen der Jncompetenz des Gerichts nicht habe ausgesprochen werden können. Hiernach sei eine nich­

tige Ehe unter den beklagten Eheleuten, welche die Staatsan­ waltschaft anzufechten befugt wäre, nicht vorhanden." Die früher verehelichte v. H., später verehelichte L., klagte ferner im December 1852 gegen den Herrmann v. H. auf Vermögensausein­ andersetzung und Herausgabe ihres dem v. H. eingebrachten Vermögens. In den beiden ersten Instanzen (Kreisgericht zu PIeß und Appella­ tionsgericht zu Ratibor) wurde der von dem Verklagten aufgestellte Präjudicialeinwand für durchgreifend erachtet, daß das geistliche Gericht

über die civilrechtlichen Folgen der ursprünglichen Scheidung von Tisch und Bett nach dem 1. April 1849 nicht mehr habe erkennen können, und es in dieser Beziehung an einem Ehescheidungsurtel fehle, so daß,

da die Ehe noch nicht getrennt sei, der Anspruch der Klägerin auf. Her­ ausgabe ihrer Jllaten sich als unbegründet darstelle. Die beiden ersten Richter wiesen daher die Klägerin ab. Der Appellationsrichter namentlich führte aus: „Es handle sich hier um die Frage, ob durch den §. 1 der Verord­

nung vom 2. Januar 1849 der §. 734, Th. II. Tit. 1 des A. L. R. aufgehoben worden sei. Dies sei der Fall, was schon daran-

175 folge, daß zur ausdrücklichen Aufhebung eines Gesetzes auch die Aufhebung eines ganzen Instituts oder dessen wesentliche Umbil­ dung, womit die dasselbe betreffenden einzelnen Gesetze von selbst

fielen, genüge.

Ueberdies folge die Aufhebung auch ganz klcrr aus

dem §. 40 der Verordnung vom 2. Januar 1849



Stehe demnach fest, wie auch in dem Erkenntniß vom 14. Juni

1852 angenommen sei, daß das geistliche Gericht nach dem 1. April 1849 über die civilrechtliche Trennung der v. H.'schen Ehe nicht

mehr habe erkennen dürfen, und daß diesem Erkenntniß die bür­ gerliche Wirkung einer gänzlichen Ehescheidung nicht beizulegen

sei, so könne es dahin gestellt bleiben, ob in rein kirchlicher Be­ ziehung die Consistorialgerichte noch fortbeständen, und ob sie, um katholische Ehegatten von den kirchlichen Strafen des Getrennt­

lebens zu befreien, in kirchlichem Wege auf Separation zu erken­

nen berechtigt seien. — Sonach sei die Ehe als noch nicht getrennt

anzusehen." Das Königl. Obertribunal hielt indessen die hierauf von der Klä­ gerin eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde für

begründet und hob in den

Entscheidungsgründen hervor: .Es möge nicht zu billigen sein, daß das geistliche Gericht, nach­

dem seine Competenz, über die civilrechtliche Trennung der Ehe

zu entscheiden, durch die §§. 1 u. 40 aufgehoben sei, dennoch eine solche Entscheidung

getroffen

habe ....

Allein dies sei ein­

mal geschehen und sein Urtel sei rechtskräftig geworden; es könne

daher nach §. 7 Th. I. Tit. 16 der Allg. Gerichts-Ordnung nicht angefochten werden.

Es trete daher auch die Bestimmung des

§. 734 ein, da auf beständige Separation erkannt und eine Auf­ hebung dieses Gesetzes speciell nicht erfolgt sei, dasselbe daher auch

für den vorliegenden Fall einer rechtskräftig ausgesprochenen Schei­ dung von Tisch und Bett von der Anwendung nicht ausgeschloffen werden tonne." Das Königl. Obertribunal hat also in den Gründen der beiden

Erkenntnisse anerkannt, daß die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit pro foro externo durch den §. 1 der Verordnung vom 2. Januar ausge­

hoben sei.

Hiernach rechtfertigt sich die obige Bemerkung, daß die ge­

dachten Erkenntnisse nur in scheinbarem Widersprüche mit der allgemein

geltenden Ansicht stehen. Der durch das Erkenntniß vom 14. Juni 1852 aufgestellte Grund­

satz ist auch wohlbegründet, wenn man mit dem Königl. Obertribunal annimmt, daß das sogenannte Erkenntniß des fürstbischöflichen ConsistoriumS zu Breslau vom 12. April 1849 ein richterliche,s Erkennt­

niß sei.

Zu dieser Annahme ist man aber wiederum genöthigt, wenn

man der allgemein herrschenden Ansicht folgt, daß den katholisch -geist-

176 lichen Gerichten annoch eine wirkliche Jurisdiction, wenn auch nur pro foro interno, zusteht, und daß mithin die geistlichen Richter mit wirk­

licher Richterqualität sungiren.

In diesem Falle war allerdings die

zweite Ehe der v. L.'schen Eheleute auf Grund der §§. 942 u. 944 Th. II. Tit. 1 des A. L. R. keine nichtige, sondern nur eine ungültige Ehe, die also

nach §. 973 ibid. allein auf Anrufen derjenigen, welche das Ehehinder­ niß zu rügen nach den Gesetzen berechtigt sind, z. B. der Eheleute selbst,

nicht aber von Amtswegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf­

gehoben werden konnte.

Geht man indesien, abweichend von der herrschenden Meinung, von der Voraussetzung aus, daß die katholisch-geistlichen Gerichte nach dem

1. April 1849 überhaupt nicht mehr im juristischen Sinne erkennen, also auch keine richterlichen Erkenntnisse abfassen können,

alsdann er­

scheint allerdings der obige Grundsatz nicht gerechtfertigt; die genauere

Ausführung dieses Punktes wird aber erst weiter unten erfolgen, da es

sich hier vorläufig nur darum handelt, darzuthun, daß die Erkenntnisse der geistlichen Gerichte nach dem 1. April 1849 jedenfalls keine bürger­

lichen Wirkungen mehr gehabt haben können. Dieser Umstand wird aber, wie gezeigt, durch den aufgestellten

Grundsatz des König!. Obertribunals in keiner Weise angegriffen. Anders ist es mit dem zweiten durch das Erkenntniß vom 20. Sep­ tember 1854 hingestellten Grundsätze,

indem hierin allerdings ausge-

sprochen wird, daß einem rechtskräftigen Erkenntnisse der geist­

lichen Gerichte auch noch jetzt unter gewissen Umständen bürgerliche

Wirkungen beizulegen seien, daß dasselbe also für den Civilrichter in Betreff der Vermögensverhältnisse re. bindend sei.

DaS Königl. Ober­

tribunal erkennt zwar, wie bereits mehrfach erwähnt, die Jncompetenz der geistlichen Gerichte pro foro externo an, und kommt zu der vor­

stehenden Entscheidung hauptsächlich nur mit Rücksicht auf die prozessua­ lische Vorschrift des §. 7 Th. I. Tit. 16 der Allg. Gerichts-Ordnung,

wonach Privatpersonen rechtskräftige Erkenntnisse

eines . incompetenten

Richters nicht weiter anfechten könnten; allein diese gesetzliche Bestim­ mung war auf den vorliegenden Fall überhaupt nicht anwendbar.

In §. 2 Th. I. Tit 16 der Allg. Gerichts-Ordnung heißt eß viel­ mehr zu Anfang:

„Es giebt jedoch einige Fälle, wo ein Urtel dergestalt nichtig ist, daß selbiges zu keiner Zeit die Rechtskraft erlan­

gen kann/

,

und ßub Nr. 3 desselben Paragraphen wird als einer dieser Fälle aus-

geführt: „Wenn Jemand, der mit keiner Jurisdiction versehen, oder falls

er auch damit versehen wäre, dennoch zur Justizverwaltung nicht vorschriftsmäßig bestellt und vereidet ist, sich in einer Sache als

177 Richter angegeben und in dieser Qualität einen Prozeß instruirt oder entschieden hat."

Diese Vorschriften müssen auf den vorliegenden Fall angewendet

werden; denn selbst wenn man auch annimmt, daß die katholisch-geist­ lichen Gerichte jetzt noch mit einer jurisdictio pro foro intemo versehen sind,

so

hatten sie doch damals,

als das fürstbischöfliche Gericht zu

Breslau erkannte, jedenfalls keine jurisdictio pro foro externo mehr, und

wenn daher in Folge einer solchen Entscheidung irgend welche bürger­

liche Wirkungen in Betracht kommen, so muß man gerade in dieser Beziehung.sagen, daß den geistlichen Gerichten damals gar keine Jurisdiction im Sinne des §. 2 Nr. 3 mehr zugestanden hat.

Daraus

folgt aber wiederum, daß das betreffende Erkenntniß des fürstbischöflichen

Gerichts überhaupt nicht rechtskräftig werden konnte, vielmehr von vorn herein nichtig war, und daß demgemäß der Absatz 3 des §. 7 leg. cit. nicht Platz greifen kann, weil zu dessen Anwendbarkeit im Ge­

gensatze zu dem Absatz 1 ibid. vorausgesetzt werden muß, daß dem erken­ nenden Richter überhaupt eine Jurisdiction, wie sie zur Entscheidung des betreffenden Rechtsfalles nothwendig ist, beiwohne, — in Anwen-

dung auf den vorliegenden Fall also, daß dem fürstbischöflichen Gericht am 12. April

1849 noch das Recht zugestanden habe, auf Trennung

von Tisch und Bett mit bürgerlichen Wirkungen zu erkennen, was doch nicht der Fall war.

Ueberdies muß man auch den §. 734 Th. II. Tit. 1 des A. L. R., welcher sich der früheren Ausführung gemäß nur auf die Entscheidungen der katholisch-geistlichen Gerichte und zwar auf die Entscheidung pro foro

extemo beziehen konnte, für aufgehoben erachten, da mit dem Wegfall eines ganzen Instituts nothwendig auch die einzelnen darauf Bezug ha­

benden Bestimmungen, die offenbar zu ihrer Existenz das Bestehen des

ganzen Instituts voraussetzen, wegsallen müssen. Nach diesem Allen ist die Annahme gerechtfertigt, daß in keinem

Falle einer nach dem 1. April 1849 gesprochenen Sentenz der katho­ lisch-geistlichen Gerichte in Ehesachen irgend welche bürgerliche Wirkun­

gen beizulegen sind. Das Resultat der in diesem Abschnitt gegebenen Ausführung und der allegirten Beläge geht also dahin: Die katholisch-geistlichen Gerichte können nach dem 1. April 1849 in Ehesachen, in specie auf separatio quoad thorum et mensam in foro externo unbedingt nicht mehr erkennen, d. h. ihre

Entscheidungen sind für den Civilrichter in keiner Weise präjuhizirlich, sie sind für ihn gar nicht vorhanden. Dagegen sollen dieselben nach der gewöhnlichen Ansicht auch

jetzt

noch

in

foro

interno

erkennen

können,

d.

h.

ihnen

178 soll überhaupt noch eine richterliche Jurisdiction zustehen, und ihre

Entscheidungen

sollen

die Parteien

in

ihrem

Gewissen

verbinden.

Dritter Abschnitt. §. 9.

Wirkungen des Wegfalls der katholisch-geistlichen Iurie-

diction in Ehesachen pro foro externo und deS Bestehens derselben pro foro interno. Wie bereits oben erwähnt, hatten die katholisch-geistlichen Gerichte auch schon vor dem 1. April 1849 der Regel nach nur über die Fort­ dauer oder Aufhebung resp. Trennung der Ehe, nicht aber über die daraus nach dem Gesetze sich ergebenden persönlichen oder vermögensrecht­ lichen Wirkungen zu erkennen. Hierüber stand mit Ausnahme des fürst­ bischöflichen Gerichts zu Breslau dem Civilrichter die Entscheidung zu. Für den letzteren war aber daß Erkenntniß des geistlichen Richters in so fern präjudicirlich, als er die darin in Betreff des ehelichen Bandes

festgesetzte Entscheidung als bindend anerkennen und demzufolge dieser Entscheidung gemäß die bürgerlichen Folgen bemessen mußte. Die katho­ lisch-geistlichen Gerichte erkannten, wie gleichfalls schon erwähnt, vermöge der Sacramental-Ratur der Ehe nach katholischem Dogma nicht auf völlige Scheidung, sondern nur auf separatio quoad thorum et mensam perpetua vel temporaria. Die erstere hatte aber nach §. 734 Th. II. Tit. 1 des A. L. R. dieselben Wirkungen wie eine vollständige Scheidung, während

die letztere die Ehegatten nur berechtigte, zeitweise von einander getrennt zu leben, im Uebrigen aber, namentlich in den vermögensrechtlichen Be­ ziehungen nichts änderte. Sobald also ein geistliches Gericht auf beständige Trennung von Tisch und Bett rechtskräftig erkannt hatte, hörten sofort die Folgen so­ wohl in persönlicher wie in vermögensrechtlicher Beziehung auf, welche daö bürgerliche Gesetz an die Ehe knüpft. Die früheren Ehegatten hatten also z. B. von da an kein mandatum praesumtum im Prozesse mehr, die Frau hatte nicht mehr unbedingt das Domicil des Mannes, das gegenseitige Erbrecht erlosch,, die später concipirten Kinder waren unehe­ lich, die Gütergemeinschaft hörte auf, jeder Theil konnte auf VermögenSauseinandersehung antragen u s. w. Der Civilrichter mußte den betreffenden Anträgen der Parteien stattgeben und mußte bei seiner Ent­ scheidung immer davon ausgehen, daß die Ehe in Betreff der bürgerlichen Folgen seit der durch das geistliche Gericht rechtskräftig ausgesprochenen

Trennung der Ehegatten nicht mehr bestanden habe.

179 Die separatio quoad thorum

et mensam teinporaria berechtigte,

wie gesagt, die Ehegatten, von einander getrennt zu leben; wenn nun dessenungeachtet einer derselben ein Rückkehrsmandat gegen den andern

beim Civilrichter extrahiren wollte, so mußte ihn dieser damit zurück­ weisen und also auch hier wiederum die Entscheidung des geistlichen Gerichts respectiren.

Alles dies hat sich durch den §. 1 der Verordnung vom 2. Januar

1849 geändert. Der Civilrichter erkennt ein etwaiges Erkenntniß deS geistlichen Gerichts überall nicht mehr an; er selbst muß erst die Schei­ dung der katholischen Eheleute aussprechen, bevor irgend welche bür­ gerliche Wirkungen entstehen können. Wenn also das geistliche Gericht

die beständige Trennung von Tisch und Bett ausspricht, so bleiben die Parteien nach wie vor Ehegatten, sie behalten ihr Erbrecht, die später erzeugten Kinder sind ehelich 2C., mit einem Wort, es wird in ihren bürgerlichen Verhältnissen gar nichts geändert. Eben so kann bei einer zeitweisen Trennung von Tisch und Bett jeder der Ehegatten alle Zeit ein Rückkehrsmandat beim Civilrichter beantragen, und dieser wird dasselbe zu erlassen haben, da das Erkennt­ niß des geistlichen Gerichts für ihn nicht vorhanden ist. Das sind also die bedeutenden, in die äußeren Verhältnisse der ka­ tholischen Eheleute tief eingreifenden Wirkungen der Aufhebung der

geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen pro foro externo. Frägt man nun weiter, welche Wirkungen eine Entscheidung der katholisch-geistlichen Gerichte in foro interno äußern kann, so kommt man nothwendig zu dem Resultat, daß sie die Parteien nur in ihrem Gewissen verbindet, daß die Geistlichen selbst nur durch geistige Zwangsmittel, durch Rath, Ermahnung oder höchstens durch kirchliche Strafen, z. B. Ausschließung vom Abendmahl, die Parteien zur Befol­

gung ihrer Entscheidung veranlassen können, daß dieselbe rechtlich aber unwirksam ist, indem der Staat seine Hülfe versagt und die Ehegatten nicht zwingt, dem in der Entscheidung ausgesprochenen Gebot zu folgen. Dieser letztere Umstand, d. h. die gänzliche Unwirksamkeit der so­ genannten von den geistlichen Gerichten. gefällten Erkenntnisse, führt

nun nothwendig zu der Annahme, daß von einem Erkennen der geist­ lichen Richter seit der Verordnung vom 2. Januar 1849 überhaupt nicht mehr die Rede sein kann.

180

Vierter Abschnitt.

§. io. Kann

ein

geistliches Gericht

seit

der Verordnung

vom

2.Januar 1849 nod) auf separatio quoad thorum et mensam erkennen, und welche Wirkungen hat ein solches Urtheil?

Der erste Theil dieser das eigentliche Thema umfassenden Frage

löst sich wiederum in zwei besondere Fragen aus, einmal nämlich:

„bestehen überhaupt noch katholisch-geistliche Gerichte?" und zweitens:

„kann ein solches aus separatio quoad thorum et mensam er­ kennen?" Im Grunde genommen fallen diese beiden Fragen aber doch zu­

sammen; denn wenn den früheren katholisch-geistlichen Gerichten über­ haupt noch eine Gerichtsbarkeit im juristischen Sinne zusteht,

so muß

ihnen auch das Recht zu erkennen eingeräumt werden, da gerade

dieses das wesentliche Annexum einer jeden vom Staat anerkannten rich­ terlichen Behörde ist; — und umgekehrt, sind die früheren geistlichen Gerichte noch berechtigt, Urtheile zu fällen, so wird damit zugleich ihre Stellung als gerichtliche Behörde anerkannt, da nur eine solche über­

haupt erkennen kann.

Es mag allerdings auch andern Behörden, z. B. den Regierungen und den Steuerbehörden, eine Jurisdiction in der allgemeinen Bedeutung des Worts zustehen; alle diese Behörden können ihre Jurisdiction aber

nur in Form von Resoluten, Mandaten u. s. w. ausüben; erkennen können sie dagegen nicht, dieses Recht steht vielmehr nur den Gerichten

zu, und es ist daher wohl gerechtfertigt, von einer Gerichtsbarkeit im

juristischen Sinne zu sprechen. Ausdrücklich ist nun nach dem Erlaß der Verordnung vom 2. Ja­

nuar 1849 die Fortdauer der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit pro foro intemo vom Staate nicht anerkannt; denn es findet sich nirgends

etwas davon in den Gesetzen oder Verordnungen, daß den Bischöfen oder sonstigen Behörden, welche früher die Gerichtsbarkeit in den Ehesachen

der Katholiken ausübten, eine solche Jurisdiction,

wie die in Rede

stehende, bei der neuen Gerichtsorganisation beigelegt ist, wie dies doch

bei anderen Specialgerichten, z. B. den Handels- und Gewerbegerichten,

der Fall gewesen.

Es soll aber nach der allgemeinen Ansicht die in Rede stehende Jurisdictionsbefugniß

den gedachten Gerichten stillschweigend ver­

blieben sein, weil nach dem Wortlaut der betreffenden Gesetzesstelle die

181 geistliche Gerichtsbarkeit nur in allen weltlichen

Angelegenheiten auf­

gehoben sei. Allein diese Annahme ist nicht gerechtfertigt.

ES ist zwar nicht zu verkennen, gelegenheiten"

und

daß die Ausdrücke „weltliche An­

„civilrechtliche Trennung"

dieser Beziehung hindeuten, und man daraus

auf

einen Gegensatz in

wohl abnehmen könnte,

der Gesetzgeber habe den geistlichen Gerichten die rein spirituellen An­ gelegenheiten überhaupt und insbesondere auf dem Gebiete des Eherechts

zur Entscheidung überlassen wollen; es geht aber aus anderen Ausdrücken und Vorschriften der Verordnung selbst schon hervor, daß der Gesetzgeber

dies doch nicht beabsichtigt hat.

Zunächst lautet die Ueberschrift zu I der Verordnung ganz allgemein „Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit",

welcher Ausdruck sich noch öfter in dieser Allgemeinheit wiederholt. Sodann bestimmt der §. 18 wörtlich: „Die anderweitige Organisation der Gerichtsbehörden, welche durch

die

vorstehend angeordnete Aufhebung

der Privatgerichtsbarkeit

und deß eximirten Gerichtsstandes, so wie durch die Vorschriften

der Verordnung über Einführung deS mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen bedingt wird

soll sich bis dahin, daß im Wege der Gesetzgebung die Hinder­

nisse einer durchgreifenden und gleichförmigen Umgestaltung im

ganzen Umfange der Monarchie beseitigt sein werden, möglichst an die bestehenden Gerichtseinrichtungen anschließen.

Die Justiz­

verwaltung wird sonach in erster Instanz durch collegialisch ein­

gerichtete Kreis- und Stadtgerichte :c. ausgeübt. Außerdem sollen

an Orten, wo sich dazu ein Bedürfniß ergiebt, besondere Handelsund Gewerbegerichte, in welchen die Rechtspflege durch sachkundige,

von den Berufsgenossen frei gewählte Richter verwaltet oder mit­ verwaltet wird, eingerichtet werden." ES sind denn auch später wirklich besondere Verordnungen über die Einrichtung der Gewerbe- und Handelsgerichte ergangen.

Hieraus geht hervor, daß wenn die Gesetzgebung neben den ordent­

lichen Gerichten Specialgerichte anerkennen wollte, sie diese namentlich

aufgesührt und ausdrücklich als Ausnahmen hingestellt hat.

Dies ist mit den katholisch-geistlichen Gerichten pro foro interno nicht geschehen, obgleich es bei diesen um so mehr nothwendig gewesen

sein würde, weil der Wahlmodus der Richter und überhaupt die Ver­

fassung der gedachten Gerichte vor dem 2. Januar 1849, — welche ja doch auch in Ermangelung von abändernden Bestimmungen unverändert beibehalten sein müßte, — mit der allgemein geltenden Vorschrift in §. 1 der Verordnung vom 2. Januar:

182 .Fortan soll die Gerichtsbarkeit überall nur durch vom Staate bestellte Gerichtsbehörden in Unserem Namen ausgeübt werdend

so wie auch mit dem Titel VI, insbesondere mit den Art. 86 und 87 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 in Widerspruch stehen

würden. Die Ansicht, daß nach der bestehenden Gesetzgebung den früheren

katholisch-geistlichen Gerichten überhaupt keine Jurisdiction mehr zu­ stehen könne, scheint auch in den Ergänzungen zur Allss. Gerichts-Ord­

nung (Bd. 11 Suppl. 1 zum III. Theil der Ger. Ordn.) ausgedrückt zu sein, indem es daselbst S. 281 ganz allgemein heißt:

„Die Privatgerichtsbarkeit wurde aufgehoben, die Justizpflege in erster Instanz ist an collegialisch eingerichtete Kreis- und Stadt­

gerichte verwiesen worden;" ferner: .Nach §. 10 wurde eine anderweitige gesetzliche Bestimmung über

den Militairgerichtsstand in Strafsachen rc. . . . und durch §.18 die

Errichtung von besonderen Handels- und Gewerbegerichten

Vorbehalten :c. . . . Dagegen beläßt es der §. 11 rücksichtlich der Rechtsstreitigkeiten und Rechtsangelegenheiten der Mitglieder der

Königlichen Familie bei der bestehenden Gesetzgebung. Alle sonstigen besonderen Gerichte so wie baß Insti­ tut der Kreisjustizräthe wurden aufgehoben."

Selbst wenn man aber auch annimmt, daß nach der Absicht des

Gesetzgebers die katholisch-geistlichen Gerichte die Jurisdiction pro foro interno hätten behalten sollen, so würde dies doch keinenfalls als eine wirkliche Jurisdiction im juristischen Sinne gelten können, da eine solche

stets voraussetzt, daß sie auch auf dem bürgerlichen Gebiet ihre Wirkun­ gen äußern kann.

Jede richterliche Jurisdiction zählt nämlich zu ihren wesentlichen Functionen das Recht, über streitige Privatrechte zu entscheiden.

Jedes

rechtskräftige Erkenntniß auf diesem Gebiet macht aber formelles Recht

unter den Parteien, und deshalb muß jedes rechtskräftige Erkenntniß

vollstreckbar sein, d. h. die Parteien müssen auf irgend eine Weise an­ gehalten werden können, der Festsetzung in dem Erkenntnisse zu gehorchen, dasselbe zu erfüllen.

Die Zwangsmittel, wodurch dies im Weigerungs­

fälle bewirkt wird, sind im Gesetz angegeben und werden vom Staat

auSgeübt.

Versagt nun der Staat in so fern die Anerkennung des Er­

kenntnisses, als er diese Zwangsmittel nicht zur Anwendung bringt, so wird dadurch das in dem Urtheil festgesetzte Recht und somit daS Er­ kenntniß selbst illusorisch; die Entscheidung hört auf, ein Erkenntniß

im juristischen Sinne zu sein, weil die Möglichkeit

der Vollstreckung

fehlt.

So verhält es sich gegenwärtig mit den Entscheidungen der sogen.

183 katholisch-geistlichen Gerichte in Preußen.

Der Staat erkennt dieselben

nicht für sich als bindend an und versagt demgemäß die Mittel, wodurch

dem Ausspruche des geistlichen Gerichts Wirksamkeit ^verschafft werden

könnte.

Dies ist auch auf dem Gebiete der Ehescheidungen der Fall.

Wenn das geistliche Gericht zwei katholische Ehegatten für immer oder auf Zeit von Tisch und Bett trennt, so wäre es, damit ein solcher Aus­

spruch die Natur eines richterlichen Erkenntnisses haben könne, noth­ wendig, daß die separaten Ehegatten vom Staat erforderlichen Falls

durch äußere Zwangsmittel angehalten würden, dem Ausspruche Folge zu

leisten, und daß der Staat namentlich in vermögensrechtlicher Beziehung diejenigen Folgen eintreten lasse, die das Gesetz sonst an die Scheidung

der Ehegatten knüpft. — Von diesem Allen ist aber nicht die Rede.

Wenn ferner umgekehrt das geistliche Gericht die von den katholi­ schen Eheleuten beantragte Scheidung

von Tisch und Bett zurückweist,

und diese sich dabei beruhigen, so müßte ein solcher Ausspruch, wenn er

die Kraft eines richterlichen Erkenntnisses hätte, vermöge des bei diesem

geltenden Grundsatzes: „Res judicata jus facit inter partes“, die Wir­

kung haben, daß die Ehegatten wegen desselben Ehescheidungsgrundes nicht wieder klagen könnten. — Dies ist aber keineswegeS der Fall; die Eheleute können, wenn sie vom geistlichen Gericht zurückgewiesen werden,

später jederzeit beim weltlichen Richter auf Scheidung antragen, und

dieser kann sehr wohl die Ehe alsdann wegen desselben Grundes tren­ nen, den der geistliche Richter verworfen hat.

Alles dies widerspricht dem Wesen

der richterlichen Erkenntnisse

und somit auch dem Wesen einer wirklichen Jurisdiction.

Wenn man dagegen anführt, der Ausspruch der geistlichen Gerichte verbinde die Parteien in ihrem Gewissen, auch könne demselben durch kirchliche Strafen, z. B. Ausschließung vom Abendmahl, Geltung ver­

schafft werden,

so ist darauf zu erwiedern, daß ein solcher moralischer

Zwang zur Vollstreckung richterlicher Entscheidungen

in keiner Weise

genügt, eben weil der moralische Zwang Gewissens fache ist, — ge­ wissenlose Ehegatten sich aber selbst durch Excommunicationen nicht be­

wegen lassen werden, dem ihrem Willen entgegenstehenden Ausspruche des geistlichen Richters zu folgen.

Mit einem Wort, die Ehegatten brau­

chen einem solchen Ausspruche nicht nachzukommen, und dies genügt, um

demselben die Natur eines richterlichen Erkenntnisses vollständig zu ent­ ziehen.

Auch vom Standpunkt einer schiedsrichterlichen Entscheidung kann man die Aussprüche der geistlichen Gerichte nicht auffassen, da nach

§. 168 Th. I Tit. 2 der Allg. G. O. in Ehescheidungssachen die Ent­ scheidung durch Schiedsrichter mit Bestände Rechtens überhaupt nicht ftattfinden kann.

cf. auch Cab. O. v. 25. Febr. 1833. Ges. Sammt. 1833 S. 24.

184 Wenn demnach jetzt ein früheres geistliches Gericht von zwei ka­ tholischen Eheleuten um Trennung von Tisch und Bett angegangen wird, und dasselbe auch wirklich einen Ausspruch in Form eines richterlichen Erkenntnisses abgiebt, so ist dieser Ausspruch doch nur in gleicher Weise,

wie wenn er von einer Privatperson abgegeben wäre, als ein Rath oder eine Ermahnung, keinenfalls aber als ein wirkliches Erkenntniß anzu­

sehen; ebenso kann eine von dem geistlichen Gerichte für den Fall der Nichterfüllung des Ausspruchs festgesetzte kirchliche Strafe nicht als ein

Executionsmodus, sondern höchstens nur als eine Art Disciplinarstrafe aufgefaßt werden.

Nach diesem Allen kommt man zu der Annahme, daß seit der Verordnung vom 2. Januar 1849 die katholisch-geistlichen Gerichte überhaupt zu existiren aufgehört haben. Selbst wenn man ihnen aber auch noch in rein kirchlichen Sachen eine Art von Disciplinargewalt einräumen wollte, so ist doch jedenfalls die Jurisdiction im rein juristischen Sinne, d. h. das Recht zu erkennen,

überhaupt und in specie in Ehescheidungssachen gänzlich aufgehoben, da eine sogenannte jurisdictio pro foro intemo oder quoad spiritualia mit den Grundsätzen der richterlichen Erkenntnisse, wie ausgeführt, unver­ einbar ist. Hiernach kann man sich der in dem Rescript des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten vom 30. April

1851 und auch sonst vielfach cf. den zweiten Abschnitt dieses Theils zu Anfang ausgesprochenen Ansicht, daß die katholisch-geistlichen Gerichte in rein kirchlicher Beziehung als fortbestehend zu betrachten seien und daher in diesem Maßstabe auch jetzt noch auf separatio quoad thorum et mensam erkennen könnten, nicht anschließen; man muß vielmehr die in dem vorliegenden Thema gestellte Frage, ob seit der Verordnung vom 2.Januar 1849 ein geistliches Gericht noch auf sepa­

ratio quoad thorum et mensam erkennen könne, aus den angeführten Gründen lediglich verneinen. Die Frage nach den Wirkungen eines in der gedachten Weise ge­ sprochenen Urtheils erledigt sich hiernach von selbst, da ein solches Ur­ theil überhaupt nicht mehr vorkommen und daher auch keine Wirkun­ gen nach sich ziehen kann. Der gegenwärtige Rechtszustand in Ansehung der katholisch­ geistlichen Gerichtsbarkeit in Preußen stellt sich sonach dahin, daß dieselbe gänzlich ausgehoben ist, und den früheren geistlichen

Gerichten überhaupt keine Jurisdiction, auch nicht pro foro intemo,

eingeräumt werden kann. Aus diese letztere scheinen übrigens so wenig die katholischen Geist­ lichen wie die Landtagsvertreter der katholischen Bevölkerung Preußens

185 viel zu geben, da dieselben mit großer Beharrlichkeit, namentlich in den letzten Jahren, die Wiederherstellung der katholisch-geistlichen Gerichts­

barkeit mit bürgerlichen Wirkungen, wie sie vor der Verordnung vom 2. Januar 1849 bestanden, beantragt haben.

Man sieht hieraus

am besten, daß die jurisdictio auf dem blos geistigen Gebiet ein leerer

Schatten ist, und daß dieselbe erst wieder eine bestimmte Gestalt gewinnt, wenn bürgerliche Wirkungen mit ihr verbunden werden.

Hierdurch kommt man nun aber zu der ferneren Betrachtung, ob die

Aufhebung

der

katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit

in Preußen,

namentlich wiederum auf dem Gebiete der Ehescheidung, gerechtfertigt war? Es mag diese Frage sich nicht direct auf das vorliegende Thema bezie­

hen, allein durch den dogmatischen Charakter dieser Abhandlung wird eg bedingt, daß auch die in Rede stehende Frage mit in den Kreis der

Erörterung gezogen werden muß.

Dritter Theil. Beurtheilung, ob die geschehene Aufhebung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in Preußen, na­ mentlich auf dem Gebiete der Ehescheidung, gerecht­ fertigt war? Es ist vorweg zu bemerken, daß eine erschöpfende Beurtheilung die­ ser Frage, welche auf verschiedenen Gebieten des Staatsorganismus eine wichtige Rolle spielt, hier nicht möglich erscheint.

Es mag

daher genügen, die Gesichtspunkte anzudeuten, welche dabei in Betracht kommen.

Man muß indessen die vorliegende Frage vom rechtlichen, vom re­

ligiösen und vom staatlichen Standpunkt aus prüfen, indem sich erst

dann mit einiger Sicherheit feststellen läßt, ob der gegenwärtige Stand der Gesetzgebung gerechtfertigt sei oder nicht.

§• 11. a. Juristischer Standpunkt. Der erste Theil dieser Abhandlung hat genügend gezeigt, daß die katholisch-geistliche

Gerichtsbarkeit überhaupt und namentlich auch in

Preußen auf historischem Recht beruht.

Mag es auch zweifelhaft er­

scheinen, ob nach der ursprünglichen christlichen Lehre diese Art Gerichts­ barkeit ein nothwendiges Institut bildete, — jedenfalls ist sie doch durch

das bei den Katholiken zur Geltung gekommene canonische Recht zu einem solchen erhoben, und es sind ihr durch dasselbe vorzugsweise die

186 Ehescheidungssachen zugetheilt worden. DaS Tridentiner Concil hat dies für die Katholiken ausdrücklich bestätigt; denn es heißt im canon 12 der Sess. 24:

„81 quis dixerit, causas matrimoniales non spectare ad judices ecclesiasticos, anathema sit." Daß hierdurch den geistlichen Gerichten und zwar den Diöcesan-

bischöfen die Entscheidung über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Ehen so wie über die Trennung derselben ausschließlich und präjudiciell für die weltlichen Richter hat zugetheilt werden sollen, wird durch die mei­

sten Kirchenrechtslehrer bestätigt, cf. Richters Kirchenrecht S. 588 und kann um so weniger nach dem, was über die Entstehung des ge­

dachten Canon in Benedicti XIV de syn. dioeces. lib. 9 cap. 9 No. 3 4 u. 5 gesagt wird, einem Zweifel unterliegen:

„Non exinde tarnen, quod causae matrimoniales fori sint Ecclesiastici, fas erit Episcopo, quidquid matrimonium tangit, sibi, suoque tribunali adjudicare ; sed causarum naturam attente inspicere et distinguere debet. Tria sunt causarum matrimonialium genera. Aliquae versantur circa initi conjugalis foederis firmitatem; et hae, nullo Catholicorum contradicente, in solo Ecclesiae foro, sunt pertractandae .... Aliae sunt causae excitatae aut super validitate sponsalium, äut super jure instituendi divortium quoad thorum et cohabitati onem; et istae pariter, ob illum respectum, quem habent ad matrimonii Sacramentum, ad solum Judicem Ecclesiasticum deferuntur . . . . Aliae demum sunt causae, quae connexionem quidem habent cum matrimonio, sed; res mere politicas et temporales directe atque immediate respiciunt, uti sunt Utes, quae frequenter moventur super dote, donatione propter nuptias — et cet. — — et istas ad judices saeculares pertinere.“ Das Concil wollte ja auch gerade durch den gedachten Canon die Ehe, der dogmatischen Auffassung und Definition derselben gemäß, als ein alle ihre Momente in sich schließendes Sacrament, so wie die seit dem 9. Jahrhundert in den christlichen Staaten maßgebende kirchliche Gesetzgebung über die Ehe gegen abweichende Ansichten aufrecht erhalten. Von diesem Gesichtspunkte aus muß man sagen, daß der in dem Canon 12 ausgesprochene Grundsatz überall da auf ungeschmälerte Gel­

tung Anspruch hat, wo die katholische Kirche als solche von der Staats­ gewalt anerkannt worden ist. Mit Rücksicht hierauf haben auch der Westphälische Friede (§§. 48 u. 49), die Wahlcapitulation Kaiser Franz II.

von 1797 (Art. 14 §. 5) und insonderheit die Preußischen Gesetze (§. 734 Th. n Tit. 1 des A. L. R.; §. 128 Th. I Tit. 2 der Allg. Ger. Ordn.

187 und Anh. Z. 287 zur A. G. O.; Verordnung vom 28. Juni 1844) die

katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen wiederholt bestätigt, und

es rechtfertigt sich daher die Annahme, daß auch in den protestantischen Ländern Deutschlands die gedachte Gerichtsbarkeit auf historischem Recht

beruht.

Von diesem Standpunkte aus kann also die Aufhebung der katho­ lisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen nicht für gerechtfertigt er­ achtet werden.

Es ist überdies in dieser Beziehung hervorzuheben, daß

bei der jetzigen Lage

der Gesetzgebung in so fern ein Widerspruch ent­

steht, als das weltliche Gericht durch sein Erkenntniß die geschiedenen

Ehegatten zu etwas ermächtigt, was dieselben nach den Grundsätzen

ihrer Religion nicht thun dürfen, nämlich sich wieder zu verheirathen.

Das katholisch-geistliche Gericht erkannte auf Grund des canonischen Rechts, der durch die Sacramental-Ratur der Ehe bedingten Unauflöslich­

keit des Bandes gemäß, nur auf separatio quoad thorum et mensam,

wodurch daö Recht der geschiedenen Ehegatten, sich bei Lebzeiten des andern wieder zu verheirathen, ausgeschlossen wurde.

Der weltliche Rich­

ter dagegen erkennt jetzt dem bürgerlichen Gesetze gemäß auch für die

Katholiken auf völlige Ehescheidung und räumt daher, wie gesagt,

in

seinem Erkenntniß den geschiedenen Ehegatten das Recht der Wiederver-

heirathung ein.

Allein in Wirklichkeit nützt den letzteren dieses Recht

nichts, denn der katholische Geistliche segnet die neue Ehe nicht ein, da die alte Ehe dem Bande nach noch besteht.

Der Staat hat diese den

katholischen Geistlichen zustehende Weigerung sogar im Anh. §. 287 zur A. G. O. ausdrücklich anerkannt.

Hierdurch

erhellet der Widerspruch

ganz klar.

Vom juristischen Standpunkte aus kann demgemäß die Aufhebung der geistlichen Jurisdiction nicht gerechtfertigt erscheinen, wenn nicht ein Surrogat zur Beseitigung dieses Widerspruchs an die Stelle derselben

tritt. Es giebt nun allerdings ein solches Surrogat, aber auch wohl das einzige, wodurch der gedachte Widerspruch gehoben werden kann, das ist die Einführung der Civilehe.

Hiervon wird am Schlüsse die-

ser Abhandlung noch genauer die Rede sein. §. 12.

b.

Religiöser Standpunkt.

Bis zur Gesetzeskraft der Verfassung vom 5. December 1848 war eö nach §. 136 Th. II Tit. 1 des A. L. R. eine allgemein geltende Vor­ schrift, daß zu einer bürgerlich vollgültigen Ehe die priesterliche Trau­

ung nothwendig sei.

Der Art. 16 jener Verfassung änderte aber die

ebengedachte Vorschrift dahin ab, daß die bürgerliche Gültigkeit der Ehe

durch deren Abschließung vor dem Civilstandsbeamten bedingt wurde.

Der Staat nahm hierdurch die Abschließung »der Ehe für seine Organe 13

188 ebenso in Anspruch, wie er es bereits früher mit der Trennung der Ehe

gethan hatte. In dieser Richtung war eS auch ganz folgerecht, wenn durch den §. 1 der Verordnung vom 2. Januar 1849 die Processe über die civilrechtliche Trennung rc. einer Ehe vor die weltlichen Gerichte verwiesen wurden.

Die revidirte Verfassung vom 31. Januar 1850 be­

seitigte jedoch jenen Art. 16 wieder und machte durch Art. 19 die Ein­ führung der Civilehe von einem künftigen Gesetze abhängig, indem sie, wie ausdrücklich hervorgehoben wurde, ihre Regulirung dem etwaigen

Bedürfnisse der Zukunft anheimgab. Ausschließlich der Rheinprovinz wurden daher die früheren Vorschriften über die staatlich gültige Ehe­ schließung durch priesterliche Einsegnung wieder in Kraft gesetzt. — In­ zwischen war die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen durch

die Verordnung vom 2. Januar 1849 aufgehoben; es war mithin die Competenz in Betreff der Ehescheidungen lediglich an die weltlichen Ge­ richte übergegangen. Diese erkannten nunmehr, der durch die priester­

liche Einsegnung hervorgebrachtenSacramental-Ratur der Ehe zuwider, auf vollständige Scheidung dem Bande nach^ gestatteten daher den geschiedenen Ehegatten sich wieder zu verheirathen, mit andern Worten: das Gesetz ließ dadurch etwas zu, was nach den Grundsätzen der in Preußen als gleichberechtigt recipirten katholischen Religion für eine Sünde gilt. Der weltliche Richter entscheidet hierbei recht eigent­ lich über das Sacrament mit, denn die katholische Kirche erkennt keinen besonderen bürgerlichen Vertrag bei der Ehe an; dieser geht vielmehr in dem Sacrament auf. Wenn nun der katholische Priester die Ein­

segnung der neuen Ehe verweigert, die dem geschiedenen Ehegatten nach dem Erkenntnisse freisteht, so kann und wird das öfters die Veranlassung geben, daß der Katholik seinem Glauben untreu wird, oder daß er sich von einem evangelischen Pfarrer trauen läßt, wie dies nach den §§. 442 u. 443 Th. II Tit. 11 des A. L. R. zulässig ist. Man kann daher nicht verkennen, daß, so lange zur Begründung katholischer Ehen die priesterliche Einsegnung nothwendig ist und also

dadurch ein Sacrament entsteht, die bürgerliche Trennung der Ehe in der Weise, wie sie jetzt geschieht, einen Gewissenszwang erzeugt, in­

dem der geschiedene Ehegatte berechtigt wird, vermöge des Gesetzes etwas zu thun, wogegen sich sein Gewissen als gegen etwas Sündhaftes sträu­ ben muß. Als Beispiel dafür, wie bedeutend und nachtheilig die Fol­ gen des zwischen dem bürgerlichen Gesetze und den Grundsätzen der ka­ tholischen Religion bestehenden Widerspruchs sind, möge folgender von

dem Dr. Brüggemann in der am 17. März 1855 abgehaltenen Sitzung der ersten Kammer cf. die stenographischen Berichte über die Verhandlungen der

ersten Kammer von 1854—55, Bd. 1 Sitzung 23 hervorgehobene Fall dienen.

189 Ein katholischer Elementarlehrer ließ sich vor dem bürgerlichen Ge­ richte scheiden.

Er ging demnächst eine neue Ehe ein, d. h. er ließ sich

von einem evangelischen Pfarrer trauen.

Der Bischof trug auf Ent­

lassung an, allein er blieb noch mehrere Jahre Lehrer, und der Staat konnte auch nicht anders, da der Mann ja nur von seinem ihm gesetz­

lich zustehenden Recht Gebrauch gemacht hatte.

Dieser Mann mußte

nun zu seinen katholischen Schulkindern sagen:

Ihr seid verpflichtet,

den Geboten Eurer Kirche unverbrüchlichen Gehorsam zu leisten; wer

das nicht thut, verhöhnt die göttlichen Gebote und macht sich verächt­ lich; er mußte nach dem Katechismus auseinandersetzen: die Ehe ist nach der Lehre der Kirche ein Sacrament, und wer sie auflöst, übertritt die

Gebote Gottes in frecher Weise und verwirkt Ausschließung von der Kirche. Schon aus diesem einen Fall geht zur Genüge hervor, wie bedenk­ lich es ist, wenn der Staat in seiner Gesetzgebung mit den Grundsätzen

der Religion in Conflict kommt.

Nimmt man nun noch dazu, daß umgekehrt einem katholischen welt­ lichen Richter mit Rücksicht auf seine widersprechenden religiösen Grund­

sätze nicht wohl zugemuthet werden kann, die Ehe zweier katholischen Eheleute völlig und dem Bande nach zu scheiden, so kommt man mit Recht zu der Ueberzeugung, daß auch vom religiösen Standpunkte die Aufhebung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit nicht gerechtfertigt

war, wenn nicht das Institut der Civilehe eingeführt und dadurch die

Sacramental-Natur der Ehe auf dem bürgerlichen Gebiete ausgeschlossen wird.

§♦ 13. e. Staatsrechtlicher Standpunkt. Von jeher war es das Bestreben der katholischen Kirche, sich der weltlichen Macht wenn auch nicht gerade überzuordnen,

falls zu coordiniren.

so doch jeden­

Hiermit hängt es denn auch zusammen, daß die

Kirche auf gewissen Gebieten, namentlich auf dem Gebiete der Ehe, nicht blos ihren Organen und Beamten, welche sie allein anstellte, die Ge­

richtsbarkeit vindicirte, sondern auch in materieller Beziehung ihr eigenes Recht zur Anwendung brachte.

Den Hauptstoß hat die Macht

der Kirche auch in dieser Beziehung erlitten durch die Reformation, denn durch sie ist man zuerst darauf gekommen, daß der Staat in keiner

Weise verpflichtet sei, der Kirche auf dem Gebiete der Gesetzgebung oder sonst in rein staatsrechtlicher Beziehung irgend welche selbstständige Rechte

einzuräumen, — und daß, wenn dies dennoch geschehen, der Staat be­ rechtigt erscheine, ihr solche Rechte einseitig wieder zu entziehen.

In diesem Sinne spricht sich .Eichhorn

in den Grundsätzen des

Kirchenrechts, Bd. 1 S. 732 seq. folgendermaßen aus: „Die Ehesachen sollen nach der Ansicht der Reformatoren den Consistorien überlassen werden, nicht weil sie an sich der Ent-

13*

190 scheidung der Kirche unterworfen wären, sondern weil

es rathsam sei, da in den weltlichen Gerichten auf die Lehren des Christenthums und christlichen Gebrauch nicht genug Rücksicht genommen werde, auch dabei Fragen vorkämen, welche das Ge­ wissen angingen.

cf. Gutachten der Wittenbergschen Theologen von 1545 bei Seckendorf, hist. Lutheranismi Lib. 3 Sect. 31 §. 119 No. 32:

Deus constituit aliud Judicium in ecclesia, quod, cum via esse debent ad poenitentiam, non interficit hominem vi corporali, sed punit verboDei, scilicet aut separatione aut ejectione ex ecclesia. Postea vero huic foro etiam controversiae de matrimoniis commendatae sunt — bono consilio etc. Sonach kann die geistliche Gerichtsbarkeit, nur in so fern sie auf

die Befugniß, die Excommunication zu verfügen, bezogen wird, als eine den Consistorien, als selbstständiger kirchlicher, wiewohl vom Landesherrn bestellter Behörde, beigelegte Gewalt betrachtet werden. Da aber die Excommunication allenthalben und selbst die Kirchen-

büße in einem großen Theil von Deutschland ganz außer Gebrauch gekommen ist, so bleibt von-der Gerichtsbarkeit der Consistorien

practisch nichts übrig, als der Theil derselben, welcher aus der willkürlich geschehenen Verleihung des Staats abgeleitet werden

muß. In manchen Ländern ist zwar hierin noch nichts geändert; eö bedarf aber nur der Hinweisung auf die Lehre der Re­ formatoren, um darzuthun, daß es lediglich von der Staats­ gesetzgebung abhange, jede Art von Straf- und streitiger Gerichts­ barkeit, die Ehesachen nicht ausgeschlossen, den ordent­ lichen Gerichten zu überweisen. Denn auch bei den Ehesachen be­

trachtet jene die Mitwirkung des Lehrstandes bei der Entscheidung eigentlich nicht als nothwendig, sondern nur als ein Mittel, die Anwendung der Grundsätze zu sichern, welche der christliche

Richter bei seinem Urtheil nicht außer Acht lassen soll. Den Rich­ ter an diese zu binden, und, wo die Mitwirkung eines Geistlichen durch Ermahnung möglich werden kann, ihm die Zuziehung eines

Geistlichen zur Pflicht zu machen, ist aber zunächst Sache der Gesetzgebung." Ferner heißt es im zweiten Bande ibid. S. 155: „Aber auch eine völlige Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit, sofern von wahren Justizsachen die Rede ist, läßt sich wenigstens nicht unter dem Gesichtspunkt einer Beeinträchtigung der Gewissens­

freiheit betrachten; in Hinsicht der Ehesachen, auch wenn man davon absieht, daß sie im römischen Reich stets als Gegenstand der ordentlichen Gerichtsbarkeit behandelt worden sind, und in neuester Zeit auch katholische Regenten sie den ordentlichen Gerich-

191 ten zugewiesen haben, läßt sich leicht zeigen, daß dem Dogma der katholischen Kirche von dem Sacrament der Ehe dadurch kein Ein­

trag geschehe." Wenngleich man sich mit dem letzteren Satze nicht einverstanden

erklären kann, da wie oben ausgeführt die jetzige Lage der Gesetzgebung in Ansehung der Scheidung katholischer Eheleute im Widerspruch mit

dem Dogma der katholischen Kirche stehl, so läßt sich doch die Richtig-

keit des Satzes nicht verkennen, daß der Staat und insbesondere der evangelische Staat dieKirche nicht als gleichberechtigt neben sich anzuerkennen braucht, daß diese vielmehr verpflichtet ist, sich den Gesetzen und Anordnungen des Staats zu fügen. Die Kirche ist in dieser Beziehung wie jede andere juristische Person anzusehen, die ihre Rechte und Privilegien vom Staat herleitet, zu deren Entziehung der letztere also jeder Zeit berechtigt ist, wenn sie mit dem Wesen des Staats und namentlich mit den Verfassungsgrundsätzen des­ selben nicht mehr im Einklänge stehen. Es mag freilich öfters schwie­ rig sein, hier die richtige Grenze zu finden, allein was gerade die geist­

liche Gerichtsbarkeit anlangt, so folgt aus dem ganzen Entwickelungsgänge

derselben, daß nur da eine innere Nothwendigkeit für dieselbe angenom­ men werden kann, wo es auf die Lehre, den Cultus und die Disciplin ankommt. Wenn eS sich dagegen nm eine Jurisdiction in streitigen Angelegenheiten, zu welcher ja auch die Ehesachen gehören, handelt, so kann dem Staat nicht verwehrt werden, diese lediglich seinen eigenen Organen zu übertragen. cf. Gitzler's Handbuch des gemeinen und preußischen Kirchenund Eherechts - Bd. 2 S. 36. Hiermit steht auch die Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 im Einklänge. Namentlich kann aus den Art. 14 u. 15 nicht das Ge­ gentheil hergeleitet werden, da die darin enthaltenen gesetzlichen Bestim­ mungen sich offenbar nur auf die inneren Angelegenheiten der Kirche beziehen. Umgekehrt geht aber ans den Art. 86 und 87, — dahin lautend: „Die richterliche Gewalt wird im Namen des Königs durch un­

abhängige, keiner andern Autorität als der des Gesetzes unter­ worfene Gerichte ausgeübt. Die Urtheile werden im Namen

des Königs ausgefertigt und

vollstreckt (Art. 86). Die Richter werden vom Könige oder in dessen Namen auf ihre

Lebenszeit ernannt (Art 87)." hervor, daß die richterliche Gewalt überhaupt, also auch die in Ehe­

sachen nach der jetzigen Verfassung lediglich .ein Annexum der Staats­ gewalt ist, und diese mithin keinen andern Factor in der fraglichen Be­ ziehung neben sich duldet. AuS der vorstehenden Betrachtung ergiebt sich, daß die Aufhebung

192 der katholisch - geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen vom staatsrecht­

lichen Standpunkte aus zwar gerechtfertigt, dagegen vom juristischen und religiösen Standpunkte wenigstens nach der jetzigen Lage der Ge­

setzgebung nicht gebilligt werden kann.

Es muß also etwas geschehen,

um die in beiden Beziehungen auftauchenden Widersprüche zu beseitigen.

Hierzu giebt es nur zwei Wege; entweder es muß die katholisch­ geistliche Gerichtsbarkeit wiederhergestellt, oder es muß

die Civilehe eingeführt werden.

Die Entscheidung darüber,

welcher Weg der bessere sei, ist wahrlich nicht leicht, zumal man nicht verkennen kann, daß die Einführung der Civilehe an sich mit gewissen

Gefahren verknüpft ist, da dieses Institut so tief in das sittliche und sociale Leben des Volkes eingreift. Sollte man aber nicht mit Recht

sagen können, daß das Preußische Volk sich auf demjenigen Standpunkte der Sittlichkeit befindet, welcher nothwendig ist, um die Gefahren, die dadurch möglicherweise für das eheliche Leben, namentlich durch eine Lockerung des ehelichen Bandes selbst entstehen könnten, zu vermeiden? Man kann diese Frage wohl ohne Zaudern bejahen, und thut man dies, so muß man sich nothwendig für die Einführung der Civilehe ent­ scheiden, um so mehr, als der andere Weg, die Herstellung der katholisch­ geistlichen Gerichte, seine großen Bedenken hat. Es sollen daher zum Schlüsse noch kurz die Nachtheile, welche durch die Wiedereinführung der katholisch-geistlichen Gerichte entstehen würden, dargelegt werden. Zu­ gleich soll aber gezeigt werden, daß die Einführung der Civilehe wenig­ stens nicht gegen die Grundsätze der christlichen Religion verstößt. Bei der letzteren Betrachtung darf man sich allerdings nicht auf den Standpunkt eines katholischen Theologen stellen; man muß vielmehr mit unbefangenem Auge und vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus diese so sehr wichtige Frage prüfen, wobei man finden wird, daß

sich die bürgerliche und kirchliche Seite der Ehe sehr wohl trennen lassen.

Vierter Theil. §. 14. Resultate und Folgerungen. In den Kammerverhandlungen der letzten Jahre sind von den Ver­

tretern der katholischen Bevölkerung Preußens wiederholt Anträge auf Wiederherstellung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen gemacht worden. Den gedachten Gerichten sollen dieselben Funktionen eingeräumt werden, welche sie vor der Verordnung vom 2. Januar 1849 gehabt hätten, d. h. ihre Entscheidungen auf dem Gebiete des Eherechts

193 sollen mit bürgerlichen Wirkungen versehen sein.

Zur Begründung des

Antrags ist vorzugsweise auf die Sacramental-Natur der Ehe, so wie auf den Widerspruch hingewiesen, der auf dem Gebiete der Ehescheidung zwischen den Entscheidungen des weltlichen Gerichts und den dogmati­ schen Grundsätzen der katholischen Kirche besteht.

Die Regierung hat,

wie bereits oben angedeutet, diese Anträge zwar nicht definitiv abgelehnt, sie vielmehr ferneren Berathungen vorbehalten; allein es haben sich schon bedeutende Stimmen gegen die Wiedereinführung der geistlichen Gerichts­ barkeit erhoben. Und in der That liegen auch mancherlei Umstände vor, welche die Wiederherstellung der gedachten Jurisdiction nicht wünschenswerth erscheinen lassen. Zunächst würde schon die Frage die größten Schwierigkeiten und

Verwickelungen bereiten, in welchem Umfange die katholisch-geistliche Gerichtsbarkeit wiederherzuftellen sei, sowohl was die territoriale Be­ grenzung als auch die den geistlichen Gerichten und den Vertretern der­ selben einzuräumenden Befugnisse betrifft.

Die Wiederherstellung eines früheren Zustandes, wie er von den Katholiken petirt wird, setzt nothwendig einen bestimmten früheren Zustand voraus; dieser ist nun aber in Ansehung der geistlichen Juris­ diction in den einzelnen Provinzen Preußens keineswegs ein gleicher gewesen, wie aus dem ersten Theil dieser Darstellung hervorgeht, ja in mehreren Provinzen hat vor dem Jahre 1849 überhaupt keine geistliche

Jurisdiction mehr bestanden. Es liegt auf der Hand, daß, wenn überhaupt eine Wiedereinfüh­ rung der geistlichen Gerichtsbarkeit erfolgt, diese für den ganzen Umfang der Monarchie mit alleinigem Ausschluß derjenigen Landestheile, in welchen die Civilehe bereits gilt, eintreten müßte, da das katholische Dogma von der Unauflöslichkeit des ehelichen Bandes der Grund der Wiedereinführung ist, und dieses Dogma für die ganze katholische Be­ völkerung Preußens gleich maßgebend erscheint. Daß eine solche all­ gemeine Einführung der geistlichen Jurisdiction in Ehesachen katho­

lischerseits beabsichtigt wird, kann auch nach der Fassung des von dem Dr. Brüggemann und Genossen in der ersten Kammer gestellten Antra­ ges nicht zweifelhaft sein, da dieser Antrag ohne irgend eine Erwähnung der örtlichen Begrenzung ganz allgemein lautet: „Die Bestimmungen dieses Gesetzes und die bezüglichen Vor-

schriften des Allgemeinen Landrechts finden auf Ehesachen der Ka­ tholiken keine Anwendung, vielmehr ist in Ehesachen derselben von den katholisch-geistlichen Gerichten nach canonischem Recht zu er­

kennen ic." cf. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der ersten Kammer von 1854— 1855; Bd. 1 — (dreiundzwanzigste Sitzung vom 17. März 1855).

194 Ebenso spricht dafür ein Schreiben des Papstes Pius IX. an den König von Sardinien vom 19. September 1852, welches gleichfalls die allgemeine Anwendbarkeit der

geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen

für alle Katholiken als Princip aufftellt, indem darin gesagt wird: „Möge der Kaiser, während er besitzt, was des Kaisers ist, lassen, was der Kirche ist;

es giebt kein anderes Nebereinkunftsmittel.

Möge die Civilmacht über die aus der Ehe hervorgehenden Civilangelegenheiten entscheiden; aber sie muß die Kirche die Gültigkeit

der Ehe selbst unter Christen feststellen lassen. Möge das Civilgesetz als Ausgangspunkt die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Ehe, je nachdem die Kirche entscheidet, ansehen, und davon ausgehend (was es nicht feststellen kann, da es außer seiner Sphäre liegt)

möge es die Civilangelegenheiten ordnen." Rohden'sche Denkschrift, Drucksachen III. Nr. 188 S. 14. Welche Schwierigkeiten nun schon die äußere Organisation der geist­ lichen Gerichte in denjenigen Landestheilen Preußens machen würde, in welchen früher keine derartige Gerichtsbarkeit bestanden hat, liegt um so mehr auf der Hand, wenn man beispielsweise nur bedenkt, daß die ka­ tholische Bevölkerung in einzelnen Districten Preußens eine sehr schwache ist, und dahex die dadurch bedingte große Ausdehnung der einzelnen Gerichtssprengel unverkennbare Nachtheile für die Parteien haben müßte. Ein wesentlicher Nachtheil würde ferner darin liegen, daß für die Entscheidungen der geistlichen Gerichte, namentlich was die Auflösung der Ehe anlangt, das canonische Recht wieder eingeführt werden müßte, da nur dieses eine Trennung von Tisch und Bett, der SacramentalNatur der Ehe gemäß, anerkennt. Abgesehen davon nun, daß für jeden Rechtsstaat die Einheit des zur Anwendung kommenden Rechts so viel wie möglich wünschenswerth erscheint, läßt es sich auch nicht verkennen,

daß durch die allgemeine Einführung des canonischen Rechts

gewisse

Collisionen und Gefahren für die protestantische Bevölkerung Preu­

ßens entstehen können, zu deren Beseitigung sich schwerlich genügende Mittel finden lassen würden. Es heirathen sich z. B. Kinder von Ge­ schwisterkindern, von denen eines der katholischen Religion angehört. Die Ehe ist nach protestantischem Kirchenrecht völlig gültig, nach canonischem Recht dagegen ohne vorangegangenen Dispens nichtig. Der katholische Ehegatte verläßt nun ohne Weiteres seinen protestantischen Gatten und heirathet einen Katholiken.

Der Proceß wegen Nichtigkeitserklärung der

zweiten Ehe muß alsdann, da die jetzigen Eheleute der katholischen Religion angehören, vor dem geistlichen Gericht geführt werden, und dieses kann nun nach dem zur Anwendung kommenden canonischen Rechte die

erste Ehe für nichtig erklären, also den treulosen Ehegatten für unverehlicht, und damit das neue Bündniß bestätigen. Aus diesem einen Bei­ spiel ist genügend die Gefahr ersichtlich, welche die protestantische Be-

195 völkerung läuft, indirect gleichfalls unter daS kanonische Recht und die bischöfliche Jurisdiction zu fallen.

Vorzugsweise sind aber die Bedenken gegen die Wiedereinführung

der katholisch-geistlichen Gerichte auf dem Gebiete des Staatskirchenrechts zu suchen. Preußen ist ein überwiegend protestantischer Staat. Mit Rück­ sicht hierauf muß sich daselbst das Verhältniß der Kirche zum Staat dahin gestalten, daß die Staatsgewalt die Oberherrschaft über die Kirche

ausübt, welcher nur

in den inneren Angelegenheiten eine gewisse selbst­

ständige Thätigkeit eingeräumt werden kann.

Durch die Wiederherstel­

lung der geistlichen Gerichte würde dieser Grundsatz aber völlig umgestoßen

werden, da alsdann den Bischöfen und überhaupt der katholischen Geist­ lichkeit auf dem rein äußeren Gebiete, namentlich auf dem Gebiete der

Gesetzgebung, in Betreff der Anstellung der Richter u. s. w., Rechte wie dem Staate eingeräumt werden müßten. nächst

gleiche

Dies würde zu­

gegen die ausdrücklichen Bestimmungen der Art. 86 u. 87 der

Perfassungsurkunde verstoßen, so daß unter allen Umständen eine Ab­

änderung der letzteren in dieser Beziehung erfolgen müßte.

Zu dieser

Abänderung liegt aber um so weniger Veranlassung vor, als der Preu­

ßische Staat die katholische Kirche nicht als gleichberechtigten Factor

neben

sich

anerkennen

kann

und

darf.

Ein

gleichberechtigter Factor

würde sie aber sein, da nach dem Verlangen der Katholiken die geist­ lichen Gerichte ganz unabhängig und ohne allen Einfluß von der Staats­

gewalt bestehen, und die Bischöfe, welche die Richter ein- und absetzen,

über ihre Amtsführung allein die Controlle haben sollen. Das Verhältniß

des

Staats

gegenüber

der

Kirche

würde jetzt

sogar ein viel ungünstigeres sein, als es vor dem Jahre 1849 gewesen.

Bis dahin nämlich bestanden die geistlichen Gerichte nur mit strengen

Controllbefugnissen der Obergerichte und anderer

landesherrlicher Be-

Hörden über sie, und dazu war noch die Bestimmung deß Allgemeinen Landrechts

in Kraft,

daß

die Bischöfe keine Verordnungen

erlassen

durften, ohne sie vorher zur Kenntniß der Staatsgewalt gebracht und

deren Genehmigung zur Verkündigung derselben erhalten zu haben. cf. §§. 13 folg. Tb. II. Tit. 11 d. A. L. R.

Durch die Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850, namentlich durch die Artikel 15 und 16 derselben, ist aber sowohl das placet regium als auch das Oberaufsichtsrecht des Staats über den Verkehr der

katholischen Kirche gänzlich aufgehoben worden.

Die Bischöfe können

also jetzt Verordnungen erlassen, ohne daß der Staat Kenntniß davon

zu erhalten braucht.

Hieraus erhellet klar, daß, wenn man ohne Weite­

res und ohne die bündigsten Cautelen die geistliche Gerichtsbarkeit wie­ derherstellte, dem Staate ein großer Theil seiner Souverainetätsrechte

über die katholischen Unterthanen entzogen und in die Hände einer selbst­

ständigen Macht gelegt werden würde, von der man keine Garantie hat,

196 daß sie nicht diese ihre Macht sehr bald zum Nachtheil der Protestantin schen Bevölkerung Preußens mißbrauchen würde.

Abgesehen davon nun,

daß es unendlich schwierig ist, Cautelen zu finden, welche nach allen

Seilen hin die Rechte des Staats

genügend

sichern, lehrt

auch die

Geschichte, daß solche Cautelen, namentlich in dem Verhältnisse des Staats zur Kirche zu den endlosesten Conflicten Veranlassung gegeben haben.

Es ist daher jedenfalls gerathener, wenn der Staat solchen Conflicten dadurch vorbeugt, daß er von vorn herein keine gleichberechtigte Macht

neben sich anerkennt, zu deren Anerkennung er wenigstens auf dem von der Kirche geforderten Gebiete nicht verpflichtet ist.

Das andere Mittel, um den Widerspruch zwischen dem katholischen

Dogma und den Entscheidungen des weltlichen Gerichts aus dem Ge­ biete der Ehescheidung zu beseitigen, ist die Einführung der Civilehe.

Dieses Mittel ist erschöpfend; denn durch der Ehe vor dem Richter entsteht nach

die bürgerliche Abschließung

der katholischen Glaubenslehre

kein Sacrament; wenn also der weltliche Richter später den vor ihm

geschlossenen bürgerlichen Vertrag wieder aufhebt, so erkennt er nicht über das Sacrament; er tritt also nicht mit dem katholischen Dogma in Con­

flict.

Daß dieser Weg erschöpfend ist und zur Beseitigung des in Rede

stehenden Widerspruchs genügt, wird selbst von den katholischen Kirchen­

rechtslehrern und den sonstigen Gegnern der Civilehe anerkannt.

So sagt

z. B. Dr. Schulte in seinem Handbuch des katholischen Eherechts (S.20): „Der Staat kann einen doppelten Weg gehen; entweder erkennt

er die religiöse Seite der Ehe als die vorzüglichere an, für wel­

chen Fall er die Feststellung der Bedingungen über Abschluß rc. der Ehe und die Beurtheilung der streitigen Fälle aus diesem

Gebiet der Kirche überlassen, sich selbst aber auf die rein bürger­

liche Seite beschränken muß;



oder er sieht über die religiöse

Stellung der Ehe, weil diese keine allgemein religiöse, sondern nothwendig eine nach den einzelnen christlichen Bekenntnissen spe­

cifisch verschieden gestaltete kirchliche sein muß,

überhaupt weg.

Zieht er letzteres vor, so kann derselbe wegen der bürgerlichen Folgen unbedingt Erfordernisse der Form u. s. w. vorschreiben,

an deren Erfüllung diese Folgen geknüpft werden ....

Somit

ist vom bloßen Rechtsstandpunkt aus da- System der confessionell

verschiedenen und der bloßen Civilehe

gleichbegründet und

berechtigt; jenes, weil einer jeden Konfession das ihrige bleibt, dieses, weil es keine verletzt, und ein rein staatliches Recht ausgeübt wird." Ferner führt Dr. Stahl in seinem Werk „über die Kirchenverfassung

nach Lehre und Recht der Protestanten" aus (S. 72 Note 20): „Das ist für den christlichen Staat nicht statthaft / daß die Ge­

setzgebung das Eherecht im Ganzen ohne Rücksicht auf die Lehre

197 und die Grundsätze der Kirche je nach den Confessionen von einem

rein bürgerlichen Princip auS gestalte.

Denn so wie der Staat

dieses für die ganze Gesittung der Nation bedeutendste Verhältniß nach anderen Principien ordnet als die Kirche, so hat er sich da­ mit eben von der Kirche in einem der entscheidendsten Punkte ge­

löst. Geschieht dies, dann ist es immer noch daS Bessere, eS folgerichtig zu thun, und die Ehe als Civilehe gänz­ lich aus allem Zusammenhänge mit der Kirche zu setzen.

DaS

Uebelste von Allem ist eS, wenn die bürgerliche Gesetzgebung aus der einen Seite die kirchliche Trauung als wesentliches Erforderniß der Ehe erklärt, auf der anderen Seite dagegen die kirchlichen Grund­

sätze über die Möglichkeit der Ehe und Trennung nicht anerkennt und berücksichtigt wie das preußische Landrecht, denn dann muß es

nothwendig zur Collision zwischen kirchlicher und bürgerlicher Ge­ setzgebung kommen, wie die jetzige Ehescheidungsfrage dies zeigt." In ähnlicher Weise hat sich endlich auch der Dr. Brüggemann in der 24. Sitzung des Herrenhauses von 1855—1856 ausgesprochen. Er hebt namentlich hervor: „Die Civilehe sei der jetzigen Einrichtung vorzuziehen.

Die er­

stere trenne von der sacramentalisch kirchlichen Ehe den bürger­ lichen Ehevertrag. Sie verletze zwar damit die Grundsätze der katholischen Kirche, indem sie die katholische Ehe nicht als eine

rein kirchliche Angelegenheit anerkenne; aber damit schließe sie die Verletzung auch und schreite nicht, wie die jetzige Gesetzgebung, zu einer positiven Verletzung der Ehe. Indem sie einen rein bürgerlichen Vertrag Hinstelle, aus welchem niemals eine kirchliche Ehe hervorgehen könne und in welchem die öffentliche Meinung keine Ehe erkenne, lasse sie die kirchliche Ehe vollständig unberührt

auf ihrem kirchlichen Gebiet und ziehe nicht diese kirchliche Ehe vor ihre Gerichte. Auf dem bürgerlichen Gebiet entscheide sie allein über den vor ihren Behörden geschlossenen Ehevertrag. In

der Rheinprovinz, wo die Civilehe gelte, habe dies nie nachtheilige

Folgen gehabt; denn wenn wirklich mal ein Katholik nach Auflösung des Vertrages die Ehe auch von der kirchlichen Seite für gelöst

gehalten habe, so sei er durch Excommunication sehr bald zu sei­ ner Pflicht zurückgeführt." cf. Stenographische Berichte über die

Verhandlungen des

Herrenhauses von 1855—1856 Bd. 1. Warum sollte nun das Institut der Civilehe so verwerflich sein?

Man sagt, es verstoße gegen das Princip der christlichen Religion über­

haupt und namentlich gegen die Heiligkeit der Ehe als einer göttlichen Institution. Dies ist wahrlich nicht einzusehen. Die Ehe als Civilehe hat es nur mit den bürgerlichen Verhältnissen der Menschen zu thun,

198 — die Ehe als göttliche Institution dagegen ist hoch erhaben über die

erstere und steht unter dem Segen der Kirche;

die erstere gehört dem

Staat an und befindet sich auf dem Gebiete des Zwanges, die letztere

gehört der Kirche an und kann sich nur auf dem Gebiete der Liebe und der Ermahnung befinden.

Daraus folgt schon, daß die kirchliche Trau­

ung nicht Sache des Zwanges, sondern Sache des freien Willens sein muß. Es sind in der Ehe nothwendig zwei Momente enthalten: erstens

ein auf dem Willen der Ehegatten beruhendes Vertragsverhältniß und

zweitens ein in der Ehe selbst seinen Grund habendes geistig sittliches Moment.

— Aus dem ersteren entstehen die bürgerlichen Folgen, wie

sie durch das Gesetz von der Eingehung oder der Aufhebung einer Ehe

abhängig gemacht sind; demzufolge gehört die Eingehung und Aufhebung des Ehevertrages wie bei einem jeden andern Contract zu den privat­

rechtlichen Handlungen der Eheleute.

Wegen der besonderen Wichtigkeit

der Ehe mag dieser Vertrag vor dem Richter geschlossen und auch nur

von diesem aus gewissen Gründen wieder aufgehoben werden. Das, was

der weltliche Richter geschlossen hat, kann er später auch wieder aufheben.

Das geistig sittliche Moment dagegen hat seinen Sitz im Gemüth und im Gewissen der Ehegatten; es muß also frei sein von allem phy­ sischen Zwange. lichen;

Dieses Moment ist das naturgemäße Gebiet des Geist­

er mag darum einwirken auf das Gemüth und das Gewissen

der Menschen; er mag die Liebe predigen, er darf aber keine Liebe er-

zwingen wollen; er mag ermahnen, er soll aber nicht richten. Es wird durch die Einführung der Eivilehe die kirchliche Trauung

keinesweges ausgeschlossen; im Gegentheil, jeder gewissenhafte Mensch

wird sich nach wie vor kirchlich trauen lassen, um deS göttlichen Segens theil­

haftig zu werden; ein Zwang hierzu darf aber nicht obwalten, und eben deshalb kann die Trauung nicht erforderlich sein, um die bürgerlichen

Folgen der Ehe hervorzubringen.

In diesem Sinne lauten auch die ministeriellen Erläuterungen zu dem Art. 16 der Verfassung vom 5. December 1848: „Es war eine unabweisbare Nothwendigkeit, den Grundsatz ein­

zuführen, daß die bürgerlichen Wirkungen der Ehe von der Ab­

schließung vor

der bürgerlichen

Obrigkeit abhangen.

Nach den

gesammelten Erfahrungen wird künftig die kirchliche Eheschließung nicht aufhören, weil sie tief in der religiösen Anschauung des Vol­ kes begründet ist.

Es wird also in Zukunft eine bürgerliche und

eine kirchliche Ehe geben, und es kann der Fall eintreten, daß jene

nicht von der Kirche und diese nicht von dem Staate anerkannt wird.

Gegen das Erstere wird sich der Staat gleichgültig ver­

halten, indem er es den Betheiligten überläßt, sich mit den Ge­

setzen ihrer Religionsgesellschaft, d. i. mit ihrem Gewissen und dessen drängender Unruhe, auszugleichen rc.

199 Von demselben Gesichtspunkte hat auch der Graf Schwerin in seiner in der 22. Sitzung im Hause der Abgeordneten von 1856 bi1857 gehaltenen Rede das Verhältniß des Staats und der Kirche zu der Ehe aufgefaßt. Er sagt: »Die Ehe hat, eben weil sie ein rein menschliches Verhältniß ist,

eine Seite, mit der sie auf Erden steht, und eine andere Seite, mit der sie auf den Himmel zeigt, d. h. sie ist in gleicher Weise eine bürgerliche Institution, und zwar die rechtliche und sittliche Grundlage des Staats, wie sie auf der andern Seite ein vorzüg­ liches Gnadenmittel ist, um den Menschen zur Heiligung zu füh­ ren. Hieraus ergiebt sich einfach die Stellung der Kirche und deS Staats zur Ehe. Die Kirche soll die Ehe mit Religion er­

füllen, jedoch mit einer solchen, die nicht im Kopfe, sondern im Gemüth ihren Sitz hat und ihm den Frieden bringt, der höher ist als alle menschliche Vernunft. Von diesem Standpunkte aus muß die Kirche als ideale Forderung die Unauflöslichkeit der Ehe stellen, und es ist die Aufgabe derselben, dies zu bewirken. Die Kirche soll das Band, was sie durch die Trauung segnet, immer

mehr mit dem göttlichen Inhalt erfüllen; sie soll das irdische Band, das nicht dadurch ein göttliches wird, daß der Prediger seinen Segen darüber spricht, zu einem von Gott geschlossenen Bunde machen, der dann allerdings nicht von Menschen geschieden werden kann. Dies soll die Kirche aber nicht durch Zwangsge­ setze bewirken, sondern wie ihr göttlicher Stifter, durch Predigt deS Wortes, durch Zucht und Vermahnung zum Herrn. -- Ganz an­ ders ist die Stellung des Staats. Ihm dient die Ehe für be­ stimmte Zwecke, sie ist die Grundlage der Familie und der Ge* meinde, mit und aus ihr entstehen verschiedene Vermögensverhält­ nisse und Rechte. Der Staat hat nur die realen Verhältnisse

in's Auge zu fasten. Er darf dabei nicht nach der Lehre der Kirche fragen; freilich wird und muß der Staat anerkennen, daß die Ehe auch seinen Zwecken am besten dient, wenn die Kirche

das eheliche Band mit ihrem Inhalt, d. h. mit Religion erfüllt hat; deshalb erkennt er es mit Dank an, wenn die Kirche bei Schließung der Ehe mit ihrem Segen Hinzutritt, deshalb giebt

er der Kirche Raum, wenn der Fall der Trennung eintreten muß,

durch Versöhnung den Versuch ihrerseits zur Wiederherstellung deS ehelichen Bandes zu machen. Weiter zu gehen liegt nicht in seiner Macht, liegt nicht im Recht der Kirche, weil die Kirche auf dem Gebiet der Ehescheidung überhaupt kein Recht hat und

nicht haben kann." cf. Stenographische Berichte v. 1856—1857, Bd. 1. Daß endlich die Civilehe die Sitte nicht verschlechtert, daß sie den

200 kirchlichen Sinn der Bevölkerung nicht untergräbt, daß sie im Gegen­ theil, indem sie die angemessene Trennung der Gebiete von Staat und Kirche bewirkt und den Kollisionen zwischen beiden begegnet, die Menschen mehr hinweist auf die Kirche, das beweisen die Rheinprovinz und andere Länder, wie z. B. Holland, wo die Civilehe längst schon bestanden hat. So kommt man denn zu dem Resultat, daß die Einführung der Civilehe das rechte Mittel der Einigung und Versöhnung zwischen Staat

und Kirche auf dem Gebiete des Eherechts sowohl für die katholische, wie für die evangelische Bevölkerung Preußens ist.

Dies wird bestätigt durch eine von Bunsen in den „Zeichen der Zeit" gemachte treffliche Bemerkung, dahin lautend: „Ueber das Verhältniß des Staats zur Schließung der Ehe ist die Lösung grundsätzlich gefunden durch Napoleon; Peel hat sie

auf die insularische bischöfliche Kirche und die Dissidenten nur angewendet. Napoleons Grundsatz war: „Der Staat kann nur auflösen, was er geschlossen, die bürgerliche Ehe; die Kirche hat

auf ihrem Gebiet ihr Recht zu üben, auf dem des Gewissens und der Sitte." Durch diesen Grundsatz trat Napoleon nicht allein in die Fußtapfen Solons und der XII Tafeln, sondern auch Abra­ hams und Moses und des Rechts der alten christlichen Kirche. Es ist das ein großer Vorzug vor dem Allgemeinen Landrecht,

welches die kirchliche Einsegnung zur Bedingung der Gültigkeit der Ehe macht, und doch diese kirchliche Ehe scheidet ohne Rück­

sicht auf ein kirchliches Recht."

201

V. Ueber die genera et formulae actionum des Römischen Rechts und deren Anwendung auf das Prozeßverfahren in Preußen. Vom Gerichts-Assessor Dr, Bartsch in Breslau.

Der §. 20 Tit. 5 Th. I der Allgemeinen Gerichts-Ordnung weist

den Preußischen Richter an, „sich an die aus dem ehemaligen Römischen Rechte hergeleiteten und von den Lehrern desselben gebildeten sogenann­

ten genera et formulas actionum nicht ängstlich zu binden." Es

fragt sich: in welchem Sinne ist diese Vorschrift aufzufassen

und was läßt sich vom legislativen Standpunkte aus für und wider

dieselbe wohl geltend machen? Die Allg. Gerichts-Ordnung, welche im fünften Titel ihres ersten Theils

von der Ausnehmung und Instruktion der Klage handelt, unterscheidet

in

den

§§. 1 bis 12

die Information - Einziehung

von

der

nahme der Klage selbst, auf welche sich die §§. 13 bis 30 beziehen.

Auf­

Im

§. 17 wird der Inhalt der Klage angegeben, und im Anschlüsse hieran ist im §. 20, wie das Marginale desselben sagt, von den verschiedenen

Arten der Klage die Rede.

Bei dieser Gelegenheit weist die Gerichts-

Ordnung den Richter an: sich an die aus dem ehemaligen Römischen Rechte hergeleiteten und von den Lehrern desselben gebildeten sogenannten genera et

formulas actionum nicht ängstlich zu binden.

Es entsteht die Frage, in welchem Sinne diese Vorschrift aufzu­ fassen sei und was sich vom legislativen Standpunkte aus für und wider

dieselbe geltend machen lasse? Die Beantwortung der Frage zerfällt daher, wie diese selbst, in Zwei Theile.

Im ersten Theile kommt eS darauf an, den Sinn jener

Vorschrift festzustellen, während es der zweite Theil mit der Betrachtung derselben vom legislativen Standpunkte aus zu thun haben wird.

202

Erster Theil.

In welchem Sinne ist die Vorschrift deS §. 20 Tit. 5 Th. I der Allgemeinen Gerichts-Ordnung auszufassen? Wenn, wie schon angedeutet wurde, die Vorschrift des §. 20 Tit. 5 Th. I der Allg. Ger. Ord. in die Lehre von der Klage gehört, so muß von dem Begriffe derselben ausgegangen werden.

gelangt man durch folgende Betrachtung:

Zu diesem Begriffe

Der Mensch, als Person be­

trachtet, ist Subject von Rechten, zu deren Ausübung er innerhalb der staatlich geordneten, bürgerlichen Gesellschaft befugt ist.

Diese Aus­

übung ist aber durch den Umstand beschränkt, daß es im Staate eine

Menge von Rechtssubjecten giebt,

welche sämmtlich die Befugniß für

sich in Anspruch nehmen, von den ihnen zustehenden Rechten Gebrauch zu machen.

Hierdurch entsteht zwischen den Rechtssphären, welche den

einzelnen Personen angewiesen sind, nicht nur eine Wechselwirkung, son­ dern auch, was die natürliche Folge davon ist, die Möglichkeit einer Collision?)

Diese muß im Interesse des allgemeinen Besten sowohl,

als auch zur Sicherung der Rechte jedes Einzelnen beseitigt werden. Die Mittel hierzu gewährt der Staat, indem er in den Gerichten In­

stitute eingesetzt hat, denen die Pflicht obliegt, das verletzte Recht zu schützen.

Der Anspruch auf diesen gerichtlichen Schutz ist die Klage.')

Man versteht daher unter Klage das gesetzlich gestattete Mittel zur Gel­ tendmachung eines Rechts durch den Richter. Sie hat den Zweck, durch

Verurtheilung des

Gegners das von demselben negirte Recht zur An­

erkennung zu bringen und diese nöthigen Falls durch Zwang herbeizu­ führen.^)

Damit dieser Zweck erreicht werde, muß die Klage,

wenn

‘) Treffend drückt v. Savigny (System B. V §. 204 S. 1) diesen Ge­ danken aus mit den Worten: „In dem durch die Rechtsregel beherrschten Leben besteht die Rechtsordnung, welche mithin durch die Freiheit hervorge­ bracht und erhalten wird. Indem wir aber das Wesen derselben in die Frei­ heit sehen, müssen wir zugleich die Möglichkeit einer freien Gegenwirkung hinzudenken, also einer Rechtsverletzung, welche die Störung jener Rechts­

ordnung ist." Aehnlich sprechen sich hierüber aus: Schmidt (Lehrbuch von den gerichtl. Klagen und Einreden §§. 9,11,15), Weber (Beiträge zur Lehre von gerichtl. Klagen und Einreden S. 15, 16), Puchta (Institutionen Bd. I §§. 25, 29) und Förster (Klage und Einrede nach preuß. Recht §. 1).

8) pr. J. de act. (4. 6): Actio nihil aliud est, quam jus persequendi in judicio, quod sibi debetur. — 1. 51 D. de oblig. et act. (44, 7): Nihil aliud est actio, quam vis, quod sibi debeatur, judicio persequendi. s) Mit dieser Auffassung stimmen überein: Windscheid (die actio deS R. R. §. 1), Glück (Commentar der Pandecten Th. in §. 271), Mackeldey

203 sie der richterlichen Beurtheilung unterbreitet werden soll, diejenigen Er­ fordernisse enthalten, welche die Gesetze vorschreiben?) Hierin haben nun zwar die Gesetze in den verschiedenen Zeiträumen der Geschichte deS

Prozesses gewechselt; man hat aber immer zu den nothwendigen Bestand­

theilen der Klage den Klagegrund gerechnet, d. h. den Inbegriff derjeni­ gen Momente, auf welche die Klage gestützt sein muß, wenn der durch dieselbe verfolgte Rechtsanspruch begründet sein soll.

Und da hiermit,

wie am gehörigen Orte gezeigt werden wird, die in unserm §.20 ent­ haltene Vorschrift sehr eng zusammenhängt, so ist es zum Verständnisse

derselben nothwendig, die Entwickelung der Grundsätze über den Klage­ grund auf historischem Wege — nämlich durch die Gebiete des Römi'chen, gemeinen und Preußischen Rechts — zu verfolgen.

Daß die Darstellung

hierbei vom Römischen Rechte ihren Ausgangspunkt nehmen muß, ver­

steht sich von selbst und um so mehr, als der §. 20 selbst darauf hin­ weist. Weiter darf das gemeine Recht deshalb nicht übergangen werden,

weil dasselbe auch in der vorliegenden Materie die Grundlage des preu­ ßischen Rechts bildet.

Die Betrachtung des letzteren endlich wird tahin

führen, den Zweck der Vorschrift, um deren Interpretation es sich han­ delt, genauer kennen zu lernen. Diese historische Auseinandersetzung, deren Gang eben vorgezeichnet wurde, macht den Inhalt der folgenden drei Abschnitte aus.

Abschnitt I. Römisches Recht. Die Geschichte des Klagegrundes nach Römischem Rechte läßt sich in drei Perioden abtheilen, welche sich an die Legis-Actionen, an den Formularprozeß und an die Kaiserliche Prozeßgesetzgebung anschließen. Von ihnen soll zunächst die Rede sein. §♦ 1.

Die Legis-Actionen.

Die Prozeßform des ältesten Römischen Rechts war die legis actio, (Lehrbuch des heutigen R. R. §. 17. 193), Puchta (Pandecten §.81), Thibaut (System des Pand. R. Bd. I §. 57), v. Wening-Jngenheim (Lehrbuch

des gern. Civilr. Bd. I §. 34 S. 89), Fritz (Erläuterungen dazu Bd. I S. 74), v. Linde (Civilprozeß §. 151), Martin (Civilprozeß §§. 86. 87) und Koch (Preuß. Civilprozeß §. 125). *) Daß man den Ausdruck „Klage" nicht blos in dem Sinne, wie er im Texte vorgetragen ist, sondern auch in der Bedeutung von „Klageschrift oder Klagelibell" gebraucht, ist bekannt. Bergt. Glück a. a. O. §. 271 S. 595, v. Savigny a. a. O. §. 205 S. 5, Koch a. a. O. §. 125 S. 256.

204 über deren Wesen wir erst seit der Entdeckung der Institutionen von Gaius l)2 näher *4 unterrichtet sind. Man begreift darunter die zur Ab­ wehr einer Rechtsverletzung nothwendige Parteithätigkeit, welche theils in symbolischen Handlungen, theils im Gebrauche bestimmter Wortfor­ meln bestand?) Es gab folgende fünf Arten °) von legis actiones: sa-

cramento, per judicis postulationem, per condictionem, per manus injectionem und per pignoris capionem. Von diesen sind nur die ersten drei eigentliche Streithandlungen, die beiden letzten dagegen besondere Executionsarten?) Diese können daher hier, wo es sich um das Wesen der Klage handelt, nicht weiter in Betracht kommen. Es bleiben also

übrig:

1) Die legis actio sacramento. Sie war, wie Gaius 5) sich ausdrückt, die actio generalis und fand überall da Anwendung, wo die Gesetze nicht eine Ausnahme wachten. Die Eigenthümlichkeit derselben lag darin, daß sich die Parteien zur Entrichtung eines Strafgeldes (sacramentum)6) verpflichteten, welches der unterliegende Theil an die Staatskasse zu zahlen versprach. Das Verfahren begann vor dem Praetor mit einem solennen Acte, welchen Gaius7) in folgender Weise beschreibt: Der Gegenstand des Prozesses — wie z. B. ein Sclave — wurde mit auf die Gerichtsstätte

1) Gaii Institut, lib. IV §§. 10—30. 2) Puchta Institut. Bd. II §. 161 S. 83. 84, Rudorfs Röm. Rechtsgesch. Bd. II §. 20, Heffter Civilprozeßrecht §. 114. a) Gaius 1. c. lib. IV §. 12: Lege autem agebatur modis quinque: sa­ cramento, per judicis postulationem, per condictionem, per manus injectionem, per pignoris capionem. 4) Gaius 1. c. lib. IV §. 21 sqq., 26 sqq.; Rudorfs Rechtsgesch. Bd. II §. 20 a. E., §§. 24. 25; Puchta Jnstit. Bd. II §. 162 S. 95; Asverus, die Denunciation der Römer §. 15 Note 5. B) Gaius 1. c. lib. IV §. 13: ‘Sacramenti actio generalis erat: de quibus enim rebus ut aliter ageretur lege cautum non erat, de bis sacramento agebatur. Vergl. Asverus a. a. O. §. 15 S. 151. 153 Note 13.

®) Gaius 1. c. lib. IV §. 14: Poena autem sacramenti aut quingenaria erat aut quinquagenaria .... nam ita lege XII tabularum cautum erat. 7) Gaius 1. c. lib. IV §. 16. Eine merkwürdige Ansicht über die legis actio sacramento hat Asverus In seiner so betitelten Schrift aufgestellt, (vergl. auch deffen Denunciation §. 6 Note 7, §. 15 Note 6.) Er meint, daß dieselbe ursprünglich in einem wirklichen Zweikampfe der Parteien be­ standen habe, von welchem die symbolische Vindication, wie sie im Texte geschildert ist, als ein bildliches Handgemeinwerden übrig geblieben sei. Die­ ser Ansicht ist auch Huschte in den kritischen Jahrbüchern, von 1839 S. 665 folg, beigetreten. Dagegen haben sich indessen schon erklärt: Puchta in sei­ nen Jnstit. Bd. II §. 161 S. 87 und Göttling in seiner Geschichte der röm. Staatsverfassung §. 75 S. 162.

205 gebracht/) und indem die Parteien denselben mit einem Stabe (vindicta) berührten, sprachen sie — zuerst der Kläger, nach ihm der Verklagte —-

die Worte:

Hunc ego hominem ex jure quiritium meum esse aio secundum suam causam, sicut dixi; ecce tibi vindictam imposui. Die so streitenden Parteien trennte der Praetor, indem er ihnen

befahl: mittite ambo hominem* Hieran schloß sich die provocatio sacramenti, welche durch wechsel-

seitige Frage und Antwort der Parteien erfolgte. Klägers:

Auf die Frage des

postulo, anne dicas, qua ex causa vindicaveris ? antwortete der Verklagte: jus peregi, sicut vindictam imposui, und nachdem jener replicirt hatte: quando tu injuria vindicavisti, quinquaginta aeris sacramento te provoco, schloß dieser mit den Worten: similiter ego te. Diesen Verhandlungen der Parteien vor dem Praetor, welche frü­ her mit der Niederlegung des Succumbenzgeldes, später aber mit der Bestellung von Bürgen dafür schlossen,2) folgten diejenigen vor dem Rich­ ter?) Die Nachrichten von Gaius über diesen Theil des Verfahrens sind spärlich. Er sagt4) nur, daß die Parteien nach ihrem Erscheinen

vor dem Richter ihre Streitsache zuerst in Kürze (causae collectio) und nachher in ausführlicher Darstellung (peroratio) vorgetragen hätten, um so das richterliche Urtheil darüber möglich zu machen. Dieses letztere bildete den natürlichen Schluß des Verfahrens und entschied darüber, wer von den Parteien die Succumbenzsumme verlor?) 1) Bei unbeweglichen Gegenständen war dies natürlich nicht möglich. Es vertrat daher ein Theil derselben — z. B. die Scholle eines Grund­ stückes — das Object, an welchem die Scheinvindication vorgenommen wurde. Vergl. Gaius 1. c. Mb. IV §. 17 und Puchta a. a. O. Bd. n §. 161 S. 90. 2) Puchta a. a. O. Bd. II §. 161 Note g. 3) Das Gericht, an welches die Entscheidung der Streitsachen verwiesen wurde, war ursprünglich das der Decemvirn, bis die lex Pinaria den Par­ teien gestattete, auf die Bestellung eines Judex beim Praetor anzutragen. Vergl. Gaius 1. c. lib. IV §. 15 und Puchta a. a. O. Bd. H §. 154 S. 33.

4) Gaius 1. c. lib. IV §.15: Deinde quum ad judicem venerant, antequam apud eum causam perorarent, solebant breviter ei et quasi per ju­ dicem rem exponere: quae dicebatur causae collectio (conjectio), quasi causae suae in brevi coactio. 8) Cicero pro Caec. 33: Decemviri . . . sacramentum nostrum justum judicaverunt,

Vergl. Rudorff, Rechtsgeschichte Bd. II §. 21 Note 12.

14*

206 2) Die legis actio per judicis postulationem. Diese Art der Rechtsverfolgung verhielt sich zu der legis actio sacramento, welche den ordentlichen Prozeß bildete, wie die Ausnahme zur Regel. Sie war deshalb auch nur in denjenigen Fällen zulässig, welche die Gesetze selbst bestimmten. *) Dazu gehörten namentlich Grenz­

streitigkeiten^) Auseinandersetzungen unter Miterben und anderen Miteigenthümern/) Klagen gegen eine Veränderung des Wasserlaufs/)

Ansprüche des Mündels gegen den Vormund aus dessen Verwaltung/) und außerdem eine Reihe von Rechtsverhältnissen, deren Natur nicht sowohl eine auf das strenge Rechtsgesetz, sondern vielmehr eine auf die

natürliche Billigkeit basirte Beurtheilung erforderte. 6) Es war nämlich der Zweck dieser legis actio, wie schon ihr Name andeutet, der, die Entscheidung über dergleichen Rechtssachen nicht durch die vom Staate angeordneten Gerichte, sondern durch einen Schieds­ richter (arbiter)7) herbeizuführen. Die Bestellung desselben erfolgte durch den Praetor, an welchen man sich mit einem hierauf gerichteten Anträge

1) Bergt, die oben Note5 S.204 cit. Stelle von Gaius. Aus seinen In­ stitutionen (lib. IV §. 20) erfahren wir über diese legis actio nichts weiter als ihren Namen. Das Blatt der Handschrift, auf welchem die Darstellung derselben stand, ist verloren gegangen. 2) Von diesem arbitrium finium regundorum sagt Cic. bei Nonius V, 34 p. 430: j urgare lex putat in ter se vicinos, non litigare. s) Dieses arbitrium familiae erciscundae und communi dividundo wird erwähnt in der 1.43 D. fam. ercisc. (10.2): Arbitrium familiae erciscun­ dae vel unus petere potest. . . 1. 47 eod.: In judicio familiae erciscun­ dae vel communi dividundo si, dum res in arbitrio sit, de jure praedii controversia sit . . . 1. 52 §. 2 eod.: Arbiter familiae erciscundae inter me et te sumptus quaedam mihi, quaedam tibi adjudicare volebat .... 4) Von diesem arbitrium aquae pluviae arcendae ist die Rede in der 1. 23 §. 2 D. de aqua pluv. (39. 3): Aggeres juxta flumina in private facti in arbitrium aquae pluviae arcendae veniunt . . . ., 1. 24 pr. eodem: Vicinus loci superioris pratnm ita arabat, ut per sulcos itemque porcas aqua ad inferiorem veniret. Quaesitum est, an per arbitrum aquae pluviae ar­ cendae possit cogi, ut . . . . 5) Auf dieses arbitrium rationibus distrahendis bezieht sich 1. 28 §. 2 D. de appell. (49. 1): Substituti tutores in locum legitim! tutoris experti cum eo tutelae judicio quuin arbiter inique condemnavit, quam rem aequitas exigebat, a sententia ejus provocaverunt . . , . Cod. V. 51: Arbi­ trium tutelae. 6) Beim Abschlüsse solcher Geschäfte (negotia bonae fidei) wurde des­ halb die Clausel hinzugefügt: „uti ne propter te fidemque tuam captus fraudatusque siern“ oder „ut inter bonos bene agier oportet et sine fraudatione“ oder „quantum aequius melius sit dari repromittive“ oder „ex bona fide.“ Vergl. Rudorff a. a. O. Bd. II §. 6 Note 25. 7) Es ist daher gewiß richtig, wenn Puchta (Fnstit. Bd. II §. 162 S. 92)

207 zu wenden hatte.

Dieser Antrag mußte außer dem Namen des erbe­

tenen Schiedsrichters insbesondere auch die Bezeichnung des Streitver-

hältnisseS, dessen Feststellung bezweckt wurde, enthalten, also etwa so lauten:*1)2 3 Finibus regundis (familiae erciscundae, communi dividundo, aquae pluviae arcendae, rationibus distrahendis) te, praetor, judicem

arbitrumve postulo, uti des.

War diesem Anträge gemäß durch den Praetor der Schiedsrichter ernannt, so war es die Aufgabe desselben, alle diejenigen Umstände,

welche sich auf das zwischen den Parteien bestehende Rechtsverhältniß bezogen, zu untersuchen und unter freier Würdigung derselben den Streit der Parteien zum Austrage zu bringen?) 3) Die legis actio per condictionem.

Auch

diese Prozeßform

war

nur für einen

gewissen Kreis

von

Rechtssachen bestimmt, nämlich für die Ansprüche aus dem Darlehn?)

meint, daß der volle Name dieser legis actio nicht blos so, wie ihn GaiuS (Notel S. 206) mittheilt, gelautet, sondern zu dem Worte „judicis“ den Zusatz „arbitrive“ gehabt hat. 1) Keller, Civilprozeß §. 17 S. 70 Note 241, Puchta a. a. C. Bd. II §. 154 Note b. 2) Asverus, die Denunciation der Römer §. 16 S. 171, Rudorff a. a. O. Dd. II §. 6 Note 8. 3) Gaius (1. c. lib. IV §. 20) meint, daß die Ansprüche auf ein dare oportere entweder durch die legis actio sacramento oder durch die per judicis postulationem hätten verfolgt werden können, und daß man daher ver­ gebens danach frage, wie das Bedürfniß nach der legis actio per condictio­ nem habe entstehen können. Erwägt man indessen, daß beim Darlehn anders, als bei anderen Contracten Etwas aus dem Eigenthume des Gläubigers in das des Schuldners übergeht, daß also dem Abschlüsse des Geschäfts ein größeres Vertrauen von Seiten des Gläubigers gegen den Schuldner zu Grunde liegt, so wird man zugeben müssen, daß hierauf weder die legis actio sacramento, noch die per judicis postulationem Anwendung finden konnte; jene deshalb nicht, weil sie wegen der nothwendigen Verabredung des Succumbenzgeldes eine Unbilligkeit gegen den Kläger herbeigeführt haben würde; diese deshalb nicht, weil sie die Entscheidung der Sache einem Schieds­ richter übertrug, welcher die Behauptungen des Klägers sowohl, als die Ein­ wendungen des Verklagten dagegen zu prüfen hatte. Hätte man dies auch bei Darlehnssachen zulassen wollen, so würde der Kläger nicht so schnell und nicht so ungetheilt zu seinem Gelde gekommen sein, wie er dies wegen des dem Schuldner bewiesenen Vertrauens verlangen konnte. Um diesen Nach­ theilen zu begegnen, wurde für das Darlehn eine neue Form der Rechtsver­ folgung nothwendig, und diese war eben die legis actio per condictionem. — Vergl. hierüber auch Puchta Jnstit. Bd. II §.162 S. 94 und v. Savigny System B. V S. 578 Note e.

208 Sie wurde durch die lex Silia für die Klagen aus dem Gelddarlehn eingeführt und später durch die lex Calpumia auf die Klagen aus dem

Darlehn anderer Sachen ausgedehnt. *) Die Einleitung des Verfahrens bildete hier eine Streitverkündi­ gung (condictio, denuntiatio) des Klägers an den Verklagten, in welcher er nicht nur das von ihm beanspruchte Recht benannte, sondern auch den Verklagten aufforderte, sich nach dreißig Tagen zur Annahme eines Richters vor dem Praetor zu gestellen?)

Ihr Wortlaut ging also ohn-

gefähr dahin: Quod te mihi decem milia sestertium dare oportet, ob eam rem diem tricesimum, quo ad judicem capiendum adsis, tibi denuntio.

Daß sich an diese einleitende Prozedur eine förmliche Verhandlung der Sache vor dem Magistrats und nachher vor dem Richter anschloß, folgt aus der Analogie des Verfahrens, welches bei der legis actio sacramento

und

bei der per judicis postulationem beobachtet wurde.

Indessen wissen wir über den Inhalt dieser weiteren Verhandlungen auS den Quellen nichts Näheres, und nur das ist aus der Natur41) 2der * legis actio per condictionem zu schließen, daß sich das richterliche Urtheil allein

auf die Beantwortung der Frage beschränkte, ob die DarlehnSforderung, welche den Gegenstand der Klage ausmachte, an sich und ohne Rücksicht 1) Gaius 1. c. lib. IV §. 19: Haec autem legis actio constituta est per legem Siliam et Calpurniam: lege quidem Silia certae pecuniae, lege vero Calpurnia de omni re certa. — Diese Stelle verstehen Puchta (Instit. Bd. II §. 162 S. 93) und Rudorff (Rechtsgesch. Bd II §. 23 S. 83. 84) wörtlich. Sie wollen deshalb die legis actio per condictionem nicht auf das Darlehn beschränkt wissen, sondern halten sie überall da für anwendbar, wo es sich um einen einseitigen obligatorischen Anspruch auf eine bestimmte Summe Geldes überhaupt oder um das Geben irgend eines anderen bestimmten Gegenstandes handelt. Dagegen hat v. Savigny (System Bd. V S. 576 bis 578) die Richtigkeit der im Texte vorgetragenen Ansicht aus dem historischen Zusammenhänge zwischen der alten legis actio per condictionem und dem späteren Systeme der Condictionen nachgewiesen. Er bezieht daher die „certa pecunia“ in der Stelle von Gaius auf das Gelddarlehn und giebt den Schlußworten „de omni re certa“ den erklärenden Zusatz: „mutuo data.“ Derselben Ansicht ist auch Asverus (Denunciation §. 14 S. 130 Note la.) 2) Auf den Ausdruck des vom Kläger verfolgten Rechts bezieht sich die Formel bei Valerius Probus (Jhering Geist des Röm. Rechts Dd. II S. 632 Note 835) „aio te mihi dare oportere“ und auf die Aufforderung an den

Verklagten, sich vor Gericht einzufinden, die Stelle bei Gaius 1. c. lib. IV §.18: Et haec quidem actio proprie condictio vocabatur; nam actor adversario denuntiabat, ut ad judicem capiendum die XXX adesset. *) Asverus, die Denunciation §. 14 S. 148 und Gaius 1. c. lib. IV §.11 u. §. 29: . . . quum alioquin ceteris actionibus non aliter uti possent, quam apud praetorem praesente adversario. 4) Vergl. deshalb oben Note 1 S. 208.

209 auf die Einwendungen des Verklagten begründet war oder nicht. Ge­ lang eS dem Kläger, den Grund seiner Klage darzuthun, so erfolgte

ohne Weiteres die Verurtheilung des Verklagten, wenn nicht, die AbWeisung des Klägers?)

Werfen wir nun auf die eben dargestellten drei LegiS-Actionen einen

Blick zurück und fragen wir, was sich daraus für die Geschichte deS Klagegrundes ergiebt, so läßt sich in dieser Beziehung Folgendes als fest­ stehend annehmen: Die Betrachtung des Legis-Actionen-VerfahrenS lehrt

zunächst, daß dasselbe die Beobachtung strenger Formen voraussetzte. Dies kann nicht Wunder nehmen, wenn man erwägt, daß die Strenge der Form dem ältesten Römischen Rechte überhaupt — also nicht blos dem formellen, sondern auch dem materiellen Rechte — eigenthümlich war. ES ließe sich dies an einer Reihe von Beispielen aus dem Gebiete deS Sachen- und Obligationen-Rechts sowohl, als auch aus dem deS Familien- und Erb-Rechts darthun, von denen ich nur einige anführen will.

AuS dem Sachenrechte nenne ich das quiritarische Eigenthum, daS Pfand­ recht (fiducia) und die Servituten, welche durch die mancipatio und in jure cessio*2)* begründet wurden. Im Obligationenrechte gab eS Literal-

Verträge, welche sich auf die Sitte der Hausbücher') gründeten, und Verbal-Contracte, deren Grundtypus die Stipulation4)* war. DaS Fa­

milienrecht kannte die Eheschließung durch die confarreatio und coemtio,6) sowie die Begründung der väterlichen Gewalt durch die schwerfälligen Formen der Arrogation und Adoption?) Aus dem Erbrechte endlich gehört hierher daß testamentum calatum und daS MancipationS-Testa‘) Vergl. Asverus a. a. O. §. 16 S. 172. 2) Hiervon spricht Gaius 1. c. lib. I §. 119 und lib. H. §. 24. •) Die formelle Bedeutung dieser Bücher, welche man Codices expensi et accepti oder auch rationes domesticae nannte, beruhte auf der expensilatio, d. h. auf der Uebereinstimmung der beiden Rubriken, in welche sie ein­ getheilt waren. Die eine Rubrik, welche das „debet“ enthielt, hieß das „expensum0, und die andere, auf welcher das „Credit“ stand, das „acceptum“. Stimmten beide überein, so konnte daraus geklagt werden. 4) Die Stipulation war bekanntlich eine im Römischen Rechte vielfach angewandte Geschäftsform. So fand sie z. B. Anwendung bei den drei ältesten Arten der Jntercession, der sponsio, fidepromissio und fidejussio, so­ wie bei der dem Römischen Rechte bekannten mündlichen Form der Quittung (acceptilatio), auf welche sich die im §. 2 J. quibus modis toll. (3. 30) er­ wähnte stipulatio Aquiliana bezog. 8) Die confarreatio war eine religiöse Ceremonie vor zehn Zeugen, bei welcher durch einen flamen dialis ein Opfer von Getreide gespendet wurde, und die coemtio ein feierlicher Kaufact vor fünf Zeugen und einem libripens. 6) Die Arrogation erfolgte durch einen Volksschluß in den Curiatcomitien, und die Adoption durch Anwendung der mancipatio und in jure cessio.

210 ntent,1)2 *sowie 4 * * * *das legatum per vindicationem, per damnationem, per praeceptionem und sinendi modo/) — Zuwendungen, welche ebenso, wie

die Erbeseinsetzung und die Enterbung9) den Gebrauch bestimmter Wort­

formeln nothwendig machten.

Hiernach kann es nicht auffallen, wenn

auch in dem formellen Rechte, wie es sich in den Legis-Actionen dar­ stellt, die Form ihre besondere Bedeutung hatte.

Sie hatte den Zweck,

dem durch die Klage geltend gemachten Rechte einen bestimmten Aus­

druck zu geben, und sie hing so mit dem Inhalte des Anspruches, welcher Gegenstand einer Klage war, genau zusammen.

Dieser materielle In­

halt der Klage aber ist es, in welchem sich der Klagegrund darstellt, und

es entsteht daher die Frage, wie derselbe nach ältestem Römischen Rechte

beschaffen sein mußte, wenn die Klage mit Erfolg

angestellt werden

sollte?

Da die Verbandlungen der Parteien

vor dem Praetor nur den

Zweck hatten, den Rechtsstreit einzuleiten, so erklärt es sich, daß die

Anführungen des Klägers hierbei nur allgemeiner Natur waren.

Sie

enthielten nichts weiter, als die Bezeichnung des Rechts überhaupt, wel­ ches von ihm verfolgt wurde.

Bei der Vindication durch die legis actio

sacramento bediente er sich der Worte: „hunc ego hominem meum esse aio ... secundum suam causam sicut dixi.a4)

Die Anfangsworte „meum

esse aioa drücken nur die Behauptung aus, daß der vom Kläger bean­ spruchte Sclave sein Eigenthum sei.

Dagegen scheinen die Schlußworte

„secundum suam causam sicut dixiu

auf den Rechtsgrund9) des kläge-

rischen Anspruches und darauf hinzudeuten, daß derselbe schon vorher

dem Praetor angezeigt werden mußte.

Es erfolgte diese Anzeige ohne

Zweifel in Form einer Vorverhandlung, bei welcher der Kläger, wenn er die Einleitung des Prozesses herbeiführen wollte, natürlich das von ihm

*) Das testamentum calatum wurde in Form eines Gesetzes vor den Curiatcomitien, und das Mancipations-Testament, wie sein Name sagt, durch die mancipatio vor fünf Zeugen und einem libripens errichtet. 2) Das Vindications-Legat mußte durch die Worte: „hanc rem do lego,“ und das Damnations-Legat durch die Formel: „heres meus damnas eato, hanc rem dare“ zugewendet werden; die Wortformel für das legatum per praeceptionem war: „heres meus hanc rem praecipito,“ und die für das legatum sinendi modo: „heres meus sumere sinito.“ 9) Die Erbeöeinsetzung konnte, wenn sie gültig sein sollte, nur durch die Worte „heres esto,“ und ebenso die Enterbung nur durch die Formel „exheres esto“ erfolgen. 4) Siehe oben S. 205. b) „Causa“ bedeutet bekanntlich auch den Entstehungsgrund eines Rechts­ verhältnisses und kommt in diesem Sinne wiederholt in den Rechtsquellen vor, so z. B. in der 1. 46 D. de acqu. rerum dom. (41. 1), 1. 3 §. 4 D. de acqu. poss. (41. 2), 1. 11 §. 4 und 1. 14 §. 2 D. de exc. rei jud. (44. 2), 1. 159 D. de div, reg. jur. (50. 17).

211 Daß dies

geforderte Recht und den Grund desselben angeben mußte.

ebenso allgemein, wie bei dem späteren Vindicationsacte geschah, muß man deshalb annehmen, weil es sich in diesem Stadium des Prozesses

noch nicht darum handelte, das klägerische Recht genauer darzuthun. Dasselbe gilt von der legis actio per judicis postulationem und per condictionem, bei welcher der Kläger das zwischen ihm und dem Ver-

klagren bestehende Streitverhältniß entweder mit den Worten „finibus

regundis“1) oder mit der Behauptung »dare oportet“,2)* also auch nur

allgemein bezeichnete.

Hiernach rechtfertigt sich die Ansicht, daß es bei

den Verhandlungen vor dem Praetor Sache des Klägers nur war, das

von ihm beanspruchte Recht in seinen Grundzügen zu charakterisiert,

nicht aber die demselben zu Grunde liegenden thatsächlichen Umstände auseinanderzusehen. Diese Auseinandersetzung scheint vielmehr erst statt­

gefunden zu haben bei dem Verfahren vor dem Richter, welches, wie

Gaius sagt,

in einer theils gedrängten (causae collectio), theils aus­

führlichen Erörterung (peroratio) der Streitsache bestand.')

Ohne Zwei­

fel hat man sich dieselbe nach Art der Parteienverträge unseres heutigen

Prozesses vorzustellen; aber es läßt sich daraus mit Sicherheit wenig­ stens nicht entnehmen, nach welchen Regeln die Begründung des klägerischen Anspruches erfolgen mußte.

Denkt man sich unter der causae

collectio eine kurze Wiederholung dessen, was schon vor dem Praetor Gegenstand der Verhandlung gewesen war, also namentlich die Bezeich­ nung des von dem Kläger verfolgten Rechts, so würde die peroratio nichts Anderes haben sein können, als eine Darlegung der factischen Verhältnisse, aus welche der Kläger seinen Anspruch stützte.

Nimmt

man dies an, so ergiebt sich daraus, daß die Klage nach zwei Seiten hin begründet werden, d. h. nicht nur die thatsächlichen Grundlagen des Klageanspruches darthun, sondern diese Thatsachen auch unter den recht­

lichen Gesichtspunkt bringen mußte, von dem aus sie beurtheilt werden sollten.

Unterstützt wird diese Annahme durch zwei Quellenzeugnisse, welche sich bei Gaius und Pomponius finden.

Gaius4) sagt so:

Legis actiones appellabantur vel ideo, quod legibus proditae *) Siehe oben S. 207. 2) Siehe oben S. 208. 8) Siehe oben Note 4 S. 205. Die hier allegirten Worte von Gaius beziehen sich zwar nur auf die legis actio sacramento; aber wie ich schon (S. 208) bemerkt habe, kann man aus der Analogie dieser von Gaius so­ genannten actio generalis schließen, daß das für dieselbe vorgeschriebene Verfahren vor dem Richter in ähnlicher Weise auch bei der legis actio per

judicis postulationem und per condictionem stattgefunden haben wird, wenn­ gleich die Quellen darüber schweigen. *) 3n seinen Institut, lib. IV §.11.

212 erant, quippe tune edicta praetoris, quibus complures actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur; vel ideo, quia ipsarum legum verbiß accommodatae erant et ideo immutabiles proinde atque leges observabantur. Aehnlich drückt sich Pomponius^) aus in den Worten:

Quas actiones ne populus prout vellet institueret, certas solemnesque esse voluerunt et appellatur haec pars Juris legis actiones id est legitimae actiones. Der Sinn dieser Stellen ist der, daß die Legis-Actionen davon ihren

Namen erhalten hätten, daß sie aus den Gesetzen selbst hervorgegangen

und den eigenen Worten derselben nachgebildet worden seien.

Damit

soll gesagt sein, daß das Recht selbst, welches durch die Klage verfolgt wurde, mit den Gesetzesworten ausgedrückt werden mußte.

Dies

war

schon, um die Grundlage des Rechtsstreites festzustellen, bei dem Ver­ fahren vor dem Praetor nothwendig; noch mehr aber in dem Abschnitte des Prozesses, welcher den Zweck hatte, das klägerische Recht selbst durch

Vermittelung des Richters zur Geltung zu bringen.

Hier war es, wo

der Kläger, auf die factischen Unterlagen seines Anspruches gestützt, den­ selben im engen Anschlüsse an das Gesetz darlegen mußte. tigkeit bestand dabei aber nicht darin, daß er das Gesetz,

Seine Thä­ welches er

auf das von ihm beanspruchte Recht angewendet wissen wollte, benannte

oder citirte, sondern darin, daß er dasselbe, ohne es namhaft zu machen,

durch die Fassung der Klage selbst wiedergab.

Die Klage war daher

gleichsam das Gesetz selbst, welches in derselben seinen lebendigen Aus­ druck erhielt?)

Wie strenge man darüber im ältesten Römischen Rechte

dachte, davon erzählt Gaius') ein bekanntes Beispiel.

„So unabänder­

lich," sagt er, „wie die Gesetze selbst, hätten auch die Legis-Actionen zur

Anwendung gebracht werden müssen, und daher habe ein Kläger, der

wegen abgeschnittener Weinreben geklagt, den Prozeß verloren, weil er

sich dabei des Wortes „vites“ statt des in den zwölf Tafeln gebrauchten

„arbores* bedient habe." 4)

Es mochte unter diesen Umständen nach da-

*) In der 1. 2 §. 6 D. de origine Juris (1.2). 2) Jhering (Geist des Röm. Rechts Bd. II §. 47 S. 651) sagt in der ihm eigenen rhetorischen Weise, „daß die Legis - Actionen die prozeffualische In­ karnation des Gesetzes gewesen seien." 3) L. c. lib. IV §.11: Unde eum, qui de vitibus succisis ita egisset, ut in actione vites nomin asset, responsum est rem perdidisse, quia debuisset arbores nominare eo, quod lex XII tabularum, ex qua de vitibus suc­ cisis actio competeret, generaliter de arboribus succisis loqueretur. Vergl. über diese merkwürdige Stelle: Leist, Röm. Rechtssystem §.4, Rudorfs, Rechtsgesch. Bd. II §. 20 Note 10, Heffter, Civilprozeßrecht §. 114 Note 86. 4) Dies erinnert an zwei Stellen, welche sich in Cicero s Buch de ora­ lere finden. Es heißt daselbst I, 56, 237: „Qui quibus verbis erctum cieri

213 maligem Rechte**) nicht selten schwierig sein, eine Klage so,

wie das

Gesetz es verlangte, zu begründen, und es drängt sich die Frage auf, ob es nicht Mittel gab,

diese Schwierigkeit zu beseitigen?

Man könnte

meinen, daß wie später im praetorischen Edicte, so auch damals in den

Gesetzen und namentlich in dem der zwölf Tafeln, die Umrisse der Kla­

gen proponirt gewesen seien.

Dies ist indessen nicht anzunehmen.

We-

nigstens würde damit nicht die in den Quellens verbürgte Nachricht übereinftimmen, daß die Pontifices, in deren Händen damals die Juris­ prudenz lag, die Klageformeln zum praktischen Gebrauche zusammengestellt

hätten.

Dessen würde es nicht bedurft haben, wenn die Legis-Actionen

in den Gesetzen selbst enthalten und dadurch jedem Kläger die Möglich-

feit geboten gewesen wäre, sich durch die Einsicht der Gesetze darüber zu unterrichten, wie eine Klage richtig angestellt werden mußte.

Auch

wird erzählt,') daß Cnejus Flavius die vom Appius Claudius redigirten Klageformeln veröffentlicht und dadurch dem Volke einen so großen

Dienst erwiesen habe, worden sei.

daß er dafür zu

hohen Ehrenstellen befördert

Dieser Dienst würde nicht von solchem Werthe gewesen

sein, wenn man schon aus den Gesetzen die formelle Einrichtung der

Klagen hätte entnehmen können.

Aber gerade weil dies nicht möglich

(divisum provocare) nesciat, idem erciscundae familiae causam agere non possit“ und I, 36, 167: „Turpi tutelae judicio . . . alter plus lege agendo petebat, quam quantum lex in XII tabulis permiserat, quod quum impetrasset, causa caderet: alter iniquum putabat plus secum agi, quam quod erat in actione neque intelligebat, si ita esset actum, litem adversarium perditurum.“ *) Jhering führt in seinem „Geist des Röm. Rechts" Bd. II S. 662 Note 893 aus dem Englischen Rechte ein ähnliches Beispiel an. „Eine Parlamentöacte", sagt er, „verbietet das Schenken geistiger Getränke am „Lordsday“ (Sonntag). Ein Contravenient ward vor einigen Jahren bloß aus dem Grunde freigesprochen, weil das Denunciations- oder Anklagelibett ihn beschuldigt hatte, am „Sunday“ (ebenfalls Sonntag) geschenkt zu haben. Die Klage stimmte nicht mit der lex!" 3) Pomponius in der 1. 2 §. 6 D. de orig. jur. (1. 2.): Deinde ex bis legibus . . . actiones compositae sunt, quibus inter se homines disceptarent . . . Omnium tarnen harum (legum) et interpretandi scientia et actio­ nes apud Collegium pontificum erant. — Dergl. auch Cic. de orat I, 43 U. Jhering a. a. O. Bd. II §. 42 S. 418. ’) Pomponius in der 1. 2 §. 7 D. de orig. jur. (1. 2.): Postea quum Appius Claudius proposuisset et ad form am redegisset bas actiones, Cnejus Flavius subreptum librum populo tradidit et adeo gratum fiiit id munus populo, ut tribunus plebis fieret et Senator et aedilis curulis. — Livius hist. Rom. lib. IX cap. 34: Civile jus, repositum in penetraJibus pontificum, evulgavit fastosque circa forum in albo proposuit, ut quando lege agi possit sciretur.

214 war, deshalb waren die von den rechtsverständigen Pontifices verfaßten Anweisungen darüber, von praktischer Bedeutung, weil man daraus er­

fuhr, wie die Behauptungen einer Klage unter die Gesetzesworte sub-

fumirt werden mußten, wenn dieselbe gehörig begründet sein sollte. Aus dem, was bisher über die Legis-Actionen gesagt wurde, geht

hervor, daß die Eigenthümlichkeit des ihnen zu Grunde liegenden Ver­

fahrens eine genaue Uebereinstimmung der Klage und ihrer Behauptun­ gen mit den Worten des durch sie zur Anwendung gebrachten Gesetzes erforderte, so daß jede, auch die geringste Abweichung davon den Ver­

lust des von dem Kläger verfolgten Rechtes zur Folge hatte.

8. 2. Der Formularprozeß.

Die enge Anschließung des Klageanspruches an das gesetzliche Recht,

welche für die Rechtsverfolgung ebenso unbequem als gefährlich war, brachte, wie GaiuSl)* *berichtet, diese Art des Prozeßverfahrens in Miß­ credit. Die Aenderung desselben war die nothwendige Folge davon. Sie

trat ein, als durch die lex Aebutia und zwei leges Juliae der Formu­ larprozeß r) eingeführt wurde,

welcher sich von den Legis-Actionen')

namentlich dadurch unterschied, daß verfolgung möglich machte.

er eine weniger förmliche RechtS-

Es wurde nämlich der Prozeß jetzt nicht

mehr wie früher unter Beobachtung besonderer Solennitäten, sondern dadurch eingeleitet, daß der Praetor die zwischen den Parteien bestehen­

den Streitpunkte in eine Schrift zusammenfaßte und so die Entscheidung derselben durch den Richter vorbereitete.

Diese Schrift, welche das Eigen­

thümliche des neuen Verfahrens bildete, nannte man formula.4)

Sie

*) Institut, lib. IV §.30: ßed istae omnes legis actiones paulatim in odium venerunt. Namque ex nimia subtilitate veterum, qui tune Jura condiderunt, eo res perducta est, ut vel qui minimum errasset, litem perderet. ’) Wann der Formularprozeß eingeführt wurde, steht nicht fest. Puchta (Jnstit. Bd. I §. 80 S. 337) geht bis auf die erste Hälfte des sechsten Jahr­ hunderts zurück, um die Zeit der lex Aebutia zu finden. Ebenso Leist in seinem Röm. Rechtssystem §. 5 Note 1.

’) Von den Legis-Actionen blieb nur noch die Klage wegen damnum infectum und die Sacramentsklage in Centumviralsachen eine Zeit lang im Gebrauche. Vergl. Gaius 1. c. lib. IV §.31, Puchta a. a. O. Bd. II §. 163 S. 104, Heffter Civilprozeßrecht §. 114 S. 128.

4) Es giebt Schriftsteller — so z. B. v. Savigny (System Bd. V §. 205 Note b) und Leist (Röm. Rechtssyst. §. 3 Note 8), — welche behaupten, daß die formula schon bei den Legis-Actionen ebenso, wie später in dem von ihr benannten Formularprozesse vorgekommeu sei. Beweise fiit diese Ansicht habe ich in den Duellen nicht gefunden. Daß man sich deshalb aber nicht, wie v. Savigny thut, auf Gaius Institut, lib. II §. 24 und lib. IV §§. 16.21. 24 berufen kann, ergeben diese Stellen selbst. Denn sie sprechen nur von dem

215 veränderte nicht nur bie Stellung des PraetorS den Parteien gegenüber, sondern auch die Aufgabe der letzteren gegenüber dem Magistrate. War

die Rolle des Praetors bei den Legis-Actionen eine passive gewesen, so war es jetzt seine Sache, die Formel, also die Klage in ihrer prozessua­

lischen Gestalt, nach den Anträgen der Parteien abzufassen?) Sollte dies möglich sein, so mußte der Kläger seinen Rechtsanspruch nicht, wie

früher, nur allgemein bezeichnen, sondern vollständig auseinandersetzen. Daß dies nothwendig war, ersieht man auch daraus, daß der Praetor die von dem Kläger erbetene Klage aus bestimmten Gründen verweigern konnte?) Ob diese Vorlagen, konnte der Praetor natürlich auch nur er­

messen, wenn er aus dem Vortrage des Klägers einen Ueberblick über den Inhalt und Umfang seines Anspruches gewonnen hatte?) In die­ ser Weise gestaltete sich nunmehr das Verfahren vor dem Praetor zu einer formlosen Verhandlung, und es ist nicht nöthig, den Gang deß Formularprozesses bis zu den Verhandlungen vor dem Richter zu ver­ folgen, um die materielle Beschaffenheit der Klage kennen zu lernen. Dieselbe ergiebt sich vielmehr aus der vom Praetor ertheilten Formel, deren Inhalt durch die Ansprüche des Klägers bestimmt wurde. In dieser Beziehung konnte die Formel felgende vier Bestandtheile (partes

formulae) haben: die demonstratio, intentio, adjudicatio und condemnatio. Die beiden letzteren*) enthielten die Anweisung an den Richter, den

solennen Vindicationsacte, wie er oben (S. 205 u. 209 Note 2) beschrieben ist, nicht aber davon, daß der Praetor schon damals eine Formel ertheilt habe. Ebensowenig scheint es mir richtig, wenn Leist sagt, daß die lex Aebutia nicht erst die Formeln eingeführt, sondern dem Praetor bei Abfassung der­ selben nur ein freieres Ermessen zugestanden habe. Vielmehr muß man mei­ nes Erachtens aus der Darstellung von Gaius (1. c. lib. IV §. 30) schließen, daß die Formel ein bis dahin unbekanntes Institut gewesen ist. 1) Diese veränderte Stellung des Praetors drückt Jhering (Geist des Röm. Rechts Bd. II §.47 S. 665) so aus: „Im alten Prozesse waren dem Praetor die Hände gebunden, er war nichts, als ein Stück der Maschine, — er in ihrer Gewalt, sie nicht in der seinigen. Erst das Formularverfahren gewährte ihm jene Freiheit der Bewegung, die eine wesentliche Bedingung seiner rechtsbildnerischen Thätigkeit war." 2) Z. B. wenn die Klage gar nicht im Rechte begründet, wenn ihre An­ stellung contra bonos mores, wenn die Bewilligung derselben im Edicte von dem Ermessen des Praetors abhängig gemacht war, und in anderen Fällen,

die Puchta (Institut. Bd. II §. 163 S. 105) aufzählt. 3) Darauf macht schon Asverus (die Denunciation §. 6 Note 18) auf­ merksam. 4) Die adjudicatio (Gaius 1 c. lib. IV §. 42) kam überhaupt nur bei den drei Theilungsklagen vor und lautete: „quantum adjudicari oportet, ju­ dex adjudicato.“ — Von allgemeinerem Gebrauche war die condemnatio

216 Verklagten zu verurteilen oder den Kläger abzuweisen, je nachdem sich

die in der Formel ausgedrückten Thatsachen als wahr Herausstellen wür­ den oder nicht.

Sie waren also ein Beitrag zur Formel, welchen der

Praetor, so zu sagen, von Amts wegen hinzufügte.

Dagegen war die

Fassung der ersten beiden Bestandtheile der Formel lediglich von den Behauptungen des Klägers abhängig, und sie sind es daher, welche hier

näher erläutert werden müssen.

1) Die demonstratio?) Sie ist die einleitende Angabe der Thatsachen, aus welchen der klägerische Anspruch entstanden ist.

Handelte es sich also z. B. darum,

daß der Kläger dem Verklagten einen Sclaven verkauft hatte, so wurde

dies so ausgedrückt:

Quod Aulus Agerius2) Numerio Negidio hominem vendidit. Oder behauptete der Kläger, daß er bei dem Verklagten einen Tisch deponirt habe, so lautete die demonstratio:

Quod Aulus Agerius apud Numerium Negidium mensam deposuit. Es gab indessen auch Klageformeln, in denen die demonstratio er­ setzt wurde durch sogenannte praescripta verba.3) Während dieselbe näm­ lich sonst die Thatsachen, auf welchen der Klageanspruch beruhte, im

Anschlüsse an das ihnen zu Grunde liegende Rechtsgeschäft bezeichnete, so war dies bei denjenigen Contracten nicht möglich, für welche es einen

civilrechtlichen Namen nicht gab?)

Hier trat an die Stelle der demon­

stratio eine Umschreibung des Rechtsgeschäfts und der Thatsachen, welche den Inhalt dieses Theils der Formel ausmachten.

2) Die intentio?) Sie ist derjenige Theil der Formel, in welchem das von dem Klä­ ger beanspruchte Recht selbst angegeben wird.

Von der Natur desselben

hängt aber auch die Eigenthümlichkeit des Rechtsmittels ab, welches zu seiner Verfolgung dient, und deshalb ist gerade die intentio für das

(Gaius 1. c. lib. IV. §. 43), deren Formel z. B dahin ging: „ condemna, si non paret, absolve.“ ') Gaius 1. c. lib. IV §. 40. 2) Mit dem Ausdrucke „Aulus Agerius“ bezeichnen die Römischen Juri­ sten bekanntlich den Kläger und mit den Worten „Numerius Negidius“ den Verklagten. 3) 1. 2 C. de transact. (2.4): Aut enim stipulatio conventioni subdita est, et ex stipulatu actio competit, aut si omissa verborum obligatio est, utilis actio, quae praescriptis verbis rem gestam demonstrat, danda est. 4) Es sind dies die sogenannten Jnnominatcontracte, welche auf den bei Paulus (1. 5 §§. 1—4 D. de praescr. verb. [19. 5]) vorkommenden Formeln beruhen: do ut des, do ut facias, facio ut des, und facio ut facias. 8) Gaius 1. c. lib. IV §. 41.

217 Wesen der Klage von besonderer Bedeutung.

So zeigt sich in ihr z. D.

der im Rechtsgebiete so wichtige Unterschied der persönlichen und ding­

lichen Klagen, welcher in der Verschiedenheit der persönlichen und ding­ lichen Rechte selbst seinen Grund hat.

Jene unterscheiden sich dadurch

von anderen, daß sie gegen eine von vornherein bestimmte Person, den Schuldner, gerichtet sind, dessen Verbindlichkeit der Forderung des Gläu­

bigers gegenübersteht.

Die Ausübung dieser Rechte besteht also in der

Einforderung einer Leistung, welche, wenn sie vom Schuldner verweigert

wird, gegen die Person desselben geltend gemacht werden muß. Deshalb

ist auch die intentio, insofern sie ein persönliches Recht des Klägers be­

zeichnet, gegen die Person des Verklagten gerichtet, wenn sie lautet:

Si paret, Numerium Negidium Aulo Agerio sestertium decem milia dare oportere. Anders bei dinglichen Rechten. Person, sondern an eine Sache.

Sie knüpfen sich nicht an eine

Daher wird bei ihnen der Verklagte

nicht, wie bei persönlichen Rechten, durch das Recht selbst, sondern erst

durch die Verletzung desselben bestimmt.

Dies drückt die intentio da­

durch aus, daß sie von der Person des Verklagten abstrahirt und nur

den Gegenstand, auf welchen der Anspruch des Klägers geht,

benennt,

indem sie sagt:

Si paret, hominem ex jure quiritium Auli Agerii esse. So hat also die Fassung der intentio ihren Grund in der materiellen Verschiedenheit der Rechte selbst, indem durch diese die prozessualische Form der verschiedenen Arten von Klagen bestimmt wird?) Aus dieser Darstellung des Formularprozesses, soweit sie für unsern Zweck nothwendig war, beantwortet sich nun die Frage, was nach da­

maligem Rechte zur Begründung der Klage gehört habe, in folgender

Weise: Wenn man den Inhalt der eben besprochenen Bestandtheile der Formel mit dem der Legis-Actionen vergleicht, so zeigt sich zwischen beiden zunächst eine bemerkenswerthe Verschiedenheit. Diese besteht darin,

daß an die Stelle der früher gebräuchlichen Gesetzesworte, in welche der

Klageanspruch eingekleidet werden mußte, eine freiere Fassung desselben getreten ist, welche in der vom Praetor concipirten Formel ihren Aus­

druck erhielt?)

Dagegen stimmt ihr Inhalt mit dem der Legis-Actionen

*) v. Savigny (System 53b. V §. 209) und Puchta (Institut. 53b. II §. 165 S. 112), welcher sich hierüber so ausbrückt: „Es sinb die Klagen auö Obligationen, bereu intentio in personam gefaßt wirb, bei sich bas Rechts­ verhältniß , bas bie intentio bezeichnen soll, gar nicht ohne Angabe bes Be­ klagten ausbrücken läßt; bie Klagen aus allen anberen Rechten sinb in rem actiones, unb ihre intentio ist in rem concipirt, weil mit ber Bezeichnung des Rechts die Person des Verklagten nichts zu thun hat." 2) Leist, Röm. Rechtssystem §. 6 S. 23, Puchta a. a. O. Bb. I §. 80 S. 334.

218 insofern überein, als die Klage auch jetzt noch nach einer doppelten Richtung hin — nämlich nicht blos thatsächlich, sondern auch rechtlich — begründet werden mußte. Die thatsächliche Begründung derselben wurde in der demonstratio ausgedrückt. Man sieht dies nicht blos aus den oben angeführten Beispielen, sondern auch daraus, daß Gaius l) selbst

diesen Theil der Formel als denjenigen bezeichnet, „qua res, de qua Daß derselbe aber nicht, wie behauptet worden

agitur, demonstratur.a

ist,2) dazu bestimmt war, das zwischen den Parteien bestehende Rechts­ verhältniß mit seinem Kunstnamen zu bezeichnen, folgt schon daraus, daß es ja Fälle gab, in denen dies überhaupt nicht möglich war. Viel­ mehr hatte die demonstratio den unverkennbaren Zweck, die thatsächliche Grundlage des Rechtsstreites, über welchen der Richter urtheilen sollte, anzugeben. Dem gegenüber fand die rechtliche Begründung der Klage ihre Stelle in der intentio. Mit Recht sagt daher Gaius3) von ihr,

sie sei der Theil der Formel, „qua actor desiderium suum concludit.“ 4) Denn indem der Kläger im Anschlüsse an die in der demonstratio nie­ dergelegten Thatsachen in der intentio das zwischen ihm und seinem Gegner obwaltende Rechtsverhältniß charakterisirte, so bezeichnete er zu­ gleich den Rechtsanspruch selbst, dessen Anerkennung er verlangte?) Man kann daher sagen, daß die Klage, wenngleich sie nicht mehr

an den Gebrauch bestimmter Wortformeln gebunden war, doch auch in der Periode des Formularprozesses zu ihrer Begründung zwei wesentliche Bestandtheile nöthig hatte, nämlich einen thatsächlichen, welcher in der

demonstratio, und einen rechtlichen, welcher in der intentio enthalten war.

8- 3. Die Kaiserliche Prozeßgesetzgebung. Es ist bekannt, daß die Gerichtsverfassung unter den Römischen Kaisern dadurch eine wesentliche Veränderung erlitt, daß die frühere Trennung des Verfahrens vor dem Praetor und vor dem Richter fortfiel, zuerst freilich nur für die sogenannte extraordinaria cognitio in gewissen Ausnahmefällen, welche aber später zur Regel erhoben wurden. Dadurch

*) Instit. lib. IV §. 40. ,2) So z. B. von Rudorff, Röm. Rechtsgesch. Bd. II §. 29 S. 95 und von Förster, Klage und Einrede nach Preuß. Recht §. 9 S 26.

3) L. c. lib. IV §. 41. 4) Im Anschluß an diese Worte sagt Rudorff (a. a. O. Bd. n §. 29 S. 96): Die intentio ist die schließliche Behauptung, welche der Kläger auf­ stellt und anerkannt'wünscht." Dies ist richtig, wenn man unter „Behaup­ tung" soviel wie „Rechtsbehauptung" oder „Rechtsanspruch" versteht. 6) Heffter, Civilprozeßrecht §. 115 S. 129 und Brackenhöft Erörterungen zu Linde's Lehrbuch §. 152 Note 35.

219 wurde die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten Kaiserlichen Beamten

übertragen, welche richterliche Funktionen ausübten?) Die Einleitung des Prozesses erfolgte jetzt in Form einer litisdenuntiatio, deren Einführung dem Kaiser Marc Aurel zugeschrieben

wird.

Sie bestand in einer Ankündigung des Rechtsstreites

an

den

Verklagten, welche anfangs in einer vor Zeugen aufgenommenen Ur-

künde,?) seit einer Verordnung Constantins °) aber vor einer mit dem jus actorum conficiendorum versehenen Behörde erklärt werden mutzte.

ES wurde darin der Anspruch, welchen der Kläger zu verfolgen gedachte,

angegeben und davon dem Verklagten Mittheilung gemacht, damit die­ ser zu der gerichtlichen Verhandlung der Sache treffen konnte.

seine Vorbereitungen

Diese Verhandlung mutzte einen anderen Charakter haben,

sobald mit der veränderten Gerichtsverfassung auch die früher üblichen Formeln in Wegfall kamen, und damit hing auch zusammen, datz der

Klageanspruch selbst nicht mehr so, wie zur Zeit des Formularprozesses,

begründet zu werden brauchte. Wenn sonst, als die Einleitung des Pro­

zesses noch vor den Praetor gehörte, von diesem eine Anweisung an den Richter ertheilt wurde, in welcher die klägerischen Behauptungen nieder­ gelegt waren, so mutzte dies überflüssig werden, seitdem die Instruction und die Entscheidung des Rechtsstreites von vornherein ein und dem­

selben Beamten gebührte.

Vor ihm mutzte der Kläger nunmehr seinen

Anspruch auseinandersetzen, aber nicht mehr in der Weise, wie er eS

ehemals vor dem Praetor

mutzte, damit dieser aus den thatsächlichen

und rechtlichen Anführungen

konnte.

des Klägers

die Formel zusammensetzen

Datz es einer solchen Begründung der Klage nicht mehr be­

durfte, findet sich angedeutet in einer Constitution4) der Kaiser Con­ stantins und Constans vom Jahre 342, welche lautet:

Juris formulae,

aucupatione

syllabarum insidiantes cunctorum

actibus, radicitus amputentur. Freilich sagt diese Constitution nur, daß der Klageanspruch nicht mehr

mit den Worten der Formel ausgedrückt zu werden brauche; aber sie sagt nicht ausdrücklich, wie die Begründung desselben materiell beschaffen

*) -Puchta Institut. Bd. II §§. 182. 183, Brackenhost „über den Klage­

grund" in der Zeitschrist für Cwilrecht und Prozeß Bd. XI S. 194.

2) v. Bethmann - Hollweg Cioilprozeß Bd. I §. 21 S. 249 und Puchta a. a. O. Bd. II § IGO 5. 82 §. 184. 3) 1. 2. C. Th. de denunt. (2. 4): Denuntiari vel apud provinciae rectores vel apud eos, quibus actorum conficiendorum jus est, decernimus, ne privata. testatio, mortuorum aut in diversis terris absentium aut corum, qui nusquam gentium eint, scripta noininibus, fal.e non est, ut nomen actionis in libello exprimatur* quod de jure canonieo expeditum est; . . . de jure civil! haec quaesüo, an actionis nomen eo jure in libello sit exprimendum, controversa est. Quidam existimant, jure civil! idem esse, quod jure canonieo ac proinde necesse non esse, ut nomen actionis exprimatur, sed sufficere, ut proponatur factum ipsum pure et simpliciter et rei veritas narretur.“ — Bergt, ferner Stryk usus mod. pand. L. II T. 13 §. 1, Berger oeconomia Juris L IV T. XV §. 2 not. 1, Cocceji jus contr. Lib II p. 13 qu. 3, Leyser medit. ad pand. sp. 37 m. 5, Seyfcuth Deutsch. Reichspr. Cap. 1 §. 10, Weber Beiträge zur Lehre von Klagen und Einreden St. 2 S. 9, Gönner Hand­

buch des Prozesses Bd. I Abhdl. X §. 11.

228 Anstellung einer Klage die namentliche Bezeichnung derselben nicht verlangt

werde? Dies muß, glaube ich, entschieden verneint werden.

Schon v. Sa-

vigny*) hat darauf aufmerksam gemacht, „daß weder im älteren und noch

viel weniger im neueren Römischen Prozesse die Bezeichnung des individuel­ len Klagerechts erfordert worden sei."*2)3 4 Hätte also das canonische Recht dieselbe ausdrücklich für unerheblich erklären wollen, so würde dies ebenso

neu als überflüssig gewesen sein, weil es eine sich von selbst verstehende Sache war, an der bis dahin noch Niemand gezweifelt hatte.

Es muß

also wohl mit der Vorschrift, um welche es sich handelt, etwas Anderes

haben gesagt sein sollen.

Unter den Schriftstellern, welche dieselbe in«

terpretiren, habe ich nur drei gefunden, welche ihr einen anderen, als

den gewöhnlichen Sinn beilegen.

Es sind dies Weber, Brackenhöft und

Bayer. Weber') meint: „das geistliche Recht wolle nicht, daß mit Spitz­

findigkeit untersucht werde, was für eine Klage angestellt sei, sondern nur, daß auf die Sache Rücksicht genommen werde." Brackenhöft*) glaubt: *) System Bd. V §. 224 Note p. q. — Noch früher sagt dies Vultejus 1. c. Lib. II cap. IV §. 77 sqq. Dasselbe wiederholt Brackenhöft über den Klagegrund a a O. S 212 und in seinen Erörterungen zu Lindes Lehr­

buch §. 151 S. 403. 2) Dagegen spricht auch nicht, wenn es in der 1. 2 D. de praescr. verb. (19. 5) heißt: „Nam quum deficiant vulgaria atque usitata actionum nomina, praescriptis verbis agendum est.“ Denn hiermit soll nur gesagt sein: „daß wenn gewisse Rechtsgeschäfte — wie z. B. die Innominatcontracte — keinen 'bestimmten Namen hätten, so müsse man daraus mit den actiones praescriptis verbis klagen." (Vergl. oben Note 3. 4 S. 216 und Brackenhöft über den Klagegrund a. a. O. S. 200 Note 1). Es soll ja nicht geleugnet werden, daß die einzelnen Klagen im Römischen Rechte technische Namen hat­ ten; aber das stelle ich in Abrede, daß dieselben, wenn sie angestellt wurden, mit diesen Namen bezeichnet werden mußten. Denn dies findet sich in den Römischen Rechtsquellen nirgends ausgesprochen. 3) In der Lehre von der natürlichen Verbindlichkeit §. 47 S. 139. — In einer Note fügt Weber die Bemerkung hinzu: „Mancher Advocat und Pro­

kurator, auch wohl nach Gelegenheit mancher Richter, dem herzlich bange werden sollte, wenn er das eigentliche genus actionis institutae vel instituendae angeben müßte, hat Ursache, hierfür das Andenken des Papstes Alexan­ der III. zu segnen: Tibi molliter ossa quiescantl, obgleich die wahre Absicht

des angeführten Textes keinesweges dahin geht, das gründliche Studium der Lehre von den Klagen und Einreden .... überflüssig zu machen." 4) In seinen Erörterungen zu Lindes Lehrbuch §. 151 S. 404 und in seiner Abhandlung über den Klagegrund in der Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß Bd. 11 S. 212. Freilich ist Brackenhöst, welcher die Angabe des Rechtsgrundes in der Klage für nothwendig hält, der Meinung, daß das cap. 6 eit. auf den damals vorliegenden Fall beschränkt bleiben muffe und als eine allgemeine Vorschrift nicht angesehen werden könne, weil es sonst mit dem c. 15 X de jud. (2. 1) im Widerspruch stehen würde. Ein solcher

2'29 „daß es sich hier nicht um den Namen der Klage, sondern um daS der

Klage zu Grunde liegende juristische Factum handle, welches bei An­

stellung derselben nicht weiter in Betracht kommen solle." lich führt aus:

Bayers end­

„daß wenn auch durch die Verpflichtung des Klägers

zur bestimmten juristischen Bezeichnung seines Klagegrundes dem Rich­ ter die Beurtheilung oft ungemein erleichtert werde, dieses Erforderniß

doch dem Inhalte der in Rede stehenden Vorschrift nicht entspreche."

Ich halte diese Deutungen für richtig, wenn sie sagen wollen, daß es nach canonischem Rechte nicht erforderlich gewesen sei, in der Klage den

Rechtsgrund derselben hervorzuheben.

Das canonische Recht hatte wohl

Grund, sich hierüber auszusprechen, weil es daraus ankam, zu wissen,

ob die Grundsätze, welche das neuere Römische Recht in dieser Beziehung aufgestellt hatte, recipirt werden sollten oder nicht.

Daß sie aber reci-

pirt wurden, schließe ich aus dem Inhalte des allegirten c. 6, X de judi-

ciis (2. 1).

Offenbar ist darin die Anweisung:

„provideatis, ne sub­

tilster cujusmodi actio intentetur inquiratis“ in einen Gegensatz gestellt zu den Schlußworten: „sed simpliciter et pure factum ipsum et rei

veritatem investigare curetis.“

Diese enthalten eine Hindeutung auf

die thatsächlichen Elemente der Klage, welche der richterlichen Prüfung

empfohlen werden.

Es frägt sich also nur, welche Bedeutung den An-

fangsworten der Vorschrift beigelegt werden muß.

Von dem Namen

der Klage ist hier nicht, sondern vielmehr von der Art derselben die

Rede.

Diese hängt aber von der Natur des der Klage zum Grunde lie­

genden Rechtsverhältnisses ab, welches den Rechtsgrund derselben bildet. Ob die Klage indessen aus diesem oder jenem Rechtsverhältnisse angestellt, oder ob sie auf diesen oder jenen Rechtsgrund gestützt ist, darauf, will unsere Stelle sagen,

soll kein Gewicht gelegt werden, wenn die

Klage nur in ihrer thatsächlichen Begründung so beschaffen ist, daß dar­ aus der klägerische Anspruch von dem Richter gefolgert werden kann.')

Widerspruch liegt aber nicht vor. Denn das cap. 15 cit. erfordert zur Klage nicht ausdrücklich die Darlegung des Rechtögrundes, sondern sagt nur allge­ mein, daß eine Klage, welche wegen mangelhafter Begründung abgewiesen sei (actionem incongruentum cognovimus et ineptam), von Neuem angestellt werden könne, wenn sie gehörig begründet werde (si congruentem et aptam intentare volueris actionem). In seinen Vorträgen über den Eivilprozeß S. 293. 295. 2) Man könnte meinen, daß die von mir versuchte Interpretation des in Rede stehenden cap. 6 im Grunde auf das hinauslaufe, was die oben Note 2 —9 S. 226 u. Note 1. 2 S. 227 erwähnten Schriftsteller von dem

Sinne der Stelle sagen. Denn mit deut Namen der Klage werde ja auch zugleich der Rechtsgrund derselben bezeichnet, beide seien daher gleichbedeutend, und wenn man jenen nicht für nothwendig halte, so liege darin zugleich, daß

es auch der Angabe deö letzteren nicht bedürfe. — Keinesweges. Es wird von

230 So gelange ick zu dem Sahe, welchen ich beweisen wollte, nämlich

dazu, daß auch nach den Grundsätzen des canonischen Rechts zwar die Geschichtserzählung, nicht aber die Darlegung des Rechtsgrundes als ein

nothwendiges Requisit der Klage betrachtet worden ist.

§. 2. Die Reichsgesetzgebung.

Die Art des Prozeßverfahrens, wie sie durch das canonische Recht

eingeführt war, erhielt sich auch unter der Herrschaft der Reichsgesetz­ gebung in der Praxis der Gerichte und ging zuletzt in das Reichskam­ mergericht über.

Insbesondere wurde bei dem nunmehr allgemein an­

erkannten Grundsätze der Schriftlichkeit des Verfahrens daran festge­

halten,

daß zum Zwecke der Einleitung des Rechtsstreites die Klage

schriftlich in Form eines Libells angebracht werden

mußte?)

Ebenso

behielten die Positionen des canonischen Prozesses ihre Bedeutung; nur

daß sie jetzt auch unter dem Namen von Artikeln?« erschienen. Zweck blieb indessen nach wie vor derselbe, thema') festzustellen.

Ihr

nämlich der, das Beweis­

Dagegen wurde allmälig ein neues Institut prak­

tisch, welches in dem gemeinrechtlichen Prozesse lange Zeit von großem Einflüsse gewesen ist.

Es ist dies der sogenannte articulirte Libell,4)

dem Unterschiede beider noch weiter unten (S. 239. 243 ff) die Rede sein. Hier bemerke ich nur so viel, daß auch die gemeinrechtlichen Prozeßlebrer zwischen dem Namen der Klage und dem Rechtsgrunde derselben genau unter­ scheiden, wenngleich sie allerdings die Angabe dieses Rechtsgrundes znr Klage ebenfalls nicht für erforderlich erachten. Bergt, z. B. Martin, Lehrbuch des bürgerlichen Prozesses §. 87 Note f und §. 144 Note a, v. Linde Civilprozeß §. 151 Note 8 und §. 190 Note 3, Schmid Civilprozeß Bd. II §. 95 Note 10 u. 14, Heffter Civilprozeßrecht §. 122 Note 135 und §.343 Note 56. 1) Kammer-Gerichts-Ordnungen von 1496 Tit. 12 §. 1, von 1500 Tit. 36 §. 1, von 1508 Tit. 1 §. 1. 2) Kamm.-Ger.-Ordn. v. 1496 Tit. 12 §. 3, von 1500 Tit. 36 §. 3, von 1508 Tit. 1 §. 6, von 1555 Th. III Tit. 14 §. 1: „Und sollen solche des Klägers artieul der eyngebrachten klag gemeß gestellt und darauß gezogen, auch sonst alle po>hiones und articuli, von welchem Theil die eynkommen, zuvor durch die procuratores quortirt seyn, damit in responsionibus, so dar­ auff volgen sollen, nicht geyrret werden möge. 3) Kamm. - Ger.-Ordn. v. 1496 Tit. 12 §§. 4. 5, Tit. 13 §. 1 und von 1500 Tit. 36 §§. 4 5, Tit. 38 §§. 1. 2. 4) Der Unterschied zwischen dem Klagelibell der früheren und der articulirten Klage der spateren Zeit tritt zwar schon in den Note 1-3 d. S. citirteu Reichsgesetzen von 1496 und 1500 hervor, wird aber ausdrücklich erst erwähnt in der Kamm -Ger.-Ordn. v. 1508 Tit. 1 § 8. Die Kamm.-Ger.Ordn. v. 1521 Tit. 19 §§. 5 bis 10 spricht davon als von einer allgemein

bekannten Sache, und in der von 1555 Thl. III Tit. 12 wird der Gang des

231 dessen Zweck folgender war:

War es früher zulässig gewesen, die that**

sächlichen Behauptungen, wenn sie in der Klage unvollständig angegeben waren, im Laufe des Prozesses zu vervollständigen, so wurde es nun­

mehr nothwendig, in die Klageschrift selbst alles das aufzunehmen, was sonst in den Positionen oder Artikeln nachgebracht werden konnte.

Des­

halb musste der Kläger in seinem Libelt die factischen Momente seines Klageanspruches genau zergliedern und sie in bestimmte Sätze oder Ar­ tikel') bringen, damit so diejenigen Punkte, um welche sich der Rechts­

streit drehte, von vornherein mit Sicherheit erkannt werden konnten.

Mit der Einführung dieses articulirten Libells,-) den man als eine in

Positionen abgefatzte Klageschrift bezeichnen kann, war offenbar die Ab­ sicht verbunden, eine Abkürzung des Verfahrens herbeizuführen.

In­

dessen ist es bekannt, datz man gerade das Gegentheil von dem, was

man wollte, erreichte.

Denn es kam vor, datz in einer Rechtssache

mehrere tausend Artikel aufgestellt wurden, welche, wenn sie alle Gegen­ stand der Instruktion durch den Richter werden sollten, nothwendiger

Weise nicht eine Beschleunigung, sondern eine Verzögerung der Prozesse zur Folge haben mutzten?)

Es wurde daher eine Reformation des Pro-

-etzverfahrens nöthig, und diese erfolgte im Jahre 1654 durch den jüng­ sten Reichsabschied zu Regensburgs) dessen wohlthätigster Einflutz darin bestand, datz er den Modus des Articulirens aufhob.

Ueber die Ab­

fassung des KlagelibellS, auf welche es hier allein ankommt, bestimmte

derselbe im §. 34:

datz der Kläger seine Klage nicht Artikels-, sondern allein sum­

marischer Weise, darinnen das Factum kurz und nervöse, jedoch deutlich und distincte, klar verfasst und angeführt sei, . . . über­ geben solle; und im Anschlüsse hieran im §. 96:

daß die Procuratoren und Advocaten sich durchgehends bloß in Erzählung des Facti und der Geschichte aufhalten, die disputationes und allegationes Juris aber, welche mehrentheils die Sache ganzen Prozesses von dem articulirten Verfahren abhängig gemacht. Vergl. Goldschmidt Abhandlungen Nr. I §. 3. *) Aus dem Note 4 S. 225 angeführten Beispiele geht hervor, daß die Positionen eingeleitet wurden mit dem Worte: „pono“; jetzt begannen die Artikel mit den Worten: „wahr ist." Vergl. Gönner Handbuch Abh. III §. 4.

2) Als Ausnahme von dieser Regel war auch eine nicht articnlirte oder Summariklage gestattet, von welcher aber nur selten Gebrauch gemacht wurde. Davon spricht die Kamm.-Ger -Ordn. v. 1555 LH. Ill Lit. 12 $. 8, der Reichs-Abschied von 1570 § 88 und Gönner a. a. O. Abh. III §§. 6. 7. s) Gönner a. a. O. Abhandlung III § 9. 4) Goldschmidt Abhandlungen Nr III §. 5 und Sintenis Erläuterungen Bd. I S. 138 261

232



nur zu verwirren und schwerer zu machen pflegten, also auch in

facto selbst dasjenige, was nicht zur Sache dienlich sei, nicht ein­ mischen sollten.

Man sieht hieraus, daß auch nach den Principien der Deutschen

Reichsgesehgebung zur Begründung der Klage immer nur die Darstellung der Thatsachen und Ereignisse nothwendig war, auf welche sich der klä-

gerische Anspruch stützte.

Sie fanden zur Zeit des articulirten Libells

in den einzelnen Positionen, ans denen derselbe zusammengesetzt war, ihren Ausdruck, und was der jüngste Reichsabschied daran änderte, be­ sternt) nur darin, daß er durch das Verbot des articulirten Verfahrens für die Abfassung der Klage den Gebrauch einer freieren Form möglich

machte.

In Betreff der Frage aber, was zu dem Inhalte der Klage

gehöre, wurde in den angeführten §§. 34 und 96 die Bestimmung wie­ derholt, daß die Klage zwar eine kurze und bündige Erzählung des Facti

und der Geschichte, nicht aber

rechtliche Anführungen, also auch nicht

die Angabe des Rechtsgrundes enthalten solle?)

Es ist daher nicht er­

klärlich, wie trotzdem hat behauptet werden können, daß es nach gemei­ nem Rechte der Angabe des Rechtsgrundes in der Klage bedurft habe.

Dies ist die Ansicht von Brackenhöst?)

Er gründet dieselbe hauptsäch­

lich darauf, daß der §. 34 des jüngsten Reichsabschiedes zur Klage außer

dem Factum eine demselben angehängte Eonclusion und Bitte verlangt.

„Eine Eonclusion aus dem natürlichen Factum aber,"

meint Bracken­

höst, „könne nichts Anderes heißen, als die Aufstellung des juristischen Factums mit dem sich daraus ergebenden Ansprüche." fährt er fort,

„Es lasse sich?'

„in der Klage eine zweifache Eonclusion finden: eine,

welche das juristische Factum, und eine andere, welche den Klageantrag enthalte. Die letztere sei ohne die erstere nicht möglich, die erstere müsse

nothwendig den Nebergang zur letzteren bilden, beide seien deshalb nicht identisch, sondern jede für sich zur Klage nothwendig." Diese Ausführung ist unrichtig, weil ihr positive Vorschriften wider­

sprechen.

Es läßt sich nämlich aus den Reichsgesetzen nachweisen,

daß

dieselben überall da, wo sie von Eonclusion oder Bitte reden, dasselbe d. h. den Klageantrag bezeichnen wollen.

So heißt es in dem Dubium came-

rale Nr. 92 von 1595, in dem Deputations-Abschiede von 1600 tz. 110

l) Vergl. Bayer, Vorträge über den Eivilprozeß S. 291.292, v. Linde Lehrbuch des Eivilproz. § 190 Note 2 und Sintenis Erläuterungen Bd. I S. 272, welcher unter dem Klagegrunde im Sinne des jüngsten Reichsabschiedes versteht: „Die Gesammtheit derjenigen Thatsachen, welche alle zu­ sammen behauptet und vorhanden sein müssen, wenn der erhobene Anspruch

in concreto gerechtfertigt erscheinen soll" a) In seiner Abhandlung über den Klagegrund a. a. O. S. 220 und in seinen Erörterungen zu Lindes Lehrbucb

151 S. 404.

233 und in dem Concepte der Kammer-Gerichts-Ordnnng von 1613 Theil HI

Titel 13 §. 1 übereinstimmend:')

Daß in scriptis libellis allein narrata mandati oder acta repetirt und denselben die Petition oder Conclusion annectirt werden solle.

Wenn nun der §. 34 des jüngsten Reichsabschiedes sagt: daß der Klaglibell mit angehängter Conclusion und Bitte über­

geben werden solle, so gebraucht er diese beiden Begriffe offenbar ebenso, wie die älteren

Reichsgesetze in einem und demselben Sinne von Schluß- oder Sachbitte,

wenn er sich dabei auch statt des Wortes „oder" der Partikel „und" bedient.

Man muß deshalb gegen Brackenhöft annehmen, daß die Con­

clusion oder Bitte, welche den Schluß der Klage bildet, mit dem Rechts­ grunde derselben gar nichts zu thun hat, und daß dieser ein selbststän­ diger und für den Inhalt der Klage entbehrlicher Begriff ist.

Mit

dieser Auslegung stimmt auch Sintenis ft überein; nur weicht er inso­

fern davon ab, als er behauptet,

„daß die Conclusion und Bitte zwei

Momente seien, welche zwar oft, aber nicht in allen Fällen Zusammen­ treffen würden."

„Namentlich", führt er an, „würde in juristisch ver­

wickelten Rechtssachen der unmittelbare Uebergang von dem Vortrage der Thatsachen zum Sachgesuche eine wesentliche Lücke in der Schlüssig­

keit der Klageschrift übrig lassen.

Um diesen Uebergang zu vermitteln,

dazu diene die Conclusion und hiervon lasse sich dann das eigentliche Petitum als Resultat der Conclusion unterscheiden."

Indessen ist diese

Unterscheidung aus den Rechtsquetlen jedenfalls nicht zu rechtfertigen, und was Sintenis zur Herstellung des Zusammenhanges zwischen den

Thatsachen der Klage und dem Schlußgesuche für nothwendig hält, das fällt unter den Begriff einer rechtlichen Ausführung, gegen welche der

oben citirte §. 96 des jüngsten Reichsabschiedes ausdrücklich gerichtet ist.

Ich komme daher trotz der abweichenden Ansicht der genannten beiden Schriftsteller auf die von mir vertheidigte Annahme zurück, wonach auch

in der Gesetzgebung des Deutschen Reiches der Grundsatz anerkannt ist, daß der Grund der Klage nur in der Geschichtserzählung, nicht aber

in der Angabe des Rechtsgrundes besteht.

Die Ansichten gemeinrechtlicher Schriftsteller.

Nachdem so, wie es eben dargeftellt worden ist, die Reichsgesetz­ gebung bestimmte Normen über die Erfordernisse der Klage aufgestellt hatte, bemächtigten sich auch die gemeinrechtlichen Schriftsteller dieses

Stoffes, indem sie ihn wissenschaftlich behandelten.

Sie fingen an, ben

*) Vergl. Sintenis Erläuterungen Bd. 1 S. 275. 276.

a) In seinen Erläuterungen Bd. I S. 279. 28J.

234 Klagegrund begrifflich zu bestimmen, ihn nach seinen Bestandtheilen zu zerlegen, und sie gelangten so zu einer Theorie des Klagegrundes, von welcher ihre Schriften Zeugniß ablegen.

Es kann indessen nicht der

Zweck der gegenwärtigen Erörterung sein, die so entstandene Doctrin

über den Klagegrund in ihrer weitesten Ausdehnung zu verfolgen, son­ dern sie muß sich darauf beschränken

neueren Prozeßlehrer zu betrachten.

die Ansichten der angesehensten Bon ihnen sagt Martin:') „Der

Klagegrund, d. h. die Ursache der Befugniß, dasjenige gerichtlich zu for­

dern, was die Klage bezwecke, stütze sich zuletzt auf die gesetzliche Aner­ kennung der Wirksamkeit des zu verfolgenden Rechts (entfernter Klage­ oder Rechtsgrund oder fundamentum agendi remotum); daneben müsse

auch die Anwendbarkeit dieser Berechtigung auf den einzelnen bestimm­ ten Kläger ersichtlich sein (Geschichtserzählung oder fundamentum agendi

proximum), und insofern diese concrete Anwendbarkeit auf einem, eigenen,

von dem zu verfolgenden Rechte getrennten Erwerbsgrunde beruhen könne, gebe es auch einen mittelbaren Klagegrund (fundamentum agendi inter­

medium.)'1 — Ebenso bestehen nach v. Lindes*) Ansicht „die Voraus­

setzungen der Klage: 1) in einer historischen Darstellung der Thatsachen, wodurch daS

durch die Klage verfolgte Recht entstanden sei (nächster oder historischer

Klagegrund oder fundamentum agendi proximum); 2) in dem Nachweise eines rechtlichen Grundsatzes für daS Ent­

stehen jenes Rechts (entfernter oder juristischer Klagegrund oder funda­

mentum agendi remotum) und 3) in der Angabe des UebergangeS des beanspruchten Rechts auf

den Kläger,

wenn

ihm dasselbe

ursprünglich nicht zugestanden habe

(mittelbarer Klagegrund oder fundamentum agendi intermedium).N —

Auch Heffter 8*)* „theilt den Klagegrund ein: 1) in das juristische Element oder das Princip der Klage (causa

agendi proxima), 2) in das factische Element derselben (causa agendi remota) und

3) in das mittelbare Fundament, welches in dem Nachweise der

’) Lehrbuch des bürgerlichen Prozcffeö §§ 88. 144 145. *) Lehrbuch des Civilprozesseö §§. 152.189. 190. 8) Civilprozeßrccht §. 342. — Genau genommen faßt Heffter die söge» nannte causa agendi proxima und remota zusammen unter dem Flamen des ursprünglichen oder hauptsächlichen Fundaments (fundamentum agendi principale) und setzt dieses dem mittelbaren Fundamente (fundamentum agendi intermedium) entgegen Auch weicht Heffter von dem Sprachgebranche, wie er sich bei Martin und v. Linde findet, ab, indem er das, was diese funda­ mentum agendi proximum nennen, als causa agendi remota bezeichnet, und das, was sie fundamentum agendi remotum bezeichnen, die causa agendi proxima nennt.

235 Herrschaft der

jetzigen Partei

agendi intermedium)/'

über

die Sache

bestehe (fundamentum



Dagegen meint Gensler,') „daß der Klagegrund nur gebildet werde von dem Gesetze und dem factischen Verhältnisse, von denen das erstere,

wenn letzteres eintrete, ein Zwangsrecht für eine Person und eine Ver­

bindlichkeit für eine andere anordne.

Derselbe scheide sich daher:

1) in den Rechtsgrund oder Rechtfertigungsgrund, d. h. daö anzu­ wendende Gesetz oder Rechtsprincip, vom facto gesondert gedacht, und

2) in den thatsächlichen Klagegrund, d. h. jenes factum vom Rechts­ grunde geschieden gedacht." —

Desgleichen ist bei Bayers „nur die Rede: 1) von dem Recktsgrunde der Klage, unter welchem die gesetzliche Vorschrift oder der Rechtssatz, woraus sich der Anspruch deS Klägers rechtfertige, zu verstehen fei, und 2) von der Geschichtserzählung, welche sich mit der Darlegung der thatsächlichen Verhältnisse des Klageanspruches beschäftige." — Endlich verlangt Schmidt „ebenfalls nur:

1) daß die Klage eine bestimmte und klare Darstellung der That­ sachen, welche zur Geltendmachung des in Anspruch genommenen Rechts nothwendig seien, enthalte (historischer Grund der Klage oder funda­

mentum agendi proximum), und 2) daß sie rechtlich begründet, d. h. daß eine Rechtsnorm vorhan­

den sei, welche, wenn das historische Klagefundament unter dieselbe subsumirt werde, den gestellten Antrag rechtfertige (Rechtsklagegrund oder fundamentum agendi remotum)."

Vergleicht man diese Ansichten mit einander, so ergiebt sich daraus zunächst, daß Martin, v. Linde und Heffter einen mittelbaren Klagegrund

aufführen, welchen Gensler, Bayer und Schmid nicht kennen.

Derselbe

betrifft den Legitimationspunkt und bezieht sich auf den Fall, daß daS

*) Im Commentar zu Martin's Lehrbuch §§. 88. 144. 145. Die Geschichtserzählnng oder den factischen Klagegrund theilt GenSler weiter ein in den allgemeinen oder generellen (fundamentum agendi proximum) und in den besonderen oder speciellen Klagegrund (fundamentum agendi remotum). Vergl. deshalb die folgenden Noten 2 und 3. 2) Vorträge über den Civilprozeß S. 291. 292. 299. — Wie Gensler, so macht auch Bayer in Betreff der Geschichtserzählung einen Unterschied zwischen dem fundamentum agendi proximum und remotum oder der causa generalis und specialis. Siehe darüber die folgende Note 3. 3) Handbuch des Civi (Prozesses Bd. II 95 S. 4. 10. — „Der histori­ sche Klagegruud," sagt Schmid weiter, „müsse so dargestellt werden, daß daraus nicht blos im Allgemeinen das Verhältniß, woraus der Kläger seinen Anspruch herleite (fundamentum agendi generale), sondern auch die Art der Entstehung desselben (fundamentum agendi speciale; hervorgehe." IG

236 Kläger verfolgte Recht demselben ursprünglich nicht zugestanden

vom

hat, sondern erst nach seiner Entstehung auf ihn übergegangen ist?)

Wenn man hiervon absieht, so stimmen die genannten Rechtslehrer darin

überein, daß der Klagegrund ein doppelter sei, nämlich ein historischer und ein rechtlicher.

Unter jenem verstehen sie die Geschichtserzählung oder die

Darstellung der Klage-Thatsachen, unter diesem dagegen die Rechtsnorm, welche, wenn sie auf jene angewendet wird, den Klageanspruch ergiebt. Man muß sich fragen,

welche

können?

bis

dahin

Sie

der

hängt

wie diese Eintheilung des Klagegrundes,

Rechtswissenschaft

fremd

war,

hat

entstehen

damit zusammen, daß die gemeinrechtliche Do-

ctrin die Klage mit einem Syllogismus?) verglichen hat, in welchem das Gesetz, unter welches die Klage-Tbatsachen subsumirt werden,

den

Vordersatz, die Geschichtserzählung den Mittelsatz und der Klageantrag den Schlußsatz bildet.

Einen praktischen Werth hat diese Zergliederung

der Klage nicht, und die ihr zu Grunde liegende Eintheilung des Klage­

grundes muß meines Erachtens deshalb gemißbilligt werden, weil sie weder in den Quellen des Römischen, noch in denen des gemeinen Rechts

begründet ist?)

Dieselbe hat außerdem den Nachtheil,

daß sie einer

irrigen Vorstellung über die nothwendigen Erfordernisse der Klage Vor­

schub leisten kann.

Man könnte nämlich glauben, daß die gemeinrecht­

lichen Schriftsteller zu diesen nicht bloß den historischen, sondern auch den rechtlichen Klagegrund oder die Angabe des Rechtsgruudes gezählt

wissen wollen.

Dies ist jedoch nicht der Fall; vielmehr sprechen sie

*) Boele „ über den Klagegrund nach gem. und Preuß. Prozesse" in dem Neuen Archive für Preuß. Recht und Verfahren Bd. I S. 175 Note 3 a. E. und Sintenis Erläuterungen Bd. I S. 274. 2) Martin, Lehrbuch des bürgert. Prozesses 100. 144. 145, Boele über den Klagegrund a. a. O. Bd. I S. 174 und S chmid, Handbuch des Civilprozesses Bd. II §. 95 S. 15. 3) Auch v Linde (Lehrbuch des Eivilproz. §. 152 Note 5), Bayer (Vor­ träge über den Civilprozeß S. 200) und Sintenis (Erläuterungen Bd. I S. 268) rathen an, die bisher übliche Eintheilung des Klagegrundes fortan auszugeben. Es kommt dazu, daß — wie sich aus den Noten 3 S. 234 und 1. 2. 3 S. 235 ergiebt - über die technische Bezeichnung der einzelnen, im Klagesundameute begriffenen Elemente die Ansichten sehr verschieden sind; so daß in dieser Beziehung, man kann sagen, eine vollständige Sprachver­ wirrung herrscht. Den Versuch einer Verständigung über diese so abweichende Terminologie hat zwar Brackenhöft (in der Zeitschrift für Eivilrecht und Prozeß Bd. 11 S. 182 bis 191) gemacht; aber ein solcher Versuch muß so lauge mißglücken, als jeder Schriftsteller an seinen Eintheilungen des Klage­

grundes und an seinen Bezeichnungen derselben festhält. Daß diese nicht, wie auch Förster (Klage und Einrede nach Preuß. Recht §. 9 S. 25) meint, zur richtigen Erkenntniß des Klagegrundes und seines Wesens beitragen, versteht sich von selbst.

237 übereinstimmend das Gegentheil aus.

So namentlich Heffter/) wenn

er sagt: „daß zwar ein Klagevortrag nur dann als Basis eines Rechts­

streites dienen könne, wenn daraus das die Klageforderung bedingende

Rechtsverhältniß zu entnehmen sei, daß es jedoch einer Benennung des­ selben nicht bedürfe;" und ebenso Schmids) indem er ausführt: „daß

wenn das zur Begründung des Anspruches nöthige Factum dem Richter

vorgelegt sei, dieser die Rechtsnorm selbst dann anwenden müsse, wenn sich die Partei darauf gar nicht oder nicht in gehöriger Weise berufen habe."

Es erhellt hieraus, daß

auch die Lehrers des gemeinen Recht-,

wenngleich sie die von ihnen erfundene Unterscheidung zwischen dem facti*

schen und dem rechtlichen Klagegrunde aufstellen, dennoch zur Begrün­ dung der Klage nur die Geschichtserzählung, nicht aber die Angabe des

Rechtsgrundes für nothwendig halten.

Ihre Ansichten stimmen daher

mit den gemeinrechtlichen Vorschriften über den Klagegrund überein, und diese sind es, welche, wie nunmehr dargethan werden wird, auch in das

Preußische Recht übergegangen sind.

Abschnitt IIL Preußisches Recht. Zu den Vorschriften des Preußischen Rechts, welche sich auf den Klagegrund beziehen, gehört auch diejenige, welche das Thema der gegen­

wärtigen Abhandlung bildet; wenigstens bin ich der Meinung, daß sie

Hamit in Zusammenhang gebracht werden muß, wenn sie richtig verstan­ den werden soll..

Habe ich daher zur Erläuterung derselben die Dar­

stellung der geschichtlichen Entwickelung des Klagegrnndes nach Römi­ schem und Gemeinem Rechte für nöthig gehalten, so wird sich die Er­ örterung dieser Materie nach Preußischem Rechte nicht auf die Allge­ meine Gerichts-Ordnung beschränken dürfen, sondern auch die neuere Prozeßgesetzgebung in ihren Kreis ziehen müssen. Im Anschlüsse hieran

sollen

gegen das Ende dieses Abschnittes auch andere neuere Prozeß-

x) A. a. O. §. 343 S. 427. 2) A. a. O. Bd. II §. 95 S. 10. 8) Mit Heffter und Schmid stimmen überein: Martin a. a. O. §. 144: „Dieser (der entfernte Klage- oder Rechtsgruud) darf zwar im Bortrage der Klage nie ganz vergessen werden, jedoch genügt dessen darin selbst nur ver­ steckt enthaltenes Ansühren;" v. Linde a a. O. §§.152.190: „Die Angabe des Rechtsgrundes wird auch heutzutage in der Regel zur Vollständigkeit des Klagschreibens gefordert; auf keinen Fall ist aber ein spezielles Anführen desselben immer nothwendig," und Bayer a. a.O. S. 291: »Daß ein Rechts­ grund vorhanden sein muß, ist von selbst klar; indessen ist diese Nothwen­ digkeit eines Rechtsgrnndes keiuesweges so zu verstehen, als wenn derselbe in der Klageschrift immer ausdrücklich angeführt werden müßte."

238 Ordnungen erwähnt werden, um die hierher gehörigen Bestimmungen

derselben mit denen des Preußischen Rechts zu vergleichen. §♦ 1*

Die Allgemeine Gerichts-Ordnung.

Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Codification deS Preußischen Rechts begann, da galten über den Klagegrund die Normen des gemeinen Rechts und die Ansichten seiner Schriftsteller.

Es galt

also namentlich auch der Grundsatz, daß der Klagegrund nur in der

Darstellung der Klage-Thatsachen liege, nicht aber von der Angabe des Rechtsgrundes abhängig sei.

Es fragt sich nun, ob diese Vorstellung

auch im Preußischen Rechte zur Anerkennung gelangt ist?

Ich bejahe

diese Frage und zwar hauptsächlich auf Grund der Vorschrift des §. 20

Titel 5 Theil I der Allgemeinen Gerichts-Ordnung,

welche

von den

„genera und formulae actionum“ spricht. Andere interpretiern diese Vorschrift anders, nämlich so, daß es bei An­

stellung der Klage nicht erforderlich fei, dieselbe mit einem technischen

Namen zu bezeichnen. In diesem Sinne sagt v. Savigny :l) „daß durch diese Bestimmung gegen die ängstliche Beachtung der aus dem Römischen Rechte

hergebrachten Nomenclatur der Klagen gewarnt werde;"

Abegg:2) 3 „daß

nach dem Inhalte derselben auf die Bezeichnung der Klage mit einem Kunst­

namen nichts ankomme;" Koch:') „daß die Benennung der Klage nicht

nothwendig, und hierauf die in Rede stehende Vorschrift zu beziehen sei," und Förster:4)5 „daß das Gesetz auf den Namen der Klage oder darauf, daß sie auf eine Formel gebracht werde, kein Gewicht lege."

Auch fin­

det sich bei den zuletzt erwähnten beiden Schriftstellern') die Bemerkung, „daß der §. 20 nur eine Wiederholung dessen enthalte, was schon in

dem caput 6 X de judiciis (2. 1) gesagt sei," und da man diese Stelle

des canonischen Rechts

auf die practische Gleichgültigkeit der Klage-

1) System Bd. V §. 224 S. 150 Note u. 2) Geschichte der Prenß. Civilprozeß-Gesetzgebung §.39 Note 319, und Abegg's Abhandlung „über das Verhältniß des formellen zu dem materiellen Rechte im Preußischen Prozesse" in der juristischen Wochenschrift von 1839 S. 365. 371 Note d. 3) Preußischer Civilprozeß §. 125 Note 4 und Koch's Aufsatz „Auch im Preußischen Rechte hat die Lehre von den Actionen practischen Werth" in der juristischen Wochenschrift von 1836 S. 461. 4) Klage und Einrede nach Preußischem Rechte §. 9 S. 27 und §. 10 S. 31 5) ster a. 9) lehrer.

a. E. Koch, Note 17 zu §.. 20 Tit. 5 Th. I der Allg. Ger.-Ordn., und För­ a. O. Vorwort S. V. Siehe oben S. 226 und die daselbst Note 2 ff. angeführten Rechts­

239 namen bezieht, so ist mit jener Bemerkung wiederum nichts anderes ge-

meint, als daß auch im Preußischen Rechte die Entbehrlichkeit der Klage­ namen habe ausgesprochen werden sotten?)

Ich halte diese Auslegung des §. 20 aus logischen und grammati­ schen Gründen nicht für richtig. — Logisch unrichtig ist sie deshalb, weil

es sich nach Preußischem Rechte ganz von selbst versteht, daß die Klage, welche angestellt wird, nicht mit einem bestimmten Namen genannt zu werden braucht.

Denn, wie ich oben?) gezeigt habe, war eine solche

Benennung der Klage schon im Römischen und im gemeinen Rechte nicht nothwendig, und für das Preußische Recht muß man dasselbe um so mehr behaupten, als dieses eine Nomenclatur.der Klagen überhaupt

nicht kennt.

Es wäre also in der That sehr wunderbar, wenn die All-

gemeine Gerichts-Ordnung

die Anwendung von Klagenamen,

die ihr

selbst fremd sind, hätte verbieten oder für überflüssig erklären wollen. Aber jene Interpretation deS §. 20 ist auch grammatisch unrichtig, weil sie mit dem Wortlaute desselben im Widersprüche steht.

Denn man

braucht ihn nur ein Mal zu lesen und man wird sich sagen müssen, daß darin auch nicht mit einem Worte von dem „Namen" der Klage,

sondern vielmehr von den „Arten oder Gattungen" derselben die Rede ist.

Daß. aber zwischen diesen beiden Begriffen ein Unterschied obwal­

tet, ist nicht zu verkennen.

Denn unter dem Namen der Klage versteht

man die technische Bezeichnung derselben, wie sie durch die juristische

Kunstsprache eingeführt ist;

in welchem Sinne man aber die im §. 20

erwähnten Arten oder Gattungen der Klage aufzufassen habe, daS läßt

sich nur beantworten, wenn die Grundsätze der Allgemeinen Gerichts-

Ordnung über den Klagegrund im Zusammenhänge betrachtet werden. Daß ihr ebenso,

wie dem Römischen und gemeinen Rechte

der

Begriff des Klagegrundes bekannt ist, braucht nicht gesagt zu werden.

Denn derselbe gehört zu den wesentlichen Bestandtheilen der Klage und kann insofern in keiner Prozeßgesetzgebung entbehrt werden.

Worin aber

der Klagegrund nach der Vorstellung der Gerichts-Ordnung besteht, das hängt von den Erfordernissen ab, welche dieselbe zur Klage für noth0 Auch Heffter in seinem Civitprozeßrecht scheint dies anznnehmen. Denn zu den Worten im §. 122 daselbst:

„Jede ans dem objectiven Rechte nach-

zmveisende Privatbesugnih ist auch klagbar, ohne daß es auf die ursprüng­

liche Rechtöqnelle oder auf einen bestimmten Namen der Klage ankommt" — citirt er als Belag u. a. den §.20 Tit. 5 Th. I der Allg. Ger.-Ordn. —

Ein Gleiches gilt von dem noch weiter unten zu erwähnenden „Entwürfe

einer Civilprozeß-Ordnung" vom Jahre 1818,

welcher in den Motiven zu

§.208 S. 85 ebenfalls unter Hinweisung auf den §. 20 Tit. 5 Th. I der Allg. Ger.-Ordn, sagt, „daß dieselbe die technische Bezeichnung des geltend

gemachten Klagerechtö verwerfe." 2) Siehe oben S. 226 und die Noten 1 u. 2 daselbst.

240 wendig hält.

Diese Erfordernisse werden in §. 17 Tit. 5 Th. I*) an­

gegeben, wenn daselbst vorgeschrieben ist: Eine jede Klage muß enthalten

1) eine deutliche, vollständige und zusammenhängende Erzählung des Facti, in welchem der Kläger seinen Anspruch gründet,

2) eine vollständige und bestimmte Anzeige der zum Beweise die­

ses Facti vorhandenen Mittel und 3) einen der Sache und der Intention des Klägers gemäßen, deut* lichen und bestimmten Antrag.

Wenn man von der im Preußischen Rechte für erforderlich erach­ teten Angabe der Beweismittel und von dem Klageantrage abfieht, so

bleibt die Erzählung des Facti übrig,

in welchem, wie das Gesetz sich

ausdrückt, der Kläger seinen Anspruch „gründet."

Schon dieses Wort

weis't darauf hin, daß man den „Grund" der Klage nur in den That­

sachen zu suchen hat, welche sie enthält. Dasselbe ergiebt sich aus einer Reihe von Paraltelstellen, von denen nur einige angeführt werden sollen.

So heißt es im §. 3 der Einleitung zur Gerichts-Ordnung: Jeder Rechtsstreit setzt eine Thatsache voraus, aus welcher die

streitige Befugniß oder Obliegenheit entspringt oder worauf fie gegründet sein soll;

sowie im §. 5 daselbst:

In jedem Prozesse muß vor allen Dingen untersucht werden, waö für Thatsachen dabei zu Grunde liegen;

und deshalb soll nach §. 2ö ebenda:

der

Kläger über seinen Anspruch und

über die Thatsachen,

auf welche er sich dabei gründet, umständlich vernommen werden.

Es wird ferner im §. 4 Nr. 4 Titel 5 von der Jnsormationseinziehung gesagt:

daß

von

dem Kläger

eine ausführliche Erzählung der That­

sachen, des Handels oder Borganges, worauf derselbe seinen An­ spruch gründen wolle, gefordert, mit einem Worte die species facti

klar und bestimmt auseinandergesetzt werden müsse, damit sogleich übersehen werden könne, wovon eigentlich die Rede sei, und wie

durch das vorgetragene Factum der

Anspruch des Klägers be­

gründet werden solle,

und im §. 32 Titel 10 wird für die Regulirung deö statu« causae et controversiae vorgeschrieben:

daß mit der Auseinandersetzung des dem Prozesse zu Grunde lie­ genden Hauptfactums oder Geschäfts der Anfang gemacht und

hiervon die sonst noch vorkommenden Nebenfacta getrennt werden

müßten. *) Dieser §. 17 ist aus dem §. 14 Tit. 3 Th. I des Corpus Juris Fride­ ricianum hervorgegangen und stimmt auch wörtlich mit ihm überein.

241 Endlich enthält der Tit. 19 bei der Lehre von der Widerklage in

den §§♦ 2. 3. 9 und 11 mehrere Bestimmungen/) welche dahin gehen: daß die zum Grunde der Gegenforderung liegenden Facta ebenso, wie die Facta der Klage gehörig und vollständig dargelegt wer-

den sollen, damit sich feftstellen lasse, aus welchem Geschäfte der Gegenanspruch entstanden sei. In allen diesen Stellen ist ebenso, wie in dem §♦ 17 des fünften Titels davon die Rede, daß der Kläger zur Begründung seiner Klage

nur diejenigen „Thatsachen oder Facta" anzuführen brauche, auf welche

er seinen Anspruch stützen wolle.

Dagegen ist nirgends gesagt, daß der

Kläger diese Thatsachen unter einen rechtlichen Gesichtspunkt stellen oder

mit anderen Worten, daß er den Rechtsgrund seiner Forderung in der Klage angeben müsse.

Indem nun die Gerichts-Ordnung dieses recht­

liche Element unter den wesentlichen Bestandtheilen der Klage nicht er­

wähnt, hat sie stillschweigend anerkannt, daß der Kläger das Rechtsver­ hältniß, aus welchem er seinen Anspruch herleitet, oder die Gesetzesstelle, welche er darauf angewendet wissen will, nicht nöthig hat hervorzuheben, sondern daß es genügt, wenn die Erzählung der Thatsachen so beschaffen

ist, daß daraus entnommen werden kann, ob und welches Rechtsverhält­

niß unter den Parteien besteht?) Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß

die Gerichts-Ordnung die Frage,

ob es der Angabe des Rechtsgrun­

des zur Begründung der Klage bedürfe, nicht blos stillschweigend, son*) Insbesondere heißt es im 2 a. a. O.: „Der Depntirte muß den Beklagten über die zum Grunde der Gegenforderung liegenden Facta ebenso, wie bei den Factiö der Klage vorgeschrieben ist, umständlich vernehmen und selbige gehörig auöeinandersetzen," sowie im §. 11 daselbst: „Es muß der in dem Hauptprozeffe bestellte Deputirte, bei welchem die Gegenforderung an­ gegeben ist, dieselbe gehörig und vollständig, sowie jedes Factum, auf welches eine Klage gegründet werden soll, aufnehmen." 2) Dies ist auch die Ansicht von Stellter in seinem Preuß. Eivilprozeß S. 43. 44, und die von Grävell in seinem Commentar zur Allg. Ger.-Ordn., wo er sich Bd. I §. 176 S. 494 so ausdrückt: „Daß das Verhältniß, welches zwischen den streitenden Parteien besteht, ein rechtliches ist, das heißt ein solches, aus welchem Rechte und Pflichten von bestimmter Beschaffenheit sich

ergeben, dafür beruht zwar der zureichende Grund im Gesetze; aber eben die­ ser Grund ist doch nicht die Entstehungsursache, der Ursprung oder das Fun­ dament des bestehenden Rechtsverhältnisses, sondern nur die rechtliche Bedingung der Wirksamkeit derjenigen Begebenheiten, durch welche dieses RechtSverhättniß erzeugt worden ist. Eben deswegen gehört die Berufung auf das Recht

oder die Unterordnung des angeführten Thatbestandes unter die Bestimmun­ gen des Gesetzes, weder zu den wesentlichen Bestandtheilen des Prozesses, noch zur Begründung der Rechtsverfolgung beider Theile, sondern es ist solches

lediglich ein Vorwurf der Ausübung des richterlichen Berufs."

242 dern auch ausdrücklich beantwortet hat.

Hierauf eben scheint mir der

§. 20 des fünften Titels und die Vorschrift desselben hinzudeuten, welche

vor der ängstlichen Beachtung actionum warnt.

der sogenannten genera und formulae

Schon das Corpus Juris Fridericianum vom 26. April

1781, aus welchem bekanntlich die Allgemeine Gerichts-Ordnung hervor­

gegangen ist, enthielt mehrere auf diese genera und formulae actionum bezügliche Bestimmungen, welche hier des historischen Zusammenhanges wegen nicht übergangen werden dürfen. In dem Vorbericht dieser Pro­ zeß-Ordnung wird unter Nr. VI daran erinnert: daß der Richter weder bei der Untersuchung, noch bei der Ent­ scheidung eines Prozesses an die sogenannten, von den Rechts­

lehrern erdachten genera et formulas actionum gebunden sei; vielmehr das ganze factum in seinem völligen Zusammen­ hänge entwickeln und alsdann blos nach den Vorschriften der Ge­ setze bestimmen müsse, was für Befugnisse und Verbindlichkeiten in Ansehung beider Parteien aus diesem facto entspringen. Weiter heißt es im §. 16 Titel 3 Theil I, wo von der Aufnahme und Instruction der Klage gehandelt wird, wörtlich: Bei Ausnehmung der species facti und Abfassung deö Hauptbe­ richts über die Klage muß zwar der Assistenzrath sowohl, als sämmtliche Gerichtspersonen im weiteren Verfolge der Instruction das punctum Juris insoweit im Auge haben, daß sie darnach bei einem jeden vorkommenden facto beurtheilen, in wie fern daraus nach Vorschrift der Gesetze ein Anspruch oder Einwand entsprin­ gen könne, und sich also bei offenbar frivolen und unerheblichen Nebenumständen nicht aufhalten. Sie müssen sich aber dabei an die im Römischen Rechte bestimmten oder an die von den doctoribus erdachten genera et formulas actionum durchaus nicht binden, folglich kein angegebenes factum bloß um deßwillen

verwerfen oder unerörtert lassen, weil solches nach der Meinung der Assistenten oder des Richters auf diese oder jene Gattung von

Actionen nicht zu passen scheint. Endlich ist für die Abfassung des Erkenntnisses im §. 6 Tit. 13 Th.I vorgeschrieben: daß bei der Entscheidung lediglich auf die nunmehr entwickelte

Lage der Sache und auf das, was nach einer richtigen Applica­ tion des Gesetzes aus diesem facto folge, keineswegs aber auf

gewisse genera et formulas actionum Rücksicht genommen werden solle. Von diesen GeseheSstellen ist zwar die erste und die letzte in die

Allgemeine Gerichts-Ordnung nicht übergegangen;*) aber um eine Vor-

•) Die Stelle des Vorberichts zum Corpus jur. Frideric., welcher allge-

243 schrift derselben zu interpretiren, ist es erlaubt, sich auch auf jene älteren Bestimmungen zu berufen, wenn sie auch nur noch eine historische Be­

deutung haben.

Betrachtet man aber den Inhalt derselben, so ist nicht

zu verkennen, das; die genera und formulae actionum in einen Gegen­

satz gestellt sind zu dem Factum der Klage. Richter bei der Instruction des Prozesses

Dieses, heißt es,

soll der

in seinem Zusammenhänge

entwickeln, ohne an jene gebunden zu sein, und auf dieses soll er bei der

Entscheidung des Prozesses das Gesetz richtig anwenden, nicht aber auf jene Rücksicht nehmen.

Derselbe Gegensatz ergiebt sich aus der zweiten

der oben cilirten Gesetzesstellen oder, was dasselbe ist, aus dem hiermit

übereinstimmenden §. 20 des fünften Titels der Gerichts-Ordnung, ins­

besondere wenn man diesen mit den ihm vorhergehenden Vorschriften in Verbindung bringt.

Nachdem nämlich im Z. 17 daselbst die Erzäh­

lung des Facti, auf welches der Kläger seinen Anspruch stutzt,

als ein

nothwendiges Requisit der Klage aufgestellt ist, wird in Bezug auf diese

Geschichtserzählung in den folgenden §§. 18 und 20 gesagt, daß sie die erforderliche Vollständigkeit mit einer bündigen Kürze verbinden, also

keine erheblichen Thatsachen weglassen und keine unerheblichen aufnehmen

Wusse.

Im Gegensatze hierzu heißt es wiederum, soll man sich bei der

Beantwortung der Frage, welche Thatsachen der Klage erheblich und

welche unerheblich seien, an die genera und formulas actionum nicht ängstlich binden.

Was aber bildet, wenn von dem Inhalte der Klage

die Rede ist, den natürlichen Gegensatz zu den ihr zu Grunde liegenden

Thatsachen?

Doch nichts Anderes, als das aus diesen Thatsachen ent­

standene Nechtsverhältniß, welches den Nechtsgrund der Klage ausmacht.

Auf dieses Rechtsverhältniß oder auf diesen Nechtsgrund hat, meine ich, oie Gerichts-Ordnung Hinweisen wollen, wenn sie in dem §. 20 vor einer

ängstlichen Rücksicht auf die verschiedenen Arten der Klage warnt. Denn die Art der Klage wird eben durch das Nechtsverhältniß bestimmt, aus

welchem sie hervorgegangen

ist, und so mannigfaltig die Rechtsverhält­

nisse sind, so verschieden sind auch die ihnen entsprechenden Arten von Klagen, welche, wie das Corpus Juris Fridericianum sich ausdrückte, von

den Nechtslehrern erdacht oder, wie die Gerichts-Ordnung sagt, von den­ selben gebildet*) seien. Wollte man sich indessen, fährt sie in dem 8. 20

meine Grundsätze enthält, vertritt jetzt die Einleitung zur Allg. Ger -Ordn,

und an die Stelle des §. 6 I, 13 des Corp. jur Frideric. ist der §. 5a I, 10 der Allg. Ger. - Ordn, getreten, welcher in Verbindung mit §§. 21. 23 1,5 strengere Grundsätze über die Aenderung des Klagefundaments anfstellt. *) Förster (Klage und Einrede nach Prenß. Rechte §. 9 L. 27 und §. 10 S. 31 a. E.) scheint diesen Ausdruck der Gerichts-Ordnung zu mißbilligen, indem er sagt, „daß dieselbe den Richter von der ängstlichen Rücksicht auf die von den Rechtslehrern, wie sie meine, erfundenen genera und formulae actionum befreie." Indessen hat die Gerichts-Ordnung mit dieser Meinung

244 fort, an diese verschiedenen Arten von Klagen ängstlich binden, so würde es leicht vorkommen können, daß eine Thatsache, welche der Kläger zur

Unterstützung seines Anspruches geltend macht, auf diese oder jene Gat­ tung von Klagen nicht zu passen schiene. Dies soll aber, wie am Schlüsse des §. 20 ausdrücklich bemerkt wird, kein Grund sein, dieselbe zu ver­

werfen; eben deshalb, weil die Gerichts-Ordnung nicht will, daß bei

der Aufnahme und Instruction der Klage ängstlich abgewogen werde, ob und welches Nechtsverhältniß unter den Parteien bestehe, sondern weil sie will, daß in dem Stadium des Prozesses, in welchem die Ent­

scheidung desselben vorbereitet wird, nur die dem Klageanspruche zum

Grunde liegenden Thatsachen vollständig ermittelt werden sollen.

Dagegen kann man auch nicht geltend machen, daß nach dem Inhalte des §. 20 selbst schon in diesem vorbereitenden Stadium des Prozesses aus

die gesetzlichen Vorschriften in so weit Rücksicht genommen werden soll,

um danach die Erheblichkeit oder Unerheblichkeit der angeführten That­

sachen beurtheilen zu können.

Denn diese Bestimmung hat ebenso, wie

die Warnung vor der ängstlichen Beachtung der verschiedenen Arten der

Klage nicht die Bedeutung einer strengen Vorschrift, welche mit RotlfWendigkeit zu befolgen wäre, sondern nur die einer Anweisung, deren leitender Gedanke der ist, daß der Richter, welcher die Klage aufnimmt

und die Instruktion des Prozesses leitet, genug gethan hat, wenn er den Inbegriff der Thatsachen, aus welchen der Klageanspruch besteht, erör­

tert und so die Grundlage für seine Entscheidung gewonnen hat. Anders freilich steht es mit dem urtheilenden Richter. Für ihn haben

die Thatsachen an sich keine und nur dann eine Bedeutung, wenn er die­

selben in der rechtlichen Verbindung,

in welcher sie stehen, betrachtet

und den Rechtßsatz, welcher darauf zur Anwendung gebracht werden muß,

aufsucht.

Durch diese Unterstellung der Thatsachen unter das Gesetz ist

es allein möglich, das zwischen den Parteien bestehende Rechtsverhältniß

juristisch zu constrniren, und das eben ist die Aufgabe des erkennenden Richters, wenn er beurtheilen will, welchen Rechtsanspruch der Kläger

habe.

Wollte er sich aber damit begnügen, blos im Allgemeinen zu

prüfen, ob der Kläger Recht oder Unrecht habe, so würde er in Gefahr

sein, sich in das Unbestimmte zu verlieren.*)

nicht so Unrecht.

Vor dieser Gefahr ist er

Die Rechtsverhältnisse selbst freilich, wie sie sich nach den

verschiedenen Richtungen des Lebens hin den RechtSlehrern nicht erdacht werden; hältniffe nach ihren Eigenthümlichkeiten Klagen unter gewisse Rubriken bringen, sagen, daß sie die Rechtsverhältnisse und

immer neu entwickeln, können von aber indem dieselben die Rechtsvercintheilen und die dazu gehörigen so kann man allerdings von ihnen deren Klagen theoretisch fixiren und

dieselben „bilden". *) So sagt v. Savigny in seinem System Bd. V §. 224 S. 148.

245 geschützt, wenn er sich der Eigenthümlichkeiten der einzelnen Rechtsver­ hältnisse und der Verschiedenheiten der daraus entspringenden Klagen bewußt ist.

Diese sind es daher, deren der urtheilende Richter zum

Unterschiede vom Jnstruenten allerdings nicht entratben kann, weil sie

ihn in den Stand setzen, den Klageanspruch richtig zu individualisiren.

Bisher ist die in Rede stehende Vorschrift des §. 20 nur insoweit, als sie den Richter betrifft, betrachtet worden.

Sie bat aber noch eine

andere Seite, indem sie sich auch auf die streitenden Parteien selbst be­ zieht.

Denn die in dem §. 20 enthaltene Anweisung ist nicht blos, wie

es daselbst heißt, an die richterlichen Personen, sondern noch an die Ver­

treter und Beistände der Parteien oder, was dasselbe sagen will, an die

Parteien selbst und insbesondere an den Kläger gerichtet. Auch er wird davor gewarnt,

sich bei der Begründung seines Anspruches au die ver­

schiedenen Arten von Klagen nicht ängstlich zu binden.

Wenn es aber

wahr ist, das; die Art der Klage durch das ihr zu Grunde liegende Rechtsverhältnis bedingt wird, so ist mit jener Warnung an den Klä­

ger ebenfalls nichts Anderes gesagt, als daß auch er nicht dieses oder jenes Rechtsverhältnis, welches nach seiner Meinung zwischen ihm und

seinem Gegner besteht, ängstlich im Auge behalten, sondern nur diejeni­

gen Thatsachen, auf welchen seine Klage beruht, zur Kenntniß des Rich­ ters bringen soll. Daraus folgt, daß der Kläger überhaupt nicht nöthig

hat, jenes Rechtsverhältnis; und den juristischen Charakter desselben oder, was damit gleichbedeutend ist, den Rechtsgrund seiner Klage darzuthun.

Wenn man annimmt, daß die Gerichts-Ordnung diesen Grundsatz hat

aussprechen wollen, so gewinnt man dadurch das Resultat, daß sich die­ selbe den gemeinrechtlichen Normen über den Klagegrund angeschlossen

hat.

Sie bezeichnet daher auch nach dem Vorgänge der gemeinrecht­

lichen Schriftsteller den Klagegrund mit dem Kunstausdrucke des funda-

mentum agendi; *) aber sie hat die von denselben herrührende Unter­

scheidung zwischen dem fundamentum agendi proximum und remotum nicht angenommen.

Diese Unterscheidung konnte und mußte auch um

so mehr beseitigt werden, als die Gerichts-Ordnung ebenso, wie das

gemeine Recht selbst unter dem Klagegrunde nur die Thatsachen, nicht

aber den RechtSgrund der Klage versteht. Wenn ich mit dieser Auffassung, wie ich sie aus der Interpretation

des besprochenen §. 20 gewonnen habe, die Meinungen der Schriftsteller, welche diesen Gegenstand berühren, vergleiche, so finde ich, daß sie theils

*) §. 5a I. 10 der Allg. Ger. - Ordn., dessen Schlußworte lauten: hat also zwar bei der im 5. Titel tz. 21

„Es

dem Kläger gegebenen Erlaubniß,

noch wahrend des Laufes der Instruction seinen Antrag (petitum) zu ändern,

sein Bewenden; aber auf eine Veränderung des Klagegruudeo selbst (fundamentum agendij kann diese Befugnis) nicht ausgedehnt werden.J

246 davon abweichen, theils damit übereinstimmen. sicht hat Boele?)

Freilich sagt auch er:

Eine abweichende An­

„daß die Gerichts-Ordnung

unter dem von ihr adoptirten Kunstnamen (fundamentum agendi) den speciellen Klagegrund, dagegen den entfernten unter der Verbannungs­

formel der formulae und nonrina actionum verstanden wissen wolle." Indessen fügt er hinzu:

„daß wenn auch der Unterschied nach nomina

und formulae actionum beseitigt sei, doch die Individualität, welche der

Prozeß durch das besondere der Klage zum Grunde gelegte Rechtsver­

hältniß erlange, nicht entbehrt werden könne.

Denn reinweg sachlich

lasse sich dieser Punkt einmal nicht nehmen, und ohne den bestimmten Rechtsbegriff sei der Jurist, unberathen; weil die ganze Rechtswissen­ schaft und die juristische Kunst auf der Einteilung und Distinction der

verschiedenen Rechtsverhältnisse beruhe, ohne welche das Rechtsprechen

nicht möglich sei."

Dieser Anschauung ist auch Förster8) beigetreten.

Er kann zwar ebenfalls nicht leugnen, „daß es nach Preußischem Rechte

auf die Angabe des Rechtssatzes,' welcher den Thatsachen der Klage die

Bedeutung eines Rechtsanspruches verleihe, nicht ankomme."

Aber er

hält trotzdem den Rechtsgrund der Klage keineswegs für bedeutungslos, indem er meint, „daß auch die Gerichts-Ordnung auf den Rechtsgrund

der Thatsachen das entscheidende Gewicht lege, um die daraus hergelei­

tete Klage rechtlich zu individualisiren, und daß es Sache der Praxis und der Wissenschaft sei, für jedes einzelne Rechtsinstitut die concrete

Natur der Klage zu entwickeln."

Die Boele-Förstersche Ansicht scheint

mir namentlich darin zu fehlen, daß sie nicht genau unterscheidet, was zur Begründung der Klage und was zur richterlichen Beurtheilung der­ selben gehört.

Daher kommt es, daß sie Wahres mit Falschem vermischt.

Es ist richtig, daß das Rechtsverhältniß, aus welchem die Klage hervorgegangen ist, derselben eine eigene Individualität verleiht; richtig auch,

daß der Jurist ohne die Kunst der Rechtswissenschaft

nicht bestehen

kann, weil er, um das Gesetz auf das streitige Factum richtig anzu­

wenden, dasselbe unter einen bestimmten Rechtsbegriff bringen muß. Aber diese Operation findet erst dann statt, wenn es sich um das Urtheil des

Richters, nicht schon wenn es sich um die Begründung der Klage handelt.

*) In seiner Abhandlung

„über den Klagegrnnd nach gemeinem und

Preußischem Prozesse" (Neues Archiv für Prenß Recht und Verfahren Bd. I S. 174. 185 ff.) — Es ist auffallend, daß in dieser Abhandlung immer von „nomina und formulae actionum“ anstatt, .wie es in dem §. 20 I, 5 der

Allg. Ger.-Ordn. und in den damit zusammenhängenden Vorschriften des. Corpus Juris Fridericianum heißt, von „genera und formulae actionum“ die Rede ist. 8) In seinem Werke

§. 9 S. 25 ff.

„über Klage und Einrede nach Preuß. Rechte"

247 Es ist deshalb unrichtig, wenn man meint,1) daß die GerichtsOrdnung mehr, als die Darstellung der Klage-Thatsachen und nament­ lich die Herstellung des rechtlichen Zusammenhanges zwischen diesen und

dem Klageanspruche verlangt. Daß dies nicht der Fall ist, hat Grävell2) in scharfsinniger Weise dargethan. Denn er weift nach, „daß die Bestimmungen und Eintheilungen des Rechts das Fundament der Klage nichts angehen, und daß dem Kläger nichts weiter obliege, als

die Thatsachen, worauf er seinen Anspruch gründe, anzugeben, weil diese Angabe einzig und allein das Fundament seiner Klage bilde." Ich führe die Grävellsche Ansicht nicht an als einen Grund für die Rich­ tigkeit der auch von mir vertheidigten Auffassung, sondern als ein Zeug­ niß dafür, daß diese eine Autorität für sich hat, durch welche sie wenig­ stens unterstützt wird. Unterstützt wird sie auch durch die Vorschriften der neueren Prozeßgesetzgebung, welche ich jetzt kurz erwähnen will.

§. 2. Die neuere Prozeßgesetzgebung. Die neuere Prozeßgesetzgebung, wie sie namentlich auf den beiden Verordnungen vom 1. Juni 1833 und vom 21. Juli 1846 beruht, ge­

währt für die Geschichte des Klagegrundes nur eine spärliche Ausbeute. Die Verordnung vom 1. Juni 18333) schreibt im §. 8 nur allgemein vor: daß die Klage, um eingeleitet zu werden, vollständig und

begründet sein müsse. Bestimmter spricht sie im §. 12: von den in der Klage angeführten Thatsachen, welche nach §. 14 von dem Verklagten vollständig beantwortet werden sollen. Ebenso sagt die Instruction vom 24. Juli 1833 4j im §. 29: daß der Kläger Alles, was er vom Verklagten verlange, *) Auch der „Entwurf einer Civilprozeß-Ordnung" aus dem Jahre 1848, von welchem noch weiter unten die Rede sein wird, theilt diese Meinung. Es heißt daselbst in den Motiven zu §. 208 S. 85, „daß die Allg. Ger.Ordn. die Darstellung des Rechtsgrundes verlange, ohne sie gleichwohl als ein Erforderniß der Klageschrift vorzuschreiben." Znm Beweise dessen wer­ den die §§. 17 bis 20 1,5 der Allg. Ger.-Jrdn. citirt, aus denen aber, wie

ich genugsam gezeigt zu haben glaube, gerade das Gegentheil hervorgeht. 2) In seinem Eommentar zur Allg. Ger.-Ordn. §. 174 S. 487 u. §. 176 S. 495. — Bergt. auch die oben Note 2 S. 241 citirte Stelle aus demselben Werke von Grävell. 3) Gesetz-Sammt, von 1833 S. 37 bis 48 in Verbindung mit Boele a. st. O. Bd. I S. 199 ff. 4) v. Kamptz Jahrbücher für die Preuß. Gesetzgebung B^. 41 S. 437 bis 459.

248 in seiner Klage anzubringen habe, und daß nur insoweit die Klage­ beantwortung dem Kläger Veranlassung zur Anführung neuer

Thatsachen gebe, die Erörterung derselben im Fortgänge des Prozesses noch zulässig sei. Für diesen Fall bestimmt ferner die Verordnung vom 21. Juli 1846 x)

im Z. 7 und 8: daß wenn Thatsachen, welche in der Klage nicht vor­ gekommen seien, in der Klagebeantwortung angeführt werden, der Kläger noch mit seiner Replik gehört, daß dagegen fernere auf Thaisachen beruhende Entgegnungen nicht vorge­

bracht werden können.

Endlich soll«)

auf die angeführten Thatsachen die Beweisaufnahme gerichtet und von der richterlichen Beurtheilung der so

fest gest eilten Thatsachen die Beantwortung der Frage ab­ hängig gemacht werden, ob der Klageanspruch rechtlich begründet sei oder nicht. Man ersieht aus diesen Vorschriften, daß auch die neuere Prozeß­ gesetzgebung, indem sie die „Anführung der Thatsachen" nachdrücklich betont, diese zur Begründung der Klage für nothwendig, aber auch für ausreichend hält. Davon, daß es zur Klage auch der Angabe des Rechts­ grundes bedürfe, ist in den allegirten Verordnungen nirgends die Rede, und indem sie hiervon stillschweigend abstrahiren, haben sie das von der Gerichts-Ordnung ausgestellte Princip über den Klagegrund adoptirt. Indessen scheint es, als ob dieses Princip bei Gelegenheit der Ge­ setz-Revision, welche im Laufe dieses Jahrhunderts veranstaltet worden ist, hat verlassen werden sollen. Denn schon der Entwurf der ProzeßOrdnung vom Jahre 1830') wollte im §. 104: daß die Klage außer den Thatsachen auch die Rechtsgründe, worauf sich der Kläger stütze, enthalten solle. In den Motiven hierzu wird die Behauptung, daß die Klage nur daS Factum darzuthun brauche, als ein Mißverständniß bezeichnet und aus­ geführt, „daß das durch die Klage geltend gemachte Recht zwar ein factisckes Verhältniß voraussetze, aber seinen Grund nicht in diesem allein, sondern zugleich in dem Gesetze habe. Wer also dieses Recht durch die Klage verfolgen wolle, der müsse sowohl den factischen, als 1) Gesetz-Sammlung von 1846 S. 291 bis 302 in Verbindung mit För­

ster a. a. O. §. 10 S. 34 ff. 2) Bergt. §§. 12. 25. 29. 30 der Verordnung vom 1. Juni 1833 und

§§.9. 11 der Verordnung vom 21. Juli 1846. 3) Derselbe ist in dem Pensum IV der Gesetzrevisiou, betreffend den III. Theil des Berichts über die Revision der ersten 46 Titel der Prozeß-Ord­

nung, enthalten und im Jahre 1830 zu Berlin erschienen.

249 auch den gesetzlichen Grund desselben angeben, und es lasse sich kein Klage­ antrag denken, der nicht durch eine Schlußfolge aus Rechtssätzen ver­

mittelt werde."

Hiermit stimmt auch der Entwurf einer Civilprozeß--

Ordnung aus dem Jahre 1848 l) überein.

Denn auch er zählt im §. 208

unter den Bestandtheilen der Klage auf: nicht nur die Erzählung der Thatsachen, sondern auch die Angabe des Rechtsgrundes, worauf der Kläger seinen Anspruch sowohl

in Ansehung der Hauptsache, als in den Nebenpunkten stütze.

Die Nothwendigkeit dieses Erfordernisses wird durch die Erwägung motivirt, „daß wenn der Nechtsgrund in der Klage nicht dargestellt werde, eine unbestimmte, in der Dunkelheit ohne leitendes Princip herumtastende

Praxis die Folge davon sei, und um diese Unsicherheit zu beseitigen, müsse der juristische Klagegrund d. h. die Rechtsregel, unter welche die erzählte

Geschichte falle, bezeichnet werden."

Ob diese Gründe zutreffend sind

oder nicht, kann erst weiter unten geprüft werden?)

Hier, wo es sich

nur um die geschichtliche Entwickelung des Klagegrundes handelt, muß ich mich darauf beschränken, jene in den erwähnten Entwürfen hervor­ tretende Abweichung von dem Grundsätze der

Gerichts-Ordnung über

den Klagegrund zu constatiren, — eine Abweichung, welche sich, wie gleich gezeigt werden wird,

in anderen neueren Prozeß-Ordnungen nicht

findet. §• 3. Die ausländischen Prozeß-Ordnungen.

Unter den ausländischen Prozeß-Ordnungen der Neuzeit erwähne ich zunächst den Code de procädure civile vom 24. April 1806. selbe trifft über den Klagegrund im Artikel 1

und 61

Der­

folgende Be­

stimmung : Tonte citation devant les juges de paix enoncera sommairement

l’objet et les moyens de la demande et l’exploit d’ajournement

contiendra l’objet de la demande et l’expose sommaire des moyens. Die Schlußworte stellen nicht etwa, wie man behauptet hat,') eine sum­

marische Darlegung der Rechtsgründe als ein Erforderniß der Klage auf, sondern sie sagen nur, daß diese eine kürzliche Auseinandersetzung des Klagegrundes, d. h. der Klage-Thatsachen enthalten müsse?)

In die-

0 Derselbe ist im amtlichen Auftrage von Koch redigirt und im Jahre 1848 ebenfalls zu Berlin erschienen. 2) Es wird davon unten die Rede sein. 3) So z. B. der oben Note 1 d. S erwähnte Koch'sche (snhvurf vom Jahre 1848 in den Motiven zu §. 208 S. 85. 4) Wenigstens lauten in der Erhard'schen Uebersetzung der Französischen Elvil-GerichtS Ordnung die Artikel 1 und 61 so: „Es muh jede Borladung vor den Friedensrichter den Gegenstand und Grund der Klage kürzlich aus-

250 fern Sinne sprechen sich auch die den Klagegrund betreffenden Vorschrif­ ten aus, welche sich in den Prozeß-Ordnungen Deutscher Staaten finden. So bestimmte schon die Sächsische Prozeß- und Gerichts-Ordnung vom 10. Januar 1724 im Titel V §. 1:

Es soll bei den Klaglibellen auf die subtilitates Juris nicht allzu sehr gesehen, sondern selbige, wenn nur das Factum richtig prae-

mittiret, so viel als möglich snstiniret werden, desgleichen die Allgemeine Gerichts-Ordnung für Oesterreich vom 1. Mai

1781 im Kapitel I §§. 3 und 12: der Kläger soll in der Klage das Factum, woraus er sich ein Recht erwachsen zu sein glaubt, vollständig und mit allen Um­

ständen, welche zur Bewährung seines Rechts dienlich sein können, anbnngen; dieses Factum muß aber ohne Einmengung eines Ver­ nunftschlusses oder einer Rechtsstelle erzählt werden, und ebenso die Prozeß-Ordnung für das Großherzogthum Baden vom 31. December 1831 im ß. 247 und 249:*)

der Kläger hat die Thatsachen, die seinem Ansprüche zu Grunde liegen, vollständig und deutlich anzuführen; zugleich ist ihm ge­ stattet, die Rechtsgründe seiner Klage ebenfalls anzuführen. Dieselben Grundsätze sind auch in dem Entwürfe der Bayerischen Prozeß-Ordnung vom Jahre 18252) und in demjenigen der Württem­

bergischen Civilgerichts-Ordnung vom Jahre Denn jener sagt in §§. 212 und 215:

18443)

ausgesprochen.

drücken und die Ausfertigung der Ladung den Gegenstand der Klage und die kürzliche Auseinandersetzung des Klagegrundes enthalten." — Auch Dabelow sagt in seinem „Französischen Civilverfahren" §§. 29 uiii) 34, „daß die Klage, um gegründet (fondee) zu sein, den Klagegrund, d. h. die ihr zu Grunde lie­ genden Thatsachen darthun müsse." lj Bergt, auch den tz. 350 a. a. O., in welchem es heißt: „die schrift­ lichen Vorträge der Parteien müssen die Thatumstände, durch welche An­ sprüche begründet werden sollen, bestimmt und deutlich anführen; sie können überdies nicht nur die Gesetze und Rechtsgründe bezeichnen, auf welchen die Ansprüche beruhen sollen, sondern auch Rechtsaussührungen enthalten." 2) Außerdem ist im Jahre 1827 ein revidirter Entwurf der Baierischen Prozeß-Ordnung erschienen, welcher aber in den £§. 189 und 192 au den im Texte allegirten Vorschlägen des älteren Entwurfs uichts geändert hat. 3) Die Bayerische und die Württembergische Prozeß-Ordnung selbst habe ich nicht einseheu können. Auch andere ausländische Prozeß-Ordnungen sind mir — mit Ausnahme der im Texte citirten — nicht zugänglich gewesen. 9htr die Nassauische Prozeß-Ordnung vom 23. April 1822 (abgedrnckt im

Archive für die civttist. Praxis Bd. 6 S. 20 ff ) habe ich n> ch zur Hand ge­ habt. Sie gewährt indessen für die vorliegende Frage kein Material. Denn sie spricht im §. 7 nur gelegentlich „von den zum Klagegrunde wesentlich ge­ hörigen Thatsachen", ohne sich weiter darüber ausznlassen.

251 Zu den Handlungen der streitenden Theile gehört die bestimmte

Angabe aller Thatumstände, durch welche sie ihren Anspruch be­ gründen wollen; es dürfen jedoch die Gesetze und Rechtsregeln,

worauf der Anspruch beruht, nur angedeutet werden, und dieser führt im §. 758 und 759 aus:

Die Klage soll eine Begründung des Klageanspruches in factischer und rechtlicher Beziehung enthalten;

in jener Beziehung sollen

die entscheidenden Thatumstände, wodurch ein Anspruch begründet

werden soll, bestimmt angegeben werden, die Anführung und Ent­ wickelung des Rechtssatzes, unter welchen das Factum gebracht wer­ den soll, ist dagegen nicht wesentlich.

Vergleicht man diese Bestimmungen mit einander, so ergiebt sich

daraus,

daß auch die ausländischen Prozeß-Ordnungen zwar die Dar­

stellung der Klage-Thatsachen, nicht aber die Angabe des RechtsgrundeS

zur Begründung der Klage für erforderlich halten.*) Sie stimmen hierin also ebenso, wie die neuere Preußische Prozeßgesetzgebung, mit der All­ gemeinen Gerichts-Ordnung überein, und es bleibt in dem nun folgenden

zweiten Theile der Abhandlung nur noch zu prüfen übrig, ob der von derselben aufgestellte Grundsatz, daß die Angabe'des Rechtsgrundes kein nothwendiger Bestandtheil der Klage sei, vom legislativen Standpunkte

KUS gerechtfertigt ist oder nicht?

Zweiter Theil. Was läßt sich vom legislativen Standpunkte aus für und wider die Vorschrift des §. 20 Titel 5 Theil I der Allgemeinen Gerichts-Ordnung geltend machen? Nachdem ich bisher den Sinn der im §.20 Titel5 Theilt der Allgemeinen Gerichts-Ordnung

enthaltenen Vorschrift auf historischem

Wege erläutert und zugleich gefunden habe, daß dieselbe sowohl mit dem gemeinen

Rechte,

als

auch

mit

der

neueren Prozeßgesetzgebung

im

Einklänge steht, so halte ich das so gewonnene Resultat im ferneren Verlaufe der Darstellung fest.

Der Zweck derselben ist der, jene Vor­

schrift vom legislativen Standpunkte aus zu betrachten, und es sollen

*) Es ist daher nicht richtig, wenn der Koch'sche Entwurf vom I. 1848 (Note 1 S. 249) in den Motiven zu §. 208 S. 55 behauptet, „daß die mei­ sten Prozeß-Ordnungen die Angabe des Rechtsgrundes als ein Ersorderniß der Klage vorschreiben."

252 hierbei diejenigen Argumente besprochen werden, welche sich für und wider

dieselbe geltend machen lassen. Hiervon wird in den folgenden beiden Abschnitten die Rede sein.

Abschnitt I. Was spricht gegen die in Rede stehende Vorschrift?

Indem ich mich zunächst der Besprechung derjenigen Punkte zu­ wende, aus welchen sich Argumente gegen die vorliegende Bestimmung der Allgemeinen Gerichts-Ordnung herleiten lassen, so muß ich mich darauf beschränken, nur einige von ihnen hervorzuheben, um daran meine

Betrachtungen zu knüpfen.

§- 1. Von der Vernachlässigung des wissenschaftlichen Zusam­ menhanges mit dem Römischen Rechte?

Es ist unserer Gerichts-Ordnung nicht selten der Vorwurf gemacht worden,')

daß sie es mit verschuldet habe, wenn der wissenschaftliche

Zusammenhang mit dem Römischen Rechte so lange vernachlässigt wor­

den sei.

Denn, meint man, indem sie in dem §. 20 ihres fünften Titels

vor der Beachtung der verschiedenen Arten von Klagen warnt, wie sie

namentlich im Römischen Rechte ausgebildet seien,

so habe

Abneigung gegen die theoretische Erörterung dieses

Rechts überhaupt

sie

eine

verrathen, welche sich zum Nachtheile für die innere Durchblldung des Preußischen Rechts auf die Anschauungen unserer Praktiker übertragen

habe. — Dieser Vorwurf kann in der That nicht in Abrede gestellt werden.

Wenn man erwägt, daß unser heutiges Recht zu einem nicht ge­ ringen Theile auf den Grundsätzen des Römischen Rechts beruht, so muß jene Abneigung gegen dasselbe wunderbar erscheinen, und doch kann man

sagen, daß sie mit die Veranlassung dazu gewesen ist, daß seit der Mitte

des vorigen Jahrhunderts eine umfassende Redaction unseres Rechts ver­

anstaltet wurde.

Dies lehrt die Geschichte seiner Codification, in wel­

cher sich deutliche Spuren von der Abneigung gegen das fremdländische

Recht finden.

Nachdem man lange über das Ansehen und den Werth

desselben geschwankt hatte, wurde bereits in einer Kabinets-Ordre vom 18. Juni 17142) angeordnet: ') Davon reden z. B. Förster in seiner „Klage und Einrede nach Preuß. Rechte" Vorwort S. IV und Koch in seinem Aufsätze „Auch im Preußischen Rechte hat die Lehre von den Actionen practischen Werth" (Jurist. Wochen­ schrift von 1836 S. 461). Vergl. auch Abegg's Geschichte der Preußischen Civilprozeß-Gesetzgebung §. 58 Note 408. 412. 413.

2) Dieselbe wird von Löher (System des Preuß. Landrechts §. 1 S. 5)

253 daß bei der Abfassung von Rechtsbüchern dem Römischen Rechte nicht so stark gefolgt, sondern dasselbe nur insoweit zu Grunde

gelegt werden solle, als es sich für den Zustand des Landes schicke. Aehnliche Grundsätze wurden in den berühmten beiden Kabinets-OrdreS vom 31. December 1746*) und vom 14. April 1758,*2)3 welche bekannt­

lich die Basis unserer Gesetzbücher geworden sind, unzweideutig ausge­ sprochen.

Denn in jener heißt es:

daß deshalb ein auf die Landesverfassung gegründetes Recht her­

gestellt werden müsse, weil die größte Verzögerung der Justiz von

dem ungewissen Römischen Rechte herrühre, welches nicht allein

ohne Ordnung compilirt worden sei, sondern worin auch singulae leges pro et contra disputiret oder nach eines Jeden Caprice

limitiret oder extendiret würden; und diese sagt:

daß wenn auch das Corpus Juris vom Kaiser Justinian nicht ganz außer Acht gelassen werden könne, doch nur das Wesentliche und mit der heutigen Verfassung Uebereinstimmende aus demselben

abstrahirt, das Unnütze aber weggelassen werden solle. Aus derselben Anschauung ist ferner die Bestimmung am Schlüsse deS

Publications-Patentes zum Allgemeinen Landrechte hervorgegangen, welche

es verbietet: das neue Landrecht nach den ausgehobenen Rechten, zu denen auch das Römische Recht gehörte, zu erklären und auszudeuten; und es ist nicht zu verkennen, daß auch die Allgemeine Gerichts-Ordnung

derselben Tendenz gefolgt ist, indem sie in unserm §. 20:

die Rücksicht auf die Klagearten des Römischen Rechts wenn nicht

untersagt, so doch davor warnt. Der innere Grund dieser gegen

das Römische Recht gerichteten

Vorschriften ist, man kann sagen, ein doppelter.

Er hängt mit dem

zweifachen Zwecke zusammen, welcher bei der Codification unseres Rechts

verfolgt wurde.

Indem man nämlich beabsichtigte, das damals geltende

Recht gesetzlich zu fixiren, so wollte man zunächst die in demselben be­

stehenden Dunkelheiten und Controversen beseitigens) dadurch aber ein

ans Laspeyre's Abhandlung über die Reception des Römischen Rechts in der Mark Brandenburg und die Preußische Gesetzgebung vor König Friedrich II.

(Zeitschrift für Deutsches Recht Bd. VI S. 86 bis 99) citirt. *) Bergt. Mathis Monatsschrift für die Preuß. Staaten Bd. 11 S. 194. 2) Sie ist abgedruckt vor dem 1. Bande des Corp. Juris Frideric., in Myliuö Novum corp. const. Tom. VI Col. 1935 und in v. Rabe's Sammt. Preuß. Gesetze Bd. I Abth. 6 S. 439. 3) Bergt, die in der vorhergehenden Note citirte Kabinets - Ordre vom 14. April 1780, in welcher es heißt: „Es ist ungereimt, wenn man in einem

254 neues positives Recht und eine neue Rechtswissenschaft begründen, welche

sich isoliren zu können meinte.

Denn hätte man das Zurückgehen aus

das ältere Recht gestatten wollen, so würde man nach der damals herr­

schenden Vorstellung die kaum errungene Sicherheit des Rechtszustandes wieder gefährdet haben.

Wenngleich diese Anschauung dem Preußischen

Rechte nicht eigenthümlich ist, sondern sich auch in anderen Gesetzgebun­

gen l) findet, so kann sie doch nicht und am allerwenigsten dem Römi­ schen Rechte gegenüber für richtig gehalten werden.

Denn den Zusam­

menhang mit demselben zerreißen, heißt anerkennen, daß die Jsolirung

des jetzt geltenden Rechts nach der Vergangenheit hin ein wünschens-

werther Zustand ist.

man erwägt,

Wie irrig diese Meinung ist, leuchtet ein, wenn

daß das Römische Recht auf unser heutiges Recht nicht

nur bisher einen unermeßlichen Einfluß geübt hat, sondern auch auf dessen künftige Fortbildung üben muß, wenn dieselbe fruchtbringend sein

soll.

Dies hat man auch allmählig erkannt, indem man in neuerer Zeit

den in unser Recht übergegangenen Begriffen und Rechtsregeln bis zu

ihrem Ursprünge nachgegangen ist und erst dadurch eine gründliche Ein­ sicht in das Wesen derselben ermöglicht hat. Aber daß dies erst so spät geschehen ist, das haben unsere Gesetzbücher selbst, und insbesondere die Gerichts-Ordnung dadurch verschuldet, daß sie eine feindselige Richtung gegen das Römische Recht dccumentirte.

Dieselbe zeigt sich ferner bei dem anderen Zwecke, welchen die Re-

dactoren unseres Rechts vor Augen hatten.

Er läßt sich so bezeichnen,

daß sie nicht sowohl Gesetz-, als Lehrbücher zu schaffen beabsichtigten.

Sie wurden dabei von der Idee geleitet,

daß die Quelle der meisten

Prozesse die Rechts-Unkenntniß sei, und daß diese in der Unzugänglichkeit des fremden und in fremder Sprache redenden Rechts ihren Grund habe?)

Staate, der doch seinen unstreitigen Gesetzgeber hat, Gesetze duldet, die durch ihre Dunkelheit und Zweideutigkeit zu weitläuftigen Disputen der Rechts­ gelehrten Anlaß geben oder wohl gar darüber: ob dergleichen Gesetz oder Gewohnheit jemals existirt oder eine Rechtskraft erlangt habe?, weitlänftige Prozesse veranlaßt werden müssen." *) Statt vieler Beispiele führe ich eins an, welches dem Justinianischen Rechte angehört. Auch Justinian sprach sich in diesem Sinne aus, indem er bei der Publication der Digesten durch die Constit. tanta circa (1. 2 C. de vet. jure enuncl. [1. 17]) vom 16. December 533 u. a. verordnete: „Quidquid ibi scriptum est, hoc nostrum appareat et ex nostra voluntate com­ positum, nemine audente comparare ea, quae antiquitas habebat, cum iis, quae nostra auctoritas introduxit .... Hasce itaque leges et adorare et observare, omnibus antiquioribus quiescentibus, nemoque audeat vel com­ parare eas prioribus vel, si quid dissonans in utroque est, requirere; quia omne, quod hic positum est, hoc unicum et solum observari sancimus.“

Vergl. Puchta Jnstit. Bd. I §. 139 S. 701.

2) Vergl. Abegg's Geschichte der Preuß. Civilprozeß-Gesetzgebung §. 58

255 Es sollten deshalb, um so zu sagen, allgemeine juristische Rathgeber geschrieben werden, durch welche man die Gesetze jedem Einwohner des

Staats zugänglich zu machen und so eine große Anzahl von Prozessen

vermeiden zu können meinte.

Auch bei diesem Streben nach Populari­

tät glaubte man des Römischen Rechts entrathen zu können.

Aber die

Folge davon ist die gewesen, daß die juristische Schärfe der Römischen

Rechtsinstitute verloren gegangen und daß namentlich die Verbindung dieser Institute mit den ihnen aufgelöst worden ist.

entsprechenden eigenthümlichen Klagen

Zn dem Zusammenhanges beider besteht aber

gerade der besondere Vorzug des Römischen Actionen-Rechts, und daß dieser von unsern Praktikern verkannt worden ist, das hat die GerichtsOrdnung selbst bewirkt. Denn indem sie in dem in 9tcbe stehenden §. 20

auf die Angabe des Rechtsgrundes der Klage kein Gewicht legt, so hat sie zu der in der Praxis verbreiteten Ansicht Veranlassung gegeben,?) daß es auf die Natur des im concreten Falle geltend gemachten Klagerechts

und

auf die individuelle Eigenthümlichkeit der angestellten Klage im

Preußischen^ Rechte nicht, wie im Römischen Rechte, ankomme.

diese Ansicht unrichtig ist, wird Niemand leugnen wollen.

Daß

Denn sie

fuhrt dahin, daß es für die richtige Beurtheilung der dem Richter zur

Entscheidung vorgelegten Rechtsstreitigkeiten an einem sicheren Princip fehlt, und doch kann dieses deshalb nicht entbehrt werden, weil daö rich­ terliche Urtheil durch die Rücksicht auf die Individualität der Rechts­

verhältnisse und der daraus entspringenden Rechtsmittel geleitet werden

muß, wenn es die Frage mit Sicherheit beantworten will, ob einen und welchen

Rechtsanspruch Jemand

habe.')

Man muß daher behaupten,

S. 196 und die oben Note 2 S. 253 erwähnte Kabinets-Ordre vom 14. April 1780, welche sagt: „Es ist sehr unschicklich, daß die Gesetze größtentheils in einer Sprache geschrieben sind, welche diejenigen nicht verstehen, denen sie doch zur Richtschnur dienen sollen." *) Auf diesen Zusammenhang der Rechtsinstitute nnd der einzelnen Rechts­ verhältnisse mit den ihnen correspondirenden Klagen habe ich schon oben (S. 229. 243. 245) hingewiesen. 2) Hierauf namentlich macht Koch in dem Note I S. 252 angeführten

Aufsatze aufmerksam. 3) Siehe oben S. 222 u. 244 ff. — £ie im Texte ausgesprochene Ansicht, daß die richterliche Beurtheilung individualisiren nnd daß sie sich so zum Be­ wußtsein bringen soll, welche Rechtsregel kraft welcher Merkmale deö vor­ liegenden Falles sie anznwenden habe, — diese Ansicht wird getheilt von Schmidt (Commentar §.11 S. 17, §. 30 L. 49), Martin (Lehrbuch des bür-

«gerl. Prozesses §.87 Notei), v. Linde (Civilprozeß §. 151 Note6l, v. Savigny (System Bd. V §. 224 S. 148. 150 Note u), Windscheid (die Actio des Röm. Rechts §. 23 S. 229), Wächter (Würtemberg. Privatrecht S 446. 447)

und Koch (Preuß. Privatrecht §. 187 Note 2).



256



daß die Einsicht in das Wesen der einzelnen Klagerechte auch im Preu­ ßischen Rechte von praktischem Werthe ist,1) und wenn die Gerichts-

Ordnung der irrigen Meinung, als wäre dies nicht der Fall, Vorschub

geleistet, dadurch aber eine, man kann sagen, unwissenschaftliche Praxis hervorgerufen hat, so muß man ihr das allerdings zum Dorwurfe machen; wenngleich nicht geleugnet werden soll, daß die Praxis der neueren Zeit

zu der richtigen Ansicht zurückgekehrt ist, daß auch für den Preußischen Richter die Lehre von den Actionen ihre Bedeutung nicht verloren hat.

§• 2. Don der Verschiedenheit der Klagesysteme des Römischen und Preußischen Rechts.

Es ist schon in dem vorigen Paragraphen angedeutet worden, daß das Preußische Recht in der Behandlung der einzelnen Rechtsinstitute und der damit zusammenhängenden Klagen nicht mit derjenigen juristi­

schen Schärfe verfahren ist, welche das Römische Recht auszeichnet. DieS soll nun

an der Verschiedenheit der Klagesysteme beider Rechte noch

näher erläutert werden, — eine Verschiedenheit, welche ebenfalls nicht zu Gunsten des Preußischen Rechts spricht. Im System des Römischen Rechts nahmen die Klagen, wie in

keinem anderen Rechte, eine eigenthümliche Stelle ein, welche für die

bei den Römern herrschende Auffassung derselben bezeichnend ist.

Sie

wurden nämlich als ein untrennbarer Theil des Privatrechts angesehen,

weil man von der Ansicht ausging, daß sie mit demselben eng verwach­ sen seien.

Dies zeigt sich u. a. in der ökonomischen Anordnung der

Justinianischen Compilationen.

Denn es ist bekannt, daß in den In­

stitutionen Justinians das ganze Nechtsgebiet nach den sogenannten tria objecta juris in das Personen-, Sachen- rrnd Obligationen- oder Actionen-

Recht eingetheilt ist,2)* *und * * * *wenn 9 auch die Digesten dieser systematischen

Gliederung nicht folgens) so werden doch auch in ihnen inmitten der

9 Bcrgl. Koch's Preuß. Privatrecht §. 8 S. 38, desselben Preuß. Civilprozeh §. 125 S. 257, so wie seine in Rote 1 S. 252 und Note 2 S. 255 citirte Abhandlung a. a. O. S. 462. 2) Diese Dreitheilung ist den Institutionen von Gaius entlehnt. Die­ selben zerfallen zwar ebenso, wie diejenigen von Justinian, in vier Bücher; aber die innere Anordnung derselben wird durch die im Texte erwähnten tria objccta juris bedingt. Hierauf beziehen sich die Worte des §. 12 J. de jur. natur. (2. 1): „Omne autem jus, quo utimur, vel ad personas pertinet vel ad res vel ad actiones/* Vergl. Puchta, Jnstit. Dd. I §. 104 S. 512 und §. 139 S. 702. 9) Die Justinianischen Digesten sind geordnet nach dem System des praetorischen Edictö in der Gestalt, welche dasselbe bei seiner Redaction durch Salviuö Julianus unter dem Kaiser Hadrian erhalten hatte. Hieraus ist

257 Darstellung des materiellen Rechts die einzelnen Klagen abgehaudelt.**) Der Grund dieses engen Zusammenhanges zwischen dem materiellen Rechte und den Klagen lag darin, daß bei den Römern jedes dingliche Recht sowohl, als jede Obligation zu einem besonderen Nechtsinstitut heraus­ gebildet war, und daß jedes dieser Rechtsinstitute seine specielle Klage hatte, welche der Eigenthümlichkeit desselben entsprach. Weil aber jedes Rechtsverhältniß seine in sich geschlossene Natur hatte, deshalb erschien die Klage daraus nur als eine Modification des Rechtsverhältnisses, in welchem sie ihren Ursprung hatte. Nach dieser Vorstellung verhält sich das Recht zu seiner Klage, wie das Erzeugende zu dem Erzeugten. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß nach der Auffassung der Römischen Juristen die Klage nicht sowohl als etwas aus dem Rechte Entsprungenes, sondern vielmehr selbst als etwas Ur­ sprüngliches angesehen wurde. Daher kam es, daß man bei den Römern nicht danach fragte, welchen Anspruch, sondern welche Klage man in diesem oder jenem concreten Falle habe. Damit hing ferner zusammen, daß derjenige, welcher einen Anspruch vor Gericht verfolgen wollte, zu­ nächst nicht danach forschte, ob derselbe durch das Recht garantirt sei, sondern danach, ob der Praetor?) geneigt sei, ihm zur Geltendmachung seines Anspruches eine Klage zu gewähren?) Diese der Römischen Klage die Eintheilung der Digesten in die sogenannten sieben partes entstanden, von denen die pars I (Ttjowra) den lib. 1 bis 4, die pars II (de judiciis) den lib. 5 bis 11, die pars III (de rcbus creditis) den lib. 12 bis 19, die pars IV (umbilicus) den lib. 20 bis 27, die pars V (de testamentis) den lib. 28 bis36, die pars VI den lib. 37 bis 44 und die pars VII den lib. 45 bis 50 umfaßt. Vergl. Puchta Jnstit. Bd. I §. 99 S. 457, §. 114 S. 561, §. 139 S. 696. *) Vergl. z. B. von den in der Note 3 S. 256 erwähnten sieben Be­ standtheilen der Digesten die pars III (de rebus creditis), in welcher lib. 12 tit. 4 bis 7 die verschiedenen Arten von Condictionen, lib. 13 tit. 6 und 7 die actio commodati und pigneraticia, lib. 16 tit. 3 die actio depositi, lib. 17 tit. 1 und 2 die actio mandati und pro socicr, lib. 19 tit. 1 und 2 die actio emti venditi und locati conducti dargestellt werden. 2) Daß der Praetor in gewissen Fällen befugt war, die erbetene Klage zu verweigern, habe ich schon oben Note 2 S. 215 bemerkt. 3) In Uebereinstimmung mit dem, was ich im Texte gesagt habe, er­ innert Windscheid (die actio des Römischen Rechts §. 1 S. 4 Note 7) daran, daß die Römischen Gesetze selbst, wie z. B. der Macedonianische, Vellejanische und Trebellianische Scnatsschluß — nicht Rechte, sondern Klagen (actiones) absprachen und gewährten. Das Set. Maced. (1. I pr. D. h. t. [14. 6J) bestimmte: „placere, ne cui, qui filiofamilias mutuam pecuniam dedisset, actio petitioque daretur.“ In dem Set. Vellei. (1.2 §. 1 D.b.t. [16. 1]) heißt es: ,,ita jus dictum esse videtur, ne 60 nomine ab bis (foeminis) petitio neve in eas actio detur.“ Das Set. Trebellian. (1.1 §.2 D. h. t. [36. 1]) schrieb vor: „placet, ut actiones, quae in heredem

258 innewohnende Selbstständigkeit ist es, welche von den Rechtslehrern') sehr

richtig als

„die juristische Individualität der Klage" bezeichnet wird.

Fragt man, worin dieselbe ihre letzte Wurzel gehabt hat, so ist diese in dem System der Römischen Legis-Actionen^) zu suchen.

In ihrer fest

gegliederten unabänderlichen Form waren diese ganz dazu geschaffen, der auf das Gesetz selbst gestützten Klage jenes scharfe Gepräge zu verlei­ hen, welches man als einen Ausdruck ihrer juristischen Individualität

betrachten mutz.

Es erhielt sich diese Eigenthümlichkeit der Klage auch

während der Periode des Formularprozesses?)

Denn indem die Klage,

welche in der Vom Praetor concipirten Formel ihre prozessualische Ge­ stalt bekam, auch damals noch auf eiu specielles Klagerecht gegründet sein mußte,

so nahm sie von selbst jene juristische Bestimmtheit an,

welche zugleich der richterlichen Beurtheilung, um so zu sagen, als Weg­ weiser diente. Dagegen ist dieses Klagesystem, welches schon im neueren Römischen

Rechte^) verschwand, weder im gemeinen/) noch im Preußischen Rechte zur Geltung gelangt.

Was insbesondere die Stellung der Klagen im

Systeme des Preußischen Rechts betrifft, so wurde zwar bei der Redaction

desselben beabsichtigt, die aus den Justinianischen Institutionen herge­ brachte Eintheilung des gesammten Rechtsstoffes nach Personen, Sachen

und Handlungen beizubehalten?) Es mußte diese Eintheilung aber weg-

hercdibusque dari solent, eas neque in eos neque Ins dari, qiii fidei suae commissum, sicuti rogati essent, restituissent, sed bis et in eos, quibus ex testamento fidei commissum restitutum fuisset.“ *) So z B. v. Jhering, welcher in seinem „Geist des Römischen Rechts" Bd. II §.47 S. 673 sagt: „Den Römern war die Klage keine Abstraction, sondern ein Individuum, welches seinen bestimmten Begriff und sein bestimm­ tes Gebiet hatte," und von Windscheid, welcher a. a. O. ©. 229 bemerkt: „Für die Römer war die actio ein Ding für sich, mit selbstständigem Sinn und Leben, ein Wesenhaftes, Körperhaftes." 2) Ich beziehe mich hier allf das, was ich oben (S. 203. 209 ff.) über das Wesen der Legis-Actionen gesagt habe. Bergt, auch Jhering, welcher sich a. a. O. Bd. II §. 47 S. 675 über die im Texte berührte Bedeutung der Legis-Actionen so ausspricht: „Sie waren Individuen, wie Krystalle, scharfkantig, spitz, bis inö Kleinste hinein fest, bestimmt, unabänderlich; einer Jurisprudenz, die Jahrhunderte lang sie vor Augen und mit ihnen zu operiren hatte, — einer solchen Jurisprudenz, meine ich, mußte die Idee der Individualität der Klage bis zur Unvergeßlichkeit eingeprägt werden." 3) Siehe oben S. 214. 217 ff. *) Siehe oben S. 218. 220 ff. 6) Siehe oben S. 225. 231. 235 ff. °) So namentlich bei dem in den Jahren 1749 bis 1751 pnblicirten //Projecte des Corporis juris Fridericiani“, welches in drei Theilen das Per­ sonen-, Sachen- und Obligationen Recht enthalten sollte, von denen indeffen

259 fallen, als man spater die Obligationen nicht mehr als selbstständige Rechtsgebiete,*) sondern in der untergeordneten Stellung von Titeln zu dinglichen Rechten behandeltes) und als man die Handlungen nicht zu­ gleich als Actionen im Prozesse betrachtete, sondern das Prozeßrecht aus

dem Privatrechte ausschied. Dies hatte zur Folge, daß nicht nur im materiellen Rechte die plastische Festigkeit der einzelnen Rechtsinstitute verwischt, sondern auch der systematische Zusammenhang zwischen dem formellen und materiellen Rechte aufgehoben wurde. In Verbindung

hiermit aber steht der Umstand, daß auch die Klagen, indem sie mit den ihnen correspondirenden Rechtsverhältnissen außer Verbindung gesetzt wurden, die ihnen im Römischen Rechte eigenthümliche Individualität im Preußischen Rechte verloren baben. Es ist daher allerdings consequent, wenn die Gerichts-Ordnung in dem §. 20 ihres fünften Titels den Grundsatz aufgestellt hat, daß die Klage zu ihrer Begründung der rechtlichen Elemente entbehren könne. Aber es ist auch nicht zu ver­ kennen, daß dieser Grundsatz die Anwendung des Rechts durch den Rich­ ter jedenfalls nicht erleichtert. Denn wenn der Kläger nur Thatumstände anzuführen und hierauf allein seinen Anspruch zu gründen braucht, der Richter aber selbstständig zu prüfen hat, ob ein und welches Recht aus diesen Thatumständen hervorgeht,so ist seine Aufgabe schwieriger, als

diejenige des Römischen Richters, dessen Urtheil, wie ich oben4) sagte, durch die der Römischen Klage innewohnende juristische Bestimmtheit sicher geleitet wurde. Es ist offenbar, daß hierin ein praktischer Vor­ theil liegt, welchen die Klage des Preußischen Rechts dem Richter des­ halb nicht gewährt, weil sie jener concreten Individualität ermangelt.

§♦ 3. Bon den Folgen der im §. 2 entwickelten Verschiedenheit der Klagesysteme beider Rechte. Wenn ich eben von einem praktischen Vortheil sprach, welchen das Klagesystem des Römischen, nicht aber das des Preußischen Rechts für die richterliche Beurtheilung gewährt, so muß ich jetzt noch einen Schritt das letztere bekanntlich nicht erschienen ist. Landrechts §. 4 S. 12 ff.

Vergl. Löher System des Preuß.

*) Daher umfaßte schon der in den Jahren 1784 bis 1788 veröffentlichte „Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches" in zwei Theilen nur das Personennnd Sachenrecht, und hiermit stimmt auch das am 20. März 1791 publicirte „Allgemeine Gesetzbuch" überein, wenngleich darin auf Suarez'ü Vorschlag das Sachenrecht dem Personenrechte vorangestellt ist. Vergl. Löher a. a. O. §• 4 S. 14 ff.

2) §§. 131 bis 134 I. 8, §§. 1. 2 I. 9, §§. 1. 2 I. 10 des Allg. L.-R. ’) Vergl. Löher, System des Preuß. Landrechts §. 55 S 269. 4) Siehe S. 258.

260 weiter gehen und behaupten, daß die oben entwickelte Verschiedenheit der Klagesysteme beider Rechte für die Praxis des Preußischen und des mit

ihm übereinstimmenden gemeinen Rechts nicht blos mangelnde Vortheile sondern auch wirkliche Nachtheile zur Folge gehabt hat, von denen wenig­

stens einer erwähnt werden mag. Gestützt auf den im gemeinen und Preußischen Rechte ausgespro­ chenen Grundsatz, daß auf das in der Klage ausgedrückte individuelle

Klagerecht kein Gewicht gelegt werden soll, hat man nämlich, wie För­

ster^) sagt, gemeint, es komme überhaupt nicht darauf an, ob eine be­

stimmte Klage angestellt werde, wenn nur überhaupt eine Klage — ge­ wissermaßen in abstracto — vorliege, und es sei nun Sache des Richters,

aus ihr irgend einen begründeten Anspruch herauszusuchen, selbst wenn dieser Anspruch entweder gar nicht in der Intention des Klägers ge­ legen habe oder mit derselben sogar im Widersprüche stehe.

Hiervon

will ich aus dem gemeinen Rechte ein Beispiel anführen, welches sich bei Gönners findet.

„Es hatte Jemand/ so erzählt er,

,m einer

schriftlichen Vorstellung an den Landesherrn gegen eine Behörde Belei­

digungen ausgestoßen.

Die Behörde,

welcher die Schrift mitgetheilt

wurde, beschloß, dieser Injurien wegen auf eine fiskalische Geldstrafe, also actione injuriarum aestimatoria, zu klagen.

Nach dem Abschlüsse

der gerichtlichen Verhandlungen wurde erkannt, daß der Beklagte von

der angestellten Klage zu entbinden,

dagegen zu einem Verweise, zur

Abbitte und zum Ersätze aller Kosten zu verurtheilen sei."

Ebenso ist

in einer Entscheidung deß Hessen-Kasseler Ober-Appellations-Gerichts

vom 26. Januar 17633) angenommen worden:

„daß der erkennende

Richter sich an das remedium, welches die Partei eingeschlagen habe,

nicht zu binden brauche, sondern dasjenige, welches dem facto am gemäßesten sei,

auch

gegen der Partei

ausdrücklichen Willen erwählen

könne." Diese Beispiele lehren, daß manche Gerichte sich für berechtigt ge-

halten haben, selbst gegen den Willen des Klägers die ihm günstigen Folgen der vorgetragenen Thatsachen für denselben geltend zu machen.

Ich habe diese Auffassung, wie ich glaube, mit Recht als eine nachthei-

lige Folge der Verschiedenheit bezeichnet, welche zwischen dem Klagesysteme

des Römischen und dem des gemeinen, sowie Preußischen Rechts besteht. Daß sie eine Folge davon gewesen ist, liegt auf der Hand. Denn wenn

im gemeinen und im Preußischen Rechte ebenso, wie es im Römischen Rechte der Fall war, die juristische Jndividualisirung des Klageanspru­

ches zur Begründung der Klage für nothwendig erachtet worden wäre, *) Klage und Einrede nach Preuß. Rechte §. 9 S. 27. -) Handbuch des Prozesses Bd. II Abh. XXVII §.11 S. 115 ff.

3) von Canngieser Collectio decisionum supremi tribunalis appellationum Hasso-Cassellani. Tom. I dec. 119 p 503.507.

261 so würde man nicht zu der Annahme haben gelangen können, daß daS

der Klage zu Grunde liegende Klagerecht

für den Richter völlig be­

deutungslos und für ihn von keiner bindenden Kraft sei.

Daß diese

Annahme aber nachtheilig ist, versteht sich ebenfalls von selbst.

Denn

indem dieselbe davon ausgeht, daß der Richter das sich aus der Klage

ergebende Klagerecht hintenansehen und statt dessen dieses

oder jenes

Recht, selbst wenn es der Absicht des Klägers zuwiderläuft, demselben

zusprechen tonne, so leistet sie der Willkür des Richters offenbar Bor­ schub.

Es braucht endlich kaum gesagt zu werden, daß diese Ansicht

auch unrichtig ist.

Denn wenn es auch Sache des Richters ist, auf

Grund der vom Kläger angeführten Thatsachen zu prüfen, ob die Klage

so, wie sie angestellt wurde,

begründet ist oder nicht,

so liegt es doch

außerhalb der Grenzen seiner Befugniß, der angestellten Klage nicht zu deferiren und derselben im Widerspruche mit der Intention des Klägers gleichsam eine andere zu substituiren.*)

Wirft man einen Blick zurück auf die bisher besprochenen Argu­ mente, welche gegen den Grundsatz des gemeinen und Preußischen Rechts, daß die Darstellung deö Rechtsgrundes

der Klage keine nothwendige

Bedingung zu ihrer Begründung sei, zu sprechen scheinen, so sieht man, daß dieselben zum Theil auf einer irrigen Auffassung dieses Grundsatzes

beruhen.

Denn eS ist eine Berkennung desselben, wenn man daraus ge­

folgert hat, daß die Lehre von den Actionen und ihren Eigenthümlich­ keiten keinen praktischen Werth mehr habe, und es ist ein Mißverständ­ niß, wenn man angenommen hat, daß der Richter, von dem Rechtsgrunde

der Klage unabhängig, über die Grenzen derselben auch gegen den Willen des Klägers hinausgehen dürfe.

Abschnitt II. Was spricht für die in Rede stehende Vorschrift? Auch bei der Betrachtung derjenigen Argumente, welche sich für

den in Rede stehenden Grundsatz der Allgemeinen Gerichts-Ordnung

geltend machen lassen, will ich mich trotz der Reichhaltigkeit des Ma­ terials darauf beschränken, nur die wichtigsten Punkte hervorzuheben, um

daran zu zeigen, daß jener Grundsatz durchaus gerechtfertigt erscheint.

*) Dagegen haben sich auch v. Savigny in seinem System Bd. V §. 224 S. 148 Note o, Röder in seinen Abhandlungen über praktische Fragen des Civilrechts Nr. VI S. 124. 125 und Gönner a. a. O. Bd. II Abh. XXVII §.11 S. 116 erklärt, letzterer indem er sagt:

„Niemals darf der Richter

von seiner positiven Thätigkeit einen so ausgedehnten Gebrauch machen, daß er über das in der Klage vorgezeichnete genus actionis hinaus fällt."



262



§♦ 1. Von dem Untersuchungs- und dem Derhandlungs-Princip. Was zunächst für diesen Grundsatz spricht, ist der Umstand, daß derselbe nicht nur mit der Prozeßmaxime der Allgemeinen Gerichts-Ord­

nung im Einklänge steht, sondern auch derjenigen des gemeinen Rechts und der neueren Preußischen Prozeßgesetzgebung nicht widerspricht, —

eine Behauptung, welche näher erläutert werden soll.

Es giebt bekanntlich zwei') allgemeine Arten des gerichtlichen Ver­ fahrens; dasselbe kann entweder auf der Nntersuchungsmaxime beruhen,

und dies nndet sich in dem älteren Preußischen Prozesse, oder es kann auf die Verhandlungsmaxime berechnet sein, und dies ist in dem gemein­

rechtlichen und dem neueren Preußischen Prozesse der Fall?) Was zuvörderst die Nntersuchungsmaxime betrifft, so geht sie von dem (Gedanken aus, daß der Staat selbst, wenn sein Gerichtsschutz in

Anspruch genommen wird, auf die Mittel zur Herstellung des verletzten Rechts wirken müsse, und daß es daher die Pflicht des vom Staate einge­

setzten Richters sei, All?s von Amtswegen zu thun, wodurch die Merkmale des Faktums, welches einem Rechtsstreite zu Grunde Liegt,

hergestellt werden?)

als gewiß

Aus diesem Gedanken lassen sich folgende, von der

Gerichts-Ordnung selbst aufgestellte Sähe abstrahiren: Der Richter ist befugt und schuldig, sich von der wahren Bewandtniß der in dem Pro­ zesse vorkommenden Thatsachen zu versichern und den Grund oder Un­

grund derselben selbst und unmittelbar zu untersuchen?)

Er muß sich

daher bei der Instruction des Prozesses bemühen, die Wahrheit dieser

*) Man nennt zwar als dritte Prozeßmaxime noch besonders die Even­ tualmaxime, welche in Deutschland durch den jüngsten NeichSabschied von 1654 LS. 231) eingeführt und für Preußen durch die Verordnung vom 1. Juni 1833 (S. 247) adoptirt ist. Dieselbe ist aber nichts weiter als eine Modification der gemeinrechtlichen Verhandlungomaxime, wie sie in Preußen durch die Verordnung vom 21. Zuli 1846 (S. 67) zur Geltung gelangt ist. Denn während nach der Verhandlungömaxime die Anführung neuer Thatsachen noch bis zum Beweisresolute zulässig ist, so wir nach der Eventualmaxime durch die Klage und Klagebeantwortung die regelmäßige Grenze der Thatsachen bestimmt, innerhalb deren sich der Prozeß bewegt 2) Vortreffliche Bemerkungen über das Wesen des Untersuchungs- und des Verhandluugsprineivs, sowie über den inneren Unterschied beider, finden sich in Abegg's Geschichte der Preuß. Eivilprozeß-Gesetzgebung §§. *27 bis 30. Bergt, auch Evelt's Civitprozeß in Preußen §. 86 ff. §. 94 ff. und Stellter's

Preuß. Civilprozeß Vorwort S. VIII ff. •) Vergl. die Note 2 S. 253 allegirte Kab.-Ordre vom 14. April 1780, in welcher gesagt wird: „daß der Richter den wahren Zusammenhang der. Sache, welche zu dem Rechtsstreite Anlaß gegeben habe, eruiren solle." 4) §§. 6 und 7 der Einleitung zur Allgem. Gerichts-Ordnung.

263 Thatsachen auf dem sichersten Wege zu erforschen, ohne daß er dabei

an die von den Parteien angegebenen Beweismittel gebuuden ist?) Viel­ mehr kann und soll der Richter auch andere Mittel, die aus dem Zu­

sammenhänge der Verhandlungen und hervorgehen,

aus dem Vortrage der Parteien

selbst ohne das ausdrückliche Verlangen derselben zur Er­

forschung der Wahrheit anwenden; ja seine Befugnisse gehen sogar so weit, daß er, wenn sich im Laufe des Verfahrens ans der Entwickelung der thatsächlichen Momente ein veränderter Anspruch ergiebt, der Erör­

terung der Sache mit Rücksicht

nachgehen darf und muß?;

auf diesen veränderten Gesichtspunkt

Wenn die Gerichts-Ordnung hiernach eine

umfassende und durchgreifende Untersuchung

des ganzen Rechtsstreites

will, und wenn sie will, daß zu diesem Zwecke der Richter überall von Amtswegen einschreiten soll, so versteht es sich von selbst, daß auch die

Anwendung der Gesetze auf die ausgemittelten Thatsachen und die Her­ leitung der daraus fließenden rechtlichen Folgen einzig und allein zu

dem Amte des Richters gehört?)

2st dies aber der Fall, so muß auch

Alles, was die Partei selbst etwa zur rechtlichen Begründung ihres Klage­

anspruches geltend macht,

für den Richter von untergeordneter Bedeu­

tung sein; weil die Frage, ob ein und welcher Rechtsgrund der Klage

vorliegt, ein

Gegenstand selbstständiger richterlicher Prüfung ist.

Es

muß daher als eine natürliche und aus dem Geiste der Gerichts-Ord­ nung selbst folgende Consequenz bezeichnet werden, wenn dieselbe den

Kläger von der Angabe des Rechtsgrundes seiner Klage befreit und daS Auffinden desselben dem Richter überläßt?)

*) §§• 10 und 17 der Einleitung zur Allgem. Gerichts-Ordnung. 2) §. 20 der Einleitung und §. 21 Th.I. Tit.5 der Allgem. Ger.-Ordn. in Verbindung mit Löher, System des Preuß. Landrechts §. 55 Rote 2, Beete „über den Klagegrund nach gem. und Preuß. Prozesse" im Neuen Archive für Preuß. Recht und Verfassung Bd I S. 1S5. 186, Förster, Klage und Einrede nach Preuß. Rechte §. 10 S. 32 und Koch, Note 18 zu dem citirten §. 21, wo auch der Zweifel angedeutet wird: ob diese Vorschrift jetzt, wo der ordentliche Prozeß nicht mehr nach der Maxime der Gerichts-Ordnung ver­ handelt wird, noch fortdauernde Gültigkeit habe? 8) Dies wird ausgesprochen im §. 21 der Einleitung zur Allgem. GerichtsOrdnung, so wie in den §§. 6 und 7 daselbst mit den Worten: „Der Rich­ ter soll den Streit durch richtige Anwendung der Gesetze auf die dabei zum Grunde liegenden Thatsachen entscheiden." Vergl. hierzu die oben Note 3 S. 227 und Note 2 S. 241 citirten Stellen aus Gensler's Abhandlung über die Begriffe: Beweis, Beweismittel :c? im Archive für civilist. Praxis Bd. I S. 361 Note 2 und aus Grävell'ö Eommentar zur Allgem. Gerichts-Ordn. Bd. I §. 176 S. 494.

4) Es läßt sich dagegen einwenden, daß dies dem von der GerichtsOrdnung selbst im §. 9 der Einleitung ausgesprochenen Zwecke widerspricht, daß die Prozesse auf die kürzeste Art geschlichtet werden sollen. Denn, kann

264 Man könnte nun meinen, daß dieser Grundsatz modificirt worden sei, seitdem sich die neuere Prozeßgesetzgebung nach dem Vorgänge deS gemeinen Rechts zu der Verhandlungsmaxime bekannt hat.

Meinung wäre indessen nicht richtig.

Diese

Eß soll zwar nicht der wesentliche

Unterschied geleugnet werden, welcher zwischen der Untersuchungs- und der Verhandlungsmaxime besteht.

Indem diese nämlich auf dem Ge­

danken beruht, daß der Staat seinen Gerichtsschutz nur so, wie er in Anspruch genommen wird, gewähren dürfe, so macht sie die Thätigkeit des Richters zur Herstellung des verletzten Rechts allerdings in einem

gewissen Grade von den Mitteln abhängig, deren sich die Partei zur

Erreichung dieses Zweckes bedient.

Aber man würde das Wesen der

Verhandlungsmaxime sehr verkennen, wenn man annehmen wollte, daß der Richter dadurch zu einer passiven Rolle und dazu verurtheilt sei,

sich überall nur empfangend, nirgends handelnd zu verhalten.

Insbe­

sondere würde es unrichtig sein, wenn man weiter daraus folgern wollte, daß die Partei nach

der jetzt geltenden Verhandlungsmaxime gehalten

sei, den rechtlichen Gesichtspunkt, von dem aus sie die von ihr angeführ­

ten Thatsachen beurtheilt wissen will, dem Richter zu bezeichnen.

Dies

ist so wenig der Fall, daß in der Verpflichtung des Richters zur Subsumtion der ihm vorgelegten Thatsachen unter das Gesetz nicht nur nicht

eine Veränderung eingetreten ist, sondern daß dieselbe vielmehr nach wie vor und von der Verhandlungsmaxime unberührt fortbesteht.*)

Hieraus

ergiebt sich denn wiederum von selbst, daß von einer Verpflichtung der

Partei zur Angabe des Rechtsgrundes für den von ihr geltend gemach­ ten Klageanspruch nicht die Rede sein kann, — ein Grundsatz, der sich

also, wie man sieht, auch mit dem Geiste der neueren Prozeßgesetz­

gebung sehr wohl verträgt.

man sagen, Festigkeit und vollständigste Begründung der Klage sind die wesent­ lichen Bedingungen einer schnellen Beendigung des Prozesses; weil davon die Möglichkeit einer vollständigen Klagebeantwortung und die zweckmäßige In­ struction des Prozesses abhängt. Aber man wird kein Gewicht auf diesen Einwurf legen, wenn man erwägt, daß das der Gerichts-Ordnung eigen­ thümliche „Princip" ihr offenbar höher stehen mußte, als der von ihr ge­ legentlich ausgesprochene „Zweck." Denn auch nach ihrer Auffassung ist nicht die Schnelligkeit des Verfahrens, sondern die Rechtssicherheit die höchste Auf­ gabe der Gesetzgebung, welche die Gerichts-Ordnung dadurch zu erreichen

suchte, daß sie dem Richter eine ausgedehnte und von den Anführungen der Parteien unabhängige Befugniß zur Erforschung der Wahrheit einräumte." Vergl. auch Abegg „über das Verhältniß des formellen zu dem materiellen Rechte" in der juristischen Wochenschrift von 1839 S. 372 und Boele „über

den Klagegrund" a. a. O. Bd. I S. 199. *) Auch das König!. Obertribunal hat in der Entscheidung vom 20. Ja­ nuar 1854 (Striethorst's Archiv für Rechtsfälle Bd. 11 S. 260. 262) ange-

265 §♦ 2. Von den Folgen desSatzeS, daß die Anwendung des Rechts Sache des Richters ist. Aus dem schon in dem vorigen Paragraphen erwähnten Satze, daß

die Anwendung des Rechts Sache des Richters ist, ergeben sich nun für

den in Rede stehenden Grundsatz der Gerichts-Ordnung nicht unwichtige

praktische Folgen, von denen mir namentlich eine der Erwähnung werth

erscheint. Ich gehe hierbei wiederum davon aus, daß zur Entscheidung jedes

Rechtsstreites zwei Stücke gehören, nämlich eine Untersuchung über die

Merkmale des Factums, welches zwischen den Parteien streitig ist, und

eine Prüfung, welche festzuftellen hat, ob diese Merkmale mit den Vor­ schriften des darauf anzuwendenden Gesetzes übereinstimmen.

Bei jener

Untersuchung concurriren die Parteien, indem sie das streitige Factum

und die Mittel zur Bewahrheitung desselben anzuführen haben, während diese Prüfung, welche es mit der rechtlichen Beurtheilung der Sache zu

thun hat, ausschließlich den Gegenstand der Reflexion des Richters aus­ macht. Wenn es sich hieraus rechtfertigt, daß der Rechtssatz, welcher im concreten Falle zur Anwendung gebracht werden soll/) oder das Rechts­ verhältniß, aus welchem die Klage angestettt ist, von der Partei nicht

angegeben zu werden braucht, so muß man consequenter Weise behaup­ ten, daß wenn die Partei dieses Rechtsverhältuiß zwar bezeichnet, aberirrig bezeichnet, hieraus kein Nachtheil für sie entstehen kann.

Man

nehme z. B. an, daß Jemand eine Klage anstellt und darin sagt, daß

er den geltend gemachten Anspruch aus der Geschäftsführung ohne Auf­ trag (negotiorum gestio)2* )1 herleite.

Wenn nun der Richter findet, daß

nommen: „daß der Richter bei Prüfung des Rechtsgrundes der Klage nicht auf die Ausführungen der Parteien beschränkt, sondern daß es vielmehr sein Beruf sei, aus den durch die Verhandlung unter den Parteien festgestellten Thatsachen selbstständig zu entscheiden, ob der Anspruch des Klägers rechtlich

begründet sei." Nergl. auch das Erkenntniß (Plenar-Beschluß) desselben Ge­ richtshofes v. 14. März 1842 in der Sammlung der Eutsch. Bd. 7 S.308. 1) Von dieser Regel machen die §§. 53. 54 Th. I, Tit. 10 der Allgem. Ger.-Ordn. keine Ausnahme. Denn die Existenz eines fremden Landesgesetzes, welches der Richter zu kennen nicht schuldig ist, oder das Vorhandensein eines Statuts, welches dem Richter nicht bekannt ist, ist ihm gegenüber eine That­ sache, welche, wie jede andere, von der Partei angeführt und demnächst fest­ gestellt werden muß. Vergl. Martin, Lehrbuch des bürgerlichen Prozesses §. 144 Note c, Bayer Vorträge über den Civilprozeß S. 292, v. Linde Lehr­ buch des Eivilprozesses §. 152 Note 7, Schmid Handbuch des Eivilprozesses Bd. II §. 95 Note 13, Koch Preuß. Civilprozeß §. 12G Note 3 und Förster Klage und Einrede nach Preuß. Recht §. 9 S. 28. 2) §. 228 ff. 1,13 Allgem. Land-Rechts. -

266 nicht diese, sondern eine nützliche Verwendung (versio in rem)1) vorliegt, so wird er, meine ich, die eingeklagte Forderung nach den über dieses

Rechtsinftitut geltenden Grundsätzen zu beurtheilen, also sich zu fragen haben, ob sich die rechtlichen Bedingungen der Versionsklage aus den

angeführten Thatsachen ergeben, und ob von diesem Gesichtspunkte aus der Klageanspruch begründet ist oder nicht? Ich will nicht davon reden,

daß zu dieser richtigen Bestimmung eines unrichtig bezeichneten Klage­ rechts schon das

sogenannte nobile judicis officium auffordert, dessen

Sinn der ist, daß der Richter in erlaubten Grenzen den Klagevortrag berichtigen darf, und daß er sich nicht an die Worte, sondern an die

Sache halten soll?)

Entscheidend ist aber auch hier wiederum der Um­

stand, daß die Subsumtion der vorgetragenen Klage-Thatsachen unter das ihnen entsprechende Gesetz lediglich zu dem Amte des Richters gehört.

Und wenn auch, wie ich oben ausgeführt habe,'') die Benennung des geltend gemachten Klagerechts als eine die richterliche Beurtheilung er­

leichternde Hinweisung auf den

im vorliegenden Falle anzuwendenden

Rechtssatz zu betrachten ist, so darf man ihr doch eine größere Bedeu­ tung und namentlich die Bedeutung nicht beilegen, als ob sie für den

Richter eine bindende Kraft hätte?)

Sobald sich derselbe daher von der

Unrichtigkeit dieser Benennung überzeugt, so ist er verpflichtet, auf den

eigentlichen Klagegrund, d.h. auf die der Klage zum Grunde liegenden Thatsachen zurückzugehen und diese demjenigen Gesetze zu unterstellen,

unter welches sie nach seiner Ansicht gehören. Man hat dies zwar in der Theorie5)

sowohl, als in der Pra-

*) §. 262 ff. I, 13 Allgemeinen Landrechts. 2) Bergt. Abegg'S Geschichte der Preuß. Civilprozeßgesetzgebung §. 30 Rote 283 und die oben 9u)te *) S. 222 citirte 1. u. C. ut quae desunt advocatis partium, judex suppleat (2. 11), welche unterstützt wird durd) die

1. 66 D. de judic. (5. 1 ): „Si quis intentione ambigua vel oratione usus sit, id quod utilius ei est, accipiendum est“ und durd) die 1. 12 D. de rebus dubiis (34. 5): „Quotiens in actionibus . . . ambigua oratio est, commodissimum est, id accipi, quo res, de qua agitur, magis valeat quam pereat.“ 3) Siehe oben S. 259. 4) Hiermit steht nicht im Widersprüche, wenn id) oben (S. 255 und 261) uachgewiesen habe, daß der Rechtsgrund der Klage für den erkennenden Richter von Bedeutung ist und für ihn bindende Kraft hat Gewiß ist dies

der Fall. Aber hier handelt es fid) darum, daß dieser Rechtsgrund von dem Kläger mir mit einem unrichtigen Namen bezeichnet ist. Hieran i|t, meine ich, der Richter nicht gebunden. 5) Bergt, v. Linde, Lehrbuch deS Civilprozesses §. 190 Note 5, ferner Grävell, welcher in seinem Commentar zur Allgem. Gerichts-Ordnung Bd. I §. 176 S. 495 sagt: „Wenn der Kläger dem in der Klage erngeschlossenen Rechtsgeschäfte einen Namen giebt, so begeht er etwas Ueberflüssigeö, wobei ein begangener Irrthum ihm 41m so weniger schadet, als solches blos ein

267 xiß') als richtig anerkannt, aber es auch nicht selten verkannt, wie fol­

gendes Beispiel lehrt:*2) Es trat Jemand, der übermäßige Prozente be­ zahlt hatte, deshalb klagend auf, und obgleich er in der thatsächlichen Begründung der Klage eine irrthümliche Zahlung nicht behauptet hatte, so bezeichnete er sein Klagerecht doch als die Rückforderung einer aus

Irrthum geleisteten Zahlung (condictio indebiti).3)4 *Der 6 Richter, hier­ durch irre geleitet und anstatt sich nur an die Klage-Thatsachen zu hal­

ten, legte dem Kläger den Beweis des Irrthums auf/) und da dieser

nicht beigebracht werden konnte, so ging der Prozeß für den Kläger, man kann sagen, durch die Schuld des Richters verloren.

Denn dieser

mußte wissen, daß der Kläger zur Rückforderung der zu viel gezahlten

Zinsen, mochte deren Zahlung irrthümlich oder wissentlich geschehen sein,

jedenfalls berechtigt,^) und daß daher

die angestellte Klage nicht nach

den Grundsätzen der condictio indebiti, sondern nach denen ber condictio

eine causa zu beurtheilen war.

Wenn der Richter aber trotzdem die

Entscheidung über den Klageanspruch von dem Nachweise des Irrthums

abhängig machte, so verstieß er gegen den Sah, daß der Richter den Rechtogrund der Klage nicht nach der klägerischen Bezeichnung und am allerwenigsten nach einer unrichtigen Bezeichnung desselben zu bemessen

Fehler in der Bezeichnung ist," und Stellter, welcher sich in seinem Preuß. Civilprozeß S. 44 so ausdrückt: „Es kann dem Kläger kein Nachtheil daraus entstehen, wenn er ein falsches Rechtöverhältnitz benannt hat, und er kann auf Grund eines anderen Rechtsverhältnisses, als er bezeichnet hat, ein ob­ siegendes Urtheil erstreiten." *) So heißt es z. B. in zwei Entscheidungen des Hessen-Kasseler OberAppellations-Gerichts vom 25. Januar und vom 4. Juli 1764 (v. Canngieser Collectio decisionum supremi jtribunalis appellationum Hasso - Cassellani. Tom. I dec. 85 p. 303. 307 und dec. 135 p. 569. 572): „daß der Richter, wenn er anstatt eines unrichtig angegebenen fundamenti ein anderes und zwar richtigeres in actis erblicke, solches ex officio substituiren und danach urtheilen müsse." 2) Dasselbe ist entnommen aus Röder'S Abhandlungen über praktische Fragen des EivilrechtS Nr. VI S. 127. 128. 3) 1. 1 D. de cond. ind. (12 6), §§. 166. 178 I. 16 Ällg. Landrechts. 4) Man nimmt indessen sowohl nach Römischem als nach Preußischem Rechte an, daß bei der condictio indebiti nur die Zahlung (solutio) und die Nichtschuld (indebitum), nicht aber der Irrthum bewiesen zu werden braucht, sondern daß dieser vielmehr aus dem Nachweise der solutio indebiti vermuthet wird. Vergl. Röder a. a. O. Nr. II S. 47 ff. und das Erkenntniß des König!. Obertribunats vom 26. Septbr. 1850 in Striethorst's Archiv für Rechtsfälle Bd. 9 S. 321. 324. 6) 1. 26 pr. D. de cond. ind. (12. 6) und 1. 18 C. de usuris (4.32), so­ wie §§. 1271. 1272 II, 20 des Allgem. Landrechts und Art. 11 des EinführungS-GesetzeS znm Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851.

268 hat, — ein Sah, welcher als eine Felge davon erscheint, daß die An­ gabe dieses Rechtsgrundes nicht eine Pflicht des Klägers, sondern daS

Aufsuchen desselben Sache des Richters ist. §. 3. Don den Abweichungen, welche sich in den beiden Entwür­ fen zu einer neuen Prozeß-Ordnung aus den Jahren 1830 und 1848 finden.

Es ist schon oben') darauf hingewiesen worden, daß von dem in Rede stehenden Grundsätze der Gerichts-Ordnung die beiden Entwürfe

zu einer neuen Prozeß-Ordnung aus den Jahren 1830 und 1848 ab­ weichen , indem sie außer der Darstellung der Thatsachen auch die An­

gabe des Nechtsgrundes, worauf der Kläger seinen Anspruch stützt, zur Begründung der Klage für erforderlich halten.

Es soll hier schließlich

gezeigt werden, daß die dafür angeführten Gründe nicht stichhaltig sind,

und daß sie daher nicht zu der Annahme führen können, als ob jener Grundsatz ungerechtfertigt wäre. Ter Entwurf vom Jahre 1830’) geht in den Motiven zu §. 104 davon aus,

„daß sich in einem Prozesse das Faktum von dem Rechte

nicht trennen lasse; weil es keine einfache Thatsache, sondern ein qua-

lificirtes rechtliches Faktum sei, welches zur Entscheidung des Richters gebracht werde.

Daher könne auch nur ein rechtliches Faktum, d. h. ein

solches, welches schon unter eine Rechtsregel subsumirt iei, eine Klage

begründen, deren Antrag durch eine Schlußfolge aus NechtSsätzen ver­

mittelt werden müsse.

Und deshalb eben sei es zur gerichtlichen Verfol­

gung eines Anspruches nothwendig, daß nicht bloß der factische, sondern

auch der gesetzliche Grund desselben dargethan werde." — Es ist nun zwar richtig, daß der erkennende Richter die rechtliche Qualität der ihm vor­ gelegten Thatsachen zu prüfen hat, und ich habe selbst an mehreren Stellen3 * )2

dieser Abhandlung nachgewiesen, daß die Klage-Thatsachen für den Rich­

ter nur dann eine Bedeutung haben, wenn er sie in ihrer rechtlichen Verbindung und in ihrer Beziehung auf den ihnen correspondirenden

Rechtssatz betrachtet.

Aber ich habe mich wohl gehütet, zu behaupten,

daß diese Verbindung und dieser Rechtssatz, wie es der Entwurf ver­ langt, von dem Kläger angegeben werden müsse.

Hätte ich dies gethan,

so würde ich die Aufgabe des Klägers mit derjenigen des Richters ver-

*) Siehe oben S. 248. 249.

2) Siehe oben Rote 3 S. 248. Vergl. auch — außer dem dort erwähn­ ten III. Theile des Berichts über die Revision der ersten 46 Titel der Pro­

zeß Ordnung — den im Jahre 1827 zu Berlin erschienenen I. Theil dieses Berichts S. 76 ff. 3) Siehe oben S. 222. 244. 255 und 260. 261.

269 wechselt und vergessen haben, daß während jener die seinen Klageanspruch

begründenden Thatsachen anzuführen, dieser die Rechtsregel dafür auf­ In dieser Weise läßt sich die Trennung des Factums

zusuchen hat.

von dem Rechte allerdings denken, und wenn der Kläger dem Richter nicht vorgreifen will, so hat er nicht, wie der Entwurf meint, nöthig, die Klage-Thatsachen dem Gesetze zu uuterstellen und seinen Anspruch

durch eine Schlußfolgerung aus Rechtssätzen zu begründen. Was würde man auch, frage ich, mit dieser Angabe des Rechtsgrundes der Klage,

wie sie der Entwurf fordert, erreichen?

Wollte man den Richter daran

binden, so würde man die Freiheit seiner Beurtheilung beschränken, und soll er nicht daran gebunden sein, so liegt darin eben daS Zugeständniß,

daß die Angabe des Rechtsgrundes für die Begründung der Klage un­ wesentlich ist?) Der Entwurf vom Jahre 18482) hält, wie in den Motiven zu

§> 208 ausgeführt wird, dafür, „daß der juristische Klagegrund, d. h. die

Rechtsregel, unter welche die Geschichtserzählung falle, deshalb in der Klage ausgedrückt werden müsse, weil, wenn dies nicht geschehe, eine

rechtsbegriffslose, ohne leitendes Princip herumtastende Praxis die Folge davon sei, und weil sich sonst bei jeder entschiedenen Sache streiten lasse:

ob n?s judicata sei oder nicht?

Denn sicherlich sei alles Mögliche be­

rührt und befühlt, aber doch wieder nicht mit juristischem Bewußtsein vorgenommen und abgethan, und um eine solche Unsicherheit zu beseiti­

gen, sei die bestimmte Bezeichnung des Gesetzes oder der Rechtsnorm,

auf welche der Kläger fußen wolle,

erforderlich."

Man kann dieser

Deduction nicht nachsagen, daß sie sich durch eine besondere Klarheit aus­ zeichnet, und man kann ebenso wenig von ihr behaupten, daß sie über­ zeugend ist.

Denn jenes „leitende Princip", welches nach der Meinung

des Entwurfs

in der Bezeichnung des juristischen Klagegrundes liegt,

kann doch immer nur, wie ich schon oben3) gesagt habe, die Bedeutung haben, daß die Angabe des Rechtsgrundes der richterlichen Beurtheilung einen Anhalt gewährt.

Aber es bedarf dessen nicht, wenn man, wie

man muß, annimmt, daß der Richter bei der Prüfung des Rechtsgrun­ des der Klage an die Ausführung der Partei nicht gebunden, sondern

daß diese Prüfung Gegenstand einer selbstständigen Thätigkeit des Rich­ ters ist.

Wenn sich daher, wie der Entwurf weiter meint, bei einer

entschiedenen Sache streiten läßt, ob res judicata

sei oder nicht, so

kann der Grund hiervon eben nur in der MangelHastigkeit der „ohne

juristisches Bewußtsein" aber nicht darin liegen,

getroffenen Entscheidung der Sache, sicherlich daß der RechtSgrund der Klage in derselben

nicht dargestellt ist. — *) Siehe oben Rote 4 S. 266. ®) Siehe oben Rote 1 S. 249. 3) Siehe oben Rote 3 S. 266.

— Soll

270



ich hiernach das Resultat der gesammten Erörterung kurz

zusammenfassen, so geht es dahin: daß die Vorschrift des §. 20 Titel 5 Theil I der Allgemeinen Gerichts-Ordnung, indem sie in Uebereinstim­

mung

mit

dem

gemeinen Rechte die Angabe

des Rechtsgrundes der

Klage für kein nothwendiges Erforderniß zur Begründung derselben er­

klärt, sondern das Aufsinden dieses Rechtsgrundes dem erkennenden Rich­ ter überläßt, einen Grundsatz ausspricht, welcher meines Erachtens ge­

billigt werden muß, weil er dem Geiste der Gerichts-Ordnung sowohl, als auch demjenigen der neueren Prezeßgesetzgebung entspricht,

durch

diejenigen Argumente aber, welche sich dagegen geltend machen lassen,

nicht alterirt wird.

271

VI. Interpretation der lex 43 Dig. de usuris

(XXII, 1).

Wie ist der darin erwähnte Fall nach den Grund­ sätzen deS Preußischen Allgemeinen

Landrechts zu

entscheiden? Vom Gerichts-Assessor Francke in Gardelegen.

Erster Abschnitt. Interpretation der lex 43 Dig. de usuris (XXII, 1). Die lex 43 eit. lautet: „Herennius Modestinus respondit, ejus temporis, quod cessit, postquam fiscus debitum percepit, eum, qui mandatis a fisco actionibus experitur, usuras, quae in stipulatum deductae non sunt, petere posse.“ Hinter petere haben ältere Juristen ein „non“ einschieben wollen, ohne jedoch eine handschriftliche Autorität dafür anzuführen Eine solche existirt auch nicht?) Giebt die Stelle daher ohne die Emendation einen juristischen Sinn, der mit allgemeinen Grundsätzen und anderen Stellen nicht im Widerspruch steht, so leuchtet die Unzulässigkeit jenes Ver­ fahrens ein. Man hat sich dabei außer der vermeintlichen ratio Juris auf die Auto­ rität der Basiliken gestützt, in welchen das fr. 43 tit. 3 lib. XXIII31) 2lautet: 1) Vergl. Noodt, de foen. et usur. lib. III c. 10. Cujac Observat lib. *26 cap 25 (tom. III p. 751). Catharin. Observ. ad legem 43 de usur. (Meerm. thes. VI. p 777). Noch Glück, Comment. XVI, S. 401 ff. vertheidigte die Emendation. Vergl. jedoch Bd. XXI, S. 49 und 50. 2) Vergl. Mühlenbruch, Lehre von der Cesston S. 581 Note 122. 3) edit. F ab rot. tom. III pag. 387, edit. Heimb. tom. II p. 717.

272 „Eav Tcp Sypoaup xaraßaAcbv exycopyScb rb yploq crou, rou

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pr] eruyss zTtepcoTTjbel^ Die Stelle würde zu übersehen sein:

„Wenn ich der Staatskasse

deine Schuld bezahle, und sie mir die Forderung abtritt, so kann ich von dir nicht Zinsen für die Zeit seit der von mir geschehenen Zahlung fordern, wenn du nicht etwa in dem Befragungscoutract (seil, zu deren Versprechung) aufgefordert bist."

Diese Stelle giebt jedoch keine Veranlassung zu der Emendation.

Denn die Basiliken sind Darstellungen des Justinianischen Rechts aus griechischen Uebersehuugen, Commentaren und Auszügen.

Sie enthalten

häufig materielle Abänderungen der Rechtssähe, indem man Widersprüche beseitigen und das Justinianische Recht mit dem neuesten ausgleichen, zu

müssen glaubte. verändert.

So ist denn auch die Fassung unserer lex 43 gänzlich

Man hat das „debitum percepit“ in einem bestimmten ein­

seitigen Sinne aufgefaßt, den man, wie sogleich gezeigt werden soll,

nicht

nothwendig hineinzulegen braucht und gewöhnlich nicht hinein­

gelegt hat.

Sodann hat man willkürlich die Negation eingeschoben.

Nunmehr giebt die Stelle negativ an, was der Kläger nicht bean­ spruchen könne, während die Pandectenstelle positiv enthält, was er zu fordern befugt sei.

Diese Veränderung des

Inhalts war auch dem

Scholiasten nicht entgangen, der dazu bemerkt, es werde mehr gesagt, als in den Digesten?)

-

Nach allem diesem kann man aus der Stelle in den Basiliken höch­

stens entnehmen, welche Rechtsansicht man in späterer Zeit über den fraglichen Fall hatte;

daß dieselbe aber mit dem Justinianischen Recht

übereinstimme, ist damit keinesweges entschieden?)

Hiernach kann nur der Eingangs angegebene Text der Interpreta­ tion zu Grunde gelegt werden.

Ich übersetze denselben, wie folgt:

„Herennius Modestinus hat ein Rechtsgutachten dahin abgegeben:

für die Zeit, welche nach dem Erwerb einer Forderung durch den Fiscus verflossen sei, könne derjenige, welcher das ihm vom Fiscus übertragene

Klagerecht gerichtlich geltend mache, Zinsen fordern, auch wenn solche nicht ausbedungen seien."

Bevor ich auf den in der Stelle enthaltenen Rechtssah näher ein­

gehen kann, ist erläutern.

es nöthig, den thatsächlichen Inhalt etwas genauer zu

Dabei fragt sich zuvörderst,

ob der Fiscus als Universal-

successor oder als ursprünglicher Gläubiger oder als Cessionar zu den­ ken sei.

*) Basil, ed. Fabrot. tom. III p. 452. 2) Vergl. über die Bedeutung der Basiliken als Jnterpretationsquelle: Puchta, Institut. Dd. I, S. 707. 709. 711 ad 3. 712.

273 Die erste Annahme ist mit den Worten des. Textes wohl zu ver­ einigen und führt zu keinen Widersprüchen.

So ist der Fall auch mei-

stens verstanden.') Die

zweite Annahme, daß Fiscus ursprünglicher

widerspricht zwar dem Wortlaut der Stelle nicht.

Gläubiger lei,

Allein bei der bekann­

ten Kürze der Römischen Juristen hätte Modestin alsdann gewiß die

Umschreibung

in den Worten »ejus temporis — percepit“ vermieden.

Die geläufige Wendung »si fiscus pecuniam stipulatus sit,“ oder dergl. würde genügt haben; die folgenden Worte »eum, qui — petere posse“

hätten sich sogleich passend angeschlossen und dennoch den Gedanken voll­

ständig wiedergegeben.

sich ergeben wird,

Uebrigens sind die Rechte des Cessionars, wie

in beiden Fällen,

mag Fiscus

als ursprünglicher

Gläubiger oder als Erbe gedacht werden, dieselben.

Die dritte Auffassung, nach welcher Fiscus selbst als Cessionar an­ gesehen werden soll, ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt.

Doch

müßte ich der Entwicklung vorgreifen, wenn ich meine Ansicht schon hier begründen wollte. .

Bisher ist vorausgesetzt, daß percipere bedeutet „erwerben."?) Der Ausdruck kommt aber auch in dem Sinne von „Befriedigung, Bezah­ lung erhalten" vor.')

Das »debitum percepit“ wäre alsdann auf die

Bezahlung der Schuld seitens des Klägers an den Fiscus zu beziehen,

und der Inhalt der Stelle folgender:

Der procurator i. r. s. kann für die Zeit seit der Zahlung an den

FiScus Zinsen fordern, auch wenn dergleichen nicht ausbedungen sind. Indem man füglich annehmen kann, daß das mandatum actionis sogleich bei der Zahlung ertheilt sei, der Zeitpunkt beider also zusammentreffe, so würde der Satz, welcher so viel Anstoß erregt hat, der Satz nämlich,

daß der Cessionar auch Zinsen für die Zeit nach der Cession einklagen

könne, noch viel schärfer formulirt sein. Die, welche sich hierzu nicht verstehen können, müssen daher die

zweite Übersetzung des »debitum percepit“ verwerfen. Dagegen müssen

diejenigen, welche auf die Autorität der Basiliken hin die obengedachte

Emendation vornehmen wollen, das „percipere“ in dieser Weise auf­ fassen, weil sie, percepit auf die Zeit der Succession bezogen, wegen der eingeschobenen Negation dem Cessionar die Zinsen selbst für die Zeit

vor der Cession absprechen würden, — eine Ansicht, die noch von Nie­ mandem aufgestellt zu sein scheint.

*) Vergl Noodt a. a. O. Merill. Variant. ex Cnjac. lib. III cap. 33 pag 356. v. Vangerow, Leitfaden Bd. 3 S. 122. Puchta, Abh. in Weiske'ü Rechtslex. Bd.2 S. 659, v Holzschuher, Theorie u. Casuistik Bd.3 S. 134.137. •) Vergl. z. B lex 17 D de alim. leg. (34. 1). a) debitum percepisse in lex 77 §. 31 D. de leg. II (31), vergl. lex 36 D. de fidej. (16. 1), lex 46 de pact. (2. 14).

274 Meines Erachtens sind beide Nebersetzungen berechtigt.

Deshalb

kann man nicht sagen, daß die Basiliken den Fall geradezu falsch auf­

gefaßt haben, wie behauptet worden ist,') sie haben den Inhalt nur ab­ sichtlich verändert.

Es werden daher beide Auffassungen bei den nach­

folgenden Darstellungen berücksichtigt werden. Ob der Anspruch auf Zinsen dem Kläger ausdrücklich mit abgetreten worden,

geht aus der Stelle nicht hervor.

Dies ändert jedoch in der

Sache nichts, wie sich unten ergeben wird.

Endlich ist aus den Worten „qui mandatis a fisco actionibus

experitur“ zu entnehmen, daß der Cessionar das ganze, abgetretene Klagerecht geltend macht, obwohl der decisive Theil des Responsums nur von den Zinsen spricht (usuras petere posse). Es bleibt daher ein genaueres Eingehen auf die Frage, ob die Entscheidung Modestin's auch auf den Fall passe, wenn der Kläger die Zinsen allein, ohne das Ka­

pital, forderte, ausgeschlossen?) Nach dieser Erläuterung des thatsächlichen Inhalts der lex 43 gehe

ich

zur Erörterung des darin enthaltenen Rechtssatzes über, wobei ich

namentlich zu zeigen versuchen will, daß die Entscheidung Modestin's, auch wenn man den Fiscus als Nniversalsuccessor auffaßt, ohne Ein­

schränkung zu verstehen sei, so daß der Kläger nicht blos Zinsen für die Zeit bis zur Cession, sondern auch darüber hinaus bis zur Erfüllung

der Hauptverbindlichkeit beanspruchen könne. In die Behandlung der Aufgabe glaube ich nur diejenigen Rechts­

materien hineinziehen zu dürfen, welche in wesentlicher Beziehung zu der Entscheidung des Juristen stehen; ein näheres Eingehen auf alle

diejenigen, welche in der Stelle angedeutet finb,3* )*4 würde über den Zweck einer Auslegung hinausgehen.

Der Gang der Darstellung ordnet sich am einfachsten, wenn man zuerst die Entstehung der Zinsobligation, d. h. das Recht des Fiscus auf Zinsen,

sodann die Ansprüche des Cessionars

auf dieselben in's

Auge faßt. I. Das Recht des Fiscus auf Zinsen. Eine Verbindlichkeit, Zinsen zu zahlen, beruht entweder auf einer Willenserklärung oder auf einer Rechtsregel?)

Die Annahme der ersteren

') Mühlenbruch a. a. O. S.581 Note 122. v. Vangerow a. a. O. S. 122. *) Bei der Darstellung der Grundsätze des Allgem. Landrechts werde ich auf die Frage wegen Nachforderung der Zinsen eingehen müssen. 3) z. B. die Bedeutung der responsa, das Wesen der stipulatio u. bergt 4) cf. lex 49 §. 1 D. (19. 1) lex 58 pr. D. (36.1). Vergl Weber, Ver­ suche über das Eivilrecht S. 237. v. Savigny, System bes heutigen Römi­

schen Rechts VI S. 122. 123. Koch, Syst. b. Preutz. Privat-Rechts II S. 19.

275 ist im vorliegenden Falle durch die Worte „quae in stipulatum deductae non sunt“ ausgeschlossen. Denn obwohl der Anspruch auf Conventionalzinsen nicht gerade in allen Fällen eine stipulatio voraussehte, so ist doch ein solcher Gegensatz gar nicht hervorgehoben. Eine allgemeine Rechtsregel, auf welche sich da S Recht des Fiscus gründen könnte, z. B. mora in Folge einer Interpellation, ist ebenfalls nicht angedeutet. Dadurch wird man von selbst darauf hingeführt, daß die Zins­ obligation nur in der Individualität der Person des Gläubigers ihren Grund haben müsse, d. h. daß der Fiscus eine besondere Begünsti­ gung, Zinsen zu fordern, genieße. Die Existenz dieses Vorrechts wird denn auch durch andere Stellen außer Zweifel gesetzt. So heißt es in der lex 17 §. 5 D. de usuris: „Fiscus ex suis contractibus usuras non dat, sed ipse accipit66... und im folgenden §. 6: „Si debitores, qui minores semissibus praestabant usuras, fisci essecoeperunt, postquam ad fiscum transierunt, semisses cogendi sunt praestare.tf Das Vorrecht wird ferner vorausgesetzt, aber die Anwendbarkeit auf den betreffenden Fall verneint in der lex 16 §. 1 eod., wo es heißt: „Quum usurae pretii fundi ab eo, qui a fisco emerat, peterentur, et emtor negaret traditam sibi possessionem, Imperator decrevit, iniquum esse, usuras ab eo exigi, qui fructus non percepisset.“ Endlich ist von dem Zinsprivilegium in der lex 6 pr. D. de jure fisci (49. 14) die Rede, wo gesagt wird: „Fiscus, quum in privati jus succedit, privati jure pro anterioribus suae successionis temporibus utitur, ceterum posteaquam successit, habebit privilegium suum. Sed utrum statim atque coepit ad eum pertinere nomen, an vero posteaquam convenit debitorem, an postea­ quam relatum est inter nomina debitorum, quaeritur; et quidem usuras exinde petit fiscales, etsi breviores debeantur, ex quo convenit certum debitorem et confitentem. At in privilegio varie rescriptum est; puto tarnen exinde privilegio locum esse, ex quo inter nomina debitorum relatum nomen est.tf Die letzte Stelle hat ein näheres Interesse für das Verständniß der lex 43. Ihr Sinn ist folgender: Der Fiscus als Universalsuccessor kann nach der Succession von seinen Privilegien Gebrauch machen. Allein der Jurist will den Zeitpunkt genauer bestimmen, giebt die verschiedenen Möglichkeiten an und erwähnt ein bestimmtes, das Zinsprivilegium; dieses, meint er, komme unzweifelhaft von da ab zur Anwendung, seit Fiscus den Schuldner, der seiner Person nach gewiß und geständig sei, belangt habe. Allein, fährt er fort, in Bezug auf die Privilegien seien Entscheidungen verschiedenen Inhalts ergangen, er glaube, daß sie von da ab ihre Wirksamkeit äußern, nachdem die Forderung in die Listen der Schuldner eingetragen sei.

276 So verstanden, enthält der Schlußsatz die Ansicht, welche als gel­

tendes Recht zu betrachten ist,1) sowohl bezüglich des privilegii usurarum, als sonstiger Vorrechte.

Wie hanvonirt dies nun mit unserer

lex 43, insofern man sich in dieser den Fiscus als Universalsuccessor

denkt?

Tenn bezieht man percepit auf die Zahlung des Klägers an

den Fiscus, so ist von einem Anfänge der Zinsobligation nicht die Rede

und eine Collision zwischen beiden Stellen nicht vorhanden. In der lex 43 ist eine Eintragung in die Listen nicht erwähnt;

allein nach der Einrichtung der fiscalischen Verwaltung geschah dieselbe jedenfalls bald nach der Erwerbung, und so könnte Modestin, dem eS

in unserer Stelle auf eine genaue Bezeichnung des Anfanges der Zins­ obligation nicht ankam, den Zeitpunkt der Succession und der Eintra­ gung identificirt haben.

Mühlenbruch2) bezieht den Schlußsatz auf alle übrigen privilegia

außer dem privilegium usurarum und betrachtet die vorhergehenden Worte et quidem — confitentem als das geltende Recht bezüglich des Anfanges

der Zinsverbindlichkeit.

Danach wäre die Auffassung unserer lex 43,

daß Fiscus als Universalsuccessor zu denken sei, nicht möglich.

Denn

Fiscus hat nicht geklagt, und doch soll schon ein Anspruch auf Zinsen

entstanden sein.

Allein, das Wort privilegium ist zu Anfang der Stelle

augenscheinlich in dem allgemeinen Sinne von „Vorrecht überhaupt" gebraucht.

Darauf ist ein bestimmtes Privilegium (usurarum) erwähnt.

Nach dem gemeinen Sprachgebrauche bezieht sich daher der Schlußsatz ent­

weder gleichfalls nur auf das letztere, oder das Wort privilegium ist, wie zu Anfang, in jenem allgemeinen Sinne gebraucht, umfaßt dann

also wiederum das privilegium usurarum. Der Inhalt aller obigen Stellen rechtfertigt die Annahme, daß der

Fiscus als ursprünglicher Gläubiger wie als Universalsuccessor das be-

sondere Recht hatte, von seinen Schuldnern Zinsen i. e. semisses zu

fordern, ohne daß eine Verabredung deshalb getroffen war oder sonstige gesetzliche Gründe vorlagen.

Da dergleichen Gründe, wie, bemerkt, in

der lex 43 nicht vorliegen, so wird das privilegium auch hier voraus­

gesetzt werden müssen. Eine Streitfrage bezieht sich auf die Natur dieser fiscalischen Zin­ sen.— Meines Erachtens ist die Pflicht des Schuldners zur Zinszahlung

als gesetzliche Folge des Eintritts der objectiven mora anzusehen, die Zinsobligation also mit dem Zeitpunkte begründet, sobald die Erfüllung

seitens des Gläubigers gefordert werden kann (mit dem dies veniens).3)

*) Bergt. Merill. Var. ex Cuj. a. a. O. niffe S. 610 ff.

Unterholzner, Schuldverhält-

Lehre von der Cession S. 576. 8) Daher die Entscheidung in der lex 16 §. 1 de usur. (cf. S. 275). Denn der Verkäufer kann vor der Tradition das pretium nicht einklagen.

277 Alsdann kann man die Zinsen zwar als Verzugszinsen im weiteren Sinne, nur nicht als selche betrachten, welche wegen fingirter culposer Verzöge­ rung (mora ex re) zu zahlen sind?) Nähme man das letztere an, so

mutzte man auch die übrigen Wirkungen der mora im technischen Sinne eintreten lassen?) Dazu geben die betreffenden Gesetzesstellen keine Ver­ anlassung. Denn mora kommt auch in der Bedeutung des blotzen Ab­ laufs der Zeit und der Nichterfüllung an sich vor?) So lätzt sich die lex 10 §. 1 de publ. (39. 4) verstehen. Die andere Hauptstelle lex 17

§. 5 D. de usur. spricht von den foricariis, qui pecuniam tardius in­ tern nt, gebraucht also nicht einmal den Ausdruck mora. Die- sonst noch herbeigezogene Analogie des Zinsprivilegiums der Minderjährigen kennte, selbst wenn dieses eine mora im technischen Sinne begründete, was ebenfalls noch streitig ist, nichts beweisen. Denn die Anwendung der Analogie bei exceptionellen Nechtssätzen ist nur zulässig, wenn diese in sich selbst ein neues Princip enthalten. Ein solä)es ist hier nicht aufzufinden. Ueberdies ist das Privilegium der Minorennen auf gewisse Fälle beschränkt?) Man mützte also das des Fiscus eben­ falls auf gewisse Fälle beschränken. Dem widerspricht aber wieder die

lex 17 §. 5 eit., welche ganz allgemein sagt: ex suis contractibus usuras accipit.

Uebrigens sind in jedem Falle die fiscalischen Zinsen usurae officio judicis praestandae (legales), und in Bezug auf diese hat der procurator in rem suam immer gleiche Rechte?)

II. Das Recht des klagenden Cessionars auf die Zinsen.

Die Ansprüche des Klägers in unserer lex 43 haben ihren Grund in der Nebertragung des Klagerechts (mandatis a fisco actionibus), die des Fiscus bezüglich der Zinsen in einem persönlichen Privilegium. Es ist daher nachzuweisen, daß der Kläger auch von letzterem Gebrauch

wachen könne. 1) Vergl. Wolff, Lehre von der mora S. 166; v. Vangerow, Leitfaden Bd. 3 S. 189. 190; v. Madai, Lehre von der mora S. 160 ff., kommt im Wesentlichen zu demselben Resultat, er giebt uur, indem er objective und srbjective mora nicht unterscheidet, nicht an, was sie sind, sondern bloß, daß sie n i ch t Folge der mora ex re sind. 2) So z. B. Puchta, Lehrbuch §. 269 S. 401 ff., Vorlesungen über Pandecten.

Gneist, ungedruckte

®) z B. lex 7 pr. D. quando dies leg. (36. 2), lex 1 §. 1 de leg. (31). 4) C 3 C. in quib. caus. in int. (2. 41), lex 26 § 1 D. de fideic. lib. (40. 5) in den Worten „Gerte minoribus“ bis zu Ende. 6) Bei Darstellung der Grundsätze des Allgem. Landrechts bin ich ge­ nöthigt, auf den Unterschied zurückzukommen.

278

Dies erfordert eine Darlegung des Wesens der Römischen Cession, wobei das Verhältniß des Cessionars zum Schuldner, insbesondere die Befugniß, sich persönlicher Privilegien des Cedenten zu bedienen, hervor­ zuheben ist. Aus diesen Grundsätzen wird sich das oben angegebene Verständniß der lex 43 (vergl. S. 274) rechtfertigen und die Wider­ legung abweichender Auslegungen ergeben. 1. Das Wesen der Römischen Cession überhaupt. Eine Singularsuccession in Obligationen kannten die Römer, we­ nigstens in der älteren Zeit, nicht. Das Recht des Gläubigers wurde als mit seiner Person so eng zusammenhängend gedacht, daß eine Ver­ äußerung desselben die Zerstörung der Obligation zur Folge gehabt haben würde. Dies ergiebt sich schon daraus, daß man keine Uebertragungsform hatte. So sagt Gaius/) nachdem er von den Arten der Eigenthumsübertragung gesprochen: „obligationes quoque modo contractae nihil eorum recipiunt; nam quod mihi ab aliquo debetur, id si velim tibi deberi, nullo eorum modo quibus res corporales ad alium transferuntur, id efficere possum, sed opus est, ut jubente me tu ab eo stipuleris: quae res efficit, ut a me liberetur et incipiat tibi teneri, quae dicitur novatio obligationis.“ Es wird außerdem ausdrücklich in einer Pandectenstelle*) gesagt: „non solet stipulatio semel quaesita ad alium transire nisi ad heredem vel ad stipulatorem.“ Surrogate der Singularsuccession waren die Novation und das man datum actionis.3*) 42 Das letztere lehnte sich an den Gedanken der Novation insofern an, als es nöthigenfalls zur Klage kam und durch die litis contestatio eine Art von Novation bewirkt wurde/) Die Forderung nämlich erzeugte (in der Regel) eine actio, welche der Gläubiger durch einen Procurator geltend machen konnte. Geschah die Bestellung des letzteren mit der Abrede, daß er das Beigetriebene behalten solle, so stand der Gläubiger dem Procurator gegenüber vermöge des Mandatsverhältnisses so, als ob nicht er, sondern der Procurator Gläubiger wäre, während der letztere dem Schuldner gegenüber nur als Stellvertreter des Gläubigers galt. Als solcher hatte er bis zur litis contestatio kein von dem Willen des Gläubigers unabhängiges Recht: libera potestas est vel mutandi

*) II, §.38 vergl. Koch, Lehre von Uebertragungen S. 27; Windscheid, die actio des Röm. Civil-Rechts S. 164. 2) lex 25 §. 2 D. de usufr. (7. 1). s) Gaius II, §. 39: Sine hac vero novatione non potes tuo nomine agere, sed debes ex persona mea quasi cognitor aut procurator meus experiri. 4) Fit autem delegatio vel per stipulationem vel per litis contestationem. lex 11 §1 de novat. (46. 2). Vergl. die Abhandlung von Bähr zur

CessionSlehre in Gerber's und Jhering'S Jahrbüchern Bd. 1 S. 368.

279 procuratoris vel ipsi domino Judicium accipiendi.1)* *Daß 4 dieser Satz ursprünglich auch auf den procurator in rem suam Anwendung fand, ist nach der Stelle-bei Gaius (Note 3 S. 278) sehr wahrscheinlich. Wenn der Gläubiger die Forderung vor der Klage des Procurators ein­ zog, so hatte der letztere hiergegen kein Mittel, sondern nur einen An­ spruch an den GläubigersAus dieser Unvollkommenheit der Rechte des procurator 1. r. s. geht hervor, daß die Annahme, es habe zwar nicht das obligatorische Verhältniß, aber doch das aus demselben entsprungene Recht über­ tragen werden können, für die ältere Zeit nicht richtig ist?) Dem wür­ den auch die Worte der lex 25 §. 2 eit. (S. 278) ,,stipulatio semel quaesita“ entgegenstehen, es ist hier offenbar gerade das aus der Stipulation entsprungene Recht bezeichnet. Mit der litis contestatio dagegen wurde der Schuldner dem pro­ curator in rem suam gebunden, dieser wurde wie jeder Stellvertreter als die eigentliche Partei behandelt, und die condemnatio in der Formel auf seinen Namen gestellt/) In der neuesten Zeit wird ein lebhafter Streit darüber geführt, ob das Römische Recht bei dem Grundsätze, daß eine Singularsuccession in obligatorische Rechte nicht stattffnde, stehen geblieben fei.5) * Ich möchte dies nicht bejahen. Da es nun hier darauf aukommt, nachzuweisen, daß der procurator in rem suam von einem persönlichen Privilegium des Gläubigers Gebrauch machen dürfe, so möchte man meinen, daß die Annahme, der Eesl'ionar sei inzwischen als wirklicher Gläubiger aner­ kannt, dem entgegenstehe. Dies würde nicht richtig sein. Das neue Princip knüpfte sich nämlich an die Einführung von utiles actiones, d. h. man gab in gewissen Fällen dem Interessenten unabhängig von dem Willen des Gläubigers eine Klage. Dahin ge­ hören die Klagen der vertretenen Personen aus praetorischen Stipula­ tionen des Procurator's?) aus Verträgen der Tutoren 2c.;7) das S. C. Trebellianum gab sie für und wider den Universalfideicomuüssar?) die*) fr. 16 D. de procur. (3. 3). *) C 3 C. mandati (4. 35). ’) Windscheid a. a O. spricht sich in dieser Weise aus. Er hebt jedoch meines Erachtens die historische Entwickelung nicht genug hervor. Vergl.

S. 125. 126. 156—164. 4) lex 11 §1 de novat. (46. 2).

Gaius III § ISO. IV §. 86.

5) Wind scheid a. a. O., Bahr a. a. O., Delbrück, Uebernahme fremder Schulden, Mühlenbruch ca. a. O., Puchta, Abhaudl. und Weiske's Rechtöl., Koch, Uebergang der Forderungorechte.

®) Bergl. lex 5 D. de stip. praet. (46. 5). 7) Bergt, lex 5 §. 9 de pec const. (13. 5), lex 9 pr. D. (26. 7). ®) lex 1 1.2 D. ad 8. C. Trebell. (36 1).

280 fern wurde unter Antoninus Pius (138—161 n. Chr.) der Erbschafts­

käufer gleichgestellt, und so erhielt sie auch der Käufer einer Forderung. *) Nirgend findet sich der Satz ausgesprochen, daß dem procurator i. r. s. in allen Fällen gestattet sei, ohne den Nachweis des Mandats utiliter zu klagen.

Jedenfalls wird man es für die Zeit der classischen

Jurisprudenz nicht behaupten können. Hierin stimmen Bähr und Wind­

scheid, sonst Gegner von Mühlenbruch, mit diesem überein?) In der weiteren Entwickelung der Lehre, auf die es hier nicht ge­ nauer ankommt, wurde das alte Princip so vielfach modificirt und von Ausnahmen durchbrochen?) daß allmählig der entgegengesetzte Grundsatz, wenn er auch nicht mit völliger Klarheit ausgesprochen ist?) an dessen Stelle getreten zu sein scheint, eine Erscheinung, welche im Römischen Recht nicht ungewöhnlich ist.51) 2 * 4

Unsere lex 43 de usur. rührt jedoch aus der ersten Hälfte oder Mitte des 3. Jahrhunderts her. Modestin war Schüler Utpian's, und dieser erwähnt ihn in Schriften aus der Zeit zwischen 211—217; die C. 5. C. (3. 42) vom Jahre 239 spricht von einem seiner responsa.6) Da nun in dieser Zeit das neue Princip erst in einzelnen Fällen sich Bahn zu brechen begann durch Einführung von utiles actiones, unsere lex 43 aber von einem mandatum actionis handelt, so ist hei Bestim­ mung der Befugnisse des Klägers lediglich von der Grundanschauung des Römischen Rechts auszugehen.

Wollte man dagegen einwenden, daß es nicht allein darauf ankomme, was Modestin mit der Entscheidung gemeint habe, sondern auch darauf, wie Justinian, indem er die Stelle dem corpus Juris einverleibte, die­ selbe verstanden habe; so müßte man erst nachweisen, daß die Verände-

1) C. 7 C. de her. v. act. vend. (4. 39) aus der Zeit nach 286 nach Chr. Diocletian regierte von da an mit Maximinian. 2) Bähr a. a. O. S. 381—390, Mühlenbruch a. a. O. S. 135—148, Windscheid a. a. O. S. 124. Die lex 55 D. (3. 3) möchte dem nickt ent­ gegenstehen, dieselbe scheint die Rücknahme des Mandats vorauszusetzen. 8) Dahin gehört die Wirkung der Benachrichtigung, womit man den Ge­

danken der Novation fallen ließ, die Vererblichkeit der Rechte des procur. i. r. 3. vor der Lit. Cent. u. dergl. 4) Die Ausdrücke ,,suo nomine“ und ,,exemplo creditoris“ bilden einen scharfen Gegensatz zu den Worten des Gaius II 39 (oben Note 3 S. 278) Cf. C. 8 (4.39), C. 5 (4. 15), C. 18 (6 37) lex 29 2 D. (7. 4). Sie kommen nur in Verbindung mit der utilis actio vor Justinian sagt: debitum transferre donationis titulo in C. 23 C. (4. 35) ®) Man denke an die Lehre von der Fähigkeit der Hauskinder, eigenes Vermögen zu haben, an die Agnation und Coguation als Successionsgründe. Vergl. Bähr a. a. O. S. 423, Jhering daselbst S. 111. 6) Puchta, Jnstit. Bd. 1 S. 372. 468. 469.

281 rung der Rechtsanschauung auf beit Umfang der Rechte deS procurator in rem suam einen Einfluß gehabt

Dies ist jedoch

habe.

aus den

Quellen nicht zu begründen, wohl aber, wie sich ergeben wird, das Gegen­ theil?)

2.

Der Umfang der Rechte des procurator in rem suam.

Für den Schuldner wird in dem obligatorischen Verhältnisse nichts geändert, er bleibt der Schuldner des Cedenten. Der procurator in rem suam gilt ihm gegenüber nur als Stellvertreter des Gläubigers.

Dem­

gemäß hat er gerade so viel Befugnisse, wie der Cedent, er erhält nicht

mehr und nicht weniger, als dieser erhalten haben würde. tragen ist die Ausübung des Klagerechts.

actio zu erlangen ist,

Denn über­

Alles, was mit der einen

was die Erfüllung umfangreicher oder wirksamer

macht, kann auch der procurator i. r. s. geltend machen. in der lex 23 pr. de her. v. act. vend. (18. 4):

So heißt eS

Venditor actionis,

quam adversus prinicipalem reum habet, omne jus, quod ex ea causa competit, tarn adversus ipsum reum quam adversus intercessores hujus

debiti cedere debet, nisi aliud actum est.2)

Zu diesem omne jus ge­

hören also, wie die Stelle ergiebt, die Rechte aus der Bürgschaft, Pfand­ rechte?) insbesondere der Anspruch auf gesetzliche Zinsen.

Wegen der

letzteren bedarf es keiner ausdrücklichen Eession, denn auf sie geht keine

besondere Klage, sie gelten als zufällige Erweiterung der Hauptforderung und werden mit der für diese gegebenen Klage geltend gemacht?)

Kann sich nun der procurator i. r. s. auch persönlicher Privilegien des Gläubigers bedienen?

In Bezug auf diese Frage hat man in frühe­

rer Zeit Unterscheidungen gemacht, die zwar von der neueren Wissen­ schaft aufgegeben sind, von denen jedoch die hauptsächlichsten, wenigstens

in Beziehung auf die Auslegung der lex 43, kurz zu betrachten sind. So sagte man,

1) der persönlichen Privilegien des Cedente^ könne der procurator

i. r. s. sich niemals bedienen, sondern nur der dinglichen Vorrechte. Der Satz, in vollem Umfange behauptet, widerspricht geradezu unse-

*) Dies wirb auch von Vertheidigern der Singularsuccession zugegeben. Vergl. Windscheid a. a. £). S. 186, Bahr a. a. £>. S. 361. 445, Arndts Pandecten 377 S. 378 Note 4.

2) Vergl. namentlich die lex 2 pr. eod. 1 (18. 4), Puchta, Vorlesung II S. 20, Mühlenbruch, Lehre von der Zession S. 555. 3) C. 7 de O. et A. (4. 10). C. 8 de her. v. act. vend. (4. 39). 4) Non enim duae sunt actiones, alia sortis, alia usurarum, sed una: C. 4 depos. (4. 34). Vergl. lex 49 §. 1 D. de act. ernt. (19. 1), lex 34 pr. de leg. III (32), v. Holzschuher, Theorie und Easuistik III S. 49. 138, Glück, XVI, S. 397, Koch, Lehre von Uebertragungen S. 171, Mühlenbruch, Ses­ sion S. 418. 555. 557.

282 rer lex 43, auch wenn man dem Kläger die Zinsen für die Zeit nach

der Session abspricht. Manche machten daher eine Ausnahme zu Gun­ sten des Fiscus?) Daß jedoch die Frage damit nicht erledigt ist, be­ weist die lex 24 pr. D. de minor. (4. 4), nach welcher das beneficium

in integrum restitutionis ex capite minorennitatis abgetreten werden kann. 2) Nach einer andern Meinung sollte sich der Sessionar bei der actio mandata der persönlichen Vorrechte des Sedenten bedienen können, wenn die Session eine freiwillige, nicht auf rechtlicher Nothwendigkeit beruhende sei, bei der actio utilis gar nicht?) So lehrte namentlich Do-

nellus, welcher hierauf durch die Verbindung des Ausdrucks suo nomine mit der utilis actio (vergl. Note 4 S. 280) geführt wurde. Den Ge­ brauch aller persönlichen Vorrechte bei der actio mandata zu gestatten, daran hinderte ihn die lex 42 de admin. et per. tut. (26. 7),3) daher

die obige Unterscheidung. In unserer lex 43 ist eine Nothwendigkeit der Session nicht ange­ deutet. Aus jener Unterscheidung wäre daher kein Bedenken gegen die Auslegung derselben zu entnehmen. — Daß indessen bei der actio utilis die Forderung denselben Umfang hatte, wie bei der actio mandata, da­ für sprechen mehrere Stellens) in denen beide Klagen nebeneinander­ gestellt werden, ohne daß irgend ein Unterschied in der Wirkung hervor­ gehoben wird. 3) Cocceji stellte die Meinung auf, ^aß privilegia personae nur dann vom Sessionar geltend gemacht werden könnten, wenn sie mit den Mitteln zur Geltendmachung der Forderung in Zusammenhang ständen, namentlich wenn diese sonst ungültig wäre?)

*) Vergl. Voet, Comment, ex Fand. lib. 18 §§. 12. 13 zu tit. 4. Lauter­ bach, coli, theor.-pr. ad Fand. lib. 18 tit. 4 (tom. 1 p. 904 §§ 56 — 58). a) Vergl. Glück, XVI, S. 399, Mühleubruch a. a. O. S. 563.

s) Donellus, comm. jur. civ. lib. XV cap. 44 pag. 839 vers. 20 col. 1: Eum qui tales actiones*habet, eas movere suo nomine, mandatas autein actiones exerceri ex persona mandantis. Ea res facit, ut qui utilibus actionibus experitur, nihil amplius possit petere, quam quod in re debetur, privilegio autem personae cedentis ullo uti non possit, qui suo nomine agit . . . Aliud vero prob an dum est, cum cessio est necessaria. Quae distinctio inducitur ex responso Fapiniani: uni ex pluribus (lex 42 eit.). 4) C. ult. C. (4.15), C. 18 de leg. (6.37), 0.2 (5. 58). 5) Cocceji de cessione eorum, quae ad beredes non transeunt et con­ tra c. IV §. 7 (vergl. Mühleubruch a. a. O. S. 564; das Cocceji'sche Werk selbst stand mir nicht zu Gebote): Quaedam sunt beneficia, qua quidem personis ratione Singularis suae conditionis indultae sunt, sed ita, ut cohaereant remediis juris ob rem competentibus. äaec remedia si cedi vel ad beredes transire possunt, etiarn privilegia iis annexa una transeunt. ltar si minor actionem amissit,. quae tarnen ei per restitutionem ex capite aetatis salva est. . . . Verum in altera specie ea actionum conditio est, ut

283 Die Unterscheidung ist mit unserer lex 43 nicht zu vereinigen.

Denn

die fiscalischen Zinsen für die Zeit bis zur (Zession müssen unter allen

Umständen als mit der Forderung abgetreten gelten. Mit Recht bemerkt v. Holzschuher,**) es fehle allen diesen Unter­ scheidungen an einem leitenden Princip.

Das hat in der neueren Wis­

senschaft zu der Annahme geführt, daß der procurator i. r. s. im All­ gemeinen aller Vorrechte des Cedenten sich bedienen könne, mögen dieselben

mit Rücksicht auf die Qualität der Forderung oder nur zu Gunsten der Person gegeben sein.

Es folgt dies auch consequent aus der rechtlichen

Stellung desselben. Denn Niemand kann leugnen, daß der Gläubiger durch einen rein prozessualischen Vertreter seine vollen Vorrechte zur Geltung bringen

kann.

Der procurator i. r. s. war aber ursprünglich dem Schuldner

gegenüber nur ein solcher Vertreter.

Er zieht Namens des Gläubigers

die Forderung ein; ob er verpflichtet ist, das Erhaltene jenem heraus­

zugeben, oder berechtigt, dasselbe für sich zu behalten, ist ein besonderes Geschäft zwischen ihm und jenem. Der Grundsatz findet auch seine Bestätigung in mehreren Stellen des positiven Rechts.

Dahin gehören die mehrfach allegirte lex 24 pr.

D. de minor. (4. 4), sodann die C. 1 und 2 C. de bis qui (8. 19) und die C. 3 und 7 C. de privil. fisci (7. 73), welche ergeben, daß die Aus­ übung der fiscalischen Privilegien bei der Geltendmachung des Haupt­

anspruches geschehen kann. , Zwar ist in den letzten beiden Stellen von

einer ausdrücklichen Uebertragung die Rede. Allein wenn die Ausübung streng an die Person gebunden wäre, so müßte auch eine ausdrückliche

Uebertragung wirkungslos sein.

Die letzten Aussprüche sind übrigens

so allgemein gefaßt, daß man an der Allgemeinheit des zum Grunde

liegenden Princips nicht zweifeln darf.

Dazu kommt namentlich unsere

lex 43, nach welcher das Zinsprivilegium des Fiscus für die Zeit vor

der Eession jedenfalls geltend gemacht werden kann, mag man die Stelle sonst verstehen, wie man will.

Insoweit kann dieselbe daher wohl als

Beweis benutzt werden. Andererseits ist das Gegentheil aus den Quellen nicht nacbzuwei-

sen.

Die lex 68 D. de R. J. (50. 17) sagt: „ubi personae conditio lo~

cum facit beneficio, ibi deficiente ea beneficium quoque deficit.“ Nach

per se validae sint et subsistant. — An Privilegien, welche der Forderung eine materielle Erweiterung verschaffen, scheint der Verfasser nicht gedacht zu haben. *) Theorie und Casuistik III S. 135. 136. Bergl. Puchta, Lehrbuch §. 284 S. 419; v. Vangerow, Leitfaden III S. 120—123; Glück, Counnentar XVI S. 401 ff.; Koch, Lehre vom Uebergang rc. S. 171 ff.; Mühlenbruch, Lehre

von der Session S. 561—564.

284 der Römischen Anschauung, namentlich zur Zeit der classischen Juris­

prudenz, möchte jedoch der Cedent, der auch nach der Cession noch als der eigentliche Gläubiger betrachtet wurde,, schwerlich eine deficiens per­

sona genannt sein.

Die Stelle kann daher nur auf den Tod eines

Privilegirten bezogen werden, dessen Erben nach anderen Aussprüchen') allerdinas von den persönlichen Privilegien des Erblassers keinen Ge­ brauch machen durften. Ebenso ist die lex 196 I). eod. 1. zu verstehen.2)

Auch die lex 42 D. de admin. et peric, (26. 7) kann den Grund­ satz nicht umstoßen.

Dort wird das privilegium exigendi des Pupillen

dem verurtheilten Vormunde, dem das Klagerecht gegen den solidarisch haftenden Mitvormund abgetreten ist, abgesprochen: non enim causae sed personae succurritur, quac meruit praecipuum favorem.

welcher das Princip auch in Bezug

bruch

MUhlen­

auf privilegia exigendi

personae aufrecht zu erhalten sucht, kommt über der Auslegung dieser Stelle zu der Ansicht, daß jene alsdann geltend gemacht werden könnten, wenn das Interesse des Cedenten dies erfordere.

auch

prozessualische

Allein dann müßten

Privilegien aller Art dem procurator i. r. s. zu

Gute kommen, da auch diese dem Käufer einer Forderung dieselbe werth­

voller können.

machen und

ihn zur Zahlung eines höheren pretii

bestimmen

Man wird vielmehr mit Puchta und v. Vangerow*) annehmen

müssen, daß privilegia exigendi personae dem procurator i. r. s. nicht

zu Gute kommen. Es läßt sich nicht leugnen, daß das angegebene Princip überhaupt

eine gewisse Einschränkung erleiden muß.

Ausgenommen sind nament­

lich die oben erwähnten prozessualischen Privilegien?)

Dies folgt auch

conseguent daraus, daß der procurator i. r. s. mit der Lit. Cont. selbst dominus litis wird.

Unter diesen Gesichtspunkt ließe sich auch das pri­

vilegium exigendi personae stellen, da dasselbe erst im Concurse, also

in einem Exekutionsverfahren, zur Anwendung kommen kann. Rechnet man dergleichen Fälle ab, so kann man als Regel aufstellen:

dem procurator i. r. s. kommen alle persönlichen Privilegien zu Gute,

welche sich auf ein bestimmtes Rechtsverhältniß beziehen und der For­

derung eine Erweiterung verschafft haben, daher mit ein und derselben actio, welche übertragen ist, geltend gemacht werden können?)

*) C. un C. de privil. dol. (7. 74) lex 19 §. 1 D. de red. auct. (42. 5). 2) Vergl. Mühlenbruch a. a. O. S. 558. 568; v. Vangerow a. a. O. S. 121. 123. 3) Vergl. Mühlenbrnch a. a. O. S. 564. 568. 570.

*) Puchta, Abh. in Weiske's N.-L. S. 658; v. Vangerow a. a. O. S. 123. 5) z. B. das privilegium de non appellando des Fiscus. C. 8 C. quor. appell. (7. 65). 6) Puchta a. a. O S. 656.657; Koch, Lehre vom Uebergang rc. S.171 ff.; Mühlcubruch a. a. O. S. 574. 575.

285 3. Anwendung der Grundsätze auf die lex 43 de usur. Daß das fiscalische Zinsprivilegium in der lex 43 de usur. zu den

letztgedachten Ausnahmen nicht gehört, leuchtet ein. desselben entstandenen Zinsen bilden,

Die auf Grund

wie alle gesetzlichen Zinsen, eine

Erweiterung des Inhalts der Hauptforderung.

Das gefundene Resultat

ergiebt daher ganz von selbst, datz der Kläger die Zinsen, welche der FiScuS zur Zeit der Cession bereits fordern konnte, ebenfalls einklagen

kann.

Dies ist auch, so viel ich aus den eingesehenen Schriften habe

entnehmen können, noch von keinem Juristen der älteren oder neueren Zeit, der auf die Stelle näher eingegangen ist, bestritten. Unsere lex 43 hat aber das Eigenthümliche, datz sie von dem man-

datum actionis bezüglich einer solchen Forderung handelt, deren Inhalt sich auf Grund des

hat.

fiskalischen Privilegiums fort und fort erweitert

Es fragt sich, ob dieser rechtliche Zustand mit dem mandatum

actionis aufhört. Autzer dem Zinsprivilegium lassen sich kaum noch Fälle derselben

Art denken, und in Bezug auf Zins Privilegien des Fiscus oder anderer Personen liegen zufällig Entscheidungen ähnlicher Art nicht vor.

In

den Fällen, in welchen vom Gebrauch der Privilegien seitens des pro-

curator i. r. s. die Rede ist, waren die durch dieselben begründeten Rechte

schon in demselben Umfange, in welchem sie der Procurator geltend macht, vor dem mandatum actionis vorhanden.

Sei es auS diesem Grunde,

sei es, weil die deutschrechtliche Anschauung von der wirklichen Uebertragung des Forderungsrechts

auch manche von denjenigen Juristen*)

beherrschen mag, welche die Römische Theorie der Stellvertretung beim procurator i. r. s. durchzuführen suchen: genug, man hat unsere lex 43

vielfach, wohl meistens so verstanden, datz der Kläger nur für die Zeit

bis zur Cession Zinsen einklagen könne. Wenn es richtig ist, wovon ich ausgegangen bin, datz der Umfang

der Befugnisse des procurator i. r. s. aus seiner ursprünglichen Stellung als

rein

prozessualischen

Stellvertreters abzuleiten ist,

so mutz auch

unsere lex 43 so verstanden werden, das; der Kläger Zinsen über den

Zeitpunkt der Cession hinaus verlangen darf.

Die wechselseitige Be­

ziehung zwischen dem Gläubiger und Schuldner dauert so lange wie die Obligation selbst, hört also mit dem mandatum actionis nicht auf. Die

*j IHering bemerkt in seiner Abhandlung, Iahrb. Bd. 1 S. 102 Note 1, daß auch Mühlenbruch sid) von der Idee, die Cession übertrage das gorderungsrecht, nicht ganz frei machen könne, sei nicht ohne Grund. Vergl z.B. Mühlenbruch a. a. O. S. 5S1 in deu Worten „daß die neue Eigenschaft, welche die Forderung dadurch erlangt hatte, durch ihre Uebertragung auf Nichtprivilegirte nicht wieder von selbst wegfalle."

286 Erweiterungen der Forderung müssen sich demgemäß dem Rechte nach für den Gläubiger auch nach diesem Zeitpunkte fortsetzen; er ist nur

vermöge des Mandatsverhältnisses dem Eessionar gegenüber verpflichtet, dieselben nicht mehr geltend zu machen,

und kann es auch nicht mehr,

sobald der letztere litem contestirt hat.

Wohl aber müssen dem Pro-

curator diese späteren Erweiterungen zu

Gute kommen.

Dieser ist

in Bezug auf die vor der Cession entstandenen Erweite­ rungen nicht weniger als Vertreter des Gläubigers zu he-

trachten, als rücksichtlich der nachher entstandenen.

Gesteht

man jene zu, so ist kein Grund vorhanden, ihm die späteren abzuspre­

chen?)

Der oben aufgestellte Satz würde daher präciser zu formuliren

sein: der procurator i. r. s. kann das Klagerecht in demselben Umfange geltend machen, in welchem es der Gläubiger gekonnt hätte, wenn die

Cesfion nicht geschehen wäre.

Eine analoge Entscheidung in Bezug auf Privilegien ist in den

Quellen, wie bemerkt, nicht vorhanden, indessen finden sich Stellen, welche dies Princip bestätigen: Die lex 2 pr. de her. vel act. vend. (18. 4) lautet: „Venditor he-

reditatis satisdare de evictione non debet,

quum id inter ementem et

vendentem agatur, ut neque amplius neque minus Juris emtor habeat,

quam apud heredem futurum esset, . . .u

Da der Erbschaftskauf nach Römischem Rechte nicht die Forderungs­

rechte selbst

übertrug, sondern den Verkäufer nur zur Abtretung der

Klagen verpflichtetes) so ist

aus der Stelle auch auf den Umfang der

Rechte des procurator i. r. s. zu schließen.

In dieser Beziehung weis't

ihre Fassung darauf hin, daß die Klagen für den Erbschaftskäufer den­ selben Umfang haben sollen, den sie für den Erben gehabt haben wür­

den, wenn der

natürlicher,

Kauf nicht stattgefunden hätte.

daß

es unter Beibehaltung

Es wäre sonst viel

des tempus praesens hieße:

quam apud heredem sit, oder auch fuerit.

Aehnlich ist die Fassung

lex 13 eod. 1.

Roch schlagender ist die lex 6 eod. 1.: „Emtori nominis etiam pignoris persecutio praestari debet,

ejus

quoque quod postea venditor

accepit, nam beneficium venditoris prodest emtori.“

Es möchte gewagt

sein, aus dem Schlußsätze wegen seiner Allgemeinheit weitgehende Fol­

gerungen zu ziehen.

Aber daß das Pfandrecht, welches der Gläubiger

nach der Cession erwirbt, dem Procurator zu Gute kommt, ist ein siche­ rer Beweis dafür,

einmal, daß der Gläubiger auch nach jenem Zeit­

punkte noch als solcher betrachtet wird und accessorische Rechte erwerben

‘) Bergt. Mühlenbruch a. a. O. S. 557. 558; Koch, Lehre vom Uebergang rc. S. 171 ff.

2) lex 2 §. 3 eod. (18. 4).

287 kann, sodann, daß auch der procurator i. r. s. diese geltend rnachen kann.

Ist nun die Art der Entstehung ex jure singulari kein Hinderniß der Geltendmachung, so muß der Kläger in unserer lex 43 die Zinsen für die Zeit nach der (Zession so gut fordern können, wie in jenem Falle der Käufer der Forderung von dem nachher erworbenen Pfandrecht Gebrauch

machen kann. Hierfür spricht der Wortlaut unserer Stelle, da ein Endpunkt nicht angegeben ist, wie v. Vangerow, sonst ein eifriger Gegner dieser Aus­ legung, nicht leugnet?)

So ist die Stelle auch von namhaften Juristen2)

verstanden. Windscheid,^) ein Vertheidiger der Singularsuccession, scheint die Stelle ebenso zu verstehen, indem er unter Bezugnahme auf dieselbe be­

merkt:

wenn

die Forderung

durch

ein

persönliches

Privilegium des

Cedenten eine gewisse rechtliche Gestaltung angenommen habe, so komme

dies dem Cessionar zu Gute. -

Warum ich diese Begründung nicht für

genau halte, habe ich schon oben (S. 279 ff.) bemerkt.

Merkwürdig, daß sich Mühlenbruch/) ein Gegner Windscheid's in

dieser Lehre, ganz ähnlich ausdrückt:

„War aber einmal dem Privile­

gium des FiscuS ein Einfluß auf das abgetretene Recht selbst gestat­ tet, so erforderte es die Consequenz,

daß

die neue

Eigenschaft,

welche die Forderung dadurch erhalten hatte, durch ihre Uebertragung auf Nichtprivilegirte nicht wieder von selbst wegfalle."

An diese Bemerkung möge sich zugleich die Beantwortung der im

Anfang der Darstellung vorbehaltenen Frage schließen, ob nämlich unser Rechtsfall so aufgefaßt werden könne, daß der Fiscus das Klagerecht,

welches er überträgt, selbst abgetreten erhalten habe (s. S. 273). Müh­ lenbruch faßt die Stelle so auf, wie die obigen Worte zeigen.

Seine

Ansicht enthält in zweierlei Beziehung eine Jnconsequenz:

1) Er muß zugestehen, daß die Annahme, Fiscus sei Cessionar, dem Princip, welches er an die Spitze stellt, widerspricht, daß nämlich der

Cedent noch immer als Gläubiger betrachtet und der Umfang der obli­ gatorischen Rechte aus seiner Person beurtheilt werden müsse, der Cessio­

nar mithin von seinen eigenen Vorrechten keinen Gebrauch machen könne. Er macht aber, wie

viele Andere,

eine Ausnahme zu Gunsten des

Fiscus?)

‘) a. a. O. S. 122. 2) Mühlenbruch a. a. O. S. 581; vergl. jedoch unten S. 289 ff. Koch, Lehre vom Uebergang rc. S. 173; Göschen, Vorlesungen Bd. II S. 35; Glück, Commentar Bd. 21 S. 70 Note 49, S. 71 Note 50.

a) Die actio des Römischen Civilrechts S. 186. 4) Lehre von der Session, S. 581. 8) Mühlenbruch a. a. O. S. 576. 581 und Note 122.

Vergl. Glück

a. a. O. XVI S. 409; Unterholzner, Schuldverhältnisse S. 611 ff.

288 Gesetzt, diese Ausnahme habe das Römische Recht wirklich gemacht, so findet sie wenigstens in unserer lex 43 keine Bestätigung.

Mühlen­

bruch stutzt seine Annahme darauf, das;, wenn der Fiscus als ursprüng­ licher Gläubiger — er scheint mit diesem Ausdruck den Fall der Uni­ versalsuccession mit umfassen zu wollen — zu denken sei, wohl kaum Grund zu einem Zweifel vorhanden gewesen sei.

Dies einzige aus der Sache selbst entnommene und durch die Textes­ worte nicht weiter unterstützte Argument ist meines Erachtens sehr schwach. Für das Gegentheil lassen sich ebenso triftige Gründe anführen: Warum soll nicht bei den Römern ein Zweifel entstanden sein können, ob der

procuratcr i. r. s. die auf Grund des Privilegiums entstandenen Zins­

ansprüche geltend machen dürfe?

Mühlenbruch bemerkt selbst an einer

Stelle, der Satz, datz der procuratcr i. r. s. das Recht des Cedenteu in vollem Umfange ansüben dürfe, sei in Bezug auf persönliche Privilegien nirgend allgemein ausgesprochen,') daher er denn auch einen bedeutenden

Theil seiner Schrift über die Cession (S. 556—557) diesem Nachweise

widmet, ohne rücksichtlich des privilegium exigendi personae zu einer

stricten Ansicht zu gelangen. Wir haben Entscheidungen genug, daß der procurator i. r. s. jure communi entstandene accessorische Rechte geltend

machen könne.

Vielleicht hat man unsere lex 43 gerade deshalb- aus­

genommen , um eine klare Entscheidung in Bezug auf persönliche Pri­ vilegien zu haben. Uebersetzt man gar percepit mit „bezahlt erhalten," so ist der Zwei­

fel um so mehr erklärlich, da die herrschende Meinung unter unseren Juristen noch jetzt die zu sein scheint, datz der Kläger nur Zinsen für

die Zeit bis zur Cession verlangen könne.

Uebrigens ist die zu Gunsten des Fiscus behauptete Ausnahme aus den Quellen überhaupt nicht zu begründen.

Die lex 6 pr. de jure fisci

läßt sich nur, und die lex 17 § 6 de usur. (f. S. 275) ebenso gut und noch natürlicher von dem Fall

der Universalsuccession

verstehen.

Denn succedere und successio werden sehr bestimmt immer von dieser

oder der Singularsuccession in dingliche Rechte gebraucht?) 2) Indem Mühlenbruch behauptet, die persönlichen Vorrechte des

Fiscus kämen auch dem weiteren Cessionar zu Statten, begeht er eine zweite Jnconsequenz.

ger.

Deun Fiscus ist immer noch nicht Gläubi­

Die Consequenz würde also, wenn nicht klare Entscheidungen etwas

a. a. O. S. 557. 2) lex 24 §. 1 de daran, ins. (39 2): „Successores autem non solum qui in Universa bona succedunt, sed et bi, qui in rei tantum dominium successerint, bis verbis continentur.“ Vergl. lex 3 §. 1 do exc. rei v. et. tr. (21. 3) lex 3 §. 2 de itin. act. (43.19). Puchta in Weiske's Rechts-Lexicon a. a. O. S. 659. 660; v. Vangerow a. a. O. S. 124. 125.

289 anderes bestimmten, gerade fordern, daß das Privilegium nur so lange, als der Fiscus das Recht zur Geltendmachung der Forderung hat, seine Wirksamkeit auf diese äußert. Denn die Forderung muß noch immer, soweit nicht das Privilegium eine positive Ausnahme macht, aus der Person des Gläubigers beurtheilt werden. Indem Mühlenbruch jene Wirksamkeit über den Zeitpunkt der weiteren (Zession ausdehnt, verläßt er wiederum das Princip, daß der Cessionar nur als Stellvertreter des Gläubigers zu betrachten sei, und daher rührt die Fassung seiner oben angeführten Worte. Ist nun der Fiscus in unserer Stelle nicht als Cessionar zu denken, so kann er endlich auch nicht als Legatar aufgefaßt werden. Denn der Ecbe allein setzt die Persönlichkeit des Erblassers fort, und das legatum nominis bewirkt nur eine Obligation des Ersteren, dem Legatar die Aus­ übung des Klagerechts zu gestatten?) Ursprünglich war auch wirklich ein mandatum actionis erforderlich. Später wurde dem Legatar auch eine utilis actio gegeben?) Hieraus ergiebt sich, daß der Legatar tu Bezug auf das nomen legatum dieselbe rechtliche Stellung hatte, wie der procurator i. r. s., dem durch ein Geschäft unter Lebendigen das Klagerecht übertragen war. Nunmehr wende ich mich zur Prüfung der Gründe, welche gegen die hier vertheidigte Auslegung der lex 43 vorgebracht worden sind. Die älteren Juristen scheinen allgemein dem Cejsionar den Anspruch auf Zinsen für die Zeit nach der Session abgesprochen zu haben. Als Grund findet man angegeben, daß dieselben für den Fiscus noch nicht entstanden seien und das Privilegium desselben auf den Cessionar nicht übergehe. So sagt Cujacius:^ „Usuras autem futuri temporis, quod scilicet cessit post emtionem nominis fiscalis et solutionem pecuniae fisco debitae, sane non petet, quia fisco non competierunt et privilegium fisci: non sequitur successorem nominis fiscalis. Dieselben Gründe werden im Wesentlichen von Merillius,4*) 2Noodt") * und Catharinus *) vorgebracht. Noodt macht den Anspruch auf die Zinsen nach der Cession von der ausdrücklichen Uebertragung des Privilegii seitens des Fiscus *) §. 21 I. de leg. (2. 20): Ideo quod defuncto debetur, potest alicui legari, ut actiones suas beres legatario praestet. 2) C. 18 C. de leg. (G. 37): Ex legato nominis, actionibus ab bis, qui successerunt, non mandatis, directas quidem actiones legatarius habere non potest, utilibus autem suo nomine experietur. ’) Observ. lib. XXVI c. 25 (tom. III p. 751). 4) Variant. ex Cujac lib. III c. 33 p. 356. ej Noodt, de foen. et usur. III c. 10: Futurae usurae non erant fisco debitae et fisci privilegium non sequitur eum, qui a fisco emit, nisi impetraverit, hoc in se transferri. lex 3 C. de priv. fisci. •) Observ. et conj. (Meerm. thes. jur. civ. VI. p. 777).

290 abhängig und stützt sich dabei auf die lex 3 C. (7. 73).

Diese spricht

jedoch davon, daß der, welcher ohne Verpflichtung dazu, für einen Schuld­ ner des Fiscus Zahlung geleistet, nur eine „personalis actio“ gegen den

Schuldner habe, wenn er sich nicht die Rechte des Fiscus habe abtreten Es wird nicht gesagt, daß Fiscus eine Forderung cedirt habe,

lassen.

ohne des Privilegii ausdrücklich zu erwähnen, und daß der Cessionar aus diesem Grunde von demselben keinen Gebrauch machen dürfe.

Die

Gründe der drei andern genannten Schriftsteller reduciren sich auf den Grundsatz, daß der Cessionar von persönlichen Privilegien des Cedenten keinen Gebrauch machen könne.

Hierüber ist oben das Nöthige bemerkt.

Von den neueren Juristen ist v. Vangerow unter anderen auf den

Inhalt der lex 43 genauer eingegangen.

Er erläutert an derselben seine

Ansicht, daß ein Recht des Cessionars nur soweit vorhanden sei, als die Forderung schon vor der Cession durch die begünstigte Stellung des Cedenten eine Erweiterung erfahren habe. der Stelle das

Er giebt zwar zu, daß in

Gegentheil ausgesprochen zu sein scheine, meint aber,

der Jurist habe gewiß nur an die Zeit bis zur Cession gedacht.

Daß

dieser Endpunkt nicht besonders hervorgehoben sei, möge einen doppelten Grund gehabt haben:

1) der Jurist habe den bei weitem gewöhnlichsten Fall vor Augen

gehabt, daß der Cessionar sogleich nach geschehener Cession mit der Klage auftrete, 2) es habe über die Frage, ob der Cessionar auch für die Zeit nach der Cession Zinsen fordern dürfe, gar keine Meinungsverschieden­

heit Statt gefunden.

Der erste Grund enthält eine unbewiesene thatsächliche Voraus­

setzung.

Für das Gegentheil spricht der Umstand, daß man dem Cessio­

nar gestattete, durch eine Benachrichtigung des Schuldners den Cedenten

von der Geltendmachung der Forderung auszuschließen.

Denn dieses

Recht war gerade dann von Bedeutung, wenn der Cessionar die For­ derung nicht sogleich einklagte?)

Der zweite Grund setzt einen streitigen Rechtssatz als unstreitig voraus.

Beide

möchten als

Stelle gelten,

ein passender Versuch zur Erklärung der

wenn sich aus den sonstigen Quellen mit Evidenz der

Satz nachweisen ließe, daß der Cessionar nur Zinsen für die Zeit bis zur Cession fordern könne, sobald jene auf einem Zinsprivilegium be­

ruhen.

Da aber für die entgegengesetzte Ansicht gewichtige Gründe vor­

handen sind, so können die Argumente v. Vangerow's auf Beweis­

kraft keinen Anspruch machen?)

') Puchta, Institut. III, S- 61. ®) v. Vangerow, Leitfaden Bd. 3 S. 121. 122.

291 Wolff, welcher in seiner Lehre von der mora1) den

Sinn unserer

Stelle erörtert, bestreitet zuvörderst, daß Modestin dem Cessionar Zinsen auch für die Zeit nach der Cession zuspreche.



Allerdings läßt der

Jurist, insofern er den Fiscus als Universalsuccessor denkt, einen Gegen­

satz zwischen der Zeit vor der Cession und nach derselben nicht hervor­

Daraus folgt jedoch nicht, daß er mit seinen Worten die letztere

treten.

nicht habe umfassen wollen. Sodann führt Wolff die Analogie des Zinsprivilegiums der Min­

derjährigen an, indem dieses aufhöre, sobald dem minor ein major succedire oder der minor selbst major werde?)

für unsern Fall nichts.

Diese Analogie beweist

Denn

a) von der Succession ist nicht auf die Cession zu schließen, die Ver­ schiedenheit beider Verhältnisse ist bereits oben (S. 284) berührt; b) daß der Zinsentauf mit dem Eintritt der Majorennität aufhört,

ist natürlich.

Dieses Privilegium ist nur für die Zeit der Mi­

norennität bewilligt, trägt also den Keim seiner Endigung von vorn herein in sich.

Denn ein minor muß entweder major wer­

den, oder vorher sterben.

Den Zeitpunkt des Eintritts der Ma­

jorennität kann das Privilegium daher niemals überdauern, ob­

wohl

die Person

des gewesenen minor noch fortexistiren kann.

Der Fiscus dagegen hört nicht auf Fiscus zu sein, das Privi­ legium existirt also in Bezug auf die Forderung, so lange diese

exiftirt.8) Die Analogie würde alsdann von entscheidendem Gewicht sein, so­

bald

wir eine Entscheidung des Inhalts hätten, daß ein minor vot

Eintritt der Majorennität die Ausübung eines Forderungsrechts

an einen major abgetreten, und nunmehr die Zinsobligation für die Folgezeit aufgehört habe. Schließlich bemerkt Wolff, Privilegien seien stricte zu interpretiren.

— Der Sinn dieses übrigens bestrittenen Satzes ist nur der, daß die analoge Anwendung auf andere Fälle ausgeschlossen sein soll, nicht der, daß die allgemeinen Auslegungsregeln bei Ermittelung des Wesens und

Umfanges eines jus singulare aus den Quellen außer Anwendung bleiben

sollen?)

Wenn daher die juristische Consequenz zu der Auslegung unserer

lex 43 führt, welche hier zu begründen versucht ist, so darf man aus jenem Satze kein Bedenken dagegen entnehmen.

Puchta scheint die lex 43 eit. in demselben Sinne zu verstehen, der hier vertheidigt ist, indem er bemerkt:8) Sobald der Schuldner gegen

1) S. 170, besonders Note 84.

2) lex 87 tz. 1 de leg. II (31). 8) cf. Puchta, Lehrbuch §. 269 S. 403 Note v. 4) cf. Puchta, Vorlesungen S. 51.

5) Abhandlung in Weiske's Rechts-Lexikon II S. 656.

292 den (Siebenten vermöge singulärer Rechtsvorschrift ohne Interpellation in

moram gekommen sei,') so sehe sich diese einmal entstandene mora fort, der Session ar könne sie geltend machen.

Dies sei in der lex 43 eit. für

den Session ar des Fiscus ausdrücklich vorgeschr Leben.

Unmittelbar darauf sagt Puchta, dieser Zustand dauere bis zur Benachrichtigung des Schuldners

von der geschehenen Session, von da

ab gehe die mora in eine gegen den Cessionar begründete über.

Danach scheint er anzunehmen, daß

jene

aufhöre.

In unserer

lex 43 ist von einer Benachrichtigung nicht die Rede, diese Ansicht würde also auf die Auslegung der Stelle keinen Einfluß haben. Sie ist übri­ gens mit Recht als eine Znconseqnenz bezeichnet?)

Denn wenn die vom

procurator i. r. s. geltend gemachte Forderung eine fremde, dieser also nicht selbst Gläubiger ist, so kann die gegen den Gläubiger begründete

mora nicht durch die Benachrichtigung von der Bestellung eines Stell­

vertreters aufhören.

Nach der obigen Ansicht könnte man Puchta für

einen Vertheidiger der Singularsuceession halten, die er doch geflissent­

lich ab lehnt?) Bei anderen Schriftstellern habe ich eine genauere Auslegung des Inhalts der lex 43 eit. nicht gefunden.

Zweiter Abschnitt. Wie ist der in der lex 43 eit. erwähnte Fall nach den Grundsätzen des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu entscheiden? Der nachfolgenden Darstellung

ist

selbstverständlich

der

in

der

lex 43 eit. enthaltene Rechtsfall mit demselben thatsächlichen Inhalt zu

Grunde zu legen, welcher sich nach den obigen Ausführungen ergab. Run kann zwar nach neuerem Preußischen Rechte die Voraussetzung, daß der Fiscus das Recht habe, von einer Forderung ohne Stipulation, Mahnung oder sonstige gesetzliche Gründe Zinsen zu fordern, nicht mehr entstehen.

Dagegen stand ihm nach einem älteren, als ein Theil des

Allgemeinen Landrechts anzusehenden Gesetze ein derartiges Privilegium

zu.

Dieses ist daher als Voraussetzung des Rechtsfalls zu betrachten. Andererseits bleibt auch die Möglichkeit, daß der Fall mit jener

Voraussetzung noch jetzt zur richterlichen Entscheidung komme, worüber

am Schlüsse das Nöthige bemerkt werden soll. Puchta faßt das Privilegium des Fiscus als einen Fall der eigent­ lichen mora ex re. Lehrbuch S. 403. 2) Wiudscheid a. a. O. S. 187. 3) Bergt, die Abhandlung a. a. O. S. 637.

293

Diese Entscheidung hätte in der älteren Zeit, und wurde noch jetzt ebenso ausfallen müssen, wie das responsum Modestin's nach den obigen Ausführungen zu verstehen ist. Bei Begründung dieser Ansicht halte ich im Wesentlichen denselben Gang der Darstellung fest, wie bei der Interpretation der Pandectenstelle.

I. Neber das Zinsprivilegium des Fiscus. Bor der Einführung deS Allgemeinen Landrechts war das Römische Privilegium des Fiscus nur Grund der lex 17 §. 5 de nsuris in Deutsch­ land allgemein gehandhabt.') Insonderheit war es mit den übrigen ge­ meinrechtlichen Privilegien desselben durch den Landtagsreceß vom 26. Juli 1653 in Brandenburg anerkannt, indem dort (§. 27) erklärt wird: „Zum 27ttn begehren wir dem tisco keine weiteren privilegia einzuräumen, als demselben de jure communi zusteben . . /* 2) Auch wurde im Codex Fried. March.3) vorgeschrieben: „Im Uebrigen liiuij dem fisco . . wenn deruselben nach dem gemeinen und Landesrechte etwas Vorzügliches bei­ gelegt ist, solches keinesweges versagt und entzogen werden." In das Allgemeine Landrecht war das Zinsprivilegium deS FiscuS nicht mit ausgenommen und dadurch ohne Zweifel abgeschafft. Denn der §. I deS Publications-Patents vom 5. Februar 1794 bestimmt: „Das gegenwärtige Allgem. Landrecht soll an die Stelle der in unseren Lan­ den bisher ausgenommen gewesenen Römischen, gemeinen, Sachsen- und anderer fremden subsidiarischen Rechte und Gesetze treten ..." In diesem Sinne hatte sich auch der Justizminister in einem Rescripte vom 20. Februar 17974) *ausgesprochen. Da das Ober-KriegSCotlegium und daS General-Directorium anderer Meinung waren, so wurde ein Gutachten der Gesetzes-Eommission eingefordert. Diese trat jedoch der Ansicht des Justizministers bei. In Folge einer Jmmediatanfrage erging demnächst die KabinetS-Ordre vom 28. October 17996) welche lautet: „Seine Königl. Majestät rc. ertheilen dem General-Directorio und dem Großkanzler v. Goldbeck aus die Anfrage vom 24. d. M. zum Be­ scheide, daß allerdings ein declaratorischeS Gesetz dahin zu erlassen sei, daß Fiscus ohne Stipulation Zinsen zu bezahlen nicht schuldig, der­ gleichen aber, ohne Versprechen, ohne vorhergegangene Mahnung und bestimmten Zahlungstag zu empfangen wohl befugt sei." *) Löwenberz, Beiträge I S. 203; Ergänzungen zum Allgem. Landrecht Th. I S. 645; Koch, Eommentar Rote 48 zum Auh. §.26, I, II §. 827. 2) Rabe, Bd.I S. 37. 52. 8) Proj. deS Cod. Fiicd. March. Th. IV Tit. 5 §.20. 4) Rabe, Bd. IV S 32. 6) Rabe, Bd.V S. 629. N. E. S. Bd. X S. 2687.

294 Ein declaratorisches Gesetz ist die Erklärung eines älteren Gesetzes durch den Gesetzgeber selbst. Das neue Gesetz gebietet, dem alten einen gewissen Sinn beizulegen und das letztere so anzusehen, als ob der Sinn

bereits durch jenes klar ausgedrückt sei.')

Nun enthielt aber das Allge­

meine Landrecht keine specielle Bestimmung über den fraglichen Gegen­

stand.

Die Bezeichnung der Kabinets-Ordre als declaratorisches Gesetz

kann daher nur den Sinn haben: Sie will den Zweifel, ob durch die Nichtaufnahme in das Allgemeine Landrecht das fiscalische Privilegium

aufgehoben sei,

verneinend entscheiden und dasselbe in seiner früheren

Gestalt und in seinem damaligen Umfange als in das Allgemeine Land­

recht herübergenommen angesehen wissen.

Hierfür spricht auch der In­

halt des Zufertigungsrescripts vom 18. November 1799, von welchem sogleich die Rede sein wird.

Auffallend ist die Fassung der Kabinets-Ordre, indem sie nicht kategorisch bestimmt,

lassen,"

sondern

„daß

erlassen sei," u. s. w.

„es werde hiermit ein declaratorisches Gesetz er­ allerdings ein declaratorisches

Gesetz dahin zu

Danach könnte es den Anschein gewinnen,

als

ob der König nur beabsichtigt, die Ausarbeitung eines solchen anzuord­ nen, die Ordre aber nicht als das Gesetz selbst betrachtet habe, wie er

in einer späteren Kabinets-Ordre vom 10. Mai 1831 ausspricht?)

Allein

die Worte lassen auch die Annahme zu, als habe nur angedeutet werden sollen,

daß

eine besondere,

wenngleich

keine

specielleren

materiellen

Bestimmungen enthaltende Ausführungs-Ordre zu erlassen sei. Als solche muß das erwähnte Rescript des Justizministers vom

18. November 17993*)* betrachtet werden, welches lautet: „Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm :c. „Ueber die im Allgemeinen Landrechte unentschieden gebliebene Frage,

ob Fiscus usuras morae zu bezahlen schuldig sei? sind seithero mancherlei Bedenken erregt worden, weshalb Wir uns ver­

anlaßt gesehen, das Gutachten der Gesetzes-Commission zu erfordern, worauf

Unserer

allerhöchsten

Person Vortrag

darüber

geschehen ist.

Nachdem Wir nun höchstselbst, in Gefolge der abschriftlich anliegenden Kabinets-Ordre vom 28. October er. festzusetzen befunden:

daß Fiscus ohne Stipulation Zinsen zu bezahlen nicht schuldig, dergleichen aber ohne Versprechen, ohne vorhergegangene Mahnung und bestimmten Zahlungstag zu empfangen wohl befugt sei,

so wird Euch solches zu Eurer Achtung mit der Nachricht hierdurch bekannt gemacht, daß sothane authentische Declaration kein neues Gesetz

') Allgem. Landrecht Einl. §. 15; Puchta, Lehrbuch S. 27; Koch, Syst. des Privat-Rechts I S. 26. ®) Löwenberg a. a. O. S. 207. 3) Rabe, Bd. V S. 629.

295 enthalte, daher Ihr Euch solche in allen vorkommenden schon anhängigen

oder noch zur prozessualischen Einleitung gelangenden Sachen zur Richt­ schnur dienen zu lassen habt."

Das Rescript ist mit dem Zusatze versehen: Majestät allergnädigsten Specialbefehl."

„auf

Sr. Königl.

Die königliche Sanction muß

hiernach als bewiesen angenommen werden, und da früher nur hiervon die Gültigkeit gesetzlicher Bestimmungen abhing/) so kann auch diesem Rescript, da es gehörig publicirt ist, die Gesetzeskraft wegen mangeln­

der Unterschrift des Königs nicht abgesprochen werden.

Beide, die Ka-

binets-Ordre und das Rescript, sind als ein Ganzes zu betrachten. Aus dem ersten Theile der Kabinets-Ordre ist demnächst der §. 26

des Anh. zum Allgemeinen Landrecht geworden:

der Fiscus ist nur vorbedungene Zinsen zu zahlen schuldig.

Der zweite Theil, auf den es hier ankommt und der sich auf die Be­ rechtigung des Fiscus, ohne Versprechen rc. Zinsen zu empfangen, bezog,

war in den Entwurf des §. 26 zwar mit ausgenommen, ist aber durch­ strichen worden, ohne daß man den Grund nachweisen kann?)

Da die Kabinets-Ordre und das Rescript einmal Gesetzeskraft hat­

ten, so konnte jener zweite Theil durch die Nichtaufnahme in den An­ hang nicht aufgehoben sein. ausdrücklich, d. h

Denn ein Gesetz gilt so lange, bis es

expressis verbis

oder durch Verordnungen, mit

denen es nicht mehr zu vereinigen ist, aufgehoben wird?)

Das Publi-

cations-Patent vom 11. April 1803 setzte aber die seit der Einführung

des Allgemeinen Landrechts ergangenen Gesetze, welche in dem Anhänge

nicht mit aufgehoben waren, nicht ausdrücklich außer Kraft.

Der Gesetzesrevisor findet die Frage zweifelhaft, weil der zweite

Theil der Kabinets-Ordre absichtlich weggelassen sei. dies sei auf ausdrücklichen Befehl des Königs —

Allein gesetzt,

nur hierauf kann es

ankommen — geschehen, und er habe dadurch die betreffende Bestimmung aufheben wollen, so müßte man wenigstens consequent verlangen, daß den Gerichten und den Unterthanen die absichtliche Durchstreichung und Weglassung hätte bekannt gemacht werden sollen, wenn jene Umstände

bei Handhabung der Rechtspflege in Betracht kommen sollten.

Denn

nur der gehörig publicirte Willensausdruck des Gesetzgebers kann als

Gesetz angesehen werden?) x) Allgem. Landrecht Th. II Tit. 13 §.6; Koch, System Bd I S. 89. 90; Ergänzungen Bd. I S. 46; Simon, Preuß. Staatsrecht I S. 57; Klaproth, der Preuß. Staatsrath S. 245. 2) Ges.-Revis. Pensum XII S. 145 zu §. 77 Th. II Tit. 14 Allgemeinen Landrechts. 3) Einleitung zum Allgemeinen Landrecht §. 59.

4) Einleitung z. Allgem. Landrecht §. 10; Koch, Commentar Note 48a zu §. 1 des Gesetzes vom 7. Juli 1833 beim Anh. §. 26.

296 Erst durch den §. 1 des Gesetzes vom 7. Juli 1833 (G.-S. S. 79) ist das fiscalische Privilegium bezüglich der Zinsberechtigung aufgehoben, indem daselbst bestimmt ist: „In Ansehung des Rechts, Zinsen zu for­

dern,

ist der Fiscus lediglich nach den allgemeinen Rechtsregeln zu be­

urtheilen."

Es ist oben bemerkt, das; durch das declaratorische Gesetz das ge­ meinrechtliche Privilegium in seinem ganzen Umfange aufrecht erhalten

sei. Damit ist zugleich die Frage entschieden, ob sich dasselbe auch nach Preußischem Recht auf den Falt bestehe, wenn der Fiscus eine unver­ zinsliche Forderung durch Universalsuccession erwirbt.

Man könnte freilich auch annehmen, daß die Kabinets-Ordre und das Rescript als in sich vollständige Bestimmungen zu betrachten seien,

in welchem Falle der Ausdruck „authentische Declaration" nur die Be­ deutung gehabt haben würde, daß die Bestimmung auch in schwebenden

Prozessen zur Anwendung kommen sollte. in

dem Rescripte

Hierfür sprechen die Worte

„nachdem wir — festzusetzen befunden, daß u. s. w."

Allein auch dann ist keine Veranlassung vorhanden, die Anwendung des

Privilegiums für jenen Fall auszuschließen, weil die Kabinets-Ordre

keinen Unterschied in dieser Beziehung macht?) Nimmt man an, daß das Römische Privilegium in seiner früheren

Gestalt beibehalten sei, so ist damit auch die fernere Frage beantwortet,

ob die fiscalischen Zinsen als eigentliche ZögerungSzinseu oder nur als Folge der objectiven mora, d. h. als gesetzliche Zinsen im engeren Sinne

zu behandeln seien.

In dieser Hinsicht könnte nur in Frage kommen,

ob sie nicht nach den Grundsätzen des Allgemeinen Landrechts unter die Kategorie der Zögerungszinsen zu stellen sind.

Meines Erachtens ist

dies jedoch nicht anzunehmen. Im Allgemeinen Landrecht tritt nämlich der Unterschied zwischen

Zögerungszinsen und gesetzlichen Zinsen im engeren Sinne nicht deutlich

hervor.

Den Ausdruck „gesetzliche Zinsen" schlechthin habe ich nur im

Register zum Allgemeinen Landrecht gefunden, wo unter dieser Ueberschrift der Fall des §.227 Th. I, Tit. 11 allegirt wird.

Merkwürdigerweise

werden im Texte des letzteren die daselbst erwähnten Zinsen gerade als

Zögerungszinsen bezeichnet.

Daß das Gesetz sie auch wirklich als Zö­

gerungszinsen betrachtet hat, ergiebt das Allegat zu §. 65 Th. I Tit. 16 des Allgemeinen Landrechts?)

Der sonst oft vorkommende Ausdruck

*) Bergl. §. 55 Einleitung zum Allgemeinen Landrecht. Der §. 54 steht nicht entgegen Dieser bestimmt über die Eollision des Privilegs mit Rech­

ten Dritter. Hier handelt es sich um den Umfang der Befugnisse eines und desselben Berechtigten gegenüber den Verpflichteten. 2) Anderer Meinung scheint das Ober-Tribunal zu sein in dem Präjnd. 1258 vom 2l. Januar 1843. So auch Koch, Aum. 69 zu §.227 eit. 9)um

muß aber berücksichtigen, daß im §. 227 die auödrückliche Verabredung

— „gesetzmäßige Zinsen"

297



bezieht sich wohl nur auf die Höhe

derselben.

Erst spätere Gesetze erkennen den Unterschied ausdrücklich an?) Die herrschende Doctrin im vorigen Jahrhundert stellte ebenfalls

den Ccnventionalzinsen nur die usuras ex mora gegenüber?) doch stell*

ten Manche als dritten Grund schon die aequitas daneben?)

DaS fis-

calische Privilegium betrachtete man jedenfalls allgemein als eine Folge

der inora ex re?) Man könnte auch eine Andeutung hiervon in den Worten des RescriptS vom 18. November 1799 finden wollen, da zu Anfang die Frage

erwähnt wird, ob Fiscus usuras morae zu bezahlen schuldig sei, und später gesagt wird,

„daß Fiscus ohne Stipulation Zinsen zu bezahlen

nicht schuldig, dergleichen aber u. s. w.",

indem man unter den letz'

teren wieder usuras morae versteht.

Diese Andeutung wäre jedoch eine zu entfernte.

Gerade der Um­

stand, daß im Allgemeinen Landrecht keiner der zahlreichen Fälle gesetz­

licher Zinsen im engeren Sinne mit dem Worte Zögerungszinsen be­

zeichnet wird, spricht dafür, daß dem Gesetzgeber der Unterschied wenig­ stens im Bewußtsein gewesen ist, daher dieselben nicht in die Kategorie

der Zögerungszinsen gestellt werden können.

Diese setzen zu ihrer Ent­

stehung eine Mahnung oder den Ablauf einer durch Willenserklärung

oder Gesetz ausdrücklich bestimmten Zahlungszeit voraus?)

Diese Er­

fordernisse sollen hier zur Entstehung der Zinsobligation für den Fiscus nicht erforderlich sein.

Daß jedoch damit ein Verzug des Schuldners

fingirt werde, läßt sich so wenig wie im Römischen Rechte behaupten, wie denn auch die übrigen Folgen der Zögerung") nicht eintreten könn­ ten, wenn die Erfordernisse der letzteren nicht nachgewiesen wären.

Tie Unterscheidung hat zwar meines Erachtens auf die Entschei­

der Zahlung bei der Uebergabe vorausgesetzt wird, so daß der §. 67 Th. I Tit. 16 Allgem. Landrechts Platz greift, während im §. 110 Th. I Tit. 11 Allg. Landrechts nur die Vorschrift §. 109 eod. der Grund der Obligation ist. *) Verordnung vom 2 Juni 1827 wegen Herabsetzung des im Ostprenß. Provinzial-Recht bestimmten Zinssatzes (Gesetz-Samml. S. 70) und das er­ wähnte Gesetz vom 7. Juli 1833 (Gesetz-Sannnl. S. 79).

2) Hellfeld, jur. for. §.331 p. 110: Duplex est fundamentum obligationis usurarum, pactum nempe et usurarum; Walch, introd. in controv. jur civ. p. 518; Malblanc, princ. jur. Rom. tom. I §.263 p. 386; Hofacker, princ. jur. civ. tom. III p. 89. 3) Cf. Berger, oecon. jur. p. 559; Lauterbach, coli, theor.-pract. tom. II pag. 135. 4) Berger, 1. c. pag. 561; Hofacker, 1. c. pag. 82; Lauterbach, 1. eit.; Leyser, medit. ad Fand. vol. III et IV pag. 865. 5) §§. 15—17. 20. 21. 26. 67 I, iß Allgem. Landrechts. •) Bergt. §. 305 I, 5, §. 834 I, 11 Allgem. Landrechts.

298 düng des Rechtsfalls keinen Einfluß, jedoch insofern ein praktisches In­

teresse, als sich der Satz, daß gesetzliche Zinsen überhaupt ein accessorium der Hauptforderung bilden und deshalb auf den Cessionar über­ gehen, von den Verzugszinsen etwas deutlicher als von den gesetzlichen

Zinsen im engeren Sinne aus dem Allgemeinen Landrecht nachweisen Hierüber das Nähere unten.

läßt.

II.

Die Ansprüche des Cessionars auf die Zinsen. 1. Wesen der Session nach den Grundsätzen des Allgemeinen Landrechts. Wie erwähnt, streitet man darüber, ob man nach neustem Römischen

Recht

von

Singularsuccession

einer

in Obligationen

sprechen könne.

Jedenfalls weicht die Anschauung unseres einheimischen Rechts von der ursprünglichen Idee des Römischen Rechts ab.

Das letztere legt mehr

Gewicht auf das persönliche Band zwischen Gläubiger und Schuldner

und trennt die Forderungsrechte scharf von den dinglichen.

Das Deutsche

Recht dagegen sieht mehr auf den Zweck, zu welchem jenes Band ein­ gegangen ist, auf den Inhalt der Obligation und die mit der Erfüllung

eintretende materielle Vermögensvermehrung.

Es

stellt obligatorische

Rechte und bewegliche Sachen unter den gemeinsamen Begriff der fah­ renden Habe gegenüber dem Eigen.

Demgemäß sah man eine Aenderung der Personen in der Obliga­

tion nicht als eine Zerstörung

derselben an, ließ vielmehr eine Ueber-

tragung des Forderungsrechts wie jedes anderen Bestandtheils des acti­ ven Vermögens zu.

Der Cedent hört auch der Idee nach auf, Gläubiger

zu sein, und der Cessionar tritt mit eigenem Gläubigerrecht an seine

Stelle?)

Diese Anschauungsweise ist in das Allgemeine Landrecht überge­ gangen. aus?)

Dasselbe dehnt den Eigenthumsbegriff auch auf Forderungen

Eine unumschränkte Herrschaft über dieselben würde nicht mög­

lich sein, wenn nicht auch die Substanz der Obligationen übertragen werden könnte?)

rungsrechts zu.

Daher läßt es eine wirkliche Uebertragung des Forde­

Dieser Act ist die Cession.

Vergl. §§. 376. 377 Th. I

Tit. 11 des Allgemeinen Landrechts: x) Bluntschli, Deutsches Privat-Recht Bd. 2 S. 3; Homeier, ungedruckte Vorlesungen über Deutsches Privat-Recht; Koch, Conunentar zum Allgem. Landrecht Note 1 zu §. 376 Th. I Tit. 11; Delbrück, die Uebernahme fremder

Schulden S. 3 ff. 2) §. 1 Th. I Tit. 8 des Allgemeinen Landrechts. 3) 9 Th. I Tit 8 des Allgem. Landrechts. In allen Beziehungen fin­ det die Theorie des Eigenthums auf Forderungen freilich keine Anwendung, rücksichtlich der Uebertragung ist die analoge Anwendung jedoch außer Zweifel.

299

„Die Abtretung der Rechte setzt einen Vertrag voraus, wodurch sich Jemand verpflichtet, einem Andern das Eigenthum seines Rechts gegen eine bestimmte Vergeltung zu überlassen."

„Die Handlung selbst, wodurch das abzutretende Recht dem Andern wirklich übertragen wird, wird Cession genannt."

Danach bildet die Cession ein Analogon der Tradition körperlicher Sachen.

Zwar sind bis zur Benachrichtigung des Schuldners, der sich

in bona fide befindet, die Verhandlungen des letzteren mit dem Cedenten gültig.

Doch ist dies nur eine Ausnahme zu Gunsten des gut­

gläubigen Schuldners, es folgt daraus nicht, wie behauptet worden ist,*)

daß der Cessionar die Forderung noch nicht mit der Cession erwerbe. 2. Umfang der Rechte des Cessionars, unter Anwendung der landrecht­

lichen Grundsätze auf den zu entscheidenden Rechtsfall. Ueber den Umfang der Rechte des Cessionars bestimmen, soweit eS

für die Entscheidung unseres Rechtsfalles interessirt, die §§. 402—404

Th. I Tit. 11 des Allgemeinen Landrechts, welche lauten: (§. 402) „Durch die Cession tritt der neue Inhaber in alle abgetretenen

Rechte und damit verbundenen Pflichten des Cedenten." (§. 403) „Auch besondere Vorrechte, welche der cedirten Forderung in

Rücksicht ihrer Natur und Beschaffenheit beigelegt sind, gehen, selbst ohne ausdrückliche Uebertragung, auf den neuen Inhaber

mit über." (§. 404) „Dahin gehören auch solche Vorrechte, welche der Forderung selbst, in Rücksicht auf die persönliche Eigenschaft ihres ersten

Inhabers znkemmen; nicht aber bloße persönliche Befugnisse, welche, wie die Vorrechte des Fiscus wegen des Gerichtsstan­ des und der Sportelfreiheit, bloß bei Gelegenheit der cedirten

Forderung von dem vorigen Inhaber ausgeübr werden kennten." war die Frage nach Römischem Recht wegen der

Unzweifelhaft

Zinsen für die Zeit bis zur Cession, zweifelhafter die wegen der Zinsen für die Folgezeit.

Nach Allgemeinem Landrecht mochte eher das Umge­

kehrte gelten. a) Ueber gang des Anspruchs auf Zinsen bis zur Cession anf den Cessionar.

Die Erörterung dieser Frage würde natürlich wegfallen, wenn man

unter „percipere“ in der lex 43 de ustir. die Zahlung deS Klägers an den Fiscus versteht.

Da dies jedoch nicht nothwendig ist, so muß die

Darstellung der landrechtlichen Grundsätze auch auf den Uebergang der

vorher entstandenen Zinsen ausgedehnt werden. Alle Rechte, welche nicht an die Person des Cedenten gebunden sind,

*) Vergl. Bornemann, System III. S 12 l.

800 können Anderen abgetreten werden?)

Das

Zinsprivilegium selbst ist

nun zwar an die Person des Fiscus gebunden, aber der auf Grund

desselben für den Fiscus entstandene Anspruch auf Zinsen kann über'

tragen werden, wie jeder andere Anspruch?) Wenn daher dem Cessionar die Zinsen bis zur Cession ausdrück* li ch abgetreten wären, so würde er dieselben auf Grund des §.402 eit.

mit einziehen können.

Dies bedarf keiner weiteren Erörterung.

Wenn

jenes jedoch nicht der Fall wäre — und dies ist aus unserm Rechtsfall nicht ersichtlich — so bleibt nachzuweisen, daß das Rechtsverhältniß das­ selbe sein würde.

Der Cesfionar tritt in alle abgetretenen Rechte des Cedenten.

Zu

diesen würde auch der Anspruch auf die schon entstandenen fiscalischen Zinsen gehören, wenn sie als mit der Hauptforderung verbunden, als Zubehör und Erweiterung derselben zu betrachten wären.

In Bezug

auf vorbedungene Zinsen läßt sich dies nicht behaupten, wenigstens nur

von den seit dem letzten Fälligkeitstermine laufenden?)

Hier handelt eS

sich aber um gesetzliche Zinsen, welche eine andere Natur haben. Gesetzliche wie vorbedungene Zinsen sind immer (materiell)' accesso-

risch, insofern sich die Entstehung beider ohne die Existenz einer Haupt­ forderung

nicht

denken läßt.

Vorbedungene Zinsen

haben aber daS

Eigenthümliche, einmal, daß sie mit dem Ablaufe des Fälligkeitstermins

einen von der Hauptforderung unabhängigen Anspruch mit selbstständiger

Klage bilden, sodann, daß dieser Bildungsprozeß in gewissen Perioden

wiederkehrt.

Beide Merkmale fehlen den gesetzlichen Zinsen.

Diese stellen in allen Fällen eine vom Gesetze taxirte Entschädigung für den entbehrten Gebrauch eines Capitals dar.

dieselben kann niemals unabhängig

Der Anspruch auf

von der Forderung des Capitals

werden, und neben derselben zur Selbstständigkeit gelangen?) sondern,

da er aus derselben Obligation, welche die Zahlung des Capitals zum

Gegenstände hat, entspringt, so ist er ein sich an die Hauptforderung anschließender, dieselbe fortsetzender Nebenanspruch.

Wenn das Gesetz eine Vergütung, für die entzogene Capitalsnutzung zuläßt, so müßte die Höhe derselben principiell in jedem einzelnen Falle besonders bestimmt werden.

Da man aber im Allgemeinen annehmen

kann, daß bei entwickeltem Verkehr das Geld immer zu einem gewissen

Procentsatze genutzt werden kann, so stellt das Gesetz, theils um den

Beweis der Entschädigung zu erleichtern, theils um complicirte Berech*) 8- 99 Einleitung, §. 382 Th. I Tit. 11 des Allgem. Landrechts. *) Koch, Lehre vom Uebergang der Forderungen S. 60. 3) Vergl. das Präj. vom 23. November 1847 (Rechtofälle III S. 148), Lenz, Studien S. 275.276; Hirsemeuzel, vergleichende Uebersicht I S.347.

4) Eine Modification macht der 8*844 Th. I Tit. 11 des Allgemeinen Landrechts, sobald Verzugszinsen zuerkannt sind.

301 mmgen derselben abzuschneiden, einen

gewissen kandnblichen*) Betrag

de- Gebrauchswerths ein für alle Mal fest, ohne Rücksicht darauf, ob der Berechtigte einen höheren Nutzen hätte erzielen können oder nicht?)

Die Berechnung der gesetzlichen Zinsen geschieht alsdann nach Ana­

logie der Vertragszinsen, aber auch nur nach Analogie.

Die Zinsen,

welche in einem einzelnen Falle gefordert werden können, erscheinen alle zusammen als Einheit; nur vermöge der Nothwendigkeit, dieselben nach

Zeittheilen zu berechnen, werden, rein äußerlich, gewisse Zeitabschnitte unterschieden.

Ihre rechtliche Natur wird dadurch nicht verändert,

mehr bleibt jene ganze Einheit, welche sich stetig vergrößert, eine Fort­ setzung der Hauptforderung.

Hieraus ergiebt sich, daß gesetzliche Zinsen keinen besonderen von dem des Capitals unabhängigen Verfalltag haben. Man kann nur vom

Verfalltage des Capitals sprechen.

Es ergiebt sich ferner, daß sie keine

eigene Klage haben können, vielmehr als Erweiterung der Hauptforde­

rung mit der für diese gegebenen Klage geltend gemacht werden müssen. Daraus folgt wiederum, daß der Anspruch auf dieselben wegfällt, wenn wegen der Hauptforderung keine Klage mehr existirt, namentlich, wenn

in dem Prozesse über diese auf die Zinsen nicht erkannt ist?)

Um nachzuweisen, daß diese in der Wissenschaft anerkannten Grund­

sätze

auch

nach Allgemeinem Landrecht

als

geltend betrachtet werden

müssen, ist es nothwendig, auf das frühere Recht einen Blick zu werfen. Bei den aotiones stricti Juris war der judex genau an den Inhalt

der Formel gebunden. Bei den bonae fidei judieiis dagegen durfte und mußte er auf Antrag der Parteien auf Zinsen, namentlich Verzugszin­

sen erkennen?)

War nun die Klage einmal confumirt, so konnten die

Zinsen nicht besonders geltend gemacht werden.

Dasselbe galt von an­

deren Nebenleistungen, z. B. Kosten und Früchte?)

*) ex more regioris. lex 1 §. 1 D. de usur. Bergt. Lenz, Studien S. 278; Modificationen bezüglich der Höhe z. B. in §.486 Th. II Tit. 18 des Allgem. Landrechts. ’) v. Savigny, System Bd. VI S. 122 ff.; Koch, Recht der Forderun­ gen Bd I S. 120. ’) Bergt. Koch, Recht der Forderungen Bd. I S. 94 ff. 120 ff.; Borne­ mann, System III S. 324; Loewenberg, Beiträge I S. 1O0; Lenz, Studien S. 273 -281. 324; Gesetz-Repision Pensum XIV zu Th. I Tit. 11 S 155 bis 158; Präjudiz v. 28. September 1839 (Eutsch.V S. 345); Plen.-Beschl. tiom 14. October 1839 (Entfch. V 79k 4) lex 24 D. (16. 3) lex 32 §. 2 de usuris (22. 1); Puchta, Institut. II. S- 34. 124; Lenz, Studien S. 278. ») C. 4 depos. (4.34): non eniei duae sunt actiones, alia sortis, alia usurarum, sed una. fr. 49 §. 1 D. (19. 1). Bergl. C. 3 (7. 51), C. 26 M (4. 32). .

302 Schon im neuesten Römischen Recht waren die Fälle ber .bonae fidei negotia sehr erweitert1) Im gemeinen Recht ließ man den Unter­ schied ganz fallen und betrachtete alle Rechtsgeschäfte als bonae fidei negotia?) Deshalb durfte immer auf gesetzliche Zinsen erkannt werden.

Dabei hielt man unstreitig an dem Grundsätze fest, daß die gesetzlichen Zinsen ein accessorium der Hauptforderung seien und nur mit der Hauptklage geltend gemacht werden könnten?) Gestritten wurde aber über ein Paar Fragen, welche zum Verständniß der landrechtlichen Be­ stimmungen dienen: Die C. 13 C. de usur. (4. 32), in welcher gesagt wird, es solle eine Nachforderung von Zinsen, auf welche in einem bonae fidei Judi­

cium nicht erkannt sei, nicht stattfinden, schließt mit den Worten: nec ejus temporis, quod post rem judicatam fluxit, usurae postulentur, nisi ex causa judicati. Diese veranlaßten im gemeinen Rechte Streit. Einige verlangten, daß der Richter die Verpflichtung zur Zahlung der Judicatzinsen8) ausdrücklich ausgesprochen habe, Andere nicht?) Ein anderer Streit bezog sich auf die Wirkung einer mit Vorbehalt der

Verzugszinsen über das Capital ausgestellten Quittung. Tie Meister?) hielten denselben für genügend. Einiges dagegen deshalb für unwirk­ sam, weil man durch einen Vorbehalt zwar ein Recht conserviren, daS nicht vorhandene Recht, die Zinsen mittelst besonderer Klage geltend zu machen, sich jedoch nicht verschaffen könne. Diesen Rechtszustand fanden die Redactoren deö Allgem. Landrechts vor. Ueber dem Bestreben, eine erschöpfende Casuistik zu liefern, unter­ ließen sie, das Princip ausdrücklich auszusprechen. Zwar läßt sich nicht behaupten, daß man den Grundsatz von der Unselbstständigkeit aller Nebenleistungen aus dem Römischen Rechte herübergenommen habe. Sonst hätte im §. 59 Th. I Tit. 23 der Allg. Gerichts-Ordnung nicht bestimmt sein können, daß Schäden, welche als Zubehör der Hauptsache anzusehen sind, nach deren Verhandlung beson-

*) §§. 28. 30. J. de act. (4. 6). 2) Puchta, Lehrbuch §.236. 357; Gneist, ungedruckte Vorlesungen über Pandecten; Plenar-Beschluß vom 12. September 1845 (Entsch. XI S. 9). 3) Vergl Kind, quaest. for. tom. X c. 84 p. 328; Hellfeld, jurispr. for. § 331 p. HO; Stryk, usus mod. Fand. tom. II pag. 787; Lauterbach, coli, theor. pr. tom. II p. 142. *) Vergl. C. 3 de usur. rei jud. (7. 54). 8) Vergl. Glück, Commentar XXI S. GO. 61; Plenar - Beschluß vom 12. September 1845. ®) Lauterbach 1. c.; Kind 1. c. p. 329; Hommel, rhaps. quaest. vol I obs. 221 p. 259; Berger, oecon. jur. lib. III tit. 15 pars II p. 651 not. 12; Hofacker, princ. jur. civ. tom. III 1848 p. 104. ') Cf. Fratr. Becmann. cons. et decis. pars II pag. 105.

303 derS eingeklagt werden dürfen.

Dagegen laßt sich ans mehrfachen Be­

stimmungen entnehmen, daß man den Grundsatz in Bezug auf gesetzliche Zinsen hat beibehalten wollen. Diese Bestimmungen sind folgende: ]) Der §. 844 Th. I Tit. 11 Allgemeinen Landrechts bestimmt: „Dagegen folgt aus einer ohne Vorbehalt ausgestellten Quittung

über das Capital so wenig als aus der Rückgabe deS Schuld­ scheins die erfolgte Zahlung oder Erlassung der vom Richter zu­

erkannten Verzugszinsen." Es ist ausdrücklich nur von zuerkannten Verzugszinsen die Rede. Nimmt man argumento e contrario von nicht zuerkannlen das Gegentheil an, daß der Anspruch auf diese, nachdem über das Capital ohne Vorbehalt quittirt und damit die Hauptobligation erloschen ist, wegfällt, so kommt man auf die Römische und gemeinrechtliche Regel. 2) Eine Species der Verzugszinsen sind die Judicatzinsen. Der­ gleichen kann der Gläubiger von der Rechtskraft des Urtels an fordern, ohne daß dieses die Verpflichtung zu deren Zahlung ausdrücklich aus­ gesprochen hat?) Damit ist die eine der oben erwähnten Contreversen entschieden. Mit Rücksicht auf die andere konnte nun der Zweifel ent­ stehen, ob die Bestimmung des §. 844 auch auf diese Judicatzinsen An­

wendung finde. Diese Frage verneint der §. 845 a. a. O., welcher lautet: „Verzugszinsen, auf welche der Richter nicht erkannt hat, können auch vom Tage des ergangenen Urtels an nicht nachgefordert werden, sobald über das Capital ohne Vorbehalt quittirt worden." Ob die Verzugszinsen für die frühere Zeit, auf welche nicht erkannt ist, nachgefordert werden können, hat man nicht für nöthig gehalten, aus­ drücklich zu entscheiden. Daß man die Unzulässigkeit jedoch als selbst­ verständlich betrachtet habe, ist durch das Wörtchen „auch" angedeutet. Man hat den § so verstanden,-) als ob nicht geforderte Ver­

zugszinsen — über geforderte trifft der §. 848 eine klare Bestimmung —, auf welche nicht erkannt ist, bis zur Quittung ohne Vorbehalt nachgegefordert werden könnten. Den Worten nach ist dieses Verständniß zwar berechtigt; es würde jedoch mit den übrigen Argumenten nicht

harmoniren, namentlich nicht mit §. 847 a. a. O.

3) Dieser lautet: „Hat aber der Gläubiger die vorbedungenen Zinsen nicht mit eingeklagt, so können dieselben, so lange noch nicht ohne Vor­ behalt über daS Capital quittirt ist, nachgefordert werden." Die Bestimmung spricht ausdrücklich nur von nicht geforderten vor­ bedungenen Zinsen.

Folgert man argumento e contrario von nicht

') Vergl. §. 821 a. a. Q •) Vergl. z. B. Geck, Abhandl., s. die folgende Seite.

304 geforderten Verzugszinsen daS Gegentheil, so ergiebt sich wiederum die gemeinrechtliche Regel.

Akan hat hiergegen sich auf den §. 848 a. a. O. berufen, nach welchem geforderte

aber

übergangene Verzugszinsen

als aberkannt

gelten sollen, und von nicht geforderten daS Gegentheil behauptet?)

Allein die Bestimmung ist deshalb sehr wohl motivirt, weil, wenn sich auch die Unzulässigkeit der Nachforderung nicht geforderter Verzugs­ zinsen aus den vorhergehenden §§ hinreichend ergab, doch der Zweifel

entstehen konnte, ob es etwa mit den geforderten, welche nicht ausdrück­ lich aberkannt sind, anders sein sollte.

4) Ein sehr schlagender Beweis dafür, daß nicht geforderte Ver­ zugszinsen nicht nachgefordert werden können, liegt darin: Wenn man

das Gegentheil aus den §§. 845 und 848 folgern wollte, so würde von vorbedungenen und Verzugszinsen ganz dasselbe gelten, und man hätte

die §§. 845—848 in die kurzen Bestimmungen zusammenfassen können: a) daß geforderte vorbedungene und Verzugszinsen,

wenn sie

übergangen sind, als aberkannt gelten, b) daß nicht geforderte vorbedungene und Verzugszinsen nach­

gefordert werden können, so lange nicht ohne Vorbehalt über das Capi­ tal quittirt ist?)

Das hier einige Male angewendete argumentum e contrario mag an sich ein mißliches Mittel zur Auslegung sein.

Wenn es aber, mehr­

mals angewendet, zu demselben Resultate führt und dieses mit anderen

Argumenten übereinstimmt, so ist an der Richtigkeit desselben nicht zu zweifeln?)

') So das ältere Präjudiz 656 vom 20. April 1839. Geck, Abhandlung int neuen Archiv für Preuß. Recht und Verfahren Bd. XI S. 126. 2) Vergl. über die vorstehenden Ausführungen den Plenar-Beschluß vom 12. September 1845 (Entsch. XI S. 6 ff.); Koch, Recht dei7 Forderung I, S. 120 ff.; Bornemann, System III, S. 329; Lenz, Studien S. 292. 309 bis 314. 3) Geck, a. a. O. S. 124. 125, leugnet freilich, daß ein Gegensatz Mi­ schen vorbedungenen und Verzugszinsen überhaupt gemacht werde, doch offen­ bar ohne Grund. Indem er ferner behauptet, der ans den §§. 845—848 entnommene Satz widerspreche dem §. 20 Th. I Tit. 5 der Allgem. GerichtsOrdnung , übersieht er, daß schon nach gemeinem Recht die Benennung der Klage mit ihrem technischen Rainen nicht mehr erforderlich war (cf. Koch, Civilprozeß S. 257), und daß die Allgem. Gerichts-Ordnung nur bestimmt, man solle sich nicht ängstlich an die genera et formulas actionum binden, dagegen ausdrücklich verordnet, man solle beurtheilen, ob aus den vorkom­ menden Thatsachen ein rechtlicher Anspruch entstehen könne, was nicht ohne Prütnng der Natur und Erforderniffe eines Rechts möglich ist. Vergl. auch den Rechtsfall in Ullrich'ü Archiv Bd. 15 S. 131 und Koch's Abhandlung in Hinschiuü jnrist. Wochenschr. 1836 S. 461.

305 Aus der Natur der Verzugszinsen folgt auch, daß sie nur mit dem Capital verjähren

können.

Da dies jedoch nicht ausdrücklich ausge­

sprochen ist, und der §.849 Th. I Tit. 11 des Allgemeinen Landrechts,

welcher eine zehnjährige Frist zur Einklagung von Zinsrückständen fest­

setzte,-diese Bestimmung nicht ausdrücklich auf vorbedungene Zinsen ein­ schränkte, so kann dieselbe hier nicht als ein Beweis aus dem positiven

Liechte benutzt werden. Die oben angeführten Gesetzesstellen handeln von Verzugszinsen.

Der Gesetzgeber würde gewiß dieselben Anwendungen von anderen ge-

setzlichen'Zinsen gemacht haben, wenn er die Lehre von den Zinsen nicht bloß bei einzelnen speciellen Materien gelegentlich vorgetragen hätte. Denn von allen gesetzlichen Zinsen galt zur Zeit der Abfassung des

Allgemeinen Landrechts der

Grundsatz,

daß

sie ein accessorium der

Hauptforderung seien, unbestritten in gleicher Weise?)

Bedenkt man

nun, wie geflissentlich bewußte Abänderungen des gemeinen Rechts im Allgemeinen Landrecht ausgesprochen werdens) so läßt sich von vorn herein

annehmen, daß man es ausdrücklich ausgesprochen haben würde, wenn

es anders sein sollte.

Es giebt aber auch eine Stelle, welche dies in

Bezug auf gesetzliche Zinsen überhaupt bestätigt. 5) Der §.58 Th. I Tit. 23 der Allgemeinen Gerichts-Ordnung

bestimmt nämlich:

„In allen Fällen, wo nach den Gesetzen ein Grund zur ZinSforderung obwaltet, muß der Richter von Amts wegen darauf

erkennen. Ist aber auf Zinsen angetragen, und ein gewisser Satz, imgleichen ein bestimmter terminus a quo und ad quem angegeben

worden; so soll nicht auf einen höhern Satz, und ebensowenig

auf einen früheren und resp, späteren Termin, von Amtswegen

erkannt werden."

(Allgemeines Landrecht Theil I Titel 11 §§.845

bis 848.) Der erste Theil dieser Stelle mag zwar eine unmotivirte Ausnahme

von dem 'obersten prozessualischen Grundsätze „ne ultra petitum# ent­ haltens) immerhin ist daraus ersichtlich, daß die gesetzlichen Zinsen über­ haupt als Mitgegenstand des Prozesses betrachtet worden sind/) und

dies ist wiederum ein Beweis, daß sie als accessorium der Hauptfor­ derung gelten.

Indem der Gesetzgeber die Parteien, welche aus Rechts-

unkenntniß auf Zuerkennung der Zinsen anzutragen verabsäumen, gegen den Nachtheil, der ihnen aus der Unzulässigkeit der Nachforderung ent-

*) Vergl. oben S. 302 Note 3. 2) z- B. §§. 243. 244 Th. I Tit. 14, §. 127 Th. I Tit. 17 und die Be­ merkungen von Snarez in den Koch'schen Noten.

a) Bergt. Lenz, Studien S. 279. 4) Bergt, den mebrgedachten Plenar-Beschluß a. a. O. S.. 14.

306 stehen würde, schützen will, macht er dem Richter zur Pflicht, von Amtswegen darauf zu erkennen.

Diese Absicht ist nach dem Geiste der älte­

ren Preußischen Prozeßgesetzgebung erklärlich und wird durch das Altegat der §§. 845—848 Th. I Tit. 11

wahrscheinlich gemacht.

des Allgemeinen Landrechts äußerst

Bergl. auch §. 62 Th. I Tit. 23 der Atlgem.

GerichtS-Ordnung. alten

Nach

vorstehenden Ausführungen glaube ich annehmen zu

dürfen, daß auch nach den Grundsätzen des Allgemeinen Landrechts die

gesetzlichen Zinsen überhaupt als accessorium der Hauptforderung anzu­ sehen sind.

Alsdann müssen sie bei der Cession der letzteren als mit­

abgetreten gelten, auch wenn ihrer nicht ausdrücklich gedacht ist.

b) Uebergang deS fiskalischen Zinsprivilegiums rücksichtlich der Zeit nach der Cession auf den Cessionar.

Bisher ist von Ansprüchen die Rede gewesen, welche auf Grund des Privilegiums bereits für den Fiscus entstanden waren zur Zeit der Ceision.

Aber auch das Privilegium selbst geht für die Zukunft auf

den Cessionar mit über. Nach den oben angeführten §§. 403 und 404 Th. I Tit. 11 des

Allgemeinen Landrechts hat er Vorrechte, welche der Forderung selbst, in Rücksicht auf die persönliche Eigenschaft ihres ersten Inhabers, zu­

kommen, ebenso wie die derselben wegen ihrer Natur und Beschaffenheit beigelegten.

Ausgeschlossen sind nur persönliche Befugnisse, welche, wie

die Vorrechte deS Fiscus wegen des Gerichtsstandes und der Sportel­

freiheit, bloß bei Gelegenheit der cedirten Forderung vom vorigen In­

haber ausgeübt werden konnten. Das Zinsprivilegium in unserem Falle ist meines Erachtens zu den

letztgedachten persönlichen Befugnissen nicht zu rechnen. Die Schwierig, feit, diese Befugnisse von den persönlichen Vorrechten, die auf den Cessionar übergehen sollen, durch eine allgemeine Formel zu tkennen, ist

nach den Grundsätzen des Allgemeinen Landrechts über das Wesen der

Cession nicht geringer als nach Römischem Recht, und man hat gewiß wohl daran gethan, bestimmte Beispiele hinzuzufügen. Bei der Abfassung

deS Gesetzbuches ist mau zu den in den §§. 403 und 404 aufgestellten Grundsätzen erst allmählig gekommen.

Da indessen die Materialien über

die Ansichten, welche dem schließlich aufgenommenen Texte zum Grunde liegen, keinen bestimmten Aufschluß geben,*) so ist ein näheres Eingehen

auf jene entbehrlich, und man hat sich nur an die Worte selbst zu halten. Die Revisoren gehen etwas zu weit,

wenn sie behaupten, man

könne außer dem Privilegium des Gerichtsstandes und der Sportelfrei*) Vergl. Gesetz-Revision Pensum XIV Motiv zu I, 11 S. 84.

307 heit kaum noch ein brtiteS Beispiel anführen. Jene beiden ergeben, daß

man hauptsächlich an Prozessualische Privilegien gedacht hat, die sich

also bloß auf die Art Der Geltendmachung beziehen.

Der Hanptnnter-

schied liegt meines Erachtens in einem durch die Worte „der Forderung selbst" angedeuteten Gegensatze:

Es sollen diejenigen Befugnisse aus­

geschlossen sein, deren Wegfall der Forderung präsumtiv') weder

an ihrem Umfang noch an ihrer Wirksamkeit etwas ent­ zieht.

Damit stimmen die Fälle überein, welche man sonst noch hier­

her rechnet,?) z. B. das fiscalische Executionsrecht und daS der Generat-

depositorien.

Ganz richtig sind auch die Verjährungsprivilegien °) aus­

geschlossen, sobald die ordentliche Verjährungsfrist zur Zeit der Cession noch nicht abgelaufen war.

Denn der Cessionar hat es in seiner Hand,

die Forderung sofort einzuziehen, so daß er durch den Wegfall des Pri­

vilegiums nicht beeinträchtigt ist. Jene Merkmale treffen jedoch bei dem fiscalischen ZinSprivilegium

nicht zu.

Dieses verschafft der Forderung eine materielle Erweiterung

und kann deshalb nur unter den ersten Theil des §. 404 fallen.

Wenn daselbst von einer persönlichen Eigenschaft gesprochen wird, so sollen damit, wie auS dem Beiwort „Persönliche" zu entnehmen ist,

nur im Gegensatz zu §. 403 die Vorrechte bezeichnet werden, welche zur Begünstigung einer Person und nicht wegen der Qualität einer Forde­

rung und des ihr zu Grunde liegenden Rechtsverhältnisses gegeben sind. Denn das Gesetz will jedenfalls erschöpfende Bestimmungen unter dieser

Eintheilung aufstellen und damit den gemeinrechtlichen Streit entscheiden.

Zu einem anderen Bedenken könnte der Ausdruck „persönliche Eigen­ schaft ihres ersten Inhabers"

Veranlassung geben.

Indem man

nämlich den gegebenen RechtSfall so auffaßt, daß der Fiscus als Uni* versalsuccessor in das Recht des Gläubigers eingetreten sei, könnte man

sagen, er sei alsdann nicht der erste Inhaber. Indessen wird hier der erste Inhaber nur dem neuen Inhaber ent­ gegengesetzt (§. 403), und kann kein Gewicht darauf gelegt werden, ob

das Vorrecht gerade von der Entstehung der Forderung an mit dieser verbunden gewesen sei. versalsuccessor

ES kommt nur daraus an, ob Fiscus als Uni-

überhaupt

von

seinem

Privilegium

konnte, wovon oben die Rede gewesen ist.

Gebrauch

machen

Neberdies bildet der Fiscus

vermöge der Universalsuccession mit seinem Erblasser, dessen vermögens-

‘) Es versteht sich, daß durch zufällige Umstände, z. B. die größere Schnelligkeit des Execntionüvcrfahrenö beim fiocali.chen Executionsrecht ein Vortheil vor anderen Gläubigern herbeigeführt werden kann. 5) Bergt. Koch, Commentar Rott' 37 zu §. 404 eit.

®) Bergt. §§.636-638 Th. I Tit. 9 des Allgemeinen Landrechts.

308 rechtliche Persönlichkeit sich in ihm fortsetzt, eine Person?)

Man kann

daher mit Recht den Fiscus als den ersten Inhaber bezeichnen.

Allein, wenn ich bemerkte, es werde kein Gewicht darauf gelegt, ob das Vorrecht von Anfang an mit der Forderung verbunden gewesen

sei, so bedarf dies insofern einer näheren Nestimmung, als ein Cessio-

nar sich nicht seiner eigenen Vorrechte bedienen kann?)

Vielmehr bleibt,

wenn mehrere Cessionen ftattgefunden haben, für den Umfang der mit der Forderung verbundenen Rechte immer die Person des ersten Ge­ benten maaßgebend.

„erster Inhaber"

Diese Beziehung ist ebenfalls

ausgedrückt.

in den Worten

In unserem Rechtsfatle ist jedoch

die

Auffassung, daß Fiscus selbst als Cessionar zu betrachten sei, wie oben

(S. 287 ff.) entwickelt, ausgeschlossen. Von einseitigem Standpunkte geht der Vorwurfs) aus, daß die

Schwierigkeiten

der

besprochenen Bestimmungen

nur von der natur­

widrigen Behandlung der Forderungsrechte als Gegenstand des Verkehrs,

gleich wie körperliche Sachen, herrührten.

Daß die Schwierigkeiten

nicht geringer sind, wenn man den Cessionar als Stellvertreter des Ge­

benten behandelt, beweist der oben erörterte Streit unter den Romanisten. Zweifelhaft scheint in der Preußischen Praxis mehr die Entscheidung

solcher einzelner Fälle, in denen Rechtsfragen aus anderen Materien hineinspielten, gewesen zu sein, als das Princip?)

Tie betreffenden Be­

stimmungen sind auch mit dem deutschrechtlichen Grundsätze,

Cessionar wirklicher Gläubiger werde, wohl zu vereinigen.

daß der

Man hat

sich das persönliche Vorrecht als von dem Gebenten auf die Forderung

übertragen und dieser nunmehr anklebend zu denken?) die Fassung des §. 404:

Dem entspricht

„welche der Forderung selbst in Rück­

sicht auf die persönliche Eigenschaft ihres ersten Inhabers zukommen."

Es ist oben bemerkt, daß die Voraussetzung des vorliegenden Rechts"

falls, das fiscalische Zinsprivilegium, seit der Emanation des Gesetzes vom 7. Juli 1833 in Bezug auf einzelne Forderungen nicht mehr ent­ stehen könne.

Daraus folgt jedoch nicht, daß derselbe Rechtsfall nicht

noch jetzt zur richterlichen Entscheidung ebenso entschieden werden müßte.

schen Privilegiums sei während

kommen könnte und alsdann

Gesetzt also, auf Grund des fiscali-

der Geltung

des älteren Rechts die

Zinsobligativn in Bezug auf eine Forderung des Fiscus entstanden, und

J) Vergl. §§. 102. 103 der Einleitung; §§. 34. 35 Tit.2; §§. 350. 367. 368 Th. I Tit. 9 des Allgemeinen Landrechts.

2) §. 405 st. st O. 3) Koch, Commentar Note 37 Alinea 2 zu 8-404 cit. 4) Vergl. die Nachweisungen in den Ergänzungen zu §§. 402—404 *) Bornemann, System III S. 156; Abhandlung von Temme in der juristischen Wochenschrift, Jahrgang 1845 S. 570.

309 dieser habe dieselbe, gleichviel ob vor oder nach Publication des Gesetzes

vom 7. Juli 1833, cedirt, so kann der Cessionar Zinsen seit der Entstehung der Zinsverbindlichkeit mit der Capitalsforderung einklagen, so­ fern diese nicht verjährt ist.

Denn

1) die Zinsobligation hat mit dem Gesetze vom 7 Juli 1833 nicht

aufgehört, und 2) die Zinsen verjähren erst mit dem Capital zugleich. ad 1.

Das Allgemeine Landrecht erkennt den Grundsatz an, daß

neue Gesetze auf frühere Handlungen und Begebenheiten nicht angewen­

det werden sollen?)

Diese Einwirkung ließe sich in doppelter Weise

denken, a) daß daS neue Gesetz auf die vertragsmäßig oder gesetzlich ein» tretenden Folgen früherer Handlungen und Begebenheiten nur für die

Zeit nach der Publication desselben, oder b) sogar auf die bis dahin entstandenen rechtlichen Folgen beschrän­

kend einwirkt?)

Es muß hier unerörtert bleiben, welche Einwirkungen der ersten oder zweiten Art das Preußische Recht in den einzelnen Rechtsgebieten

gestattet.

Denn im Obligationenrecht ist der Grundsatz, daß ein neues

Gesetz auf frühere juristische Thatsachen nicht einwirken solle, allgemein

anerkannt. So sagt das Publications-Patent vom 5. Februar 1794 im tz. VIII: „ . . . Wie wir denn überhaupt ausdrücklich verordnen, daß ein

Jeder, welcher sich zur Zeit der Publication dieses Landrechts in einem nach bisherigen Gesetzen gültigen und zu Recht beständigen

Besitze irgend einer Sache oder eines Rechts befindet, dabei

gegen Jedermann geschützt, und in dem Genusse oder in der

Ausübung dieser seiner wohlerworbenen Gerechtsame, unter irgend einem aus dem neuen Landrechte entlehnten Vor­ wande, nicht gestört oder beeinträchtigt werden soll?

Weiter wird, nachdem im §. X bemerkt worden, daß häufig eine Handlung oder Begebenheit sich früher ereignet habe, die rechtlichen Folgen derselben aber erst nachher eintreten, rücksichtlich der Verträge

folgende Anwendung davon im §. XI gemacht: „Es sind daher insonderheit alle Verträge, welche vor dem l.Juni

1794 errichtet worden, sowohl ihrer Form, und Inhalte nach, als in Ansehung der daraus entstehenden rechtlichen Folgen, nur nach den

zur Zeit des geschlossenen Contracts bestandenen Gesehen zu be*

*) Einleitung §§. 14 und 51. 2) v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts VHI, S. 382.

310 urtheilen; wenn gleich erst später auf Erfüllung, Aufhebung oder

Leistung des Interesse aus einem solchen Contracte geklagt würde/ Die im vorhergehenden §. X gemachten Unterscheidungen, je nach­

dem der Interessent die Folgen der früheren Handlung oder Begebenheit

nach Einführung des Allgemeinen Landrechts

zu bestimmen vermocht

habe, interessiren hier nicht, da der Rechtsfall keine Andeutung zu einer

derartigen Niöglichkeit giebt.

Der §. XI eit. spricht freilich

ausdrücklich

nur von Verträgen.

Allein im §. VIII eit., welcher die Grundregel enthält, bemüht sich der Gesetzgeber augenscheinlich, sich so allgemein wie möglich auszudrücken,

indem er sich vorbehält, die Ausnahmen besonders festzusehen. Es unter­ liegt daher keinem Bedenken, daß der Grundsatz auch auf obligatorische Verhältnisse überhaupt Anwendung findet?)

Demnach mutz auch das

fiscalische Zinsprivilegium nach demselben beurtheilt werden, selbst wenn

eS erst mit dem Eintritt des Fiscus in die Forderung seine Wirksamkeit auf diese geäutzert hat.

An der Gültigkeit des Grundsatzes ist auch aus dem Grunde nicht

zu zweifeln, weil die Bestimmungen des Publications-Patents nur tran­

sitorischer 9icitur seien.

Denn der nur allgemeiner gefatzte §. 14 der

Einleitung bestätigt denselben und alle späteren Publications-Patente haben denselben wiederholt?)

Diese machen zwar eine Ausnahme in

Bezug auf den Zinsfutz, indem mit der Geltung des Allgemeinen Land­ rechts die Bestimmungen des letzteren über die Höhe der Zinsen eintre­

ten sollen.

Das trifft jedoch unsern Fall nicht.

Hier handelt es sich

darum, ob Zinsen überhaupt gefordert werden können, und dies ist nach

der

allgemeinen Regel

zu

beurtheilen.

Es

giebt

auch

noch

andere

Ausnahmen im Preutzischen Rechts) dieselben heben jedoch die Regel

nicht auf.

Hiernach kann das Gesetz vom 7. Juli 1833 auch nur daS fisca­ lische Zinsprivilegium als solches, nicht etwa die in Bezug auf einzelne

Forderungen bereits begründete Zinsobligation für die Zukunft aufge-

hoben, geschweige denn den Anspruch auf die vorher entstandenen Zinsen von der Geltendmachung ausgeschlossen haben.

ad 2. Der Cessionar kann Zinsen seit der Entstehung der Zins-

*) v. Scivigny st. st. O. S. 435; Koch, Commentar Anm. 25 zu §. vni

des Publicettiono-Patentü vom 5 gebrüstt 1794. 2) vom 9. September 1814 (G.-S. S. 89., §. 5; vom 9. November 1816 (G.-S. S. 217 u. 225) §.7; vom 15.November 1816 (G.-S. S.233) §.7; Verordnung vom 25. Msti 1818 (G.-S. S. 45) §.3; Publicsttions-Psttent vom 21. Juni 1825 (G.-S. S. 153) §. 17. 3) z. B. die llnwirksstmkeit früherer Wittenserklärnngen stuf die Ablös­ barkeit der Restttststen. §. 97 des Gesetzes vom 2. März 1850 (G.-S. S. 77).

311 Obligation fordern, so lange das Capital noch nicht verjährt ist. Denn

gesetzliche Zinsen verjähren erst mit dem Capital zugleich. Der Satz kann an sich nicht füglich mehr in Zweifel gezogen wer­

den, seitdem das Gesetz vom 31. März 1838 (Gesetz-Sammlung S. 249)

im §. 2 Nr. 5 die kurze Verjährung von 4 Jahren ausdrücklich auf vorbedungene Zinsen eingeschränkt hat.

Vorher

war bekanntlich viel

Streit über die Auslegung des §. 849 Th. I Tit. 11 des Allgemeinen

Landrechts: „Wer die gerichtliche Einklagung rückständig verbleibender Zinsen länger als zehn Jahre verabsäumt, der kann einen über zehn

Jahre hinausgehenden Rückstand nicht ferner einklagen."

Die Einen wollten die Bestimmung nur auf vorbeduugene,

Andern auch auf gesetzliche, namentlich Verzugszinsen beziehen.

gesetzliche Zinsen nur mit dem Gesetz nicht aus.

Capital

verjäbren,

die

Datz

spricht das neue

Daher könnte ein consequenter Anhänger dee letzteren

Meinung wohl noch behaupten, das; die zehnjährige Verjährungsfrist für gesetzliche und Verzugszinsen stehen geblieben sei.

Dies würde jedoch der Natur derselben widersprechen. oben begründet ist,

wie

keinen von dem des

Sie haben,

Capitals unabhängigen

Verfalltag, auch fehlt ihnen das Merkmal der Periodicität.

Sie blei­

ben vielmehr ein den Inhalt der Hauptforderung erweiternder Neben­ anspruch, der erst dann zu einer gewissen Selbstständigkeit gelangt, wenn der Richter darauf erkennt?)

Hieraus geht hervor,

„rückständig verbleibende Zinsen"

datz der Ausdruck

im §. 849 eit. nicht

auf gesetzliche

Wollte man auf diese die Bestimmung anwenden, so würde man

patzt.

den Betrag der Vergütung, welche dieselben darstellen, beschränken. Datz

dies vom Gesetz beabsichtigt sei, lätzt sich nicht annehmen?)

Hiernach

können gesetzliche Zinsen so lange gefordert werden, wie daS Capital

selbst. Daher könnte der Cessionar in dem oben gesetzten Falle die Zinsen

für den ganzen Zeitraum, und nicht blos für die letzten 10 Jahre vor Anstellung der Klage fordern.

Ob das Maximum dieses Zeitraumes,

abgesehen von einer Unterbrechung der Verjährung, die Tauer von 30

oder 44 Jahren nicht übersteigen darf, ist verschieden.

War zur Zeit

der Cession die 30jährige Verjährungsfrist in Bezug auf die Haupt­ forderung noch nicht abgelaufen, so mutz der Cessionar innerhalb dieser

') §. 844 a. a. O.

a) Koch, Recht der Forderung I S. 126 ff.; Gesetz-Revision Pensum XIV S. 158. 159 zu Th. I Tit. 11 des Allgemeinen Landrechts; Loeweuberg, Bei­ trägei S. 101; Lenz, Studien S. 281.293; Plenar-Beschlutz vom U.März 1839 lEntscheidungen IV, S. 280; Präjudiz (ohne Datum) in Simon's und Strampff'ü Rechtosprüchen I S. 147.

812 klagen. War dies jedoch der Fall, so kommt ihm dm fiscalische 8?er« jährnngsfrist von 44 Jahren zu Statten, weil Fiscus für die Rechts güitigkeit der Forderung einzustehen hat.*)

*) Allgemeines Landrecht Th-1 Tit. 9 §§. 629. 636-638, Tit. 11 §.420; Koch's Commentar Anm. 78 zu §.H38 eit.; Simon und Strampff, Materdes Allgem. Landrechts S.554; Präjudiz vom 30. April 1852 (Entsch. XXIII S. 83; Grävell, die Lehre vom Besitz und der Verjährung S. 187 Note xx.

Druck von I. Blumenthal in Berlin, Adlerstr. 9.

VII. Ueber die Bestrafung des verbrecherischen Versuchs. Beurtheilende Vergleichung der Vorschriften des Allg. Landrechts Th. H Tit. 20 und des Preußischen Straf­ gesetzbuchs von 1851. Von dem Gerichts - Assessor Müller in Stettin.

Das Recht und die Pflicht des Staats, in seiner Sphäre die Ge­

rechtigkeit zu handhaben, und die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten, bringt es mit sich,

daß

er nicht nur das vollendete Verbrechen mit

Strafe bedrohe und ahnde, sondern dem Strafgesetze auch solche Hand­ lungen unterwerfe, in welchen die Absicht einer Störung des Rechts­ zustandes zur äußeren Erscheinung gekommen ist, ohne daß der Handelnde sein verbrecherisches Ziel erreichte. Die Straflosigkeit solcher Handlungen, welche die Sicherheit des

Gemeinwesens

gefährden,

wie

das

vollendete Verbrechen sie verletzt,

würde zu vermehrten Eingriffen in die Rechtsordnung anreizen;

der

Staat darf dieselben nicht ungeahndet lassen, da der Zufall, welcher ihnen hindernd entgegentritt, oder ihren Erfolg vereitelt, den zu Tage

getretenen verbrecherischen Willen nicht entschuldigen kann.

Wir finden deshalb in allen neueren Strafgesetzgebungen seit der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V.

die

dem vollendeten und dem unternommenen

Unterscheidung

und besondere Strafsanctionen gegen das letztere. zelnen

Gesetzgebungen

suches

oft ganz

bei

der

Bestrafung

zwischen

oder versuchten Verbrechen, des

verschiedene Principien befolgt

Wie jedoch die ein­ verbrecherischen haben, so

weist

Ver­

die

Behandlung dieses Gegenstandes auch in den beiden Strafgesetzbüchern

21

314 unseres Vaterlandes, dem Tit 20 Th. II. des Allgemeinen Landrechts

und dem Sirafgesetzbuche vom 14. April 1851, beträchtliche Verschieden­ heiten auf.

Bevor wir uns zu einer näheren Betrachtung der betreffenden Be­ stimmungen und der Vergleichungspunkte wenden, welche sie darbieten,

erscheint es angemessen, in möglichster Kürze eine Uebersicht der geschicht­ lichen Entwickelung der Lehre über den Versuch

im Gemeinen Rechte

vorauszuschicken, da deren Kenntniß zum richtigen Verständniß der Be­

stimmungen unserer Gesetzbücher erforderlich ist. I. Ob bereits das Römische Recht den Begriff des verbrecherischen

Versuchs im Gegensatze zur Vollendung technisch ausgebildet, und eine

allgemeine Regel über dessen Bestrafung

ist

enthalten hat,

sehr be­

stritten?) Die leges publicorum judiciorum der Römer erwähnen einer solchen Regel nicht, sie formuliren auch keine allgemeinen Grundsätze über die Bestrafung der Verbrechen, sondern sie zählen die Handlungen

einzeln auf, welche sie mit Strafe geahndet wissen wollen.

Es finden

leges Corneliae (de sicariis 2) und de falsis ’)) sowie in der lex Julia majestatis und den leges Juliae de vi der Fall ist, unter den an einander gereihten, mit einer und der­ sich indeß, wie dies namentlich in den

selben Strafe bedrohten Handlungen viele, welche nach heutiger Rede­

weise als Versuchshandlungen bezeichnet werden müßten. natusconsulte und Rescripte

aus

der Kaiserzeit

Spätere Se-

vermehrten die Zahl

solcher Fälle, die Praxis machte ähnliche Handlungen

ad exemplum legis

zum Gegenstand einer extraordinaria cognitio.4) — Die nähere Betrach­ tung dieser Fälle in Verbindung mit der Wahrnehmung, daß bei den

Privatdelikten dem Privaten immer erst die wirklich erfolgte Verletzung seines Rechts eine Klage gab, und einige allgemeiner aufgefaßte Aeuße*) Zachariä, Lehre vom Versuche I §§. 54 sey. — Köstlin, System des

Strafrechts §. 81 Anm. 1.

2) 1. 1. pr. D. 48, 8: Lege Cornelia de sicariis et veneficiis tenetur, qui hominem occiderit cujusve dolo malo incendium factum erit; quive hominis occidendi furtive faciendi causa cum telo ambulaverit. 1. 3 pr.: qui venenum necandi hominis causa fecerit, vel vendiderit, vel habuerit. Zachariä §. 68. 3) qui testamentum falsum scripserit, recitaverit, subjecerit, signaverit, suppresserit, amoverit, resignaverit, deleverit sciens dolo malo, cujusve dolo malo id furtum erit. 4) Zachariä a. a. O. I §. 54. — Köstlin §. 81 Anm. 1.

315 Hingen der Römischen Rechtsquellen*) veranlaßten schon die Glossatoren, aus dem Römischen Rechte die allgemeine Regel abzuleiten, daß in de­ lictis levioribus der Versuch straflos sei, bei crimina atrociora dagegen der durch äußere Handlungen an den Tag gelegte Versuch stets gestraft werde, und zwar gleich dem vollendeten Verbrechen?) Die Ansicht der Glossatoren wurde in den Schriften der Italienischen Praktiker festge­ halten, und behauptete sich als communis opinio unangefochten bis zum vorigen Jahrhundert/) wo zuerst Bynkenhöck nachzuweisen suchte, daß das Römische Recht zwischen Versuch und Vollendung technisch nicht

unterschieden, und die vielfach mit Strafe bedrohten Versuchshandlungen nicht als solche, sondern als selbstständige vollendete Verbrechen geahndet habe. Diese neuere Ansicht ist altmälig die herrschende geworden/) Das alte Germanische Recht hatte eine allgemeine Regel über die Bestrafung des verbrecherischen Versuchs entschieden nicht. Da es die äußere materielle Rechtsverletzung als das Abzugeltende ansah, und der Betrag der Buße sich nur nach dieser bestimmte, so konnte der Versuch,

wenn er überhaupt zu einer materiellen Verletzung geführt hatte, nur ber für diese angedrohten Strafe unterliegen; die auf das größere Ver­ brechen gerichtete Absicht des Thäters wurde nicht in Betracht gezogen. Die vereinzelten Bestimmungen der Volksrechte aber, welche wirklich schon Versuchshandlungen als solche bedrohten, stellten dieselben stets auf eine bedeutend niedrigere Stufe der Strafbarkeit, als das vollendete Verbrechen?) Diese Germanische Auffassung, welche den Versuch entweder gar nicht, oder als ein Verbrechen geringerer Gattung strafte, erhielt sich,

*) 1. 14 D. 48, 8: „In maleficiis voluntas spectatur, non cxitus.“ 1. 5 Cod. 9, 8: „eadern cnim severitate voluntatem sceleris, qua effectum, puniri jura voluerunt.“ 2) Glosse zu 1. 5 Cod. de episcopis. et Clericis: qui cogitavit delinquere et ad actum processit, si ad effectum non perduxit, quia non potuit, punitur ac si ad effectum perduxisset. 3) Zachariä I §. 56. — Köstlin a. a. O. 4) Zachariä I §§. 61 und 75. — Heffter, Lehrbuch 4. Ausgabe §. 75, Note ß. — Lelievre de conatu delinqucndi S. 87. — Brakenhöft, Neues Archiv Bd. 28 S. 74. — Mit Einschränkungen Köstlin S. 215. — Da­ gegen Mittermeier, Neues Archiv Bd. 10 S. 545. 5) Zachariä I §. 91. — Köstlin a. a. O. S. 217. — Eine Ausnahme Macht ein Capitulare Caroli Magni: „qui homiuem voluntarie occidere voluerit et perpetrare non potuerit, ut homicida punietur.“

316 auch nachdem die Deutschen Volksrechte ihre Kraft verloren hatten, in den Rechtsanschauungen des Mittelalters vorherrschend; sie behauptete sich selbst in dem Conflikt mit der aus dem Römischen Rechte nach der erwähnten communis opinio abgeleiteten Regel, welche bei den crimina atrociora den zur That gewordenen bösen Willen gleich dem vollendeten Verbrechen strafte. Die Italienischen Praktiker erwähnen ihrer als einer

generalis consuetudo totius mundi, und lassen die mildere Behandlung des Versuchs als Regel für die Strafabmessung gellen, während sie das Princip für die absolute Strafbarkeit des Versuchs entlehnen. Doch blieb beim Mangel einer festen mina atrociora und leviora die Italienische Praxis Auch im Canonischen Rechte ist so wenig wie in

der communis opinio Grenze zwischen cri­ eine sehr schwankende. den Deutschen Rechts­

büchern des Mittelalters und der Deutschen Praxis ein durchgreifendes Princip erkennbar?) Erst der aus der Bambergensis wörtlich herübergenommene Artikel

178*2} der Peinlichen Gerichtsordnung Carl's V. brachte für Deutsch­ land eine allgemeine, den verbrecherischen Versuch bedrohende Strafbe­ stimmung, welche die Grundlage für die neuere gemeinrechtliche Doktrin und der Ausgangspunkt für die Mehrzahl der Deutschen Partikular­ gesetzgebungen in dieser Lehre geworden ist.3) — Die Auslegung des Artikels 178 ist im Einzelnen sehr controvers; nicht streitig ist, daß die Vorschrift der Peinlichen Gerichtsordnung, indem sie die Höhe der Ver­ suchsstrafe dem richterlichen Ermessen überläßt, die unterstandene Misse­ that allgemein auf eine geringere Stufe der Strafbarkeit stellt, als das vollendete^ mit der ordentlichen Strafe bedrohte Verbrechen; auch be­ schränkt die vorherrschende Meinung der gemeinrechtlichen Criminalisten die Strafbestimmung des Artikels 178 auf die peinlich (im Gegensatze Köstlin §. 81 Anm. 2. — Zachariä §§. 91—93. 2) Artikel 178 in der Koch'schen Ausgabe lautet: Straff understandener missethatt. Item, so sich jemand eyner missethatt mit etlichen scheinlichen werden, die zu volnbringung der misse­ thatt dienstlich sein mögen, understeht, und doch an volnbringung derselben missethatt durch andere mittel wider seinen willen verhindert würde, solcher böser will, daraus etlich werck als obsteht volgen, ist peinlich zu straffen. Aber in eynem fall herter, denn in dem andern, angesehn gelegenhept und gestalt der fach; darumb sollen solcher straff

halber die urteiller radts pflegen, wie die an leib oder leben zu thun gebürt. 3) Zachariä a. a. O. — Köstlin §. 81 Anm. 2. — Auch die Branden­ bürgen sis hat den aus der Bambergensis entlehnten Art. 178, das Preußische Landrecht von 1620 eine fast gleichlautende Bestimmung. — Zachariä II S. 195.

317 zu bürgerlich, polizeilich) zu ahndenden Verbrechen?) Es wird von den Rechtslehrern rühmend hervorgehoben, daß die Peinliche Gerichtsordnung durch ihre generelle Vorschrift die aus dem Römischen Rechte herge­ leitete communis opinio mit der, Deutscher Rechtsanschauung entsprun­

genen, generalis consuetudo

treffend

zu

vereinigen

gewußt und im

Versuche das subjektive und das objektive Moment der Strafbarkeit gleichmäßig zur Geltung gebracht hat.

II.

Wenden wir uns nunmehr zur Betrachtung der Vorschriften des Allgemeinen Landrechts Theil II Titel 20 über die Bestrafung des ver­ brecherischen Versuchs, so ist nicht außer Acht zu lassen, daß es nicht

die Absicht der Redaktoren dieses Gesetzbuchs war, ein neues Recht zu bilden, sondern das damals geltende gemeine Strafrecht und die einhei­ mische Gesetzgebung zusanunenzustellen, und unter Beseitigung des Veral­ teten und einigen zeitgemäßen Reformen in einem allgemein verständ­ lichen Strafcodex zu vereinigen. Auch die Vorschriften über den Versuch stehen deshalb mit den in der damaligen gemeinrechtlichen Doktrin in dieser Lehre gewonnenen Resultaten in engem Zusammenhänge, und wird im Verlaufe unserer Auseinandersetzung nicht selten auf das Gemeine Recht zurückzugehen sein. Das Allgemeine Landrecht enthält unter dem Marginale „von unternommenen und ausgeführten Verbrechen" in dem „von Verbrechen und Strafe überhaupt" handelnden 1. Abschnitt des 20. Titels des

II. Theils folgende Bestimmungen: 8-39: Die ordentliche Strafe eines vorsätzlichen Verbrechens trifft den­

jenigen, welcher dasselbe wirklich vollbracht hat. §. 40: Hat der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite alles gethan; die zum Wesen der strafbaren Handlung erforder­ liche Wirkung aber ist durch einen bloßen Zufall verhindert wor­ den, so hat er diejenige Strafe, welche der ordentlichen am näch­ sten kommt, verwirkt.

§. 41: Die nächste Strafe nach dieser trifft den, welcher durch einen bloßen Zufall an der letzten zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen Handlung gehindert wurde.

‘) Zachariä I S. 174 folg. — Köstlin S. 219. — Heffter §. 75. — Berner, Lehrbuch §.101.

318 8- 42: Har ein solcher Zufall schon die vorläufigen Anstalten zu der strafbaren Handlung unterbrochen: so wird die böse Absicht nach Verhältniß des Fortschrittes zur wirklichen Vollziehung geahndet.

§. 43: Wer aus eigener Bewegung von der Ausführung des Verbrechens absteht, und dabei solche Anstalten trifft, daß die gesetzwidrige Wirkung gar nicht erfolgen kann; ingleichen der, welcher durch zeitige Entdeckung der Mitschuldigen und ihres Verbrechens die Ausführung desselben hintertreibt, kann auf Begnadigung Anspruch machen.

§♦ 44: Auch bloße Drohungen, ein gewisses Verbrechen begehen zu wollen, sind strafbar und verpflichten den Staat zu Maßregeln, wodurch der Bedrohte in Sicherheit gesetzt wird. Fassen wir diese Vorschriften näher in's Auge, so zeigt sich zu­ nächst, daß das Allgemeine Landrecht eine Definition von unternom­ menen und ausgeführten Verbrechen nicht enthält, diese Begriffe vielmehr als bekannt, und aus dem gemeinen und dem juristischen Sprachgebrauch zu entnehmen, voraussetzt. Wann ein Verbrechen (das Allgemeine Land­ recht versteht darunter eine jede im Gesetze verbotene Handlung oder Unterlassung — §§. 7—9 h. t.) ausgeführt oder vollendet zu nennen ist, hängt davon ab, wie der Gesetzgeber die mit Strafe bedrohte Handlung oder Unterlassung beschrieben, welche Merkmale er zum Thatbestände des

Verbrechens erfordert hat; die Frage nach der Vollendung beantwortet sich deshalb bei jedem einzelnen Verbrechen aus dessen gesetzlichem Be­ griffe. Es läßt sich jedoch unter den Verbrechen eine durchgreifende Verschiedenheit erkennen, indem das Gesetz bei den einen zu deren Be­ griff einen gewissen äußern Erfolg verlangt, z. B. bei der Tödtung, der Brandstiftung, bei den andern dagegen schon durch die Beendigung der verbotenen Handlung ohne Rücksicht auf einen bestimmten äußern Erfolg die angedrohte Strafe verwirkt wird, wie z. B. beim Duell,9 dem Mein­ eid 2) u. a. m. Mit Rücksicht auf diese Verschiedenheit, welche einige Rechtslehrer3) durch die Ausdrücke „materiale und formale Verbrechen" bezeichnen, wird ein Verbrechen vollendet genannt, sobald dasjenige Maaß

verbrecherischer Thätigkeit oder Wirkung vorhanden ist, welches das Gesetz zum vollen Thatbestände des Verbrechens und zur Anwendung

*)-§. 672. 2) §. 1405 h. t. 3) Z. B. Heffter §. 59.

319 der ordentlichen Strafe erfordert;') versucht oder unternommen aber heißt

wenn die den gesummten Thatbestand desselben

ein Verbrechen dann,

umfassende Absicht des Verbrechers zwar schon in äußerliche Handlungen ausgebrochen, aber die verbrecherische Thätigkeit noch nicht zum Abschluß

gekommen ist, oder den zum Begriff des Verbrechens erforderlichen Er­

folg nicht gehabt hat?)

Der Unterschied von Vollendung und Versuch

liegt also lediglich in dem Fortschreiten der verbrecherischen Thätigkeit zu ihrem Ziele, der Verübung des Verbrechens.

Hieraus folgt von selbst,

daß von Vollendung und Versuch nur bei vorsätzlichen Verbrechen die Rede sein kann, und daß ein culposer Versuch oder der Versuch eines culposen Verbrechens nicht denkbar ist?) sowohl des Versuchs als der culpa.

Dem widerstrebt der Begriff,

Denn wie der Versuch, das Unter­

nehmen, die Richtung auf ein Ziel einschließt, und gerade in der unzu­

reichenden, mißlungenen Bethätigung einer weiter greifenden Absicht be­ steht, so setzt andererseits die Frage nach dem Vorhandensein einer culpa

zunächst einen, nicht beabsichtigten, rechtsverletzenden Erfolg voraus, von

dem alsdann weiter in Frage kommt,

ob und wie leicht er von dem

Handelnden vorhergesehen werden konnte?) Die Einschränkung des Begriffs des unternommenen Verbrechens auf die vorsätzlichen Verbrechen ist in dem oben altegirten §. 39 unzwei­

deutig ausgesprochen.

Im Uebrigen stellt das Allgemeine Landrecht die

im Marginale ausgedrückte Unterscheidung als eine allgemeine auf;

es

giebt also dem Begriffe des strafbaren Versuches eine bedeutend größere

Ausdehnung, als der Art. 178 der Peinlichen Gerichtsordnung,

indem

es keinerlei Verbrechen wegen der Form des Verfahrens oder der Höhe der angedrohten Strafe von demselben ausschließt.

Doch ist auch nach

dem Allgemeinen Landrecht der Begriff des Versuches nicht auf alle,

in demselben mit Strafe bedrohte, Handlungen und Unterlassungen an­ wendbar, er wird vielmehr bei manchen Verbrechen schon durch deren Natur oder gesetzlichen Begriff ausgeschlossen.

Dahin gehören diejenigen Verbrechen, bei welchen mit dem Hervor-

') Heffter 73. — Goltdammer, Materialien I S. 2, 53. 2) Zachariä I S. 27. 3) Dies wird von alten Nechtslehrern anerkannt; nur Hepp, Versuche S. 262, sucht die Möglichkeit einer culpa attenta zu rechtfertigen, obwohl er das Erforderniß des dolus zu in Versuche nach positivem Rechte zugesteht. 4) Versuchtes und cnlposes Verbrechen sind in gewissem Sinne Gegen­ sätze. Während das erstere in der unvollkommenen Verwirklichung einer weitergehenden Absicht besteht, gehört zum Wesen des letzteren ein über die Absicht des Thäters hinansgehender Erfolg. — Köstlin §. 82. — Temme,

Strafrecht §. 56.

320 treten des bösen Vorsatzes in die Außenwelt schon zugleich das vollendete Verbrechen gegeben wird, und deshalb eine Unterbrechung der verbreche­

rischen Thätigkeit auf ihrer Bahn zur Vollendung nicht denkbar ist, wie z. B. alle durch Wort zu verübende Verbrechen,l) alle eigentliche Unterlassungsverbrechen,

d. i. solche, bei denen das Strafbare in der

Verabsäumung einer zur Pflicht gemachten Handlung besteht, ohne Rück­ sicht auf einen gewissen Erfolg derselben?)

Ferner solche Verbrechen, in

deren Thatbestand der Gesetzgeber das unternommene Verbrechen mit hineingezogen hat, bei denen also mit dem Versuche zugleich das voll­ endete Verbrechen eintritt, wie z. D. der Hochverrath §. 92, die Landes-

verrätherei §. 100 h. t.

Endlich ist ein strafbarer Versuch nicht denkbar

bei denjenigen Verbrechen, welche, obwohl sie mit besonderer Strafe be­

droht sind, sich mit Rücksicht auf einen neben ihnen liegenden Vollen­ dungsbegriff selbst nur als Versuchshandlungen darstellen; Handlungen

scheiden

vielmehr

dergleichen

aus der Kategorie des Versuchs nicht

völlig aus, weil andernfalls im Falle der Vollendung Concurrenz zweier

verschiedener Verbrechen angenommen werden müßte?) — Hinsichtlich der relativen Strafbarkeit des Versuchs hat sich das Allgemeine Landrecht der Peinlichen Gerichtsordnung angeschlossen, der

ordentlichen Strafe das vollendete Verbrechen unterworfen und den Ver­

such allgemein auf eine niedrigere Stufe der Strafbarkeit gestellt.

Inner­

halb des Versuchs ist die Strafe nach bestimmten Graden abgestuft, wie es in der damaligen Doktrin des gemeinen Rechts üblich und in anderen Partikulargesetzgebungen schon geschehen war.

Das Fortschreiten der verbrecherischen Thätigkeit von dem Augen­ blicke an, wo die auf Begehung des Verbrechens gerichtete Absicht zuerst

äußerlich zur Erscheinung kommt, bis zur Vollendung, läßt sich nämlich in eine bald größere, bald kleinere Anzahl von einzelnen Akten zerlegen,

welche in dem Fall eine Bedeutung erlangen, wenn dem Umstande, ob die Thätigkeit des Verbrechers im Zeitpunkt ihrer Unterbrechung dem vorgesteckten Ziele mehr oder weniger nahe gerückt war, Einfluß auf die Strafbarkeit des Versuches beigelegt

wird.

Die Bestrebungen,

diese

einzelnen Akte in bestimmten Stufen zu fixiren, finden sich schon in den Schriften der Italienischen Praktiker und hatten ihren ersten Grund in

der Absicht, die Regel über die gleiche Bestrafung des Versuches mit ‘) Das Wort, ehe es ausgesprochen, ist nur Gedanke und „cogitationis poenam nemo patitur.“ — 1. 18. D. de poenis 48. — Hepp, Versuche S. 297, 301. - Zachariä I §. 47. ’) Zachariä §. 42. 3) Beispiele sind: Herausforderung zum Duell und deren Annahme §§. 667, 669. Einschleichen §. 1166, welches sogar mit der Strafe des vollendeten gewaltsamen Diebstahls bedroht ist.

321 dem vollendeten Verbrechen bei crimina atrociora, auf die der Vollen­ dung näheren Versuchshandlungen zu beschränken?)

Die vorkommende

Unterscheidung von actus proximi und remoti blieb jedoch sehr unbe­

stimmt.

Die Peinliche Gerichtsordnung

vermied

die Aufstellung be-

stimmter Grade des Versuchs, ließ jedoch durch die Strafabmessungs­

regel „in einem Fall härter, als in dem andern, angesehen gelegenheyt und gestalt der sach" der Doktrin freien Raum, durch Aufsuchung und

Feststellung überall erkennbarer Stufen dem Richter Anhaltspunkte bei Bestrafung des Versuches zu gewähren.

Unter den verschiedenen Ein-

theilungen der Versuchshandlungen, welche hierdurch hervorgerufen wur­

den, hat das Allgemeine Landrecht, ohne jedoch die technischen Bezeich­ nungen aufzunehmen,

im Wesentlichen die von Klein gewählt — ein

Umstand, der sich aus dem Antheil dieses Juristen an der landrechtlichen

Strafgesetzgebung leicht erklärt. Es bezeichnet, nachdem es in §. 39 das vollbrachte Verbrechen mit der ordentlichen Strafe bedroht hat, als den höchsten und strafbarsten

Grad des Versuchs in §. 40 den Fall, daß der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite Alles gethan hat, die zum Wesen der strafbaren Handlung

erforderliche Wirkung

Zufall verhindert worden ist.

aber

durch

einen bloßen

Hierin erkennt sich leicht der zuerst von

Klein hervorgehobene Begriff des delictum perfectum, von ihm geen­

digtes Verbrechen?) von Andern conatus proximus, geendigter Versuch Die Definition des §. 40 ergiebt, daß dieser höchste Grad

genannt.

des Versuchs nur bei denjenigen Verbrechen vorkommen kaun, welche zu

ihrem Thatbestände den Eintritt einer bestimmten äußern Wirkung ver­

langen, wie der Todtschlag, der Mord den wirklichen Tod des Verletzten.

§§. 806, 826 h. t. Das delictum perfectum hat mit dem consummirten Verbrechen das

gemein, daß die verbrecherische Thätigkeit vollkommen zu Ende geführt ist; es unterscheidet sich aber dadurch von ihm, daß der zur Consum­

mation gehörige Erfolg beim delictum perfectum nicht eingetreten ist. Wodurch dessen Eintritt verhindert worden, ist nicht für die begriffliche

Begrenzung dieses Grades, wohl aber für die Strafe von Erheblichkeit. Der „bloße Zufall" des §. 40 ist der Gegensatz der in §. 43 gedachten

Momente:

„Abftehen aus eigener Bewegung und Treffung solcher An­

stalten seitens des Thäters, daß die gesetzwidrige Wirkung nicht erfolgen kann."

Beide Momente „bloßer Zufall und freiwillige Abwendung der

Wirkung durch den Thäter" sollen die Zahl der möglichen Gründe, aus

1) Köstlin, S. 242. — Zachariä II §§. 154 seq. 2) Der Ausdruck ist zu tadeln, weil dadurch dieser Grad vom Versuche losgeriffen wird.

322 denen der Erfolg unterblieben ist, erschöpfen, und die Anwendung der

Strafbestimmungen, entweder des §. 40 oder des §. 43 rechtfertigen.

Wenn nicht zu leugnen ist, daß bei einer stritten Auslegung der Worte neben jenen beiden Momenten sehr viele andere Gründe liegen, welche den Erfolg der verbrecherischen Thätigkeit vereitelt haben können, so ist

doch nach der Absicht des

unbedenklich

in

Gesetzgebers der

„bloße Zufall" des §. 40

einer allgemeineren Bedeutung aufzufassen,

und

sind

darunter alle solche Umstände zu verstehen, welche wider den Willen des

Thäters den beabsichtigten Erfolg verhindert haben?) Die Strafe des höchsten Grades des Versuches ist nach §. 40 die

nächste nach der ordentlichen;

auch auf ihn ist also das Princip einer

gelinderen Bestrafung des-Versuches zur Anwendung gebracht. *)

Für

die Praxis gab diese unbestimmte Strafandrohung wenig mehr als den

Grundsatz, daß der Richter im Fall des §. 40 nicht auf das Maximum der Strafe erkennen dürfe, denn das Gesetz sagt nirgend, welches die

nächste Strafe nach der ordentlichen sei, die Abmessung der Strafe war also mit jener Beschränkung lediglich dem Arbitrium des Richters über­ lassen?)

Als zweiten Grad des Versuches bezeichnet das Allgemeine Land­ recht in §. 41 den Fall, wenn der Thäter durch einen bloßen Zufall an

der letzten zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen Handlung gehindert wurde — das crimen inchoatum Klein's, von andern conatus propior genannt.

Dieser Grad unterscheidet sich von dem vorigen da­

durch, daß er auf alle Arten von Verbrechen, formale und materiale,

anwendbar ist; er setzt voraus, daß der Thäter die Handlung, deren

Fortsetzung das Verbrechen unmittelbar beendet haben würde, bereits an­ gefangen hat, in der Ausführung des Verbrechens bereits begriffen war.

Bei denjenigen Verbrechen, deren Thatbestand keine bestimmte Wirkung erfordert, bei welchen also beendigter Versuch und Vollendung zusammen­ fallen, ist er die höchste Stufe des Versuchs.

Zhn trifft die nächste

Strafe nach der für das delictum perfectum angedrohten. ') In diesem allgemeineren Sinne wird der Ausdruck Zufall öfter im Allgemeinen Landrecht gebraucht, z. B. werden in §. 6 Th. I Tit 3 zufäl­

lige Folgen einer Handlung diejenigen genannt, welche der Thäter nicht vor­ hersehen konnte. a) Für die gleiche Bestrafung des delicti perfecti hatten sich schon zur Zeit der Entstehung des Landrechts namhafte Juristen ausgesprochen. Bergt.

Zachariä II §. 176 seq. ’) Die Unbestimmtheit der Strafandrohung des §. 40 wurde in der Praxis vielfach getadelt und gab namentlich bei den absoluten Strafen zu Mißständen Anlaß. Bergt. Motive zum Entwürfe des Strafgesetzbuchs von

1827, S. 107.

323 Als dritter Grad wird in §. 42 der Fall genannt, daß schon die

vorläufigen Anstalten zu der strafbaren Handlung durch Zufall unter­ brochen find. — Das delictum attentatum Klein's, auch delictum praeparatum und conatus remotus genannt.

Das Allgemeine Landrecht gehört also zu den Gesetzgebungen, welche den verbrecherischen Versuch schon in dem Stadium, wo der Verbrecher

erst in der Vorbereitung der Ausführung des Verbrechens begriffen ist, mit Strafe bedroht. Die vorläufigen Anstalten oder Vorbereitungßhandlungen sind in

dem Fortschreiten der verbrecherischen Thätigkeit zu ihrem Ziele,

der

Vollendung des Verbrechens, die unterste Stufe; sie gehen der Ausfüh­

rung voran, und setzen den Thäter erst in den Stand, dieselbe anzu­

fangen.

Sobald der Thäter beginnt, die in Bereitschaft gesetzten Mittel

und Kräfte in der Richtung nach dem vorgesteckten Ziele in Bewegung

zu setzen,

sie anzuwenden,,

schritten und

hat

er

die Stufe der Vorbereitung über­

ist in das Stadium der Ausführung getreten.

Auch in

diesem Stadium läßt sich seine Thätigkeit bei vielen Verbrechen wiederum in eine größere oder

geringere Anzahl einzelner Akte zerlegen, deren

letzter den Verbrecher in den beendigten Versuch, das delictum perfectum,

versetzt.

Man hat deshalb zwischen dem §. 41 und §. 42 insofern eine

Lücke gefunden/) als der erstere das Vorhandensein des crimen inchoatum an die Behind erung des letzten Aktes der Ausführung

knüpft, und hierdurch frühere Ausführungsakte auszuschließen

scheint,

welche doch auch wieder nicht in das Gebiet der vorläufigen Anstalten

gerechnet werden können.

Mag jedoch auch der Ausdruck

„letzten zur

Ausführung erforderlichen Handlung" in §. 41 ungenau zu nennen sein,

so ist der Sinn dieses §. nach der Absicht des Gesetzgebers doch jeden­ falls der oben angegebene: die Strafandrohung desselben trifft den in der Ausführung begriffenen und darin unterbrochenen Thäter; sie um­

faßt die Thätigkeit des Verbrechers von dem Beginne der Ausführung

an bis zum beendigten Versuche.

— Als Maaßstab der Strafbarkeit

der vorläufigen Anstalten stellt der §. 42 das Verhältniß des Fortschritts

der bösen Absicht zur wirklichen Vollziehung hin.

Dies ist die allge­

meine Zumessungsregel, von welcher das Allgemeine Landrecht bei Fest­ setzung der Strafen für die Versuchshandlungen ausgegangen ist; sie ist

deshalb nicht auf den Grad des §. 42 zu beschränken/) sondern findet

auch bei den höheren Graden, namentlich dem des §. 41 Anwendung;

die Strafbestimmungen der §§. 40 und 41

enthalten in der That in

ihrer Unbestimmtheit nur eine Anwendung jener Regel.

0 Motive zum Entwurf von 1827, S. 102. a) Dies nimmt Köstlin an S. 249, Note 1.

324 In §. 43 giebt das Allgemeine Landrecht dem Thäter einen An­ spruch auf Begnadigung, wenn er von der Ausführung des Verbrechens aus eigener Bewegung abgestanden ist, und widrigen Wirkung

durch

zweckentsprechende

den Eintritt der gesetz­

Anstalten

verhindert hat.

Wie oben hervorgehoben, sind die hier angegebenen Momente der Gegen­

satz des „bloßen Zufalls", welcher in den §. 40 und ebenso in §§. 41

als Grund

und 42

der Verhinderung

der

Eonsummation

des

Ver­

brechens vorausgesetzt wird, dergestalt, daß der Ausdruck „Zufall"

in

einem weiteren Sinne zu verstehen, und auf alle außerhalb der eigenen Bewegung und Thätigkeit des Verbrechers liegenden Ursachen des Nicht­

eintritts der Consummation zu beziehen ist. — In der Praxis hat man

vielfach die Anwendbarkeit des §. 43 dadurch einzuengen gesucht, daß man das

freiwillige Abstehen

des Thäters von der Ausführung nur

dann berücksichtigen wollte, roeim demselben das sittliche Motiv der Reue zu Grunde tag.1)

Diese Auslegung wird einigermaßen unterstützt durch

den §. 60 h. t.: „Reue vor vollführter That ist nach den Regeln vom unternom­

menen Verbrechen zu beurtheilen", und durch eine Bemerkung Klein's,?) welcher zur Rechtfertigung der

Vorschrift des §. 43 auf die dem „reuigen" Verbrecher zu gewährende

Berücksichtigung hinweist. Doch läßt sich jene Einschränkung aus den Worten des §. 43 in keiner Weise rechtfertigen.

Denn der eigenen Bewegung des Verbrechers

können offenbar mancherlei andere Motive zu Grunde liegen, als Reue,

welche trotz ihrer geringeren Sittlichkeit doch immer eine innere Regung

desselben bleiben; z. B. Furcht, vor der gesetzlichen Strafe; auch der le­

gislatorische Grund der Bestimmung, welcher, wie wir sehen werden, ein criminalpolitischer war, rechtfertigt die Ausschließung solcher Motive

keineswegs?) Die Vorschrift des §. 43 findet nach ihrer Stellung und dem über die Bedeutung des Ausdrucks „Zufall" Gesagten in den §§. 40—42 auf­

geführten Grade des Versuches Anwendung; sie ist nicht so zu deuten,

Bergt, den Rechtsfall in Hitzig's Zeitschrift Bd. 1 S. 73 — 77 und dagegen den Aufsatz von Schede Bd. 6 S. 203—205. ’) §. 152 seiner Grundsätze des Peinlichen Rechts 2. Ausgabe: „Wer aus eigener Bewegung von der Ausführung des Verbrechens absteht, und dabei solche Anstalten trifft, daß die gesetzwidrige Wir­

kung gar nicht erfolgen kann, ist zwar nicht für ganz straflos zu achten, es ist aber rathsam, dergleichen reuigen Verbrechern zu einer gänzlichen Begnadigung gegründete Hoffnung zu machen." 8) Motive zum Entwurf von 1827, S. 112.

325 daß das Abstehen des Thäters vom Versuche sich jederzeit in einer ent­ gegengesetzten positiven Thätigkeit äußern müsse; l) eine solche ist neben der Willensänderung des Thäters nur dann vonnöthen, wenn dessen bis­ herige Thätigkeit bereits eine hinreichende Ursache

für

den gänzlichen

oder theilweisen Eintritt des bezweckten rechtswidrigen Erfolges zu Tage gefördert hatte.

Das Erforderniß zur Abwendung des gesetzwidrigen

Erfolges dienender Anstalten ist also hauptsächlich auf den Fall des §. 40 berechnet, wo die Sinnesänderung des Thäters allein den Ein­ tritt der Wirkung nicht mehr aufhalten kann.

Doch ist es, um dem

Thäter den Anspruch auf Begnadigung zu verschaffen, auch erforderlich,

daß die von ihm getroffenen Anstalten die Ursache für die Abwendung des

gesetzwidrigen

Erfolges

wirklich

geworden

sind;

er

wird

also

ungeachtet seiner Sinnesänderung nach §. 40 bestraft, wenn sein geen­ digter Versuch durch anderweitige Umstände mißlingt, ebenso, wenn die

getroffenen Anstalten den Erfolg nicht abzuwenden vermögen.

Denn

werkthätige Reue nach vollbrachtem Verbrechen ist nur ein Milderungs­

grund.

§§. 61, 62 h. t.

Hieraus ergiebt sich zugleich, daß die Bestim-

mung des §. 43 dem Verbrecher dann nicht zu Statten kommt, wenn

die zur Zeit seines Abstehens schon hinter ihm liegende Thätigkeit be­ reits den Thatbestand eines anderweitigen selbstständigen Verbrechens,2) oder auch nur einer mit besonderer Strafe vom Gesetze bedrohten Ver­ suchshandlung bildet, da insoweit seine That ein vollendetes Verbrechen ist. — Wie übrigens der, dem Verbrecher unter den Voraussetzungen

des §. 43 verheißene Anspruch auf Begnadigung mit j)em, von freier Entschließung abhängenden Begnadigungsrechte des Staatsoberhauptes

in Einklang zu bringen und praktisch zu behandeln sei, war in der

Praxis des Allgemeinen Landrechts sehr bestritten.3)

Während einige

Gerichte sich für berufen hielten, den Anspruch des Verbrechers auf Begna­ digung zu verwirklichen, und deshalb erkannten, daß der Verbrecher mit Strafe zu verschonen sei, erkannten andere auf Strafe, und überließen

es dem Verbrecher, Begnadigung nachzusuchen,

oder sie berichteten für

letztere, drückten auch wohl den Anspruch auf Begnadigung im Tenor

des

Erkenntnisses

aus.

Doch

war

man bei dieser letzteren Ansicht,

welche die vorherrschende gewesen zu sein scheint, selbst über das Maaß

der aufzuerlegenden Strafe nicht einig, da keine von den Bestimmungen der §§. 40—42 auf solche Fälle ganz anwendbar erschien.

Das Allgemeine Landrecht nennt endlich unter dem Marginale „von

‘) Motive zum Entwurf von 1827, S. 113. *) Motive zum Entwurf von 1827, S. 113. ®) Hitzig's Zeitschrift Bd. I S. 74, Bd. 6 S. 203 seq. — Motive a. a. O. S. 110.

326 unternommenen

und

ausgeführten Verbrechen"

als

strafbare und zu

Sicherheitsmaaßregeln des Staats Anlaß gebende Handlung: auch bloße

Drohungen, ein gewisses Verbrechen begehen zu wollen.

In Ueberein­

stimmung mit dieser Stellung der Drohung finden wir verschiedene ein­ zelne, gegen dieselbe gerichtete, Strafandrohungen unter die Bestimmungen über das angedrohte Verbrechen ausgenommen, wie z. B. die Drohung

mit Duell oder schimpflicher Beleidigung, nut falschem Zeugniß, mit gemeinschädlichen Verbrechen, Brandstiftung.

Es ergiebt sich hieraus,

daß das Allgemeine Landrecht als das eigentlich strafbare in der Drohung

die Manifestation des auf Begehung des an gedrohten Verbrechens

gerichteten bösen Willens angesehen, und sie mit Rücksicht hierauf den

ausgeführten

und

unternommenen Verbrechen

diesen verglichen hat.

Allgemeine Landrecht mit dem

nicht irre machen.

zur Seite gestellt,

mit

Dies darf jedoch an dem Begriffe, welchen das unternommenen Verbrechen

verbindet,

Wie wenig die Drohung diesem Begriffe entspricht,

weil sie noch keine zur Vollendung des Verbrechens anstrebende Thä­

tigkeit ausmacht, giebt das Allgemeine Landrecht deutlich dadurch zu er­ kennen, daß es die Drohung erst hinter dem §. 43 erwähnt, worin aus­

gesprochen liegt, daß sie nicht durch Zufall oder eigenen Rückrritt des Thäters abgebrochen und vereitelt werden könne;

sowie nicht minder

dadurch, daß es für die Drohung keine, mit der Strafe des vollendeten Verbrechens in ein Verhältniß gesetzte Ahndung hat.

Auch berechtigt

der §. 44 keineswegs zu der Annahme, daß das Allg. Landrecht eine jede durch Drohung, geschehene Manifestation des bösen Vorsatzes hat bestrafen

wollen.

Der §. 44 erscheint vielmehr, da er keine Straffestsetzung ent­

hält, gar nicht als eine zur unmittelbaren Anwendung bestimmte Strafsanction; die Vorschrift macht lediglich darauf aufmerksam,-daß auch Dro­

hungen, wenngleich sie zum unternommenen Verbrechen nicht gehören, dem Gesetze nicht unter allen Umständen gleichgiltig sind; sie verweist dadurch

auf die in den folgenden Abschnitten enthaltenen speciellen Vorschriften,

namentlich auf die, gegen die Drohung

in den §§. 533 seq. angeord­

neten Sicherungsmaaßregeln und die zerstreuten Strafandrohungen gegen

dieselbe?)

Betrachten wir indeß die letzteren näher, so zeigt sich, daß

das Allgemeine Landrecht

die Drohung

in

diesen Fällen als Delikte

eigener Gattung betrachtet, und sie zum Theil sogar mit eigenen Namen

belegt (wie Friedensstören, Landzwingen, §§. 675, 1509).

In andern

Fällen erscheint sie als eine species der Gewalt, als Mittel zur Verübung 0 Temme, Handbuch, §. 9, vertheidigt diese Meinung. Die Praxis scheint geschwankt zu haben, doch wird auch von Anderen die Strafbarkeit der Drohung auf die gefährlichen Drohungen beschränkt. Vergl. Ergän­

zungen zu §. 44.

327 eines Verbrechens, welches zu seinem Thatbestände Gewalt erfordert, wie z.B. beim Raube, §. 1188, der Nothzucht, §. 1051 h. t. III. Gehen wir nunmehr zu den Bestimmungell des Preußischen Straf« gesetzbuchs von

1851 über, und werfen wir zum besseren Verständniß

derselben einen Blick auf die Geschichte der Revision der Preußischen Strafgesetzgebung, so finden wir, daß man auch in dieser Lehre in Ge­

mäßheit der in den Kabinets-Ordres vom 24. Juli und 14. November

1826 aufgestellten Gesichtspunkte die Theorie des Allgemeinen Landrechts zu Grunde legte, und an den Bestimmungen desselben zu bessern suchte,

was eine dreißigjährige Praxis und die Forschungen der neueren Straf­ rechtswissenschaft als unhaltbar erscheinen ließen.

das

Staatsinteresse

gebotene Rücksicht,

Hierzu kam die durch

eine Gesetzgebung

zu schaffen,

welche an die Stelle des in der Nheinprovinz geltenden Französischen

Strafgesetzbuchs zu treten geeignet war, welche also auch in der Lehre

vom Versuche die tief eingreifenden Neuerungen des letzteren nicht unbe­ rücksichtigt lassen durfte.

bis 1843

setzte

man

Schon in den ersten Entwürfen von 1827

deshalb

in Uebereinstimmung mit den meisten

neueren Deutschen Strafgesetzbüchern und dem Art. 2 des Code penal von 1810 den Anfangspunkt der Strafbarkeit der Versuchshandlungen

abweichend vom Landrecht fest,

indem man die vorläufigen Anstalten

(Vorbereitungshandlungen, conatus remotus) von dem strafbaren Ver­

suche ausschied, und nur den durch äußere Handlungen (welche als ein Allfang der Ausführung des beabsichtigten Verbrechens zu betrachten)

geoffenbarten Versuch als strafbar bezeichnete?)

Ebenso erkannte man

von vorn herein die Bestimmung des §. 43 Theil II Titel 20 des All­ gemeinen Landrechts über das Abstehen des Verbrechers aus eigener Be­

wegung als unpraktisch und unzureichend an, und schon die ersten Ent­ würfe verhießen dem aus eigenem Antriebe (aus eigener Bewegung) von der Vollendung abstehenden Verbrecher vollkommene Straflosigkeit?)

Dagegen glaubte man das im Landrecht festgehaltene germanische Prinzip,

daß

keinerlei Art

des Versuchs dem vollendeten Verbrechen

gleich zu bestrafen sei, nicht verlassen zu dürfen; man behielt daher noch in dem Entwürfe von 1843 die Gliederung des Versuchs in Grade bei, nach welchen man die Strafbarkeit der Versuchshandlungen abstufte.

Die Revision von

1845 ließ die Abstufung der Strafe nach be­

stimmten Graden fallen, und substituirte dafür das Ermessen des Nich­ ol Entwurf von 1827 §. 77, von 1843 §. 55. — Motive zum ersteren S. 104, 105. a) §. 85 des Entwurfs von 1827. Motive S. 110 seq.

328 ters mit der Beschränkung, daß die Strafe des Versuchs das Maximum

der gesetzlichen Strafe des vollendeten Verbrechens nicht erreichen dürfet)

Der Entwurf von 1850 endlich adoptirte im Prinzip den Grundsatz des code pänal hinsichtlich der gleichen Bestrafung des Versuchs und des

vollendeten Verbrechens,-) und modificirte diese Regel nur in Ansehung der Todes- und der lebenslänglichen Zuchthausstrafe.

Auch brachte er

mit der Eintheilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen aus dem Französischen Rechte die Beschränkung der Strafbarkeit des Versuches auf die Verbrechen im engeren Sinne, und

die ausdrücklich bezeichneten Vergehen?) Das Strafgesetzbuch enthält nun über den verbrecherischen Versuch folgende Bestimmungen:

Zweiter Titel.

Von dem Versuche.

§♦ 31. Der Versuch ist nur dann strafbar, wenn derselbe durch Hand­

lungen, welche einen Anfang der Ausführung enthalten, an den Tag gelegt, und nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände gehindert worden, oder ohne Erfolg ge­

blieben ist. §. 32. Der Versuch eines Verbrechens wird wie das Verbrechen selbst

bestraft.

Dem Richter bleibt jedoch überlassen, bei Festsetzung des

Strafmaaßes innerhalb der dafür vorgeschriebenen Grenzen darauf

Rückstcbt zu nehmen, daß das Verbrechen nicht vollendet worden ist. Ist das Verbrechen mit der Todesstrafe oder mit lebensläng­

licher Zuchthausstrafe bedroht, so tritt statt derselben zeitige Zucht­ hausstrafe von

mindestens

zehn Jahren

nebst

Stellung

unter

Polizei-Aufsicht ein.

Insoweit bei dem vollendeten Verbrechen unter Umständen eine der Art oder dem Maaße nach mildere Strafe eintritt, soll die­

selbe auch bei dem Versuche zur Anwendung kommen. x) Goltdammer, Materialien I S. 249. *) Art. 2 des code pdnal lautet:

Tonte tentative de crime, qui aura dtd manifeste par des actes exterieurs et suivie d’un commencement d’exdcution, si eile n’a dtd suspendue, ou n’a manqude son esset que par des circonstances fortuites ou inddpendantes de la volontd de Fauteur, est considdrde comme le crime meme. Bei der Revision von 1832 sind die Worte „des actes exterieurs et suivie dea weggelassen worden. 3) Goltdammer I S. 279. — Motive zum Entwürfe von 1850 S. 14.

329 §. 33. Der Versuch eines Vergehens wird nur in den Fällen bestraft,

in welchen die Gesetze dies ausdrücklich bestimmen.

Der Versuch

wird alsdann wie das Vergehen selbst nach den in §. 32 aufge­

stellten Grundsätzen bestraft. §. 336. Der Versuch einer Uebertretung ist straflos.

Das Strafgesetzbuch giebt in diesen Bestimmungen ebenso wenig,

wie das Allgemeine Landrecht, eine Definition von Vollendung und Ver­

such, es legt vielmehr ebenfalls den gemeinen und juristischen Sprach­ gebrauch hinsichtlich der Bedeutung dieser Worte zum Grunde, und be­

schränkt sich darauf, durch Aufstellung gewisser Bedingungen der Straf­ barkeit den straflosen Versuch von dem strafbaren abzusondern.

Auch hier ist also gemäß der früheren Erörterung des Versuchs­ begriffs ein wesentliches Requisit des Versuchs verbrecherischer Vorsatz,

und es giebt weder den Versuch eines culposen Verbrechens, noch einen culposen Versuch.

Das Strafgesetzbuch deutet dies Erforderniß, welches

der Entwurf von

1845 ausdrücklich ausgenommen hatte,') durch die

Fassung des §. 31 hinreichend an, indem von Anfang der Ausführung

und äußeren,

von dem Willen des Thäters unabhängigen Umständen

nicht die Rede sein könnte,

würde, welche durch den

wenn

nicht eine Thätigkeit vorausgesetzt

auf ein vorgestecktes Ziel gerichteten

Willen

bestimmt und geleitet wird. Außer dem auf Verübung eines Verbrechens gerichteten Vorsatze

wird in §. 31 zur Strafbarkeit des Versuchs erfordert: 1) daß er durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung

enthalten, an den Tag gelegt, und 2) daß er nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unab­

hängige Umstände gehindert worden oder ohne Erfolg geblieben ist. Das Gesetz spricht durch das erste dieser Erfordernisse nicht nur

den in allen Gesetzgebungen festgehaltenen Grundsatz aus, daß der böse

Wille, so lange er nicht in äußeren Handlungen zur Erscheinung ge­ kommen, dem Strafgesetze nicht unterliegt, sondern es scheidet dadurch auch von dem strafbaren Versuche die entfernteren Aeußerungen des ver­

brecherischen Vorsatzes aus.

Der festgesetzte Anfangspunkt der Straf­

barkeit entspricht, wie auch in der Praxis angenommen worden,?) dem Versuchsgrade des §. 41 Theil II Titel 20 des Allgemeinen Landrechts,

bem delictum inchoatum; die gewählte Bezeichnung „Handlungen, welche *) §. 42 des Entwurfs von 1845. — Goltdammer, Commentar I S. 254. — Zachariä in Goltdammer's Archiv III S. 301. a) Oppenhoff, Anmerkung 25 zn §. 31.

330 den Anfang der Ausführung enthalten", stimmt mit der des Art. 2 des cpde pdnal in der neueren Fassung von 1332 und den meisten neueren

Deutschen Gesetzgebungen überein.

-Es ist jedoch in §. 31 der Anfang

der Ausführung, welcher in den Vexsuchshandlungen hexvortreten soll,

nicht auf die Absicht des Verbrechers, sondern schon auf das beabsich­ tigte Verbrechen zu beziehen; denn eine jede Versuchshandlung

ist an

sich schon eine Darlegung der Absicht des Thäters; da der Gesetzgeber aber nicht jede Versuchshandlung strafen wollte, so

darf der Anfang

der Ausführung nicht von der Absicht des Thäters verstanden werden,

weis sonst eme jede Versuchshandlung dem ersten Requisite des §. 31

entsprechen würde.Auch war in den ersten Entwürfen des Straf­

gesetzbuchs bis zu dem von 1845 diesem Irrthume vorgebeugt, da die­ selben einen Anfang der Ausführung des (beabsichtigten) Verbrechens forderten?)

Durch die gedachte Voraussetzung der Strafbarkeit werden in §. 31 alle

vor

für

straflos

dem Anfänge der Ausführung liegende erklärt.

Das

Strafgesetzbuch

Versuchshandlungen

subsumirt also

zunächst

unter den Begriff des strafbaren Versuchs nicht die Drohung mit Be­ gehung eines Verbrechens, welche das Allgemeine Landrecht ihrem allge­

meinen strafrechtlichen Charakter nach, dem unternommenen Verbrechen an die Seite stellte.

Es behandelt dieselben vielmehr entweder als be­

sondere Delikte, und bedroht sie wegen der durch sie bewirkten, Störung des Rechtsfriedens eines Anderen mit selbstständiger Strafe;3l )*4 oder es

rechnet sie als eine Gattung der Gewalt (vis compulsiva) zum That­ bestände eines anderen Verbrechens oder Vergehens, welches zu seinem

Thatbestände Anwendung von Gewalt erfordert?)

Es scheiden ferner von dem strafbaren Versuche die Vorbereitungs­ handlungen (conatus remotus) aus, welche das Allgemeine Landrecht in

§. 42 h. t. allgemein mit Strafe bedrohte.

Der Entwurf von 1845

sprach die Straflosigkeit derselben direkt aus; in den Motiven zum Ent-

l) Oppenhoff, Anmerk. 13 zu §. 31. -) §. 42 dasclbst. 3) Z. B. §. 212: „Wer einen Anderen zu einer Handlung oder Unterlaffung dadurch zwingt, oder zu zwingen versucht, daß er denselben schriftlich oder mündlich mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens bedroht, hat Gefängniß bis zu einem Jahre verwirkt."

§. 213: „Wer einen Andern mit Brand oder Ueberschwemmung bedroht, wird mit Gefängniß von zwei Monaten bis zu einem Jahre bestraft."

4) Müller, Strafgesetzbuch zu §. 31.

331 Wurf von 1850 wird diese Bedeutung des festgesetzten Anfangspunktes Ser Strafbarkeit ausdrücklich hervorgehoben. *)

Das Strafgesetz macht

indeß hiervon bei einzelnen Berbrechen Ausnahmen.

So beim Hoch-

uerrath und feindlichen Handlungen gegen befreundete Staaten, wo Vorbereitungshandlungen allgemein mit Strafe bedroht sind (§§. 66 und

78), ebenso bei der Münzfälschung, bei welcher das Einführen falschen Geldes aus dem Auslande als Vorbereitungshandlung betrachtet werden muß (§. 122).

Endlich ist auch die in §. 164 mit Strafe bedrohte

Herausforderung

zum Duell und deren Annahme nur als eine vorbe­

reitende Handlung anzusehen. Bestimmte Anhaltspunkte zur Auffindung der Grenze, wo die bis

dahin straflose Borbereitungshandlung in den Anfang der Ausführung

übergeht, hat das Gesetz nicht aufgestellt; dieselbe ist vielmehr im con-

creten Falle mit Rücksicht auf den gesetzlichen Begriff des betreffenden Verbrechens oder Vergehens aufzusuchen. diese Grenze

überschreitet,

ist

Ob eine bestimmte Handlung

deshalb eine rein faktische Frage;

Beantwortung derselben gehört zu den vom Richter,

die

resp, durch den

Spruch der Geschworenen thatsächlich festzustellenden Umständen. —

Die Worte des §. 31: „Handlungen, welche einen Anfang der Ausfüh-

rung enthalten ", haben jedoch, wie vorläufig nur angedeutet werden mag,

außerdem, daß sie den Anfangspunkt der Strafbarkeit festsetzen, noch eine andere Bedeutung.

Man findet in ihnen das Requisit einer gewissen

objektiven Beschaffenheit der Versuchshandlung, daß nämlich dieselbe zur

Ausführung des Verbrechens an sich tauglich sei, ausgesprochen, und macht hiervon Gebrauch für die Entscheidung der gemeinrechtlichen Con-

troverse, ob es einen strafbaren Versuch mit untauglichen Mitteln und an einem

des Verbrechens nicht fähigen Objekte gebe.

Diese Frage

wird in einem besonderen Abschnitt weiter unten näher besprochen werden. Durch die oben erwähnte zweite Voraussetzung der Strafbarkeit des Versuchs sichert der §. 31 dem aus eigener Bewegung von der Aus­

führung des Verbrechens abstehenden, oder den dazu gehörigen Erfolg hintertreibenden Thäter vollkommene Straflosigkeit zu.

Daß dies der

Sinn der Vorschrift ist, ergiebt sich aus ihrer Fassung und Entstehungs­ geschichte.

Roch der §. 42 des Entwurfs von 1847 sprach jene Wirkung

des Rücktritts des Thäters direkt aus, auch erinnert der §. 167 des

Strafgesetzbuchs an diese ältere Fassung, indem er den, vom Zweikampfe

vor dessen Beginn aus eigener Bewegung zurückstehenden, Parteien Straflosigkeit verheißt. Die jetzige indirekte, dem Art. 2 des code p&ial entsprechende Fassung ist in dem Entwürfe von 1850 gewählt worden, ohne daß dadurch im Wesentlichen etwas Anderes ausgedrückt werden

l) Goltdammer, Archiv V S. 581.

332 Indem man jedoch jenen Strafausschließungsgrund als ein ge-

sollte-

wissermaßen negatives Erforderniß der Strafbarkeit des Versuchs hin«

gestellt hat, hat man, wenigstens für das Verfahren, dessen Charakter insoweit geändert, als es jetzt als ein zweites Moment des Thatbestandes des strafbaren Versuchs erscheint, daß derselbe nicht von dem Thäter

aufgegeben worden, daß er vielmehr,

wie das Gesetz es in positiver

Fassung ausdrückt, nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unab­

hängige Umstände verhindert worden

oder ohne Erfolg geblieben ist.

Dies zweite Moment des Thatbestandes muß daher, damit der Versuch

gestraft werden könne,

von dem Richter, resp, durch den Wahrspruch

der Geschworenen ebensowohl thatsächlich festgestellt werden, andere Moment, der Anfang der Ausführung.

als das

Während nach dem All­

gemeinen Landrecht und den früheren Entwürfen der Thäter seinen frei­ willigen Rücktritt als ein Entlastungsmoment zu erweisen hatte, und

bei dem jetzigen Strafverfahren nur auf seinen Antrag oder nach dem Ermessen des Gerichts den Geschworenen eine darauf bezügliche Frage

vorzulegen sein würde, hat nunmehr die Anklage den Beweis zu er­

bringen, daß der Versuch nur durch äußere Umstände gehindert worden oder erfolglos geblieben ist, und es wird hierauf von Amtswegen eine Frage gerichtet, selbst wenn der Angeklagte keinen Rücktritt behauptet

hat?) — Wann im concreten Falle anzunehmen, daß dies zweite Mo­

ment des Thatbestandes eines strafbaren Versuchs vorhanden sei, kann als Thatfrage hier nicht erörtert werden; hervorzuheben ist nur, daß es

nach dem klaren Ausdruck des Gesetzes auf die Beschaffenheit des in­ nern Motivs, welches den Verbrecher zum Rücktritt führt, nicht an­ kommt, daß andererseits aber auch nur die wahre Ursache der Unter­ brechung oder Vereitelung seiner Thätigkeit in Betracht kommt und ihn ein Rücktritt nicht straflos machen kann, welcher erst nach bereits ein­

getretenem Hindernisse oder Fehlschlagen des Versuchs durch äußere Um­ stände, erfolgt ist. —

Die Ausdrücke „gehindert deuten

auf

die

Verbrechen hin;

worden oder ohne Erfolg

Unterscheidung

zwischen

es

aus

ergiebt sich

formalen

ihnen,

daß

und

der

geblieben"

materialen

Thäter

auch

bei beendigtem Versuche die Strafe von sich abwenden kann, wenn es noch in seiner Macht liegt, die zum Thatbestände des Verbrechens erforderliche Wirkung zu verhindern, und er von dieser Möglichkeit mit

Erfolg Gebrauch macht?) —

Wenn dagegen die von dem Verbrecher

*) Art. 81 des Gesetzes vom 3. Mai 1852. — Oppenhoff a. a. O. —

Goltdammer, Commentar. 2) Die Entwürfe bis 1843 sprechen dies durch die Worte aus: „und wo es nöthig ist, solche Anstalten trifft, daß die beabsichtigte schädliche Wirkung

333 vorgenommene Versuchshandlung bereits den Thatbestand eines

selbst­

ständigen Delikts enthalt, oder als solche mit einer besonderen Strafe bedroht ist, so kann ihn ein freiwilliges Abstehen auch nach dem Straf­ gesetzbuch von der bereits verwirkten Strafe nicht befreien.

Der Ent­

wurf von 1847 sprach dies ausdrücklich aus l),2 und wenn das Straf­ gesetzbuch die betreffende Bestimmung nicht ausgenommen hat, so lag der

Grund darin, daß man dieselbe mit Rücksicht auf den §. 31

für ent­

behrlich erachtete?)

Hat diese Betrachtung der Vorbedingungen der Strafbarkeit des Versuchs ergeben, daß das Strafgesetzbuch durch den festgesetzten Anfangs­

punkt der Strafbarkeit denselben engere Grenzen gezogen hat, als das Allgemeine Landrecht, so zeigt sich eine weitere Einschränkung darin, daß

die §§. 32, 33 und 336 nur den Versuch eines Verbrechens allgemein

mit Strafe bedrohen,

dagegen

den Versuch

einer Uebertretung

ganz

straflos, und bei versuchten Vergehen nur dann eine Strafe eintreten lassen, wenn solches bei den einzelnen Vergehen ausdrücklich angeordnet ist.3) 4

Doch

auch bei

einigen Verbrechen ist nach dem Strafgesetzbuch

ein strafbarer Versuch

nicht denkbar,

weil das Gesetz bei ihnen den

Versuch in den Thatbestand der Vollendung hineingezogen, den Eintritt der Consummation schon auf den Anfang der Ausführung festgesetzt hat. Dies ist der Fall beim Hochverrath, bei den in §. 78 erwähnten feind­

seligen Handlungen gegen befreundete Staaten, und bei dem in §. 82 mit Strafe bedrohten Verbrechen?)

Alle den Anfang der Ausführung

enthaltenden Versuchshandlungen machen bei diesen Verbrechen schon das

nicht eintreten kann." §. 58 des Entwurfs von 1830. — Goltdammer, Com­ mentar. — Zachariä im Archiv V S. 592. — Temme, Lehrbuch S. 280. §. 42 des Entwurfs von 1847, §. 40 des Entwurfs von 1846. 2) Erkenntniß des Ober-Tribunals, Goltdammer's Archiv III S. 235. 3) Dies geschieht in der Regel dadurch, daß daö Gesetz in der gegen das vollendete Vergehen gerichteten Strafandrohung des Versuches miterwähnt. In den §§. 84, 90, 96, 212, 234, 311, 312, 313, 330 hat der Zusatz „oder

versucht" jedoch nicht diese technische Bedeutung. 4) §• 62: „Als ein Unternehmen, durch welches das Verbrechen des Hochverrathö vollendet wird, ist eine solche Handlung anznsehen, durch welche das verbrecherische Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden soll." §. 82: „Wer es unternimmt, eine der beiden Kammern gewaltsam ausein­ ander zu sprengen, zur Fassung oder Unterlassung von Beschlüssen zu zwingen oder Mitglieder daraus zu entfernen, wird mit Zuchthaus

von 10 bis zu 20 Jahren bestraft."

334 vollendete Verbrechen aus;

die vor dieser Grenze liegenden sind nach

tz. 31 als Vorbereitungshandlungen straflos.

Bei dem Hochverrath und

den in §. 78 bedrohten Handlungen ist das Gesetz dieser Eonsequenz

dadurch zuvorgekommen, daß es, wie erwähnt, eine jede, ein hochverrätherisches Unternehmen vorbereitende Handlung durch die speziellen Vor­ schriften der §§. 63 bis 65 besonders mit Strafe bedroht hat?) Zweifelhaft aus demselben Grunde, aber zu bejahen ist die Frage, ob

bei den in den §§. 142 und 144 Nr. 3 mit Strafe bedrohten Unzuchts­

verbrechen ein strafbarer Versuch möglich

ist.

Denn wenn auch das

Gesetz bei diesen Verbrechen die Consummation nicht an die vollstän«

dige Befriedigung der sinnlichen Begierde geknüpft hat, so verlangt es doch zur Vollendung eine unzüchtige, also eine

sich auch

objektiv als

einen grobsinnlichen Exceß darstellende Handlung, und es sind Hand­

lungen, welche einen Anfang der Ausführung enthalten,

aber diesen

Vollendungsbegriff noch nicht erfüllen, nicht undenkbar?) —

Endlich ist auch nach dem Strafgesetzbuch der Begriff des strafbaren Ver­ suchs nicht auszudehnen auf diejenigen strafbaren Handlungen, welche, obwohl

sie mit einer besonderen Strafe bedroht sind, sich dennoch mit Rücksicht auf ebnen im Gesetz enthaltenen Vollendungsbegriff selbst nur als Versuchs-. Handlungen darstellen.

Von dem Verbrechen (und nur bei diesem kann die

Frage entstehen) fallen unter diese Kategorie nur die in §§. 63—66 bedroh­ ten Vorbereitungshandlungen zu einem hochverrätherischen Unternehmen. a)

Aus nahme

einem

an

ähnlichen

Grunde

ist

einem Verbrechen denkbar;

kein

denn

Versuch die

der

Theil­

Theilnahme,

wie

das Strafgesetzbuch sie in §. 34 auffaßt, ist kein selbstständiges Ver­ brechen oder Vergehen, sondern sie steht zu dem vollendeten oder ver­ suchten Delikt eines Andern in einem accessorischen Verhältnisse.

Wie

sie deshalb strafrechtlich nur in Betracht kommt, wenn die Hauptthat

ein vollendetes Verbrechen oder einen strafbaren Versuch desselben ent­

hält, so schließen andrerseits die Handlungen, in welchen der Versuch der Theilnahme gefunden werden könnte, nothwendig selbst schon die vollendete Theilnahme ein, wenn anders die Hauptthat durch sie gefordert worden ist, oder sie sind gar nicht Theilnahme, wenn solches nicht

der Fall gewesen?)

1) Oppenhoff zu §. 62, Anmerk. 1. — Goltdammer's Archiv HI S. 243. — Temme, Glossen S. 141. 2) Zachariä in Goltdammer's Archiv III S. 179; Archiv Bd. I S. 49. 3) Nicht hierher gehört der in §. 287 erwähnte Fall der Brandstiftung. Plenar-Beschluß vom 26. April 1858» Justiz-Min.-Bl, S. 203, A. M. Za­ chariä in Goltdammer's^ Archiv Bd. III S. 295. 4) Oppenhoff zu §. 31 Anmerk. 2,

335

In. Ansehung des Strafmaaßes hat das Strafgesetzbuch in §§. 32 und 33 den Versuch im Prinzip dem vollendeten Verbrechen oder Ver­

gehen gleichgestellt, sich also insoweit den Vorschriften der Art. 2 und 3 des code pdnal vollständig angeschlossen.

Doch hat es diese Regel in

§. 32 dadurch gemildert, daß es die für das vollendete Verbrechen an­ angedrohte

Todes- oder lebenslängliche Zuchthausstrafe beim Versuche

schlechthin

ausgeschlossen,

und

dafür Zuchthausstrafe von mindestens

10 Zähren nebst Stellung unter Polizei-Aufsicht substitnirt hat.

Bon

den beiden andern Zusätzen des §. 32 stellt es der eine in das Ermessen des Richters, innerhalb des, zwischen dem angedrohten Maximum und

Minimum der Strafe ihm gewährten Spielraums auf die Nichtvollendüng des Verbrechens oder Vergehens Rücksicht zu nehmen. Die Schluß­

bestimmung des §. 32 aber verweist lediglich darauf, daß unter den­ selben Umständen, wie beim vollendeten Delikte, auch beim versuchten

Irrig und anscheinend nur durch

mildernde Umstände statthaft sind.

die

Entbehrlichkeit

dieser Vorschrift hervorgerufen,

ist die Deutung

Temrne's, daß, wenn das Gesetz beim vollendeten Delikte unter Umstän­

den eine der Art oder dem Maaße nach mildere Strafe als die ange­ drohte, festsetzt, diese mildere Strafe beim Versuch jedesmal eintreten

sollet)

Der Versuch selbst ist, wie sich aus. dem Berichte der Com­

mission der zweiten Kammer, welche jenen Zusatz in Vorschlag brachte^

klar ergiebt, nicht als mildernder Umstand angesehen worden, es werden vielmehr anderweitige mildernde Umstände vorausgesetzt?)

IV. Heben wir aus der bisherigen Darstellung der Vorschriften des Allgemeinen Landrechts und des Strafgesetzbuchs über den verbrecherischen Versuch diejenigen Punkte hervor, welche als die hauptsächlichsten Ab­

weichungen beider Gesetzbücher zu einer kritischen Betrachtung vornehmlich Anlaß geben, so lassen sich als solche folgende bezeichnen:

1) Das Allgemeine Landrecht straft den Versuch bei

sätzlichen Delikten

ohne Rücksicht

allen vor­

auf die Höhe der dem vollendeten

Verbrechen angedrohten Strafe;

das Strafgesetzbuch straft den Versuch allgemein nur bei den Ver­ brechen im engeren Sinne, bei Vergehen nur, wo es dies ausdrücklich bestimmt, bei Uebertretungen gar nicht.

2) Das Allgemeine Landrecht straft das unternommene Verbrechen, *) Zachariä a. a. O. S. 297 seq. 2) Lehrbuch S. 304 und 305. 3) Commissions-Bericht der zweiten Kammer II S. 37. — Zachariä in Goltdammer's Archiv V S. 596.

336 sobald der böse Vorsatz auch nur erst durch vorläufige Anstalten zu dem­

selben sich manifestirt hat; das Strafgesetzbuch lägt die Strafbarkeit des Versuchs

erst mit

dem Vorhandensein von Handlungen beginnen, welche einen Anfang der Ausführung des Delikts enthalten. 3) Das Allgemeine Landrecht straft das unternommene Verbrechen stets milder als das vollendete und stuft die Strafbarkeit des ersteren nach dem Maaße des Fortschritts zur Vollendung in gewissen Graden

des Versuches ab; das Strafgesetzbuch straft den Versuch prinzipiell gleich dem vollen­ deten Delikte, jedoch mit einigen, sich dem Prinzip des Allgemeinen Landrechts annähernden Modifikationen. 4) Das Allgemeine Landrecht legt dem freiwilligen Abstehen des Verbrechens die Bedeutung eines Entlastungsmomentes und die Wir­ kung eines Anspruchs auf Begnadigung bei; das Strafgesetzbuch stellt die Hinderung oder Erfolglosigkeit des Versuchs aus Anlaß äußerer, von dem Witten des Thäters unabhängiger Umstände als eine Vorbedingung der Strafbarkeit desselben auf. Diesen vier, nachstehend näher zu betrachtenden, Vergleichungs­ punkten wird sich unter 5. die Würdigung der Kontroverse über die Strafbarkeit eines Versuchs mit untauglicheu Mitteln und an einem des Verbrechens nicht fähigen Objekte, und deren Behandlung in den beiden Preußischen Strafgesetzen anschließen lassen.

1) Umfang der Strafbarkeit des Versuchs.

Die durch positive Bestimmung nicht eingeschränkte Ausdehnung, welche die Bestrafung des verbrecherischen Versuchs im Allgemeinen Landrecht findet, entbehrt jedes historischen Anhalts, und steht mit den Hauptquellen des gemeinen Rechts entschieden in Widerspruch. Denn, wie erwähnt, beschränkte bereits die communis opinio, welche seit der Zeit der Glossatoren aus dem Römischen Rechte eine allgemeine Regel über die Bestrafung des Versuches ableitete, diese Strafbarkeit auf die crimina atrociora und erkannte die Straflosigkeit der Versuchshandlungen

bei delicta leviora unbedenklich an. Auch die Peinliche Gerichtsordnung hat für den Versuch der nur bürgerlich (polizeilich) zu ahndenden Delikte keine Strafandrohung, da sie die unterstandene Missethat in Artikel 178 einer peinlichen Strafe unterwirft und dadurch bei dem festgehaltenen Prinzip der relativ ge­ ringeren Strafbarkeit des Versuchs, den Begriff der unterstandenen Missethat auf die peinlich zu ahndenden Verbrechen einschränkt?)

l) Art. 178: „ist peinlich zu straffen." Daß die im Tert aufgestellte

337 Vom Standpunkte der Criminalpolitik läßt es sich sehr wohl be­

gründen, den Versuch leichter Delikte ungestraft zu lassen. an sich die Strafe schon ein Uebel ist,

Denn da

welches nur in der Nothwen­

digkeit seine Begründung findet, so ist ihre Anwendung nicht gerathen,

wo die Strafzufügung eine größere Störung des bürgerlichen Friedens bewirken würde, als das zu ahndende DeliÜ. Wenn aber die Rechts-

Verletzung oder Gefährdung, welche das vollendete Delikt bewirkt, an sich schon unbedeutend ist, so wird die Rechtsordnung in noch geringerem

Grade durch das nur versuchte gestört.

Die Bestrafung des Versuchs

eines solchen leichten Delikts würde deshalb, da die vorliegende äußere Handlung vielleichtganz indifferent ist, ein größeres Unbehagen erregen, als die Versuchshandlung selbst.

Diese Rücksicht ist um so erheblicher,

als wir in jeder Gesetzgebung manche Handlung mit Strafe bedroht finden, welche sich nicht dem Sittlichkeitsgefühl als strafwürdig darstellt,

sondern nur der bürgerlichen Ordnung wegen geahndet wird?)

Es ist daher nur gerechtfertigt zu nennen, daß das Strafgesetzbuch den Versuch bei Uebertretungen ungestraft läßt.

Bei einer näheren Be­

trachtung der im dritten Theile desselben enthaltenen Strafbestimmungen zeigt sich auch, daß der größte Theil von diesen auf polizeilichen Vor­

beugungsmaaßregeln beruht, einen criminalrechtlichen dolus zum That­

bestände der verpönten Handlung nicht verlangt, und deshalb an sich schon die Möglichkeit eines Versuches derselben ausschließt. Auch die Beschränkung der Bestrafung des Versuches auf die aus­

drücklich bezeichneten Vergehen ist nicht so willkürlich, als sie auf den ersten Anblick erscheinen kann.

Es finden sich unter den Vergehen eine

Menge culposer Deliktes) es sind darunter ferner verschiedene eigentliche

Unterlassungsvergehen, b.ei welchen die Unterlassung einer Pflicht ohne

Rücksicht auf einen bestimmten, dadurch herbeigeführten Erfolg, und ohne daß zum Thatbestände nothwendig dolus erfordert wird, mit Strafe be­

droht ist?)

Bei diesen Unterlassungsvergehen ist selbst beim Vorhanden­

sein eines dolus ein Versuch nicht denkbar, weil mit dem Augenblicke,

wo die Handlung geschehen konnte und absichtlich unterlassen wurde, so­ fort das vollendete Vergehen gegeben ist, und vor diesem Zeitpunkte nur von einem Entschlüsse, dasselbe zu begehen, die Rede sein kann?)

Zu

Ansicht von den meisten Rechtslehrern getheilt wird, ist bereits unter Angabe der Quellen erwähnt. l) z. B. Betteln, Entwendung von Früchten, Eßwaaren u. dgl. -) z.B. §. 198. 3) z. B. Nichtanzeige eines der in §§. 39 und 112 genannten Verbrechen;

auch §§. 200, 201, 211. 4) Zachariä in Goltdammer's Archiv HI S. 174, Tmune §. 58.

338 ben Vergehen gehören endlich eine Menge von strafbaren Handlungen,

denen das Wort als Mittel zur Verübung dient, bei denen also eben­ falls, wie bereits oben bemerkt, ein Anfang der Ausführung ohne gleich­

zeitige Vollendung nicht denkbar ist?)

Dagegen finden wir bei denje­

nigen Vergehen, welche verbrecherischen Vorsatz zu ihrem Thatbestände

erfordern, und

dabei

zugleich in dem Fortschritte der Thätigkeit des

Handelnden bis zur Vollendung Versuchsakte deutlich erkennen lasten, den Versuch in der That mit Strafe bedroht?)

Es ist deshalb bei dm

Berathungen der ersten Kammer auch hervorgehoben und anerkannt wor­

den, daß sich die Bedrohung des Versuches bei den einzelnen Vergehen im speciellen Theile des Gesetzbuchs sachgemäß durchgeführt finde?)

2) Anfangspunkt der Strafbarkeit des Versuchs.

Das

Strafgesetzbuch

verlangt

zum

Thatbestände des

strafbarm

Versuchs Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung (des beab­

sichtigten Verbrechens oder Vergehens) enthalten; es scheidet durch diese

Bezeichnung, wie oben gezeigt, von dem strafbaren Versuche nicht nur

die Drohungen, sondern auch die ganze Klasse von Dersuchshandlungm

aus, welche das Allgemeine Landrecht als vorläufige Anstalten zu dem Verbrechen in §. 42 h. t allgemein mit Strafe bedrohte.

Daß die Drohungen mit einem Verbrechen ihrem strafrechtlichen Charakter nach, nichts mit dem unternommenen Verbrechen, dem Ver­ suche, gemein haben, wird jetzt allgemein anerkannt.

Denn, mögen sie

mündlich, schriftlich, oder durch Zeichen geschehen, und unter Umständm

auch den aus Verübung des angekündigten Verbrechens gerichteten bösen Willen manifestiren können, so enthalten sie doch keine bereits auf Her­

vorbringung dieses Verbrechens gerichtete Thätigkeit, sie stehen in keiner

Causalbeziehung zu demselben?)

So oft aber die Drohung als Anfang

der Ausführung eines Verbrechens erscheint, wie bei den Verbrechen der

Fall ist, die zu ihrem Thatbestände Gewalt erfordern, kommt sie nicht al? ein Versuch des angedrohten, sondern als ein Versuch desjenigen

Verbrechens in Betracht, zu dessen Begehung sie als Mittel dienen sollte. Im Uebrigen ist die Drohung entweder ein besonderes, vollendetes

L) z. B. die im 2. Titel des 1. Theils erwähnten Majestätsbeleidigungen, §§. 102 seq., 166 seq. a) wie beim Diebstahle, der Unterschlagung, dem Betrüge u. a. m. 3; Goltdammer's Materialien I S. 281. — Motive zum Entwurf von

1850. 4) Zachariä, Versuch I §. 103. — Kostlin §. 84 Anmerk. 2. — Heffter §. 75. — Temme, Lehrbuch S. 269.

339 Delikt, welches wegen der dadurch bewirkten Störung des Rechtsfriedens mit Strafe bedroht ist, oder sie ist Lanz straflos, weil sie weder unter

den Begriff eines

vollendeten noch eines versuchten Verbrechens fällt.

Es ist daher nicht zu billigen, daß das Allgemeine Landrecht die Dro­ hung unter dem Gesichtspunkte einer Manifestation des aus Verübung des angedrohten Verbrechens gerichteten Vorsatzes für strafbar hielt; es ist-jedoch oben gezeigt worden, daß die einzeln bedrohten Drohungen

auch im Allgemeinen Landrecht schon als Delikte eigener Gattung er­ scheinen?)

Der Entwurf von 1827 trennt die Drohuyg bereits ganz von

den unternommenen Verbrechen und widmet ihr einek eigenen Abschnitt des speciellen Theils?)

Mit der Bestrafung der Vorbereitungshandlungen (conatus remotus, delictum attentatum, praeparatum) steht das Allgemeine Landrecht

vollkommen auf dem Boden der zur Zeit seiner Entstehung in der ge­

meinrechtlichen Doktrin und Praxis herrschenden Ansicht, und in Uebereinstimmuntz. mit den gleichzeitig entstandenen Gesetzbüchern?)

Seit dem Anfänge dieses Jahrhunderts haben jedoch viele Deutsche

Rechtslehrer die Strafbarkeit der Vorbereitungshandlungen nach allge­ meinen Principien des Strafrechts und auch nach positivem Rechte be­ stritten; ihre Ansicht, welche den strafbaren Versuch auf die eigentlichen Ausführungshandlungen einschränkt, ist allmälig die herrschende gewor­

den^)

Rach dem Vorgänge des Code p&ial von 1810 setzen, deshalb fast

alle neueren Deutschen Gesetzgebungen den Anfangspunkt der Strafbar-keit, wie unser Strafgesetzbuch, auf den Aufaug der Ausführung des

l) 1. 225 v. 50, 16: fiigitivus est non is, qui Consilium fugiendi a domino suscepit, licet id so, faxsturum jactaverit, sed qui ipso facto fugae initium mente deduxerit. Die Peinliche Gerichts-Ordnung schloß in Art. 178 durch das Erfordernitz „scheinlicher Werke, die zu volnbringung der miffethatt dienstlich sein mögen" Drohungen deutlich von dem Begriff der unterstandenen Miffethat aus. Der Art. 176 ordnet nur Sicherheitsmaaßregetn gegen dieselben an. — Neuere RechMhrer unterscheiden drei Stufen: vollendetes, unternommenes, angekündrgtes Verbrechen. Heffter §. 74. 3) Motive S. 115. 3) Vergl. Köstlin S. 232, sowie die Not 4, 6, 7 und 8 daselbst ange­ führten Schriften, und S. 236, Not. 4 und 5, 4) Mittermaier, N. Archiv I & 168, II S. 615, IV S. 20. — Zachariä I §. 109 seq. — Henke, Handbuch I S. 225. — Tittmann, Handbuch: I S. 190. - Berner, Lehrbuch S. 153, und die bei Zachariä I S. 221 aufgeführten Rechtslehrer.

340 Verbrechens fest?)

Nichtsdestoweniger findet auch die Strafbarkeit der

Vorbereitungshandlungen noch namhafte Vertheidiger; dies

zeigte sich

auch bei der Revision unserer Strafgesetzgebung. Der Entwurf von 1845 sprach in §. 42, welcher den Anfangspunkt des strafbaren Versuchs im Wesentlichen mit der jetzigen Fassung über-

einstimmend festsetzte, die schon in den ersten Entwürfen angenommene Straflosigkeit der Vorbereitungshandlungen ausdrücklich aus?)

Dagegen

erinnerte die Jmmediat-Commission des Staatsraths:

„baß die Strafe des Versuchs eintreten müsse, sobald der verbrecherische Wille in äußeren Handlungen so stark hervorgetreten

sei, daß man auf die ernste Absicht, das Verbrechen zu begehen,

schließen müsse; daß dies im Landrecht festgehaltene Princip bis­ her auch zu keinen Uebelständen Anlaß gegeben habe.

Die Straf­

losigkeit der Dorbereitungshandlungen lasse sich deshalb nicht all­

gemein rechtfertigen, die Grenze zwischen ihnen und den eigent­ lichen Ausführungshandlungen sei überdies

so schwer zu ziehen,

daß schließlich doch alles der Beurtheilung des Richters anheim

falle." Der §. 42 wurde deshalb in den Entwürfen von 1846 und 1847 fortgelassen, und erst auf die Erinnerung der im Jahre 1847 zugezo­

genen Rheinischen Juristen, welche die Angabe eines bestimmten Anfangs­

punktes der Strafbarkeit als eines positiven Anhalts für die Geschwo­ renen verlangten, wurde bei den Verhandlungen des Ständischen Aus­

schusses, anfänglich in das Einführungsgesetz mit specieller Rücksicht auf

die Rheinprovinz, jetzigen

Fassung

eine

den

des §. 31

Anfangspunkt der Strafbarkeit mit der übereinstimmend

festsetzende

Bestimmung

ausgenommen?) Jene in dem Monitum der Jmmediat-Commission des Staatsraths

hervorgehobenen Gründe — die Unmöglichkeit einer festen Abgrenzung der Ausführungß- gegen die Dorbereitungs-Handlungen, und die Willkür­

lichkeit dieser, die Strafbarkeit und Straflosigkeit scheidenden Grenze — sind die Hauptargumente der Vertheidiger der Strafbarkeit der Vorbe­ reitungshandlungen; sie pflegen noch die Autorität der namhaftesten Ju­

risten des vergangenen Jahrhunderts und einer seit Jahrhunderten be­ stehenden, den conatus remotus strafenden Praxis hinzuzufügen?)

Die

ft Berner, S. 153, Not. 4. ft „Handlungen, durch welche die Ausführung eines Verbrechens nur vor­ bereitet, aber noch nicht angefangen worden, sind nicht als Versuchshandlungen zu betrachten und zu bestrafen." ft Goltdammer, Materialien S. 250—252. ft Köstlin §. 84, Anmerk. 2.

341 Schwierigkeit, ein festes Merkmal für den Anfang der Ausführung eines Verbrechens aufzufinden, ist in der That nicht zu verkennen; sie hat

sich, wie Goltdammer durch verschiedene Beispiele nachweist 1),* 3 auch 4 in der Französischen Doktrin und Praxis geltend gemacht; sie tritt nicht

minder in den Ansichten der Deutschen Nechtslehrer hervor, welche jenen Anfangspunkt der Strafbarkeit des Versuches vertheidigen, indem der

eine zur Ausführung zählt, was der andere als Vorbereitungshandlung angesehen wissen will und umgekehrt.

So rechnet beispielsweise Mitter-

maier neben der wirklichen Anwendung der vorbereiteten Mittel zu den Ausführungshandlungen auch schon diejenigen, wodurch der Verbrecher

sich in die Lage setzt, in welcher nur noch die Benutzung der vorberei­

teten Mittel, oder die Vornahme der Haupthandlung zur Endigung des Verbrechens gehört?)

Dagegen läßt Zachariä den Anfang der Ausfüh­

rung erst dann eintreten, wenn mit einer Handlung begonnen worden ist, welche als wirklicher Bestandtheil der im Gesetze bedrohten That

betrachtet werden kann; er rechnet noch zu den Vorbereitungshandlungen

solche, welche vorgenommen werden, um sich in den, zur Verübung des

Verbrechens unmittelbar erforderlichen, physischen Zustand zu versehen.')

Allein die Schwierigkeit, den Anfang der Ausführung für alle Ver­

brechen in abstracto zu fixiren,

ist nur ein Belag für die unendliche

Mannigfaltigkeit der Handlungen, in welchen der verbrecherische Wille sich manifestiren kann.

Es kann jedoch daraus nichts gegen die vom

Gesetze bestimmte Grenze der Strafbarkeit der Versuchshandlungen ge­

folgert werden, wenn sich darthun läßt, daß dieselbe principiell richtig und zweckmäßig festgesetzt ist.

Jene Bedenken treten in demselben und

noch in höherem Grade ein, wenn die Vorbereitungshändlungen, öder­ em Theil von ihnen/) in den Bereich des strafbaren Versuchs hinein­

gezogen werden, da aus an sich indifferenten Handlungen, welche von dem Verbrecher erst unternommen werden, um sich zur Begehung des Verbrechens in den Stand zu setzen, sich noch viel schwerer wird erkennen

lassen,

ob und von wo an sie im Dienste der verbrecherischen Absicht

stehen.

Es wird im Gegentheil der Anfangspunkt der Strafbarkeit des

Versuchs gerade deswegen, weil es der Gesetzgeber unterlassen hat, das

Urtheil

des Richters

durch

zu

specielle Vorschriften

einzuengen, im

concreten Falle nach dem vom Gesetze aufgestellten Princip unschwer zu finden sein.

Denn die Prüfung, ob gegebene Handlungen den Anfang

') S. 263. a) N. Archiv II S. 603—607. 3) Wie z. B. Hingehen zum Ort der Verübung. — Versuch I S. 201 und 203. 4) So will Köstlin S. 233.

842 der Ausführung eines bestimmten Verbrechens enthalten, ist rein faktischer Natur *) nnd muß auf einer verständigen Abwägung der individuellen

Verhältnisse des Falles unter Berücksichtigung des gesetzlichen Begriffs des in Frage stehenden Verbrechens beruhen.

Ein Fall, der nach dem

vom Gesetze ausgestellten Princip nicht zu entscheiden wäre, ist nicht

denkbar, denn der Anfang der Ausführung ist der logische Gegensatz des Endes der Ausführung, welches durch den gesetzlichen Begriff des Ver­

brechens unmittelbar gegeben wird?) Zerfällt deshalb der von den Gegnern des im Strafgesetzbuch aufgestellten Princips

erhobene

Vorwurf der

Unmöglichkeit einer festen

Unterscheidung zwischen Ausführungs- und Vorbereitungshandlungen in

sich, so ist andrerseits der gewählte Anfangspunkt der Strafbarkeit deß Versuchs auch nach allgemeinen Principien des Strafrechts gerechtfertigt zu nennen. Die Gründe für und gegen die Straflosigkeit der Vorbereitungs­

handlungen sind in der gemeinrechtlichen Doktrin vielfach eruirt.

Die

Vertreter beider Ansichten gelangen zu keiner Uebereinstimmung, weil die einen bei Aufsuchung des Anfangspunktes der Strafbarkeit der Ver­

suchshandlungen das Hauptgewicht auf das subjektive Moment der Hand­ lung, auf den verbrecherischen Willen legen, diesen also bestraft wissen wollen, sobald er sich in irgend einer äußeren, erweislich auf Hervor­

bringung des Verbrechens gerichteten Thätigkeit gezeigt hat;3) die an­ deren

dagegen

ein größeres Gewicht auf die äußere Erscheinung der

Versuchshandlung legen,

eine

äußerlich

erkennbare

gesetzwidrige Be­

schaffenheit, eine objektive Gefährlichkeit der Handlung verlangen?) Auch

stehen die Ansichten der Rechtslehrer selbstredend unter dem Einflüsse der­ jenigen Strafrechtstheorie, welcher sich ein jeder angeschlossen hat, indem

die'Vertreter der relativen Theorien meistens die Strafbarkeit des Ver­ suchs früher beginnen lassen, als die Anhänger der absoluten Straf-

*) Daß hiermit die Praxis des Ober-Tribunals übereinstimmt, ist oben erwähnt worden. 2) Rossi bei Zachariä I S. 205:

Les difficultds de ddtail ne peuvent pas faire rdvoquer un principe. Les prdparatifs et le commencement d’exdcution sont choses diffe­ rentes de leur nature. Dieselbe Handlung kann nach Beschaffenheit der Umstände bald als Borbereitungs- bald als Ausführnngshandlung erscheinen, z. B. Einsteigen, um einen Menschen im Hause zu tödten, ist kein Anfang der Ausführung, wäh­ rend Einsteigen um zu stehlen, unbedenklich ein solcher ist. 3) Köstlin §. 84 Anmerk. 2. 4) Zachariä I §. 109 und folg.

343 Gerechtigkeit?)

Bei einer Vergleichung der Vorschriften des Allgemeinen

Landrechts und des Strafgesetzbuchs darf aber eine bestimmte Theorie nicht zu Grunde gelegt werden, da beide Gesetzbücher sich keiner der

verschiedenen Strafrechtstheorieu angeschlossen, vielmehr in richtiger Er­ kenntniß der Einseitigkeit einer jeden von ihnen, die Principien der Ge­

rechtigkeit mit den äußeren Strafzwecken möglichst zu vereinigen gesucht

haben. Für die Strafbarkeit der Vorbereitungshandlungen (eonatus remo-

tu$) wird besonders angeführt, daß in ihnen der auf die Begehung eines bestimmten Verbrechens gerichtete böse Wille sich ebenso erkennbar ma-

nifestire, als in den Ausführungshandlungen, daß es deshalb ungerecht­ fertigt und gefährlich sei,

nicht zugegeben werden.

sie ungestraft zu lassen..

Dies kann jedoch

Betrachten wir die Handlungen näher, welche

unbestritten zu den Vorbereitungshandlungen gezählt werden, wie z. B.

das Anschaffen der zur Verübung des Verbrechens erforderlichen Mittel, das AuSspähen der Gelegenheit u. a. m., so haben dieselben unter ein­ ander das gemein, daß sie in der Regel ohne coincidirende anderweitige Umstände überhaupt keine verbrecherische Absicht andeuten, vielmehr als

erlaubte und indifferente Akte erscheinen.

Selbst in den Fällen aber,

da sich nach dem bekannten Charakter des Thäters oder aus sonst irgend welchen Umständen eine verbrecherische Absicht vermuthen läßt, gestatten

jene Handlungen keinen sichern Schluß auf das von dem Thäter inten-

dirte bestimmte Verbrechen?)

Der Richter, welcher auf Grund einer

solchen Handlung einschreiten wollte, würde daher seine Nachforschungen

oft auf eine ganze Anzahl verschiedener Verbrechen richten müssen, welche der Thäter möglicherweise durch die verübte Handlung vorbereiten konnte,

und wenn der Thäter nicht gestände, wie könnte er überführt werden, daß er gerade dies bestimmte Verbrechen intendirte.

Dergleichen Unter­

suchungen würden daher nicht selten fehlgreifen und noch öfter resultat­ los bleiben; sie würden sich dem Rechtsgefühl des Volkes als unnutze Beunruhigung der Bürger darstellen, und nur eine Verringerung des

Ansehens der Criminalgerichte zur Folge haben.

Politik läßt mithin die Verfolgung

Schon die Criminal-

der Vorbereitungshandlungen

be­

denklich erscheinen. — Wenn jedoch auch dem Thäter sein auf Begehung eines bestimmten Verbrechens gerichteter Vorsatz nachgewiesen würde, so

fehlte es doch an einem inneren Rechtsgrunde, ihn zu strafen.

Denn

nicht die böse Absicht als factum internum (cogitatio) ist es, die dem

Strafgesetze unterliegt.

Sie muß als solche zur That geworden sein,

und sich in dieser in ihrem Pollen Gehalte, als auf den ganzen ThatMittermaier, Neues Archiv Bd. I S. 165 seq. 2) Mittermaier, Neues Archiv Bd. II, S. 609.

344 bestand des Verbrechens gerichtet, reflectiren.

Das Fehlende kann nicht

auS dem durch Geständniß oder sonstigen Beweis aufgedeckten Innern des Thäters ergänzt werden, es wäre ja sonst nicht der zur Handlung verkörperte, sondern der Gedanke gebliebene Wille, den man strafte. Weil der erst bis zur Vorbereitung des Verbrechens gelangte Thäter die in Bereitschaft gehaltenen Mittel und Kräfte noch nicht in der Richtung auf das vorgesteckte Ziel, die Vollziehung des Verbrechens, in Bewegung gesetzt hat, so ist auch die Eausalbeziehung derselben zu der Vollendung des Verbrechens noch nicht äußerlich erkennbar geworden. Der Wille, welcher eine solche Eausalbeziehung erst vermitteln soll, ist noch nicht aus dem Innern des Thäters hervorgetreten; da er sich vor diesem Schritte ändern kann, so giebt die Vorbereitungshandlung noch keine

Garantie, daß er zum Entschlüsse geworden, hinreichend erstarkt sei, um die Ausführung beginnen zu können. Die beiden Momente aber — der zur Ausführung des Verbrechens erstarkte Wille und die äußerlich er­ kennbar gewordene definitive Richtung desselben auf den gesammten That­ bestand des intendirten Verbrechens — sind es, die subjektiv und ob­ jektiv gefährdend in die Rechtsordnung eingreifen, und den Thäter der Ahndung des Strafgesetzes unterwerfen. Erst wenn beide Momente vorhanden sind, kann die Strafbarkeit des Versuches beginnen. Dieser Anfangspunkt wird durch das Erforderniß von „Handlungen, welche den Anfang der Ausführung (des Verbrechens) enthalten", angemessen

bezeichnet. Denn indem diese Worte ausdrücklich auf die zur Eonsum­ mation des Verbrechens (entweder allein oder mit einem durch sie be­ wirkten Erfolge) gehörige Thätigkeit Hinweisen, sprechen sie sachgemäß aus, daß erst der wirkliche Anfang dieser den Thatbestand der Vollen­ dung unmittelbar herstellenden Thätigkeit den zur Ausführung erstarkten Willen des Verbrechers constatire, und dessen definitives Ziel äußerlich

erkennbar mache. Die abstrakte, aber logisch richtige Bezeichnung der aufgestellten Grenze beugt zugleich den Mißständen vor, welche die noth­ wendige Folge einer detaillirteren Beschreibung, gegenüber der Mannig­ faltigkeit der concreten Fälle, gewesen sein würden.

Fragen wir nach den Gründen, welche den Gesetzgeber bestimmten, von der Theorie des Allgemeinen Landrechts in diesem Punkte abzu­ gehen, und den Anfangspunkt der Strafbarkeit des Versuchs höher hinaufzurücken, so findet sich in den Motiven der Entwürfe von 18271)2 sowohl als von 1850 2) übereinstimmend ausgesprochen, daß aus den Vorbereitungshandlungen der Wille der wirklichen Ausführung noch nicht

genügend erkannt werden könne;

auch ziehen die Motive des ersteren

1) S. 105. 2) Goltdammer, Materialien S. 253.

345 Entwurfs ausdrücklich die Consequenz, daß in den Borbereitungshand­ lungen fast nur die Absicht, ehe sie noch zum festen Entschlüsse gediehen, geahndet werde.

Die Gründe des Gesetzgebers sind also im Wesent­

lichen die vorstehend vertheidigten gewesen.

Er verlangte, wie Golt-

dämmer zu §. 31 commeutirt, „äußere Handlungen, welche vermöge ihrer

intensiveren Gestalt, und ihrer unmittelbaren Beziehung zu dem, was den Thatbestand des Verbrechens bildet, an sich schon den Entschluß des Thäters verrathen, daß er zur Vollendung des Verbrechens fortgeschritten

sein würde, wenn äußere zufällige Umstände ihn nicht gehindert hätten."1) Die in dem Strafgesetzbuch gemachten positiven Ausnahmen, in

welchen Vorbereitungshandlungen mit Strafe bedroht sind, erklären sich

durch

die Natur

dieser Handlungen und der betreffenden Verbrechen.

Wie es das Wesen des Hochverrats, als eines gegen das Bestehen des Staates selbst gerichteten Verbrechens, mit sich bringt,-) ist derselbe in

fast allen Gesetzgebungen insofern exceptionell

behandelt

worden,

als

weder ein bestimmter Erfolg, noch eine gewisse Stufe der verbrecherischen

Thätigkeit zu seiner Consummation erfordert wird.

Ebenso wie das

Allgemeine Landrecht, zieht deshalb auch das Strafgesetzbuch beim Hoch­ verrat!)

den

Versuch

strafbaren

in

den Thatbestand der Vollendung

hinein; da hiernach aber die Consummation desselben schon mit dem

Anfänge der Ausführung eintritt, so wurde der Versuch auf die, nach der allgemeinen Bestimmung des §. 31 straflosen, Vorbereitungshand­

lungen eingeengt, und dadurch deren specielle Bedrohung nothwendig. Derselbe Grund

trifft

für die

in §. 78

bedrohten Handlungen zu.

Ebenso mußten die für den Rechtszustand in hohem Grade bedrohlichen Handlungen der Herausforderung zum Duell und deren Annahme mit

besonderer Strafbestimmung bedacht werden, da sie sonst als Vorberei-

tungshandlungen straflos geblieben sein würden. Was endlich den von den Verfechtern der Strafbarkeit der Vorbe­

reitungshandlungen angeführten historischen Grund angeht, so ist schon

oben angedeutet worden,

wie

schwankend von

jeher

die Praxis

und

Doktrin hinsichtlich der Bestimmung und Begrenzung des Begriffes des

conatus remotus war.

Wenn aber auch zugegeben ist, daß die Deutsche

*) Unzutreffend ist die Annahme Köstlin'S, daß lediglich der Einfluß des Französischen Gesetzbuch-? die Einschränkung der Strafbarkeit des Ver­

suchs im Strafgesetzbuch veranlaßt habe.

Denn schon die, unbedenklich unter

einem solchen Einflüsse nicht stehenden, ersten Entwürfe lassen die Strafbar­

keit des Versuchs mit dem Anfänge der Ausführung beginnen. *) Schon Cato sagt mit Bezug auf die Verschwörung des Catiliua:

Nnm caetera persequare, ubi facta sunt; hoc nisi provideris, ne accidat, ubi evenii, iVuMtra jndicia implores.

346 Praxis seit der Carolina, und die Rechtslehrer des vorigen Jahrhunderts

denselben für strafbar hielten, so hat doch, wie Zachariä') nachweist, schon ein Theil der, der Carolina der Zeit nach, nahestehenden Deut­ schen Nechtslehrer die Strafbarkeit auf den conatus proximus oder pro-

pior beschränkt, und es ist unter den neueren gemeinrechtlichen Criminalisten kaum noch streitig, daß jene frühere Praxis in dem Art. 178 der Peinlichen Gerichts-Ordnung mit Unrecht einen Anhalt feint'.3 * )2

Wenn nun auch nach

allgemeinen Rechtsprincipien

die Hinaus­

setzung der Strafbarkeit des Versuchs auf den Anfang der Ausführung

anempfohlen wurde, und diese Grenze sich fast in allen neueren Deut­ schen Gesetzgebungen und in dem, in der Rheinprovinz geltenden, code pönal ausgenommen fand, so ist dem Strafgesetzbuch wohl kein Vor­

wurf daraus zu machen, daß es in diesem Punkte von dem Allgemeinen Landrecht abgewichen ist.

3) Bestrafung des Versuchs. Schon früher ist angedeutet, daß die Unbestimmtheit der gegen das

unternommene Verbrechen gerichteten Strafsanctionen des Allgemeinen

Landrechts in der Praxis allgemein getadelt wurde.

Indem dasselbe

gegen den beendigten Versuch die nächste Strafe nach der ordentlichen, gegen

das

Grades,

angefangene Verbrechen

und

die

nächste

gegen das vorbereitete eine nach

nach der des vorigen dem Fortschritte zur

Vollendung zu bestimmende Strafe androhte, ließ es ungesagt, wie diese Abstufung in Ansehung der untheilbaren, absoluten Strafarten durch­

geführt werden, und um wie viel bei den, eine Theilung zulassenden, zeitigen

Freiheitsstrafen

und

Geldbußen

die Strafe des

Grades gegen die des höheren abfallen solle.

niedrigeren

In der That war dem

Richter bei Abmessung der Versuchsstrafe eine fast unbegrenzte Willkür

gestattet.

Der Entwurf von 1827 regelte deshalb das Strafmaaß der

verschiedenen Versuchsgrade nach einem bestimmten Verhältniß zu der Strafe des vollendeten Verbrechens, mit besonderen Dispositionen hin­

sichtlich der untheilbaren Strafarten.3) der Revision

das

landrechtliche Princip

Dagegen wurde im Verlaufe

einer

gelinderen

Bestrafung

des Versuchs, obwohl 'man die Abstufung der Strafe nach bestimmten

Graden später fallen ließ, unverbrüchlich festgehalten; und erst der Ent­ wurf von 1850 brachte die in das Gesetz übergegangene Bestimmung:

’) I §. 118 und 119. 2) Auch Köstlin will nicht alle Vorbereitungshandlungen strafen; Hepp, welcher deren Strafbarkeit nach positivem Recht vertheidigt, hält Cautionsmittel für geeigneter, als Strafe. Versuche S. 363. 3) Motive zum Entwurf von 1827, S. 102.

347 „der Versuch eines Verbrechens- wird wie das Verbrechen selbst bestraft", mit der im §. 32 enthaltenen Modifikation für die Todes- und die lebenslängliche Zuchthausstrafe.

Die Motive des Entwurfs lassen sich über das Aufgeben des land­ rechtlichen Princips in folgender Weise aus: „Nimmt man den gegen das Gesetz sich auflehnenden bösen Willen, die innere Verschuldung des Thäters als alleinigen Maaßstab der Strafbarkeit, so erscheint das Französische Princip das richtige,

da die Nichtvollendung in Folge unvorhergesehener Hindernisse nicht das Verdienst des Thäters, seine moralische Verschuldung nicht geringer ist, als die eines andern, welcher ungehindert durch äußere Umstände, das Verbrechen vollendet hat. Indeß läßt sich

nicht verkennen, daß die Deutsche Jurisprudenz und Gesetzgebung das subjektive Moment nicht als das allein bestimmende ange­ sehen, vielmehr bei Festsetzung der Strafe auch den objektiven Thatbestand in Erwägung gezogen hat. Diesen Entwickelungs­ gang des Deutschen Kriminalrechts und des sich hieran anschließen­ den Rechtsbewußtseins des Volkes wird man bei Abfassung des Strafgesetzbuchs nicht verleugnen dürfen.

Bei den mit relativen

Strafen bedrohten Verbrechen und Vergehen findet das richter­ liche Ermessen in dem großen Spielraum der Strafen ein aus­ reichendes Mittel, auf das objektive Verhältniß der That die ge­

bührende Rücksicht zu nehmen. Dagegen ist ein Temperament erforderlich bei den Verbrechen, welche mit absoluten Strafen, der Todesstrafe und lebenslänglichen Zuchthausstrafe, bedroht sind, und daher keine Gradation zulassen."') Die Commission der zweiten Kammer schloß sich, im Hinblick auf

den festgesetzten

Anfangspunkt der Strafbarkeit des Versuchs, dieser

Ausführung an, und hob noch die Schwierigkeiten hervor, welche bei dem Verfahren vor den Geschworenen durch die Abstufung der Strafbarkeit des Versuchs nach der Annäherung an die Vollendung entstehen würden; sie drang aber darauf, den Richter auf seine Befugniß, innerhalb des gesetzlichen Strafmaßes die Nichtvollendung des Verbrechens zu berück­ sichtigen, und auf die Statthaftigkeit von mildernden Umständen auch bei versuchten Verbrechen, durch die in §. 32 sich vorfindenden beiden Zusätze ausdrücklich hinzuweisen. Die Commission der ersten Kammer fand die Modifikationen des an die Spitze gestellten Princips nicht genügend; man wollte dem Richter die Berücksichtigung der Nichtvollendung des Verbrechens zur Pflicht

') Motive des Entwurfs von 1850 S. 14. 23*

348 machen, ihn auch ermächtigen, geeignetenfalls unter das Minimum der Strafe

hinabzugehen,

und

Strafe generell ausschließen.

jedenfalls

das

Maximum der

gesetzlichen

Diese Monita fanden jedoch keine Berück­

sichtigung, da ein Hinabgehen unter das Minimum der Strafe bedenklich

sei und zu Willkürlichkeiten Anlaß gebe, auch der Zweck geeignetenfalls durch Annahme mildernder Umstände erreicht werden könne.

Einer aus­

drücklichen Ausschließung des Maximums, meinte man, bedürfe es nicht,

da ohnehin die Richter erfahrungsmäßig nur bei überaus erschwerenden Umständen darauf zu erkennen pflegten.*) Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß der Gesetzgeber mit dem Französischen Rechte dem subjektiven Momente der Strafbarkeit bei der

Ahndung des Versuchs ein derartiges Uebergewicht über das objektive eingeräumt hat, daß er dem ersteren das Princip der gleichen Bestra­

fung des Versuchs und des vollendeten Verbrechens entlehnt, dem letz­ teren dagegen durch

die aufgenommenen Modifikationen geglaubt hat,

hinreichend Rechnung zu tragen.

Wie aber das aufgestellte Princip ein unrichtiges ist, so sind die gemachten Concessionen nicht für ausreichend zu erachten. Das Princip der gleichen Bestrafung des Versuchs und der Vollen­

dung widerspricht schnurstracks den Grundsätzen, welche seit Jahrhun­ derten in Deutschland in der gemeinrechtlichen Doktrin und Praxis ge­ golten haben.

Wie oben bemerkt, hatte die im Germanischen Recht

wurzelnde Erkenntniß, daß der Versuch einen niedrigeren Schuldgrad bilde, schon zur Zeit der Italienischen Praktiker, gegenüber der aus dem Römischen Recht entsprungenen communis opinio, welche den Versuch

bei schwereren Verbrechen gleich der Vollendung strafte, das Ansehen einer dem jus civile derogirenden allgemeinen Rechtsgewohnheit erlangt.

Die Peinliche Gerichts-Ordnung Karl's V. sanktionirte diesen Zustand,

indem sie der vollen Strafe nur die vollendete Missethat unterwarf, und den Versuch in Art. 178 mit einer arbiträren Strafe, „nach gelegenheyt

und gestalt der sach" bedrohte.

Wie die auf der Grundlage der Pein­

lichen Gerichts-Ordnung ausgebildete Praxis und Doktrin3*)2 und die

späteren Particulargesetzgebungen Deutschlands,3) stand das Allgemeine Landrecht principiell ganz auf demselben Boden, und machte nur hin-

*) Goltdammer, Materialien S. 279 und 280. 2) Einige, den Art. 178 der Peinlichen Gerichts - Ordnung ganz igno rirende, Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts halten an der alten Unter­ scheidung von crimina atrociora und leviora fest. Zachariä II § 219 u. folg. 3) Eine Ausnahme macht das Oesterreichische Gesetzbuch von 1803 in 5 7: „schon der Versuch einer Nedelthat ist das Verbrechen." Doch erklärt

cs die Nichtvollendnug des Verbrechens für einen Milderungsgrund.

349 sichtlich des Verbrechens des Hochverrats

eine Ausnahme, welche es

durch die Begriffsbestimmung dieses Verbrechens mit dem Princip

in

Einklang brachte.')

Daß das natürliche Gerechtigkeitsgefühl den Versuch im Verhältniß zu dem vollendeten Verbrechen auf einen niedrigeren Schuldgrad stellt,

wurde schon von den Griechen anerkannt.

Sie verehrten in der Abwen­

dung des schlimmen Erfolges des Verbrechens die Fügung des Geschicks und des Dämons des Verbrechers, welcher, diesen sowie den Bedrohten schützend, dem Unglück Beider entgegengetreten sei und von dem Einen

die Gefahr, von dem Andern das härtere Unheil des vollendeten Ver-

brechens abgewendet habe.

Es schien ihnen ein Undank gegen diesen

Dämon, über den Thäter die volle Strafe zu verhängen.a)

Nicht zu verkennen ist, daß das unvollendet gebliebene Verbrechen

ein bei weitem geringeres Gefühl der Unlust und des Unbehagens unter

den Mitbürgern hervorbringt, als das wirklich vollbrachte; wenn also das Volk in beiden Fällen eine gleiche Ahndung eintreten sieht, so wird es bei dem ersteren das Maaß einer gerechten Strafe überschritten finden,

und die Vollstreckung des Urtheils wird nur Mitleid mit dem Verbrecher

erregen.

Den Beweis für das Vorhandensein einer solchen Anschauung

im Rechtsbewnßtsein des Volkes liefert zur Evidenz die erwähnte gene­ ralis consuetudo aus der Geschichte des Strafrechts in Deutschland;

nicht minder hat sich in Frankreich die Ueberzeugung von der im Princip des Art. 2 des code pdnal liegenden Härte geltend gemacht.

Dort wurde

vor der Revolution von 1789 der Versuch bei den crimes Enormes (leze Majeste, assassinat, parricide, und empoisonnement) gleich der Vollen­ dung gestraft, während man bei den übrigen Verbrechen in Ueberein­

stimmung mit der Deutschen Praxis den Versuch gelinder ahndete. Der code von 1791

behielt die erstere Regel beim assassinat und empoi-

sonnement bei und enthielt im Uebrigen über den Versuch

Bestimmung.

gar keine

Das Gesetz vom 22. prairial an IV bedrohte den Versuch

eines crime allgemein mit der Strafe des vollendeten Verbrechens; der code pönal von 1810 nahm diese Regel auf.

Doch erhoben sich gegen

diese Härte sowohl die Stimmen von Juristen, als

das Rechtsgefühl

des Volks, welches in den Geschworenengerichten zu vielen Freisprechungen

führte, die sich nur durch

die Härte

des Strafgesetzes erklären ließen.

Im Jahre 1832 wurde deshalb bei Berathung einer Reform des code

') Eine singuläre Ausnahme enthält der §. 1166, welcher Diebe, die sich Nachts in die Häuser schleicheu oder dariu über Nacht verschließen lassen, mit der Strafe des vollendeten gewaltsamen Diebstahls bedrobt. Dies erin­

nert an die harte Strafe des Gemeinen Rechts gegen die direcsarii. a) Plato de legibus. Dial. 9.

Heffter §. 99 Anmerk. 5.

350 auch ein Antrag auf Ermäßigung der Versuchsstrafe gestellt, derselbe jedoch abgelehnt, da man durch die unbeschränkte Befugniß zur Annahme

mildernder Umstände, die das Gesetz vom 28. April 1832 aussprach,

den Geschworenen ein zweckentsprechendes Mittel zu geben glaubte, die Nichtvollendung des Verbrechens zu würdigen. Während man aber auf diese Weise die Härte des Gesetzes in der Anwendung milderte, und es

in das Belieben der Geschworenen stellte, das natürliche Nechtsgefühl, dem Strafgesetze geradezu entgegen, zur Geltung zu bringen, ließ man

das Princip, das man nicht billigte, bestehen, Doktrin, dagegen anzueifern.

und überließ es der

Wie die Geschichte der Entwickelung des Strafrechts in Deutsch­ land und das natürliche Nechtsgefühl, so treten auch rein juristische Gründe der gleichen Bestrafung des Versuchs und der Vollendung ent­ gegen. — An und für sich ist es schon ein Widerspruch des Gesetzgebers

mit sich selbst, wenn er die zum Thatbestände eines Verbrechens gehö­ rigen Merkmale feststellt, und verordnet, daß bei deren Vorhandensein den Thäter die angedrohte Strafe treffen solle, und er doch wiederum auch vorschreibt, daß auch bei Nichtbeendigung der verpönten Handlung, bei Nichteintritt des erforderlichen Erfolgs dieselbe Strafe eintreten solle. — Der Gesetzgeber straft durch die Gleichstellung des Versuchs und der Vollendung mehr oder minder nur den bösen Willen. Denn wenn der verbrecherische Wille, so lange er sich nicht geäußert, sich dem Gebiet des Rechts entzieht, und erst dann dem Strafgesetze verfällt, wenn er zur Handlung geworden, so folgt hieraus von selbst die große Bedeutung, welche im Strafrecht die objektive Seite der That einnehmen muß, nicht allein als Erkennungßgrund des Willens und seiner Inten­ sität, sondern als wirkliche Störung der Rechtsordnung und als allein

zuverlässiger Maaßstab der Strafbarkeit. Wie der Wille ohne That gar nicht strafbar ist, so muß auch die Unvollkommenheit der That, als seiner Verkörperung, eine niedrigere Stufe der Strafbarkeit darstellen, als die vollkommene Realisirung des verbrecherischen Willens, die Voll­ endung des Verbrechens. Wer dies in Abrede stellt, bringt, was an der Vollendung fehlt, allein auf Rechnung des verbrecherischen Willens, straft insoweit diesen allein; doch auch von seinem eigenen Standpunkt aus mit Unrecht. Denn auf der Bahn, welche die Thätigkeit des Ver­ brechers bis zur Vollendung des Delikts noch zu durchlaufen hatte, war es noch möglich, daß der Thäter seinen bösen Willen änderte, das Ge­

fühl für Recht die Oberhand gewann. Erst die vollendete Ausführung schneidet dem Thäter die Umkehr ab; der nur im Versuche zu Tage

i) Zachariä H §. 246, I S. 179. — Goltdammer's Archiv V S. 225 u. folg.

331 gelegte böse Wille steht deshalb aus einer niedrigeren Stufe der bewie­

senen Intensität, und somit auch der subjektiven Strafbarkeit.

Dieser

Grund trifft freilich durchgehends nur zu bei dem nicht beendigten Ver­ suche; bei dem beendigten ist er auf die immerhin seltenen Fälle be­

schränkt, wo der Verbrecher den zum Thatbestände des Verbrechens er­

forderlichen Erfolg, zu dessen Herbeiführung er alles gethan, durch eine positive

entgegengesetzte Thätigkeit noch abzuwenden vermochte.')

In

den Fällen dagegen, wo die Möglichkeit einer Abwendung des Erfolgs

vermöge eigenen Dazwischentretens dem Thäter nicht mehr gegeben war, ihm kein Rücktritt vom Versuche mehr offen stand, hat der verbreche­ rische Wille dieselbe Intensität bewiesen, als beim vollendeten Verbrechen, die subjektive Verschuldung des Thäters ist dieselbe.*2)

Die gleiche Straf­

barkeit des beendigten Versuchs und des vollendeten Verbrechens

hat

deshalb auch in Deutschland namhafte Vertheidiger gefunden.3)4 Indeß

bleibt selbst der beendigte Versuch immer nur eine unvollkommene Ver­ wirklichung der verbrecherischen Absicht; nur ein gänzliches Verkennen des bei Abwägung der Strafe gleichmäßig in Betracht zu ziehenden ob­

jektiven Momentes der Strafbarkeit kann ihn mit dem vollendeten Ver­

brechen gleich strafbar erscheinen lassen.

Es ist deshalb den Verthei­

digern dieser Ansicht mit Recht der Vorwurf gemacht worden, daß sie den moralischen Standpunkt mit dem rechtlichen verwechselnd)

Zu den vorstehend berührten Gründen für die mildere Bestrafung des Versuchs kommt noch eine wichtige Rücksicht der Criminalpolitik. Die dem vollendeten Verbrechen aufbewahrte härtere Strafe liefert einen

wirksamen Beweggrund für den im Versuche begriffenen Thäter, von seinem Beginnen

abzustehen,

den

verbrecherischen Vorsatz aufzugeben,

während die gleiche Bestrafung des Versuchs dem Thäter ein Impuls mehr ist, das begonnene Verbrechen auch zu beendigen, da ihn doch ein­

mal die volle Strafe erwartet.

Die ihm für den Fall des freiwilligen

Abstehens etwa verheißene Begnadigung oder Straflosigkeit macht diesen

aus.

') Einige Rechtslehrer schließen derartige Fälle vom beendigten Versuche So Köstlin a. a. O. — Berner hält einen Rücktritt vom beendigten

Versuche überhaupt nicht für möglich. a) Fälle dieser Art begreift die Französische Rechtswissenschaft unter dem Ausdrucke Mit manqud und hält für sie die gleiche Bestrafung mit dem Verbrechen selbst für gerechtfertigt. Der code Beige hat sich dieser Ansicht

angeschlossen, während er die übrigen Fälle der tentative milder straft. (Bott­ dämmer, Materialien S. 269. — Zachariä II §. 248, Rote 2. 3) Vergl. die bei Zachariä II S. 65, Note 1 anfgeführten Juristen, na­ mentlich : v. Grolman, Grundsätze §. 89. Tittmann, Handbuch, I §. 98. Oerstedt, Grundregeln S. 163. 4) Köstlin, S. 247. — Motive zum Entwurf von 1827, S- 107.

352 criminalpolitischen Grund nicht völlig illusorisch; denn wenngleich sie unzweifelhaft einen stärkeren Antrieb zum Aufgeben des verbrecherischen

Vorhabens abgiebt, so bleibt jener Grund doch für die Fälle stehen, wo der Verbrecher bereits ein Hinderniß seiner Thätigkeit oder der erwar­

teten Wirkung gefunden hat, und deshalb die Strafe durch seinen Rück­ tritt nicht mehr abzuwenden, vermag.

Hier wird der Gedanke an die

härtere Strafe des vollendeten Verbrechens die Kraft des äußeren Hin­

dernisses verstärken, und dem Thäter Veranlassung sein, sein einstweilen

vereiteltes Unternehmen nicht etwa bloß aufzuschieben, sondern gänzlich aufzugeben.

Dieselben Grunde, welche den Versuch überhaupt auf eine niedrigere Stufe der Strafbarkeit stellen, als das vollendete Verbrechen, rechtfer­

tigen den,

in der gemeinrechtlichen Doktrin und Praxis ausgebildeten,

und im Landrecht festgehaltenen, Grundsatz, daß der Versuch desto straf­ barer wird, je mehr sich die verbrecherische Thätigkeit der Vollendung

nähert.

Eine jede neue Anwendung seiner Kräfte im Dienste des ver­

brecherischen Plans verräth seitens des Verbrechers eine größere Energie des bösen Willens; je mehr die äußere Thätigkeit sich der Vollendung

nähert, desto näher rückt auch die dem RecbtSznstaude drohende Gefahr, desto gefährlicher wird objektiv der vorschreiteude Versuch.

Die Steige­

rung der Strafe ist endlich qiit Gebot der Eriminalpolitik, da einem jeden weiteren Schritt des im Versuche

begriffenen Verbrechers

eine

neue Schranke entgegentreten muß, welche ihn von der Vollendung zu­

rückzuschrecken geeignet ist. Tragen wir nach diesen Ausführungen kein Bedenken, uns gegen das in §. 32 des Strafgesetzbuchs an die Spitze gestellte Französische

Princip, für die in dem Allgemeinen Landrecht festgehaltene geringere

Strafbarkeit des Versuchs zu entscheiden, und die Annäherung der ver­

brecherischen Thätigkeit an die Vollendung als den vornehmlichsten spe­ cifischen Strafabmessungsgrund beim Versuche anzuerkennen,

so sehen

wir auch nicht ab, inwiefern das jetzige Strafverfahren in Preußen der

Beibehaltung jener richtigen Principien entgegenstand.

Allerdings ließ

sich die Unterscheidung von bestimmten Graden des Versuchs nach der

Einführung der Schwurgerichte

nicht

beibehalten.

Denn

hätte man

dies gewollt, und die Strafe des Versuchs nach solchen Graden bestimmt

abgestuft, so würde der im concreten Falle vorliegende Grad unbedenklich durch den Ausspruch der Geschworenen klar zu stellen gewesen sein, da

die in der Anklage bezeichnete Stufe deß Versuchs ebenso zu den wesent­ lichen Merkmalen der, dem Angeklagten zur Last gelegten, Handlung

gehört haben würde, als jetzt der Anfang der Ausführung.') ’) §. 101 der Verordnung vom 3. Januar 1849. — Art. 81

setzes vom 3. Mai 1852.

Die subdeß Ge­

353 fileti Distinktionen der Theorie würden aber den Begriffen der Geschwo­

renen immer fremd geblieben sein, darüber streiten,

da

auch die Juristen kaum noch

daß auf alle Verbrechen anwendbare,

im eoncreten

Falle sicher zu erkennende Grade des Versuchs nicht festzustellen sind. Selbst

die Unterscheidung

zwischen

beendigtem

und

nicht beendigtem

Versuch, welche sich bei den, einen bestimmten Erfolg zn ihrem That­

bestand erfordernden Verbrechen mit Sicherheit durchführen läßt, eignete sich, weil sie eben nur hier anwendbar ist, zur Bildung einer allgemeinen

Regel über die -Abstufung der Strafbarkeit des Versuchs nicht.

Es

wäre deshalb nur der Ausweg geblieben, die Voraussetzungen der Straf­ barkeit des Versuchs allgemein festzusetzen, das Maaß der Strafe inner­

halb eines, im Verhältniß zu der Strafe des vollendeten Verbrechens

zu bestimmenden, geräumigen Limitums dem Ermessen des Richters zu überlassen, und ihm als Anhalt die Regel an die Hand zu geben, daß

die Strafe des Versuchs mit Rücksicht auf die größere oder geringere Annäherung an die Vollendung des Verbrechens zu arbitriren sei.

Die

Anwendung derartiger Vorschriften hätte bei dem Verfahren mit Ge­

schworenen keine besonderen Schwierigkeiten geboten, da die Thatfrage nach den Voraussetzungen eines strafbaren Versuchs dem Spruch der

Geschworenen, die Abmessung der Strafe dem Gerichtshof anbeimgefallen wäre.

Den möglicherweise in einzelnen Fällen entstehenden Zweifeln über das Verfahren, in welchem über das versuchte Verbrechen zu verhandeln sei, wäre durch die positive Vorschrift, daß in Ansehung der Eompetenz der Versuch gleich dem Verbrechen zu behandeln, leicht vorzubeugen ge­

wesen.') Die in den §. 32 aufgenommenen Modifikationen des aufgestellten Princips der gleichen Strafbarkeit des Versuchs und der Vollendung

sind nicht geeignet, mit der Fehlerhaftigkeit desselben auszusöhnen; sie liefern nur den Beweis, daß man die conseguente Durchführung des recipirten Grundsatzes als unvereinbar mit dem Rechtsgefüht des Volkes anerkannte.

Eine wirkliche Milderung des Princips entbält, wie oben

angedeutet, nur die positive Bestimmung, daß statt der auf das vollen­

dete Verbrechen angedrohten Todes- oder lebenslänglichen Zuchthausstrafe auf zeitige Zuchthausstrafe von mindestens unter Polizeiaufsicht erkannt werden soll.

10 Jahren und Stellung

Eine solche Bestimmung für

diese beiden absoluten Strafen war unentbehrlich, wenn man mit dem

für die Aufnahme des Grundsatzes der gleichen Bestrafung des Versuchs

und des vollendeten Verbrechens angeführten Grunde, daß der große

') Vergl. die Abhandlung von Kräwell in Goltdanv'v'r'S Archiv, Bd. I S. 461 folg.

354 Spielraum in dem Strafmaaße dem richterlichen Arbitrium eine genügende Berücksichtigung der objektiven Verhältnisse der That ermögliche, in Ein­

klang bleiben wollte.

Als Milderung des Princips ist sie nur von ge­

ringem Belang, da sie nur auf eine kleine Anzahl von Fällen Anwen­ dung findet. — Der Hinweis auf die Befugniß des Richters zur Be­

rücksichtigung der Nichtvollendung des Verbrechens

innerhalb des gesetz­

lichen Strafmaaßes enthält nichts weiter als eine Wiederholung jenes in den Motiven angegebenen Grundes, aber in Wirklichkeit keine Modi­

fikation des an die Spitze gestellten Princips.

Denn einmal ist die

mildere Behandlung des Versuchs nur eine facultative, in das Ermessen

des Richters gestellte; und andererseits lehrt die tägliche Erfahrung, daß viele Gerichte auch beim vollendeten Verbrechen in gewöhnlichen Fällen

über das niedrigste Strafmaaß nicht hinauszugehen pflegen, Versuch gleich der Vollendung strafen.

also den

Endlich ist es doch immer die

für das vollendete Verbrechen bestimmte Strafe, welche auch für den

Versuch zur Anwendung kommt, und der dem Richter gewährte Spiel­ raum wird illusorisch,

wenn schon die individuellen Verhältnisse des

vollendeten Verbrechens ein Hinabgehen auf das niedrigste Strafmaaß rechtfertigen. — Die Schlußvorschrift des §. 32 beugt, wie Zachariä **)

richtig bemerkt, lediglich dem Irrthume des Richters vor, daß er den Versuch zwar so hart, aber nicht so milde strafen dürfe, als das voll­

endete Verbrechen. Der Geschworene, und in gewissem Maaße auch der Richter, welcher seinem natürlichen Rechtsgefühle bei Normirung der Versuchs strafe im Gesetze nicht hinreichend Rechnung getragen

sieht,

wird deshalb von

selbst auf das Auskunftsmittel hingewiesen, welches ihm das Gesetz bei

vielen und zwar den am häufigsten vorkommenden Verbrechen in der Annahme mildernder Umstände bietet.

Die Erweiterung der Fälle, in

welchen eine solche statthaft ist, durch die Gesetze vom 9. März 1853 und 14. April 1856 hat unsere Strafrechtspflege in bedenklicher Weise

dem Zustand der Französischen seit dem Gesetze vom 8. April 1832 ge­ nähert.

Es steht zu befürchten, daß die Geschworenen mittelst jener

Handhabe ihre Kompetenz von dem Gebiet der Thatfrage auf das dem

Richter allein zustehende der Strafabmessung zu übertragen, und den

Verbrecher der Strenge des Gesetzes zu entziehen wissen werden, indem sie in der Härte der Strafbestimmung selbst einen Anlaß zur Annahme

mildernder Umstände finden.

Mißstände dieser Art sind in der Praxis

bereits zum Vorschein gekommen.')

’) Goltdammer's Archiv, Bd. III S. 167. *) Vergl. die Zusammenstellung in Goltdammer's Archiv, Bd. I S. 195 seq. und die Abhandlung von Kräwetl S. 461 seq.

355 4) Freiwilliges Abstehen des Thäters von der Ausführung

des Verbrechens.

Die Frage, welche Bedeutung dem freiwilligen Abstehen des Thäters

von der Vollendung des Verbrechens beizulegen, ergiebt sich aus der Natur des Versuchs, als der unvollkommenen Verwirklichung der auf

Begehung eines Verbrechens gerichteten Absicht, von selbst, und ist von jeher in der Doktrin und Gesetzgebung nicht unbeachtet geblieben, jedoch verschieden beantwortet worden. Die Glossatoren leiteten aus dem Römischen Recht die Regel ab, daß der im Versuche begriffene Verbrecher straflos sei, wenn die Voll­

endung

des

Verbrechens

unterblieb,

weil

er dasselbe

nicht vollenden

wollte; nicht minder legten die Italienischen Praktiker dem freiwilligen Abstehen des Thäters die Wirkung völliger Straflosigkeit bei.')

Auch in dem Art. 178 der Peinlichen Gerichts-Ordnung findet die

heutige gemeinrechtliche Doktrin und Praxis übereinstimmend jene An­

sicht ausgesprochen.3)

Zur Zeit

der Entstehung des Allgemeinen Landrechts

war man

jedoch anderer Meinung; die damaligen Rechtslehrer hielten die Straf­

losigkeit des

freiwillig

zurücktretenden Thäters

weder

nach

positivem

Rechte, noch aus Rechtsgründen für gerechtfertigt, und ließen aus Rück­ sichten der Criminalpolitik den Rücktritt des Verbrechers höchstens als

Milderungsgrund gelten.3) Auf diesem Standpunkt standen

auch die Redaktoren des Allge­

meinen Landrechts; da sie jedoch Reue auch nach vollbrachter That noch

als Milderungsgrund betrachteten,♦) so glaubten sie ihrem criminalpolitischen Zwecke besser zu entsprechen, wenn sie dem freiwillig von der Vollendung des Verbrechens abstehenden Thäter Hoffnung auf gänzliche

Begnadigung machten.

Wie wenig sie einen Rechtsgrund für gänzliche

Straflosigkeit des Verbrechers anerkannten, ergiebt sich deutlich daraus,

daß statt des in §. 43 verheißenen Anspruchs auf Begnadigung dem Verbrecher, welcher von dem Versuche der Brandstiftung aus Reue zu-

') Zachariä , I S. 96, II §. 274 - Köstlin, S. 274. a) In den Worten: „und doch an volnbringung derselben Missethat durch andere mittel, wider seinen willen verhindert würde." Zachariä, S. 239 folg, und die S. 304 genannten Rechtslehrer. — Henke, Handbuch I S. 257. — Mittermair, Neues Archiv Bd. I S. 199, Bd. X S. 534. — Hepp, Versuche S. 304. — Heffter, 4. Auflage §. 99. *) Klein, Grundsätze §. 153 und die bei Zachariä II S. 304 genannten Juristen. 4) §§. 60 und 61, Th. II Tit. 20 des Allgemeinen Landrechts.

356 riicftritt und den Ausbruch des Feuers verbindert in §§. 1531 u. 1532 II. 20 nur eine mildere Strafe zugesichert wird; auch spricht dafür die be­

reits früher mitgetheilte Bemerkung Kleins zu §. 43 ejusd. tit.1)

Welche Schwierigkeiten die Bestimmung des §. 43 bereitete, und wie verschieden sie gehandhabt wurde,

in der Praxis

ist bereits bei der

Darstellung und Auslegung der landrechtlichen Vorschriften angedeutet

worden.

Die Revisoren verließen deshalb ohne Bedenken schon in dem

ersten Entwürfe von 1827 den von dem Allgemeinen Landrecht eingeschlagenen Mittelweg und setzten an die Stelle des, dem freiwillig ab­ stehenden Thäter verheißenen, Anspruchs auf Begnadigung völlige Ver­

schonung mit Strafe.

In den weiteren Stadien der Revision ist die

Richtigkeit dieser Disposition auch nicht angezweifelt worden, jedoch hat sich die Fassung derselben,

wie bereits angedeutet, mehrfach geändert.

Während der Entwurf von 1827 in §. 85 dem, aus eigenem Antrieb abstehenden, Verbrecher positiv Verschonung mit Strafe zusicherte, und

zur Bezeichnung des Gegensatzes hinzufügte,

daß der Rücktritt nicht

durch äußere Umstände veranlaßt sein dürfe, wählte schon der Entwurf von 1845 die umgekehrte Fassung und machte zu der, die Bedingung

ber Strafbarkeit festsetzenden, Bestimmung seines §. 42 den Zusatz: „insofern derselbe (der Versuch) nur durch äußere, von dem Willen

des Thäters unabhängige Umstände gehindert worden, oder ohne Erfolg geblieben ist."

Die Entwürfe von 1846 und 1847 kehrten zu der früheren Bestimmung

zurück; der Entwurf von 1850 aber brachte dieselbe in der jetzigen, mit dem Artikel 2 des code p&ial übereinstimmenden Fassung.

Die Motive

des Entwurfs von 1850 sprechen sich hierüber in folgender Weise aus:

„Zur Strafbarkeit des Versuchs ist außer dem Anfang der Aus­

führung des Verbrechens aber auch noch ein zweites, in gewisser Beziehung negatives Moment erforderlich.

Es muß der Han­

delnde nicht aus eigenem freien Antriebe von der Ausführung des Verbrechens, mit welchem er begonnen, zurückgetreten sein.

Denn

in diesem Falle erheischt, wenn auch nicht die Gerechtigkeit, die den verbrecherischen Vorsatz stets strafbar erscheinen läßt, so doch

die Eriminalpolitik, die die Begehung von Verbrechen verhüten muß, die Straflosigkeit desselben; es muß --- um es positiv aus­ zudrücken — durch äußere, von dem Willen des Thäters unab­

hängige, Umstände die Ausführung verhindert oder ohne Erfolg

geblieben sein."

i) Grundsätze §. 152. — Auch der §. 118 Theil II Titel 20 deo Allge­ meinen Landrechts sichert dem Verbrecher nur nach Umständen eine mildere Strafe oder einen Anspruch auf Begnadigung zu.

357 Wir müssen hiernach annehmen, daß der Gesetzgeber durch

in positiver Fassung

aufgenommene,

zweite Voraussetzung

diese,

des §. 31

materiell nichts anderes auszudrücken gedachte, als was die frühern Ent­ würfe direkt ausgesprochen hatten, d. i. die Straflosigkeit des Thäters,

welcher aus eigener Bewegung (eigenem Antriebe) von der Ausführung des versuchten Verbrechens zurücksteht, oder den Erfolg desselben, zu

dessen Herbeiführung er Alles gethan, vereitelt. Die äußern, von dem Willen des Thäters unabhängigen Umstände

sind die Negation der andern Alternative

„eigene Bewegung des Thä­

ters"; der Gesetzgeber hat die erstere Alternative zur Bezeichnung eines

Erfordernisses der Strafbarkeit des Versuchs nur gewählt, um ein po­ sitives Beweisthema zu gewinnen. Aufnahme

derselben unter

Denn, wie früher gezeigt,

die Voraussetzungen

hat die

der Strafbarkeit

Versuchs in unserem jetzigen Strafverfahren die Folge,

des

daß zu den,

durch den Richter oder den Wahrspruch der Geschworenen festzustellenden Merkmalen des strafbaren Versuchs neben den, einen Anfang der Aus­ führung enthaltenden, Handlungen auch das gehört:

„daß der Versuch

nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände

verhindert worden oder ohne Erfolg geblieben ist."

Trotz dieser pro­

zessualischen Behandlung hat der eigentliche Kern dieses zweiten Mo­ ments des §. 31, das

Abstehen des Thäters aus eigener Bewegung,

gegenwärtig keine andere Bedeutung, als die ihm nach den früheren Entwürfen beigelegte, d. i. die eines selbstständigen Faktums, wodurch

die mit dem Anfänge der Ausführung eingetretene Strafbarkeit vermöge positiver Vorschrift wieder aufgehoben wird.

Keineswegs aber berech­

tigt der Umstand, daß der Gesetzgeber durch die Fassung des §. 31 der Anklage die Beweispflicht auferlegte, daß der Angeklagte nicht zurück­

getreten sei, zu der Annahme, daß er begrifflich außer dem Anfänge

der Ausführung zur Strafbarkeit des Versuchs habe erfordern wollen, der dergestalt an den Tag gelegte böse Wille habe sich durch den Con-

flikt mit äußeren Hindernissen als ein beharrlicher gezeigt.

durch solche Annahme in den Begriff des

Es würde

strafbaren Versuchs etwas

hineingetragen, was nach der Absicht des Gesetzgebers gar nicht zu ihm gehört.

Denn die Strafbarkeit des Versuchs beginnt unbedenklich mit

der, einen Anfang der Ausführung enthaltenden Handlung; die letztere verräth auf eine dem Strafgesetze

genügende Weise die Energie

des

bösen Willens, und es bedarf nicht noch eines, durch spätere Ereignisse zu erbringenden,

Zuwachses

von Beharrlichkeit.

Die Aufnahme der

Ursache der Unterbrechung oder Erfolglosigkeit des Versuchs

unter die

Voraussetzungen der Strafbarkeit desselben hat lediglich eine prozessua­ lische Bedeutung; sie stellt sich als eine Wohlthat des Gesetzes gegen den Verbrecher dar,

indem

sie die Ursache der Nichtvoltendung des

Ver-

358 brechens aus dem Entlastungsbeweise in den Belastungsbeweis hinüber­

trägt.

Als legislatorischer Grund dieser Aenderung läßt sich bezeichnen,

daß der Gesetzgeber nach Einführung eines formelleren Strafverfahrens,

und bei Annahme des Princips der gleichen Bestrafung des Versuchs und des vollendeten Verbrechens, dem Verbrecher den specifischen Straf­

ausschließungsgrund des freiwilligen Rücktritts des

Verfahrens

wollte.

und

einer schlechten

gegen die Wechselfälle

Vertheidigung möglichst sichern

Die Bestimmung des Französischen Rechts mag hierbei als Vor­

bild gedient haben.')

Kommen wir hiernach zu dem Resultat, daß auch das Strafgesetz­

buch den freiwilligen Rücktritt vom Versuche, trotz der abweichenden formellen Behandlung,

materiell als

ein

selbstständiges Entlastungs­

moment betrachtet, so ist zuzugeben, daß die diesem Momente im Straf­ gesetzbuche beigelegte Wirkung dem Zwecke des Gesetzgebers ungleich mehr entspricht, als der im Allgemeinen Landrecht verheißene Anspruch auf

Begnadigung.

Wie dringend die Eriminalpolitik, und nur diese ist nach

den oben mitgetheilten Motiven auch für die Verfasser des Strafgesetz­ buchs leitend gewesen, eine milde Behandlung des von der Vollendung

des Verbrechens freiwillig abstehenden Thäters gebietet, liegt auf der Hand.

Der Verbrecher, welcher die Ausführung des Verbrechens ein­

mal begonnen hat, findet nach psychologischen Erfahrungen in seinem

Innern kein Gegengewicht mehr gegen den Reiz,

das Verbrechen zu

vollenden, da er die Schranken der Moralität durchbrochen, die Furcht

vor dem Strafgesetze mit der begonnenen Uebertretung desselben über­ wunden hat.

Nichtsdestoweniger muß dem Staate daran liegen, wenig­

stens die Vollendung des Verbrechens zu verhüten,

die dem Rechts­

zustande und dem speciell Bedrohten bevorstehende Gefahr auch jetzt noch

abzuwenden.

Hierzu bietet sich ihm, da er nur in seltenen Fällen durch

seine Organe wird unmittelbar einschreiten können, ein sehr geeignetes,

innerlich

wirkendes Mittel.

Wenn

er

dem

im Versuche begriffenen

Thäter vollkommene Verzeihung und Straflosigkeit zusichert, für den

Fall, daß derselbe von der Vollendung des Verbrechens freiwillig ab­ steht, so wird dies ein wirksamer Antrieb für den Verbrecher sein, sein

Vorhaben aufzugeben; der dem Verbrecher verbliebene Rest von Recht­

lichkeitsgefühl wird dadurch von neuem angefacht, und auch weniger sitt­

liche Bewegungsgründe werden dadurch an Kraft dergestalt gewinnen, daß sie über die Neigung zur Vollendung des Verbrechens den Sieg davon tragen.

Nimmt dagegen das Gesetz auf die Willensänderung des

einmal im strafbaren Versuche begriffenen Thäters gar keine Rücksicht,

') Vergl. die Abhandlung S. 427 seq.

von Schwarze, Goltdammer's Archiv II

359 so wird der Gedanke an die unfehlbar verwirkte Strafe den Verbrecher

auf seiner Bahn zur Vollendung der That vorwärts treiben, da die

Umkehr ihm nichts mehr helfen kann,

und die Vollendung des Ver­

brechens ihm wenigstens

die Befriedigung seines verbrecherischen An­

triebes in Aussicht stellt.

Das Gesetz würde also durch seine Straf­

androhung gegen den Versuch seiner Absicht, die Verübung von Ver­ brechen zu verhindern, geradezu entgegenwirken.

Dies würde um so

mehr der Fall sein, wenn es nicht für das vollendete Verbrechen eine höhere Strafe vorbehält, sondern den Versuch auf allen Stufen seiner Strafbarkeit wie das vollendete Verbrechen ahndet. Die Dringlichkeit des Zwecks, die Vollendung des Verbrechens auch

noch im letzten Stadium wo möglich zu verhindern, gestattet auch keine halben Maaßregeln, und weder durch die Zusicherung einer milderen Strafe, noch durch das Versprechen der Begnadigung wird ihr hinreichend Rech­

nung getragen.

Denn ein Mehr oder Weniger von Strafe wird der

Verbrecher nicht sonderlich in Anschlag bringen, wenn ihn doch Strafe erwartet; und die immerhin noch ungewisse, und keinem Verbrecher ver­

wehrte, Aussicht auf Begnadigung wird gleichfalls wenig über ihn ver­ mögen, da ihm doch Untersuchung und Verurteilung bevorsteht.

9lur

von der Zusicherung vollkommener Straflosigkeit läßt sich die Erreichung des Zweckes des Gesetzgebers mit einiger Sicherheit erwarten.

Gegen

die landrechtliche Bestimmung ist überdies mit Recht erinnert worden,

daß ein Anspruch auf Begnadigung mit dem Wesen der Gnade, als eines freien Ausflusses der Willkür des Regenten, unvereinbar sei, und es andrerseits, wenn dem Verbrecher dadurch wirklich ein Recht auf

Gnade habe zugesichert werden sollen, angemessener gewesen sei, dessen Verwirklichung dem Richter zu überlassen, als ihn zur Abfassung eines im voraus zur Nichtvollstreckung bestimmten Verdammungsurtheils zu nöthigen.9

In der Doktrin hat man sich vielfach bemüht, zur Unterstützung

oder auch an Stelle des erwähnten criminalpolitischen Grundes, für die

Straflosigkeit des freiwillig aufgegebenen Versuchs einen inneren Rechts­ grund aufzufinden.

Man bedient sich zu dem Ende der Fiktion, daß

der verbrecherische Wille, welcher die, einen Anfang der Ausführung ent­ haltende Handlung zum Versuche mache, durch die spätere Willensände­

rung des Thäters rückwärts annullirt, und dadurch der Handlung ihr Charakter als Versuch wieder genommen werdet)

Dieser Rechtsgrund

1) Motive zum Entwurf von 1827, S. NI. — Hitzig's Zeitschrift Bd. I S. 75. a) Zachariä n §. 255. — Köstlin, S. 239. — Temme, Lehrbuch §. 60. — Auch Goltdammer scheint dieser Meinung zu sein. — Materialien S. 255.

360 ist eben nur eine willkürliche Fiktion.

Der Wille und seine äußere Er­

scheinung machen die Handlung aus, von welcher jener die innere, diese

die äußere Seite ist; beide Bestandtheile lassen

sich nicht wieder von

einander trennen, der Eharakter, den sie der Handlung ausgeprägt haben,

ist unveränderlich.

Eine Bersuchshandlung ist und bleibt eine solche;

und wenn ein späteres Ereigniß ihre Strafbarkeit modificirt oder auf­

hebt,- so kann dies vermöge positiver Vorschrift geschehen; aber aus der Handlung einen ihrer Bestandtheile herauszunehmen und zu annulliren,

ist undenkbar.

Selbstredend gilt dies von der äußeren Seite der Hand­

lung, aber auch ihre innere, der Wille, ist durch seine Verkörperung in

jener ein äußeres, nicht ungeschehen zu machendes Faktum geworden; er wird als Inhalt seiner Erscheinung in der Außenwelt festgehalten.

Wie

wenig das Allgemeine Landrecht und das Strafgesetzbuch einen inneren Rechtsgrund für die Straflosigkeit des freiwillig aufgegebenen Versuchs

anerkennen, ist bereits gezeigt.

Wenn nichtsdestoweniger die Verfechter

desselben in der Fassung des zweiten Requisits des §. 31 bestätigt finden, so ist dem entgegenzutreten.

ihre Ansicht

Denn das freiwillige Ab­

stehen des Thäters ist nach der obigen Ausführung

ungeachtet seiner

eigenthümlichen prozessualischen Gestaltung materiell nach wie vor

ein

selbstständiger Strafausschließungsgrund; es alterirt den mit dem An­ fänge der Ausführung vollständig hergestellten strafbaren Versuch be­ grifflich nicht,

sondern hebt nur die bereits eingetretene Strafbarkeit

desselben vermöge positiver Vorschrift wieder auf.

Der vermeintliche

der Vorschrift des §. 31

vielmehr direkt in

Rechtsgrund geräth mit

Widerspruch, da seine Vertheidiger zugeben, daß die Straflosigkeit des freiwillig abstehenden Thäters nach der Fassung des §. 31 selbst dann eintreten müsse, wenn der Thäter sein verbrecherisches Vorhaben nicht

gänzlich aufgegeben, sondern dessen Ausführung nur verschoben habe. 0 In diesem Falle werden sie doch unmöglich annehmen können, daß der verbrecherische Vorsatz rückwärts annullirt,

zurückgezogen sei. entgegen, daß

aus der äußeren Handlung

Nicht minder steht dem vermeintlichen Rechtsgrund

nach dem Allgemeinen Landrecht sowohl,

als nach dem

Strafgesetzbuch anzunehmen ist, daß das freiwillige Abstehen den Thäter nicht straflos machen kann, wenn die bereits geschehene Versuchshandlung

als solche selbstständig mit Strafe bedroht ist.

Denn träfe jener Rechts­

grund zu, so hörte die Versuchshandlung in Folge der Willensänderung des Thäters nicht nur auf, ein Versuchsakt zu sein, sie wäre auch keine

dolose Handlung

mehr, und könnte deshalb nicht der, für eine solche

bestimmten, Strafandrohung unterliegen. Der angeführte eriminalpolitische Grund ist vielmehr der einzige,

>, Inchariä in Goltdcimmer's Archiv V S. 591.

361 aus welchen sich die Straflosigkeit des, von der Vollendung des Ver­ brechens freiwillig abstehenden, Thäters stützen laßt; es ist auch unseres Wissens

bei

der Revision der

Strafgesetzgebung

von

einem

inneren

Rechtsgrunde hierfür keine Rede gewesen.*)

5) Bestrafung absolut untauglicher Versuchshandlungen. Das Allgemeine Landrecht hat eine direkte Entscheidung der Frage

nicht, ob auch ein Versuch mit absolut untauglichen Mitteln oder an einem Objekte, an welchem das beabsichtigte Verbrechen nicht begangen

werden kann, straflos sei.

Da es jedoch das unternommene Verbrechen

schon auf der Stufe straft, wo der Thäter erst in der Vorbereitung der

Ausführung begriffen ist, und sogar Drohungen, ihrem allgemeinen straf­

rechtlichen Charakter nach, dem unternommenen Verbrechen an die Seite stellt, so entspricht die Bestrafung der oben gedachten Versuchshandlungen unbedenklich dem hieraus zu entnehmenden Princip, daß der verbreche­

rische Vorsatz, sobald er in äußere Handlungen ausgebrochen, dem Straf­ gesetze verfalle.

In einem Falle bedroht es eine derartige Versuchsband-

lung ausdrücklich, indem der §. 866 h. t. verordnet:

«Sind Jemandem unschädliche Sachen mit der Absicht zu todten beigebracht worden, so soll auf eine 6- bis 10jährige Zuchtbaus­ oder Feftungsftrafe erkannt werden."

ES deutet nichts darauf hin, daß diese Bestimmung eine exceptionelle sei, sie scheint vielmehr mit dem §. 838 a vollkommen in Einklang zu

stehen, welche verordnet: «Ist die Absicht zu todten, schon in äußerliche Handlungen ausge­ brochen, dadurch aber noch kein Schade verursacht worden, so hat der Thäter 4- bis 6jährige Festungs- oder Zuchthausstrafe ver­

wirkt." Ob die gänzliche Unschädlichkeit der Versnchshandluug in der Beschaffen­ heit der Mittel oder in anderen Umständen ihren Grund gehabt, ist

deshalb ein Umstand, auf welchen das Allgemeine Landrecht ein beson­

deres Gewicht nicht gelegt zu haben scheint.

Es ist jedoch die Schwie­

rigkeit nicht zu verkennen, Versuchshandlungen der oben gedachten Art

unter einen der in den §§. 40 — 42 aufgestellten Grade zu subsumiren,

da sie keinem derselben völlig entsprechen.

Aus der Bemerkung Klein's 3)

zu §. 42:

1) Motive zum Entwurf von 1827, S. All. — Revision von 1845, S. 146. — Auch Henke läßt nur diesen Grund der Criminalpolitik gelten.

Handbuch S. 257. — Ebenso Mittermaier, Neues Archiv I S. 200. ’) Grundsätze §. 150.

362 „Ungefähr gleich, jedoch etwas härter, pflegt der bestraft zu wer­ den, welcher eine unschädliche Handlung in der Absicht zu schaden unternimmt" scheint hervorzugehen, daß die Redaktoren des Allgemeinen Landrechts

absolut untaugliche Versuchshandlungen im Allgemeinen zum conatus remotus rechneten, und sie mit Rücksicht auf die weiter vorgeschrittene Thätigkeit etwas härter straften. Jedenfalls ließ das Allgemeine Landrecht, wie auch die Revisoren

annahmen'), absolut untaugliche Versuchshandlungen keineswegs straflos. Eben so wenig wie das Allgemeine Landrecht hat das Strafgesetz­ buch eine direkte Entscheidung unserer Frage. Jedoch ist dieselbe don den Revisoren vielfach erörtert worden. Die ersten Entwürfe entschieden für ihre Bejahung, und auch der Entwurf von 1843 hat die Bestimmung:

„Die Strafbarkeit des verbrecherischen Versuchs wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß der Thäter sich zu demselben ungenügender Mittel bedient, oder die Handlung an einem Gegenstände verübt hat, bei welchem die gesetzwidrige Wirkung nicht eintreten kann." Der Entwurf von 1845 ließ diese Bestimmung fort und setzte zugleich, wie bereits erwähnt, an die Stelle der in den früheren Entwürfen ent­ haltenen Worte „Handlungen, welche als ein Anfang der Ausführung zu betrachten sind": „Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung enthalten." 'Die Revision von 1845 bemerkt zu diesen Aenderungen, daß die frühere Bestimmung über die untauglichen Versnchshändlungen in ihrer Allgemeinheit unrichtig, und an einem objektiv für das Ver­ brechen unempfänglichen Gegenstände, sowie mit absolut untauglichen Mitteln ein strafbarer Versuch nicht denkbar sei, weil es an jedem That­ bestände fehle, und von einem Anfänge der Ausführung nicht die Rede sein könne. Man hielt daher für gut, über die Kontroverse ganz zu schweigen. Da nun das Strafgesetzbuch über die Strafbarkeit untauglicher Versuchshandlungen keine ausdrückliche Bestimmung trifft, so ist über dieselbe im concreten Falle nach den in §. 31 aufgestellten Voraus­ setzungen der Strafbarkeit des Versuchs zu entscheiden. Ein positiver Anhalt wird der Praxis in dieser Beziehung in dem Requisit geboten, daß die Versuchshandlung einen Anfang der Ausführung des Verbrechens enthalten soll. Der Gesetzgeber verlangt dadurch deutlich, daß sich die Handlung nicht nur in der Meinung des Handelnden, sondern auch ob­

jektiv als ein Anfang der Ausführung qualificire. Sie muß, fortgesetzt gedacht, zur wirklichen Vollendung des Verbrechens führen können. Dies ist aber unmöglich, wenn das von dem Thäter angewendete Mittel von ') Motive zum Entwurf von 1827, S. 114.

363 vorn herein,

ohne Rücksicht auf individuelle Verhältnisse, absolut un«

geeignet ist, zur Ausführung des Verbrechens zu dienen, wenn also dessen

Anwendung keine Stufe in dem Fortschreiten der verbrecherischen Thä­ tigkeit zur Vollendung bildet.

Es macht in Fällen dieser Art auch

keinen Unterschied, ob der Irrthum, in dem sich der Thäter über die

Tauglichkeit des Mittels befindet, in einem mangelhaften Erkennungs­ vermögen seinerseits, oder in einem bloßen Zufall seinen Grund hatte, ob der Thäter also mit Bewußtsein ein absolut untaugliches Mittel

wählte, oder ob ihm der Zufall ein solches statt des gesuchten tauglichen,

in die Hände spielte; denn für die Versnchshandlung selbst ist diese Verschiedenheit ohne Einfluß,

da dieselbe in einem und dem andern

Falle objektiv keinen Anfang der Ausführung des Verbrechens enthalten kann. — Eben so wenig ist dies letztere der Fall, wenn entweder der

Gegenstand, an dem ein Verbrechen verübt werden sollte, gar nicht vor­ handen, oder derselbe des iutendirten Verbrechens objektiv nicht fähig

ist.

Weil hier der Eintritt der Vollendung überhaupt undenkbar ist,

ist auch kein strafbarer Versuch desselben möglich.

In diesem Sinne hat sich die Praxis des Ober-TribunalS bereits festgestellt;

eine Reihe von Entscheidungen ergiebt,

daß es die Unan­

wendbarkeit des §. 31 auf VersuchShandlungen, welche mit absolut un­ tauglichen Mitteln verübt oder gegen ein irrthümlich als vorhanden an­

genommenes, aber in Wirklichkeit fehlendes Objekt gerichtet sind, als einen Rechtsgrundsatz betrachtet, dessen Verletzung Nichtigkeit begründet. l)

Dagegen wird anerkannt, daß ein Versuch mit relativ untauglichen,

d. h. solchen Mitteln, die an und für sich zur Ausführung des beabsichtigten Verbrechens geeignet, aber im concreten Falle unzureichend oder­ unwirksam befunden sind, unter den Voraussetzungen des §. 31 sehr wohl bestraft werden könne; über die relative Tauglichkeit derselben wird durch

die Feststellung dieser Requisite zugleich mitentschieden.2)

Entspricht eine derartige Behandlung der in Rede stehenden Kon­

troverse, wie wir nach der oben mitgetheilten Ausführung der Revision von 1845 und der Fassung des §. 31

unbedenklich annehmen können,

der Absicht des Gesetzgebers, so können wir nicht umhin, dieselbe nach allgemeinen Principien des Strafrechts zu billigen.

Die Bestrafung der

mit absolut untauglichen Mitteln oder an einem, des Verbrechens nicht fähigen Objekte verübten Versuchshandlungen ist unvereinbar mit der

nothwendigen Berücksichtigung

des

objektiven Moments

im Versuche.

i) Bergt, die Nachweisungen bei Oppenhoff zn §. 31, Nr. 2 —4. — Goltdanuner, Materialien S. 273. — Zachariä, in Goltdannner's Archiv, Bd. V S. 583 folg. *') Oppenhoff ebenda Nr. 5.

364 Denn wenn sich auch in derartigen Handlungen der auf Begehung eines Verbrechens gerichtete böse Wille manifestiren mag, so fehlt ihnen doch die äußerlich erkennbare Causalbeziehung zu der Vollendung des vorge­ nommenen Verbrechens. Sie bilden kein Resultat in dem Fortschreiten der verbrecherischen Thätigkeit zu dem vorgesteckten Ziele, da sie von

vorn herein als Handlungen erscheinen, welche den Thatbestand des Verbrechens nach Naturgesetzen niemals herbeiführen können; sie ent­

halten aus diesem Grunde ihrer äußeren Beschaffenheit nach auch keine Bedrohung des Rechtszustandes. Es wäre mithin der böse Wille allein, der in derartigen Handlungen gestraft würde. Auch in der gemeinrechtlichen Doktrin vertheidigen viele Rechts­ lehrer die Unterscheidung zwischen absolut und relativ untauglichen Mit­ teln und die Straflosigkeit der mit ersteren, oder an einem des Ver­

brechens nicht fähigen Objekt verübten Versuchshandlungen sowohl auf Grund des Art. 178 der Peinlichen Gerichts-Ordnung, als auf Grund allgemeiner Principien des Strafrechts.') Allerdings wird dort auch die entgegengesetzte Ansicht auf eben denselben Grundlagen ver­ fochten. *) 1) Zaclmriä, I §. 125 folg. — Heffter, §. 75 Not. 5. — Berner, §. 103. 2) Köstliu, S. 225 und die bei Zachariä a. a. O. genannten Juristen.

365

VIII.

Referat in einer Nichtigkeitsbeschwerdesache. I. Merkmale deö Kaufs in Pausch und Bogen. Ist jeder Kaufvertrag ein Kauf in Pansch und Bogen, welcher nicht nach einem Inventar geschehen ist und eben so wenig den Umfang des erkauften Grundstückes ausdrücklich ««giebt?

II. Dolus vor Abschluß des Geschäfts. — Correalschuld. Wenn ein Grundstück von Mehreren gemeinschaftlich verkauft und bei Gelegenheit der vorhergehenden Unterhandlungen von Seiten eines der Verkäufer dem Käufer gegenüber wissentlich eine un­

wahre Angabe über den Flächeninhalt des feil gebotenen Grund­

stücks gemacht worden ist, welchen Einfluß hat dieser vorherge­ gangene Betrug 1) auf den Bestand des gejammten Geschäfts,

2) auf die Kanffordernug resp, auf die Haftung der red­ lichen Mitverkäufer? Von dem Gerichts-Affeflor Dr. Degenkolb in Berlin.

Referat') in der Nichtigkeitsbeschwerdesache des FreigärtnerS Christian Martin zu Sackerau, Verklagten, Widerklägers und Imploranten, wider 1) die Wittwe Jerke, Anna Rosina, geb. Jungmann zu Austen, *) Der Verfasser bat dies Referat bei seiner dritten juristischen Prü­ fung angefertigt und ist daflclbe von der Jimnediat - Justiz - Examinations-

366 2) Friedrich Wilhelm Jerke ebenda, 3) den Arbeitsmann Johann Carl Louis Jerke zu Waldvorwerk, 4) den Arbeitsmann August Jerke ebenda, Johann Heinrich Jerke zu Groß-Osten,

5) den

6) die verehelichte Dammeister Horn, Christiane Henriette, geb. Jerke, im Beistände ihres Ehemannes Carl Friedrich Horn zu Reimberg,

Kreis Glogau, Kläger, Widerbeklagte und Jmploraten, wegen eines Entschädigungsanspruchs von 270 Thalern.

No. 172 Sen. III. 611 Repert. 1860. Mittelst gerichtlichen Vertrages vom

*8‘ ^vemher

1858 kaufte und

übernahm der Verklagte von den Klägern als damaligen Miteigentü­ mern die Freistelle Nr. 14 zu Sackerau für 880 Thlr., nachdem er das Grundstück vorher in allen seinen Theilen besichtigt hatte. Auf das Kaufgeld hat er 180 Thlr. bezahlt?) Den Restbetrag verpflichtete er sich zu Weihnachten (am 25. December) 1858 zu entrichten. Er ließ jedoch den Termin fruchtlos vorübergehen, Kläger nahmen ihn deshalb auf Zahlung des Restkaufgeldes von 700 Thalern nebst Zinsen vom Fälligkeitstage ab in Anspruch. Verklagter bestritt seine Verbindlichkeit und beantragte widerklagend,

principaliter: den oben bezeichneten Kaufvertrag als unverbindlich für ihn zu erachten und den Klägern die Erstattung des gezahlten Kaufgeldes von 180 Thlrn. gegen Rückempfang des Grundstücks nebst In­ ventar aufzugeben;

evenlualiter: die Kläger zur Zahlung einer Entschädigungssumme von 270 Tha­ lern zu verurtheilen und ihn, den Verklagten, für befugt zu erachten, dieselbe auf die an Kläger zu zahlenden Kaufgelder von 270 Thlrn. und Zinsen abzurechnen.

Commission als eine „vorzügliche" Probearbeit anerkannt worden; sie wird deshalb hier vollständig mitgetheilt, weil die Anfertigung der Re­ ferate in Nichtigkeitsbeschwerdesachen erfahrungomäßig den Candidaten des dritten Examens die meisten Schwierigkeiten verursacht und es ihnen daher wünschenswert sein wird, ein gelungenes Vorbild der Art vor Augen zu haben. l) Die am Rande des Referats angegebenen Aktenfolien und Beweis­ mittel sind hier überall weggelassen worden.

367 Beiden Anträgen lag die Behauptung zum Grunde, daß er vor Abschluß des Vertrages in einen wesentlichen Irrthum versetzt worden sei durch die Kläger, wider deren eigenes besseres Wissen.

Der Flächeninhalt des erkauften Grundstücks ist nämlich im Ver­ träge nicht erwähnt. Wohl aber soll dies bei den vorhergehenden Unter­ handlungen geschehen sein. Verklagter behauptet in dieser Beziehung,

daß er gleich bei Anbeginn der Unterhandlungen die Mitklägerin Wittwe Jerke nach dem Flächeninhalt des Grundstücks gefragt und

von ihr die Versicherung erhalten habe, die Stelle umfasse 263A Morgen, nämlich 233/i Morgen Acker­

land und 3 Morgen Haide. Diese Versicherung, behauptete er ferner, sei in Gegenwart der übrigen Mitkläger, den einzigen Friedrich Wilhelm Jerke ausgenommen, von den Anwesenden theils ausdrücklich, theils unter stillschweigender Zustimmung der klebrigen wiederholt. Endlich berief er sich ans Zugeständnisse der Kläger, angeblich dahin gehend, daß ihm von denselben vor Abschluß des Kaufvertrags der Flächeninhalt des Grundstücks im Ganzen auf 263/» Morgen, ausschließ­ lich des zur Stelle gehörigen Hutungsantheils, angegeben sei. Dennoch, und dies eben machte er den Klägern zum Vorwurf, sei er durch beide Angaben getäuscht. Denn der wirkliche Umfang der Stelle, so wie er sich später im Jahre 1859 bei erfolgter gerichtlicher Abschätzung darstellte, belaufe sich im Ganzen auf nur 17 Morgen 93 O Ruthen Land, einschl ießlich 1 Morgen 155 tu Ruthen Baustelle

und Garten und 2 Morgen 90 □ Ruthen Haideland. Die Unredlichkeit der Kläger folgerte er aus einem doppelten Umstande: Einmal daraus, daß der wirkliche Flächeninhalt schon vorher bei Auf­ nahme des Deichkatasters ermittelt, in dasselbe ausgenommen und den Klägern als Resultat der unter ihrer Zuziehung geschehenen Vermessung

mitgetheilt sei; sodann aus einer Aeußerung des Mitklägers Horn;

danach wäre

der zum Grundstück gehörige Hutungsantheil von 10 Morgen bei An­ gabe des Flächeninhalts von den Klägern hinzugerechnet worden. Hiervon ausgehend erachtete sich Verklagter an den „durch Betrug veranlaßten" Vertrag nicht für gebunden. Eventuell verlangte er Entschä­ digung für die fehlenden 9 Morgen Ackerland mit zusammen 270 Thlr., weil seiner Angabe nach der geringste Werth des bei der Stelle befind­ lichen Ackerlandes auf 30 Thlr. pro Morgen gerichtlich abgeschätzt wor­

den ist. Kläger widersprachen durchweg den gegnerischen Anführungen und Anträgen, insbesondere auch der Nichtigkeit der angeblichen gerichtlichen

Taxe und der Angemessenheit des zur Gegenrechnung verstellten Liquidats

368 Rücksichtlich der ihnen zur Last gelegten Größenangaben stellten sie der Darstellung des Verklagten ihrerseits die Behauptung gegenüber, daß im Laufe der Unterhandlungen auch der zum Grundstück gehörigen Hutung von 10 Morgen gedacht worden, daß Verklagter gefragt habe, wie viel Morgen das Grundstück inclu­

sive Hutung enthalten möge, und daß ihrerseits darauf erwiedert sei: es sollten nach dem beim Scholzen ausliegenden Ablösungsreceß circa 26—27 Morgen sein. Später modificirten sie diese Behauptung in etwas rücksichtlich der Mitkläger August Jerke und Carl Horn.

Diese beiden, so lautete die

neuere Behauptung, hätten allerdings gesagt, es sollten 26V2 Morgen sein, aber bestimmt wüßten sie das nicht. Verklagter solle zum Scholzen Heinze gehen und dort im Auseinandersetzungsreceß und im Deichkataster nachsehen, wie viel eS

wirklich sei. Ueber den Widerspruch der in diesen Urkunden enthaltenen Größenangaben waltet kein Streit. Das Deichkataster spricht der Freistelle Nr. 14 nicht mehr als 18 Morgen zu, der Ablösungsreceß

dagegen

263/< Morgen. Kläger bestritten indessen die Beweiskraft des Deichkatasters, weil dasselbe nicht alle zum Grundstück gehörigen Bestandtheile, sondern nur die vom Wasser bedrohten Ländereien umfaßt. Verklagter entgegnete unter Widerspruch der Kläger, daß nur V- oder 3Ä* Morgen im Kataster nicht mit ausgenommen sei und bestritt durchweg die klägerische Dar­ stellung. Nach erfolgter Beweisaufnahme, insbesondere auch nach Vorlegung des Original-Kontrakts erkannte das Königl. Kreisgericht zu Guhrau am 4. Juli 1859 auf den Erfüllungseid des Verklagten darüber, daß

ihm

vor Abschluß

des

gerichtlichen Kaufvertrages

1858 klägerischerseits

die

vom

Morgenzahl des zum

Grundstück gehörigen Landes mit Ausschluß des Hutungslandes auf 263/i Morgen angegeben worden. Für den Schwörungsfall verurtheilte es den Verklagten zur Zahlung des eingeklagten Nestkaufgeldes nebst Zinsen, abzüglich der von ihm geforderten Entschädigung von 270 Thlrn. Für den Nichtschwörungsfall erkannte es in conventione nach dem Klageantrage und wies in reconventione den Verklagten mit beiden

Anträgen ab. Auf erhobene Appellationsbeschwerde der Kläger hat das Königl. Appellationsgericht zu Glogau durch Erkenntniß vom 26. November

369 1859 in conventione den Verklagten nach dem Klageantrags verurtheilt und ihn in reconventione mit seinem Entschädigungsanspruch abgewiesen.

Er hat gegen dies Erkenntniß rechtzeitig die Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt.

Der Appellationsrichter legt seiner Entscheidung die nachstehenden

Erwägungen zu Grunde. I. Die Größe der erkauften Freistelle sei im Vertrag nicht ange­

geben.

Hiernach und da auch nicht behauptet sei, daß dabei ein

Inventarium zu Grunde gelegt worden, stelle sich das Geschäft als Kauf in Pausch und Bogen dar.

Ein derartiger Kauf schließe

an und für sich jeden Anspruch auf Gewährung eines bestimmten

Flächeninhalts aus.

II. Allein auch aus dem Gesichtspunkte des wesentlichen Irrthums und der vorsätzlichen Erregung desselben durch die Kläger recht­

fertige sich nicht daß Verlangen der Widerklage.

Es fehle

zuvörderst an dem behaupteten wesentlichen Irrthum.

Denn

Verklagter habe das Grundstück vor dem Kaufe besichtigt.

wie es ihm vorgezeigt war, sei es ihm übergeben.

setzung

einer bestimmten

Größe betreffe

So

Die Voraus­

daher keinesfalls

den

Hauptgegenstand des Geschäfts, sie könne nicht den Vertragsab­

schluß an sich, sondern höchstens die Bewilligung von 880 Thlrn. Kaufgeld veranlaßt haben.

Sei nun aber das Besehene wirklich verkauft und übergeben, sei ferner

die Gewährung eines bestimmten Flächeninhalts

im

Vertrage nicht versprochen, so stelle sich die von den Klägern an­

gegebene Größe Des Besehenen nur als etwas zur Information Gegebenes, nicht

als ausdrücklich vorausgesetzte Eigen­

schaft dar. Auf dieser Auffassung beruhe §. 213, I, 11 des A. L. R. und

damit falle der Principalantrag des Verklagten. Gebreche es aber an einem Betrüge, welcher den Verklagten

zur Aufrufung des ganzen Kaufgeschäfts berechtige, so bedürfe der Entschädigungsanspruch besonderer Begründung. Denn die Größe werde eben beim Kauf in Pausch und Bogen

nicht vertreten.

Abgesehen hiervon hätten Kläger den Verklagten auf den Ablösungsreceß verwiesen und ihm die darin verzeichnete Größe von

263A Morgen ihrerseits angegeben. »Nahmen die Kläger", so fährt der Appellationsrichter fort, »diese im Ablösungsreceß nachgewiesene Größe irrthümlich als

richtig an, dann befanden sie sich sowohl als Verklagter in einem

vermeidlichen Irrthum."

370 Endlich, und dies ist der letzte Entscheidungsgrund, sei es auch ganz

willkürlich, 30 Thlr. pro Morgen zu kürzen, denn Verklagter habe nicht dargethan, daß sich der' ihm erwachsende Nachtheil auf so hoch belaufe. Diese Entscheidung greift Implorant mit folgenden Beschwerden

Er rügt I. die Verletzung des §. 83, I, 11 des A. 8. R. bei gleichzeitigem prozessualischen Verstoße gegen Art. 3. Nr. 1 der Deklaration vom an.

6. April 1839. Der zweite Richter verkenne den Rechtsbegriff des Kaufs in Pausch und Bogen. Er stelle ihn fest auf Grund zweier unzureichender Mo­

mente. Denn aus dem Mangel eines dem Vertrage zu Grunde liegenden Inventars sei die Absicht der Parteien, das Gut „wie es steht und liegt"

zum Gegenstände des Kaufs zu machen, nicht gefolgert. Die Nichtangabe des Flächenmaaßes im Vertrage stelle dessen Natur als Kauf in Pausch und Bogen überhaupt nicht und am wenigsten im vorliegenden Falle dar, wo der Käufer auf ausdrückliches Verlangen gerade über das Flächenmaaß Versicherungen von den Verkäufern erhalten habe. Der ganze Einwand sei indessen suppeditirt. Es fehle an einer darauf gerichteten Behauptung der Parteien. Vermuthen dürfe man den Kauf in Pausch und Bogen nicht, denn er enthalte eine Ausnahme von den Naturalien des Kaufs. Vollends unzulässig sei es, ohne Wei­ teres den Mangel eines Inventars vorauszusetzen. Obendrein ergebe sich daß Gegentheil aus dem vorgelegten Originalvertrage: das Gut sei mit einem specificirten Inventar verkauft. Implorant rügt II. die Verletzung der §§. 75, 77, 78, 80, 84, 85, 87, 88, I, 4. und §§. 349, 358, 359, I, 5 des A. L. R., - alles dies theils durch un­ passende, theils durch Nichtanwendung. Sein Vorwurf zerfällt in zwei Beschwerden, anschließend an sein

doppeltes Klagefundament den wesentlichen Irrthum auf seiner Seite,

den Betrug der Kläger auf der andern. 1) Den wesentlichen Irrthum verwirft der zweite Richter, wie Implorant meint, weil er den Irrthum im Wesentlichen des Geschäfts und im Hauptgegenstande ausschließt.

Dem entgegen führt Zmplorant

aus, daß im vorliegenden Fall das bestimmte Flächenmaaß zu den aus­ drücklich vorausgesetzten Eigenschaften gehöre, weil es von den Verkäu­ fern angegeben sei. Irrthum in solchen Eigenschaften entkräfte ebenfalls

den Vertrag.

2) Der zweite Richter nimmt Irrthum auf Seiten der Kläger an, sofern sie ihrerseits den Angaben des Ablösungsrecesses vertrauten. In dieser Annahme erblickt Implorant theils einen Widerspruch

371 gegen die Aussagen

der Klager, theils, wie er unter Allegirung von

Art. 3 Nr. 1 der Deklaration hervorhebt, eine unzulässige Suppeditirung.

Er führt fernerhin aus, daß der zweite Richter den dolus der Kläger nicht geprüft habe, an­ scheinend weil er keinen, den Vertrag entkräftenden Irrthum anerkennt,

daß aber die vorsätzliche Erregung eines jeden Irrthums — und dies übersehe der zweite Richter — mindestens zu voller Schadloshaltung verpflichte;

daß endlich der klägerische dolus seinerseits hinreichend thatsächlich begründet sei.

III.

Der letzte Angriff trifft die letzte Erwägung deß zweiten Rich­

ters, sofern er nämlich die Kürzung von 30 Thlrn. pro Morgen für willkürlich, einen entsprechenden Nachtheil des Verklagten für nicht dar­

gethan erklärt. — Diese Ausführung — so meint der Implorant vor­ weg — sei unerheblich für seinen Principalantrag, sie sei aber auch für

den eventuellen Antrag kein selbstständiger Entscheidungsgrund, weil sie die Verurtheilung der Kläger zur Schadloshaltung an sich nicht aus­

schließen und in Ansehung der Höhe der Entschädigungssumme nur zur Abweisung angebrachtermaaßen führen würde.

Als selbstständiger Entscheidungsgrund aufgefaßt, verstoße sie gegen

die §§. 359, 286, 287, I. 5 des A. L. R. Implorant beantragt, das zweite Erkenntniß zu vernichten und das

erste zu bestätigen. Die Jmploraten beantragen dagegen die Zurückweisung der Nich­

tigkeitsbeschwerde.

Eventuelles *)

Referat

in der Nichtigkeitsbeschwerdesache u. s. w.

Mittelst gerichtlichen Vertrages vom

November

kaufte und

übernabm der Verklagte von den Klägern als damaligen Miteigenthü* ') Das Referat gestaltet sich im Falt der Nichtigkeitsbeschwerde verschie­ den, je nachdem auf Bestätigung oder auf Veruichtung des augefochtenen Erkenutnisses votirt wird. Zm erstereu Falte bedarf es nur der Darstellung derjenigen thatsächlichen Momente, auf welche die Nichtigkeitsbeschwerde sich bezieht. — Diese Rücksicht bedingt im vorliegenden Falle die Anordnung des Principalen Referates. — Im andern Falle, wenn nämlich auf Vernichtung vo­ tirt wird, muß wegen der nach Vernichtung des Erkenntnisses eintretenden freien Beurtheilung das gestimmte Sachverhältniß vorgetragen werden. Dem entspricht die Bestimmung dieses eventuellen Referates, welches um der Zrvei-

372 mern die Freistelle Nr. 14 zu Sackerau für 880 Thlr., nachdem er das

Grundstück vorher in allen seinen Theilen besichtigt hatte.

Auf das

Kaufgeld hat er 180 Thlr. bezahlt. Den Restbetrag verpflichtete er sich zu Weihnachten (am 25. December) 1858 zu entrichten. Er ließ jedoch den Termin fruchtlos vorübergehen. Kläger nahmen ihn deshalb wegen Zahlung des Restkaufgeldes von 700 Thlrn. nebst Zinsen seit dem Fällig­ keitstage in Anspruch. Verklagter bestritt seine Verbindlichkeit und beantragte widerklagend

principaliter: den oben bezeichneten Kaufvertrag als unverbindlich für ihn zu erachten und den Klägern die Erstattung des gezahlten Kauf­ geldes von 180 Thlrn. gegen Rückempfang des Grundstückes nebst

Inventar aufzugeben;

eventualiter: die Kläger zur Zahlung einer Entschädigungssumme von 270 Thlrn. zu verurtheilen und ihn, den Verklagten, für befugt zu erachten, dieselbe auf die an Kläger zu zahlenden Kaufgelder von 270 Thlrn. und Zinsen abzurechnen. Beiden Anträgen lag die Behauptung zu Grunde, daß er vor Ab­ schluß des Vertrages in einen wesentlichen Irrthum versetzt worden sei

durch die Kläger, wider deren eigenes besseres Wissen. Der Flächeninhalt des erkauften Grundstücks ist nämlich im

Vertrage nicht erwähnt. Wohl aber soll dies bei den vorhergehenden Unterhandlungen geschehen sein. Verklagter behauptet in dieser Beziehung, daß er gleich bei Anbeginn der Unterhandlungen die Mitklägerin, Wittwe Jerke nach dem Flächeninhalt des Grundstücks gefragt und von ihr die Versicherung erhalten habe, die Stelle umfasse 263/4 Morgen, nämlich 239A Morgen Ackerland und 3 Morgen Haide. Diese Versicherung, behauptete er ferner, sei in Gegenwart der übrigen Mitkläger, den einzigen Friedrich Wilhelm Jerke ausgenommen, theils ausdrücklich, theils unter stillschweigender Zustimmung der Uebrigen

wiederholt. Auch berief er sich auf Zugeständnisse der Kläger, angeblich dahin

felhastigkeit des Falles willen dem Principalen Referat beigefügt ist, wie sich an das Principale Votum eventuell die freie sachliche Beurtheilung für den Fall der etwanigen Vernichtung des angefochtenen Erkenntnisses anschließt. Der Schluß des eventuellen Referates (von den Gründen des AppellationsErkenntnisses an) ist nicht wiederholt, weil er mit dem Principalen Referat übereinstimmt.

373 gehend,

daß

ihm

von denselben vor Abschluß des Kaufvertrags der

Flächeninhalt des Grundstücks im Ganzen auf 26*/« Morgen, ausschließ­

lich des zur Stelle gehörigen Hutungsantheils, angegeben sei. Und nicht ihm allein, fügte er hinzu, seien diese Versicherungen

ertheilt.

Vielmehr hätten die Kläger auch Andern gegenüber, denen sie

die Freistelle 14 zum Kauf anboten, ja sie hätten ganz allgemein und überall vor dem erfolgten Verkauf den Flächeninhalt des Grundstücks

auf mehr als 26 Morgen, ausschließlich des dazu gehörigen Hutungs­ antheils, angegeben.

Darauf hin sollen denn noch am 18. October 1858,

dem Tage des Vertragsabschlusses, dem entsprechende Größenangaben

in eine dorfgerichtliche Taxe ausgenommen sein, welche der Verklagte

seiner Behauptung nach an eben diesem Tage hat aufnehmen lassen. Dennoch, und dieß eben machte er den Klägern zum Vorwurf, be­

ruhten alle diese Angaben nicht in der Wahrheit.

Denn der wirkliche

Umfang des Grundstückes, so wie er sich später im Jahre 1859 bei er­ folgter gerichtlicher Abschätzung darstellte, belaufe sich im Ganzen auf nur

17 Morgen 93 o Ruthen Land, einschließlich 1 Morgen 155 o Ruthen Baustelle und Garten und 2 Morgen 90 in Ruthen Haideland.

Die Unredlichkeit der Kläger folgerte er aus einem doppelten Umstande: einmal daraus, daß der wirkliche Flächeninhalt schon vorher bei

Aufnahme des Deichkatasters ermittelt, in dasselbe ausgenommen und den Klägern als Resultat der unter ihrer Zuziehung geschehenen Ver­

messung mitgetheilt sei; sodann aus einer Aeußerung des Mitklägers Horn.

Danach wäre

der zum Grundstück gehörige Hutungsantheil von 10 Morgen von den

Klägern bei Angabe des Flächeninhalts hinzugsrechnet worden. Hiervon ausgehend erachtete sich Verklagter an den „durch Betrüg veran­

laßten" Vertrag nicht für gebunden. Eventuell verlangte er Entschädigung für die fehlenden 9 Morgen Ackerland mit zusammen 270 Thlr., weil seiner

Angabe nach der geringste Werth des bei der Stelle befindlichen Acker­

landes auf 30 Thlr. pro Morgen gerichtlich abgeschätzt worden ist. Kläger widersprachen durchweg den gegnerischen Anführnngen und

Anträgen, insbesondere auch der Richtigkeit der angeblichen gerichtlichen

Taxe und der Angemessenheit des zur Gegenrechnung verstellten LiquidatS. Rücksichtlich der ihnen zur Last gelegten Größenangaben stellten sie der Darstellung des Verklagten ihrerseits die Behauptung gegenüber, daß im Laufe der Unterhandlungen auch der zum Grundstück gehö­ rigen Hutung von 10 Morgen gedacht worden,

daß Verklagter gefragt habe, wie viel Morgen das Grundstück in­ clusive Hutung enthalten möge und

daß ihrerseits darauf erwiedert sei: eS sollten nach dem beim Scholzen ausliegenden Ablösungsreceß circa 26—27 Morgen sein.

374 Später modificirten sie diese Behauptung in etwas rücksichtlich der Mitkläger August Serie und Carl Horn. Diese beiden, so lautete die neuere Behauptung, hätten allerdings gesagt, eS sollten 26V- Morgen sein, aber bestimmt wüßten sie das nicht.

Verklagter solle zum Scholzen Heinze gehen und dort im Aus* einandersetzungsreceß und im Deichkataster nachsehen, wie viel es wirklich sei. Dies habe denn auch der Verklagte gethan, namentlich auch rück­ sichtlich des Deichkatasters. Ueber den Widerspruch der in diesen Urkunden enthaltenen Größen* angaben waltet kein Streit. Das Deichkataster spricht der Freistelle

Nr. 14 nicht mehr als 18 Morgen zu, der Ablösungsreceß dagegen 263/4 Morgen. Kläger bestritten indessen die Beweiskraft des Deich­ katasters, weil dasselbe nicht alle zum Grundstück gehörigen Bestand­ theile, sondern nur die vom Wasser bedrohten Ländereien umfaßt. Ver­ klagter entgegnete unter Widerspruch der Kläger, daß nur V« oder 3/< Morgen im Kataster nichr mitaufgenommen sei. Auch wies er darauf hin, daß der Hutungsantheil schon um deswillen zum Flächeninhalt des Grundstücks nicht hinzugerechnet werden könne,- weil die Gemeindehutung in Sackerau noch nicht zur Theilung gebracht worden. Seine Anfüh­ rungen wurden klägerischerseits in Abrede gestellt, wogegen er seinerseits

durchweg die Darstellung der Kläger bestritt. Das Königliche Kreisgericht zu Guhrau legte den Originalvertrag zu beiderseitiger Recognition vor; es vernahm ferner drei Zeugen über die den Klägern vorgeworfenen Größenangaben und erkannte sodann am 4. Juli 1859 auf den Erfüllungseid des Verklagten darüber, daß ihm vor Abschluß des gerichtlichen Kaufvertrages vom ^'^vbr

1858 klägerischerseits die Morgenzahl des zum Grundstück gehörigen

Landes mit Ausschluß des Hutungslandes auf 263/< Morgen ange­ geben worden. Für den Schwörungsfall verurtheilte es den Verklagten zur Zahlung des eingeklagten Restkaufgeldes nebst Zinsen, abzüglich der

von ihm geforderten Entschädigung von 270 Thlrn. Für den Nichtschwörungsfall erkannte es in conventione nach dem Klageantrag und wies in reconventione den Verklagten mit beiden

Anträgen ab. Die Beweisaufnahme hatte dies Resultat ergeben: Es bekundeten eidlich, unter Verneinung der Generalfragen,

1) der Freistellenbesitzer Napral: Die Mitklägerin, Wittwe Serke habe ihm als Nachbar früher ein mal mitgetheilt, daß zur Stelle 263/4 Morgen Acker gehören;

375 2) der Agent Hofmann:

Bei Gelegenheit eines ihm von den Klägern gewordenen Auftrags, ihnen einen Käufer für das qu. Grundstück zu verschaffen, sei ihm befftti

Umfang

von den Auftraggebern

auf 26 Morgen

angegeben worden,

ungerechnet 10 Morgen, welche durch die Ablösung hinzükomrneü würden;

3) der Fischer Ernst Heinze: Der Mitkläger Horn habe ihm im Frühjahr 1859 unter Anderem, wenn er nicht irre, Mitgetheilt, Verklagter sei mit dem Ankauf der Frei­

stelle nicht ganz zufrieden.

Horn habe hinzugefügt,

daß von feinet

Schwiegermutter, der Wittwe Jerke, die für das Vieh zu erhaltende Hutung

zur Stelle

bei Angabe des

worden sei.

gehörigen Landes hinzügerechnet

(Wie viel diese Hutung betrage und wie groß die Stelle

in Wirklichkeit gewesen, dies sei von dem Horn nicht zur Sprache ge­

brächt.) Kläger appellirtcm

Sie bemängelten insbesondere die Aussage des

Heinze, als auf Mißverständniß beruhend, weil der Mitkläger Horn bei

den von der Wittwe Jerke gepflogenen Unterhandlungen nicht zugegen gewesen sei.

Verklagter stellte dies in Abrede und warf der Mitklägerin

Jerke, gestützt auf angebliche Aeußerungen derselben, vor, daß sie des richterlichen Vertrauens nicht würdig sei; — alles dies unter Widerspruch der Kläger.

Votum in der Nichtigkeitsbeschwerdesache u. s. w. I. Die Förmlichkeiten des Verfahrens sind meines ErächtenS beobachtet.

Doch wird ein Bedenken rückfichtlich der Vvllmachten der

klägerischen Sachwalter unten zur Sprache kommen. 1) Das Königliche Obertribunal ist für das Rechtsmittel der Nich­

tigkeitsbeschwerde der ausschließlich competente Gerichtshof?) Verordn, vom 14. December 1833. 2. Januar 1849.)

(§. 26 der

§. 18. Abs. 2 der Verordn, vom

2) Das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde ist für den vor­ liegenden Fall das zutreffende, denn der Rechtsstreit betrifft

einen Gegenstand des Vermögensrechts im

Werthe von 270 Thlrn.

Schon um deswillen ist das Rechtsmittel der Revision ausgeschlossen.') (§§. 2, 4 der Verordn, vom 14. December 1833.) *) Da es sich um einen aus der mittelbaren Erwerbung von Grundtigenthum hervorgegangenen Rechtsstreit handelt, so gebührt die Entscheidung dsm III. Senat. (Geschäfts-Regulativ vom 30. Decbr. 1859, sub III, 1.) 2) Daß der in der Nichtigkeitsbeschwerde beiläufig wieder erwähnte Pein-

376 3 Die Fristen sind gewahrt. Tas Erkenntniß zweiter Instanz ist den Parteien am 21. December

1859 insinuirt. Die Insinuation ist erfolgt: I. für die Kläger und zwar: a. für die Wittwe Jerke an deren Mandatar erster Instanz, Rechtsanwalr Kritschke, durch Mittheilung einer Ausfertigung;

b. den übrigen Klägern als Litisconsorten ist Abschrift deS Urtels­ tenors zugestellt, dem Wilhelm Jerke und - . M August Jerke i ,n e,8ener

.

denHorn'schen Eheleuten zu Händen des Ehemannes, Dammeister Horn, dem Johann Heinrich Gottlob Jerke zu Händen seiner Ehefrau, dem Johann Carl Louis Jerke zu Händen seiner Schwägerin Louise Jerke. Diese Insinuationen sind ordnungsmäßig: Die Vollmacht des Rechtsanwalts Kritschke ermächtigt ihn zur Empfangnahme der Definitiventscheidungen.

Litisconsorten erhalten nur eine Ausfertigung, im Uebrigen nur Abschriften des Tenors. Die Benachrichtigung über den Verbleib der Ausfertigung ist ihnen in der begleitenden Verfügung ertheilt. (§. 4, Abs. b, §. 3, Abs. a der Verordn, vom 5. Mai 1838.) Ehefrauen und Schwägerinnen sind als Angehörige des Adressaten, Kanzlisten eines Rechtsanwalts als Bedienstete desselben in seinen Be­ rufsangelegenheiten zur Empfangnahme der Ausfertigung befugt. (§. 20, I, 7 der A. G. O.) II. für den Verklagten an dessen Mandatar erster und zweiter Instanz, Rechtsanwalt Kühn, dessen Vollmacht ihn zur Empfangnahme legitimirt.

Die Behändigung ist an seinen Privatsekretair Gräbner geschehen.

a. Die Frist für die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde, 42 Tage seit dem 21. December 1859, lief mit dem 1. Februar 1860 ab. (§. 21 der Verordn, vom 14. Decbr. 1833. §. 9 der Verordn, vom 5. Mai 1838.) Die Nichtigkeitsbeschwerde ist aber schon am 14. Januar 1860 bei dem Gericht erster Instanz vom Verklagten schriftlich angemeldet. (§§. 15,

16, 30 der Verordn, vom 21. Juli 1846.) b. Die Frist zur Rechtfertigung, 70 Tage seit dem 21. December

1859, lief mit dem 29. Februar 1860 ab.

(§. 17 der Verordn, vom

21. Juli 1846.) cipalantrag des Imploranten in jeder Beziehung, auch für die Bestimmung

deS Rechtsmittels, außer Betracht bleibt, ergiebt schon der Schlußantrag deJmploranten, — gerichtet auf Bestätigung des ersten Erkenntnisses, d. h. auf Zuerkennung von 270 Thlrn. Entschädigung für den SchwörungSfaü.

377 Die Rechtfertigungsschrift ist aber schon am 24. Februar 1860 bei dem Königlichen Obertribunal eingegangen. c. Den Jmploraten ist die Beschwerde zu Händen ihres Mandatars erster Instanz am 7. März 1860 insinuirt. Die vierwöchentliche Frist zur Beantwortung lief mit dem 4. April 1860 ab. Am 22. März ist die Beantwortungsschrift eingegangen. (§§. 20, 23 der Verordn, vom 21. Juli 1846.) 4) Verklagter und Implorant ist in gegenwärtiger Instanz durch den Justizrath Wolff, Kläger und Jmploraten sind durch den Justizrath

Gresser vertreten. Die Vollmachten befinden sich fol. 6 und 14 Vol. II der Acten.

Sie

entsprechen den wesentlichen Erfordernissen des §. 30. I, 3 der A. G. O. Beide Sachwalter sind notorisch bei dem Königlichen Obertribunal als Rechtsanwälte angestellt und haben die Nichtigkeitsbeschwerde, be­ züglich deren Beantwortung verfaßt. (§. 236 der Verordn, v. 21. Juli 1846.) Die Legitimation des Juftizraths Wolff unterliegt auch keinem Be­ denken. Sie beruht auf der Subftitutionsvollmacht des hierzu autorisirten Rechtsanwalts Kühn. Zweifelhafter ist die Legitimation des klägerischen Mandatars, Justiz­ raths Gresser. Sie stützt sich auf eine Substitutionsvollmacht des Rechts­

anwalts Haack und diese wieder auf eine Substitutionsvollmacht des zuerst Bevollmächtigten, Rechtsanwalts Kritschke. Es soll die Befugniß des Substituten Haack zu weiterer Substi­ tution, die Befugniß des Rechtsanwalts Kritschke zur Substituirung

cum facultate substituendi nicht bemängelt werden. Denn Haack gilt zufolge §. 40. I, 13 A. L. R. als unmittelbarer Prozeßbevollmächtigter der Kläger; die Autorisation zur Substituirung in dritter Instanz brauchte ihm nicht besonders ertheilt zu werden, da er an dem eigenen Betriebe gesetzlich verhindert ist. (§. 236 der Verordn, vom 21. Juli 1846.) Von diesem Gesichtspunkte geht das Obertribunal aus bei Beur-

theilung der Befugnisse eines Generalmandatars. (Pr. 2033 vom 26. Juli 1848.) Dagegen könnte man Bedenken herleiten gegen die Prozeßlegitimation des zuerst Bevollmächtigten (und auf ihr ruht die seiner Substituten) rücksichtlich der Wittwe Jerke.

Dieselbe ist Analphabetin, wenigstens hat sie die Vollmacht unter­ kreuzt. Danach war für ihre Vollmacht gerichtliche oder notarielle Form geboten, allenfalls dorfgerichtliche gestattet. (§. 36. I, 3 A. G. O. §§. 172, 173. I, 5 A. L. R.) Es kommt indessen auf desfallsige Formmängel der Vollmacht fiür

diese Instanz nicht an. Denn der Nichtigkeitsrichter ist nicht befugt, von Amtswegen die 25

378 vvin Ldtrichter nicht bemängelte Prozeßlegitimation eines Bevollmäch­

tigten anzugreifen.

Entscheid

(Plen.-Beschluß voM 12. März 1638,

dungeü Bänd III, S. 247.)

5) Aeußerlich ist durchgehends der Vorschrift des Art, 8 der Deklaration vom 6. April 1839, §. 28 a der Verordnung vom 21. Juli

1846 genügt, d. h. es sind die angeblich verletzten Gesetzesstellen auf­ geführt. In wie weit diese Bezeichnungen ihrem Inhalte nach bestiüünt genug

sind, um den zU Grunde liegenden Beschwerdepunkt erkennen zu lassen, bleibt späterer Erörterung beim Eingehen auf die einzelnen Beschwerden

Vorbehalten.

IL In der Sache selbst würde ich dir eingelegte Nichtigkeits­

beschwerde verwerfen. Sie ist unbegründet, softrn auch nur ein selbstständiger Entscheid

dungßgrund des zweiten Richters dem Angriff widersteht. vom 17. December 1838.

(Plett.-Beschluß

Nr. 35 der Fnstrudtion vom 7. April 1839.

Plen.-Leschluß vom 2. September 1839.) Unerschüttert bleibt nun meines Erachtens der letzte Entscheidungs­

grund.

Sollte dieser Ansicht beigepflichtet werden, so bedarf eß vom

rein praktischen Gesichtspunkte aus einer Prüfung der übrigen Beschwer»

den nicht.

Arbeit.

Wohl aber bedarf es ihrer nach dtm Zweck der vorliegenden

Und da es sich im Großen und Ganzen um einen Angriff gegen

die gesummte Entscheidung des zweiten Richters handelt, feinem Gedankengange gefolgt.

so bin

ich

Ihm schließt sich auch die Anordnung

der Nichtigkeitsbeschwerde durchgehends an.

Der Uebersicht halber schicke ich den wesentlichen Inhalt der Ent> scheidungsgründe um so mehr voraus, als derselbe im Vorerkenntniß

nicht überall mit voller Bestimmtheit zu Tage tritt. I. Das in Rede stehende Geschäft, meint der AppellationSvichter,

könne vom Verklagten nicht einseitig wegen mangelnder Morgenzahl Kufgehoben werden, denn 1) sei es ein Kauf in Pausch Und Bdgen, 2) fehle eß an einem wesentlichen Irrthum, sei eS im Pauptgegen-

stande,

sei es in einer ausdrücklich vorausgesetzten Eigenschaft.

'Die

Morgenzahl sei, wenn überhaupt, so nur inforiuaticyhis cau&, von den

Verkäufern angegeben.

II. Aber auch der Entschädigungsanspruch falle hinweg, 1) weil eben der Kauf in Pausch und Bogen die Vertretung einer bestimmten Größe auöschließt; 2) weil beide Parteien sich in dieser Beziehung in eitern vermeidlichen

Irrthum befanden;

379 3- weil der Entschädigungsanspruch willkürlich vom Verklagten be­ messen, ein entsprechender Nachtheil seinerseits nicht dargethan sei. I. Der erste Angriff des Imploranten gilt der Feststellung deS Geschäfts als eines Kaufs in Pausch und Bogen. Der zweite Richter gründet sie darauf, baß 1) unbestritten die Größe des Grundstücks im Vertrage nicht ange­

geben, und daß 2) nicht behauptet ist, es liege dem Vertrage ein Inventarium zu Grunde. Hierdurch soll er den §. 83. I, 11 des N. L. N. verletzt, den Rechtsbegriff des Kaufs in Pausch und Bogen verkannt und zugleich prozessualisch gegen Art. 3 Nr. 1 der Deklaration vom 6. April 1839

verstoßen haben. Ich halte diesen Vorwurf für begründet. Das Allg. Landrecht deffnirt den Kauf in Pausch und Bogen nicht (s. Koch, Lehre von den Forderungsrechten, 2. Ausgabe, Bd. III, §. 320, S. 745). Es setzt den Begriff voraus und bezeichnet nur die Wirkungen, durch welche sich dieß Geschäft von dem sonstigen Kauf unterscheidet, nämlich durch verschiedene Grundsätze über das periculum, durch ver­ schiedene Behandlung der Pertinenzen, und durch die in beiden Fällen

verschiedenen Grundsätze über Vertretung oder Nichtvertretung der Quan­ tität. Sicherlich also liegt ein Kauf in Pausch und Bogen da vor, wo diese unterscheidenden Wirkungen beabsichtigt werden. Aber wenn nun der Kauf nicht ausdrücklich „in Pausch und Bogen" geschlossen ist — woraus läßt sich die gleiche Absicht entnehmen? Das Landrecht nennt nur einen Ausdruck als synonym: den Verkauf eines Landguts „wie cd stsht und liegt" (A. L. R. I, 11, tz. 88).

Dieser oder ein anderer gleichbedeutender Ausdruck ist in dem vor­ liegenden Vertrage nicht enthalten. Aber damit ist der AppellationSvichter nicht widerlegt. Denn in der That: er ist den umgekehrten Weg

gegangen. Indem er d^e Merkmale Ansicht nach vom Kauf in Pausch bei diesem letzteren als der einzigen setzt also voraus, daß es nur diese

vermißt, welche andere Käufe seiner und Bogen unterscheiden, bleibt er noch übrigen Alternative stehen. Er Arten von Kaufverträgen giebt:

1) Kaufverträge nach einem Inventar oder doch mit Angabe der Quantität;

2) Kauf in Pausch und Bogen. Allein es giebt einen Kauf ohne Inventar und ohne Angabe der Quantität, welcher kein Kauf in Pausch und Bogen ist, und es schließt umgekehrt die Bezeichnung der Quantität und das Vorhandensein eines Inventars nicht die Natur des Geschäfts als eines Kaufs in Pausch

und Bogen aus.

380 Das Erstere gilt zunächst unzweifelhaft rückstchtlich der Behand­ lung der Pertinenzen.

Denn indem das Landrecht in dieser Beziehung

Naturalien des Kaufgeschäfts aufstellt (§. 79. I, 11), bestimmt es nicht

nur eine Ausnahme, nämlich den Kauf in Pausch und Bogen (§. 83 ebend.), sondern noch eine andere in entgegengesetzter Richtung, den Kauf

nach einem bestimmten Pertinenzen-Verzeichniß (§. 82).

Es kennt also

jedenfalls in dieser Beziehung drei Arten von Kaufgeschäften:

1) den Kauf, welcher nicht in Pausch und Bogen und nicht nach einem Inventarium geschlossen ist;

2) den Kauf in Pausch und Bogen; 3) den Kauf nach einem zu Grunde liegenden Inventar. Dies ist denn auch das sichere Ergebniß der Praxis. Es liegt zu

Grunde dem Appellationserkenntniß vom 25. November 1805.

(MathiS,

Zeitschrift Bd. IV, S. 21.)

Es wird deutlich, wenngleich nur negativ ausgesprochen in dem Er­ kenntniß des Obertribunals vom 24. Juli 1837. (Entscheidungen Bd. XX, S. 330.9

Und indem das Landrecht die beiden letztgenannten Kategorieen als besondere auszeichnet, sie von besonderen Bestimmungen der Contrahenten

abhängig macht, erklärt es beide, also auch den Kauf in Pausch und Bogen, für Accidentalien im Gegensatze zu dem regelmäßigen Kaufgeschäft.

Dem entspricht die Darstellung von Suarez und Goßler in ihrem Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der Preußischen Staaten

Cap. VI, §. 9, S. 113. Accidentale ist der Kauf in Pausch und Bogen nicht nur in der Lehre von den Pertinenzen, er ist es ebenso rücksichtlich der Vertretung der Quantität. Es bestimmt nämlich das A. L. R. nach Erledigung

des Kaufes ad mensuram (§§. 207—211, T, 11)9 im § 212: „ob übrigens die Quantität der verkauften Sache nur der Beschreibung und näheren Bestimmung halber oder in der Absicht, daß

*) Dies Erkenntniß setzt die Pacht dem Kauf gegenüber und gewiß mit gutem Grund. Denn bei dem Kauf besteht nicht die bei der Pacht sonst unvermeidliche Lücke. Auch verlangt die Pacht wegen der Rückgewähr einer Regelung, deren der Kauf nicht in dieser Weise bedarf. a) Ich folge hierin Koch, Anmerkung 50 zu §. 207, I, 11 des A. L. R. Md der deutlich erklärten Ansicht von Suarez und Goßler, Unterricht über die Gesetze :c. S. 113. — Dagegen gehört §. 212 nicht mehr zum Kaufe

ad mensuram, wie Koch will, sondern er bildet den Uebergang zum §. 213. Bei dem Kaufe ad mensuram könnte die Absicht, daß die Quantität gewährt werden soll, gar nicht zweifelhaft sein. nicht der Gewährspflicht.

Sie ist hier Gegenstand des Kaufs,

381

sie vertreten werden solle, beigesügt worden, ist hauptsächlich nach dem Inhalte teö Kontrakts zu beurtheilen."

§.213:

„Ist der Kauf in Pausch und Bogen geschlossen, so darf

ein bei den Unterhandlungen bloß zur Information des Käufers gege­

bener Anschlag .... nicht in Ansehung der Größe, des Umfangs (der Rubriken) vertreten werden."

§. 214:

„Außer diesem Fall gilt, wenn aus den Umständen

und aus der Fassung des Vertrages nicht ein Anderes erhellt, die Ver­ muthung, daß die bestimmte Quantität gewährt werden solle."

Hiernach giebt es rücksichtlich der Vertretung der Quantität fol­ gende Kategorieen: 1) den gewöhnlichen Kauf

a. mit b. ohne Vertretung der Quantität, 2) den Kauf in Pausch und Bogen. Die

ungezogenen

Gesetzesstellen

zeigen noch ein Anderes.

Das

Merkmal, welches den gewöhnlichen Kauf vom Kauf in Pausch und Bogen unterscheidet, kaun nicht in der Beifügung des Umfanges, nicht

in der Existenz eines Anschlags oder eines Inventars liegen.

Freilich redet §. 213 nur von dem Anschlag, §. 214 anscheinend

von der Beifügung des Umfanges im Vertrage.

Unbedenklich aber gilt

beim Kauf in Pausch und Bogen die Beifügung der Quantität im

Vertrage ebenfalls nur als Beschreibung, denn §. 212 unterscheidet eben

für diesen Fall nach dem Inhalt deS Kontrakts, und die folgenden §§

sehen den Kauf in Pausch und Bogen dem gewöhnlichen Kauf gegenüber. Andererseits wird im Sinne des §. 214 die Beziehung auf einen An­

schlag beim gewöhnlichen Kauf dahin zu verstehen sein, daß der Anschlag in jeder Beziehung vertreten werden soll. Also: wenn die Quantität im Vertrage beigefügt und wenn die Beziehung auf einen Anschlag gegeben ist, dann entsteht gerade für die fernere Behandlung die Frage, ob ein Kauf in Pausch und Bogen vor­

liegt oder nicht.

Umgekehrt fehlt eS an jedem positiven Anhalt dafür, daß ein Kauf in Pausch und Bogen überall da vermuthet werden müsse, wo die Quan­

tität im Vertrage selbst nicht beigefügt, ein Anschlag oder ein Inventar

ihm nicht zu Grunde gelegt worden ist.

Rücksichtlich der Behandlung

der Pertinenzen gilt diese Vermuthung nicht.

Denn sie folgt, wie be­

reits gezeigt ist, nicht aus dem Mangel eines Inventars, sie kann also

noch viel weniger folgen aus der für die Pertinenzen ganz einflußlosen

Nichtbezeichnung der Morgenzahl.

Nun ist es mißlich, aus denselben

Thatsachen eine Vermuthung für den Kauf in Pausch und Bogen bald

aufzustellen, bald zu verwerfen, je nachdem die eine oder andere Wirkung

382 des Verkaufs in Frage steht. Die Vermuthung ist auch nicht durch die Natur der Sache geboten. Denn sofern dem Vertrage selbst Unter­ handlungen über die Größe des Grundstücks vorhergegangen unb darauf

bezügliche Versicherungen Seitens der Verkäufer ertheilt finb> folgt aus dem Stillschweigen des Vertrages keineswegs, daß es dem Käufer wirk­

lich um einen ,Äauf in Pausch und Bogen" zu thun war, d. h. daß er auf Vertretung der Quantität verzichtete. Alles dies unbeschadet des §. 265, I, 5 A. L. R. und der Grundsätze über mündliche Nebenab­ reden. (Plen.-Beschluß des Obertribunals vom 31. Januar 1845; Ent­ scheidungen Bd. X, S. 259. Erkenntniß des Obertribunals vom 3. De­ cember 1858 (Archiv für Rechtsfälle Bd. 31, S. 301). Bornemann, Erörterungen im Gebiete des Preußischen Rechts, S. 197, 198.) Hiernach hat der zweite Richter in der That den „Kauf in Pausch und Bogen" aus unzureichenden Momenten festgestellt, den Rechtsbegriff

dieses Geschäftes verkannt. Er durfte aber das zweite Moment, den vermeintlichen Mangel eines Inventars, überhaupt nicht berücksichtigen. Die Parteivorträge schlveigen darüber, wie denn zufolge nachträglicher Behauptung des Im? ploranten in der. Nichtigkeitsbeschwerde das Gut mit einem speeificirteu Inventar verkauft sein soll. Ihrem positiven Inhalt nach ist diese Be­

hauptung verspätet. Aber der zweite Richter durfte eben so wenig das Gegentheil suppeditiren. Denn der Kauf in Pausch und Bogen ist Accidentale. Seine Voraussetzungen dürfen also nicht vermuthet werben^ auch da nicht, wo sie in einer Negative bestehen. Der zweite Richter hat also in doppelter Beziehung gegen Art. 3 Nr. 1 der Declaration ver­ stoßen, indem er einerseits den Kauf in Pausch und Bogen als Natural? auffaßt, statt als Accidentale, und sodann indem er den Mangel eines Inventars suppeditirt, um von da zu seiner übrigens unrichtigen Schlußfolgerung, zu gelangen. II. Der zweite Angriff des Imploranten zerfällt, wenn nicht der äußern Anordnung, so dem Inhalt nach in zwei Beschwerden.

1) Die erste rügt die Verletzung von §§. 75, 77, 78. I, 4 des A. L. R. und diese Verletzung könnte nur in der Nichtanwendung der angezogenen gesetzlichen Vorschriften bestehen. Denn der zweite Richter verwirft die Anfechtung des Vertrages wegen wesentlichen Irrthums,

sei es wegen Irrthums im Hauptgegenstande oder in einer ausdrücklich vorausgesetzten Eigenschaft. Die Beschwerde ist meines Erachtens hinfällig. . Dies gilt zunächst von dem vermeintlich verletzten §. 75. Denn die thatsächliche Feststellung des zweiten Richters: eö liege kein Irrthum im Hauptgegenstande vor, ist vom Imploranten nicht nur nicht angefochten,

sondern geradezu gebilligt,

da er selbst die

383 bestimmte Morgenzahl

als ausdrücklich vorausgesetzte Eigenschaft gel­

tend -macht. Aus dieser Sachlage

folgt mit Nothwendigkeit die Nichtanwen­

dung des angezogenen Paragraphen. Eben so wenig sind die §§. 77, 78. I, 4 des N. L. R. verletzt. Implorant meint freilich, das Flächenmaaß gehöre wenigstens zu den Eigenschaften des Grundstückes. Habe nun behauptetermaaßen der -Verkäufer dem Käufer versichert und dieser in Folge dessen voraus­

gesetzt, daß das Grundstück ein bestimmtes Maaß enthalte, so sei dies letztere eine ausd rückt ick vorausgesetzte Eigenschaft. Es kann hier dahin gestellt bleiben, ob im Sinne des Allgemeinen Landrechts die Quantität als Eigenschaft aufgefaßt werden darf — eine

Frage, welche bisher in entgegengesetzter Weise beantwortet ist — be­ jahend u. A. von Bornemann ^Preußisches Civilrecht, 2. Ausg. Bd. I, S. 143), verneinend von Thöne (Handbuch des Preußischen Privatrechts Bd. II, S. 164), und wie es scheint vom Königl. Obertribunal (Ungedr. Entscheidung vom 6. März 1849 bei Bornemann, Erörterungen S. 197). Offenbar disponiren die §§. 77, 78 ebenfalls nur über die Wir­ kungen des Irrthums, nicht darüber, unter welchen Umständen vine aus­ drücklich vorausgesetzte Eigenschaft vorliege oder nicht. Der zweite Richter stellt fest: der Umfang des Grundstücks sei im vorliegenden Fall nicht eine ausdrücklich vorausgesetzte Eigenschaft, sondern nur M Jn-

formation von den Klägern angegeben. Diese thatsächliche Feststellung rechtfertigt die Nichtanwendung von HZ. 77, 78. I, 4 des A. L. R. Sie ist nicht zum Gegenstand der Be­ schwerde gemacht, wenigstens nicht in irgend genügender Weise. Dem die bloße Behauptung des Imploranten, es liege eine ausdrücklich voraus­ gesetzte Eigenschaft vor, ist weder formell als Beschwerde erkennbar, noch bezeichnet sie den Rechtsgrundsatz oder die Prozeßvorschrift, welche durch die entgegengesetzte Feststellung des zweiten Richters verletzt sind. Oh die Beschwerde mit Erfolg auf §. 214. I, 11 des A. L. R.

hätte gestützt werden können, muß hier auf sich beruhen.

Das bisherige

Resultat ist also dies: 1) Es liegt kein Kauf in Pausch und Bogen vor. 2) Dennoch fällt der Gewährsanspruch wegen mangelnder Morgen­ zahl hinweg, weil sie nur zur Information angegeben worden ist. 3) Es bleibt das Fundament des Betruges. Die hierauf bezüg­ lichen Beschwerden trennen sich nach dem Inhalt der angeblich verletzten Gesetze in zwei Gruppen. Verletzt sollen sein

a. die §§. 84, 85, I, 4; §§. 358, 349, I, 5 A. L. R. jedenfalls durch Nichtanwendung. Dieser Vorwurf ist grundlos. Die genannten Paragraphen betreffen den dolus causam dans und

384 die aus ihm folgende Unverbindlichkeit der Willenserklärung für den Betrogenen. Der zweite Richter stellt nun endgiltig.fest, daß Her Be-

trug der Kläger jedenfalls nicht den Abschluß des Geschäfts, sondern höchstens die Bewilligung eines größeren Kaufgeldes veranlaßt habe. Als meidens berechtigt der dolus zum Rücktritt nur, sofern der durch ihn erregte Irrthum ein wesentlicher ist (§. 358, I, 5 A. L. R.) Da­ von ist nun im vorliegenden Fall nicht die Rede, weil, wie vorbemerkt, weder im Hauptgegenstande noch in einer ausdrücklich vorausgesetzten

Eigenschaft geirrt worden. Endlich kommt es auf den Principalantrag deS Imploranten überall nicht mehr an. Derselbe ist unberücksichtigt geblieben im Erkenntniß erster Instanz, und die Bestätigung dieses Erkenntnisses ist das beste, was Implorant erlangen kann. Er selbst beantragt sie obendrein, d. h. er verlangt 270 Thlr. Entschädigung, wogegen die beiläufige Erwähnung des Prin­ cipalantrags in II und III derj Nichtigkeitsbeschwerde nicht in Betracht

kommen kann. b. Anders verhält es sich mit der gerügten Verletzung der §§. 87,

88. 1/4; §. 359. I, 5 A. L. R. Auch beim Kauf in Pausch und Bogen, und wo dieser nichr vor­ liegt, auch bei bloßer Angabe zur Information darf nicht betrüglich verfahren, es darf das Vertrauen des Käufers, wenn nicht auf die Zu­ verlässigkeit der Angabe, so doch auf die Redlichkeit des Verkäufers von diesem nicht wissentlich gemißbraucht werden. Diesen Grundsatz erkennt durchweg die vorlandrechtliche gemeine

Praxis an. Auch wo sie die Vertretung wegen mangelnder Quantität noch so sehr einschränkt oder ausschließt, weil sie deren Angabe nur als de­ monstratio betrachtet, im Gegensatze zu der modificatio des Vertrages, überall seht sie die bona fides des Verkäufers voraus?) Ganz auf derselben Anschauung beruht das Allgemeine Landrecht. Jede vorsätzliche Erregung eines Irrthums zum Nachtheil des Irrenden

verpflichtet mindestens zu vollem Schadensersatz (§§. 87, 88.1, 4; §. 359I, 5 A. L. R.) und diese Verpflichtung ist völlig unabhängig von dem Inhalt des einzelnen Kontrakts. Der Geschäftsverkehr überhaupt und der Kauf insbesondere, vor Allem gerade der Kauf in Pausch und Bogen beruht eben auf Treu und Glauben. Dennoch scheint dies der zweite Richter nicht anzuerkennen. Er sagt: »Gebricht es an einem Betrüge, durch den Verklagter zur Auf-

*) S. z. B. Leyser, meditationes ad Pandectas spec. 206 med. VII: qui rem ad Corpus vendit et mensurae mentionem saltem demonstrative äc obiter facit, si in hoc bona fide erravit, emtori non obligatur.

385 rufung des ganzen Geschäfts berechtigt wurde, dann mußte näher dargethan werden, worauf sich sein Entschädigungsanspruch denn eigentlich gründet. Denn bei dem Kauf in Pausch und Bogen steht ihm nach §. 213. I, 11 31. L. R. ein Anspruch wegen der zu vertre­ tenden Größe gesetzlich nicht zu."

Bis dahin war vom Betrug überhaupt nicht die Rede, sondern vom Irrthum, und daß derselbe ein nicht wesentlicher sei. Soll nun die Deduktion des zweiten Richters dahin gehen, daß der unwesentliche Irrthum rücksichtlich der Quantität bei dem Kauf in Pausch und Bogen niemals und selbst dann nicht in Betracht komme, wenn er durch Betrug veranlaßt und auf diesen ein Entschädigungsan­ spruch gegründet ist, so verstößt sie in der That, wie Implorant richtig

hervorhebt, rechtsgrundsätzlich gegen §§. 87, 88. I, 4; §. 359.

I, 5

A. L. R. Sie fällt aber auch deshalb hinweg, weil sie auf der irrigen Unter­

schiebung eines Kaufs in Pausch und Bogen beruht.

Indessen, um die

Wirkungen des dolus zur Anerkennung zu bringen, muß dieser selbst erst feststehen. Statt dessen schließt ihn der zweite Richter aus. Er erwägt den Inhalt des Ablösnngsrecefses und daß Kläger eine

damit übereinstimmende Versicherung gegeben haben sollen. „Nahmen also die Kläger" — so fährt er fort — „den AblösungSreceß für richtig an, so befanden sie sich ebenso wie Verklagter in einem vermeidlichen Irrthum" (§. 80. I, 4 A. L. R.).

Diese Feststellung ist hypothetisch nur in der Form. Der Sache nach stellt sie unzweifelhaft Irrthum auf Seiten der Kläger fest. Damit fällt der dolus als dessen Gegentheil hinweg. Implorant behauptet, diese Feststellung stehe in Widerspruch mit den Aussagen der Kläger, der Irrthum sei in unzulässiger Weise suppeditirt.

Nur der letzte Punkt ist indessen formell zum Gegenstände der Be­ schwerde erhoben. Es wird die Verletzung von Art. 3 Nr. 1 der De­ klaration gerügt?) Dieser Vorwurf scheint denn auch begründet. Der vom zweiten Richter sestgestellte Irrthum ist keine bloße Ver­ neinung des Betruges. Er ist eine neue selbstständige Thatsache. Denn zwischen dolus, dem positiven Bewußtsein von der Unwahrheit einer Behauptung, und dem Irrthum, dem positiven Fürwahrhalten, liegt noch

ein Drittes, nämlich daß man sich mit Wissen und Ueberzeugung völlig indifferent verhält. Kläger konnten also beides, das Deichkataster wie

den Ablösungsreceß für gleich wenig beweisend ansehen; sie konnten aber

‘) Daß dieser Artikel nur in Parenthese allegirt wird, benimmt meines Erachtens dem Borwurf nicht seine Bestimmtheit.

386 such, VN- dich eröffnet eine Reihe neuer Möglichkeiten, jedes andere

Mchenmaaß für das wirklich vorhandene halten, z, B. den Durchschnitt -ex abweichenden Angaben int Kataster und im AblösnngSreceß.

2»dem

also -er zweite Richter das Bewußtsein der Kläger Positiv dahin be­

stimmt,

daß sie dem Ablösungsreccß und ihm allein vertraut haben, Denn sie folgt weder mit

führt er eine selbstständige Thatsache ein.

Nothwendigkeit, noch folgert sie -er zweite Richter aus den Auslassungen

-er Kläger in -er Art, daß sie selbst sich auf Irrthum berufen hätten. Kläger haben ihn nicht behauptet.

Noch mehr: er steht, wenn nicht

den Worten, so der Sache nach, mit ihren Erklärungen in Widerspruch. Kläger wollen auf die Frage:

wie viel Morgen das Grundstück

,e6 sollten

i,nolusipe Hutung enthalten möge? geantwortet haben:

nach dem Ablösungsreceß cir.ca 26—27 Morgen sein."

Sie behaupten

ferner, daß die Hutung 10 Morgen betrage. Also sind sie in der That durch den Receß nicht irre geführt.

Sie

haben die darin befindliche Angabe auf die zum Grundstück gehörige

Hutung mitbezogen;

ohne sie nur 16 — 17 Morgen als Flächen-

Inhalt angenommen-

And das eben wirft ihnm Verklagter als dylpß

por,

Es bleibt nur der Zweifel, ob von der Feststellung des zweiten

Richters nicht wenigstens die Verneinung des dolus dem Angriff wider­ steht, — Diese Verneinung ist keine selbstständige Thatsache, also -em

Angriff aus Art, 3 Nr. 1 der Deklaration an sich entzogen.

Aber sie

ist eben so wenig selbstständig vom zweiten Richter festgestellt.

Sie er­

sieht sich nur als Folgerung aus seiner anderweiten Annahme eines Irrthums, den er in unzulässiger Weise suppeditirt.

Sie fällt demzu­

folge mit ihrem Fundament, und es bedarf einer Prüfung der Thatsachen,

welche positiv zur Begründung des Betruges erbracht sind, Richter hqt sich dieser Prüfung enthoben.

Der zweite

Dem NichtigkeitSrichter sind

also keine Schranken gezogen, und darauf allein beruht die ihm gegebene

Möglichkeit, abweichend vom zweiten Richter den dolus und dessen Wir­ kungen feftzustellkn. Allein dazu bedarf es der vorgängigen völligen Vernichtuug des

zweiten Erkenntnisses, also der Beseitigung des letzten Entscheidungs­

grundes. Isl. Derselbe lautet wörtlich:

„Endlich erscheint es ganz willkürlich, daß Kläger (soll heißen

Verklagter) pro Morgen 30 Thlr. vom Kaufgeld kürzen will,

indem in keiner Weise dgrgethan ist, daß sich der ihm erwachsende Nachtheil auf so hoch beläuft," Implorant bemängelt zuvörderst die Natur dieser „Bemerkung" als

eines selbstständigen Entscheidungsgrundes.

Gp weint, sie sei Yöyig Uner­

heblich für den Principalantrag; sie berühre ferner nicht -en Schadeus-

387

anspruch an sich und könne wegen dessen Höhe nur zur Abweisung angebrachtermaaßen führen.

Dieser Zweifel ist meines Erachtens unbegründet.

Denn unzwei feist

haft enthalten alle vorhergehenden Ausführungen des zweiten Richters selbstständige Entscheidungsgründe.

Ihnen endlich schließt sich die mit­

getheilte Erwägung an, und unmittelbar darauf faßt der zweite Richter

sein Resultat in den Worten zusammen: „Aus allen diesen Grün­ den

mußte Verklagter

mit seinen Reconventionsanträgen abgewiesen

werden."') Implorant greift Denn auch

eventuell

diesen Entscheidungsgrund

mit der Behauptung an, er verletze die §§♦ 286, 287, 359. I, 5 A. ö. 9t Dieser Angriff ist meines Erachtens verfehlt.

Auf den Prinüpalantrsg des Verklagten kommt es nicht am

Auch

kommen -Le angeführten Gesetzesstelleu nur für den eventuellen Antrag, für die Schadensforderung, in Betracht. Toll nun zur Begniudung der Beschwerde die Bemerkung des V«? klagten hinzugezogen werden:

der Entscheidungsgrund führe

nur zur

Abweisung angebrachtermaatzen, so kann die gerügte Verletzung bestehen: 1) in der definitiven Abweisung statt der Abweisung angebracht

termaaßen (§. 359. I, 5); 2) in der Abweisung überhaupt, d. h. in der Verwerfung des

vom Verklagten geltend gemachten Maaßstabes für die Höhe seiner Forderung

28tz, 287, 359. I, 5 A. L. R.).

1) Der zweite Richter konnte nicht zur Abweisung

maaßsn" kommen.

„angebrachter?

Denn seine übrigen Grunde, mögen diese zu Recht

bestehen oder nicht, führten ihn zur yölligen Ausschließung des Entschä­ digungsanspruchs an sich.

Ueber den Betrag besonders zu erkennen, hätte

er irgend lvetche Veranlassung nur etwa dann gehabt, wenn er eventuell irgend einen Betrag als feststehend anerkannte.

Er verwirft aber das

gestimmte Liquidat als willkürlich, so daß sich seine Entscheidung dahin zusammenfaßt: Widerkläger ist abzuweisen. 1) weil sein Anspruch an sich unbegründet,

2) weil derselbe gänzlich illiquide ist. Niemals aber braucht der Richter die verschiedene Tragweite seiner einzelnen Entscheidungsgründe in der Art im Tenor quSzusprechen, daß

sich ergiebt, welcher Grund, für sich genommen,

ihn zur definitiven

') Daß an sich die Verwerfung des angelegten Maaßstabes auch als nur beiläufige Bemerkung hinzugefügt werden sann, ist selbstverständlich. So z. P. die Erkenntnißgründe des Dberrribunals (Erk. vom 17. November 1857), Strietharst, Archiv Bd. 27 S. 137, 144, Entscheidungen XXXVI? S. 22 ff.

388 Abweisung, welcher andere ihn nur zur Abweisung „angebrachtermaaßen" geführt haben würde. Denn eben nicht die Gründe gehen in Rechts-

kraft über §. 38. I, 13 A. G. O., sondern der Inhalt der Entscheidung, und dieser tonnte im vorliegenden Falle nicht zwiespältig sein. Hiervon abgesehen wird meines Erachtens irgend welches materielle Recht durch die dem äußern Anschein nach definitive Abweisung statt der Abweisung angebrachtermaaßen nicht verletzt. Es ist nicht meine Absicht, die Berechtigung des Richters zur Abwei­ sung „angebrachtermaaßen" an sich in Frage zu ziehen. Diese Formel be­ steht, sie ist mindestens den Gesetzen nicht zuwider. Noch mehr: der letzte

Entscheidungsgrund des zweiten Richters, falls er für sich allein stände, würde meines Erachtens in der That nur zur Abweisung angebrachter­ maaßen führen. Denn was er besagt, ist dies: der Maaßstab des Li-

quidatS ist willkürlich, aus ihm allein folgt nicht der geforderte Betrag. — Es müßte also dem Liquidanten unbenommen bleiben, sein Liquidat anderweit vollständiger oder richtiger thatsächlich zu begründen. (Er­ kenntniß deS Obertribunals vom 4. Februar 1858, Striethorst, Archiv Bd. 29, S. 70, 74, Entscheidungen XXXVIII, S. 378; Erkenntniß des Obertribunals vom 20. April 1844, Jurist. Wochenschrift 1846, Sp. 228, 229.) Allein wenn selbst dieser Entscheidungsgrund der einzige wäre, und wenn in diesem Fall der Tenor des Erkenntnisses schlechthin abwiese, statt angebrachtermaaßen, dem materiellen Recht des Verklagten wäre dadurch meines Erachtens nichts vergeben. Die Entscheidung wird ihrem Inhalt, ihrer Tragweite nach im Zusammenhänge mit den Entscheidungsgründen aufgefaßt. Diese letzteren gehen nicht für sich in Rechtskraft über, d. h. die Wirkung der res judicata wird nicht über den Tenor ausgedehnt, aber sie kann sehr wohl mit Rücksicht auf die Gründe eingeschränkt werden, sofern sich aus ihnen ergiebt, daß der wahre Inhalt der Entscheidung weniger durch­ greifend und umfassend ist, als eS der bloße Wortlaut des Tenors erkennen läßt. (Erkenntniß des Obertribunals vom 22. August 1817.

Simon, Rechtssprüche Bd. I, S. 62.) Noch neuerlich hat der dritte Senat des Obertribunals in dem Er­ kenntniß vom 28. Juni 1858 ausgeführt, daß wegen Litispendenz nicht nothwendig „zur Zeit" abgewiesen werden müsse, weil es zur Möglich­ keit erneueter Klageanstellung genüge, daß die Klage eben wegen Litis­

pendenz abgewiesen sei.

(Striethorst, Archiv Bd. 30, S. 147.)1)

*) Auch das Erkenntniß vom 9. December 1853 beschränkt die Wirkung des Tenors unter Berücksichtigung der Urtelsgründe. (Striethorst, Archiv

Bd. 11, S. 337.)

389 Dasselbe greift meines Erachtens für die Abweisung angebrachtermaaßen Platz, und danach berichtigt sich die entgegengesetzte Ansicht in

der Jurist. Wochenschrift Sp. 227 (Jahrg. 1846).

Der §. 359. I, 5

A. L. R., die einzige hier relevirende Gesetzesstelle, ist also nicht verletzt. 2) Auch in der andern noch denkbaren Beziehung ist die Verletzung der §§. 286, 287, 359. I, 5 A. L. R. nicht dargethan.

Vorab fiele der Angriff dann zusammen, wenn der zweite Richter

das Liquidat verworfen hatte wegen Beweislosigkeit der dem Liquidat zu Grunde liegenden thatsächlichen Behauptungen.

So indessen ist er meines Erachtens nicht zu verstehen.

Er be-

zeichnet das Liquidat als willkürlich, d. h. er verwirft den vom Ver­ klagten angelegten Maaßstab als unzutreffend.

Weshalb?

sagt er nicht.

Er stellt nur fest,

Nachtheil des Verklagten sei nicht dargethan.

ein entsprechender

Dieses Kriterium ent­

spricht dem §. 286. I, 5 A. L. R., zu welchem sich §. 287 als nähere Ausführung verhält.

Es fehlt also an einem sichern Anhalt dafür, daß der zweite Richter die angeblich verletzten gesetzlichen Vorschriften unberücksichtigt gelassen

habe. hat.

Es ist eben so wenig ersichtlich, daß er sie unrichtig angewendet In den §§. 286, 287. I, 5 und in den dort angeführten §§. 5,

6. I, 6 des A. L. R. sind nur die allgemeinsten Grundsätze über Be­ griff und Maaßstab des Interesses gegeben. bei der Anwendung nicht aus.

Damit allein reicht man

Vielmehr ergeben sich besondere Regeln

aus der Natur der einzelnen Rechtsverhältnisse, abgeleitet allerdings aus jenen Fundamentalbestimmungen, doch nicht aus ihnen allein, sondern

aus gleichzeitiger Berücksichtigung anderweiter, das einzelne Geschäft be­ treffender Rechtsgrundsätze.

Wenn also der zweite Richter den vom Verklagten angelegten Maaß­ stab verwirft, so kann er dazu freilich durch Auslegung der §§. 286 ff.

I, 5 A. L. R. gelangt sein.

Aber er braucht es nicht.

Seine Motive

können der besonderen Natur des Kaufgeschäfts, also dem XI. Titel so

gut wie dem V. Titel des Allgemeinen Landrechts entlehnt sein.

Sie

können endlich auf rein thatsächlichen Erwägungen beruhen, deren Kritik nicht möglich ist, weil wir sie nicht kennen.

Es ist somit unerwiesen, daß er die angezogenen Paragraphen un­

richtig angewendet hat. Die Nichtanwendung läßt sich

haupten.

aus denselben Gründen nicht be­

Daraus folgere ich die Hinfälligkeit der Beschwerde.

Es fragt sich, ob diese Auffassung der Praxis des Königl. Ober­ tribunals entspricht.

Es fehlt nicht an Entscheidungen, welche, gegründet auf §§. 285 ff.,

390 I< 5 des A. L. R., den Maaßstab des Interesses bestimmen und wider­ sprechende Entscheidungen des Vorrichters vernichten.

In allen mir bekannten "Fällen handelt es sich jedoch um unrichtige Anwendung der vom Vorrichter allegirten Gesetzesstellen; so im ^Er­

kenntniß vom 17. November 1857