Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2010: Neutralitätsprinzip - Zuordnung von Vorleistungen - Grenzüberschreitender Handel - Organschaft 9783504382605

Der Band dokumentiert die Vorträge der Hochschultage für das Umsatzsteuerrecht am 23. und 24.9.2010. Aus dem Inhalt:

128 113 12MB

German Pages 257 Year 2011

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Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2010: Neutralitätsprinzip - Zuordnung von Vorleistungen - Grenzüberschreitender Handel - Organschaft
 9783504382605

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Englisch/Nieskens (Hr.;g.) Umsatzsteuer-Kongress-Bericht 2010

Schriften zum Umsatzsteuerrecht Band 26

Herausgegeben vom Umsatzsteuerforum e.V.

UmsatzsteuerKongressBericht 2010 Neutralitätsprinzip ·Zuordnung von Vorleistungen · Grenzüberschreitender Handel · Organschaft Herausgegeben vom UmsatzsteuerForum e.V. durch

Prof. Dr. joachim Englisch Universität Münster

Prof. Dr. Hans Nleskens Vorsitzender des Vorstandes, Münster

2011

Verlag

Dr.OftoSchmidt

Köln

Zltlerempfehlung: Autor in Englisch/Nieskens (Hrsg.), UmsatzsteuerKongress-Bericht 2010, Köln 2011, S ....

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221/93738-01, Fax 0221/93738-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-62226-8

©2011 by V erlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht

ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere fiir Vervielfliltigungen, Bearl>eitungen, Übersetzungen, Mikroverfihnungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungshestiindig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung nach einem Entwurf von: Jan P. Lichtenford Druck und Verarl>eitung: Betz, Darmstadt Printed in Germany

Vorwort Der 10. Umsatzsteuer-Kongress des UmsatzsteuerForums e.V. - Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts - fand am 23. und 24. September 2010 in Münster statt. Der vorliegende Band dokumentiert die auf diesem Kongress gehaltenen Vorträge, die teilweise aus Gründen der Aktualität überarbeitet und mit Hinweisen auf Rechtsprechung, Literatur und Verwaltungsmeinungen erweitert worden sind. Im Mittelpunkt der "Münsteraner Hochschultage für das Umsatzsteuerrecht in der Praxis" standen Themenkomplexe, die man zu den aktuellen Brennpunkten in der Umsatzsteuer zählen kann. Im Zentrum des ersten Tages standen deshalb auch grundlegende Prinzipien und Problemfelder der deutschen Umsatzsteuer im Verbund eines europäischen Mehrwertsteuersystems. Welchen Stellenwert hat das tragende Prinzip der Neutralität im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem? Welche Konsequenzen haben die Entscheidungen des EuGH und des BFH im Zusammenhang von Vorsteuerabzug und nichtsteuerbaren Aktivitäten auf das deutsche Umsatzsteuerrecht? Die grenzüberschreitenden Leistungen waren Gegenstand des zweiten Themenkomplexes des ersten Tages. Schwerpunktmäßig wurden die Problemfelder der neuen Ortsbestimmungen in §§ 3a ff. UStG und der Zuordnung von sonstigen Leistungen zu einer Betriebsstätte sowie im Bereich der grenzüberschreitenden Lieferungen aktuelle Fragen zu den Nachweispflichten erörtert. Schwerpunkt des zweiten Tages war die umsatzsteuerrechtliche Organschaft, ein Thema, das jüngst durch den BFH und seine geänderte Rechtsprechung in den Fokus des Umsatzsteuerpraktikers gerückt ist. Diskutiert wurden Probleme der mittelbaren finanziellen Eingliederung bis hin zu Fragen rund um die organisatorische Eingliederung. Es war für die Vereinigung eine besondere Ehre, unter den zahlreichen und hochrangigen Vertretern der Wissenschaft, der Wirtschaft, der steuerberatenden Berufe, der Gerichtsbarkeit und der Finanzverwaltung auch Gäste aus dem europäischen Ausland begrüßen zu dürfen. Der Dank des UmsatzsteuerForums gilt nicht nur der Universität Münster, in deren Räumen der Kongress stattgefunden hat, sondern

V

Vorwort

auch dem Lehrstuhl von Prof. Dr. Englisch, der den Kongress organisatorisch mit betreut hat. Die Sponsoren, allen voran die Verlage Dr. Otto Schmidt und Stollfuß sowie die A WA, haben durch ihre großzügige Unterstützung den Umsatzsteuer-Kongress sowie diesen Tagungsband erst ermöglicht. Münster, im Mai 2011

VI

Prof. Dr. HANS NIESKENS

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort

V

Prof. Dr. HANS NIESKENS Vorsitzender des Vorstands des Umsatzsteuer Forum e.V., Münster

Begrüßung und Eröffnungsansprache ..........................................

1

THOMAS HENZE, M.L.E. Leiter des Referats der Bundesrepublik Deutschland vor den europäischen Gerichten", Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin

Grundsatz der steuerlichen Neutralität im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem -Eine Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des EuGH-

I.

Bedeutung der Harmonisierung der Mehrwertsteuer für den Binnenmarkt .............................................. .......... .........

7

II.

Einzelne Ausprägungen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität 1. Steuerliche Neutralität und Vorsteuerabzug (Belastungsneutralität) ..................................................... 10 2. Steuerliche Neutralität und Vermeidung der Doppelbesteuerung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen (Belastungsneutralität) ...................................................... 13 3. Steuerliche Neutralität als Ausprägung des Wettbewerbsprinzips und des Gleichheitsgrundsatzes (komparative Neutralität) ............................. .................... 13

III.

Einschränkungen der steuerlichen Neutralität ....................... 20

IV.

Zusammenfassung ..................................................................... 24

VII

Inhaltsverzeichnis Seite

Prof. Dr. JOACHIM ENGLISCH Universität Münster

Vorsteuerabzug und nicht steuerbare Aktivitäten - Zuordnung von Vor Ieistungen I.

Einleitung ....................... ............................................................ 25

II.

Vorbemerkungen zur sog. Sphärentheorie ............................. 32

III.

IV.

Kategorien nicht steuerbarer Aktivitäten ................................ 1. Keine Leistungserbringung .............................................. 2. Kein Leistungsaustausch mangels Entgeltlichkeit 3. Kein Leistungsaustausch mangels Zweipersonenverhältnisses ........ ......... .......................... ............ ................ 4. Nichtunternehmerische Leistungserbringung ................ Vorsteuerabzug 1. Grundsätzliche Erwägungen ............................................ 2. Rechtsprechungsgrundsätze ............................................. 3. Aufteilungsmaßstab bei gemischter Verwendung ......... 4. Zuordnungswahlrecht bei gemischter Verwendung? ...

41 41 45 50 51 53 61 72 75

WERNER WIDMANN Ministerialdirigent im Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz, Mainz

Problemfelder der Neuregelung zur Ortsbestimmung sonstiger Leistungen I. II.

VIII

Einführung .... ....... ............................. .. ............. ........... ... ............ 92 Ursachen und Wirkungen der normativen Schwierigkeiten 1. Bisherige Schwierigkeiten sind kaum ausgeräumt .. ...... 2. Aber beachtlicher Vereinfachungseffekt ......................... 3. Genaue Leistungsbeschreibung bei der Rechnung weiterhin nötig ..................... ............ ........... ............ .. .... ..... 4. Zusammengesetzte Leistungen ........................................ 5. Tatbestandliehe Probleme bei den "ähnlichen Leistungen" ........................ ................................................

93 93 94 95 95

Inhaltsverzeichnis Seite

6. Bipolarer Aufbau der Norm 7. Wann handelt der Unternehmer "als solcher"? ........... . 8. Zusammenhang mit der Steuerschuldverlagerung auf den Leistungsempfänger ................................................ . 9. Angaben in der Zusammenfassenden Meldung ......... .. 10. Erneute Änderungen bei§ 3a Abs. 3 Nr. 3 UStG zum 1.1.2011 ............................................................................. . 11. Unvermeidbare Vollzugsdefizite ................................... 12. Gemischter Leistungsbezug ............................................ 13. BMF-Schreiben vom 8.12.2009 ........................................ 14. Bezüge der juristischen Personen des öffentlichen Rechts ................................................................................ 15. Nichtverwendung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer ............................................................................ 16. Vermittlung von Zimmern in Hotels u.ä .......................

IIL

97 97 98 99 99 101 102 103 104 105 106

Fazit ................ .......... ................... .................................... .......... 106

Dipl.-Fw. (FH) SIEFAN HEINRICHSHOFEN Rechtsanwalt, Steuerberater und Fachanwalt für Steuerrecht, München

Zuordnung von sonstigen Leistungen zu einer Unternehmensbetriebsstätte I.

Einleitung ................ ............. .. .................................... ........ ...... 109

II.

Definition der Unternehmensbetriebsstätte 1. Allgemeine Ausführungen .............................................. 110 2. Sonderthematik der Organgesellschaft als Betriebsstätte .................................................................................. 112 3. Sonderthematik der festen Verbindung zur Erdoberfläche ................................................................................. 113

III.

Bedeutung der Zuordnung und maßgebliche Zuordnungskriterien 1. Ausgangsumsätze ............................................................ 114 2. Bedeutung für das Besteuerungsverfahren ................... 124

IX

Inhaltsverzeichnis Seite

3.

IV.

Bedeutung für Eingangsleistungen

127

Zusammenfassung und Ausblick ........................................... 129

Prof. Dr. ALEXANDER NEESER Fachhochschule Ludwigsburg

Nachweispflichten und Gutglaubensschutz beim Warenund Dienstleistungsexport I.

Entwicklung ............................................................................. 131

JI.

BMF-Schreiben vom 6.1.2009 und vom 5.5.2010 ................... 134

lii.

Wichtige Verfahren zu Lieferungen im Binnenmarkt 1. EuGH-Rechtssache R. ...................................................... 2. EuGH-Rechtssache X und Facet ..................................... 3. EuGH-Rechtssache Verigen ............................................ 4. BFH-Revisionsverfahren V R 3/10 ................................. 5. BFH-Revisionsverfahren XI R 11/09 .............................

137 138 138 140 140

IV.

Neuregelung der§§ 17a und 17c UStDV ............................... 141

V.

Vertrauensschutz bei sonstigen Leistungen .......................... 144

MATTHIAS FELDT Leiter der Gruppe Umsatzsteuer/Zoll, ThyssenKrupp AG, Düsseldorf

Nachweispflichten und Gutglaubensschutz beim Warenund Dienstleistungsexport - Fallbeispiel aus der UnternehmenspraxisI.

II.

IIL

X

Einleitung ...............................................................................

147

Betrugsrisiko bei innergemeinschaftlichen Lieferungen

148

Praktischer Fall 1. Sachverhalt 149 2. Durch den Fall aufgeworfene Fragen ............................. 150

Inhaltsverzeichnis Seite

3.

Wie kann der Unternehmer eine Steuerfreiheit erreichen? ................................................................................. 4. Unterscheidung zwischen Beförderungs- und Versendungsfan ........................................................................... 5. Nachweiswirkung des CMR-Frachtbriefs ...................... 6. Vertrauensschutz und Beweislast .................................. 7. Überprüfung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer ............................................................................ 8. Abweichender Gesellschaftsname ................................. 9. Angemessenheft von Prüfungsmaßnahmen ................. 10. Risikoverteilung im Betrugsfall ...................................... IV.

150 151 152 153 153 154 155 156

Schlussbetrachtung .................................................................. 156

Prof. Dr. TINA EHRKE-RABEL Lehrstuhlinhaberin und Leiterin des Instituts für Finanzrecht an der KarlFranzens-Universität, Graz

Mitteilung der Kommission zur Mehrwertsteuergruppe I.

Vorbemerkung ......................................................................... 160

II.

Unionsrechtliche Grundlagen ................................................. 160

Ili.

Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ................................................................................ 161

IV.

Ausübung des Wahlrechts in Deutschland und Österreich

V.

Nationale Umsetzung in Deutschland und Österreich vor dem Hintergrund der Mitteilung der Kommission betreffend Mehrwertsteuergruppen 1. Vorbemerkung ................................................................. 2. Formalvoraussetzung: Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses ............................................................ 3. Zweck der Mehrwertsteuergruppe ................................ 4. Einheitliche Anwendung des Gruppenregimes in einem Mitgliedstaat .........................................................

163

164 164 165 165

XI

Inhaltsverzeichnis Seite

5. 6. 7. VI.

Persönlicher Anwendungsbereich der Mehrwertsteuergruppe .................................................................... 167 Territorialer Anwendungsbereich ................................. 174 Eingliederungsvoraussetzungen .................................... 177

Folgen des Vorliegens einer Mehrwertsteuergruppe 1. Rechte und Pflichten der Gruppe .... .. ............................ 2. Umsätze gegenüber Dritten und gruppeninterne Umsätze ............................................................................ 3. Umsatzsteuer-Identifikationsnummer und Zusammenfassende Meldungen ...... .......................................... 4. Vorsteuerabzug der Gruppe ........................................... 5. Auflösung und Beendigung der Gruppe ......................

182 182 183 187 187

Dr. CHRISTOPH W ÄGER Richter am Bundesfinanzhof, München

Brennpunkte der wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung I.

Einleitung ................................................................... .............. 189

II.

Organisatorische Eingliederung ........................................ ..... 190

III.

Wirtschaftliche Eingliederung ........................................... ..... 192

IV.

Finanzielle Eingliederung ....................................................... 193

Prof. Dr. WOLFRAM REiß Friedrich-Alexander-Universität Er langen-N ürnberg

Begrenzung der Organschaftswirkung auf das Inland - Sekundärrecht versus PrimärrechtI.

XII

Problemstellung ......... .............. ................ ................................ 196

Inhaltsverzeichnis Seite

II.

Vereinbarkeit der Organschaftsregelung mit den generellen Vorgaben aus Art. 11 MwStSystRL 1. Einheitliches Unternehmen des Organträgers .............. 2. Eingliederung und Unterordnung nur von juristischen Personen .... .......... ... .. ... ...... .... ... ..... ... ..... ... ..... .. ................. 3. Keine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes der Mehrwertsteuersystemrichtlinie .......................... ... ....... 4. Keine Verletzung der Grundfreiheiten durch mangelnde Rechtsformneutralität .........................................

197 197 200 206

III.

Ausschluss der grenzüberschreitenden Gruppenbesteuerung durch Art. 11 MwStSystRL 1. Ansässige Personen ......................................................... 207 2. Niederlassungen im Ausland als Unternehmensteile des Gruppen-/Organschaftsmitglieds, aber nicht der Gruppe I des Organträgers ............................................ 209 3. Verbot der Einbeziehung von in anderen Mitgliedstaaten belegenen Unternehmensniederlassungen in die Gruppenbesteuerungsregelung des jeweiligen Mitgliedstaats ................................................................... 211

IV.

Wirkungen der nationalen Organschaftsregelung 1. Verfahrensrechtliche Auswirkungen: eine einheitliche Steuererklärung und Steuerfestsetzung ..... ................... 2. Nur Organträger als Steuerschuldner, Haftung der Organgesellschaften ..................................................... ... 3. Nichtsteuerbarkeit von "Innenumsätzen" .................... 4. Keine benachteiligenden Wirkungen durch Ausschluss von der Organschaft für nicht ansässige Unternehmen/ Personen .. ............................................................ .............

213 214 216

216

V.

Materielle Privilegierung der "inländischen" Organschaft und Benachteiligung der grenzüberschreitenden Organschaft bei unechten Steuerbefreiungen .................................. 217

VI.

Auswirkungen der Benachteiligung der grenzüberschreitenden Organschaft ... .... ...... .. .. ...... .. .... .. ... ... .. .. ...... .... ...... ..... ... 219

VII.

Beschränkung der Grundfreiheiten 1. Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ...... .. ... .. ....... 220

XIII

Inhaltsverzeichnis Seite

2. 3.

Verstoß gegen Art. 110 AEUV Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

223 223

VIII.

Abgrenzung der Besteuerungsrechte kein Rechtfertigungsgrund ............................................................. 224

IX.

Gleichbehandlung der grenzüberschreitenden Organschaft erforderlich und möglich ........................................................ 227

X.

Rechtsfolgen der Verletzung der Grundfreiheiten durch die Organschaftsregelung ....................................................... 230

Stichwortverzeichnis ........................................................................... 237

XIV

Begrüßung und Eröffnungsansprache Prof. Dr. HANS NIESKENS Vorsitzender des Vorstands des UmsatzsteuerForums e.V., Münster

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Mitglieder des UmsatzsteuerForums, ich darf Sie zum zehnten Hochschulkongress unserer Vereinigung diesmal in Münster auf das herzlichste begrüßen. In Münster wurde bekanntlich 1648 der Westfälische Friede geschlossen und damit der 30-jährige beendet. Der 30-jährige Krieg war ein Bündel aus verschiedenen, miteinander verschränkten konfessionellen, verfassungs- und mächtepolitischen Konflikten, in den nahezu alle europäischen Mächte verwickelt waren. Insoweit trifft es sich gut, wenn sich die Umsatzsteuer-Protagonisten des Jahres 2010 eben wieder in Münster treffen, wird diese Steuer doch seit nunmehr knapp 20 Jahren beherrscht von miteinander verschränkten, widerstrebenden Mächten wie dem nationalen Gesetzgeber, der jeweiligen Finanzverwaltung, dem BFH, dem EuGH und der Europäischen Kommission. Verwickelt in diesen Konflikt sind nahezu alle europäischen Mächte in Gestalt der 27 Mitgliedsländer, die eine teilweise völlig entgegengesetzte Auffassung von Umsatzsteuerrecht an den Tag legen. Die Folgen für Deutschland sind hinreichend bekannt: Ca. 90000 Steuerberater versuchen über 80000 Rechtsvorschriften zu verstehen und 10407 Informations- und Berichtspflichten für ihre Mandanten zu erfüllen. Die Umsatzsteuer hat hieran ihren unbestreitbaren Anteil, wie etwa die Diskussionen um das sog. Hotel-Privileg oder um die Sieben-Prozent-Privilegien überaus deutlich zeigen. Eine Verwaltung, die die Nachweispflichten für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferungen binnen 16 Monaten in zwei BMFSchreiben auf über 20 Seiten revidiert, ohne kenntlich zu machen, wo 1

NIESKE:\S, Begrüi~ung

und Eröffnungsansprache

sie was geändert hat, verdichtet den Vorwurf, dass die Umsatzsteuer dringend einer "Friedensinitiative" bedarf. Aber vielleicht hilft auch die von POPITZ vor über 80 Jahren getroffene Feststellung weiter: "Die Umsatzsteuer steht abseits von allen anderen Steuern, sie ist problematischer als die anderen."

Und in der Tat - die Umsatzsteuer scheint sich mehr und mehr zu einer Geheimwissenschaft für die wahren Umsatzsteuer-Eingeweihten zu entwickeln. Oder wer, meine Damen und Herren, möchte schon die Hand dafür ins Feuer legen, die letzte Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen auf das deutsche Recht zu kennen, zu wissen, welche nächste Gesetzesänderung uns beglücken wird und was die Europäische Kommission als nächstes vorhat. In letzter Konsequenz kann für den Unternehmer und auch seinen Steuerberater nur gelten: Glauben ersetzt Wissen. Allein stellt sich für ihn die Frage, was soll er glauben? -

Kann er aus dem EuGH-Urteil in Sachen Pannon Gep tatsächlich das Ende der Verzinsungspflicht gern.§ 233a AO in den Fällen der Rechnungsberichtigung ableiten?

-

Gibt es nach der EuCH-Entscheidung in Sachen Tellmer Property keine unselbständigen Nebenleistungen mehr, zumindest im Bereich der Vermietungsleistungen?

-

Kann der Steuerpflichtige nach dem EuGH-Urteil AB SKF die Vorsteuer vollumfänglich aus einer Eingangsleistung geltend machen, wenn er auch steuerfreie Leistungen ausführt, soweit er nur belegen kann, dass die Kosten der Eingangsleistung in den Preisen der steuerpflichtigen Leistungen ihren Niederschlag gefunden haben?

verdeutlichen, dass die Umsatzsteuer imDiese nur wenigen mer mehr in das steuerliche Bewusstsein rückt und einer grundsätzlichen Neuausrichtung bedarf. Vielleicht reicht es aber schon aus, wenn alle Beteiligten - allen voran der Gesetzgeber, die Verwaltung und bisweilen auch die Rechtsprechung - sich wieder stärker schlicht am Gesetz orientieren. Mit dem diesjährigen Hochschulkongress will jedenfalls das UmsatzsteuerForum versuchen, ein wenig dazu beizutragen, die Brennpunkte

2

NIESKENS, Begrüßung und der Umsatzsteuer zu entschärfen und vielleicht friedensstiftend zu wirken. Ich freue mich, heute als ersten Referenten Herrn THOMAS HENZE begrüßen zu dürfen, der eines der tragenden aber auch schwer fassbaren Prinzipien des Umsatzsteuerrechts, die Neutralität im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem, darstellen wird. Herr HENZE war bis vor kurzem am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, also gewissermaßen an der Quelle eines jenen Missverständnisses tätig, ab Mai 2010 ist er Referatsleiter beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, zuständig für die Prozessvertretung der Bundesregierung vor den Europäischen Gerichten. Zumindest eine der von mir oben aufgeworfenen Fragen wird Herr Professor ENGLISCH im Rahmen seines Vortrags zum Vorsteuerabzug und nichtsteuerbaren Aktivitäten beantworten können. Mein Dank gilt Herrn Professor EKGLISCH auch deswegen, weil er mit seinem Engagement als neuer Lehrstuhlinhaber hier in Münster als Nachfolger von Professor BIRK diesen Kongress mit ermöglicht hat Herr Professor ENGLISCH unterstützt das UmsatzsteuerForum aber auch darüber hinaus durch seine zugesagte Aktivität im Vorstand des Forums. Der Nachmittag des ersten Tages ist ganz den grenzüberschreitenden Leistungen gewidmet. Zunächst sollen die grenzüberschreitenden Dienstleistungen näher untersucht werden. Herr WERNER WIDMANN wird die Problemfelder der neuen Ortsregelungen in §§ 3a ff. UStG beleuchten, Herr STEPHAN HEINRICHSHOFEN die Zuordnung von sonstigen Leistungen zu einer Betriebsstätte untersuchen. Die grenzüberschreitenden Lieferungen vor allem im Hinblick auf die Nachweispflichten werden von Herrn Professor NEESER und Herrn MATTHIAS FELD aufgearbeitet. Ich bin gespannt, ob beide Herren meine grundlegenden Zweifel hierzu teilen werden. Der zweite Tag steht ganz im Zeichen der Organschaftsproblematik Bekanntlich mischt uns der BFH seit einiger Zeit gehörig auf, -

sei es, dass die Grundsätze zur organisatorischen Eingliederung betroffen sind,

-

sei es, dass die mittelbare finanzielle Eingliederung bei einer GmbH & Co. KG nicht mehr möglich sein soll.

3

NIESKENS, Begrüßung und Eröffnungsansprache Der Praxis würde insoweit sicherlich ein Wahlrecht weiterhelfen, eine rechtliche Gestaltung, die der BFH bislang abgelehnt hat. Unsere Gastreferentin aus Österreich, Frau Professorin EHRKE-RABEL die ich an dieser Stelle recht herzlich begrüßen möchte -, wird uns vielleicht in diesem Punkt insoweit ein wenig weiterhelfen können, als sie die Mitteilung der Kommission zur Mehrwertsteuergruppe darstellen wird. Herr W ÄGER, meine Damen und Herren, ist einer der Mitverantwortlichen für die Neuausrichtung des BFH in Sachen Organschaft. Ich freue mich daher ganz besonders, dass er die Brennpunkte der Eingliederungsvoraussetzungen darstellen wird. Wer Professor WOLFRAM REiß und sein nicht ermüdendes Temperament für die Umsatzsteuer kennt, wird sich mit mir auf seinen Vortrag am Schluss des morgigen Vormittags freuen. WOLFRAM, herzlich willkommen. Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass unsere Tagung wieder einmal eine so starke Resonanz gefunden hat. Stellvertretend für die Angehörigen der Finanzgerichtsbarkeit darf ich die Vorsitzende des historischen Umsatzsteuersenats und Vorstandskollegin des Umsatzsteuer Forums, Frau Dr. MARTIN, begrüiSen. Gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass ich an dieser Stelle nicht alle Leistungsträger namentlich erwähnen kann. Den Gästen aus dem Ausland, den Vertretern der Wirtschaft, der Verbände und den Hochschullehrern gilt unser herzliches Willkommen. Persönlich Dank sagen möchte ich schliel$lich all denjenigen, die in der Vorbereitungsphase für diese Tagung tatkräftig mitgewirkt haben, insbesondere dem Lehrstuhl Professor ENGLISCH und unserer Geschäftsstelle mit Frau V!SCHER an der Spitze, genauso wie allen Sponsoren, allen voran der AWA und den Fachverlagen Dr. Otto Schmidt und Stollfuß. Das Ziel des UmsatzsteuerForums ist es, auch mit Tagungen wie dieser dafür Sorge zu tragen, dass die Umsatzsteuer nicht eine Insider-Steuer wird, die nur für wenige durchschaubar ist. Sie muss frei bleiben von Steuerlenkungseffekten;

4

NJESKENS,

sie muss weiterhin von allen Steuern das günstigste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen; nicht umsonst rangiert sie im Steueraufkommen mittlerweile vor der Lohnsteuer auf Rang 1; sie muss andererseits aber die von den Unternehmen zu tragende Last der Verwaltungstätigkeit auf ein erträgliches Ausmaß reduzieren. Ich hoffe, dass auch der diesjährige Kongress dazu beitragen kann, mit sachlicher Information die systemgerechte und vor allem eine die Gleichmäßigkeit der Besteuerung wahrende Anwendung des Umsatzsteuerrechts sicherzustellen. Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen Verlauf unseres Kongresses hier in Münster und darf jetzt das Wort an Herrn Professor ENGLISCH weitergeben.

5

Grundsatz der steuerlichen Neutralität im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem - Eine Bestandsaufnahme der Rechtsprechung des EuGH -

THOMAS HENZE, M.L.E.* Leiter des Referats "Prozessvertretung der Bundesrepublik Deutschland vor den europäischen Gerichten", Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin

Inhaltsübersicht I. Bedeutung der Harmonisie-

rung der Mehrwertsteuer für den Binnenmarkt ........

7

II. Einzelne Ausprägungen

des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität 1. Steuerliche Neutralität und Vorsteuerabzug (Belastungsneutralität) ..... 2. Steuerliche Neutralität und Vermeidung der Doppelbesteuerung bei innerge-

I.

10

meinschaftliehen Lieferungen (Belastungsneutralität) 3. Steuerliche Neutralität als Ausprägung des Wettbewerbsprinzips und des Gleichheitsgrundsatzes (komparative Neutralität)

13

13

111. Einschränkungen der steuerlichen Neutralität ... 20 IV. Zusammenfassung ............ 24

Bedeutung der Harmonisierung der Mehrwertsteuer für den Binnenmarkt

Der Begriff der steuerlichen Neutralität ist ebenso alt wie schillernd. Ein Blick in die Datenbanken offenbart nicht weniger als 135 Entscheidungen des EuGH, in denen die Neutralität der Mehrwertsteuer

*

Der Beitrag gibt ausschließlich persönliche Ansichten des Verfassers wieder.

7

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

angesprochen wird. Dabei bildet dieser Grundsatz nach seiner ständigen Rechtsprechung ein grundlegendes Prinzip des durch das Gemeinschafts- j Unionsrecht eingeführten Mehrwertsteuersystems.l Der Kontext, in dem dieses Grundprinzip eine Rolle spielt, ist jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Die Wurzeln des Neutralitätsgrundsatzes gehen auf die Erste und Zweite Richtlinie von 19672 zurück. Vor dieser Harmonisierung des Mehrwertsteuersystems galt in Deutschland das System der sog. Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer.3 D.h. auf Stufe in der Wertschöpfungskette wurde Umsatzsteuer auf den vollständigen Wert der Leistung aufgeschlagen. Ein Vorsteuerabzug auf der jeweils folgenden Stufe fand nicht statt. Die Steuerbelastung der verschiedenen Handelsstufen wurde also kumuliert. Je mehr Zwischenschritte auf dem Weg vom Hersteller zum Endverbraucher die Wertschöpfungskette beinhaltete, desto höher wurde die Steuerbelastung. Hier war die Umsatzsteuer also alles andere als neutraL Je nach Struktur der Vertriebswege führte sie zu Wettbewerbsverzerrungen. Auch im grenzüberschreitenden Handel verursachte diese Gestaltung des Steuersystems Probleme, da bei grenzüberschreitenden Leistungen nicht ohne weiteres ersichtlich war, wie viel Mehrwertsteuer schon auf ihnen lastete.4 Eines der wesentlichen Anliegen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems war es daher, die Neutralität der Steuer herzustellen. Dies bringt Art. 2 der Ersten Richtlinie wie folgt zum Ausdruck: "Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze,

1 Vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 19.9.2000 - Rs. C-454/98 - Schmeink & Cofreth und Strobel, EuGHE 2000, I-6973- Rz. 59; EuGfl Urt. v. 29.10.2009- Rs. C-174/08NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, l-10567 - Rz. 40; EuGH, Urt. v. 29.7.2010 Rs. C-188/09 Profaktor Kulesza, UR 2010,775 Rz. 26. 2 Erste Richtlinie 67 /227/EWG des Rates vom 11.4.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer, ABI. EG Nr. 71, 1301; Zweite Richtlinie 67 /228/EWG des Rates vom 11.4.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen tems, ABI. EG Nr. 71, 1303. 3 Näher dazu BIRK, Steuerrecht, 13. Aufl., Rz. 1271 ff. 4 VgL Erwägungsgrund 8 der Ersten Richtlinie 67/227 jEWG. Näher dazu auch LOHSE, Neutralität im Umsatz/Mehrwertsteuerrecht, CR 2004, 582.

8

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchssteuer anzuwenden ist. Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat."S

Zwar wird der Begriff der "Neutralität" in dieser Definition der Grundlinien des neuen Mehrwertsteuersystems nicht wörtlich aufgenommen. Der Richtliniengeber nennt ihn jedoch ausdrücklich in Erwägungsgrund 5 der Ersten Richtlinie: "Die größte Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems wird erreicht, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions- und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasst."

Art. 1 MwStSystRL6 hat nunmehr die Definition der Ersten Richtlinie wörtlich übernommen. Darüber hinaus wird die steuerliche Neutralität aber an keiner prominenten Stelle in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie erwähnt. Die Schaffung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems war und ist von zentraler Bedeutung für den Binnenmarkt. Daher sieht Art. 113 AEUV7 auch die Harmonisierung der Umsatzsteuern vor, während es an einer speziellen Grundlage zur Harmonisierung der direkten Steuern fehlt. Die Beachtung der steuerlichen Neutralität vermeidet Wettbewerbsverzerrungen zwischen Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaa5

Der EuGH hat diese Formel wiederholt in seiner Rechtsprechung aufgegriffen, vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 8.6.2000 - Rs. C-98/98 - Midland Bank, EuGHE 2000, I-4177- Rz. 29; EuGH, Urt. v. 27.11.2003 - Rs. C-497 /01 - Zita Modes, EuGHE 2003, I-14393 - Rz. 37; EuGH, Urt. v. 12.1.2006 - Rs. C-354/03, C-355/03 und C-484/03 - Optigen u.a., EuGHE 2006, I-483 - Rz. 54; EuGH, Urt. v. 6.7.2006 Rs. C-439/04 und C-440/04 - Kittel und Recolta Recycling, EuGHE 2006, I-6161- Rz. 49. 6 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystemrichtlinie), ABI. EU Nr. L 347, 1. 7 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union; Art. 113 AEUV entspricht Art. 93 EGV.

9

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität ten, da sie eine genau zum Preis proportionale Steuerlast gewährleistet. Allerdings haben die Richtlinien bisher nur zu einer Teilharmonisierung geführt. So variieren insbesondere die Steuersätze im Rahmen der vorgegebenen Bandbreite. Vielfach gestattet die Richtlinie den Mitgliedstaaten zudem die Beibehaltung bestimmter Ausnahmen oder räumt ihnen Optionen ein, die im Ergebnis zu einer von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen steuerlichen Behandlung vergleichbarer Umsätze führen.8 Insoweit ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität also systembedingt von vornherein Einschränkungen unterworfen. 9

II.

Einzelne Ausprägungen des Grundsatzes der steuerliehen Neutralität

1.

Steuerliche Neutralität und Vorsteuerabzug (Belastungsneutralität)

Wie einleitend erwähnt, ist der Gedanke der steuerlichen Neutralität besonders eng mit dem Recht auf Vorsteuerabzug verknüpft. So führte der Gerichtshof jüngst sogar aus, dass dieser Grundsatz sich "aus Art. 17 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie ergibt"lü. Die entsprechenden Vorschriften der Richtlinie bzw. der nationalen Umsatzsteuergesetze müssen nach dem Neutralitätsgrundsatz so ausgelegt werden, dass der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer auf Gegenstände oder Dienstleistungen, die er für die Ausübung seiner besteuerten Tätigkeit erworben hat, vollständig als Vorsteuer geltend machen kann.l1 Damit ist gewährleistet, dass die Steuerbelastung am Ende der Wertschöpfungskette genau proportional zum Wert der Leistung an den Endverbraucher ist.

8 Siehe insbesondere Titel XIII MwStSystRL (Art. 378 bis 396 MwStSystRL). 9 Siehe dazu unter III, S. 20. 10 EuGH, Urt. v. 29.10.2009 - Rs. C-174/08 - NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567- Rz. 39. 11 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.2.1985 - Rs. 268/83 - Rompelman, EuGHE 1985, 655 Rz. 19; EuGH, Urt. v. 22.2.2001- Rs. C-408/98- Abbey National, EuGHE 2001, I-1361 - Rz. 24; EuGH, Urt. v. 21.2.2006 - Rs. C-255/02- Halifax u.a., EuGHE 2006, I-1609 - Rz. 78; EuGH, Urt. v. 6.3.2008 - Rs. C-98/07- Nordania Finans und BG Factoring, EuGHE 2008, I-1281- Rz. 19; EuGH, Urt. v. 29.10.2009- Rs. C-174/08- NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567- Rz. 39.

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HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität Man kann diese Ausprägung daher auch als Belastungsneutralität bezeichnen. Eine zu niedrige Steuerbelastung würde beispielsweise entstehen, wenn die Vorsteuer abgezogen werden könnte, obwohl die Ausgangsumsätze an den Endverbraucher steuerfrei sind. Daher räumt Art. 168 MwStSystRL dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nur soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden.l2 Wenn ein Unternehmer teils steuerpflichtige und teils nicht steuerpflichtige Umsätze tätigt, kann er die Vorsteuer nur zum Teil abziehen. Die Bestimmungen über die Bildung des pro-rata-Satzes für den Vorsteuerabzug (Art. 173 ff. MwStSystRL) gewährleisten die steuerliche Neutralität, indem sie eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit und dem Anspruch auf Vorsteuerabzug herstellen.13 In ähnlicher Weise kommt die steuerliche Neutralität in diesem Sinne beim Vorsteuerabzug für teils gewerblich und teils privat genutzte Gegenstände zum Tragen. Zunächst kann der Gegenstand zwar voll dem Unternehmen zugeordnet werden; sodann muss die private Entnahme aber nachversteuert werden. Sonst wäre die Mehrwertsteuerbelastung der privaten Nutzung nicht mehr proportional zu dem Wert der entsprechenden Leistung an den Endverbraucher.l4 Die Mitgliedstaaten dürfen das Recht auf Vorsteuerabzug nicht beschränken15 oder durch übermäßige Nachweiserfordernisse erschwe-

12 Künstliche Konstruktionen, die darauf zielen, einen solchen Zusammenhang zu fingieren, laufen daher dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zuwider, vgl. EuGH, Urt. v. 21.2.2006- Rs. C-255/02 Halifax u.a., EuGHE 2006, I-1609- Rz. 80. 13 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT, EuGH v. 17.3.2005 - Rs. C-63/04- Centralan Property, EuGHE 2005, I-11087 Rz. 25 ff. 14 Vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 8.5.2003- Rs. C-269/00 EuGHE 2003, I-4101 - Rz. 40 ff.; EuGH, Urt. v. 21.4.2005- Rs. C-25/03 HE, EuGHE 2005, I-3123 I~z. 46 bis 48; EuGH, Urt. v. 23.4.2009 - Rs. C-460/07 - Puffer, EuGHE 2009, I-3251 Rz. 39 ff. 15 EuGH, Urt. v. 6.7.1995 - Rs. C-62/93 BP EuGHE 1995, 1-1883 Rz. 18; EuGH, Urt. v. 21.3.2000- Rs. C-110/98 bis C-147/98- Gabalfrisa u.a., EuGHE 2000, 1-1577 - Rz. 43; EuGH, Urt. v. 6.7.2006 - Rs. C-439/04 und C-440/04 Kittel und Recolta Recycling, EuGHE 2006, l-6161- Rz. 47.

11

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität ren.16 Wird eine Leistung an den Endverbraucher versteuert, ohne dass der Leistende vollständig von der Vorsteuer entlastet wird, kommt es nämlich zu einer Kumulation der Besteuerung auf den verschiedenen Stufen, die der steuerlichen Neutralität widerspricht)? Im Ergebnis übersteigt die Steuerbelastung dann den Wert der Leistung an den Endverbraucher. Allerdings erlaubt die Richtlinie selbst in bestimmten Fällen eine Einschränkung des Rechts auf Vorsteuerabzug und damit eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.18 Die Wahrung der steuerlichen Neutralität bildet in diesem Kontext ein Ziel, das den Vorschriften über den Vorsteuerabzug inhärent ist. Es ist bei einer teleologischen dieser Vorschriften zu berücksichtigen. Ob es in diesem Kontext eine eigene Daseinsberechtigung hat, ist nicht ganz klar. Denn der Gerichtshof hat vielfach auch das Prinzip des vollständigen und sofortigen Vorsteuerabzugs selbst als integrierenden Bestandteil des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems bezeichnet, ohne unmittelbar auf die steuerliche Neutralität hinzuweisen.J9 Die Auslegung der Vorschriften über den Vorsteuerabzug im Lichte des Neutralitätsgrundsatzes findet ihre Grenze im Wortlaut der Bestimmungen der Richtlinie. Selbst wenn ein Mitgliedstaat meint, in einer bestimmten Konstellation diene eine Beschränkung des Vorsteuerabzugs dem Ziel der Steuerneutralität eher als seine uneingeschränkte Gewährung, so darf er dennoch nicht von den Bestimmungen der Richtlinie abweichende Regelungen treffen, oder - um es mit den Worten des Gerichtshofs zu sagen- "die Mitgliedstaaten sind ver-

16 EuGH, Urt. v. 19.9.2000 - Rs. C-454/98 - Schmeink & Cofreth und Strobel, EuGHE 2000, I-6973 - Rz. 59; EuGH, Urt. v. 21.4.2005 Rs. C-25/03 HE, EuGHE 2005, I-3123 Rz. 80; EuGH, Urt. v. 18.6.2009 Rs. C-566/07 Stadeco, EuGHE 2009, I-5295- Rz. 39. 17 EuGH, Urt. v. 8.3.2001 - Rs. C-415/98- Bakcsi, EuGHE 2001, I-1831 Rz. 46; EuGH, Urt. v. 21.4.2005- Rs. C-25/03- HE, EuGHE 2005, l-3123 Rz. 71; EuGH, Urt. v. 23.4.2009- Rs. C-460/07- Puffer, EuGHE 2009, l-3251 Rz. 46. 18 Siehe dazu unter III, S. 20. 19 Vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 6.7.1995- Rs. C-62/93- BP EuGHE 1995, I-"1883 - Rz. 16 und 18; EuGH, Urt. v. 10.7.2008 - Rs. C-25/07 Sosnowska, EuGHE 2008, I-5129- Rz. 15; EuGH, Urt. v. 23.4.2009 Rs. C-74/08 PARAT Automotive Cabrio, EuGHE 2009, I-3459- Rz. 15; EuGH, Urt. v. 22.4.2010 Rs. C-536/08 und C-539/08- X und Facet Trading, UR 2010,418 Rz. 28.

12

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität pflichtet, die Richtlinie auch dann anzuwenden, wenn sie sie für verbesserungsbedürftig halten"20.

2.

Steuerliche Neutralität und Vermeidung der Doppelbesteuerung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen (Belastungsneutralität)

Das Zusammenspiel der Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Ursprungsmitgliedstaat und der Besteuerung des entsprechenden innergemeinschaftlichen Erwerbs im Bestimmungsmitgliedstaat stellt sicher, dass ein und derselbe Umsatz nur einmal, und zwar im Staat des Endverbrauchs besteuert wird.21 Eine über den Wert einer Lieferung hinaus gehende Besteuerung kann bei grenzüberschreitenden Lieferungen entstehen, wenn der Ursprungsmitgliedstaat eine Lieferung nicht von der Steuer befreit und zugleich der Bestimmungsmitgliedstaat den innergemeinschaftlichen Erwerb besteuert. Eine solche Doppelbesteuerung widerspricht dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Sinne einer Belastungsneutralität.22

3.

Steuerliche Neutralität als Ausprägung des Wettbewerbsprinzips und des Gleichheitsgrundsatzes (komparative Neutralität)

3.1

Grundlage der komparativen Neutralität

Seit den 1990er Jahren spielt eine zweite Facette des Neutralitätsprinzips eine immer größere Rolle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Er verweist zunehmend auf die Neutralität der Mehrwertsteuer, wenn 20 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.11.2001 Rs. C-338/98 - Kommission/Niederlande, EuGHE 2001, I-8265 - Rz. 55 f.; EuCH, Urt. v. 6.10.2005 - Rs. C-204/03 Kommission/Spanien, EuGHE 2005, I-8389 Rz. 38. 21 Vgl. EuCH, Urt. v. 6.4.2006 - Rs. C-245/04 - EMAG Handel Eder, EuGHE 2006, I-3227 Rz. 25 ff. und 40; Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT, EuCH v. 10.11.2005- Rs. C-245/04 EMAG Handel Eder, EuGHE 2006, I-3227 - Rz. 23 ff.; Schlussanträge des Generalanwalts RUIZ-JARABO COLOMER, EuCH v. 13.1.2004- Rs. C-68/03- Lipjes, EuGHE 2004, I-5879- Rz. 35. 22 EuCH, Urt. v. 27.9.2007- Rs. C-409/04- Teleos u.a., EuGHE 2007, l-7797- Rz. 25; EuGH, Urt. v. 27.9.2007- Rs. C-146/05 Collee, EuGHE 2007, 1-7861 - Rz. 23.

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HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

es darum geht, verschiedene Leistungen oder Steuerpflichtige steuerlich gleich zu behandeln, die miteinander im Wettbewerb stehen. Man kann insofern auch von komparatiz,er Neutralität sprechen. Anders als die Ausprägung der Neutralität im Sinne einer Belastungsneutralität fehlt es an einer Verankerung der komparativen Neutralität im Text der Richtlinie. Sie findet ihre rechtliche Basis vielmehr im Grundsatz der Gleichbehandlung, den die Mitgliedstaaten als allgemeinen Rechtsgrundsatz im Anwendungsbereich des Unionsrechts beachten müssen.23 So nennt der Gerichtshof Neutralität und Gleichbehandlung häufig in einem Atemzug oder bezeichnet die steuerliche Neutralität als Ausprägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes.24 Bevor ich jedoch das Verhältnis von Gleichheits- und Neutralitätsgrundsatz näher betrachte25, sei ein kurzer, nicht abschließender Überblick über die drei wesentlichen Bereiche gegeben, in denen die Wahrung der komparativen Neutralität eine Rolle spielt: die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie26, die Befreiungstatbestände27 und die ermäßigten Steuersätze28_ 3.2

Anwendungsbereich des Mehrwertsteuersystems

Nur Leistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt erbringt, unterliegen der Mehrwertsteuer (Art. 2 Abs. 1 MwStSystRL). Bei der Auslegung dieses Tatbestands ist zu beachten, dass vergleichbare wirtschaftliche Tätigkeiten nicht einmal als steuerpflichtig und 23

24

25 26 27 28

14

EuGH, Urt. v. 18.5.2000 - Rs. C-107/97 - Rombi und Arkopharma, EuGHE 2000, I-3367 Rz. 65; EuGH, Urt. v. 8.6.2000 Rs. C-396/98 - Schloi,straße, EuGHE 2000, l-4279 - Rz. 44; EuGH, Urt. v. 6.11.2003 - Rs. C-45/01 Christoph Dornier Stiftung, EuGHE 2003, I-12911 Rz. 69; EuGH, Urt. v. 29.10.2009- Rs. C-174/08- NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567 Rz. 45. EuGH, Urt. v. 27.4.2006- Rs. C-443/04 und C-444/04- Solleveld und V an den Hout-Van Eijnsbergen, EuGHE 2006, I-3617 Rz. 35; EuGH, Urt. v. 8.6.2006 Rs. C-106/05 L.u.P., EuGHE 2006, I-5123 Rz. 48; EuGH, Urt. v. 10.4.2008Rs. C-309/06 Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283- Rz. 49; EuGH, Urt. v. 29.10.2009 Rs. C-174/08- NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567 - Rz. 41. Siehe dazu unten II 3.5. Siehe dazu II 3.2. Siehe dazu II 3.3. Siehe dazu II 3.4.

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

ein andermal als nicht steuerpflichtig angesehen werden. So ist etwa eine kohärente Auslegung des Begriffs der "Nutzung eines körperlichen Gegenstands" i.S.d. Art. 12 Abs. 1 MwStSystRL aus Gründen der steuerlichen Neutralität geboten.29 Des Weiteren ist für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie entscheidend, ob der Leistende auch als Steuerpjliclltiger handelt. Auch wenn der Staat und seine Einrichtungen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen, so stehen sie normalerweise nicht im Wettbewerb mit Privaten, soweit sie hoheitlich handeln. Die steuerliche Neutralität im Sinne einer Wettbewerbsneutralität gebietet daher im Normalfall keine Besteuerung der öffentlichen Hand.30 Nur wenn dennoch größere Wettbewerbsverzerrungen drohen, wird der Staat gern. Art. 13 Abs. 2 MwStSystRL zum Steuerpflichtigen.31 Diese Bestimmung stellt also einen Bezug zwischen der Besteuerung vergleichbarer Leistungen mit dem Ziel her, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Auf alle Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, muss die Steuer auch tatsächlich erhoben werden. So hat der Gerichtshof es auch als Verstoß gegen die steuerliche Neutralität angesehen, dass Italien Steuersündern durch eine Amnestie entgegenkommen wollte, wenn sie wenigstens einen Teil ihrer Steuerschulden beglichen.32 Denn die von der Amnestie Begünstigten hatten eine niedrigere Steuerlast zu tragen als ehrliche Steuerpflichtige für vergleichbare Umsätze.

29

Vgl. EuGH, Urt. v. 4.12.1990- Rs. C-186/89- Van Tiem, EuGHE 1990, I-4363Hz. 18; EuGH, Urt. v. 11.7.1996- Rs. C-306/94 Regie dauphinoise, EuGHE 1996, I-3695 Rz. 15; EuGH, Urt. v. 29.4.2004 Rs. C-77 /01 - EDM, EuGHE 2004, I-4295 Rz. 48. Siehe ferner zur steuerlichen Neutralität bei der Auslegung des Begriffs der wirtschaftlichen im Bezug auf das Halten von Beteiligungen: EuGH, Urt. v. 29.10.2009 Rs. C-29/08- AB SKF, EuGHE 2009 I-10413 Rz. 34 m.w.N. 30 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 17.10.1989- Rs. 231/87 und 129/88 Comune di Carpaneto Piacentino u.a., EuGHE 1989, 3233- I{z. 22; EuGH, Urt. v. 16.9.2008 Rs. C-288/07- Isle of Wight Council u.a,, EuGHE 2008, I-7203 Rz. 31; Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT v. 7.9.2006 - Rs. C-284/04 T-Mobile Austria, EuGHE 2007, I-5189, Rn. 79. 31 Siehe dazu näher unter III, S. 23. 32 EuGH, Urt. v. 17.7.2008 - Rs. C-132/06 Kommission/Italien, EuGHE 2008, I-5457.

15

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

3.3

Befreiungen

Außerdem hat die komparative Neutralität vielfach bei der Auslegung von Befreiungstatbeständen Bedeutung erlangt. In diesem Zusammenhang verwendet der Gerichtshof immer wieder die Formel: "(D]er Grundsatz der steuerlichen Neutralität, das grundlegende Prinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, [lässt es nicht zu] ..., zum einen gleichartige und infolgedessen miteinander in Wettbewerb stehende Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln ... und zum anderen Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln."33

Nur beispielhaft seien hier einige Anwendungsfälle dieser Formel genannt. So verwies der Gerichtshof etwa im Zusammenhang mit der Befreiung von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten, die nunmehr in Art. 132 MwStSystRL geregelt sind34, sowie bei der Prüfung der Befreiung von weiteren Tätigkeiten nach Art. 135 MwStSystRL35 immer wie33

So die bisherige Rechtsprechung zusammenfassend EuGH, Urt. v. 29.10.2009Rs. C-29/08- AB SKF, EuGHE 2009 I-10413 Rz. 67. 34 Postdi1'11stleistungen: EuGH, Urt. v. 23.4.2009 Rs. C-357 /07 - TNT Post UK, EuGHE 2009, I-3025 - Rz. 31 und 37; Kinder- und Jugendbetreuung: EuGH, Urt. v. 7.9.1999 Rs. C-216/97- Gregg, EuGHE 1999, I-4947- Rz. 20; EuGH, Urt. v. 26.5.2005 - Rs. C-498/03 - Kingscrest Assodates und Montecello, EuGHE 2005, I-4427- Rz. 41; Heilbelumdlungen: EuGH, Urt. v. 27.4.2006 Rs. C-443/04 und C-444/04 Solleveld und Van den Hout-Van Eijnsbergen, EuGHE 2006, I-3617 - Rz. 35; Zahntechniker-Leistungen: EuGH, Urt. v. 7.12.2006 - Rs. C-240/05 - Eurodentat EuGHE 2006, l-11479 Rz. 46 f.; kulturelle Leistungen: EuGH, Urt. v. 3.4.2003- Rs. C-144/00 Hoffmann, EuGHE 2003, I-2921 - Rz. 27; Leistungen im Bereich des Sports: EuGH, Urt. v. 12.1.2006 - Rs. C-246/04 Turn- und Sportunion Waldburg, EuGHE 2006, I-589- Rz. 33. 35 Versicherungs- und Finanzdienstleistungen: EuGH, Urt. v. 8.12.2005 Rs. C-280/04 - Jyske Finans, EuGHE 2005, I-10683 - Rz. 39; EuGH, Urt. v. 4.5.2006 - Rs. C-169/04 National, EuGHE 2006, I-4027- Rz. 38 und 56; EuGH, Urt. v. 28.6.2007 Rs. C-363/05- JP Morgan Flerning etaverhause Investment Trust und The Association of Investment Trust Companie, EuGHE 2007, I-5517- Rz. 22; EuGH, Urt. v. 22.10.2009- Rs. C-242/08- Swiss Re Germany Holding, EuGHE 2009, I-10099 Rz. 63; Glücksspiele: EuGH, Urt. v. 11.6.1998 Rs. C-283/95 Fischer, EuGHE 1998, I-3369; EuGH, Urt. v. 13.7.2006 Rs. C-89/05 - United Utilities, EuGHE 2006, I-6813 - Rz. 22; EuGH, Urt. v. 17.2.2005 Rs. C-453/02 und C-462/02 - Linneweber und Akritidis, EuGHE 2005, I-1131 Rz. 24; EuGH, Urt. v. 10.6.2010- Rs. C-58/09 Leo-Libera, UR 2010, 494 Rz. 23 und 34 ff.; Vermietung und Ve11mclztung: EuGH, Urt. v. 9.10.2001 Rs. C-108/99Cantor Fitzgerald International, EuGHE 2001, I-7257- Rz. 30.

16

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität der auf die steuerliche Neutralität. Auch bei der Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen ist auf die Wahrung der komparativen Neutralität zu achten.36

3.4

Ermäßigte Steuersätze

Die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes stellt - wie Steuerbefreiungen aus sozialen Gründen - eine vorteilhafte steuerliche Behandlung der betroffenen Umsätze dar. Anders als bei Steuerbefreiungen nach den Art. 132 und 133 MwStSystRL behält der Steuerpflichtige hier sogar den vollen Anspruch auf Abzug der Vorsteuer.37 Aus Gründen der steuerlichen Neutralität müssen alle vergleichbaren Leistungen in den Genuss dieser Vergünstigung kommen, damit keine Wettbewerbsverzerrungen entstehen.38

3.5

Steuerliche Neutralität und Gleichbehandlung

Wie bereits erwähnt, weist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine große Nähe zum allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung auf. In zwei jüngeren Entscheidungen hat der Gerichtshof jetzt versucht, das Verhältnis dieser beiden Grundsätze näher zu präzisieren.

36 EuGH, Urt. v. 27.9.2007- Rs. C-409/04- Teleos u.a., EuGHE 2007, I-7797- Rz. 59. 37 Bei dem sog. "Zero-rating", das nach Maßgabe des Art. 110 MwStSystRL weiter angewendet werden darf, werden sogar vollständig von der Mehrwertsteuer entlastet, was dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem an sich fremd ist. VgL Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT, EuGH v. 4.5.2006 Rs. C-251/05 - Talacre Beach Caravan Sales, EuGHE 2006, I-6269 Rz. 23; TERRA/KAJUS, A Guide to the European VAT Directives, Vol. 1: Introduction to European VAT 2009, Amsterdam 2009, S. 688. 38 Zur steuerlichen Neutralität bei der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes EuGH, Urt. v. 11.10.2001 - Rs. C-267/99 Adam, EuGHE 2001, 1-7467 Rz. 36; EuGH, Urt. v. 8.5.2003- Rs. C-384/01 Kommission/Frankreich, EuGHE 2003, I-4395 Rz. 25; EuGH, Urt. v. 23.10.2003- Rs. C-109/02- Kommission/ Deutschland, EuGHE 2003, I-12691 Rz. 20; EuGH, Urt. v. 3.4.2008 Rs. C-442/05 Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien, EuGHE 2008, I-1817 Rz. 27; EuGH, Urt. v. 6.5.2010 Rs. C-94/09- Kommission/Frankreich, UR 2010,454- Rz. 28 und 40 f.

17

HENZE, Grundsatz der steuerlichen :\Teutralität Zunächst hat er im Urteil Marks & Spencer den Grundsatz der steuerlichen Neutralität gleichsam als Unterfall des Gleichbehandlungsgrundsatzes eingeordnet.39 Dabei soll der Neutralitätsgrundsatz in den Fällen zum Tragen kommen, in denen die Vergleichsgruppen (Leistungen/Steuerpflichtige) in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen. Demgegenüber erfasst der allgemeine Gleichheitssatz wegen anderer Eigenschaften vergleichbare Gruppen. Im konkreten Fall galten unterschiedliche Regeln, je nachdem, ob die Steuerpflichtigen "payment traders" waren (Steuerpflichtige, deren geschuldete Mehrwertsteuerbeträge in einem Abrechnungszeitraum die Vorsteuer übersteigen) oder "repayment traders" (Steuerpflichtige, die in einem Abrechnungszeitraum ein zu erstattendes Vorsteuerguthaben erzielten). Der erstgenannten Gruppe konnten die Finanzbehörden den Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung entgegen halten, der zweiten Gruppe nicht. Der EuGH sah in dieser Differenzierung einen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz, sofern die Steuerpflichtigen gleichartige Waren vertreiben. Sei dies nicht der Fall, bilde der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung den zutreffenden Maßstab.40 Den Zusammenhang zwischen (komparativer) steuerlicher Neutralität und dem Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen den Vergleichsgruppen hat der Gerichtshof bereits in früheren Entscheidungen hergestellt. So führte er im Urteil JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust u.a. aus: "Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität schließt den Grundsatz der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen ein, die sich aus einer unterschiedlichen Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer ergeben ... Die Verzerrung ist nachgewiesen, wenn feststeht, dass Dienstleistungen miteinander in Wettbewerb stehen und hinsichtlich der Mehrwertsteuer ungleich behandelt werden ... Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine bedeutende Verzerrung handelt."41

39 EuGH, Urt. v. 10.4.2008 - Rs. C-309/06 Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 Rz. 49 ff. 40 EuGH, Urt. v. 10.4.2008 - Rs. C-309/06 - Marks & Spencer, EuGHE 2008, I-2283 - Rz. 54. 41 EuGH, l:rt. v. 28.6.2007 - Rs. C-363/05 - JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companie, EuGHE 2007, I-5517- Rz. 47.

18

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

In dem Urteil NCC hat der Gerichtshof den Grundsatz der steuerlichen (Belastungs-) Neutralität jüngst dem Grundsatz der Gleichbehandlung mit folgenden Erwägungen untergeordnet:42 "Während jedoch der letztgenannte Grundsatz [der Gleichbehandlung] wie andere allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Verfassungsrang hat, bedarf der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer gesetzgeberischen Ausarbeitung, die nur durch einen Rechtsakt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts erfolgen kann."

Die "Ausarbeitung", die der Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Art. 19 Abs. 1 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 Buchst. b sowie Anhang F Nr. 16 der 6. EG-Richtlinie erfahren hat, sieht demnach vor, dass ein Steuerpflichtiger, der zugleich besteuerte Tätigkeiten und von der Steuer befreite Tätigkeiten des Verkaufs von Immobilien ausführt, die Vorsteuer auf seine Gemeinkosten nicht vollständig abziehen kann.43 Durch diese Auslegung wird zwar die steuerliche (Belastungs-) Neutralität eingeschränkt. Nach Auffassung des Gerichtshofs trägt sie aber dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung, der wegen seines Verfassungsrangs Vorrang vor dem einfach gesetzlichen Grundsatz der steuerlichen Neutralität besitzt.44 Integrierte Unternehmen, die selbst Gebäude errichten und verkaufen, können dadurch keinen weitergehenden Vorsteuerabzug vornehmen als Bauträger, die nur steuerfreie Umsätze aus dem Verkauf von Immobilien erzielen und die Vorsteuer für die Bauleistungen, die sie von Dritten beziehen1 daher nicht abziehen können.45 Nach der im Urteil Marks & Spencer enhvickelten Abgrenzung von (komparativer) steuerlicher Neutralität und Gleichbehandlungsgrundsatz, wäre in der Rechtssache NCC an sich eher die komparative steuerliche Neutralität tangiert gewesen, da sich zwei Gruppen von

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EuGH, Urt. v. 29.10.2009 - Rs. C-174/08 - NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, 1-10567- Rz. 42. EuGH, Urt. v. 29.10.2009 - Rs. C-174/08 - NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567- Rz. 43. Vgl. EuGH, Urt. v. 29.10.2009 Rs. C-174/08 - NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567- Rz. 45; EuGH, Urt. v. 18.5.2000 Rs. C-107/97- Rombi und Arkopharma, EuGHE 2000, l-3367 Rz. 65; EuGH, Urt. v. 8.6.2000 - Rs. C-396/98 Schloßstraße, EuGI-IE 2000, I-4279- Rz. 44; EuGH, Urt. v. 6.11.2003 - Rs. C-45/01 Christoph Dornier Stiftung, EuGHE 2003, I-12911 Rz. 69. Vgl. EuGH, Urt. v. 29.10.2009- Rs. C-174/08- NCC Construction Danmark, EuGHE 2009, I-10567- Rz. 46.

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Steuerpflichtigen - nämlich integrierte und arbeitsteilig organisierte Bauträger - gegenüberstehen, die miteinander konkurrieren. Jedoch macht sich hier bemerkbar, dass die komparative Neutralität grundrechtlich fundiert ist, während die Belastungsneutralität letztlich nur als eine den Bestimmungen der Richtlinie über den Vorsteuerabzug zugrunde liegende Erwägung angesehen wird.

111. Einschränkungen der steuerlichen Neutralität Das Urteil NCC belegt auch, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität - jedenfalls in seiner Ausprägung als Belastungsneutralität nicht uneingeschränkt gilt. Allerdings liefe es dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zuwider, wenn die Mitgliedstaaten derartige Einschränkungen eigenmächtig vornehmen könnten. Vielmehr betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass Einschränkungen in der Richtlinie selbst vorgesehen sein müssen.46 So erlaubt Art. 176 MwStSystRL den Mitgliedstaaten etwa bestimmte, bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie bestehende Ausschlüsse des Vorsteuerabzugs beizubehalten. Als Abweichung vom Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist diese Stand-still-Klausel jedoch eng auszulegen.47 Deshalb kann sich ein Mitgliedstaat nicht mehr auf sie berufen, wenn er den Vorsteuerabzug nach Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie vorübergehend gestattet hat.48 Das Fortbestehen entsprechender Alt- und Übergangsregelungen belegt, dass die Harmonisierung der Mehrwertsteuerbestimmungen der Mitgliedstaaten noch immer lückenhaft ist, was zu Spannungen mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität führen kann. Auch im 46

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EuGH, Urt. v. 19.9.2000- Rs. C-177 /99 und C-181/99- Ampafrance und Sanofi, EuGHE 2000, I-7013 - Rz. 34; EuGH, Urt. v. 11.12.2008 - Rs. C-371/07Danfass und AstraZeneca, EuGHE 2008, I-9549 - Rz. 26; EuGH, Urt. v. 23.4.2009- Rs. C-74/08- PARAT Automotive Cabrio, EuGHE 2009, I-3459Rz. 18. EuGH, Urt. v. 8.1.2002 - Rs. C-409/99- Metropol und Stadler, EuGHE 2002, I-81 - Rz. 59; EuGH, Urt. v. 2.12.2008- Rs. C-414/07- Magoora, EuGHE 2008, I-10921 - Rz. 28. EuGH, Urt. v. 8.1.2002- Rs. C-409/99 - Metropol und Stadler, EuGHE 2002, I-81 - Rz. 46; EuGHE 2000, I-7013 - Rz. 34; EuGH, Urt. v. 11.12.2008 - Rs. C-371/07- Danfass und AstraZeneca, EuGHE 2008, I-9549- Rz. 33.

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Bereich der Steuerbefreiungen noch zahlreiche Ausnahmen, die zur Beeinträchtigung der Neutralität führen können. Dies lässt sich am Beispiel des Urteils Eurodenta[49 illustrieren. Es betraf Lieferungen von Zahntechnikern, die nach den allgemeinen Regelungen der Richtlinie an sich von der Steuer befreit sind. In Deutschland unterlagen diese Leistungen allerdings kraft einer nach der Richtlinie zulässigen Altregelung der Steuer. Im konkreten Fall lieferte ein luxemburgischer Zahntechniker Prothesen an Zahnärzte in Deutschland, wo die Lieferungen der Steuer unterlagen. Daher wollte der Zahntechniker die Vorsteuer auf die Lieferung der verwendeten Materialien in Luxemburg in Abzug bringen. Dies wurde von den Steuerbehörden abgelehnt, weil die Lieferung von Zahnprothesen in Luxemburg steuerbefreit sei. Der EuGH bestätigte diese Auffassung. Die Versagung des Vorsteuerabzugs führt zwar zu einer überhöhten steuerlichen Belastung der Lieferungen, weil die Ausgangsumsätze in Deutschland anders als in Luxemburg steuerpflichtig sind. Dieser klare Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beruht aber nach Auffassung des EuGH auf der von Deutschland angewandten Altregelung, also letztlich auf der unvollständigen Harmonisierung; Luxemburg brauche nicht die Konsequenzen zu tragen, die aus dem deutschen Sonderweg resultierten.SO Allerdings mutet der EuGH damit dem Steuerpflichtigen zu, die Mehrfachbelastung bei der grenzüberschreitenden Lieferung hinzunehmen und schafft so ein erhebliches Hindernis für den freien Warenverkehr.51 Der Gerichtshof geht sogar so weit, die Versagung des Vorsteuerabzugs mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu begründen. Würden Umsätze, wenn sie innergemeinschaftlichen Charakter haben, das Recht auf Vorsteuerabzug eröffnen, wäre dieser Grundsatz angeblich nicht beachtet, da dieselben Umsätze, wenn sie im Inland eines

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EuGH, Urt. v. 7.12.2006- Rs. C-240/05 Eurodental, EuGHE 2006, l-11479. EuGH, Urt. v. 7.12.2006 - Rs. C-240/05 Eurodental, EuGHE 2006, I-11479 Rz. 50 ff. Vgl. REiß, Sanktionierung der der europäischen Grundfreiheiten durch den EuGH bei neutralitätswidriger Umsatzbesteuerung im innergemeinschaftlichen Waren- und Dienstleistungsverkehr, UR 2007, 565.

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Mitgliedstaats ausgeführt würden, nicht zu einem Abzug führten.52 Dabei verkennt der Gerichtshof, dass die grenzüberschreitenden Lieferungen, mit innerstaatlichen Lieferungen im Bestimmungsstaat Deutschland, wo sie der Steuer unterliegen, konkurrieren und nicht mit innerstaatlichen Lieferungen in Gerade am Beispiel der Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen zeigt sich, dass zwischen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität auf der einen und Nachweiserfordernissen, die Steuerhinterziehungen vorbeugen sollen, auf der anderen Seite ein gewisses Spannungsverhältnis besteht. Zwar sieht Art. 131 MwStSystRL ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten die Steuerbefreiungen unter den Bedingungen anwenden, die sie für die Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbrauch Jedoch dürfen die Nachweisanforderungen, die die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang aufstellen, nicht unverhältnismäßig Kann der Steuerpflichtige die angemessen ausgestalteten Anforderung für den Nachweis der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht erfüllen, ist die Befreiung zu versagen, auch wenn dies letztlich zu einer Mehrfachbesteuerung führt. Nicht gegen eine Mehrfachbesteuerung geschützt ist auch, wer vorsätzlich falsche Angaben zum Empfänger einer innergemeinschaftlichen macht. Wie der Gerichtshof vor kurzem in seinem Urteil in der Rechtssache "R" entschieden hat, kann dem Lieferer in diesem Fall die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung versagt Dies gilt auch dann, wenn die objektiven Voraussetzungen für die Befreiung tatsächlich vorgelegen haben, aber die falschen Angaben dazu dienten, die Hinterziehung der Erwerbssteuer im

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EuGH, Urt. v. 7.12.2006- Rs. C-240/05- Eurodental, EuGHE 2006, I-11479 Rz.47. Schlussanträge der Generalanwältin KOKOTT v. 7.9.2006 Rs. C-401/05 VDP Dental, EuGHE 2006, I-12121- Rz. 52 ff. EuGH, Urt. v. 27.9.2007- Rs. C-409/04- Teleos u.a., EuGHE 2007, l-7797 Rz. 55; EuGH, Urt. v. 18.11.2010 - Rs. C-84/09 - X, UR 2011, 103 Rz. 35; EuGH, Urt. v. 7.12.1010- Rs. C-285/09- R, UR 2011, 15 Rz. 45. EuGH, Urt. v. 7.12.1010- Rs. C-285/09- R, UR 2011, 15- Rz. 47 bis 49. Das Urteil geht auf die Vorlage des BGH in einem Steuerstrafverfahren zurück, siehe BGH, Beschl. v. 7.7.2009 -1 StR 41/09, UR 2009, 732. Der BFH hatte dem Steuerpflichtigen dagegen im einstweiligen Rechtsschutz Recht !'."l;"v""'• BFH, Beschl. v. 29.7.2009 - XI B 24/09, BFHE 226, 449. Siehe ferner BVerfG, Beschl. v. 23.7.2009- 2 BvR 542/09, UR 2009, 898.

HENZE, Grundsatz der steuerlichen Neutralität

Bestimmungsstaat zu ermöglichen. Generalanwalt CRUZ VII.LALÖN hatte in seinen Schlussanträgen dagegen die Auffassung vertreten, dass die Nichtgewährung der Befreiung in diesem Fall u.a. gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoße. 56 Der EuGH versagte dem Steuerpflichtigen unter den geschilderten Umständen jedoch die Berufung auf diesen Grundsatz und räumte damit generalpräventiven Erwägungen den Vorrang ein.57 Die bisher dargestellten Beschränkungen jeweils in die Belastungsneutralität ein. Ihre Ursache ist entweder in einer fehlenden Harmonisierung der einschlägigen Vorschriften zu finden oder aus vorrangigen Erwägungen, wie dem Interesse an der Bekämpfung der Steuerhinterziehung gerechtfertigt. Als einfach gesetzlicher Grundsatz steht die Beachtung der Belastungsneutralität also durchaus zur Disposition des Richtliniengebers. Im Falle von Eingriffen in die komparative steuerliche Neutralität bestehen dagegen wegen ihrer Herleitung aus dem Gleichheitsgrundsatz größere Bedenken. Dennoch findet sich in den Regelungen der Richtlinie selbst ein Beispiel hierfür. So unterwirft Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL den Staat und seine Einrichtungen im Rahmen der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit nur dann der Steuer, wenn die Behandlung als Nichtsteuerpflichtiger zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Auch bei "kleineren" Wettbewerbsverzerrungen ist aber bereits der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt.58 In seinem Urteil Isle of Wight Council u.a. hat der Gerichtshof diese Bestimmung, die die öffentliche Hand ausnahmsweise von der allgemeinen Besteuerung befreit, deswegen zu recht restriktiv ausgelegt und gefordert, dass die Wettbewerbsverzerrungen unbedeutend

des Generalanwalts CRUZ VILLALÖN v. 29.6.2010 Rs. C-285/09 R, www.curia.europa.eu- Rz. 62 f. 57 EuGH. Urt. v. 7.12.1010- Rs. C-285/09- R, UR 2011, 15 Rz. 54. 58 EuGH, Urt. v. 28.6.2007- Rs. C-363/05- JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companie, EuGHE 2007, I-5517 Rz. 47. Siehe ferner EuGH, Urt. v. 2.6.2005 - Rs. C-378/02 arE;rs