Umweltpolitik: Grundlagen, Srategien und Ansätze ökologisch zukunftsfähigen Wirtschaftens 9783486793840, 9783486242942

Wirtschafts- und Umweltpolitisches Lehrbuch, das konsequent sowohl die ökologische als auch die ökonomische Zukunftsfähi

121 52 17MB

German Pages 123 [132] Year 1997

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Table of contents :
1. Grundlegende Aspekte vorsorgender Umweltpolitik
1.1 Nachsorge und Vorsorge
1.2 Wissen und Nichtwissen
1.2.1 Informationsmangel
1.2.2 Informationsüberfluß
1.2.3 Ungleiche Informationsverteilung
1.3 Schadstoffkontrolle und Ressourcenentlastung
1.3.1 Die Anthroposphäre als Stoffwechselsystem
1.3.2 Komplementäre Handlungsstrategien
2. Ausgewählte Erfahrungen der bisherigen Umweltpolitik
2.1 Immissionsschutzpolitik
2.2 Chemikalienpolitik
2.3 Abfallwirtschaftspolitik
2.4 Produktpolitik
2.5 Raumbezogene Umweltpolitik
2.5.1 Naturschutz- und Landschaftspflege
2.5.2 Raumordnung
3. Voraussetzungen einer zukunftsfähigen Entwicklung
3.1 Definition der Umweltziele
3.2 Erfassung und Analyse des Status quo
3.2.1 Nationale und supranationale Ebene
3.2.2 Betriebliche Ebene
4. Strategien und Instrumente zur Förderung einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung
4.1 Steigerung der Ressourcenproduktivität
4.1.1 Betriebliches Ressourcenmanagement
4.1.2 Zukunftsfähige Energieversorgung
4.1.3 Recycling und Kaskadennutzung
4.1.4 Einbindung in die Planung
4.2 Steigerung der Suffizienz
4.2.1 Pro- und post-materielle Werte
4.2.2 Neue Leitbilder
4.3 Maßnahmen des Staates
4.3.1 Öffentliches Gut Umwelt
4.3.2 Prinzipien und Grundsätze
4.3.3 Eingriffsinstrumente
5. Literaturverzeichnis
6. Sachwortverzeichnis
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Umweltpolitik: Grundlagen, Srategien und Ansätze ökologisch zukunftsfähigen Wirtschaftens
 9783486793840, 9783486242942

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Lehr- und Handbücher zur Ökologischen Unternehmensführung und Umweltökonomie Herausgegeben von

Dr. Carlo Burschel Bisher erschienene Werke: Birke • Burschel • Schwarz (Hrsg.), Handbuch Umweltschutz und Organisation Bringezu, Umweltpolitik

Umweltpolitik Grundlagen, Strategien und Ansätze ökologisch zukunftsfahigen Wirtschaftens

Von

Dr. Stefan Bringezu

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bringezu, Stefan: Umweltpolitik : Grundlagen, Strategien und Ansätze ökologisch zukunftsfähigen Wirtschaftens / von Stefan Bringezu. - München ; Wien : Oldenbourg, 1997 (Lehr- und Handbücher zur ökologischen Unternehmensführung und Umweltökonomie) ISBN 3-486-24294-6

© 1997 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldesibourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24294-6

Vorwort Umweltpolitik ist längst nicht mehr auf staatliche Regelsetzungen begrenzt. Auch Produzenten und Konsumenten, Umweltverbände, Consulting- und Planungsbüros bestimmen durch ihr Handeln direkt und indirekt das komplexe Wechselverhältnis zwischen Mensch und Umwelt. Auch die Perspektive wandelt sich. Während bislang die nachsorgende Schadensbegrenzung, die Reglementierung kurzfristiger Interessen und der zusätzliche Kostenaufwand für Umweltschutzmaßnahmen im Vordergrund der Debatte standen, wird umweltpolitisches Handeln zunehmend als wesentliches Element einer zukunftsorientierten Entwicklung mit positiver Zielbestimmung verstanden. Es geht nicht mehr nur um den "Schadstoff der Woche" und den dazu passenden Filter, der als Exportschlager in jenen Ländern abgesetzt werden kann, welche die Wirtschaftsweise westlicher Länder nachholen wollen. Es geht immer mehr um die Möglichkeiten, unser Planen und Handeln so auszurichten, daß die Grundlagen unseres Wirtschaftens nicht zunehmend ausgehöhlt, sondern strukturell konsolidiert werden. Der vorliegende Text soll in komprimierter Weise einen Einblick in grundlegende Elemente vorsorgender Umweltpolitik vermitteln. Die Kenntnis unserer Unkenntnis ist dabei ebenso wichtig wie das Wissen um zentrale Wirkungszusammenhänge. Wichtige Aktionsfelder bisheriger staatlicher Umweltpolitik werden beschrieben, um aus ihren Stärken und Schächen zu lernen. Die ökologischen Rahmenbedingungen werden definiert, die den Zielkorridor einer zukunftsfähigen Entwicklung begrenzen. Anhand konkreter Beispiele werden Strategien und Instrumente vorgestellt, mit deren Hilfe auf betrieblicher Ebene Umweltentlastung mit ökonomischem Handeln vereinbart und auf Gemeinschaftsebene ökonomische Anreize genutzt werden können, um eine dauerhaft tragfahige Entwicklung zu unterstützen. Der Text richtet sich an Studierende und Absolventen unterschiedlicher Fachrichtungen. Wirtschafts-, Ingenieur-, Planungs-, Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaftler/innen sind angesprochen, die Interesse haben an einem fachübergreifenden Verständnis für die Probleme und Perspektiven einer ökologischen Zukunftsgestaltung. Die Vorlage geht auf Studienmaterial zurück, das für den weiterbildenden Fernstudiengang Umweltschutz der Universität Koblenz-Landau und in Seminar- und Vorlesungsveranstaltungen an der Technischen Universität Berlin und der Universität Dortmund verwandt wurde. Anregungen und Kommentare zu der vorliegenden Fassung sind herzlich willkommen. Wuppertal Stefan Bringezu

Inhalt 1. 1.1

Grundlegende Aspekte vorsorgender Umweltpolitik Nachsorge und Vorsorge

1 1

1.2 Wissen und Nichtwissen 1.2.1 Informationsmangel 1.2.2 Informationsüberfluß 1.2.3 Ungleiche Informationsverteilung

5 6 19 21

1.3 Schadstoffkontrolle und Ressourcenentlastung 1.3.1 Die Anthroposphäre als Stoffwechselsystem 1.3.2 Komplementäre Handlungsstrategien

24 24 27

2. 2.1

Ausgewählte Erfahrungen der bisherigen Umweltpolitik Immissionsschutzpolitik

30 31

2.2

Chemikalienpolitik

35

2.3 2.4

Abfallwirtschaftspolitik Produktpolitik

40 44

2.5 2.5.1 2.5.2

Raumbezogene Umweltpolitik Naturschutz- und Landschaftspflege Raumordnung

48 49 51

3. 3.1

Voraussetzungen einer zukunftsfähigen Entwicklung Definition der Umweltziele

56 56

3.2 Erfassung und Analyse des Status quo 3.2.1 Nationale und supranationale Ebene 3.2.2 Betriebliche Ebene 4.

Strategien und Instrumente zur Förderung einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung

63 64 74

79

4.1 Steigerung der Ressourcenproduktivität 4.1.1 Betriebliches Ressourcenmanagement 4.1.2 Zukunftsfähige Energieversorgung

81 81 87

4.1.3 Recycling und Kaskadennutzung 4.1.4 Einbindung in die Planung

90 91

4.2 Steigerung der Suffizienz 4.2.1 Pro- und post-materielle Werte 4.2.2 Neue Leitbilder

93 94 97

4.3

Maßnahmen

4.3.1

Öffentliches Gut Umwelt

des Staates

100 100

4.3.2 Prinzipien und Grundsätze

101

4.3.3 Eingriffsinstrumente

103

5.

Literaturverzeichnis

113

6.

Sachwortverzeichnis

121

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

1

1. Grundlegende Aspekte vorsorgender Umweltpolitik Die Umweltschutzmaßnahmen, die in den siebziger und achziger Jahren in Deutschland und anderen Industrieländern verfolgt wurden, waren insofern erfolgreich, als sie die Probleme, deren Eindämmung sie zum Ziel hatten, auch tatsächlich vermindern konnten. So wurde die Belastung der Luft durch Minderungsmaßnahmen bei den Emissionen reduziert, und die Gewässerqualität stieg mit erhöhten Anforderungen an die Einleitungen. Dennoch tauchten neue Probleme auf, wie z.B. der Treibhauseffekt und das Ozonloch, die aufgrund ihrer globalen Dimension die Möglichkeiten nationaler Maßnahmen von vorneherein begrenzen. Dazu kommt, daß die bekannten Probleme (Versauerung von Böden, Überdüngung und Überfischung der Meere, Übernutzung nachwachsender Rohstoffe in den Ländern des Südens, zunehmende Bebauung und Versiegelung von Fläche, Artensterben usw.) letztlich nur Symptome einer Wirtschaftsweise sind, welche die Belastbarkeit der natürlichen Lebenserhaltungssysteme überschreitet. Dabei war die Herangehensweise in der Vergangenheit - auch aufgrund des anstehenden Problemdrucks - in der Regel re-aktiv, d.h. man reagierte auf einen bereits entstandenen Schaden, den man künftig vermeiden wollte. Um die Entwicklung von einem eher symptomorientierten und re-aktiven Umweltschutz hin zu eher ursacheorientiertem pro-aktivem Handeln und zu echter Vorsorge zu verstehen, sollen in Kapitel 1 zunächst die Merkmale und Voraussetzungen nachsorgenden und vorsorgenden Umweltschutzes betrachtet werden. Sodann werden die Schwierigkeiten näher beleuchtet, die verschiedenen Wirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt zu erfassen. Da die meisten Wirkungen stofflich vermittelt sind und viele Umweltbelastungen durch die Art und den Umfang der vom Menschen umgesetzten Stoffströme bestimmt werden, wird dann der Stoffaustausch zwischen Anthroposphäre und Bio-Geosphäre systematisch betrachtet. Das Verständnis dieser Zusammenhänge bildet die Grundlage für die Bewertung von Beispielen bisheriger Umweltpolitik in Kapitel 2 und die Ableitung notwendiger Voraussetzungen für eine ökologisch tragfähige Entwicklung in Kapitel 3. Darauf aufbauend werden in Kapitel 4 einige Strategien und Instrumente vorgestellt, mit deren Hilfe ein ökologischer Strukturwandel eine vorsorgende Umweltpolitik umgesetzt werden kann.

1.1 Nachsorge und Vorsorge Idealtypisch lassen sich zwei Grundstrategien umweltorientierten Handelns unterscheiden: (a) Die Nachsorge wird bestimmt durch Reagieren und Sanieren. Gehandelt wird, nachdem ein Schaden bereits eingetreten ist, mit dem Ziel, den Schaden zu beheben.

2

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

(b) Die Vorsorge wird bestimmt durch Vorwegnehmen und Vermeiden. Gehandelt wird, bevor ein Schaden eingetreten ist, mit dem Ziel, diesen gar nicht erst eintreten zu lassen. Die Trennung der beiden Ansätze unterliegt in der Praxis einer gewissen Willkür, da es zwischen den Extremen verschiedene Übergänge gibt, und eine definitorische Festlegung von der Bewertung dessen, was als Schaden angesehen wird, abhängt. Letztere ist - nicht zuletzt aufgrund eines vermehrten Wissens über Wirkungszusammenhänge - einem Wandel der Perspektive unterworfen. So weist Prittwitz (1988) darauf hin, daß das "Vorsorge-Prinzip" zwar bereits im Umweltprogramm der Bundesregierung im Jahre 1971 neben dem "Verursacher-" und dem "Kooperationsprinzip" festgeschrieben wurde 1 . Es wurde im Bundes-Immissionsschutz-Gesetz von 1974 als eigener Paragraph verankert. In der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA Luft) wurde die "Vorsorge" jedoch im einzelnen auch auf Instrumente bezogen, die nach heutigem Wissen nur zu einer Verlagerung von Umweltschäden beitragen, so z.B. die "Ableitung von Schadgasen" über (hohe) Schornsteine. Durch diese Maßnahmen wurde einer zu hohen Immissionskonzentration im betrachteten Gebiet vorgebeugt. Der "Schaden" war hier also lokal und zeitlich eng definiert worden. Das Vorsorgeprinzip wurde in der Folge - nach der gesellschaftlichen Beachtung des großflächigen Waldsterbens - auch als Begründung für die Einführung von End-of-Pipe-Technologien (Rauchgasentschwefelung etc.) angeführt. Da man mittlerweile erkannt hat, daß diese Technologien keine ursächliche Umweltentlastung bewirken, werden sie heute eher den nachsorgenden Strategien zugerechnet. In Anlehnung an Jänicke (1988) können die Hauptstrategien folgendermaßen umschrieben werden: • Ökologische Nachsorge ist es, wenn Umweltprobleme als Folge der Handlungen von gestern heute entdeckt werden und morgen auf Gegenmaßnahmen treffen, die übermorgen wirken. Tendenziell handelt sich dabei um eine eher ineffektive, kostenträchtige, volkswirtschaftlich eher unproduktive und wenig innovative Strategie, die Problemursachen nicht ändert, sondern zur Wachstumsbedingung einer Entsorgungstechnokratie werden läßt, und damit neue Probleme schafft. • Ökologische Vorsorge (Prävention) hingegen ist es, die Rahmenbedingungen des Handelns so zu setzen, daß bereits die Planung einer Investitionsentscheidung umweltfreundlich und ressourcenschonend beeinflußt wird. Bei dieser Strategie werden Rohstoffkosten und Umweltschutzkosten minimiert, die wirtschaftliche Produktivität und technische Innovationsrate erhöht und mögliche Problemursachen beseitigt oder vermieden.

' Bundesministerium des Innern (Hrsg.) 1973: Das Umweltprogramm der Bundesregierung.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

3

Jänicke (1988) unterscheidet vier umweltpolitische Strategien, zwei nachsorgende und zwei vorsorgende: 1) die Reparatur bzw. Kompensation nicht verhinderter Umweltschäden aufgrund umweltbeeinträchtigender Produktionsprozesse und Produkte; 2) die Entsorgung, die an sich umweltbeeinträchtigende Produktionsprozesse und Produkte durch Zusatzmaßnahmen umweltpolitisch akzeptabel macht; 3) die ökologische Modernisierung, die vorhandene Produktionsprozesse und Produkte durch technische Innovationen umweltfreundlicher gestaltet; 4) die Strukturveränderung als Substitution umweltproblematischer Formen von Produktion und Konsum durch ökologisch angepaßtere Formen.

Nachsorge Reparatur und Kompensation von Umweltschäden

B E 1 S P 1 E L E

Tabelle 1988).

Kompensation von Lärmschäden Kompensation von Waldschäden Beseitigung von IndustriemüllSchäden

Vorsorge

Entsorgung: Additive Umwelttechnik

Modernisierung: Verbesserung bestehender Technologien

Lärmschutzwände

leisere Motoren

Rauchgasentschwefelung von Kraftwerken

rationellere Energieumwandlung in Kraftwerken

Müllverbrennung

Abfall-Recycling

1.1. Modell und Beispiele

Strukturveränderung veränderte Verkehrsstrukturen stromsparende Formen von Produktion und Konsum abfallärmere Wirtschaftsformen

umweltpolitischer Strategien (nach

Jänicke

Die in Tabelle 1.1 veranschaulichten Strategietypen entspechen einem Kontinuum zwischen den Extrempunkten weitestgehender Vorsorge und äußerster Nachträglichkeit der korrigierenden Maßnahme, das Übergangsformen einschließt. Historisch gesehen hat Umweltschutz überall mit einer Phase verstärkter Schadenskompensation begonnen. Entscheidend ist die Frage, inwieweit es gelingt, über diese Phase hinauszukommen. Doch selbst im Optimalfall umweltpolitischer Vorsorge wird auf Formen des nachgeschalteten Umweltschutzes nicht gänzlich verzichtet werden können. Daher wird es immer einen gewissen Strategie-Mix geben. Präventiver Umweltschutz ist somit durch das Ziel bestimmt, die Schadenskompensation von vorneherein auszuschließen und entsorgenden Umweltschutz zu minimieren. Neben einer eher pro-aktiven als re-aktiven Handlungsweise zeichnet sich vorsorgender Umweltschutz auch durch einen längerfristigen Zeithorizont und eine größere Wirkungstiefe aus als nachsorgende Aktionen.

4

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Während Maßnahmen der Gefahrenabwehr der Minimierung eines akuten Problems gelten und damit einen kurzen Zeithorizont aufweisen (Fietkau 1988), sind vorbeugende Strategien auf eine längerfristige Stabilisierung des Handlungsumfeldes ausgerichtet, in dem die Notwendigkeit ständig neuer "Feuerlöschmaßnahmen" weitestgehend minimiert wird. Damit kommt der Verfolgung vorsorgender Strategien gerade im Hinblick auf die Umsetzung einer global zukunftsfähigen Entwicklung ("sustainable development") eine besondere Rolle zu, da es hierbei um das Einschwenken in eine auf Dauer durchhaltbare Wirtschafts- und Lebensweise geht (siehe Kap. 3). Ein wesentliches Charakteristikum vorsorgender Maßnahmen ist ihre Wirkungstiefe (Prittwitz 1988). Während nachsorgende Strategien i.d.R. an den Symptomen eines Problems ansetzen, versucht man in Verfolgung vorsorgender Handlungsoptionen, möglichst die Ursachen des Problems zu vermeiden und auch damit gekoppelte andere Probleme zu vermeiden. Beispielsweise kann man als Alternative zur spezifischen Ausfilterung von Schadstoffen aus Abgasen bei der Energieumwandlung in Kraftwerken durch eine bessere Prozeßsteuerung den Einsatz von Brennstoffen reduzieren, so daß mehrere Schadstoffemissionen gleichzeitig vermindert werden. Sollen die zusätzlichen Umweltbelastungen durch die vor- und nachgelagerten Prozesse der Förderung und des Transports fossiler Brennstoffe, der Errichtung, des Unterhalts und des Abrisses des Kraftwerkes reduziert werden, so kann dies durch eine Verminderung der Nachfrage nach Endenergie (z.B. durch den Einsatz von energiesparenden Lampen und Elektrogeräten) erreicht werden. Die genannten Beispiele illustrieren auch, daß als Akteur des vorbeugenden Umweltschutzes nicht mehr allein der Staat angesehen werden kann (welcher geschichtlich in erster Linie der Gefahrenabwehr verpflichtet ist), sondern daß Produzenten und Konsumenten einbezogen werden müssen, wenn systemweite dauerhaft umweltentlastende Lösungen angestrebt werden. Vorsorgende Strategien können dabei nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn zwei grundlegende Voraussetzungen erfüllt sind: 1) Die Akteure verfügen über Zielvorstellungen und legen Wertmaßstäbe an ihr Handeln, die den langfristigen Schutz der Umwelt mit einbeziehen. 2) Die Akteure verfügen über hinreichende Informationen über die Zusammenhänge zwischen aktuellen oder geplanten Aktivitäten und den damit verbundenen möglichen Umweltproblemen. Diese Informationen müssen so gestaltet sein, daß sie richtungssichere Entscheidungen erlauben, und sie müssen - in Reflexion mit den Wertmaßstäben - die Notwendigkeit und Angemessenheit des Handelns plausibel machen.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

5

Individuen und Gesellschaften verfügen über Zielvorstellungen und Wertmaßstäbe aus den verschiedensten Bereichen. Damit kann die umweltbezogene Bewertung von Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten stets nur ein Teil einer Gesamtbewertung sein, in die z.B. soziale und ökonomische Faktoren mit einbezogen werden. Dabei wird stets eine Entscheidungshierarchie verfolgt, die zunächst den kurzfristigen Notwendigkeiten und erst danach den langfristigen Erfordernissen Rechnung trägt. Beispielsweise hätte es wenig Sinn, Menschen, die in Ländern des Südens Holz für Kochzwecke einschlagen, den Schutz der Wälder nahezubringen, ohne für die Deckung der unmittelbaren Bedürfnisse praktikable Alternativen aufzuzeigen (z.B. Solarkocher). In ähnlicher Weise ist es in den Industrieländern schwierig, in einem Umfeld hoher akuter Arbeitslosigkeit längerfristige Perspektiven einer zukunftsfähigen Wirtschaftsweise zu verfolgen, wenngleich auf Dauer nur solche Arbeitsplätze ökologisch abgesichert sind, die mit einer möglichst geringen strukturellen Umweltbelastung verbunden sind. So wie die Bewertung sozialer, ökonomischer und ökologischer Faktoren individuell und gesellschaftlich zusammenfließen, bedingen sich Fortschritte auf den jeweiligen Gebieten gegenseitig. Ohne soziale und ökonomische Absicherung ist kein dauerhafter Umwelterhalt möglich, und ohne Umwelterhalt erübrigt sich eine soziale und ökonomische Absicherung. Auf Nachhaltigkeit angelegter vorsorgender Umweltschutz bedingt daher auch die Einhaltung von Mindestanforderungen im sozialen und ökonomischen Bereich. Diese ganzheitliche Sichtweise ist eine wesentliche Grundlage und Voraussetzung für die Umsetzung des Konzepts der zukunftsfahigen Entwicklung (siehe Kap. 3). Da wesentliche Hindernisse bei der Verfolgung vorsorgender Umweltschutzstrategien darin liegen, daß die Akteure nicht über die nötigen Informationen verfügen, soll diesem Aspekt im folgenden nähere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

1.2 Wissen und Nichtwissen Die wichtigsten Informationsrestriktionen in der Umweltpolitik lassen sich in drei Gruppen einteilen (Keck 1988): (1) Informationsmangel oder Unwissen: Unser Wissen über die Zusammenhänge von Technologien, Produktionsprozessen, Konsumptionsweisen, Produkten und Dienstleistungen einerseits und ihre verschiedenen Wechselwirkungen mit der Umwelt andererseits sind begrenzt; (2) Beschränkte Kapazität des Menschen zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen: Um Entscheidungen zu ermöglichen, müssen Informationen hinreichend einfach sein; (3) Asymmetrische Informationsverteilung: Nicht alle Akteure haben den gleichen Informationsstand.

6

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

1.2.1 Informationsmangel Vorausschauendes Handeln bedarf eines hinreichenden Wissens um die möglichen Folgen. Geht man davon aus, daß bestimmte Aktivitäten zu bestimmten Wirkungen führen, so sind zur retrospektiven Beschreibung der Zusammenhänge und zur prospektiven Abschätzung von Risikopotentialen Informationen erforderlich über: • die möglichen Einwirkungen auf die Umwelt, • die Beurteilung der Gefährlichkeit bestimmter Wirkungen, • das Ursache-Wirkungsgefüge von der Aktivität bis zum möglichen Schaden, • Belastungspotentiale bestimmter Aktivitäten. Die möglichen

Einwirkungen

auf die

Umwelt

Das Wissen um die möglichen Einwirkungen auf die Umwelt ist begrenzt. Die bekannten umweltbelastenden Wirkungen lassen sich nach ihren Wirkungsmechanismen folgendermaßen einteilen: A. Stoffliche Wirkungen 2 • Toxische Effekte: Ein in die Umwelt abgegebener Stoff verteilt sich so, daß er in einer Konzentration vorliegt, die für bestimmte Organismen über der tolerablen Schwelle liegt und zu bestimmten akuten oder chronischen Schädigungen führt. Zu den (öko-)toxischen Wirkungen im weiteren Sinne gehören auch Strahlungsschäden durch radioaktive Substanzen. • Wirkungen auf den Ernährungszustand: Ein zusätzlicher Eintrag von Nährstoffen (z.B. Stickstoffverbindungen über die NO x -Emissionen des Straßenverkehrs) führt zu einer Überdüngung und damit zu einer Verschiebung des natürlichen Artenspektrums; neben diesem "positiven" Nähreffekt kann auch ein "negativer" Effekt auf den Ernährungszustand erfolgen, wenn z.B. im Umfeld von Tagebauen der Grundwasserspiegel großflächig abgesenkt wird, es dort zu Wasserstreß und in der Folge zu einer Veränderung von Flora und Fauna kommt. • Mechanische Zerstörung: Bei jeder Baumaßnahme, jeder Einrichtung einer Abbaufläche und Neuanlage eines Ackers wird das Inventar der jeweiligen Fläche an Organismen meist vollständig zerstört und der Boden unmittelbar bzw. mittelbar (z.B. durch Erosion bewirtschafteter Flächen) verfrachtet. • Wirkung auf biotische Strukturen: Auf ökosystemarer Ebene kann es z.B. durch die Zerschneidung natürlicher Habitate infolge von Baumaßnahmen insbesondere des Verkehrs zu einer Verminderung der Biodiversität kommen. Auf zellulärer Ebene kann es durch die gezielte Veränderung von Erbsubstanz infolge von anschließenden Austausch- und Neukombinationsprozessen u.a. zur Entstehung neuer Organismen - in erster Linie Mikroorganismen - kommen. Die Auswirkungen auf höhere Organismen und deren Lebensgemeinschaften sind noch völlig ungewiß.

2

Stoffe oder Materie sind hierbei direktes Agens oder Träger bzw. Vermittler des schädigenden Einflusses

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte



7

Physiko-chemische Wirkungen: Als Beispiele seien hier genannt der anthropogene Treibhauseffekt infolge der vermehrten Absorption von Wärmestrahlung in der Atmosphäre aufgrund erhöhter Konzentrationen von Kohlendioxid und Wasserdampf infolge der Verbrennung fossiler Energieträger; der Abbau von stratosphärischem Ozon (das die gefährliche UV-Strahlung der Sonne absorbiert) durch langlebige Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW); und die großflächige Versauerung des Untergrundes im Umfeld von Abraumhalden des Bergbaus, bei dem sulfidische Minerale an die Oberfläche gelangen, dort durch den Luftsauerstoff oxidiert werden, und mit dem Regenwasser zu schwefeliger Säure reagieren (ein Vorgang der weltweit erhebliche Ausmaße erreicht).

B. Energetische Wirkungen: • Beispielsweise kann die Abwärme von Kraftwerken, die ihr Kühlwasser wieder in Oberflächengewässer einleiten, zu einem veränderten Stoffumsatz im Gewässer und zu einer Verschiebung des Artenspektrums führen. C. Akustische Wirkungen: • Je nach Häufigkeit, Frequenz und Schallpegel kann Lärm bei Menschen und anderen Organismen zu erheblichen Beeinträchtigung des Wohlbefindens und der Gesundheit führen. Häufige direkte Ursache ist der Straßenverkehr. Betrachtet man die Erfassungs- und Bewertungskriterien für die verschiedenen Wirkungen, so wurden diese fast immer im nachhinein ermittelt, d.h. wenn bereits ein Schaden aufgetreten war bzw. sich eine Umweltveränderung manifestiert hatte, die als schädlich bewertet wurde. Es ist davon auszugehen, daß die bekannten Wirkungen nur einen Teil der tatsächlich vom Menschen verursachten Umweltveränderungen darstellen, und daß man die künftigen Wirkungen des heutigen Handelns erst mit einer mehr oder weniger großen Verzögerung wahrnehmen wird. Dazu kommt, daß wiederum nur für einen Teil der bekannten Wirkungen Testverfahren zur reproduzierbaren Analyse, z.B. über Dosis-Wirkungs-Beziehungen, zur Verfügung stehen. Eine vorausschauende Beurteilung der Wirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt wird auch dadurch erschwert, daß es generell unmöglich ist, alle möglichen Auswirkungen einer bestimmten Aktivität zu prognostizieren. Eine wissenschaftliche Prognose besteht darin, das Eintreten eines bestimmten Ereignisses mit Hilfe mindestens einer Gesetzmäßigkeit oder Regel und mindestens einer durch Beobachtung festgestellten Randbedingung vorauszusagen. Daher sind für eine Prognose Kenntnisse über die Randbedingungen erforderlich, welche für die Entwicklung bis zum Eintritt der Vorhersage und für den Zeitpunkt des Eintritts typisch sind. Wenn sich diese Bedingungen auf die Zukunft beziehen, müssen sie selber wiederum

8

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

vorhersagbar sein. Damit tritt auf einer zweiten und jeder weiteren Stufe das gleiche Prognoseproblem auf und führt schließlich in einen unendlichen Prognoseregress. Damit ergibt sich bereits aus erkenntnistheoretischen Überlegungen, daß es grundsätzlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, die für ein wirklich vorsorgendes Handeln eigentlich erforderlichen Informationen zu erhalten. In der Praxis geht man mit dieser Begrenztheit des Wissens in zweierlei Weise um: A. Das Wissen um die bekannten Wirkungen wird genutzt, um bezogen auf eine bestimmte Auswahl an Wirkungen, die man als prioritär einstuft, zu Empfehlungen und Handlungen zu gelangen, welche diese (und nur diese) in der Zukunft vermeiden oder vermindern sollen. Dieser Ansatz ist damit eine wichtige Voraussetzung, bekannte Umweltprobleme präzise zu beschreiben und spezifische Gegenmaßnahmen zu planen. Generell bleibt er jedoch immer re-aktiv und damit nachsorgend. Er birgt zudem die Gefahr der Verlagerung von Umweltproblemen (in die nicht beachteten bzw. ausgewählten Bereiche). B. Es werden allgemeine Wirkungspotentiale bestimmter Aktivitäten abgeschätzt, die das Risiko schädlicher Wirkungen größenordnungsmäßig beschreiben sollen. Ein solcher Ansatz kann keine einzelnen Umweltprobleme präzise beschreiben. Unter den jeweiligen Randbedingungen können jedoch Informationen verfügbar gemacht werden, die für das betrachtete System richtungssichere3 Entscheidungen erlauben. Im nächsten Abschnitt wird zunächst auf wesentliche Aspekte des ersten Ansatzes (A) eingegangen. Dessen Grenzen liegen insbesondere in den vielfach nicht abschätzbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen, wodurch der zweite Ansatz (B) an Bedeutung gewinnt. Die Beurteilung

der Gefährlichkeit

bestimmter

Wirkungen

Welches Ausmaß an Umweltveränderung toleriert wird, welche Veränderung als Schaden oder sogar als Vorteil eingestuft wird, unterliegt einer subjektiven Einschätzung, die von individuellen Wertmaßstäben und der jeweiligen Wahrnehmungsfähigkeit abhängt. Auch gesellschaftlich vereinbarte Grenzwerte oder Umweltqualitätsziele sind stets das Ergebnis eines Abwägungsprozesses. In diesen fließen nicht nur das Wissen über naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge ein, sondern auch die Einschätzung bestimmter Risiken, und die Bewertung möglicher Auswirkungen im Hinblick auf kurz- und langfristige Zielvorstellungen. Mit Hilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse kann also zunächst nur geklärt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Umweltveränderungen infolge bestimmter Handlungen zu erwarten sind. Wie diese Wirkungen zu beurteilen sind, kann naturwissenschaftlich nicht beantwortet werden. Dazu sind individuelle und gesellschaftliche Entscheidungen nötig, in die subjektive bzw. normative Bewertungen einfließen. 3

siehe Schmidt-Bleek 1994.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Kosten, Kosteneffektivität, wirtschaftl. Nutzen

ra

5

Politische, juristische, administrative Faktoren

9

Technische Faktoren und Durchführbarkeit Entwicklung praktikabler Möglichkeiten

Allgemeine,^ und individuelle^ Wahrnehmung von Risiko und/ Entwicklung Nutzen akzeptabler Möglichkeiten ' A l l g e m e i n e /

Öffentliche, 'gewerkschaftliche, industrielle v u.a. Interessen gruppen

ethische, soziale und politische Faktoren

Mi

UmsetzungX der \ bevorzugten \

fy

Bild 1.1. Elemente der Risikoanalyse und des Risikomanagements (nach Schmidt 1989).

Um dennoch zu weitgehend objektivierbaren Entscheidungsgrundlagen zu gelangen, wird generell versucht, Bewertung und Analyse möglichst zu trennen. Dabei wird jedoch häufig übersehen, daß bewertende Argumente nicht nur nach Vorlage einer wissenschaftlichen Analyse, z.B. von seiten der Öffentlichkeit, vorgebracht werden, sondern daß diese bereits a priori in jede wissenschaftliche Analyse, und zwar in deren Grundannahmen, einfließen. Denn bereits die Auswahl der Fragestellung und der zu untersuchenden Objekte (z.B. bestimmter Schadwirkungen) stellt eine (Vor-) Bewertung dar (die z.B. dazu führen kann, daß bestimmte andere Aspekte außer acht gelassen werden).

10

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Die Grundannahmen und Fragestellungen jeder Untersuchung und jedes Gutachtens sollten daher jeweils explizit dargestellt werden, um den Geltungsbereich der getroffenen Aussagen besser beurteilen zu können. Wenn sich bestimmte Untersuchungen auf bestimmte ausgewählte Umweltprobleme konzentrieren, so ist dies völlig legitim, wenn dies in bewußter Auswahl und in Abstimmung mit den Beteiligten erfolgt. Ist eine Vorbewertung über bestimmte als wichtig erachtete Umweltprobleme bereits erfolgt, so können die damit verbundenen Risiken mithilfe von Verfahren der Riskoanalyse untersucht und durch Maßnahmen eines Risikomanagements möglichst eingedämmt werden (Bild 1.1). Diese Verfahren sind vor allem für den Bereich der Chemikalienbewertung seit längerem etabliert. Soll das Risiko abgeschätzt werden, das mit einer bestimmten Substanz für Mensch und Umwelt verbunden ist, so umfaßt die Risikoanalyse mehrere Schritte (Schmidt 1989): (1) Gefahrenermittlung: Es muß festgestellt werden, welche der bekannten schädlichen Wirkungen der Stoff auf die ausgewählten Schutzobjekte haben kann; (2) Belastungsabschätzung (Expositionsanalyse): Es wird hochgerechnet oder empirisch untersucht, welche Konzentration der Substanz in Umwelt- oder Körpermedien des Menschen oder anderer Organismen zu erwarten bzw. zu finden ist; (3) Wirkungsanalyse: Auf der Basis von (öko-)toxikologischen Tests oder epidemiologischen Erkenntnissen wird versucht, Dosis-Wirkungs-Beziehungen zu quantifizieren (siehe Bild 1.2); (4) Risikobeschreibung: Die Ergebnisse der Expositions- und Wirkungsanalyse werden zusammengefaßt, um unter den gewählten Randbedingungen das resultierende Risiko für die jeweiligen Schutzobjekte zu bestimmen. Diese vier Schritte der Risikoanalyse konzentrieren sich auf naturwissenschaftliche Methoden. Eine Bewertung fließt - wie oben dargestellt - im wesentlichen nur a priori in die Auswahl der Substanz (nach Wichtung oder Vermutung möglicher Wirkungen) der betrachteten Schutzobjekte (wobei letztere ggfs. über Schutzgüter rechtlich definiert sein können) und der Testparameter (insbes. die Auswahl der Testorganismen) ein. Auf dieser Basis werden reproduzierbare Testergebnisse z.B. im Bereich der Chemikalienbewertung analysiert und auf ihre Validität und Plausibilität überprüft (siehe Kap. 2.2). In den Bereich des Risiko-Managements fließen dann zusätzliche Bewertungen ein, mit deren Hilfe nicht nur praktikable sondern auch akzeptable Möglichkeiten der Minderung der verschiedenen Risiken eruiert werden (Schmidt 1989). Einer der Faktorenkomplexe, die hierbei eine Rolle spielen, ist die allgemeine und individuelle Einschätzung, welches Risiko akzeptabel erscheint. Die Akzeptanzfrage berührt u.a. soziale, wirtschaftliche und ethische Wertungen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Risikowahrnehmung.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

11

Mortalität [%] 100

50

0 lc5o

LC

100

Schadstoffkonzentration

Bild 1.2. Schematisches Beispiel einer Dosis-Wirkungs-Beziehung zur Abschätzung der Wirkung ökotoxischer Substanzen in Abhängigkeit ihrer Konzentration im Testmedium. Als Kennwerte werden die Konzentrationen angegeben, oberhalb derer die Mortalität einsetzt (LCo), bei der 50 % der Versuchsorganismen gestorben sind ( L C 5 0 ) , und oberhalb derer alle Versuchstiere nicht überlebten (LC-ioo)- Je nach Substanz und Organismus variiert der Verlauf der Dosis-Wirkungs-Kurve. Insbesondere die Höhe der Kennwerte kann sich bei der gleichen Testsubstanz bei unterschiedlichen Organismen um mehrere Zehnerpotenzen unterscheiden (vgl. Rudolph und Boje 1986).

Schmidt (1989) weist darauf hin, daß obwohl wir oft zwischen gefährlichen und weniger gefährlichen Situationen, etwa im Straßenverkehr unterscheiden können, wir kaum in der Lage sind, unterschiedliche Risiken, insbesondere wenn sie sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken, mental abzuschätzen. Auf jeden Fall unterliegen die Risikowahmehmung und die Aktzeptanz anderen Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten als die versicherungstechnische Defininition von Risiko. So wird allgemein ein Unfallrisiko mit 100 Toten und einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 10"3 pro Jahr als schlimmer empfunden als ein Risiko mit einem Toten und einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 10" 1 pro Jahr. Rechnerisch sind beide Risiken allerdings gleich. Risikowahrnehmung und Akzeptanz hängen von vielen qualitativen Einflüssen ab: - der Freiwilligkeit bzw. dem Zwang zu einem Risiko, - dem Nutzen, der aus einem Risiko resultiert, - der Höhe des erwarteten Schadens, - der Häufigkeit des Schadensereignisses (selten - alltäglich),

12

-

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

der Möglichkeit, Risikoquellen zu erkennen und zu verstehen, der individuellen Kontrollierbarkeit des Risikos und der Möglichkeit zur eigenen Schadensabwehr.

Unbekannte

Ursache-Wirkungs-Gefüge

Um Verbesserungsmaßnahmen für bestimmte Umweltprobleme planen und umsetzen zu können, müssen diese den verschiedenen Akteuren und Aktivitäten zuordenbar sein. Würde man von verschiedenen Schäden bzw. Wirkungen ausgehen, so müßten diese bis zu der sie jeweils auslösenden Aktivität zurückverfolgt werden. Dies ist allerdings nur in Einzelfällen und mit großem Aufwand möglich. Die Gründe hierfür liegen zum einen in den komplexen Wechselwirkungen in der Natur. Veränderungen an einer Stelle können sich an ganz andere Stelle und zu einem anderen Zeitpunkt ergeben. Die zur Verfügung stehenden Test- und Abschätzverfahren für Dosis-Wirkungs-Beziehungen stützen sich auf ausgewählte Testorganismen (z.B. werden bestimmte Arten von Fischnährtieren zur Testung der aquatischen Toxizität herangezogen) und physikalisch-chemische Kontrollparameter (z.B. die Absorption langwelliger Strahlung von Substanzen mit Treibhausgaspotential). Damit kann immer nur ein Teil der Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Die möglichen Wirkungen z.B. des Eintrags von Schadstoffen erstrecken sich jedoch nicht nur auf einzelne Spezies, sondern auf ganze Ökosysteme, deren verschiedene Funktionen weit komplexer sind als die Addition einer bestimmten Artenzahl in einem Areal es erscheinen läßt. So ist es aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit verschiedener Populationen untereinander und von ihrem Milieu kaum möglich, die Wirkungen des Eintrags oder der Entnahme einer bestimmten Stoffmenge auf die längerfristige Artenzusammensetzung und die Stabilität und Belastbarkeit des Gesamtsystems vorherzusagen (Rudolph und Boje 1986). Und auch die Veränderungen der dynamischen Gleichgewichte der unbelebten Natur sind meist so komplex, daß die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Effekte (z.B. des Anstiegs des Meeresspiegels in einem bestimmten Zeitraum bei einer bestimmten Emission an Treibhausgasen) mit sehr vielen Unwägbarkeiten verbunden ist. Dabei spielt es auch eine große Rolle, daß viele Zusammenhänge nicht linear verlaufen, sondern daß sich beim Zusammenbrechen eines wesentlichen Gleichgewichtes sprunghafte Veränderungen im gesamten Umfeld ergeben können. Ein Beispiel dafür ist das "Umkippen" von Gewässern (d.h. das Absterben der Sauerstoff atmenden Organismen darin), wenn die Pufferkapazität durch den Eintrag von Säureäquivalenten (z.B. infolge von SC>2-Einträgen) erschöpft ist. Beobachtet wurde dieser Vorgang u.a. beim Großen Elchsee in Nordamerika (Bild 1.3).

Erstes Kapitel: Grandlegende Aspekte

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Mio t S/a

Bild 1.3. Die Einwirkungen auf die Natur werden aufgrund nichtlinearer Reaktionen häufig erst nach längerer Zeit offenkundig und spürbar. Es dauerte über ein halbes Jahrhundert, bis der Große Elchsee durch den Eintrag von Saurem Regen umkippte (Beispiel von W. Stigliani in Weizsäcker 1992).

Die Komplexität der Wirkungszusammenhänge in natürlichen Ökosystemen findet ihre F o r t s e t z u n g innerhalb des vom Menschen kontrollierten Bereichs, der Anthroposphäre. Von der einzelnen Handlung (z.B. in einem Produktions- oder Konsumptionsprozeß) bis zur jeweils damit verbundenen Interaktion mit der Umwelt besteht eine für den einzelnen meist völlig unübersehbare Prozeßkette innerhalb eines noch weniger überschaubaren Netzwerkes miteinander verknüpfter, vor- und nachgelagerter Prozesse (Bild 1.4). Eine gegenseitige Zuordnung von bestimmten Aktivitäten und definierten Wirkungen wird dadurch erschwert, daß • die gleichen Wirkungen durch unterschiedliche Aktivitäten zustande kommen können (z.B. eine Förderung des Treibhauseffektes durch das Verbrennen fossiler Energieträger bzw. die Emission von Methan aus Rindermägen); • die gleichen Aktivitäten verschiedene Wirkungen auslösen können (z.B. ist die Verbrennung von Braunkohle nicht ohne eine Devastierung der Abbauflächen, eine Erhöhung des Treibhauseffektes, den Ressourcenverbrauch für die Errichtung der Versorgungsinfrastruktur u.a.m. möglich).

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Bild 1.4. Schematisierter Ausschnitt der Prozeßketten, die mit der Herstellung eines Produktes für eine bestimmte Dienstleistung verbunden sind (Lehmann et al. 1993).

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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Den Unwägbarkeiten bei der Ermittlung, Bewertung und Zuordnung bestimmter Umweltwirkungen versucht man in der umweltbezogenen Forschung in zwei Hauptrichtungen zu begegnen (wobei es viele Zwischenstufen der beiden Extreme gibt), indem einerseits das Wissen um die möglichen Wirkungen vermehrt wird ("Wirkungsforschung", z.B. über die Folgen von Klimaveränderungen), und indem andererseits den Aktivitäten nachgespürt wird, die für wesentliche Umweltbelastungen verantwortlich sind ("Ursachenforschung", z.B. über bestimmte Produktions- und Konsumptionsweisen). Während im ersten Fall das natürliche Ökosystem im Vordergrund steht, liegt das Hauptinteresse im zweiten Fall bei den Vorgängen innerhalb der Anthroposphäre. Im folgenden wird mit Blick auf die Entwicklung vorsorgender Strategien des Umweltschutzes hauptsächlich auf die Ansätze des zweiten Schwerpunktes eingegangen. Belastungspotentiale

bestimmter

Aktivitäten

Ursache-Wirkungs-Gefüge beziehen sich innerhalb der Anthroposphäre auf den Zusammenhang von Aktivitäten und ihren Folgen. Eine Aktivität kann dabei ein Prozeß bei der Herstellung, beim Verbrauch oder beim Recycling bzw. bei der Entsorgung sein. Eine Folge ist die damit direkt oder indirekt verbundene Konsequenz, die sich qualitativ oder quantitativ diesem Prozeß zuordnen läßt. Um prospektive Aussagen zu ermöglichen, werden häufig Wirkungs/joieni/a/e bestimmt, welche dann den einzelnen Prozessen zugeordnet werden, um z.B. mehr oder weniger umweltbelastende Technologien vergleichen zu können. Diese können sich zum einen auf bestimmte Wirkungen beziehen, die von verschiedenen Agenzien hervorgerufen werden (z.B. Ozonabbaupotential, engl, ozone depletion potential = ODP). Diese spezifischen Umweltbelastungspotentiale können für bestimmte Aktivitäten bzw. Prozesse (z.B. die Herstellung von Lösemitteln und Treibgasen), aber auch für Produkte und Dienstleistungen, ermittelt werden. Sie beziehen sich ausschließlich auf die jeweilig indizierten Wirkungen. Ebenso wie die vergleichende oder zusammenfassende Bewertung verschiedener Wirkungen gestaltet sich die Beurteilung verschiedener spezifischer Wirkungspotentiale schwierig. Wie soll z.B. eine Einheit Versauerungsäquivalent mit einer Einheit Treibhauseffekterhöhung verglichen werden? Hierzu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, um z.B. die vergleichende Bewertung der Umweltwirkungen bei der Ökobilanzierung (von Produkten) zu unterstützen. So wurde von Habersatter und Widmer (1991) die Methode der "Kritischen Volumina" eingeführt, mit deren Hilfe die Addition verschiedener gewichteter Einzelemissionen in Luft und Wasser (prinzipiell auch in Boden) ermöglicht wird. Das Kritische Volumen einer Einzelsubstanz ist definiert als Verhältnis von Emissionsfracht zu Emissionsgrenzwert. Es ist ein theoretisches Volumen, das bei einer gegebenen Emission immer dann hoch ist, wenn der Grenzwert niedrig liegt, also z.B. bei besonders toxischen Substanzen. Das gesamte

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Kritische Volumen für ein Produkt ist die Summe aller Kritischen Einzelvolumina für die lebenszyklusweit ermittelten Emissionen. Die Schwächen dieser Methode liegen u.a. darin, daß Grenzwerte nicht für alle Substanzen verfügbar sind und nicht streng wissenschaftlich definiert sind, sondern einen politischen Kompromiß zwischen meßtechnischen, verfahrensbedingten, ökonomischen und ökologischen Aspekten darstellen. Grenzwerte unterscheiden sich zudem von Land zu Land. Dazu kommt, daß mit Hilfe dieser Methode nur die Informationen über die Emissionen bestimmter Substanzen, die in der Umwelt verdünnt werden, aggregiert werden können. Andere Informationen z.B. über die Entstehung von Abfällen oder die Extraktion von Rohstoffen aus der Umwelt können damit nicht quantitativ zusammengefaßt werden. Wie immer solche Vorschläge im einzelnen gestaltet sind, beruhen sie zwangsläufig auf einer gewissen willkürlichen Festlegung, die wissenschaftlich nicht begründbar ist. Daher ist es bei solchen Ansätzen von vorneherein besonders schwierig, zu nationalen und internationalen Harmonisierungen der Bewertung zu gelangen. Denn bereits verschiedene Wissenschaftler schätzen die verschiedenen Wirkungen als unterschiedlich bedeutsam ein, und bei politischen Entscheidungsträgern fließen noch zusätzliche Aspekte in die Beurteilung ein. Um eine nach dem wissenschaftlichen Stand der Kenntnis einigermaßen abgesicherte Einschätzung der Wichtigkeit verschiedener Wirkungen auf die Umwelt zu erhalten, wird teilweise versucht, ein sog. Delphi-Verfahren einzusetzen (z.B. Jesinghaus 1995). Dabei werden verschiedene Wissenschaftler bzw. Institutionen zu einem Problemkreis befragt, um durch die verschiedenen Antworten einen möglichst repräsentativen Querschnitt abzubilden und in diesem Fall quasi eine Wahrscheinlichkeitsverteilung der verschiedenen Bewertungen der Gefährdungspotentiale zu erhalten. Natürlich sind auch die Ergebnisse dabei sehr davon abhängig, welche Probleme den Befragten zur Beurteilung vorgelegt werden. Zum anderen versucht man, allgemeine Umweltbelastungspotentiale zu beschreiben, um die möglichen Belastungen für bestimmte Prozesse abschätzen zu können. Zu den quantitativen Ansätzen dieser Richtung zählen beispielsweise Indikatoren, die den Energieverbrauch oder die Entropieänderung durch bestimmte Prozesse abbilden. Auch die Quantität von anthropogenen Stoffflüssen wird herangezogen, um die Größenordnung der Umweltbelastungspotentiale von ganzen Wirtschaftssystemen und einzelnen Prozessen, Produkten und Dienstleistungen zu bestimmen. Jeder Prozeß ist mit der Umwandlung von Energie verbunden. Wenngleich dies an sich noch kein unmittelbares Umweltproblem darstellt, sind viele Prozesse, die mit der Energiebereitstellung und dem Verbrauch von Energie verbunden sind, in hohem Maße umweltbelastend. Daher wird in vielen Fällen der Verbrauch von Energie als pauschaler Indikator für Umweltbelastungen

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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herangezogen. Ein Beispiel hierfür ist der Kumulierte Energieaufwand KEA, der die Gesamtheit des primärenergetisch bewerteten Aufwands angibt, der im Zusammenhang mit der Herstellung, Nutzung und Beseitigung von Produkten und Dienstleistungen entsteht (VDI 1995). Gleichwohl ist zu berücksichtigen, daß die schädlichen Wirkungen auf die Umwelt nur in seltenen Fällen durch die Energie an sich, in Form von Wärme, bewirkt wird, sondern durch den Umsatz bestimmter Stoffe (s.o.). Daher ist neben dem Energieverbrauch auch zu berücksichtigen, mit welchen Stoffumsätzen die Bereitstellung der Energie verbunden ist. Mit jeder Umwandlung von Energie wird ein bestimmter Anteil in nicht mehr nutzbare Energie (Entropie) verwandelt und nur ein Teil bleibt nutzbar (Exergie). Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nimmt der Anteil der nicht mehr nutzbaren Energie in einem geschlossenen System bzw. im Universum insgesamt beständig zu. Das System der Anthroposphäre ist ein offenes System und bei den verschiedenen Prozessen der Produktion und Konsumption entstehen unterschiedliche Mengen an Entropie. Um die E n e r g i e e f f i z i e n z zu erhöhen, wird beispielsweise bei chemischen Syntheseprozessen versucht, den Anteil nicht mehr nutzbarer Energie möglichst gering zu halten. Dies ist grundsätzlich auch aus ökologischen Gründen sinnvoll. Denn wenn bei einem Prozeß ein bestimmter Anteil an Entropie erzeugt wird, so ist damit u.a. eine zunehmende Dissipation (lat. dissipare = verstreuen) von Molekülen verbunden, die auch noch ein gewisses reaktives Potential aufweisen und natürliche Prozesse verändern können. Das Freisetzen von Entropie kann daher in gewissen Umfang auch bei offenen Systemen als ein Potential interpretiert werden, in der Umwelt Schäden hervorzurufen (Ayres 1994). Schwierig bei dem Konzept der Entropie gestaltet sich allerdings eine praktische Anwendung auf verschiedenen Ebenen. Die Berechnung von Entropieänderungen ist bislang nur f ü r chemische Prozesse, die unter definierten und kontrollierten Bedingungen ablaufen, möglich. Eine Ü b e r t r a g u n g auf komplexe o f f e n e Systeme wie Produktions- und Konsumptionsnetzwerke oder Teile davon würde auch die Festlegung eines Referenzzustandes bedingen (entsprechend des stabilen thermodynamischen Gleichgewichts, das sich nach unendlicher Zeit einstellen würde). In der Praxis ergibt sich insgesamt das Problem, daß die nötigen Daten zur Berechnung von Entropieänderungen zumeist nicht verfügbar sind bzw. nicht mit vertretbarem Aufwand verfügbar gemacht werden können. Der Umfang der vom Menschen für die Produktion und Konsumption umgesetzten Materialströme bestimmt grundlegend das Ausmaß der Umweltbelastungen, die mit der Entnahme von Stoffen aus der Umwelt (Rohstoffe etc.) und mit der Abgabe von Emissionen und Abfällen an die Umwelt verbunden sind. Die rein quantitative Darstellung der verschiedenen Massenflüsse und ihrer Verknüpfung hat auch einen gewissen qualitativen

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Charakter und wird daher als Basis für die Analyse strukturell bedingter stoffflußbezogener Umweltbelastungen herangezogen. Dabei wird angenommen, daß ein zunehmender Umfang eines anthropogenen Stoffstroms mit einer zunehmenden Belastung für die Umwelt verbunden ist und umgekehrt (Schmidt-Bleek 1994, Bringezu und Schütz 1995, Radermacher und Stahmer 1995). Für die Aussagekraft solcher Ansätze ist allerdings die Wahl der Systemgrenzen entscheidend. In Abschnitt 1.3 und in Kapitel 3 wird erläutert werden, daß für Aussagen über die ökologische Zukunftsfähigkeit die Systembetrachtung "von der Wiege bis zur Bahre" der verschiedenen Produkte nötig ist. Bei der rein quantitativen Darstellung von Stoffflüssen ist zudem zu beachten, daß qualitative Informationen über spezifische Wirkungspotentiale (z.B. zur Öko-Toxizität) dadurch nicht ersetzt werden. Außerdem ist zu bedenken, daß die detaillierten Informationen über die Größe und den Trend der verschiedenen Stoffflüsse verloren gehen, wenn die Daten mehrerer kleiner Flüsse zu größeren Strömen zusammengefaßt werden (z.B. Rohöl, Braunkohle, Erdgas usw. zur Gruppe der fossilen Energieträger). Wie im folgenden Abschnitt 1.2.2 gezeigt wird, ist eine solche Aggregation allerdings nötig, um eine Beurteilung der Gesamtsituation zu ermöglichen. In Kapitel 3 wird anhand von Beispielen für Deutschland gezeigt, wie mit einer begrenzten Zahl von Haupt- und Unterkategorien die Struktur des Stoffwechsels eines Wirschaftraumes mit der Umwelt übersichthaft abgebildet werden kann. Hinsichtlich unseres begrenzten Wissens über die möglichen Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt läßt sich zusammenfassen: • Nur ein Teil der tatsächlichen Wirkungen wird erkannt. Davon kann nur ein Teil z.B. mittels Dosis-Wirkung-Beziehungen abgeschätzt werden. • Es ist generell unmöglich, alle möglichen Wirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt zu prognostizieren. Die Abschätzung möglicher Folgen bestimmter Aktivitäten wird durch nicht lineare komplexe Zusammenhänge erschwert. • Die subjektive Einschätzung von Risiken unterscheidet sich häufig von einer objektivierbaren Quantifizierung von Risiken. Eine objektivierbare Risikobeschreibung für bestimmte Wirkungen ist z.B. für bestimmte Chemikalien auf der Basis von Expositions- und Wirkungsanalysen möglich. Die Auswahl näher zu untersuchender Probleme setzt eine Vorbewertung voraus. • Ausgehend von bestimmten Umweltproblemen können s p e z i f i s c h e Wirkungspotentiale ermittelt werden. • Die vergleichende Bewertung verschiedener spezifischer Wirkungen und Wirkungspotentiale ist stets nur mit mehr oder weniger willkürlichen Gewichtungen möglich. • Zur Abbildung unspezifischer Risiken können allgemeine Umweltbelastungspotentiale bestimmt werden (z.B. basierend auf dem Energieverbrauch, der Entropieerhöhung und dem Stoffumsatz).

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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1.2.2 Informationsüberfluß Wenn auch einerseits die Summe des exisitierenden Wissens beschränkt ist, so ist dies andererseits immer noch viel zu komplex, um von einem einzelnen Entscheidungsträger vollständig berücksichtigt werden zu können (Keck 1988). Das Aufzählen aller möglichen Nebeneffekte oder Folgen einer jeden Alternative auf der Basis des gegebenen Wissens übersteigt die Fähigkeit eines jeden Entscheidungsträgers. Denn die Kapazität des Menschen zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen ist begrenzt ("bounded rationality" nach Herbert Simon, zitiert von Keck a.a.O). Die Aufnahme und Verarbeitung von Information bedeutet stets einen gewissen zeitlichen und materiellen Aufwand. Deshalb müssen Akteure Vereinfachungsstrategien anwenden, und dementsprechend weicht dann ihr Entscheidungsverhalten vom Idealbild umfassender Rationalität ab. Keck nennt zwei solcher grundlegenden Vereinfachungsstrategien. Eine Strategie verfolgt die Routinisierung von Handlungsabläufen. Es wird nicht vor jeder Handlung aufs Neue untersucht und entschieden, welches die beste Handlungsweise wäre, sondern eine bereits früher in ähnlichen Situtationen angewandte Handlungsroutine wird wiederholt, solange bis die Anwendung dieser Routine zu unerwarteten Resultaten führt, die offensichtliche und unakzeptable Defizite aufweisen und dadurch die Suche nach besseren Handlungsalternativen auslösen. Eine weitere Vereinfachungsstrategie besteht in der ideologischen Prüfung von Informationen. In der realen Welt kann man nicht jede Information für bare Münze nehmen, da es vorkommen kann, daß Informationen falsch oder verzerrt oder strittig sind. Darum führen Entscheidungsträger bewußt oder auch unbewußt eine Prüfung von Informationen durch und entscheiden, welche Informationen sie als unglaubwürdig verwerfen und welche sie akzeptieren. Vorrangig werden solche Informationen rezipiert, die zu dem passen, was der Entscheidungsträger schon weiß oder schon glaubt (Simon 1976). Vereinfachungsstrategien für die Informationsaufnahme und für das Handeln haben ihre Vorzüge insbesondere in Situationen, in denen es auf kleine Unterschiede zwischen den Ergebnissen des Handelns nicht ankommt. Dies setzt allerdings stabile äußere Bedingungen voraus. Sobald sich aber etwas grundsätzlich Neues ereignet, führen solche Vereinfachungsstrategien zu beträchtlichen Verzögerungen im Erkennen und im Reagieren auf das Neue. So wurde beispielweise das Ozonloch über der Antarktis von amerikanischen Forschern eine Zeitlang nicht entdeckt, da ein Auswertungsprogramm ihres Satelliten Extremwerte als "Ausreißer", d.h. Fehlmessungen, interpretierte und automatisch verwarf (dieses Verfahren war u.a. zu dem Zweck eingesetzt worden, die enorme Fülle der gesammelten Daten handhabbar aufzubereiten). Eine englische Arbeitsgruppe traute aufgrund der Außergewöhnlichkeit ihrer

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Ergebnisse über die sinkende Ozonkonzentration in der oberen Atmosphäre über dem Südpol ihren eigenen Messungen erst nach einer wiederholten Überprüfung. Erst nach deren Veröffentlichung und der Überwindung einiger Skepsis bei Fachkollegen wurden die alten amerikanischen Satellitendaten erneut ausgewertet. Diese bestätigten dann die Messungen der britischen Kollegen (Graßl und Klingholz 1990). Keck weist darauf hin, daß sich für die Umweltpolitik durch solche Vereinfachungsstrategien eine Trägheit ergibt, die sowohl das Verhalten von Individuen als auch das Verhalten von Organisationen betrifft. Auf neue Situationen wird mit einer Verzögerung reagiert, und zwar erst dann, wenn die Defizite bisheriger Handlungsroutinen bestimmte Größenordnungen erreichen und bestimmte Aufmerksamkeitsschwellen überschreiten. Bei den Verursachern von Umweltschäden erklärt diese Trägheit von Handlungsroutinen, daß es - entgegen der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die annimmt, daß alle ökonomischen Potentiale ausgeschöpft werden - oft unausgeschöpfte ökologische Potentiale gibt, deren Umsetzung zugleich ökonomisch von Vorteil wäre. Da die Aufnahmekapazität für Informationen begrenzt ist, müssen die Informationen über die Umweltbelastungen menschlichen Handelns so aufbereitet und zusammengefaßt werden, daß ein hinreichender Informationsgehalt für das jeweilige Problem richtungssichere Abschätzungen der möglichen Auswirkungen des aktuellen oder geplanten Handelns ermöglicht. Damit kommt der Entwicklung und Anwendung von Indikatoren von Umweltbelastungspoienii'a/en, die von verschiedenen Akteuren auf verschiedenen Ebenen angewandt werden können, eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung einer vorsorgeorientierten Umweltpolitik zu. Die Anforderungen, die Indikatoren zur größenordnungsmäßigen Abschätzung des (allgemeinen) Umweltbelastungspotentials möglichst vieler Aktivitäten und Güter erfüllen sollten, formuliert Schmidt-Bleek (1993) folgendermaßen: • • • • •

• •

Sie sollten einfach sein und zugleich ein signifikantes Umeltbelastungspotential anzeigen. Sie sollten auf Eigenschaften beruhen, die alle Produkte und Dienstleistungen aufweisen. Die gewählten Eigenschaften sollten einfach meßbar oder berechenbar sein. Die Anwendung der Indikatoren sollte kosteneffizient sein. Sie sollten reproduzierbare und transparente Schätzungen des Umweltbelastungspotentials aller Arten von Planungen, Prozessen, Produkten und Dienstleistungen "von der Wiege bis zur Bahre" erlauben. Ihre Anwendung sollte zu Ergebnissen führen, die in Bezug auf das Umweltbelastungspotential in die gleiche Richtung weist ("Richtungssicherheit"). Sie sollten eine Brücke zu ökonomischen Aktivitäten bilden.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte



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Sie sollten auf allen Ebenen anwendbar sein, von der lokalen bis zur globalen Ebene.

In Kapitel 3 werden wichtige Indikatoren einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung vorgestellt und in Kapitel 4 werden Beispiele ihrer Anwendung aufgezeigt.

1.2.3 Ungleiche

Informationsverteilung

Eine dritte wesentliche Informationsrestriktion liegt in der asymmetrischen Informationsverteilung. Die Akteure verfügen jeweils über unterschiedliches Wissen. Dies liegt zunächst daran, daß Informationen an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zwecken generiert werden (z.B. in Betrieben zum Zwecke der Produktion, oder in Supermärkten zum Zwecke des Verkaufs) und verschiedene Personen über unterschiedliche Vorkenntnisse verfügen. Daher kommt dem Informationstransfer eine fundamentale Rolle zu, um die Grundlage für eine umfassendes Verständnis und eine hinreichende Akzeptanz für Umweltprobleme zu erhalten, die nur durch das Zusammenwirken verschiedener Akteure zu lösen sind. Allerdings gibt es eine Reihe von Barrieren, die den Informationsaustausch erschweren: • Informationen werden aufgrund räumlicher oder sprachlicher Barrieren nicht ausgetauscht. Dieses Problem ist zwar aufgrund der weltweiten Vernetzung mit Datenhighways und einer Konzentration auf wenige Hauptsprachen für wichtige Entscheidungsträger heute kaum noch von Bedeutung, doch sollte die ungleiche Verteilung der Fähigkeiten in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen damit umzugehen, nicht unterschätzt werden. • Die Verfügbarkeit nutzbarer Informationen an einem Ort ist anderswo nicht bekannt. Dies ist ein Problem, dem gerade im Zeitalter der exponentiell wachsenden Informationsfülle eine große Bedeutung zukommt. Informationsbörsen und Informationsnetzwerke sollen hier Abhilfe schaffen. • Nicht jede Information kann zu jedem Zweck genutzt werden. Daher ist eine Auswahl nötig, die wiederum zeitlichen und auch materiellen Aufwand bedeutet. • Informationen, die zu vergleichbaren Zwecken an verschiedenen Orten generiert worden sind, können nicht verglichen werden, da sie nicht kompatibel sind (z.B. aufgrund unterschiedlicher Erfassungskategorien). Daher sind nationale und vor allem internationale Anstrengungen sehr wichtig, Umweltdaten zu harmonisieren und zu standardisieren. Aufgrund der begrenzten zeitlichen und materiellen Ressourcen, kommt hierbei der Auswahl von aussagekräftigen Parametern eine entscheidende Rolle zu. • Aktuell verfügbare Informationen werden bewußt zurückgehalten oder verfälscht weitergegeben.

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Jede Aussage hat eine kognitive und pragmatische Dimension (Keck 1988 und Quellen darin). In der kognitiven Dimension geht es um die Frage, ob eine Aussage wahr ist. In der pragmatischen Dimension steht die Frage im Vordergrund, was die Aussage bewirkt, einschließlich des Aspekts, wem die Ausage nutzt bzw. wem sie schadet. Einerseits gibt es Situationen, in denen die Verheimlichung eines Vorgangs oder dessen verfälschte Darstellung unmittelbare oder mittelbare Sanktionen nach sich ziehen kann. Andererseits gibt es Situationen, die zumindest so eingeschätzt werden, daß ein Anreiz zur Zurückhaltung oder Verzerrung von Informationen gegeben ist. Wenn ein Sachverhalt schwer nachprüfbar ist, können einzelne Akteure ihre Aussagen an dem orientieren, was ihnen kurz-, mittel- oder langfristig nutzt, gleichgültig ob sie etwas für subjektiv wahr halten oder nicht. Ein solches Verhalten wird auch als "Opportunismus" bezeichnet. Insgesamt ist der Mangel an geeigneten Informationen ein wesentliches Hindernis für die jeweiligen Akteure, richtungssichere Entscheidungen im Sinne eines vorsorgenden Umweltschutzes zu treffen. Zusammenfassend läßt sich festhalten: • Der Mangel an Wissen über die Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln und seinen umweltbezogenen Folgen wird wesentlich dadurch bestimmt, daß Bewertungskriterien dafür erst nach dem Erkennen von Umweltveränderungen spezifisch ermittelt werden können, und daß es theoretisch und praktisch nicht möglich ist, alle Wirkungen auch nur eines Stoffes auf komplexe Ökosysteme mit nichtlinearen Funktionen zu quantifizieren oder zu prognostizieren. Für einzelne spezifische Wirkungen und unspezifische Wirkungspotentiale existieren Verfahren der quantitativen Analyse. • Es besteht mittlerweile eine Fülle umweltbezogener Informationen, die in ihrer Vielzahl ohne zielgerichtete Interpretation und Zusammenfassung keine richtungssicheren Entscheidungen ermöglicht. Welche Zielvorstellungen dabei zugrundegelegt werden, ist von individuellen und gesellschaftlichen Wertungen abhängig. • Eine Reihe von Hemmnissen erschwert den Austausch von Informationen zwischen den verschiedenen Akteuren, der eine notwendige Voraussetzung für abgestimmtes und effizientes Handeln darstellt. Dazu kommt generell, daß die Notwendigkeit zu handeln belegt werden muß. Damit befindet sich vorsorgeorientiertes Handeln stets in einem Dilemma. Denn die Notwendigkeit zu vorsorgendem Handeln wird erst beweisbar, wenn es unterlassen wird. Auch wenn Beweise nicht beizubringen sind, so muß auch mit Informationen begründet werden, welche die jeweiligen Maßnahmen plausibel und angemessen erscheinen lassen. Keck (1988) stellt fest: " Die Subjektivität der Bewertungen von Umweltschäden und die Begrenztheit des Wissens über die Wirkungen alternativer Handlungsstrategien machen den Prozeß gesellschaftlicher Konsensbildung im Bereich der Umweltpolitik besonders schwierig. Subjektivität und Begrenztheit überprüfbaren Wissens eröffnen den Spielraum für Prozesse der Machtbildung

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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und Machtausübung, kurz: für Politik. Innerhalb des Bewertungs- und Handlungsspielraums, den die Begrenztheit des Wissens der Politik eröffnet, entscheiden die politischen Akteure dann nicht nach dem Gesichtspunkt der Sachgemäßheit, sondern nach dem Gesichtspunkt des Machterhalts oder Machtgewinns. In demokratischen Systemen heißt das, daß schließlich die Komplexität der Bewertungs- und Sachprobleme überlagert wird durch politische Kalküle.... Das Schielen auf die nächste Wahl erspart dem Politiker nicht ganz die Beschäftigung mit den Bewertungs- und Sachproblemen, denn sachlich falsche Entscheidungen können zum politischen Problem werden, wenn sich Fehler kurzfristig für die Öffentlichkeit sichtbar herausstellen. Aber der politische Kalkül des Machterhalts kann sehr wohl dazu führen, daß der Politiker, der die Notwendigkeit von Umweltschutzmaßnahmen sachlich längst als richtig erkannt hat, dennoch mit der Sachentscheidung wartet, bis genügend Wähler von der Notwendigkeit der Maßnahme überzeugt sind. Gerade weil Umweltpolitik es selten mit eindeutigen Fakten, sondern mit Unsicherheit und Meinungsstreit zu tun hat, läuft der Politiker Gefahr, durch zu frühes Handeln den Beweis der Notwendigkeit seines Handelns zu vernichten. Solange nicht hinreichend viele Wähler von der Notwendigkeit das Handelns überzeugt sind, ist der Politiker dem Vorwurf der Kritiker ausgesetzt, daß er um eines unbedeutenden Nutzens für die Umwelt willen große wirtschaftliche Kosten verursacht...." Insgesamt erscheint es daher zur Förderung vorsorgeorientierten Handelns wichtig, (1) neben dem Wissen über Einzelwirkungen das Verständnis für die grundlegenden systemischen Zusammenhänge zwischen menschlichen Aktivitäten und den damit verbundenen Umweltpotentialen zu stärken, (2) Umweltziele gesellschaftlich zu vereinbaren, die nicht nur auf die Verminderung der spezifischen bekannten Umweltprobleme ausgerichtet sind, sondern auch auf die Reduktion der strukturell bedingten allgemeinen Grundbelastung, (3) objektivierbare, nachprüfbare und harmonisierte Informationen bereitzustellen, die - vor dem Hintergrund der übergeordneten Ziele - richtungssichere Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen unterstützen und deren Umsetzung kontrollierbar machen. Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Punkt (1) ausgeführt. Die Punkte (2) und (3) werden in den Kapiteln 3 und 4 behandelt.

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

1.3 Schadstoffkontrolle und Ressourcenentlastung Die Umweltpolitik der Industrieländer ist auch heute noch wesentlich auf die Kontrolle von Schadstoffen ausgerichtet. Gleichwohl beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, daß das Austauschen bestimmter Stoffe gegen andere ein grundlegendes Problem dieser Wirtschaften nicht beseitigt: den überhöhten Massendurchsatz. Die Größenordnung der Umweltbelastung wird nicht nur durch die Qualität sondern auch durch den Umfang der anthropogenen Stoffströme bestimmt. Der Satz von Paracelsus "Die Dosis bestimmt das Gift" trifft nicht nur auf den Menschen zu, er gilt in übertragenem Sinn auch für sämtliche Stoffe, die in die Umwelt abgeben, aber auch für jene, die ihr entzogen werden. Dabei stehen wir, wie oben dargelegt, vor dem Problem, daß wir sämtliche Wirkungen dieser Massenumsätze nicht im einzelnen kennen, geschweige denn prognostizieren können. Gleichwohl soll im folgenden aufgezeigt werden, wie dem strukturellen Problem des zu hohen Materialdurchsatzes industrieller Wirtschaften analytisch und instrumentell begegnet werden kann.

1.3.1 Die Anthroposphäre als Stoffwechselsystem Die Anthroposphäre als ein Teil der sie umfassenden Ökosphäre steht im stofflichenergetischen Austausch mit der Bio-Geo-Sphäre. Die Umweltbelastungen werden durch Stoffentnahmen aus der Umwelt (z.B. Rohstoffe) und Stoffabgaben an die Umwelt (z.B. Abfälle, Emissionen) vermittelt. Nahezu alle der in Kap. 1.2.1.1 aufgeführten möglichen Umwelteinwirkungen sind mit anthropogenen Stoffströmen verbunden. In einem einfachen Modell kann die Anthroposphäre der Erde, die neben dem Menschen alle technischen Einrichtungen umfaßt, als ein Input-Output-System betrachtet werden (Bild 1.5). Die stofflichen Entnahmen aus der Natur entsprechen dem Input des Systems, die Freisetzung von Stoffen entspricht dessen Output. Nach dem Massenerhaltungssatz geht dabei keine Materie verloren4. Dieses System kann sich theoretisch in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Übersteigt die Inputrate die Outputrate, so nimmt die in der Anthroposphäre gespeicherte Materie zu (z.B. in Form von Gebäuden, Infrastrukturen). Mit anderen Worten, die Wirtschaft ist in einer physischen Wachstumsphase. In dieser Phase ergibt sich der Umfang des Outputs aus der Summe des Inputs abzüglich der netto gespeicherten Masse. Die Weltwirtschaft befindet sich gegenwärtig in einer solchen Wachstumsphase. Gleicht die Summe der Inputs pro Zeiteinheit der Summe der Outputs, so liegt ein Fließgleichgewicht vor. Es wird netto keine Materie gespeichert bzw. abgebaut. Der Bestand bleibt konstant. Wenn die Outputrate ingesamt größer ist als die Inputrate, so schrumpft die Anthroposphäre. Die Wirtschaft wäre dann in einer 4

Diese kann nur vermindert werden, indem sie durch Kernspaltungsreaktionen in Energie übergeführt wird. Diese Prozesse können für die hier durchgeführte Betrachtung allerdings vernachlässigt werden.

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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physischen Abbauphase. In dieser Phase ergibt sich der Umfang des Outputs aus der Summe des Inputs zuzüglich der netto abgebauten Masse.

Input

Anthroposphäre

Output

Bild 1.5. Einfaches Schema des Stoffaustausches zwischen Anthroposphäre und Umwelt.

Die Anthroposphäre entnimmt ihren Input (I) aus der Umwelt und entläßt den Output (O) in die Umwelt (Bild 1.6). Dort wird ein Teil des Output regeneriert (R), während der Rest von der Umwelt aufgenommen wird (A). Der Input besteht zum einen aus dem regenerierten Anteil R und einem nicht regenerierten Anteil NR. Generell sollte unterschieden werden zwischen "(potentiell) regenerierbar" und "(tatsächlich) regeneriert". Nachwachsende Rohstoffe gehören beispielsweise zu den potentiell regenerierbaren Materialien. In vielen tropischen Ländern werden diese Rohstoffe allerdings nicht nachhaltig bewirtschaftet. Wenn von einer Fläche nur Material e n t n o m m e n wird, ohne daß ihr entsprechend ihrer natürlichen Regenerationsfunktionen z.B. Nährstoffe wieder zugeführt (regeneriert) werden, versiegt diese zunächst unerschöpflich scheinende Quelle. Beispielsweise wird ein Teil des von der Anthroposphäre emittierten Kohlendioxids von Kulturpflanzen aufgenommen, die vom Menschen geerntet und somit wieder als Input verwendet werden (R). Dieser Anteil des Kohlendioxids wird demnach über die Umwelt regeneriert (R), während der Rest bzw. Überschuß in der Umwelt verbleibt (A). Ein anderes Beispiel ist der Einsatz von Düngern (O), von denen ein Teil (A) ungenutzt in die Umwelt, z.B. ins Grundwasser, eingetragen wird, während der über den Boden von den Nutzpflanzen aufgenommene Anteil (R) über die geerntete Biomasse wieder in die Anthroposphäre aufgenommen wird.

Input

^

NR

Anthroposphäre

Output

R Umwelt

rA

Bild 1.6. Erweitertes Schema einschließlich des "externen Recyclings" in der Umwelt (Bringezu und Schütz 1995).

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Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Wird der Anteil von R am Input erhöht, z.B. um die Abhängigkeit von NR bzw. von erschöpflichen Ressourcen zu vermindern 5 , so steigt - bei gleichem Inputvolumen auch die absolute Größe von R und die damit verbundene Umweltbelastung. R wird wesentlich durch die Bewirtschaftung von Natur in Form von Land- und Forstwirtschaft bestimmt. Dieser Strom setzt damit eine erhebliche Umstrukturierung natürlicher Umwelt voraus. R ist auch gekoppelt an Stoffflüsse wie z.B. Erosion, die durch die Bewirtschaftung hevorgerufen bzw. verstärkt wird. Die Nutzung "regenerierbarer" nachwachsender Rohstoffe ist immer mit gewissen, "nicht regenerierten" Inputs und dem Verlust von Stoffen und deren Eintrag in die Umwelt verbunden. Selbst bei optimierten Anbaumethoden können NR und A im Bereich der Land- und Forstwirtschaft nicht vollständig vermieden werden. Dabei kann der Anteil von R am Input nur nährungsweise bestimmt werden. In anderen Bereichen (z.B. der Hochseefischerei) ist dies kaum möglich. Bei gegebenem R wird die zusätzliche Umweltbelastung vom jeweiligen Umfang von A und NR bestimmt. Soll die stoffliche Gesamtbelastung der Umwelt vermindert werden, so setzt dies eine Verminderung des Stoffwechsels von Anthroposphäre und Umwelt voraus, also des jeweils absoluten Umfangs von NR, A und R. Damit kann eine zukunftsfähigere Entwicklung nur erreicht werden, wenn Input und Output absolut vermindert werden. Da weder eine Wachstumsphase (I > O) noch eine Abbauphase (O > I) per se auf Dauer durchgehalten werden können6, zeichnet sich eine zukunftsfähige Wirtschaft in stofflicher Sicht durch ein Fließgleichgewicht (I = O) aus. Jede Abweichung davon bedeutet, daß diese eine Randbedingung von Zukunftsfähigkeit (noch) nicht erfüllt ist. Das Vorliegen eines Fließgleichgewichts sagt an sich noch nichts über den Umfang stoffbedingter Umweltbelastungen aus, da die absolute Höhe des Durchsatzes über die resultierende Umweltbelastung durch R, NR und A entscheidet. Ein relative Verbesserung in Richtung einer zukunftsfähigeren Entwicklung läßt sich - ausgehend von einem Fließgleichgewicht - nur durch eine Absenkung der Input- und Outputströme erreichen, wobei darauf zu achten ist, daß dabei der Anteil besonders (öko-)toxischer Inputs und Outputs nicht (überproportional) steigt. Dies gilt auch, wenn eine Wachstumsphase vorliegt. Dann allerdings kommt als notwendige Randbedingung für eine zukunftsfähigere Entwicklung die Verminderung des Inputs (zumindest bis zum Ausgleich des Outputs) hinzu. Denn eine ausschließliche oder überwiegende Reduktion der Output-Ströme würde bei unvermindert höherem Input nur zu einem schnelleren Anstieg der in der Anthroposphäre gespeicherten Materie führen (eine Situation, die in den 5

Eine eher politisch-ökonomische als ökologische Zielsetzung Dies schließt nicht aus, daß diese bis zum Erreichen eines dematerialisierten Fließgleichgewichtes sogar notwendig sein können 6

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

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Industrieländern gegenwärtig in Form von gestapelten Müllsäcken und anderen Zwischenlagern spürbar wird). Insgesamt erscheinen folgende Punkte wesentlich: • Ein physische Wachstumsphase der Anthroposphäre (d.h. eine ständige Zunahme der infolge menschlicher Tätigkeiten in Gebäuden, Anlagen, Infrastrukturen, Produkten etc. gespeicherten Masse) verdrängt die umgebende Bio-Geo-Sphäre und zerstört damit immer mehr ihre eigene lebenserhaltende Basis. • Es besteht ein systemischer Zusammenhang zwischen stofflichen (und energetischen) Outputs und Inputs der Anthroposphäre. Der Umfang an Abfällen und Emissionen (Output) kann langfristig nur wirksam vermindert werden, wenn auch die Nutzung an Primärressourcen (Input) reduziert wird.

1.3.2 Komplementäre

Handlungsstrategien

Die Begrenztheit des Wissens über spezifische Wirkungszusammenhänge einerseits und die Erkenntnis, daß mit praktisch jeder Aktivität Stoffströme verbunden sind, die Träger von (spezifischen und unspezifischen) Umweltbelastungspotentialen sind, führen zu der Frage, welche umweltpolitischen Handlungsstrategien verfolgt werden sollten. Die Wahl jeder Strategie hängt grundlegend von der Zielsetzung ab. Da in der Praxis in aller Regel sowohl spezifische Umweltprobleme - nachsorgend - zu bewältigen sind als auch die Notwendigkeit besteht, strukturelle Umweltprobleme vorsorgend - zu mindern, werden die verschiedenen Akteure meist einen Strategie-Mix verfolgen. Dabei werden die künftigen Handlungsspielräume davon abhängen, inwieweit tatsächlich vorsorgende Strategien verfolgt werden. Strategien, die sich lediglich auf die aktuelle Schadensbekämpfung konzentrieren, werden bei gleichbleibenden (problemgenerierenden) Strukturen in immer häufigere kurzfristige "Feuerwehr"-Aktionen münden, die letztlich keinerlei längerfristigen Handlungsspielraum mehr zulassen. Die Belastungen der Umwelt sind systemisch bzw. strukturell abhängig von der Quantität und der Qualität der Ressourcenentnahme einerseits und der Abgabe von Abfall, Abwasser und Emissionen (auch infolge des dissipativen Eintrages von Produkten wie Düngern) andererseits (Bild 1.7). Zu den strukturell bedingten Gefährdungen zählt Jänicke (1994) auch Großrisiken wie die Kernkraft und die Gentechnologie, da sie mit einem allgemeinen Gefährdungspotential verbunden sind, das in seiner Größenordnung unkalkulierbar ist. Die strukturellen und die spezifischen Belastungen werden verursacht von den verschiedensten Aktivitäten auf der Produktions- und auf der Konsumptionsseite. Diese Belastungen führen kurz-, mittelund langfristig zu Veränderungen des (dynamischen) Zustands der Umwelt. Dabei werden bestimmte Wirkungen wahrgenommen und ein Teil als besonders kritisch bewertet.

28

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte

Belastung

Zustand Handlungsstrategien

Ressourcenentnahme

-** OUTPUTS

INPUTS Material Energie Wasser Fläche

t



Wirtschaft • und • Gesellschaft •

Verringerung des Ressourcenverbrauchs

Abfall Abwasser Emissionen

1

Auswirkungen -Gefährdung der menschlichen Gesundheit -Beeinträchtigung der Tragfähigkeit von Ökosystemen -Verlust der biologischen Vielfalt - Ressourcenverzehr

Schadstoffkontrolle

Bild 1.7. K o m p l e m e n t ä r e Strategien der Umweltentlastung: N e b e n die Schadstoffkontrolle z u r A b w e h r erkannter G e f a h r e n tritt z u n e h m e n d die Minimierung der R e s s o u r c e n b e a n s p r u c h u n g als vorsorgeorientierte S t r a t e g i e der G e f a h r e n v e r m e i d u n g (nach B U N D / M i s e r e o r 1996).

Die Handlungsstrategien können - wie dies bisher vorwiegend der Fall war - sich auf die Kontrolle von Schadstoffen konzentrieren. Sie können aber - wie dies heute zunehmend versucht wird - auch auf eine strukturelle Verbesserung der Gesamtsituation hinwirken, indem insbesondere eine Verringerung des Verbrauchs an Primärmaterialien, Energie, Wasser und Fläche auf ein risikoarmes Niveau angestrebt wird. Wird der Input an Primärressourcen vermindert, so sinkt längerfristig auch der Umfang des Ausstoßes von Abfällen und Emissionen. Da mit den strukturellen Veränderungen auch Überprüfungen der Qualität der verschiedenen genutzten Materialien und Substanzen einhergehen, kann im Wege der "Dematerialisierung" (nach Schmidt-Bleek) auch eine "Detoxifikation" des gesellschaftlichen Stoffwechsels stattfinden. Da beide Strategien für sich allein genommen nicht zu einer wirksamen Entlastung der Umwelt führen, sind sie als komplementär anzusehen. D.h. sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander. Dies bedeutet, daß bei der Zielbeschreibung, bei der Bestandsanalyse und bei der Umsetzung von umweltbezogenen Maßnahmen generell auf folgende Punkte zu achten ist: • Welche spezifischen Probleme werden als besonders wichtig bewertet und sollen gezielt angegangen werden?

Erstes Kapitel: Grundlegende Aspekte



29

Welche strukturelle Entlastung wird angestrebt, wie hoch ist insbesondere der aktuelle Ressourcenverbrauch und welche Möglichkeiten bestehen zur Verminderung des Durchsatzes von Material und Energie und zur Vermeidung von anderen "Großrisiken"?

Zusammenfassend läßt sich feststellen: • Es besteht ein Kontinuum nachsorgender und vorsorgender Strategien des Umweltschutzes. Vorsorgende Politiken bedürfen der Vereinbarung langfristiger, an einer strukturellen Entlastung orientierter Ziele. • Die Akteure benötigen hinreichende Informationen, die richtungssichere Entscheidungen ermöglichen. • Der Stoffwechsel zwischen Anthroposphäre und Umwelt bestimmt wesentlich das Ausmaß menschlicher Umweltbelastungen. • Neben der Vermeidung spezifischer Umweltprobleme kommt der Verminderung der strukturell bedingten Umweltbelastungen eine wachsende Bedeutung bei der Verfolgung vorsorgeorientierter Strategien zu.

30

Zweites Kapitel: Ausgewählte Erfahrungen

2. Ausgewählte Erfahrungen der bisherigen Umweltpolitik Vor dem Hintergrund des Verständnisses der oben ausgeführten Aspekte nachsorgender und vorsorgender Politik, der Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung und Bewertung der umweltbezogenen Folgen menschlichen Handelns und der dualistischen Strategien, problemspezifische und strukturelle Umweltbelastungen zu reduzieren, werden in diesem Kapitel einige ausgewählte Erfahrungen aus wichtigen Feldern der bisherigen Umweltpolitik dargestellt. Dabei wird die Wirkung der jeweiligen Ansätze auf die anthropogen bedingten Stoffströme als grundlegendes Kriterium zur Beurteilung ihrer Stärken und Schwächen herangezogen. Mit der exemplarischen Auswahl kann kein vollständiges Bild bisheriger umweltbezogener Politik gezeichnet werden. Vielmehr sollen jene Erfahrungen herausgestellt werden, die bei der künftigen Planung und Umsetzung von Strategien und Instrumenten einer am Ziel der nachhaltig umweltverträglichen Entwicklung orientierten Politik hilfreich sein können. Ein wichtiger Akteur der umweltbezogenen Politik ist der Staat mit seinen legislativen, exekutiven und judikativen Organen. Die ersten Maßnahmen umweltbezogener Politik erstreckten sich im wesentlichen auf ordnungsrechtliche Regelungen (Verbote, Gebote, etc.). In der Folge wurden verstärkt begleitende Instrumente wie Information der Öffentlichkeit, Umweltberichterstattung, Förderung von Forschung und Entwicklung, Fort- und Weiterbildung einbezogen. In den letzten Jahren wird verstärkt die Anwendung marktorientierter Instrumente (Umweltabgaben, ökologische Finanzreform usw.) diskutiert. Zunehmend wichtige Akteure sind aber auch die Firmen und Interessenverbände der Wirtschaft sowie die Umwelt- und Verbraucherverbände. Deren Rolle erstreckt sich nicht nur auf die Beeinflussung von rechtlichen Regelungen. Von der Planung von Produkten, über deren Herstellung bis zur Entscheidung über den Einkauf sind diese Akteursgruppen näher am Ort des ursächlichen Geschehens. Sie können bei ihren Entscheidungen umweltrelevante Informationen direkt einfließen lassen, wodurch eine schnellere Umsetzung möglich ist als bei einer zeitverzögerten Rückwirkung über staatliche Regulative. In diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt auf den rechtlich bereits definierten Bereichen der Umweltpolitik. Die verschiedenen Politikfelder dessen, was heute unter "Umweltpolitik" subsummiert wird, haben sich zumeist unabhängig voneinander im Laufe der Zeit aufgrund des jeweils anstehenden bzw. wahrgenommenen Problemdrucks entwickelt. Die Kodifikation der daraus entstandenen Rechtsetzung ist daher bislang nicht einheitlich, sondern auf verschiedene Bereiche verteilt, deren "Leitgesetze" den Schwerpunkt des jeweiligen Rechtsgebietes markieren. Mit dem Entwurf zum Umweltgesetzbuch wird neuerdings versucht, die bestehende umweltrelevante Rechtssetzung zu systematisieren und zu straffen (Kloepfer et al. 1990).

Zweites Kapitel: Ausgewählte Erfahrungen

31

Nach Kloepfer (1989) und Himmelmann et al. (1994) können folgende Rechtsbereiche des besonderen Umweltrechts unterschieden werden: - Immissionsschutzrecht - Gewässerschutzrecht - Gefahrstoffrecht - Atom- und Strahlenschutzrecht - Gentechnikrecht - Abfallrecht - Naturschutz- und Landschaftspflegerecht - Umweltbelange in der Raumplanung - Bodenschutzrecht Allerdings werden ausgewählte Grundlagen einzelner Politikfelder dargestellt, um Stärken und Schwächen des jeweiligen regelungstechnischen Ansatzes zu erläutern. Dabei soll auch verdeutlicht werden, daß die medial und sektoral spezialisierten Regelungsansätze im Hinblick auf das strukturelle Problem des stofflichen Massendurchsatzes der Anthroposphäre recht unterschiedliche Wirkungen haben.

2.1 Immissionsschutzpolitik Umweltbeeinträchtigungen in Form von "Verschmutzungen" von Gewässern und von "Verunreinigungen" der Luft im Umfeld industrieller Anlagen konnten in der Vergangenheit sinnlich unmittelbar wahrgenommen und mit Hilfe chemischanalytischer Methoden auf ihre stofflichen Ursachen zurückgeführt werden. Dabei wird unterschieden zwischen Emissionen (von einer Quelle ausgehende physikalischchemische Störfaktoren) und Immissionen (durch diese Faktoren an bestimmten Stellen in der Umwelt der Störquellen herbeigeführten Einwirkungen). Zunächst mit dem Schwerpunkt der Minderung von Gesundheitsbeeinträchtigungen entwickelten sich unabhängig und rechtstechnisch verschieden die Bereiche des Gewässerschutzes und des primär auf die Luft bezogenen Immissionsschutzes mit den Leitgesetzen Wasserhaushaltgesetz bzw. Bundes-Immissionsschutzgesetz. Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung werden zentral geregelt durch das Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-ImmissionsschutzGesetz - BImSchGp. Seine erste Fassung trat 1974 in Kraft. Ziel des Gesetzes ist es (§ 1), Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen; soweit es sich um genehmigungsbedürftige Anlagen handelt, soll es auch vor Gefahren, erheblichen 7

Der Wortlaut der meisten der in diesem Kapitel erwähnten Gesetze ist abgedruckt in: Umwelt-Recht (1995)

32

Zweites Kapitel: Ausgewählte Erfahrungen

Nachteilen und erheblichen Belästigungen schützen, die auf andere Weise herbeigeführt werden (z.B. Feuer- oder Explosionsgefahr). Zentrale Begriffe werden in § 3 BImSchG definiert. Schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne dieses Gesetzes sind Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Immissionen sind die auf die in § 1 BImSchG definierten Schützgüter einwirkenden Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen, Licht, Wärme, Strahlen und ähnliche Umwelteinwirkungen. Luftverunreinigungen werden als Veränderungen der natürlichen Zusammensetzung der Luft, insbesondere durch Rauch, Ruß, Staub, Gase, Aerosole, Dämpfe oder Geruchsstoffe definiert. Storm (1995) führt aus, daß unter Gefahr die objektive Möglichkeit eines auf einer unmittelbaren physischen Einwirkung beruhenden Schadenseintritt zu verteilen ist, während Nachteile vor allem Vermögenseinbußen sind, die durch physische Einwirkungen hervorgerufen werden, ohne unmittelbar zu einem Schaden zu führen. Ein Schaden liege dann vor, wenn ein tatsächlich vorhandener Bestand an Gütern und Werten durch von außen kommende Einflüsse unmittelbar objektiv gemindert wird. Belästigungen sind Beeinträchtigungen des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, wobei der Übergang zu Beeinträchtigungen der menschlichen Gesundheit im biologischphysiologischen bzw. medizinischen Sinn fließend erscheint. Als erheblich werden Nachteile und Belästigungen eingestuft, wenn sie - unter Vornahme einer Güterabwägung - über das zumutbare Maß hinausgehen. Fast alle Vorschriften des Gesetzes beziehen sich unmittelbar oder mittelbar auf die Errichtung und den Betrieb von Anlagen. Damit sind ortsfeste Einrichtungen, insbesondere gewerbliche Produktionsbetriebe, Maschinen, Geräte und Fahrzeuge eingeschlossen, ebenso wie Grundstücke, auf denen Stoffe (ab)gelagert oder Arbeiten durchgeführt werden, die Emissionen verursachen können. Wesentliches operationales Ziel der immissionschutzrelevanten Vorschriften (häuptsächlich des BImSchG sowie seiner Durchführungsverordnungen und der TA L u f t ) ist e s , die Emission vorwiegend von bestimmten Substanzen (z.B. Schwermetallen) aber auch von Lärm etc. durch bestimmte Grenzwerte zu beschränken. Die Erfolge dieser Politik sind insofern offensichtlich, als die Luftqualität in industriellen Ballungsräumen wie z.B. dem Ruhrgebiet dadurch deutlich verbessert werden konnte. Gleiches gilt im Prinzip auch für die Qualität der deutschen Oberflächengewässer infolge des Gewässerschutzes (hauptsächlich durch das Wasserhaushaltsgesetz (WHG)).

Zweites Kapitel: Ausgewählte Erfahrungen

33

Dies wurde und wird im wesentlichen durch folgende technologischen Maßnahmen erreicht (vgl. Bank 1995): - die Behandlung der Emissionen (Filterung, Abscheidung usw.) durch nachgeschaltete Reinigungsprozesse, - veränderte Gestaltung der emittierenden Prozesse, - Verringerung oder Veränderung der eingesetzten Stoffe (auch durch Modifikation vorgelagerter Prozesse). Doch was geschieht bei Filteranlagen, Abscheidern, Katalysatoren, Kläranlagen und Verbrennungsanlagen im Hinblick auf die durchgesetzten Stoffströme? Die beabsichtigte Funktion dieser Anlagen besteht in der • physikalisch-chemischen Veränderung des Stoffausstoßes (z.B. Verminderung des chemischen Sauerstoffbedarfes CSB von Abwasser durch Reduktion der organischen Substanz im Klärprozeß), • Umleitung von Eintragspfaden des Ausstoßes in die Umwelt (z.B. vom ursprünglichen Eintrag in die Luft zur Einlagerung als Filterstaub in die Erdkruste), • Verdünnung zu entsorgender Stoffe in der Umwelt (z.B. des Kohlenstoffanteils bei der Verbrennung von Abfall, dessen erwünschte Volumenverminderung am Ort des Anfalls durch den Eintrag in Form von Kohlendioxid in die Atmosphäre erreicht wird), • Konzentration von Schadstoffen zur kontrollierten Weiterbehandlung oder Endlagerung (z.B. Schwermetalle, die in der Schlacke und in Filterstäuben von Abfallverbrennungsanlagen angereichert, - bislang theoretisch - aufbereitet oder in Untertagedeponien verbracht werden). Allerdings ist zu beachten, daß die Massensumme der stofflichen Inputs und Outputs dieser nachgeschalteten Prozesse konstant bleibt (Bild 2.1). "Was vorne herein geht, kommt - wenn auch verändert oder anderswo - hinten wieder heraus". Der Gesamtdurchsatz an Materie wird durch "Entsorgungsanlagen" also nicht verändert. Im Gegenteil: da die Errichtung, der Betrieb und die Entsorgung dieser Anlagen selbst mit einem bestimmten Aufwand an Material und Energie verbunden ist, wird der Gesamtumsatz von Stoffen (bei gleichbleibendem Produktstrom) durch diese "End-ofPipe"-Technologien noch erhöht. Beispiel Abgas-Katalysator: Für Abgaskatalysatoren werden in Europa die seltenen Metalle Platin und Rhodium eingesetzt. Allein zur Förderung von Platin in Südafrika und Rußland müssen pro Tonne zwischen 200.000 t und 400.000 t Erzmaterial umgesetzt werden,- mit den verschiedensten Auswirkungen des Bergbaus in der jeweiligen Region. Der Katalysator eines Mittelklasse-Pkw enthält ca. 2 g Platin. Damit liegt der "ökologische Rucksack" allein für das Platin im Katalysator - wenn dies noch nicht aus Recycling stammt - in der Größenordnung von einer halben bis einer Tonne Rohmaterial (eine Menge, die knapp das Eigengewicht des jeweiligen Autos übersteigt).

34

Zweites Kapitel: Ausgewählte Erfahrungen

Abgas 74

Rückstände der Rauchgas-

Abfall H 100

— - >

reinigung 2,2 Kesselstaub 0,4

Schlacke 23

98,8

f ¡

{370 g/kg SA)

^

l

B

V l l

^

0

Emissionen in die Luft

Luft(02,N2) @

energieverbrauchsgckoppolt (%|

[ Ì

andere Stoffströme

Recycling

(1%

Bild 3.2. Anteil des Stoffdurchsatzes, der mit der Bereitstellung und dem Verbrauch von Energie in Deutschland 1991 verbunden ist (Bringezu 1996).

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

73

Würde Deutschland beispielsweise seinen Strom künftig importieren, so erschiene die inländische Stoffstrombilanz dadurch vorteilhafter, doch würde das Bild trügen, wenn nicht die an anderen Orten umgesetzten Stoffentnahmen aus der Umwelt in die Betrachtung einbezogen werden. Daher wurde vorgeschlagen, die globale Stoffentnahme (Total Material Input = TMI) als hochaggregierten Indikator 26 für das Umweltbelastungspotential einer Volkswirtschaft im Hinblick auf ihre ökologische Zukunftsfähigkeit heranzuziehen (Bringezu et al. 1995). Zur Prioritätensetzung für Maßnahmen auf Produktions- und Konsumptionsseite können die Daten zum Umweltverbrauch funktions-, akteurs- und aktivitätsbezogen aufbereitet werden. Beispielsweise kann der Anteil des Stoffdurchsatzes betrachtet werden, der mit der Bereitstellung bzw. dem Verbrauch von Energie verbunden ist (Bild 3.2). Diese Stoffströme sind a priori nicht rezyklierbar. Da der Material Input der deutschen Wirtschaft ca. zur Hälfte, der Material Output sogar zu über 80 % mit dem Verbrauch von Energie verbunden ist, ist ein Großteil des Stoffdurchsatzes einer Kreislaufwirtschaft nicht zugänglich (vgl. Kap. 2.3). Behrensmeier und Bringezu (1995a,b) zogen den gesamten Material Input der deutschen Wirtschaft als wesentlichen Indikator für den Umweltverbrauch heran und rechneten diesen den Produktionssektoren einerseits und den Hauptbedarfsfeldern des privaten Endverbrauchs andererseits zu. Bildet man den Umweltverbrauch der Deutschen über den gesamten Material Input der Wirtschaft ab, so flössen diese Stoffströme 1990 in den alten Bundesländern hauptsächlich für die Bedarfsfelder Wohnen, Ernährung und Freizeit (Bild 3.3).

Materialentnahme [t pro Kopf]

Bild 3 . 3 . D e r U m w e l t v e r b r a u c h 1 9 9 0 in den alten B u n d e s l ä n d e r n nach Bedarfsfeldern abgebildet d u r c h die damit verbundenen Material-Input-Ströme (nach Behrensmeier u n d Bringezu 1995b). für die Materialien ohne Wasser und Luft

74

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

Zu diesem Ergebnis kommen Behrensmeier und Bringezu (1995b) auf der Basis des inländischen Material Inputs und von vorläufigen Daten zur Mindestabschätzung der vorgelagerten Material Inputs der Importe. Hierzu wurde die Input-Output Systematik des Statistischen Bundesamtes zugrunde gelegt und die monetären Tabellen zur Abschätzung der physischen Lieferverflechtung genutzt. Die Material Inputs der Wirtschaftsbereiche wurden dann durch ein iteratives Verfahren dem privaten Endverbrauch zugerechnet. Die Ursachen für jene Verteilung liegen im Bereich des Wohnens in den sehr materialintensiven Vorleistungen bei der Erstellung von Gebäuden sowie dem hohen Energieverbrauch zu Heizungszwecken. Bei der Ernährung spielt nicht nur die Frage der pflanzlichen oder tierischen Kost eine Rolle sondern auch die aufwendige Verarbeitung vieler Nahrungsmittel und die teilweise sehr energieintensiven Aufwendungen im Haushaltsbereich. Im Bereich der Freizeit schlägt zum einen die hohe Mobilität für Reisen und zum anderen die materialintensive Ausstattung (elektrische Geräte etc.) zu Buche. Die Autoren weisen daraufhin, daß die Analyse nicht der Ableitung von Empfehlungen dient, weniger zu wohnen, zu essen, zu trinken oder die Freizeit zu genießen. Die Ursachenforschung soll Verbesserungspotentiale aufzeigen, wie durch eine andere Nachfrage die Umwelt entlastet werden kann (siehe Kap. 4).

3.2.2 Betriebliche Ebene Für Entscheidungsträger auf betrieblicher Ebene sind im Hinblick auf eine ökologisch zukunftsfähige Entwicklung zwei wesentliche Informationsbereiche relevant: (a) Die Bilanzierung der physischen Inputs und Outputs des Betriebes; (b) Die lebenszyklusweite Beurteilung der Umweltrelevanz der hergestellten und geplanten Produkte. Im Rahmen des betrieblichen Umwelt-Controlling geht man verstärkt dazu über, die physischen Inputs und Outputs möglichst vollständig zu bilanzieren. Dadurch können Stoff- und Energieverluste aufgedeckt und Minderungspotentiale ermittelt werden. Die daraus abgeleiteten Einsparmaßnahmen stellen nicht nur eine Umweltentlastung dar, sondern lohnen sich häufig auch finanziell. Die regelmäßige Erfassung der Stoff- und Energieverbräuche ist insbesondere dann sinnvoll, wenn die Analyse in ein Umweltmanagementsystem eingebunden ist, das eine effiziente Umsetzung erlaubt. Umweltmanagementsysteme sollen die gesamte betriebliche Organisation so entwickeln, daß der Umweltschutz allgemein akzeptiertes Unternehmensziel wird und alle Möglichkeiten zur Verminderung von Umweltbelastungen ausgeschöpft werden (Hopfenbeck 1991, Kytzia 1996). Dabei sollen die vielfaltigen Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes funktional und ökonomisch gebündelt werden. Bislang werden hauptsächlich zwei Ansätze verfolgt, Umweltmananagementsysteme international abgestimmt einzuführen:

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

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(a) Die EU-Verordnung zum Umweltmanagement und Öko-Audit-System (engl. Environmental Management and Auditing System = EMAS) 2 7 von 1993, die zwei Jahre später in Kraft trat (Schimmelpfeng und Machmer 1995, Beck 1996): Firmen können auf freiwilliger Basis an diesem Programm t e i l n e h m e n , indem sie sich v e r p f l i c h t e n , eine s t a n d o r t b e z o g e n e Umwelterklärung zu erstellen und zu publizieren, die durch einen zertifizierten Gutachter geprüft wird. Entspricht die Firma den Vorgaben der Verordnung, erhält das Unternehmen für diesen Standort ein Prüfzeichen, das es zu bestimmten Werbezwecken einsetzen darf. Die EMAS-Verordnung fordert, die j e w e i l s bestmögliche Technologie einzusetzen. Zwar werden keine quantitativen Vorgaben festgelegt, doch sieht die Verordnung in Anhang I (B 3 und C) u.a. vor, den Material-, Energie- und Flächenverbrauch zu berücksichtigen. Dies stellt in der Praxis eine wichtige Voraussetzung dar, die allgemeinen Ziele der Verordnung umzusetzen. (b) Die ISO-Norm-Serie 14000 zum Umweltmanagement, die Mitte der neunziger Jahre zunächst mit dem Teil 14001 ("Umweltmanagementsysteme Spezifikationen und Anleitung zur Anwendung") vorbereitet wurde. Diese N o r m 2 8 bezieht sich auf diejenigen umweltbezogenen Ziele, die sich ein Unternehmen selbst setzen und ausgestalten kann. Quantitative Vorgaben werden auch hier nicht gemacht. Als Minimum wird nur das Einhalten der im jeweiligen Land gültigen gesetzlichen Vorschriften und die Bereitschaft zu stetiger Verbesserung verlangt. Das Zertifikat soll von einer neutralen, akkreditierten Organisation ausgestellt werden. Ein effektives Umweltmanagement endet nicht am Werkstor, sondern bezieht die Produktketten, die mit dem jeweiligen Standort verbunden sind, mit ein. Zu deren Beurteilung bedarf es eines produktlinienbezogenen Analyseinstrumentariums. Durch die systemweite Erfassung der Prozeßketten, die mit dem jeweiligen Produkt verbunden sind, können mögliche Verlagerungen zwischen verschiedenen H e r s t e l l u n g s - und G e b r a u c h s p r o z e s s e n s o w i e z w i s c h e n v e r s c h i e d e n e n Umweltproblemen festgestellt werden. Einige der methodischen Schwierigkeiten bei der Erstellung von Produkt-Ökobilanzen (engl. LCA = Life Cycle Assessment oder Life Cycle Analysis) wurden bereits in Kap. 2.4 dargestellt. Um insbesondere die Probleme der Bewertung verschiedener spezifischer Wirkungskategorien zu vermeiden und dennoch zu ausreichenden Informationen über Verbesserungspotentiale zu gelangen, wurde verschiedentlich vorgeschlagen, das Verfahren der Produkt-Ökobilanz in mehrere Schritte mit steigendem Detaillierungsgrad aufzuteilen. Als Eingangsstufe kann in vielen Fällen die 27

Europäische Gemeinschaft 1993: Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29. Juni 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung. Amtsblatt der EG Nr. L 168/1-18 vom 10.7.1993. In Deutschland umgesetzt durch das Umweltaudit-Gesetz (UAG) vom 22. September 1995 28 Mitte 1996 noch als Entwurf vorliegend.

76

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

Kombination von Zieldefinition und Sachbilanz (engl. LCI = Life Cycle Inventory) zu hinreichenden Ergebnissen führen, während eine umfassende Analyse die Einbeziehung einer ausführlichen Wirkungsbilanz erfordert (Umweltbundesamt 1993). Im Hinblick auf eine ökologisch zukunftsfähige Entwicklung wird die Anwendung von Produkt-Ökobilanzen nur dann einen strukturell entlastenden Beitrag leisten, wenn dabei auch vorsorgende Indikatoren wie der lebenszyklusweite Material-, Energie- und Flächenverbrauch erfaßt werden, und wenn diesen eine grundlegende Bedeutung bei der Bewertung beigemessen wird. Um die vielfach als noch zu komplex geltende Methodik der Ökobilanzierung zu vereinfachen, für möglichst viele Produkte anzuwenden und nach den grundsätzlichen Erfordernissen einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung auszurichten, wurde vorgeschlagen, die Produktökobilanzierung in einem stufenweisen Verfahren durchzuführen, bei dem in der Eingangsstufe die input-orientierten Hauptindikatoren Material-, Energie- und Flächenverbrauch lebenszyklusweit quantifiziert werden (Bringezu 1993, vgl. auch BUND/Misereor 1996). Eine solche Ressourcenintensitätsanalyse dient einer ersten Einschätzung der wesentlichen Umweltbelastungspotentiale, die mit verschiedenen Alternativen von Produkten, Dienstleistungen, Infrastrukturen, Anlagen usw. verbunden sind (Bild 3.4). Da die hierfür notwendigen Daten zumeist einfacher zu beschaffen sind als bei einer vollständigen Ökobilanz, kann eine solche "Screening-Analyse" für eine größere Anzahl von Produkten durchgeführt werden. Wenn sich im Lauf der ersten Stufe herausstellt, daß zusätzliche detaillierte Informationen notwendig sind, so kann der Zyklus der Ökobilanz erneut mit einer größeren Informationstiefe durchgeführt werden. Ein wesentlicher Teil einer solchen Ressourcenintensitätsanalyse wäre die Bestimmung der Material-Intensität. Die Methodik der Material-IntensitätsAnalyse (MAIA) wurde auf der Basis des MIPS-Konzepts entwickelt (Schmidt-Bleek 1994, 1996). Dabei wird der lebenszyklusweite (Primär-) Material Input pro Service-Einheit dazu herangezogen, um in einem ersten Schritt hinreichende Informationen über die Größenordnung des stoffbezogenen Umweltbelastungspotential von Produkten und Dienstleistungen zu quantifizieren. Durch Erfassung der Materialflüsse "von der Wiege bis zur Bahre" sind die gewählten Systemgrenzen so gesetzt, daß die Ergebnisse aussagefähig im Hinblick auf eine global zukunftsfähige Entwicklung sind. Durch die Ausrichtung an einem input-orientierten HauptIndikator mit vorsorgendem Charakter werden in Bezug auf strukturelle stoffumsatzbedingte Umweltbelastungspotentiale richtungssichere Entscheidungen unterstützt. Spezifische Umweltbelastungen werden damit freilich nicht erfaßt. Eine MAIA kann (und soll) beispielsweise (öko-) toxikologische Analysen nicht ersetzen.

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

77

Bild 3.4. Ressourcenintensitätsanalyse als Eingangsstufe der Ökobilanzierung von Produkten und Dienstleistungen (nach Bringezu 1993).

Mit Hilfe einer MAIA können u.a. verschiedene Basistechnologien verglichen werden. Beispielsweise kann die Herstellung von Stahl aus primären Rohstoffen (Eisenerz) der Herstellung aus Sekundärrohstoffen (Schrott) gegenübergestellt werden (Bild 3.5). Bei diesem Vergleich wird deutlich, daß "von der Wiege bis zum Werkstoff" der Input nicht nachwachsender Materialien und der Wasserverbrauch selbst bei Einbeziehung der vorgelagerten Stoffströme der Elektrizitätserzeugung bei der Aufbereitung von Schrott geringer ausfällt als bei der erzbasierten Herstellung. Nur der Input von Luft (für Verbrennungsprozesse) und der damit verbundene Ausstoß von Kohlendioxid liegen etwas höher. Dieses Beispiel verdeutlicht damit auch die Notwendigkeit, bei der Auswahl verschiedener Technologien durch sinnvolle Prioritätensetzungen auch zwischen unterschiedlichen Umweltbelastungen abzuwägen.

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

78

(t/t) 0 Material abiotisch

Luft

1

2

3

4

5

6

7

Elektrostahl 0xygenstah

|

Elektrostahl Oxygenstahl Elektrostahl

Wasser Oxygenstahl

Bild 3.5. Beispiel des Ergebnisses einer Material-Intensitäts-Analyse Herstellungsrouten des Grundwerkstoffes Stahl (nach Merten et al. 1995).

zweier

Hinsichtlich der Erfassung und Analyse des Status quo läßt sich zusammenfassen: • Die Entwicklung von Indikatoren und Berichtsinstrumenten zur Abbildung des Status quo und des laufenden Trends im Hinblick auf eine ökologisch zukunftsfähige Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. • Wichtige Ansätze für eine regelmäßige Berichterstattung auf nationaler Ebene werden in Deutschland im Rahmen der Umweltökonomischen Gesamtrechnungen verfolgt. • Auf der Firmenebene kommt den betriebsbezogenen und produktlinienbezogenen Ökobilanzen eine besondere Rolle zu. • Bei den Produkt-Ökobilanzen besteht die Möglichkeit eines stufenweisen Herangehens, um deren Praktikabilität zu erhöhen. • Eine ökologisch nachhaltige Entwicklung im Sinne eines Strukturwandels kann durch Produkt-Ökobilanzen nur gefördert werden, wenn auch vorsorgeorientierte Indikatoren (wie Material-, Energie- und Flächen verbrauch) lebenszyklusweit für Produkte und Dienstleistungen ermittelt und bei der Umsetzung in Planungs- und Produktionsprozessen berücksichtigt werden. In diesem Kapitel wurden mit den Aspekten der Zielbeschreibung und der Ist-Analyse wesentliche Voraussetzungen zur Umsetzung einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung aufgezeigt. Als Kernelemente eines ökologischen Strukturwandels werden neben der "Entgiftung" des gesellschaftlichen Stoffwechsels vor allem die Verminderung des Ressourcenverbrauchs und die Reduktion des Massendurchflusses betrachtet. Diese "Dematerialisierung" unserer Wirtschaftsweise ist ohne Wohlstandseinbußen wiederum nur möglich, wenn ein gleicher oder höherer wirtschaftlicher Umsatz mit weniger Material- und Energiedurchsatz erzielt werden kann. Dazu ist vor allem eine Veränderung der Art und Weise des Produzierens (aber auch Konsumierens) nötig. Wie dies erfolgen kann, wird im folgenden Kapitel umrissen.

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

79

4. Strategien und Instrumente zur Förderung einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung Um ausgehend vom Status quo eine ökologisch zukunftsfähige Entwicklung zu erreichen, gilt es, zum einen spezifische Umweltprobleme zu mindern und zum anderen die strukturell bedingte "Grundbelastung" der Umwelt infolge eines ü b e r h ö h t e n R e s s o u r c e n v e r b r a u c h e s auf ein r i s i k o a r m e s , auf Dauer aufrechtzuerhaltendes Niveau abzusenken. Wie in den vorigen Kapiteln ausgeführt, kommt gerade diesem zweiten Aspekt eine besondere Bedeutung im Hinblick auf eine vorsorgende Umweltpolitik zu. Ohne eine Verminderung des Ressourcenverbrauches insbesondere in den Industrieländern ist zu erwarten, daß die nachsorgenden reaktiven Maßnahmen zur Bekämpfung dort und anderswo offenkundig gewordener spezifischer Probleme weiter zunehmen werden. Die Gesamtbelastung der Umwelt (durch strukturelle und spezifische Probleme) wird von mehreren Faktoren beeinflußt, die zueinander in komplexen Wechselwirkungen stehen. Einfache Ursache-Wirkungsbeziehungen können - wie in Kap. 1 erläutert - in den meisten Fällen nicht festgestellt werden. Dazu kommt, daß sich bestimmte Einflußgrößen wechselseitig verstärken. Um zu veranschaulichen, daß grundlegende Parameter des Umweltverbrauchs eher multiplikativ als additiv wirken, formulierten Ehrlich et al. (1975) eine einfache Formel:

Druck auf die Umwelt = Bevölkerung x

(I)

Güterverbrauch

(P)

x

Druck auf die Umwelt

Person

Verbrauchte Gütereinheit

(A)

(T)

Die Formel wurde gelegentlich auch als IPAT-Formel bezeichnet, wobei der Druck auf die Umwelt (I = Impact) von der Zahl der Bevölkerung (P = Population), dem Güterkonsum 2 9 (A = Affluence) und der Umweltbelastung pro Einheit konsumierter Güter abhängt, die wesentlich von der Produktionstechnik (T = Technology) bestimmt wird. Paul Ekins (1994) hat anhand der Ehrlich'sehen Formel verdeutlicht, welche technologischen Anstrengungen notwendig sind, wenn das Ziel einer zukunftsfähigen Entwicklung erreicht werden soll. Hierzu erscheint es notwendig, die globale Umweltbelastung innerhalb der nächsten 50 Jahre in etwa zu halbieren (siehe Kap. 3). Geht man auf der Basis der UNHochrechnungen von 1994 davon aus, daß sich die Weltbevölkerung bis 2050 auf ca. 10 Milliarden Menschen erhöht, so entspricht dies in etwa einer

29

Güter umfassen Produkte und Dienstleistungen

80

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

Verdoppelung. Nimmt man eine gemäßigte Wachstumsrate für den weltweiten Verbrauch an Gütern in der Höhe von zwei bis drei Prozent jährlich an, so würde dies zu einer vierfachen Konsumption bzw. Produktion in 50 Jahren führen. Werden die heutigen Quantitäten mit Index 1 und die Quantitäten in 50 Jahren mit Index 2 bezeichnet, so erhält man: I2 = I,/2, P2 = 2 P lt A 2 = 4 A,. Damit die Formel aufgeht, muß die Umweltlast pro produzierter bzw. konsumierter Einheit auf ein Sechzentel sinken: T 2 = T,/16. Dies würde mit anderen Worten bedeuten, daß die güterspezifische Belastung der Umwelt durchschnittlich um 93 Prozent während der nächsten 50 Jahre fallen müßte, damit diese eher konservative Definition von Nachhaltigkeit realisiert werden könnte (vgl. Kap. 3: Faktor 10). Zur Verminderung der strukturellen und spezifischen Umweltbelastungen können generell folgende Strategien verfolgt werden: (1) Verminderung der Umweltbelastung pro Gütereinheit: Bezogen auf die spezifischen Umweltprobleme (z.B. Treibhauseffekt) würde dies eine Verminderung der spezifischen Umweltbelastung bedeuten (z.B. des lebenszyklusweiten Treibhauspotentials). Bezogen auf die Verminderung der strukturellen Umweltbelastung wäre eine Steigerung der Effizienz bzw. der Ressourcenproduktivität anzustreben. Danach müßten mit weniger Ressourcen (Material, Energie, Fläche) mehr Güter erwirtschaftet werden. (2) Verminderung der Nachfrage nach Gütern pro Kopf: Bei einer Steigerung der Suffizienz (lat. suffizient = genügend, ausreichend) würden weniger Güter nachgefragt. (3) Verminderung der Bevölkerungszahl. Die dritte Strategie ist weltweit von großer Bedeutung. Für ein Industrieland wie Deutschland, wo seit geraumer Zeit kein nennenswertes Bevölkerungswachstum mehr stattfindet, und in dem die Gesamtbelastung durch die produzierten und nachgefragten Güter im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch liegt, gilt es aber vor allem, die Strategien (1) und (2) zu verfolgen. Die Akteure, die diese Strategien anwenden bzw. unterstützen können, sind zum einen die privaten Produzenten und Konsumenten und zum anderen der Staat, der auf verschiedenen Ebenen regulierend eingreifen kann. Im folgenden werden zunächst beispielhaft einige Möglichkeiten aufgezeigt, wie insbesondere im Bereich der Produktion aber auch über die Planung von Infrastrukturen die Ressourcenproduktivität gesteigert werden kann. Sodann werden einige Hemmnisse und Anreize für eine suffizientere Lebensweise skizziert. Die Möglichkeiten staatlicher Maßnahmen im Spannungsfeld Ökologie-Ökonomie werden vorgestellt und einer kurzen Einschätzung im Hinblick auf ihre strukturelle Umweltentlastung unterzogen.

Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

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4.1 Steigerung der Ressourcenproduktivität Soll die Nachfrage nach (Primär- und Sekundär-)Stoffen durch eine Steigerung der Effizienz bzw. der Ressourcenproduktivität gesenkt werden, so sind hierbei folgende Elemente wesentlich: • die grundlegende Orientierung am erwarteten Nutzen, • die Verminderung des Ressourcenverbrauchs "von der Wiege bis zur Bahre", • der Umstieg auf erneuerbare Energien (insbesondere Sonnenenergie), • die Optimierung von Stoffkreisläufen und Kaskadennutzungen. Im folgenden werden hierzu einige Beispiele ausgeführt. Generell erscheint wichtig, daß eine drastische Verminderung des Ressourcenverbrauchs, wie er zur Erreichung einer ökologisch zukunftsfähigen Entwicklung für nötig erachtet wird (siehe Kap. 3), nur durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen erreicht werden kann. Eine radikale Steigerung der Ressourcenproduktivität wäre nach Jänicke (1994) beispielsweise möglich durch: - Steigerung der Lebensdauer der Produkte, - Mehrfach-, Wieder- und Weiterverwendung der Produkte, - Verkleinerung der Produkte, - effizientere Materialnutzung über alle Produktionsstufen, - Recycling. Würde in jedem dieser Bereiche eine Verbesserung um ein Drittel erreicht, so sänke der Verbrauch von Primärmaterialien rechnerisch fast auf ein Zehntel.

4.1.1 Betriebliches Ressourcenmanagement Auf betrieblicher Ebene (in Firmen und Kommunen) kann eine solche Entwicklung durch ein gezieltes Ressourcenmanagement gefördert werden (Bild 4.1). Dabei können zum einen Informationen über den Ressourcenverbrauch einzelner Produkte oder bestimmter Prozeßketten einbezogen werden, und zum anderen Informationen über die Wertschöpfung, die mit den jeweiligen Prozessen verbunden ist. Entscheidend für die Analyse der Ressourcenintensität ist, daß der Verbrauch von Material und Energie sowie die Flächenbelegung "von der Wiege bis zur Bahre" bzw. "von der Wiege bis zur Wiege" (nach Stahel 1991) betrachtet wird. Das betriebliche Ressourcenmanagement umfaßt das Produkt-Management, das Produkt-Design und das Stoffstrom-Management (Liedtke et al. 1994). Das Produkt-Management bezieht sich zum einen auf die Nutzungsart und zum anderen auf die Produktwahl. Von ökologisch entscheidender Bedeutung kann es sein, wenn Produzenten ihre Waren nicht mehr verkaufen sondern vermieten (oder "verleasen"). Bleibt der Anbieter Eigentümer der Ware, dann ist er z.B. an einer langen Nutzungsdauer, einer guten Reparierfähigkeit und an geringen Abfallkosten

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interessiert. Dies kann - insbesondere, wenn er als Produzent diese Produkteigenschaften beeinflussen kann - letztlich zu einem verminderten Verbrauch von Primär-Material und damit zu einer erhöhten Material-Produktivität führen (Hinterberger et al. 1996).

Ressourcenmanagement Stoffstrommanagement Produktionstechnologie und Betriebsverband - Produktherstellung - Recycling - Entsorgung - Logistik

Produktmanagement Nutzungsart - Leasing - Contracting - genossenschaftliche Nutzungskonzepte Produktwahl - Redesign (Substitutionsprodukte) - Entwicklung neuer Produkte

Infrastrukturmanagement - Energieversorgung - Wasserver-, Abwasserentsorgung Produktdesign - Konstruktion - Material - Langlebigkeit - Reparierbarkeit - Wieder-, Weiterverwendbarkeit - Wieder-, Weiterverwertbarkeit - Zerlegbarkeit Wl-Grafik UM-245C/96

Ressourcenintensitätsanalyse

Wertschöpfungsanalyse

Bild 4.1. Elemente des betrieblichen Ressourcenmanagements. Nach Liedtke et al. 1994.

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Entscheidend für den Kunden ist in erster Linie die Erfüllung eines bestimmten Nutzens (= Dienstleistung = Service). Der Erwerb von Eigentumsrechten an bestimmten Dingen mag einerseits aus psychologischen Gründen wichtig sein (siehe Kap. 4.2). Andererseits ist damit aber auch eine größere Verantwortung und vor allem ein größerer zeitlicher und materieller Aufwand für den Kunden verbunden (z.B. wenn die Reparatur, die Wartung und die Entsorgung der gekauften Objekte selbst organisiert und bezahlt werden müssen). Daher besteht auch eine Nachfrage nach dem eigentlichen Nutzen anstelle des Kaufs von Maschinen, Geräten und anderen Objekten. Da Dienstleistungen in vielen Fällen mit deutlich weniger Verbrauch an natürlichen Ressourcen angeboten werden können als der ständige Verkauf der verschiedensten Gerätschaften, gilt es diese Form der Nachfrage durch ein entsprechendes Angebot aus ökologischen Gründen zu unterstützen (Schmidt-Bleek 1994, Weizsäcker et al. 1995). Das Angebot von Serviceleistungen anstelle des Absatzes von Produkten kann sich auch ökonomisch lohnen. Praktiziert wird dies bereits bei Telefonapparaten, Rasenmähern, Hotelzimmern, Autos, Putzlappen für Sonderabfall, Musik-Disketten u.a.m.. Vorsorgender Umweltschutz fängt bei der Planung und Konstruktion von Produkten an. Dies betrifft Ver- und Gebrauchsprodukte, Anlagen, Gebäude und Infrastrukturen. Schmidt-Bleek und Tischner (1995) geben in Anlehnung an das Business Council for Sustainable Development (1994) „7 goldene Regeln" für die Produktgestaltung (das Produkt-Design) auf dem Weg in die Zukunftsfähigkeit an: 1. Jede Bemessung der Umweltverträglichkeit von Produkten muß ihren gesamten Lebenslauf einschließen, die Analyse muß „von der Wiege bis zur Bahre" reichen. 2. Die Nutzungsintensität von Prozessen, Produkten und Dienstleistungen muß wesentlich erhöht werden. 3. Die Materialintensität von Prozessen, Produkten und Dienstleistungen muß im Durchschnitt um einen Faktor 10 abgesenkt, die Ressourcenproduktivität entsprechend angehoben werden. Dies schließt ein, daß die Produkte der Zukunft auch langlebiger und leichter rezyklierbar sein werden. 4 . Die Energieintensität von Prozessen, Produkten und Dienstleistungen muß im Durchschnitt um einen Faktor 10 abgesenkt, die Ressourcenproduktivität entsprechend angehoben werden. 5. Der Landverbrauch pro Einheit Nutzen bzw. Dienstleistung muß minimiert, die Ressourcenproduktivität entsprechend angehoben werden. 6. Der Ausstoß von Gefahrstoffen muß eliminiert werden. 7 . Der ökologisch zukunftsfahige Einsatz von erneuerbaren Ressourcen muß maximiert werden. Das ökologische Produktdesign umfaßt die Berücksichtigung einer Reihe von umweltrelevanten Produkteigenschaften (Tab. 4.1):

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Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

Herstellungsphase

Gebrauchs- / Verbrauchsphase

Rückführungsphase

Entsorgungsphase

Materialeinsatz, Energieeinsatz * Abfallintensität Ausschußrate * Ergiebigkeit, Ausbeute * Werkstoffvielfalt * Transportintensität * Verpackungsintensität * Flächenbedarf Einsatz von Schadstoffen Materialeinsatz, Energieeinsatz * Größe und Gewicht * Flächenbedarf Reinigungsaufwand * Selbstkontroll- und Optimierungsfunktionen * Multifunktionalität * Möglichkeit des Mehrfachnutzens * Möglichkeit des Gemeinsam-Nutzens * Abfallintensität Schadstoffe Langlebigkeit * • Amodische Gestaltung * • Wertschätzung • Oberflächenbeschaffenheit * • Korrosionsbeständigkeit * • Möglichkeit der Instandhaltung * • Reparierbarkeit* • Zerlegbarkeit * • Zuverlässigkeit* • Robustheit * • Materialermüdung und Verschleißanfälligkeit * • Modularer Aufbau und Standardisierungsgrad * • Anpassungsfähigkeit an den technischen Fortschritt * • Kombinationsmöglichkeiten, Variabilität * • Materialzusammensetzung, Komplexität der Baustruktur" • Zerlegbarkeit, Trennbarkeit * • Reinigungsaufwand* • Materialkennzeichnung * • Möglichkeit der „EntSchaffung" * • Weiterverwendbarkeit, Wiederverwendbarkeit * • Wiederverwertbarkeit, Weiterverwertbarkeit * • Möglichkeit des Einsammelns und Sortierens * Materialeinsatz, Energieeinsatz * Kompostierbarkeit, Vergärbarkeit Verbrennungseigenschaften Umwelteinfluß bei Deponierung

* = von MIPS berücksichtigt

Tabelle 4.1. Umweltrelevante Produkteigenschaften (Schmidt-Bleek und Tischner 1995).

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Die mit einem Stern * gekennzeichneten Aspekte beeinflussen den Material Input pro Serviceeinheit (MIPS), der nach Schmidt-Bleek (1994) als Indikator für das lebenszyklusweite Umweltbelastungspotential von Gütern herangezogen werden kann (s. Kap. 3). Dabei kann der Material Input MI in allen Phasen gesenkt werden, während sich die Serviceleistungen S, nur in der Gebrauchsphase und durch Strategien, die neue Gebrauchsphasen möglich machen, optimieren lassen. Insbesondere die Langlebigkeit bzw. die mögliche Nutzungsdauer von Produkten und die sie beeinflussenden Faktoren bestimmen die Nachfrage nach Materialien für deren Herstellung und Ersatz. Beim Design von Produkten kommt der Orientierung an der eigentlich gewünschten Dienstleistung (im Sinne von Nutzen, Service bzw. Funktion) eine besondere Rolle zu. Ihre Bestimmung ist von grundlegender Bedeutung für den Gestaltungsprozeß. Beispielhaft sei die Entwicklung der Kühlkammer "FRIA" von Tischner (1994) genannt. Ausgangspunkt war die Beschreibung der Dienstleistung eines Kühlschrankes, einen kühlen und dunklen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem Lebensmittel längere Zeit frisch bleiben und das möglichst in der Nähe des Ortes, an dem sie zubereitet und verzehrt werden. Das Ergebnis des Designprozesses war eine Kühlkammer, die in die Außenwand von Gebäuden integriert wird, um im Winter die kühle Außenluft zu nutzen. Ein langlebiger Korpus mit hoher Wärmedämmung, modularer Aufbau, variables Kühlvolumen, Austauschbarkeit von Aggregat und äußerem Design führen über die gesamte Lebensdauer zu einer Halbierung des Energieverbrauchs und einer Reduktion der zur Herstellung eingesetzten Materialien (ohne "ökologische Rucksäcke") auf ein Sechstel im Vergleich zum konventionellen Kühlschrank. Dieses Beispiel soll erstens verdeutichen, daß mit Phantasie und Kreativität neue technologische Varianten gefunden werden können, welche den gewünschten Nutzen mit deutlich weniger Umweltbelastung bereitstellen können. Zweitens ist damit ein Hinweis gegeben, daß die nötige Reduktion des gesamten Stoffdurchsatzes industrialisierter Wirtschaften um durchschnittlich mindestens 90 % sehr wahrscheinlich nur mit völlig neuen technologischen Ansätzen erreicht werden kann. Das Stoffstrom-Management umfaßt zum einen die Wahl der jeweiligen Prozeßtechnologie. Zum anderen ist es auch ein betriebsübergreifender Ansatz, bei dem versucht wird, die Stoffflüsse von der Rohstoffgewinnung über die Produktherstellung bis zu Recycling und Entsorgung zu optimieren und zwischen diesen Ketten ggfs. "kurzzuschließen". Hier kommt dem "vertikalen" Zusammenschluß von Unternehmen entlang der Produktionskette im Vergleich zu "horizontalen" Kooperationen von Firmen derselben Produktionsstufe eine große Bedeutung zu. Maßnahmen in einer Firma können zu Einsparungen von Material und Energie in anderen Firmen, der vor- oder nachgelagerten Produktionskette führen. Durch betriebs-, firmen- und branchenübergreifende Kooperationen kann der damit

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verbundene wirtschaftliche Gewinn über "Wertschöpfungsgemeinschaften" (nach Liedtke et al.) so verteilt werden, daß das gemeinsame Handeln im Sinne der Ökologie für alle Kooperationspartner ökonomisch attraktiv wird. Auch die Logistik gehört zum Stoffstrom-Management. Hier wird u.a. Uber die Wahl zwischen globalem und regionalem "Sourcing" entschieden, d.h. über die Frage, ob die benötigten Rohstoffe bzw. Vorprodukte weltweit oder aus der Region beschafft werden. Mit dieser Entscheidung sind nicht nur unterschiedliche Transportdistanzen, verschiedene Verkehrsmittel und damit verbundene Umweltbelastungen verbunden. Die vorgelagerten Produktionsprozesse können auch eine sehr unterschiedliche Ressourcenintensität aufweisen. Dies bedeutet zunächst, daß bei gleichem Transportmittel und gleichen Vorprozessen die kürzere Beschaffungsdistanz generell mit weniger Umweltbelastungen verbunden ist. Werden jedoch unterschiedliche Verkehrsträger verwandt und sind die vorgelagerten Produktionsprozesse verschieden, so muß jeweils geprüft werden, welche Art der Beschaffung mit ingesamt weniger Umweltbelastungen verbunden ist. Eine längere Transportdistanz kann im Einzelfall mit einer geringeren Gesamtbelastung verbunden sein als eine Beschaffungsvariante mit kürzerer Transportdistanz. Ein Beispiel: Kranendonk und Bringezu (1993) untersuchten den Treibstoff- und Wasserverbrauch bei der Beschaffung von Apfelsinenkonzentrat, das in Deutschland zu Orangensaft verarbeitet wird. Das Konzentrat wird in der Regel mit Kühlschiffen aus Brasilien beschafft. Eine ca. 4000 km kürzere Strecke bei einer Beschaffung aus Florida wäre mit deutlich mehr Umweltbelastungen verbunden, da der Treibstoff- und Wasserverbrauch aufgrund der Anbaubedingungen in Florida wesentlich höher liegt als in Brasilien. Das Beispiel zeigt jedoch auch, daß die grundlegende Wahl des Produktnutzens entscheidend für die jeweiligen Schlußfolgerungen und Priortitätensetzungen ist. Denn die Nachfrage nach Fruchtsaft kann auch durch Apfelsaft, der aus einheimischer Produktion stammt, gedeckt werden. Nur wenn es unbedingt Orangensaft sein muß, wird die o.g. Differenzierung relevant. Wesentlich für den Verbrauch von Material und Energie ist auch das Infrastrukturmanagement, d.h. die Planung, Errichtung und Unterhaltung einer gesicherten Energieversorgung, Wasserver- und Abwasserentsorgung. Die zentrale auf fossilen Energieträgern basierte Bereitstellung von Elektrizität und Wärme in Großanlagen und über große Verteilernetze ist mit großen Stoffströmen verbunden (vgl. Bild 3.2). Auch die Fernversorgung mit Frischwasser in Trinkwasserqualität und die zentrale Sammlung und Aufbereitung von Abwasser weisen eine Materialintensität auf, die beispielsweise in ländlichen Räumen mit einer niedrigen Bevölkerungsdichte zu unverhältnismäßig hohen Verbrauchen (insbesondere durch Rohrleitungen, Ausschachtungen etc.) führt.

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4.1.2 Zukunftsfähige Energieversorgung Zur Sicherung einer zukunftsfähigen Energieversorgung gilt es zunächst, die Größenordnung des bestehenden Verbrauchs durch nachfrageseitige Maßnahmen ("demand side management") zu senken. Hierzu gehört der effiziente Umgang mit Energie in Betrieben und Haushalten, die Verwendung energiesparender Technologien und die Nachfrage nach Energiedienstleistungen. Der Einsatz von energiesparenden Haushaltsgeräten, sogar das Verschenken beispielsweise von Energiesparleuchten, kann sich auch für die Anbieter von Nutzenergie ökonomisch lohnen. Durch sog. "Least-Cost-Planning" können Energieversorgungsunternehmen "Einsparkraftwerke" bauen, die mit geringeren Kosten verbunden sind als der Neubau zusätzlicher Kraftwerke. Um die Nachfrage nach Energiedienstleistungen mit möglichst geringem ökonomischen Aufwand und natürlichem Ressoucenverbrauch decken zu können, werden sog. "Contracting-Modelle" angewandt. Der Anbieter der Energiedienstleistung garantiert z.B. eine ausreichende Beleuchtung oder Temperierung der vom Nachfrager genutzten Räume. Durch die geschickte Organisation der dazu nötigen Teilleistungen und ein längerfristig angelegtes Finanzierungsmodell können für alle Beteiligten ökonomisch vorteilhafte Lösungen gefunden werden, die aufgrund der jeweiligen Eigeninteressen mit einem geringeren Verbrauch an Material und Energie verbunden sind als die konventionelle Form des (Ver-)Kaufs von Lampen und Strom, Heizungsanlagen und Heizungsmaterialien (Weizsäcker 1994). Nutzenergie muß künftig mit einem deutlich verminderten Verbrauch natürlicher Ressourcen bereitgestellt werden. Für die Versorgung mit nutzbarer Endenergie stehen auf betrieblicher Ebene heute bereits Alternativen zur Verfügung, die eine deutlich geringere Materialintensität pro Megawattstunde aufweisen als konventionelle Systeme. Bei einem mittelständischen Küchenhersteller untersuchte Manstein im Rahmen eines von Liedtke et al. (1996) durchgeführten Öko-Audits die Materialintensität der zum Einsatz kommenden Energiesysteme (Bild 4.2). Der Betrieb verfügt über eine eigene Windkraftanlage, ein erdgasbetriebenes Blockheizkraftwerk sowie eine erdgasbetriebene Heizungsanlage. Er ist in Bezug auf die elektrische Energie weitgehend autark, speist netto überschüssigen Strom in das öffentliche Netz ein, und bezieht daraus nur in Zeiten von Spitzenbelastungen Strom. Ein Vergleich der Materialintensität der Bereitstellung elektrischer Energie zeigt, daß der Strom aus der Windkraftanlage mit insgesamt deutlich geringeren Verbrauchen an abiotischen (nicht nachwachsenden) Primärmaterialien, Wasser und Luft verbunden ist als die Elektrizität aus dem öffentlichen Netz (der Input an Luft ist dabei im übrigen proportional zum Ausstoß von Kohlendioxid). Ein Vergleich zwischen

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dem Blockheizkraftwerk und der Heizungsanlage ist nicht ohne weiteres möglich, da im ersten Fall elektrische und thermische Energie und im zweiten Fall nur thermische Energie bereitgestellt werden. Das Beispiel zeigt jedoch, daß ein bestimmter Bedarf an verschiedenen Energieformen durch die Wahl geeigneter Technologien so gedeckt werden kann, daß damit der Materialverbrauch (insbesondere an nicht erneuerbaren Ressourcen) minimiert wird. 83.431

4.690

H

abiotische Materialien

[2

Wasser



Luft

[kg/MWhJ

Windkraftanlage (WKA)

Öffentliches Stromnetz

Blockheizkraftwerk

Heizungsanlage

(erdgasbetrieben) (erdgasbetrieben)

Bild 4.2. Materialintensität verschiedener Energiebereitstellungssysteme (Manstein in Liedtke et al. 1996).

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Zur langfristigen Sicherung der Energieversorgung ist es unerläßlich, in zunehmendem Maße erneuerbare Energien einzusetzen. Dies betrifft zunächst die Solarenergie, die bislang weitgehend ungenutzt auf die Oberfläche von Gebäuden einstrahlt. Die Möglichkeiten der aktiven oder passiven Nutzung werden von einigen Autoren ausführlich beschrieben (z.B. Lehmann und Reetz 1995). Auch die Energie des Windes kann besonders in windreichen Regionen bereits jetzt ökonomisch genutzt werden. Durch die Nutzung erneuerbarer Enerigieträger kann der Einsatz herkömmlicher Primär-Materialinputs (z.B. von fossilen Energieträgern) vermindert werden kann. Zum "ökologischen Nulltarif' sind aber auch diese Inputs nicht zu haben. Denn ihre Nutzung bedingt Infrastrukturen, die unterschiedlich materialintensiv sein können. Auch kann beispielsweise ein unterschiedliches Verhältnis von Material Input zu erzeugter Kilowattstunde vorliegen (vgl. Bild 4.2). Daher sollte der Auswahl der Alternativen grundsätzlich eine Analyse der Materialintensität vorausgehen, um abzuklären, inwieweit es sich netto um "Gratis-Inputs" handelt. Zu • • • • • • •

den Technologien, mit denen erneuerbare Energien genutzt werden können, zählen Solarthermie (Sonnenkollektoren zur Wärmenutzung) Solararchitektur (passive und aktive Wärmenutzung) Solarthermische Kraftwerke (vor allem für Regionen hohen Angebots) Photovoltaik (elektrische Energie) Windkraft (mechanische und elektrische Energie) Biomassenutzung (Wärme, mechanische und elektrische Energienutzung) Wasserkraft (mechanische und elektrische Energie).

Das technische Potential zur Nutzung erneuerbarer Energien liegt in Deutschland so hoch, daß der gesamte Stromverbrauch und drei viertel des Wärmeverbrauchs mit bereits verfügbaren Technologien gedeckt werden könnten (Bild 4.3). Berücksichtigt man zudem die Möglichkeiten, insbesondere den Verbrauch von Wärme durch Maßnahmen zur Effizienzsteigerung zu senken, so wäre es technisch bereits heute möglich, die Energieversorgung auf eine erneuerbare Basis zu stellen. Neben dem technischen Potential ist allerdings auch das wirtschaftliche Potential einer Energietechnik zu berücksichtigen (Lehmann und Reetz 1995). Zwar sind einige Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien bereits heute konkurrenzfähig (z.B. Windkraft, Holz für Heizzwecke). In einigen Fällen sind aber fossile Energieträger im Vergleich zu erneuerbaren (insbesondere Photovoltaik) noch deutlich billiger in den Bereitstellungskosten. Denn eine Einbeziehung der längerfristig zu erwartenden Kosten z.B. über die Endlagerung von Nuklearabfällen in die heutigen Strompreise findet ebensowenig statt wie eine betriebswirtschaftliche Berücksichtigung der volkswirtschaftlichen Kosten infolge des anthropogenen Treibhauseffekts. Daher ist die Geschwindkeit der weiteren Einführung von derzeit noch nicht konkurrenzfähigen Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien von deren Weiterentwicklung zur Großserienreife abhängig.

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Geothermie biogene gasförmige Brennstoffe biogene Festbrennstoffe Wasser Wind Photovoltaik/ Solarthermie Ist

Potential Strom

Ist

Potential Wärme

Bild 4.3. Technische Potentiale und Nutzungsstand der Strom- und Wärmeerzeugung mit regenerativen Energien Mitte der neunziger Jahre in Deutschland (BUND/Misereor 1996).

4.1.3 Recycling und Kaskadennutzung Ein weiteres Strategieelement zur Erhöhung der Ressourcenproduktivität umfaßt die weitestgehende Nutzung der möglichen Recycling- und Kaskadenpotentiale. Recycling zielt auf den erneuten Einsatz von Abfallstoffen zum ursprünglichen Zweck ab. Die Materialien, bei denen dies nicht möglich ist, können häufig durch andere kaskadenförmig nachgeschaltete Prozesse einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Verbrennung von Altpapierfraktionen zur Energiegewinnung, wenn die Papierfaserlänge einen für das Recycling kritischen Wert unterschritten hat. Die Möglichkeiten des Recyclings und der Kaskadennutzung sind insbesondere im Hinblick auf ein betriebsübergreifendes Stoffstrommanagement bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Allerdings sollte die generelle Bedeutung des Recyclings bzw. der Kreislaufwirtschaft als "Mittel gegen den Durchfluß" nicht überbewertet werden, da ein erheblicher Teil des Stoffdurchsatzes der Wirtschaft dieser Strategie nicht zugänglich ist (s. Bild 3.2). Doch auch dort, wo ein Recycling grundsätzlich sinnvoll sein kann, sollte im einzelnen geprüft werden, ob eine geplante Recyclingtechnologie tatsächlich netto zu Einsparungen an Primärmaterial führt. Beispielsweise kann für einige Varianten des rohstofflichen Recyclings von Kunststoffen nachgewiesen werden, daß sie bei einer Analyse "von der Wiege

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bis zur Wiege" mehr Primärmaterial verbrauchen als die jeweilige Herstellung aus fossilen Rohstoffen (Bild 4.4).

Sekundärerzeugung MI (t/t)

Primärerzeugung MI (t/t)

12

PVC 8,77

PE 4,6

I I I \

rohstoffliche Verwertung + — » - ' W e r k s t o f f PVCl Werkstoffbereitstellung 1 1

rohstoffliche Verwertung + Werkstoffbereitstellung

A• \

werkstoffliche V e r w e r t u n g

! - T Î - T j -T1 . n . T I , - n ,T1 1—I—!—T I—T—I 1 [' 10 20 J a h r e Gebrauchsphase (Rohr, Fenster) Recycling

—» Werkstoff PE Werkstoff PVC / PE Wl-Gfafik UM474 / 95

Dienstleistungseinheiten

Bild 4 . 4 . Recycling ist ökologisch nicht immer sinnvoll: Die rohstoffliche Verwertung von Kunststoffen kann mehr natürliche Ressourcen verbrauchen als die ursprüngliche Herstellung auf der Primärroute. Quelle: Schmidt-Bleek und Liedtke 1995.

4.1.4 Einbindung in die Planung Damit die genannten Strategien auf betrieblicher Ebene erfolgreich umgesetzt werden können, bedarf es einer Reihe von Voraussetzungen. Zunächst muß ein Interesse bestehen, ökologische Zielvorstellungen in planerische Entscheidungen einzubeziehen. Ökonomische und soziale Handlungsspielräume müssen erkannt und genutzt werden (z.B. über längere Kalkulationsperioden bzw. flexible Beschäftigungsvarianten). Wenn dabei zusätzliche Renditen erschlossen werden, wird der Anreiz steigen, neue Wege zu beschreiten. Doch müssen auch ein gewisses Know-How und eine organisatorische Kapazität vorhanden sein, einen geringeren Massendurchsatz mit höherem Gewinn zu verbinden. Dabei scheint die Etablierung eines regelmäßigen und systematischen Suchprozesses nach Möglichkeiten einer erhöhten Materialproduktivität wesentlich zu sein. Als generelle Vorgehensweise bei der Planung von Herstellung oder Bezug von Produkten, Anlagen oder Infrastrukturen empfiehlt sich folgende Vorgehensweise, um systematisch die gegebenen Möglichkeiten erhöhter Materialproduktivität zu eruieren: 1. Definition des nachgefragten Dienstleistungsbündels (Dienstleistung = Nutzen = Service = Funktion)

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Viertes Kapitel: Strategien und Instrumente

Im Grunde fragen Konsumenten nicht Produkte als solche, sondern deren nutzenstiftende (ihnen nützende) Eigenschaften nach (SRU 1991), z.B. die Einhaltung einer bestimmten Mindestraumtemperatur im Winter, nicht jedoch ein bestimmtes Energieumwandlungssystem. Die Klärung der Frage "Was wird für den zur Diskussion stehenden Zweck eigentlich gebraucht?" soll weniger eine Bedürfnisdebatte auslösen, als vielmehr die Möglichkeiten erweitern, geeignete Lösungsmöglichkeiten zu finden. Wird nicht nur nach bestimmten Produkten gefragt, sondern nach dem gewünschten Nutzen, so erweitern sich die Möglichkeiten zu dessen Befriedigung erheblich (siehe oben Beispiel FRIA). 2. Suche nach material-(und energie)extensiveren Lösungen Zur Entscheidungshilfe sind Informationen zumindest über die Größenordnung der lebenszyklusweit mit den jeweiligen Alternativen verbundenen Stoffflüsse erforderlich. Diese können über eine Materialintensitäts-Analyse (MAIA) bereitgestellt werden (Schmidt-Bleek 1996). Diese Methodik ist darauf abgestellt, in kurzer Zeit mit wenig Aufwand zu ersten hinreichenden Aussagen zu gelangen. Je nach Objekt können und sollten zusätzliche Informationen (z.B. über toxische oder ökotoxische Emissionen) mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Bei Bedarf kann dies zum einen in eine vollständige Produktökobilanz bzw. in eine Umweltverträglichkeitsprüfung von Investitionsvorhaben einmünden (vgl. Bild 3.4). Die MAIA von Produkten, Anlagen oder Infrastrukturen kann aber auch Grundstein für eine betriebliche Stoffbuchhaltung 3 0 sein, bei der alle materiellen Ein- und Ausgänge physisch dokumentiert werden, um Verluste aufzuspüren und Einsparmöglichkeiten zu eruieren. Auch eine Analyse bestimmter als kritisch erachteter Substanzflüsse durch den Betrieb kann zusätzlich wertvolle Informationen zur Verringerung spezifischer Umweltbelastungen ergeben (Brunner et al. 1995, Baccini und Baader 1996). Die Erfassung und Dokumentation von Stoffflüssen ist damit eine wichtige Grundlage des betrieblichen Öko-Controlling. Dabei kann sich im Laufe der Analyse auch ergeben, daß Frage Nr. 1 erneut aufgeworfen werden sollte, um zu deutlich weniger umweltbelastenden Lösungen mit einer erhöhten Materialproduktivität zu gelangen. Zusammenfassend läßt sich sich festhalten: • Es gibt bei gegebenen rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Reihe von Möglichkeiten, den Ressourcenverbrauch für Produkte und Dienstleistungen mit Hilfe geeigneter Managementinstrumente auf betrieblicher Ebene zu verringern und dies mit ökonomischem Erfolg zu verbinden (weitere Beispiele siehe Weizsäcker et al. 1995). 30

Der Begriff "Stoff' wird hier als Oberbegriff verwendet, der die Begriffe "Materialien" und "Substanzen" umfaßt

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Entscheidend dabei ist die Ausrichtung am eigentlich gewünschten Nutzen (Service, Dienstleistung, Funktion), die Berücksichtung des systemweiten Ressoucenverbrauchs ("von der Wiege bis zur Wiege"), der Umstieg auf ressourcenschonende erneuerbare Energien und die Nutzung von Kreislauf- und Kaskadenpotentialen. Die Möglichkeiten zur Steigerung der Ressourcenproduktivität können systematisch genutzt werden, wenn bereits bei der Planung von Produkten (auch Anlagen, Infrasstrukturen usw.) und Dienstleistungen eine entsprechende Prüfung routinemäßig stattfindet.

4.2 Steigerung der Suffizienz Ein gewichtiges Argument gegen die Überbetonung des Effizienzgedankens liegt in der Erfahrung, daß alle Effizienzsteigerungen in der Vergangenheit letztlich nur zu einer größeren Nachfrage nach effizienteren Produkten und insgesamt zu gesteigerten Umsätzen an Material geführt haben. Kennzeichend für die industrielle Revolution war die Möglichkeit, mit Hilfe von Maschinen wesentlich mehr Rohstoffe zu gewinnen, zu verarbeiten und daraus Waren herzustellen, als dies vorher nur mit menschlicher Arbeit und einfachem Werkzeug in der gleichen Zeit möglich gewesen war. Die damit verbundene Erhöhung der Arbeitsproduktivität ging mit einem drastisch erhöhten Verbrauch an natürlichen Ressourcen einher. In neuerer Zeit werden auch Effizienzsteigerungen bei Produkten, die ökologisch begründet werden, z.B. ein niedriger Treibstoffverbrauch bei Kraftfahrzeugen, durch eine erhöhte Nachfrage nach diesen Produkten überkompensiert. Insgesamt besteht die Gefahr, daß die Einsparungen natürlicher Ressourcen durch Effizienzsteigerungen infolge eines steigenden Wirtschaftswachstums aufgezehrt werden. Eine absolute strukturelle Entlastung der Umwelt wird daher nur möglich sein, wenn neben der Steigerung der Ressourcenproduktivität die Nachfrage nach Gütern begrenzt wird, so daß sie langfristig zumindest nicht mehr steigt. Weil unser bisheriges Wohlstandmodell zu einem hohem Maß mit der Verfügbarkeit und dem Verbrauch von Gütern verbunden ist, wurde daher von verschiedener Seite ein "neues Wohlstandsmodell" gefordert. Unter einem neuen Wohlstandsmodell versteht Weizsäcker (1992) einen historischen Wandlungsprozeß, weg von dem Wohlstand der Verschwendung hin zu einer neuen Kultur, die Qualität vor Quantität setzt, die nicht durch mißmutigen Verzicht sondern planvolle Selbstbegrenzung, durch eine neue Art von Luxus gekennzeichnet sein soll. Dabei kommt es weniger auf Verzicht sondern die "Kunst des Genießens" an (Bierter 1995).

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4.2.1 Pro- und post-materielle Werte Suffizienter leben heißt, immer häufiger die Frage zu stellen, ob bestimmte materielle Güter nötig sind, ob weniger nicht genug, j a sogar mehr sein könnte. Doch die materielle Ausrichtung der Bedürfnisbefriedigung wird entscheidend von gesellschaftlichen Wertestrukturen bestimmt. Dabei sind die Ergebnisse der Forschungen über einen Wertewandel der Industriegesellschaft zweideutig. W o l f g a n g Sachs weist in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" (BUND/Misereor 1996) darauf hin, daß zum einen in den siebziger Jahren festgestellt wurde, daß insbesondere jüngere Personen mit gehobenem Bildungsstand in den entwickelten Konsumgesellschaften zunehmend postmateriellen Wertvorstellungen zuneigten; d.h. sie strebten weniger nach Pflichterfüllung in der Arbeit, Güterbesitz im Konsum und wirtschaftlicher Sicherheit, sondern eher nach Selbstenfaltung, Lebensfreude sowie sozial- und umweltfreundlichen Verhältnissen (Inglehart 1977). Dafür wurden zwei Erklärungen herangezogen. Die Sozialisationshypothese besagt, daß Menschen, die unter Bedingungen von Kargheit und E n t b e h r u n g aufgewachsen sind, stärkere materielle Bedürfnisse entwickeln, als diejenigen, die in ihrer Jugend keinen Mangel erlebt haben. Die Knappheitshypothese geht davon aus, daß Menschen, die inmitten von materiellem Wohlstand groß werden, eher nicht-materielle Güter als knapp erfahren und ihnen einen höheren Stellenwert beimessen. Zum anderen wurde in den achziger und neunziger Jahren festgestellt, daß neben dem distanzierten Konsumenten, der zurückhaltend und selektiv kauft und mehr nach Qualität als nach Quantität sucht, auch der erlebnissüchtige Konsument auftritt, der Waren und Serviceleistungen nach ihrem Genuß- und Inszenierungswert verbraucht. Der Wertwandel hat nicht nur zu post-materialistischen sondern auch "neo-materialistischen" Grundhaltungen geführt (Wiswede 1991). In der "Erlebnisgesellschaft" sind die Produkte nicht einfach Träger eines instrumenteilen Nutzens, sondern haben auch eine "expressive Funktion". Sie stellen ein "System von Zeichen" dar, mit denen der Käufer Signale über sich selbst, seine Familie und seine Freunde gibt. Während in den sechziger Jahren dieses Zeichensystem vorwiegend hierarchisch gegliedert war, um Statuspositionen mitzuteilen, wird es seither von einem horizontal und zeitlich differenzierten System überlagert, das Lebensmilieus und Aktualitätsstand signalisiert. Post-materielle und materielle Wertorientierungen bestehen - getragen von verschiedenen Personen - nebeneinander. Ein eindeutiger Wertewandel, der mit der zunehmenden materiellen Absicherung zu einer Sättigung der materiellen Nachfrage führt, die nicht nur auf individueller sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene wahrnehmbar ist, kann bislang nicht festgestellt werden (BUND/Misereor 1996).

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Die jeweiligen individuellen Werte, die sich zu einem gesellschaftlich erkennbaren Muster vereinen, sind mit unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen verbunden und varieren mit dem Grad der Selbstbestimmtheit menschlichen Handelns.

Ursachen

Merkmale

Autonomieorientierung >zugewandt
agressiv
angepaßt