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German Pages [381] Year 2022
Lateinamerikanische Forschungen
Band 49
Herausgegeben von Christiane Berth, Thomas Duve, Stefanie Gänger, Debora Gerstenberger, Christine Hatzky, Silke Hensel, Olaf Kaltmeier, Ulrich Mücke und Barbara Potthast Begründet von Richard Konetzke (†) und Hermann Kellenbenz (†) Fortgeführt von Günter Kahle (†), Hans-Joachim König, Renate Pieper, Horst Pietschmann, Hans Pohl und Peer Schmidt (†)
»Lateinamerikanische Forschungen« ist die Fortsetzung der Reihe »Lateinamerikanische Forschungen. Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas«. Die Bandzählung wird fortgeführt.
Barbara Rupflin
Umkämpfte Menschenrechte Katholische Kirche und Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983)
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder – EXC 212. Zugleich Dissertation an der Universität Münster, 2017. D6 © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande ; Brill USA Inc., Boston MA, USA ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Manuel Alejandro Rodríguez Navarro Lektorat: Katharina Zwilling Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0460-1467 ISBN 978-3-412-51654-3
Para Manuel
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1: Auseinandersetzungen um den Ort der Menschenrechte in Kirche und Katholizismus 2. Konfliktive Aushandlungsprozesse, ambigues Sprechen, widerstreitende Lesarten: Die ersten Positionierungen der argentinischen Bischofskonferenz nach dem Putsch (1976–1977) . . 2.1 Menschenrechte und Repression im Bischofsdokument vom Mai 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Auseinandersetzungen in der Vollversammlung des Episkopats 2.3 Rezeption des ersten Bischofsdokuments nach dem Putsch . . . 2.4 Ein Jahr nach dem Putsch: Die desaparecidos werden sichtbar . 2.5 Die Bischofskonferenz im Mai 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ambigue Positionierungen und kritische Worte des argentinischen Episkopats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Rezeption des Bischofsdokuments vom Mai 1977 . . . . . . . . 3. Menschenrechtsverletzungen im Fokus: Der Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und die Intervention des Papstes (1978–1980) . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Umgang mit dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die argentinischen Bischöfe in Rom . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Menschenrechtsaktivist*innen zwischen Papst und Episkopat 3.4 Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Wie katholisch sind Menschenrechte? Die Debatte um den Friedensnobelpreis für den Menschenrechtsaktivisten Pérez Esquivel (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das christliche Selbstverständnis Pérez Esquivels und des Servicio Paz y Justicia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Verhältnis zwischen Pérez Esquivel und der Amtskirche 4.3 Die katholischen Zeitschriften über Pérez Esquivel . . . . . .
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5. Versöhnen, Vergessen, Reinterpretieren: Die Auseinandersetzungen um die Deutung der Diktatur und die Rolle der Kirche während der Transition (1981–1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die beginnende politische Öffnung und die Erwartungen an die Bischofskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Im Herzen der Kirche oder an den Rand gedrängt? – Die Madres de Plaza de Mayo und die Bischofskonferenz im Mai 1981 . . . . 5.3 Rezeption des Dokuments Iglesia y comunidad nacional . . . . . 5.4 Öffentliche Kritik an der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Debatten um das Documento Final der Junta . . . . . . . . . . . .
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Teil 2: Religiöse Dimensionen und institutionelle Handlungsspielräume im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen 6. Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen: Politischer Protest im religiösen Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kirchliche Räume als Treffpunkte und Informationsbörsen . . 6.2 Messen für die Verschwundenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die symbolische Dimension der eigenmächtigen Aneignung . 6.4 Inklusion und Legitimation des Protestanliegens . . . . . . . 6.5 Öffentliche Sichtbarkeit des politisch-religiösen Protests . . . 6.6 Konflikte um die Legitimität religiös-politischen Protests und Grenzen der institutionellen Handlungsspielräume . . . . . . 6.7 Wallfahrten zum Nationalheiligtum Luján . . . . . . . . . . . 7. Strukturelle Freiräume: Die Diözese als Ort der Zuflucht und des Protests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Menschenrechtsbewegung in Neuquén . . . . . . . . . 7.2 Der Wechsel von Lai*innen in die Diözese . . . . . . . . . 7.3 Der Wechsel von Priestern in die Diözese . . . . . . . . . . 7.4 Die Seminaristen und das Priesterseminar von Neuquén .
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263 275 283 292 311
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9
Inhalt
8. Enttäuschte Erwartungen, neue Allianzen: Konstruktion von Zugehörigkeit auf Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Situation der Angehörigen der Verschwundenen . . . . 8.2 Die Rolle der Diözese Neuquén für die Angehörigen . . . . 8.3 Zugehörigkeit zum Katholizismus und Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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317 318 323
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9. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
11. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12. Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
1.
Einleitung
Mit der Wahl Jorge Mario Bergoglios zum Papst im März 2013 geriet auch die Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Im Vordergrund stand die moralisch aufgeladene Frage nach der Verantwortung der katholischen Kirche als sozialer und politischer Akteur, die sich sowohl auf die Amtskirche als auch auf einzelne Protagonisten – wie Papst Franziskus, der damals Provinzial der Jesuiten in Argentinien war – erstreckte.1 Wie war das Verhältnis zum Militärregime? Wie verhielt sich die Kirche angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen, vor allem angesichts der großen Zahl an Verschwundenen (spanisch: desaparecidos)?2 Griff sie aktiv ein, um den Ver1 Vgl. Blasberg, Marian: »Als er noch nicht Franziskus war – Ein Komplize der Diktatur? Argentinien fragt nach der Vergangenheit des Papstes«, Die Zeit, H. 13 (2013); Lida, Miranda/ Mariano Fabris: »Argentina and the Pope from the End of the World: Antecedents and Consequences«, Journal of Latin American Cultural Studies, Jg. 22, H. 2 (2013), S. 113–121; Catoggio, María Soledad: »Argentine Catholicism During the Last Military Dictatorship. Unresolved Tensions and Tragic Outcomes«, Journal of Latin American Cultural Studies, Jg. 22, H. 2 (2013), S. 139–154; Mallimaci, Fortunato: »El catolicismo argentino de Bergoglio y el papado de Francisco: Una primera aproximación desde la Argentina«, Sociedad y religión, Jg. 23, H. 40 (2013), S. 211–244; Straßner, Veit: »Der argentinische Papst. Zur Ambivalenz von Kirche und Macht in Lateinamerika«, Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5 (2013), S. 103–112. 2 Im Deutschen wird in dieser Arbeit der Begriff Verschwundene kursiv gesetzt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um einen aus dem historischen Kontext stammenden Begriff handelt. In Argentinien begann die Menschenrechtsbewegung nach einiger Zeit nicht nur von desaparecidos zu sprechen, sondern von detenidos-desaparecidos, um deutlich zu machen, dass die staatlichen Sicherheitskräfte für das Verschwindenlassen verantwortlich waren. Das gewaltsame Verschwindenlassen (forced disappearance) ist mittlerweile ein rechtlich kodifizierter Straftatbestand, der eine Serie von Menschenrechtsverletzungen umfasst. Über die juristische Dimension hinaus werden dabei die Wirkungen des Verschwindenlassens auf die Sprache und Kultur sowie die individuelle und kollektive Erinnerung wissenschaftlich untersucht. Vgl. Figari Layús, Rosario/Estela Schindel: »Verschwindenlassen«, in: Gudehus, Christian/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 170–175; Gatti, Gabriel: El detenido-desaparecido. Narrativas posibles para una catástrofe de la identidad, Montevideo 2008; Mahlke, Kirsten: »A Fantastic Tale of Terror.
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Einleitung
folgten Schutz zu gewähren oder unterstützte sie die illegale Gewaltanwendung der Generäle? Die Beschäftigung mit der Rolle der katholischen Kirche während der Militärdiktatur ist seit ihren Anfängen in den 1980er-Jahren stark von der moralischen Dimension des Themas geprägt und weiterhin eng mit der öffentlichen Debatte in Argentinien verflochten.3 Dieser Umstand trug – neben der Unzugänglichkeit zentraler kircheninterner Quellen – auch dazu bei, dass die offiziellen Dokumente des argentinischen Episkopats lange Zeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen. Mittlerweile ist die Rolle des Episkopats und damit der Amtskirche während der Militärdiktatur gut untersucht, was aber nicht bedeutet, dass es im Hinblick auf die Leitungsebene der Kirche keine unbeantworteten Fragen mehr gäbe. So ist beispielsweise über die internen Debatten und konkreten Entscheidungsprozesse innerhalb der Bischofskonferenz nur sehr wenig bekannt. Insgesamt stimmt die bisherige Forschung darin überein, dass – sofern man diese in aller Kürze zusammenfassen will – die Amtskirche als Institution ihre traditionell enge Beziehung zum Militär während der Diktatur aufrechterhielt und die Militärdiktatur und ihr gewaltsames Vorgehen legitimierte, statt sich aktiv für die Menschenrechte einzusetzen.4 Argentina’s ›Disappeared‹ and their Narrative Representation in Julio Cortazar’s ›Second Time Round‹«, in: Frank, Michael C. et al. (Hg.), Literature and Terrorism. Comparative Perspectives, Amsterdam 2012, S. 195–212; Schindel, Estela: »Verschwunden, aber nicht vergessen: Die Konstruktion der Erinnerung an die Desaparecidos«, in: Bodemer, Klaus/Andrea Pagni/Peter Waldmann (Hg.), Argentinien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 2002, S. 105–134. 3 Auf die Bedeutung der moralischen Dimension weist auch Zanatta hin; vgl. Zanatta, Loris: La larga agonía de la Nación católica. Iglesia y dictadura en Argentina, Buenos Aires 2015, S. 303f. In der Erforschung der Rolle der katholischen Kirche während des Nationalsozialismus ist bis heute ebenfalls die moralisch aufgeladene Frage nach der Haltung der Kirche zum NS-Regime dominant. Nicht zu übersehen ist dabei die oftmals identitäts- und kirchenpolitisch motivierte Thesenbildung, vor allem der kirchennahen Historiker*innen, die sich weitgehend weigern, das Handeln der Kirche auch in der Rubrik Kollaboration und nicht allein in der Rubrik Widerstand zu verorten. Vgl. Leugers, Antonia: »Forschen und Forschen lassen. Katholische Kontroversen und Debatten zum Verhältnis Kirche und Nationalsozialismus«, in: Henkelmann, Andreas/Nicole Priesching (Hg.), Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus (theologie.geschichte, Beiheft 2), Saarbrücken 2010, S. 89–109; Blaschke, Olaf: »Geschichtsdeutung und Vergangenheitspolitik. Die Kommission für Zeitgeschichte und das Netzwerk kirchenloyaler Katholizismusforscher 1945–2000«, in: Pittrof, Thomas (Hg.), Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2010, S. 479–521. 4 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Amtskirche in Argentinien als homogener Akteur gesehen werden darf. Vielmehr weist sie über die unterschiedlichen Hierarchieebenen hinweg eine große Heterogenität auf, was die Haltung zu Militärregime und Menschenrechtsverletzungen betrifft. Zum Forschungsstand vgl. Hensel, Silke/Stephan Ruderer: »Zwischen Macht und Moral? Die katholische Kirche während der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile. Ein Forschungsüberblick«, Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, Jg. 48 (2011), S. 361–388; Für
Einleitung
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Aus dieser globalen Perspektive unterscheidet sie sich somit deutlich von der Kirche in Chile, die während der Diktatur unter Augusto Pinochet von 1973 bis 1989 zur »moralischen Opposition«5 wurde. Die argentinische Amtskirche nahm während der Militärdiktatur keine oppositionelle Rolle ein, allenfalls lassen sich eine kritische Haltung gegenüber der Militärdiktatur und ein aktives Engagement für die Menschenrechte bei einzelnen Würdenträgern der Amtskirche feststellen.6 Die Beteiligung dieser Einzelpersonen an der Menschenrechtsbewegung, die im Gegensatz zu den ambiguen offiziellen Positionierungen des Episkopats stand, verweist auf die massiven Konflikte innerhalb der argentinischen Kirche, die nicht zuletzt daraus resultierten, dass unter den Repressionsopfern bekennende Katholik*innen, Priester, Ordensleute und sogar Bischöfe waren. Hinzu kommt, dass etliche Menschenrechtsaktivist*innen sich zum katholischen Glauben bekannten oder in ihrer Funktion als Priester oder Ordensangehörige sogar in die Organisationsstrukturen der Kirche eingebunden waren. Der Kampf um die Haltung in der Menschenrechtsfrage durchzog auch einen allgemeinen Überblick in deutscher Sprache vgl. Mallimaci, Fortunato/Giménez Béliveau, Verónica: »Argentinien«, in: Meier, Johannes/Veit Straßner (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Band 6: Lateinamerika und Karibik, Paderborn 2009, S. 399–422. Deutlich weniger ergiebig ist der Überblick bei Klimmeck. Vgl. Klimmeck, Barbara: »Katholizismus, Gewalt und Militärdiktatur in Argentinien«, in: Oberdorfer, Bernd/Peter Waldmann (Hg.), Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger, Freiburg 2008, S. 219–245. Für eine englischsprachige Einführung vgl. Klaiber, Jeffrey L.: The Church, Dictatorships, and Democracy in Latin America, Maryknoll 1998. Für eine gute Überblicksdarstellung in spanischer Sprache vgl. Di Stefano, Roberto/Loris Zanatta: Historia de la Iglesia Argentina. Desde la Conquista hasta fines del siglo XX, 2. Aufl., Buenos Aires 2009. Dagegen eher oberflächlich Pérez Esquivel. Vgl. Pérez Esquivel, Leonardo: »La iglesia argentina durante la dictadura militar«, in: Meier, Johannes/Enrique D. Dussel (Hg.), Historia general de la Iglesia en América Latina, Salamanca 1994, S. 541–561. Zum Legitimationsdiskurs vgl. Catoggio, María Soledad: »Religious Beliefs and Actors in the Legitimation of Military Dictatorships in the Southern Cone, 1964–1989«, Latin American Perspectives, Jg. 38, H. 179 (2011), S. 25–37; Ruderer, Stephan: »›Gerechter Krieg‹ oder ›Würde des Menschen‹. Religion und Gewalt in Argentinien und Chile: Eine Frage der Legitimation«, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, H. 12 (2010), S. 973–993. 5 Vgl. Lowden, Pamela: Moral Opposition to Authoritarian Rule in Chile, 1973–90, London 1996. Aber auch die chilenische Kirche weist eine innere Heterogenität auf, wie Wilde darlegt. Vgl. Wilde, Alexander: »La Iglesia institucional y el ministerio pastoral: unidad y conflicto en la defensa de los derechos humanos en Chile«, in: Ders. (Hg.), Las iglesias ante la violencia en América Latina. Los derechos humanos en el pasado y el presente, México, D.F./Washington DC 2015(b), S. 175–205. Einen detaillierten Einblick in die Heterogenität der chilenischen Kirche mit Fokus auf den Jesuitenorden bietet Schnoor. Vgl. Schnoor, Antje: Gehorchen und Gestalten. Jesuiten zwischen Demokratie und Diktatur in Chile (1962–1983), Frankfurt/New York 2016. 6 Eine kurze Übersicht über die Positionen einzelner Bischöfe bietet Mignone. Vgl. Mignone, Emilio: »The Catholic Church, Human Rights and the ›Dirty War‹ in Argentina«, in: Keogh, Dermot/Graham Greene (Hg.), Church and politics in Latin America, Basingstoke 1990, S. 352– 371.
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Einleitung
die argentinische Bischofskonferenz, deren Verlautbarungen durchaus die Repressionsproblematik adressierten, jedoch oftmals nicht so, wie es die Opfer der Militärdiktatur und die Aktivist*innen der Menschenrechtsbewegung sich erhofft und gefordert hatten. Diese Arbeit stellt die konfliktiven Beziehungen katholischer Akteur*innen und die Kämpfe um die Positionierung zur Menschenrechtsfrage ins Zentrum der Analyse und schließt damit an jüngere historiographische Entwicklungen an, die dazu beitragen, die Heterogenität der katholischen Kirche in den Blick zu nehmen und Akteur*innen außerhalb der Leitungsebene der Institution zum Untersuchungsgegenstand zu machen.7 Statt die Geschichte der Positionierung der katholischen Kirche zur Menschenrechtsfrage vom Zentrum her als Geschichte der Haltung des Episkopats zu schreiben, wird in dieser Studie eine Perspektive eingenommen, die nicht die Selbstbeschreibung der katholischen Kirche als zentral organisierter, hierarchisch strukturierter und homogener Akteur als gegeben setzt. Statt davon auszugehen, dass es ›die Kirche‹ in Argentinien – verstanden als intentional handelnden Akteur – gibt, wird untersucht, wie die verschiedenen Akteure um die Haltung und die Praxis der Institution bezogen auf Militärdiktatur und Menschenrechtsverletzungen kämpften. Denn welches Selbstverständnis für die Institution Kirche handlungsleitend sein sollte und welche offizielle Haltung und institutionellen Praktiken daraus zu resultieren hatten, kurz gesagt, wie ›die Kirche‹ angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen sein und handeln sollte, war Gegenstand von heftigen Deutungskonflikten, die unter anderem ambigue offizielle Positionierungen und eigenmächtige Praktiken katholischer Akteur*innen hervorbrachten. Um diese zu erfassen, wird hier die Blickrichtung geändert, ohne jedoch das Ganze aus den Augen zu verlieren. So setzt die Untersuchung an den Peripherien des religiösen Felds an und richtet den Blick auf jene Akteur*innen, die im religiösen Feld in verschiedener Hinsicht eine marginale Position einnahmen, wie beispielsweise in der Menschenrechtsbewegung aktive Lai*innen und Priester oder Bischöfe, die aufgrund ihrer Haltung innerhalb des Episkopats in der Minderheit waren.8 Dadurch, dass ihr Agieren in Bezug auf die Institution Kirche untersucht wird, lassen sich sowohl die Vielfalt und Komplexität der katholischen Kirche als auch 7 Vor allem die Repression gegen Priester oder Ordensleute wird untersucht. Vgl. beispielsweise Catoggio, María Soledad: »Cambio de hábito. Trayectorias de religiosas durante la última dictadura militar«, Latin American Research Review, Jg. 45, H. 2 (2010), S. 27–48; Morello, Gustavo: »El terrorismo de estado y el catolicismo en Argentina: El caso de los Misioneros de La Salette«, Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, Jg. 48 (2011), S. 285–310. 8 Die Begriffe politisches und religiöses Feld lehnen sich an die Arbeiten Bourdieus an, mit denen er die Relationalität in den Machtbeziehungen und die Eigenlogiken bestimmter Handlungszusammenhänge hervorhebt. Vgl. Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000; Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001.
Einleitung
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ihre inneren Konflikte erfassen und analysieren.9 Die offiziellen Dokumente der Bischofskonferenzen werden nicht als absolut fixierte Aussagen verstanden, sondern als Versuche einer Bedeutungsfixierung, die jedoch von den Akteur*innen stark umkämpft wurden, sowohl im Vorfeld als auch in der Rezeption.10 Deshalb werden sowohl die Erwartungen im Vorfeld, die Entstehung als auch die Verwendung der Bischofsdokumente im Diskurs um Menschenrechtsverletzungen untersucht. Es wird außerdem danach gefragt, welche institutionellen Handlungsspielräume Funktionsträger der Amtskirche und von der Repression betroffene Katholik*innen zum Schutz und zur Verteidigung der Menschenrechte nutzen konnten. Damit wird die Erforschung der Rolle von Religion und Kirchen in Diktaturen mit der Forschung zur Geschichte der Menschenrechte verknüpft, die den »Durchbruch«11 der Menschenrechte in den 1970er-Jahren konstatiert, und das Verhältnis religiöser Akteur*innen zur Menschenrechtsfrage beleuchtet. Ausgehend von Entwicklungen in Europa und den USA, und mit dem Blick auf internationale Politik, formulierten Moyn und in ähnlicher Weise Eckel die These, dass der Verlust utopischer politischer Perspektiven die Idee der Menschenrechte zur zentralen, vordergründig apolitischen Perspektivierung politischer Intervention ganz unterschiedlicher Akteure werden ließ. Mit Blick auf Lateinamerika in den 1970er-Jahren, eine Zeit, in der in vielen Ländern Militärdiktaturen herrschten, sollte der Bedeutung der konkret erfahrenen Repression und der Eigenlogik des Diskurses unter den Bedingungen der Diktatur jedoch noch stärker Rechnung getragen werden. In diesem Kontext bot die Semantik der Menschenrechte eine Möglichkeit, den Diskurs um eine vermeintliche ›Schuld‹ der Repressionsopfer an der eigenen Verfolgung zu unterlaufen und die Verteidigung der Menschenrechte außerhalb des Politischen zu verorten, was deshalb relevant war, da politische Betätigung unter einer Militärherrschaft per se dem Verdacht des ›Subversiven‹ ausgesetzt war.12 Insofern spielte auch im lateinamerikanischen Kontext die vermeintlich apolitische Dimension der Menschenrechte eine bedeutende Rolle für ihren Durchbruch als 9 Insofern bemüht sich diese Arbeit um eine Geschichte der Religion unter Einbeziehung der Institution Kirche. Zur Kritik an der Verengung der Forschungsperspektive auf die Institution vgl. beispielsweise Ziemann, Benjamin: »Säkularisierung und Neuformierung des Religiösen«, Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 51 (2011), S. 3–36, hier S. 4. 10 Einen wichtigen Beitrag im Hinblick auf die Deutungsoffenheit von Kommunikationsakten liefert Hall. Vgl. Hall, Stuart: Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 2009. 11 Moyn, Samuel: The last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010; Eckel, Jan: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 2. Aufl., Göttingen 2015; Eckel, Jan/Samuel Moyn (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012. 12 Vgl. Schindel, Estela: La desaparición a diario. Sociedad, prensa y dictadura (1975–1978), Villa Maria 2012, S. 208f.
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Einleitung
zentrale Kategorie in der Sphäre des Politischen – jedoch nicht, weil sie als Alternative zu frustrierten politischen Utopien begriffen wurde, sondern weil durch die brutale Verfolgung Andersdenkender durch die jeweiligen Militärregimes jegliche politische Artikulation unterbunden werden sollte, vor allem die Verbreitung von revolutionären oder utopischen Vorstellungen. Eine Schwierigkeit des hier eingenommenen Blicks von den Rändern aus liegt darin, dass es im Verhältnis zu einer auf das Zentrum ausgerichteten Perspektive mehr Ansatzmöglichkeiten gibt und nicht immer ohne Weiteres auszumachen ist, an welchen Stellen eine Untersuchung lohnenswert sein könnte. Neben dieser in erster Linie forschungspragmatischen Schwierigkeit liegt eine weitere Problematik in der Gefahr, den Bemühungen um die Menschenrechte zu viel Gewicht zuzuschreiben, so dass die junta-nahe Haltung der Amtskirche in den Hintergrund rückt und die katholischen Anteile in der Menschenrechtsbewegung überbetont werden.13 Deswegen sei explizit darauf hingewiesen, dass diese Arbeit keinesfalls als Apologie der argentinischen Kirche zur Zeit der Militärdiktatur verstanden werden darf. Im Gegenteil: Die katholischen Menschenrechtsaktivist*innen und Opfer der Repression werden nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren oft konfliktreichen Beziehungen zu anderen kirchlichen Akteur*innen, so dass die gut erforschte Position der Amtskirche gerade in den Konflikten um die Menschenrechtsfrage bestätigt wird und sogar schärfer konturiert zu Tage tritt.14 Vor allem die ersten Veröffentlichungen über die Rolle der Kirche während der Diktatur sind von der Enttäuschung über das Agieren der Amtskirche geprägt, wobei ein anklagender Duktus auch etlichen späteren Publikationen zu eigen ist.15 In der Diskussion um die Rolle der Kirche wird auch in wissenschaftlichen Beiträgen nicht immer klar zwischen akademischen und sonstigen Publikationen unterschieden, so dass Arbeiten in der akademischen Debatte relevant geworden sind, die beim Anlegen strenger Kriterien nicht als wissenschaftliche Beiträge gelten können. Etliche Arbeiten stammen von historischen 13 So beispielsweise bei Catoggio: »[…] la gran comunidad religiosa contribuyó a desarrollar una vocación humanitaria que fue crucial en la condena del régimen militar y en el comienzo de la transición democrática.« (»[…] die große religiöse Gemeinschaft trug dazu bei, eine humanitäre Berufung zu entwickeln, die entscheidend war für die Verurteilung des Militärregimes.«); Catoggio, María Soledad: »Tiempos violentos: Catolicismo y dictadura en la Argentina de los anos setenta«, in: Wilde, Alexander (Hg.), Las iglesias ante la violencia en América Latina. Los derechos humanos en el pasado y el presente, México, D.F./Washington DC 2015, S. 207–232, hier S. 230. 14 Dieser Hinweis ist nicht zuletzt der moralischen Dimension der Thematik und der oftmals feststellbaren Polemik in der gesellschaftlichen Debatte geschuldet, von der auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht immer ganz frei ist. 15 Vgl. Bresci, Domingo A: »Panorama de la Iglesia Argentina 1958–84«, Sociedad y Religión, H. 5 (1987), S. 56–75; Wornat, Olga: Nuestra Santa Madre. Historia pública y privada de la Iglesia Católica argentina, Buenos Aires 2002.
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Akteur*innen selbst.16 Als besonders einflussreich erwies sich das 1986 von dem aktiven katholischen Laien, Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Emilio Mignone veröffentlichte Werk Iglesia y Dictadura, das aufgrund seiner Zeitzeugenschaft detailliertes Insiderwissen enthält.17 Seine Tochter arbeitete als Katechetin in einem Armenviertel, wurde dort 1976 entführt und gilt seitdem als verschwunden. Mit dieser Publikation, die noch immer eine zentrale Referenz sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Debatte ist und wegen der großen Nachfrage 2006 erneut aufgelegt wurde, etablierte sich als Masternarrativ die These von einer tiefgreifenden Spaltung der Kirche in ›zwei Kirchen‹, von denen die eine verfolgt wurde, während die andere kollaborierte, indem sie das Militärregime und seine Repressionspraxis legitimierte und sich sogar aktiv an Menschenrechtsverbrechen beteiligte.18 Durch die Verbindung von Anklage und Analyse bewegt sich das Werk Mignones gewissermaßen im Grenzbereich des wissenschaftlichen Felds, ähnlich wie die zwischen Chronik und Anekdotensammlung angesiedelten Publikationen des Journalisten Horacio Verbitsky, dem es vor allem um die minutiöse Darlegung der Komplizenschaft zwischen Kirche und Militärmachthabern geht.19 Trotz ihres eher geringen analytischen Gehalts sind Verbitskys Bücher ein wichtiger Beitrag, da sie viele für Historiker*innen unzugängliche Quellen auswerten, die Verbitsky aufgrund persönlicher Kontakte einsehen konnte. Sie liefern etliche zusätzliche Belege für die in der Forschung vielfach konstatierte Übereinstimmung vieler Bischöfe mit dem Legitimations-
16 So beispielsweise die Arbeiten von Rubén Dri, der die theologischen Grundlagen der gemeinsamen Weltdeutung von Klerikern und des Militärs darlegt. Vgl. Dri, Rubén R.: Proceso a la Iglesia argentina. Las relaciones de la jerarquía eclesiástica y los gobiernos de Alfonsín y Menem, 2. Aufl., Buenos Aires 1997; Dri, Rubén R.: La hegemonía de los cruzados. La iglesia católica y la dictadura militar, Buenos Aires 2011. 17 Emilio Mignone war einer der zentralen Protagonisten der Menschenrechtsbewegung in Argentinien, arbeitete während der Militärdiktatur von Onganía (1966–1970) im Bildungsministerium und war bis zum Militärputsch 1976 Direktor der katholischen Universität von Luján. Vgl. Carril, Mario del: La vida de Emilio Mignone. Justicia, catolicismo y derechos humanos, Buenos Aires 2011. 18 Vgl. Mignone, Emilio Fermín: Iglesia y dictadura. El papel de la Iglesia a la luz de sus relaciones con el régimen militar, 2. Aufl., Buenos Aires 2006 [1986]; Klaiber 1998. Zur Kritik an dieser These siehe Catoggio 2015(a), S. 208. 19 Vgl. Verbitsky, Horacio: Doble juego. La Argentina católica y militar, 2. Aufl., Buenos Aires 2006; Verbitsky, Horacio: La mano izquierda de Dios. La última dictadura (1976–1983), Buenos Aires 2010. Zum Charakter der Bücher von Verbisky vgl. »Reflexiones, comentarios y debates en torno a los libros: el Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo de José Pablo Martín (nueva edición) y La mano izquierda de Dios de Horacio Verbitsky«, in: Aldo Ameigeiras (Hg.), ¿Política y catolicismo o catolicismos políticos? Miradas y perspectivas sobre una relación conflictiva en la Argentina, Los Polvorines 2014, S. 211–251.
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diskurs der Militärmachthaber und die Verstrickung von Priestern in die Repression.20 Neben weiteren journalistischen Veröffentlichungen sind zahlreiche Darstellungen aus der Perspektive von Zeitzeug*innen, Biographien und Testimonialliteratur auf dem Markt. Bei diesen Publikationen, die bezogen auf die Amtskirche weit öfter den Charakter einer Anklage- als einer Verteidigungsschrift haben, spielen erinnerungspolitische Absichten eine zentrale Rolle.21 Diese Texte sind somit ein Beitrag zur öffentlichen Debatte um die Verantwortung der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur, die von den Protagonisten meist in den Kategorien von Schuld oder Unschuld, Kollaboration oder Widerstand formuliert werden. In erweiterter Perspektive gehören diese Fragen zum Forschungsfeld des Verhältnisses von Religion und Gewalt, oder spezifischer, des Verhältnisses der katholischen Kirche zu politischer Gewalt.22 Auch die argentinische Amtskirche selbst meldete sich in dieser Debatte ein Jahr nach dem Ende der Diktatur zu Wort und veröffentlichte unter dem Titel Iglesia y Derechos Humanos eine Sammlung von Auszügen ihrer öffentlichen Dokumente wie auch bis dato unter Verschluss gehaltene Briefe an die Militärjunta.23 Dabei sind jene Passagen, in denen einst die Militärdiktatur legitimiert wurde, den späteren Kürzungen zum Opfer gefallen. Das hier erkennbare geschichtspolitische Bemühen der Amtskirche, die seit den frühen 1980er Jahren immer wieder 20 Die theologisch gespeiste Legitimation der gewaltsamen Repression bezeichnet der Theologe und Zeitzeuge Rubén Dri mit dem Begriff »teología de dominación«. Dri, Rubén R.: Teología y dominación, Buenos Aires 1987; Zum Fall des verurteilen Folter-Priesters Christian von Wernich vgl. Brienza, Hernán: Maldito tú eres. El caso Von Wernich – Iglesia y represión ilegal, Buenos Aires 2003. 21 Aus der großen Zahl der Publikation auf diesem Gebiet seien hier nur einige exemplarisch genannt. Vgl. Baronetto, Luis Miguel: Vida y martirio de Mons. Angelelli. Obispo de la Iglesia católica, Córdoba 1996; Montini, Jorge/Zerva, Marcelo: Vicente Zaspe. El corazón de un pastor, Buenos Aires 2000; Seisdedos, Gabriel: El honor de Dios. Mártires palotinos – la historia silenciada de un crimen impune, Buenos Aires 1996; Rice, Patricio/Luis Torres (Hg.): En medio de la tempestad. Los Hermanitos del Evangelio en Argentina (1959–1977), Montevideo 2007; Siwak, Pedro: Victimas y mártires de la década del setenta en la Argentina, Buenos Aires 2000; Das Werk von Marchak ist keine Testimonialliteratur im engeren Sinne. Sie versucht anhand von Interviews unterschiedlicher Zeitzeug*innen die Repression des Militärregimes verständlich zu machen, wobei die Interviews nach kurzen thematischen Einführungen unbearbeitet abgedruckt werden. Darunter finden sich auch sechs Interviews mit Angehörigen des Klerus. Vgl. Marchak, Patricia: God’s Assassins. State Terrorism in Argentina in the 1970s, Montreal 1999, S. 235ff. Zu den Verteidigungsschriften zählt das journalistische Buch von Nello Scavo. Vgl. Scavo, Nello: Bergoglios Liste. Papst Franziskus und die argentinische Militärdiktatur, Freiburg 2014. 22 Vgl. Hensel, Silke/Hubert Wolf: »Einleitung: Die katholische Kirche und Gewalt in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert«, in: Dies. (Hg.), Die katholische Kirche und Gewalt. Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 11–28. 23 Vgl. Conferencia Episcopal Argentina (Hg.): La Iglesia y los derechos humanos, Buenos Aires 1984.
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öffentlich formulierten Anschuldigungen abzuwehren und ihnen ein positives Bild entgegenzusetzen, steht in einem Spannungsverhältnis zur mangelnden Bereitschaft, sich der eigenen Vergangenheit vorbehaltlos zu stellen, indem sie beispielsweise ihre Archive für unabhängige Forschung öffnet.24 Weitere Ursachen für die Vehemenz der Auseinandersetzung liegen in der bedeutenden Rolle, die der katholischen Kirche als Akteur im politischen Feld zugeschrieben wird und die sie selbst für sich beansprucht. Ähnlich gilt dies für zentrale Funktionsträger innerhalb der Institution. Hinzu kommen das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen und die Tatsache, dass die bis heute nicht abgeschlossene juristische Aufarbeitung dieser Fälle von der katholischen Kirche sehr lange Zeit nicht unterstützt wurde, obwohl Menschenrechtsorganisationen dies immer wieder einforderten.25 Die Menschenrechtsaktivist*innen gehen unter anderem davon aus, dass die Kirche über zentrale Informationen zur Aufklärung der Fälle verschwundener Kinder verfügt. Mutmaßlich 500 Kinder wurden in geheimen Folterzentren geboren, ihre Mütter wurden nach der Geburt ermordet. Die Mehrheit dieser Kinder gilt bis heute als verschwunden. Sie wurden zwangsadoptiert und wuchsen unter falscher Identität bei regimetreuen Familien auf. In bisher 130 Fällen konnte die Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie ermittelt und der Kontakt zu Großeltern und anderen Verwandten hergestellt werden.26 Erst seit 2016 gewährt der Vatikan den Angehörigen der Verschwundenen Einsicht in kirchliche Akten. Für die Forschung bleiben die fraglichen Bestände weiterhin verschlossen.27 24 So formulierte Pérez Esquivel 2014: »Insgesamt aber steht der argentinische Episkopat, obwohl seine Mitglieder inzwischen ausgetauscht worden sind, noch in der Bringschuld, was die Aufdeckung der Wahrheit und das Eintreten für die Gerechtigkeit angeht, die er anerkennen und zu deren Wiederherstellung er betragen müsste.« Pérez Esquivel: »Vorwort – ›Bergoglio trug dazu bei, den Verfolgten zu helfen‹«, in: Scavo, Nello: Bergoglios Liste. Papst Franziskus und die argentinische Militärdiktatur, Freiburg 2014, S. 9–15, hier S. 13. Zum Problem der Vergangenheitsbewältigung vgl. Kuhnert, Michael: »In der Klemme. Die Kirche in Argentinien ringt mit der Vergangenheit«, Herder-Korrespondenz, H. 4 (2008), S. 200–204. 25 So forderten die Madres de Plaza de Mayo mit dem Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) die Öffnung der kirchlichen Archive. Página 12, 19. März 2006, Iglesia y dictadura 30 años después – Por algo será, online: https://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-64473-2 006-03-19.html (abgerufen am 12. Februar 2016). Zur Forderung, die kirchlichen Archive zu öffnen, siehe auch Fuchs, Ruth: Umkämpfte Geschichte. Vergangenheitspolitik in Argentinien und Uruguay, Münster 2010, S. 219, Fußnote 2. 26 Nieto 130: »La restitución de mi identidad es un homenaje a mis padres«, Página 12, 13. Juni 2019, online: https://www.pagina12.com.ar/200107-nieto-130-la-restitucion-de-mi-identidad -es-un-homenaje-a-mi (abgerufen am 28. März 2021). In Bezug auf die mangelnde Mitarbeit an den Prozessen gegen die Täter gab es Kritik an der katholischen Kirche. Vgl. Straßner, Veit: Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile, Wiesbaden 2007. 27 Jorge Mario Bergoglio hat sich 2016 in seiner Funktion als Papst dazu bereit erklärt, Archive der Justiz und den Betroffenen teilweise zur Verfügung zu stellen. Es sollen sowohl Doku-
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Anhand der erinnerungspolitischen und juristischen Dimensionen des Themas wird deutlich, warum der genauen und überprüfbaren Untersuchung der Rolle der Kirche und der zu ihr gehörenden individuellen Akteur*innen diese enorme Bedeutung zukommt.28 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rolle der Kirche ist Teil der nach dem Ende der Militärdiktaturen in Lateinamerika begonnenen Aufarbeitung des Staatsterrors, die sich unter anderem mit der Frage nach den Entstehungsbedingungen und den Funktionsweisen der gewaltsamen Repression beschäftigt.29 Nachdem in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Diktaturvergangenheit vielfach die Täter im Mittelpunkt des Interesses standen, richtete sich der Blick zunehmend auf die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Akteur*innen.30 Diese Perspektive entmente der argentinischen Bischofskonferenz als auch der päpstlichen Nuntiatur in Buenos Aires freigegeben werden. In Argentinien wurde dies von den Menschenrechtsbewegungen als überfällige Entscheidung begrüßt, es besteht aber eine große Skepsis hinsichtlich der Vollständigkeit und der Aussagekraft der freigegebenen Bestände. Vgl. Página 12, 26. Oktober 2016, Las razones de esta decisión, online: https://www.pagina12.com.ar/diario/elpai s/1-312671-2016-10-26.html (abgerufen am 26. Oktober 2016). Deutschlandfunk, 23. November 2016, Der Schatten der Mütter, online: http://www.deutschlandfunk.de/argentinien -der-schatten-der-muetter.886.de.html?dram:article_id=370775 (abgerufen am 24. November 2016); Die Welt, 26. Oktober 2016, Was weiß der Vatikan über Argentiniens Diktatur?, online: https://www.welt.de/geschichte/article159069347/Was-weiss-der-Vatikan-ueber-Arg entiniens-Diktatur.html (abgerufen am 26. Oktober 2016). 28 Vgl. Figari Layús, Rosario: »Transitional Justice in Argentinien: Dreißig Jahre Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit«, in: Mihr, Anja/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hg.), Handbuch Transitional Justice, Wiesbaden 2015, S. 1–21; Przeworski, Adam/Carlos H. Acuña/Inés González Bombal/Elizabeth Jelin (Hg.): Juicio, castigos y memorias. Derechos humanos y justicia en la política argentina, Buenos Aires 1995; Lozada, Salvador María: Los derechos humanos y la impunidad en la Argentina (1974–1999). De López Rega a Alfonsín y Menem, Buenos Aires 1999; Kaleck, Wolfgang: Kampf gegen die Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht, Berlin 2010. 29 Vgl. Romero, Luis Alberto: »La violencia en la historia argentina reciente. Un estado de la cuestión«, in: Pérotin-Dumon, Anne (Hg.), Historizar el pasado vivo en América Latina, online: http://etica.uahurtado.cl/historizarelpasadovivo/es_contenido.php (veröffentlicht 2007); Calveiro, Pilar: Poder y desaparición. Los campos de concentración en Argentina, Buenos Aires 1998; Novaro, Marcos/Vicente Palermo: La dictadura militar. (1976–1983) del golpe de estado a la restauración democrática, Buenos Aires 2003; Águila, Gabriela/Santiago Garaño/Pablo Scatizza (Hg.): Represión estatal y violencia paraestatal en la Historia Reciente argentina. Nuevos abordajes a 40 años del golpe, La Plata 2016; Riekenberg, Michael: »Staatsterror in Lateinamerika«, in: Enzmann, Birgit (Hg.), Handbuch politische Gewalt. Formen, Ursachen, Legitimation, Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 349–362; Corradi, Juan Eugenio/Patricia Weiss Fagen/Manuel Antonio Garretón Merino (Hg.): Fear at the edge. State terror and resistance in Latin America, Berkeley 1992; Duhalde, Eduardo Luis: El estado terrorista argentino, 1. endgültige Ausgabe, Buenos Aires 2013 [1983]. 30 Vgl.: Águila, Gabriela: »Violencia política, represión y actitudes sociales en la historia argentina reciente«, in: Folguera, Pilar/Juan Carlos Pereira Castañares/Carmen García García (Hg.), Pensar con la Historia desde el siglo XXI. Actas del XII Congreso de Asociación de Historia Contemporánea, Madrid 2015, S. 5645–5664. Águila, Gabriela: »La Historia Reciente en la Argentina: Un balance«, Historiografías H. 3 (2012), S. 62–76; Franco, Marina: »Refle-
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spricht der theoretischen Annahme, dass für das Verständnis eines konkreten Gewaltgeschehens nicht nur die unmittelbar Beteiligten in die Analyse einbezogen werden müssen, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Akteur*innen, die insofern involviert waren, als sie sowohl aktiv legitimierend als auch delegitimierend auf die Ausübung von Gewalt reagieren konnten. Ihr Agieren – auch und gerade, wenn es oftmals als ein Nicht-Agieren wahrgenommen wurde – blieb nicht ohne Folgen für das Geschehen. Diese Perspektive verweist auf den sozialen Raum und die symbolische Dimension der Ausübung von Gewalt, für die insbesondere die Frage nach der Legitimierung oder Delegitimierung der Gewaltausübung relevant ist.31 Neben dem Bemühen, das Handeln des Episkopats aufzuklären, oft einhergehend mit der Anklage der Komplizenschaft von Kirche und Militär, war in der Wissenschaft bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hinein die Frage nach den Ursachen für das Verhalten der obersten kirchlichen Würdenträger zentral.32 Die Haltung und das Agieren des Episkopats werden in der Regel auf die Formel des öffentlichen Schweigens und der gleichzeitigen privilegierten, vertraulichen Kommunikation mit den Militärmachthabern gebracht. Dabei wird vielfach angenommen, dass die privaten Unterredungen der Bischöfe mit den Militärmachthabern keine Wirkung gehabt haben und nur eine starke öffentliche Positionierung des Episkopats gegen die Menschenrechtsverbrechen den Staatsterror hätte eindämmen können, vor allem da die Militärmachthaber ihre Herrschaft christlich zu legitimieren versuchten und sich als ›Retter der katholischen Nation Argentinien‹ stilisierten.33 Im Vergleich mit den Episkopaten anderer Länder wie Chile oder Brasilien liegt diese Perspektive nahe, da dort wichtige kirchliche Akteure die Legitimität der massiven Gewaltanwendung in Frage stellten und zugunsten der Men-
xiones sobre la historiografía argentina y la historia reciente de los años ’70«, Nuevo topo, H. 1 (2005), S. 141–164; Schindel 2012; Saborido, Jorge/Marcelo Borrelli (Hg.): Voces y silencios. La prensa argentina y la dictadura militar (1976–1983), Buenos Aires 2011; Lvovich, Daniel: »Sistema político y actitudes sociales en la legitimación de la dictadura militar argentina (1976–1983)«, Ayer, H. 75 (2009), S. 275–299; Lvovich, Daniel: »Actitudes sociales y dictaduras. Las historiografías española y argentina en perspectiva comparada«, páginas – revista digital de la escuela de historia, Jg. 1, H. 1 (2008), [o. S.]; Caviglia, Mariana: Dictadura, vida cotidiana y clases medias. Una sociedad fracturada, Buenos Aires 2006. 31 Vgl. Riches, David: The Phenomenon of Violence, in: Ders.: The Anthropology of Violence, Oxford 1986, S. 1–27, hier S. 8f. 32 Vgl. Obregón, Martín: Entre la cruz y la espada. La Iglesia católica durante los primeros años del »Proceso«, Bernal 2005. Auch die Studie von Gustavo Morello versucht einen Erklärungsansatz für die Positionierungen von Katholiken und insbesondere von Funktionsträgern der Amtskirche zur Menschenrechtsfrage zu liefern. Vgl. Morello, Gustavo: The Catholic Church and Argentina’s Dirty War, Oxford 2015. 33 Diese Einschätzung findet sich bereits bei Mignone 2006, S. 52 und S. 160.
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schenrechte aktiv wurden.34 Diese starke Diskrepanz zwischen der argentinischen Kirche, in der keine der traditionell einflussreichen Diözesen oder gar der Episkopat als Ganzes Menschenrechtsarbeit leistete oder unterstützte, und anderen Ortskirchen in Lateinamerika, wurde in der Forschung zum Anlass, nach dem Zustandekommen dieses eklatanten Unterschieds zu fragen.35 Gerade vor dem Hintergrund der globalen wie lateinamerikanischen Entwicklungen in der katholischen Kirche – dem Zweiten Vatikanischen Konzil sowie den Positionierungen der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín (1968) und Puebla (1979) –, die unter anderem dazu führten, die Idee der Menschenrechte ins katholische Lehramt zu integrieren36, kann die Positionierung der Amtskirche in Argentinien als eine gegenläufige Entwicklung verstanden werden.37 Dementsprechend sind die unterschiedlichen Aneignungen und Verwerfungen der mit dem Konzil angestoßenen kirchlichen Erneuerungsprozesse und die daraus entstandenen Konflikte zentral für das Verständnis der argentinischen Kirche im 20. Jahrhundert geworden. Viele Erklärungsansätze nehmen eine historische Perspektive auf die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstandene spezifische Verflechtung von religiösem und politischem Feld in Argentinien ein, um die Faktoren für die Positionierungen des Episkopats zur Militärherrschaft und zu den Menschenrechtsverletzungen zu analysieren. Als besonders wirkmächtig gilt die in den 1930er-Jahren etablierte enge Verbindung von Kirche und Militär, die als Teil eines Prozesses der langsamen aber nachhaltigen Militarisierung und Katholisierung der Gesellschaft verstanden wird, aus dem sowohl Kirche als auch Militär als bedeutende und mit hoher Legitimität ausgestattete politische Akteure hervorgingen.38 Im politischen
34 Vgl. Di Stefano/Zanatta 2009, S. 556f; Ghio, José-María: La Iglesia Católica en la política argentina, Buenos Aires 2007, S. 221; Ruderer 2010. 35 Vgl. Gill, Anthony James: Rendering unto Caesar. The Catholic Church and the State in Latin America, Chicago 1998; Mainwaring, Scott/Alexander Wilde: The progressive church in Latin America, Notre Dame 1989; Klaiber 1998. 36 Vgl. Levine, Daniel H.: »La evolución de la teoría y la práctica de los derechos en el catolicismo latinoamericano«, in: Alexander Wilde (Hg.), Las iglesias ante la violencia en América Latina. Los derechos humanos en el pasado y el presente, México D.F./Washington DC 2015, S. 43–77; Zubieta, Jorge Fernando Heredia: Los derechos humanos en las conferencias generales del episcopado latinoamericano de Medellín, Puebla y Santo Domingo. Una lectura desde su contexto histórico, México D.F. 2004; Kunter, Katharina: »Der lange Weg zur Anerkennung: Die Kirchen und die Menschenrechte nach 1945«, in: Liedhegener, Antonius /Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, S. 153–174; Eckel 2015, S. 75ff. 37 Vgl. Klaiber 1998; Levine, Daniel H.: Politics, religion & society in Latin America, Boulder 2012. 38 Vgl. Mallimaci, Fortunato: »Sostén católico al terrorismo de estado de la última dictadura cívico-militar-religiosa en Argentina«, in: Ameigeiras, Aldo Rubén (Hg.), Cruces, intersecciones, conflictos. Relaciones político-religiosas en Latinoamérica, Buenos Aires 2012, S. 157–
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Imaginären entstand eine enge Verbindung zwischen Katholizismus und Nationalismus, für die Loris Zanatta den Begriff des »Mythos der katholischen Nation«39 prägte. Die Eliten in Kirche wie Militär verstanden sich mehrheitlich als zentrale Pfeiler der Nation und traten ihrem Selbstverständnis entsprechend als Bewahrer und Verteidiger einer spezifisch national-katholischen Identität auf. Die Basis für dieses Selbstverständnis lag im integralen Katholizismus, der im 20. Jahrhundert sowohl in der Kirche als auch im Militär vorherrschend wurde.40 Mit dem Ideal einer auf der katholischen Weltanschauung beruhenden Gesellschaft und dem Programm der Katholisierung sowohl der Individuen als auch aller gesellschaftlichen Funktionsbereiche – seien es staatliche Institutionen, Parteien, Gewerkschaften oder das Militär – trug der Integralismus wesentlich dazu bei, das seit 1880 in den national-liberalen Regierungen vorherrschende laizistische Staatsverständnis abzulösen.41 In Argentinien beförderte der Integralismus in der Institution Kirche Prozesse der Zentralisierung und Hierarchisierung, während zeitgleich die Aktivitäten katholischer Lai*innen unter der hierarchischen Kontrolle der Bischöfe zunahmen und populäre katholische Massenveranstaltungen etabliert wurden.42 Mit dem Ausbau und der zunehmenden Komplexität der institutionellen Strukturen gewann die katholische Kirche im Verlauf des 20. Jahrhunderts zudem an gesellschaftlichem und politischem Einfluss.43 Ihren privilegierten Zugang zum Staat sah die Amtskirche dabei über die enge Beziehung zum Militär gewährleistet, so dass sie keine Anstrengungen zum Aufbau einer christlichen Partei
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190, hier S. 166; Rouquié, Alain: Autoritarismo y democracia. Estudios de política argentina, Buenos Aires 1994. Vgl. Zanatta, Loris: Del Estado liberal a la nación católica. Iglesia y Ejército en los orígenes del peronismo (1930–1943), Buenos Aires 1996; Zanatta, Loris: Perón y el mito de la nación católica. Iglesia y Ejército en los orígenes del peronismo (1943–1946), Buenos Aires 1999. Mallimaci konstatiert ebenfalls eine tiefgreifende Affinität zwischen katholischer und nationaler Identitätskonstruktion, Mallimaci 2012, S. 167. Vgl. Zanatta 2015. Mignone verweist in ähnlicher Weise auf die in der Ausbildung erworbene integralistische Mentalität der Bischöfe, siehe Mignone 2006, S. 151. Vgl. Mallimaci, Fortunato: El catolicismo integral en la Argentina (1930–1946), Buenos Aires 1988. Nach der klassischen Definition von Poulat ist der Integralismus römisch, intransigent, integral und sozial, das heißt, auf den Papst als Zentrum ausgerichtet. Er ist kompromisslos sowohl in seinem gegen die moderne Gesellschaft gewandten Anti-Liberalismus als auch im Hinblick auf die Prinzipien, die ihn begründen, auf die Errichtung einer christlichen Gesellschaft nach der Lehre und unter der Leitung der katholischen Kirche ausgerichtet. Sozial ist er insofern, als dass er das gesamte öffentliche Leben durchdringt, eine populäre Dimension aufweist und auf eine katholische Lösung der sozialen Frage hinwirkt. Vgl. Poulat, Emile: Le catholicisme sous observation, Paris 1983, S. 100. Vgl. Lida, Miranda: »Movilizaciones católicas en tiempos de represión y dictadura. Sociedad, régimen militar e Iglesia Católica en la Argentina, 1976–1982«, online http://historiapolitica. com/datos/biblioteca/miranda1.pdf (abgerufen am 23. April 2010). Vgl. Di Stefano/Zanatta 2009, S. 419.
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unternahm.44 In Bezug auf politische Ordnungsvorstellungen beförderte der Integralismus – aus der Haltung des Anti-Liberalismus verbunden mit einem ausgeprägten Anti-Kommunismus und einer tiefen Skepsis gegenüber der Demokratie heraus – ein essentialistisches Verständnis von Staat und Nation, das autoritären Entwicklungen Vorschub leistete.45 Die Forschung sieht in diesen Spezifika des integralistischen Katholizismus einen wichtigen Erklärungsfaktor für die Haltung der Amtskirche während der Militärdiktatur, da sie die Konfiguration des politischen wie religiösen Felds in Argentinien im 20. Jahrhundert nachhaltig prägten und für eine starke Verflechtung miteinander sorgten. Insbesondere die historisch gewachsene ideologische Nähe von Bischöfen und Militär sowie die mythologisch-christlich gespeiste Legitimation der gewaltsamen Repression nach dem Putsch 1976 gilt als wichtiger Faktor für die Positionierung der Amtskirche an der Seite der Herrschenden.46 So zeigte Frank Graziano mit seiner Untersuchung des Legitimationsdiskurses und der symbolisch-performativen Dimension der Folterpraxis des Militärs auf, wie stark die Konstruktion des feindlichen ›Subversiven‹ und das Selbstverständnis der Militärführung auf christlich-mythologischen Vorstellungen beruhten. Den als das absolut Böse inszenierten Feind galt es um jeden Preis und mit allen Mitteln zu vernichten, um die Nation und das ›christliche Abendland‹ vor dem Untergang zu retten.47 Ein weiteres Argument, das sich auf den Mythos der ›katholischen Nation‹ bezieht, liefern Fortunato Mallimaci und Verónica Giménez Béliveau, die es für wesentlich halten, dass sich die Kirche als »Wahrerin der nationalen Einheit und der argentinischen Identität«48 verstand und sich als außerhalb der politischen Konflikte stehend inszenierte. Dieses Selbstverständnis verhinderte sowohl die öffentliche Formulierung von Kritik am Militärregime als auch eine Parteinahme für die Opfer der Menschenrechtsverbrechen. Die starke Verflechtung von religiösem und politischem Feld lässt sich bereits im historischen Prozess erkennen, der zur vorherrschenden Stellung des integralen Katholizismus und der bedeutenden Rolle des Militärs als politischer Akteur führte. Zanatta wie Mallimaci sehen den Militärputsch 1930 als entscheidende Zäsur, da mit ihm eine Militarisierung der argentinischen Politik einsetzte, die im 20. Jahrhundert von relativ hoher Instabilität und häufigen 44 Vgl. Mallimaci, Fortunato: »Catolicismos y militarismo en Argentinia (1930–1983). De la Argentina liberal a la Argentina católica«, Revista de Sciencias Sociales, H. 4 (August) 1996, S. 181–218, hier S. 181. 45 Vgl. ebd., S. 187. 46 Vgl. Obregón 2005, S. 181; Mignone 2006, S. 151; Di Stefano/Zanatta 2009. 47 Vgl. Graziano, Frank: Divine violence. Spectacle, Psycho-sexuality and Radical Christianity in the Argentine »Dirty War«, Oxford/San Francisco 1992. 48 Vgl. Mallimaci/Giménez Béliveau 2009, S. 428.
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Regimewechseln geprägt war, von denen sechs im Modus des Militärputschs vollzogen wurden (1930, 1943, 1955, 1962, 1966, 1976).49 Der erste erfolgreiche Militärputsch gegen eine demokratisch legitimierte Regierung im 20. Jahrhundert am 6. September 1930 konnte bereits mit einer schwachen Unterstützung der katholischen Kirche rechnen, die zu diesem Zeitpunkt von einer noch geringen Ausbildung ihrer institutionellen Struktur geprägt war. Ab dem Putsch von 1943 müsse man, so Mallimaci, alle Staatsstreiche als »cívico militar católico«50 bezeichnen, da das Militär keineswegs der einzig relevante Akteur war, sondern zivile und insbesondere katholische Kräfte einen entscheidenden Anteil an den jeweiligen politischen Umstürzen und an der Legitimierung der auf diese Weise etablierten Militärdiktaturen hatten. Für diese frühe Formierungsphase der ›Allianz von Kreuz und Schwert‹ untersuchten Alain Rouquié und Sandra McGee Deutsch den politischen Einfluss konservativer katholischer Gruppen, für die folgenden Jahrzehnte ist ihre Rolle jedoch nicht gleichermaßen intensiv untersucht worden.51 Stephan Ruderer setzt diesen Forschungsstrang fort, indem er sich den integralistischen Katholiken der Gruppierung »Tradition, Familie und Eigentum« zur Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 widmet, die ideologische Affinität und personellen Verbindungen zwischen der Gruppe und der Militärführung herausarbeitet und damit die These von der historisch gewachsenen und über Jahrzehnte hinweg tradierten Übereinstimmung in den Weltdeutungsmustern von integralistischen Katholiken und Militär untermauert. Innerhalb der institutionellen Strukturen der katholischen Kirche war der Integralismus besonders stark im Militärvikariat verankert, das circa zehn Prozent des argentinischen Klerus umfasste und damit im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern relativ groß war.52 Neben der ideologischen Übereinstimmung wurde auf der strukturellen Ebene die historisch enge Verbindung von Kirche und Staat und die daraus resultierende finanzielle Abhängigkeit der katholischen Kirche vom Staat als erklärender Faktor ausgemacht.53 Es wird argumentiert, dass die Kirche ihre Privilegien nicht gefährden wollte und dass sie im Gegenzug für ihr Schweigen angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen ab 1977 weitere Ver49 Für eine konzise Darstellung der argentinischen Geschichte vgl. Potthast, Barbara/Sandra Carreras: Eine kleine Geschichte Argentiniens, Frankfurt a. M. 2010. 50 Vgl. Mallimaci 2012, S. 167; Mallimaci 1996, S. 182. 51 Vgl. Rouquié 1994; McGee Deutsch, Sandra: Las Derechas. The extreme right in Argentina, Brazil, and Chile, 1890–1939, Stanford 1999. 52 Vgl. Ruderer, Stephan: »Cruzada contra el comunismo. Tradición, Familia y Propiedad (TFP) en Chile y Argentina«, Sociedad y Religión, H. 38, Jg. 22 (2012), S. 79–108; Ruderer 2010. 53 Vgl. Di Stefano, Roberto: »El divorcio imposible: Política y religión en el siglo XIX argentino«, in: Ameigeiras, Aldo (Hg.), ¿Política y catolicismo o catolicismos políticos? Miradas y perspectivas sobre una relación conflictiva en la Argentina, Los Polvorines, Argentina 2014, S. 53– 75.
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günstigungen in Form hoher Gehälter und Pensionen für die Bischöfe erhielt.54 Als weitere strukturelle Faktoren für die Positionierung der Bischöfe führt Jeffrey Klaiber die wenig fundierte theologische Ausbildung und die mehrheitlich sozial unterprivilegierte Herkunft der Bischöfe aus Migrantenfamilien an, die er für die allgemeine Führungsschwäche der kirchlichen Amtsinhaber verantwortlich macht. Klaibers Argumentation zufolge bedeutete das Bischofsamt einen sozialen Aufstieg, den die Amtsinhaber nicht durch Kritik an der Militärdiktatur gefährden wollten. Die mangelhafte und konservative theologische Ausbildung der argentinischen Bischöfe führte außerdem dazu, dass das Zweite Vatikanische Konzil nur wenig Auswirkungen auf die argentinische Kirche hatte.55 Ebenfalls auf der strukturellen Ebene bewegt sich die These von Anthony Gill, dass das stabile Monopol der katholischen Kirche bestimmend für ihre Haltung gewesen sei. Er ist der Ansicht, aufgrund der relativ geringen Konkurrenz auf dem ›religiösen Markt‹ in Argentinien habe es die Kirche nicht nötig gehabt, sich den Armen zuzuwenden und die Menschenrechte zu verteidigen. Mit seiner auf dem Rational-Choice-Ansatz basierenden monokausalen Erklärung gelingt es ihm aber weder die innere Heterogenität der Kirche noch ihre historisch gewachsenen Eigenheiten zu erfassen, geschweige denn zu erklären, so dass seine These in der Forschung zur argentinischen Kirche zu Recht stark kritisiert wurde.56 Ein weiterer Erklärungsstrang konzentriert sich auf die kirchlichen Entwicklungen infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) und ihre Konvergenz mit den politischen Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Im Kontext des Kalten Krieges entwickelte die Kubanische Revolution eine bedeutende Symbolwirkung und inspirierte sowohl politische Bewegungen in Lateinamerika als auch die 1968er-Bewegung in den USA und Europa maßgeblich. Marxistische Ideen und sozialwissenschaftliche Analyse, insbesondere die Idee der strukturellen Gewalt und die in Lateinamerika entwickelte Dependenztheorie, wurden zu wichtigen Instrumenten der Weltdeutung und bestimmten vielfach die politische Debatte.57 Für die katholische Kirche war das Zweite Vatikanische Konzil zwischen 1962 und 1965 das entscheidende Großereignis, da mit ihm »zentrale Punkte des katholischen Selbstverständnisses«58 neu definiert 54 Vgl. Mignone 2006, S. 134. 55 Vgl. Klaiber 1998, S. 78. Die Argumentation erinnert an Bourdieus Studie zum französischen Episkopat, in der er die Haltungen der Bischöfe ihrer sozialen Herkunft zuordnete. Bourdieu, Pierre: Die heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht, in: Ders. (Hg.), Religion, Konstanz 2009, S. 92–224. 56 Vgl. Gill 1998. 57 Vgl. Werz, Nikolaus: Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika, Freiburg 1991. 58 Großbölting, Thomas: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013. Kaufmann, Franz-Xaver: »Zur Einführung: Probleme und Wege einer historischen Einschätzung des II. Vatikanischen Konzils«, in: Ders./Arnold Zingerle (Hg.), Vatikanum II.
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wurden. Zu den wesentlichen Reformprozessen, die es in Gang setzte oder katalysierte, gehören die Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zur Gesellschaft durch die Anerkennung der Autonomie der politischen Sphäre und der pluralistischen Demokratie sowie die Aufwertung der Stellung der Lai*innen innerhalb der Kirche, die mit der Definition als ›Volk Gottes‹ als Teil der Kirche begriffen wurden. Diese Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Funktionsträgern innerhalb der Institution Kirche und den Mitgliedern führte unter anderem zu Konflikten um die Fragen von Partizipation und Demokratisierung, auch innerhalb der Strukturen der katholischen Kirche.59 Mit dem von Papst Johannes XXIII. für das Zweite Vatikanische Konzil programmatisch im Sinne einer Aktualisierung der jahrhundertealten Institution Kirche angesichts der Entwicklungen der Moderne ausgerufenen aggiornamento war die prinzipielle Akzeptanz der Trennung von Staat und Kirche verbunden, die dazu führte, dass die Autonomie der Kirche gegenüber weltlicher Herrschaft in den Vordergrund rückte.60 Zugleich wurde die pluralistische Demokratie offiziell anerkannt. Damit war eine wesentliche Voraussetzung geschaffen, um die Verteidigung der Menschenrechte zum Bestandteil des kirchlichen Lehramts zu machen. Papst Johannes XXIII. lieferte mit der Enzyklika Pacem in Terris (1963) ein explizites Bekenntnis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948.61 Die 1968 in Medellín tagende Lateinamerikanische Bischofskonferenz (CELAM) nahm die Impulse des Konzils auf und verlieh der im Entstehen begriffenen Theologie der Befreiung erstmals offizielle Aner-
und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 9–34. In der Forschung zur Rezeption des Zweiten Vatikanums ist ein relativ breiter Grundkonsens in Bezug auf die Einschätzung des Konzils als ›Öffnung der Kirche zur Welt‹ festzustellen, wobei allerdings auch darauf hingewiesen wird, dass das Konzil nicht unbedingt als Beginn, sondern vielmehr als Ausformulierung von schon zuvor existenten Reformimpulsen der katholischen Kirche interpretiert werden kann. Die jeweilige Perspektive auf das Konzil ist dabei meist in enger Verbindung mit dem kirchenpolitischen Standpunkt des Autors und seiner generellen Bewertung der Ergebnisse des Konzils zu sehen. Vgl. Schatz, Klaus: Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, 2. Aufl. Paderborn 2008, S. 334f. Zum Zweiten Vatikanum vgl. Hünermann, Peter (Hg.): Das II. Vatikanum – Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, Paderborn u. a. 1998. 59 Vgl. Gabriel, Karl: »Liquid Church? Organisationssoziologische Anmerkungen«, Pastoraltheologische Informationen, Jg. 34, H. 2 (2014), S. 45–56; Die präkonziliaren Entwicklungen in Europa beleuchtet Horn. Vgl. Horn, Gerd-Rainer: The Spirit of Vatican II. Western European Progressive Catholicism in the Long Sixties, Oxford 2015. 60 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver: »Globalisierung und Christentum«, in: Hünermann, Peter (Hg.), Das II. Vatikanum – christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, Paderborn 1998, S. 15–30, hier S. 29. 61 Vgl. Eckel 2015; Moyn 2010; Tergel, Alf: Human Rights in Cultural and Religious Traditions, Uppsala 1998, S. 144. Hafner, Felix: Kirche im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Freiburg 1992, S. 128.
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kennung.62 Die Bischöfe kritisierten aus einer dependenztheoretischen Perspektive die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die sie für die Armut großer Teile der Bevölkerung des Kontinents verantwortlich machten.63 Das Abschlussdokument hielt fest, dass die Kirche nicht mehr der Legitimation einer als ungerecht erkannten Ordnung dienen, sondern vielmehr an der Seite der Armen auf sozialen Wandel im Sinne einer umfassenden Befreiung hinarbeiten sollte. Diese in Medellín formulierte pastorale Orientierung wurde in der Befreiungstheologie weiter ausgearbeitet und als ›Option für die Armen‹ bekannt.64 Insgesamt war und ist die Rezeption des Konzils von der widerstreitenden Auslegung der Konzilstexte geprägt, vor allem die von lateinamerikanischen Theologen entwickelte Befreiungstheologie, die sich in der Tradition des Zweiten Vatikanums verortete, löste starke innerkirchliche Konflikte aus.65 Die Befreiungstheologie entwickelte sich in den 70er-Jahren zu einer sozialen Bewegung, die über Lateinamerika hinaus ausstrahlte. Teilweise schlossen sich Anhänger*innen der Befreiungstheologie bewaffneten Befreiungsbewegungen oder Guerillagruppen an, wie in Nicaragua und El Salvador.66 Auch in Argentinien beriefen sich Guerilla-Mitglieder auf christliche Werte. Da die konservativen Bischöfe Lateinamerikas ebenso wie Papst Johannes Paul II. die Befreiungstheologie missbilligten, versuchten sie das Treffen der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz 1979 in Puebla zu nutzen, um ihre eigene Position zu stärken, was weitgehend, aber nicht vollständig gelang. Dementsprechend war das Abschlussdokument ein Ausdruck der unterschiedlichen Haltungen der lateinamerikanischen Bischöfe und sowohl von konservativen und moderaten als auch von befreiungstheologischen Positionen geprägt.67 In Argentinien wurden die Ergebnisse von Medellín auf der Bischofskonferenz in San Miguel 1969 bestätigt. Das Dokument des argentinischen Episkopats griff die konziliaren und befreiungstheologischen Impulse auf und bekräftigte die 62 Vgl. Houtart, Francois: »CELAM – The Forgetting of Origins«, in: Keogh, Dermot (Hg.), Church and Politics in Latin America, Basingstoke u. a. 1990, S. 65–81, hier S. 75. 63 Die Dependenztheorie sieht in der ungleichen Machtverteilung des kapitalistischen Weltsystems die Ursache für die Abhängigkeit der Länder der sogenannten Dritten Welt. Vgl. Werz 1991. 64 Das Werk erschien 1973 erstmals in deutscher Übersetzung. Vgl. Gutiérrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, 4. Aufl., Mainz 1979. Vgl. auch Berryman, Phillipp: Liberation Theology, New York 1987. 65 Vgl. Smith, Christian: The Emergence of Liberation Theology. Radical Religion and Social Movement Theory, Chicago 1991; Schlegelberger, Bruno: »Der Streit um die Theologie der Befreiung«, Ibero-amerikanisches Archiv, Jg. 20, H. 1/2 (1994), S. 177–212. 66 Zur Nicaragua-Solidarität und ihren Verbindungen in die Bundesrepublik Deutschland siehe Helm, Christian: Botschafter der Revolution. Das transnationale Kommunikationsnetzwerk zwischen der Frente Sandinista de Liberación Nacional und der bundesdeutschen NicaraguaSolidarität, Berlin 2018. 67 Vgl. Schlegelberger 1994, S. 21.
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Notwendigkeit einer Veränderung hin zu einer gerechteren Gesellschaft.68 Insgesamt gilt Argentinien jedoch als Land, in dem das Konzil innerhalb der Institution Kirche oftmals widerstrebend und nur sehr unzureichend umgesetzt wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Konzil keinen Einfluss auf die historischen Entwicklungen des Landes gehabt hätte. Im Gegenteil: gerade die Konflikte um die Umsetzung des Konzils waren zentral für den argentinischen Katholizismus, in dem an vielen Stellen massiv um die Neubestimmung eines grundlegenden Selbstverständnisses der katholischen Akteur*innen wie auch der gesamten Institution gerungen wurde. Gegenstand der Auseinandersetzungen waren vor allem soziale und politische Ordnungsvorstellungen sowie die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung zum Herbeiführen sozialen und politischen Wandels.69 Hinzu kamen gewissermaßen als argentinisches Spezifikum die Debatten um den Peronismus, dessen Begründer Juan Domingo Perón das Land von 1946 bis zu seinem Sturz durch einen Militärputsch 1955 regiert hatte. In seiner politischen Programmatik verband er populistische und autoritäre Elemente mit Elementen des Sozialkatholizismus und beanspruchte, mit seiner politischen Bewegung das ›wahre Christentum‹ zu vertreten, so dass er, nachdem er zunächst eine klar pro-katholische Politik zugunsten der Kirche betrieben hatte, später in massiven Konflikt mit der Amtskirche geriet.70 Trotz des Verbots nach dem Putsch 1955 und des Ausschlusses von den Wahlen blieb der Peronismus eine zentrale politische Kraft, auch während der Militärdiktatur von 1966 bis 1973. Neben der Formierung von sozialen Bewegungen aus der Studenten- und Arbeiterschaft gegen die Repression und die sozial verheerende Wirtschaftspolitik der Militärmachthaber unter der Führung des Generals Onganía, waren es vielfach katholische Akteur*innen, die in unterschiedlichster Art und Weise zur Formierung des Widerstands beitrugen.71 Dabei kam es zu engen
68 Vgl. Catoggio, María Soledad: »Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo y Servicios de Inteligencia: 1969–1970«, Sociedad y Religión, Jg. 20, H. 30–31 (2008), S. 171–189, hier S. 174. 69 Die postkonziliaren Entwicklungen der argentinischen Kirche vor dem Putsch werden unter anderem behandelt von Bidegain, Ana María: From Catholic Action to Liberation Theology. The Historical Process of the Laity in Latin America in the Twentieth Century, Notre Dame 1985; Catoggio 2015; Morello, Gustavo: »El Concilio Vaticano II y la radicalización de los católicos«, in: Lida, Clara E./Horacio Crespo/Pablo Yankelevich (Hg.), Argentina, 1976. Estudios en torno al golpe de Estado, México D.F. 2007, S. 111–130. 70 Perón kündigte die Trennung von Staat und Kirche an. Auch die Einführung der Scheidung und die bildungspolitischen Maßnahmen der peronistischen Regierung trugen dazu bei, dass die katholische Kirche ihre Interessen gefährdet sah. Vgl. Caimari, Lila M.: Perón y la Iglesia Católica. Religión, Estado y sociedad en la Argentina (1943–1955), Buenos Aires 1995. S. 309– 312. 71 Vgl. Mayol, Alejandro/Norberto Habegger/Arturo G. Armada: Los católicos posconciliares en la Argentina. 1963–1969, Buenos Aires 1970.
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Verflechtungen mit der peronistischen Bewegung.72 Die ›postkonziliare Krise‹ innerhalb der Institution Kirche, die sich in starken Autoritätskonflikten in den Priesterseminaren und Bistümern zeigte, sowie die politische Radikalisierung innerhalb des Katholizismus und aus dem Katholizismus heraus sind mittlerweile ausgiebig erforscht.73 Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die 1967 ins Leben gerufene Priestergruppe Movimento de Sacerdotes para el Tercer Mundo (MSTM), die – obwohl sie nur circa zehn Prozent des Klerus umfasste – eine große Wirkung entfaltete.74 Das zeigt sich unter anderem daran, dass ihre Selbstbezeichnung als tercermundistas75 schnell zum Begriff für alle progressiven Katholiken und Katholikinnen ausgeweitet wurde. Soledad Catoggio zufolge wirkte die Bezeichnung identitätsstiftend und schuf symbolische Grenzen innerhalb des Katholizismus.76 Markiert wurde die Zugehörigkeit zu dieser Variante des Katholizismus durch die Nähe zur ›Lebenswelt der Armen‹. So entstanden viele Basisgemeinden in den Slums der argentinischen Großstädte und etliche tercermundistas engagierten sich nicht nur in den Armenvierteln, sondern zogen sogar selbst dorthin. Vor allem Ordensfrauen zeigten ein starkes Engagement.77 Traditionalist*innen wie Integralist*innen dagegen sahen sowohl die gewaltfrei-progressiven als auch die radikal-revolutionären katholischen 72 Vgl. Cucchetti, Humberto: Combatientes de Perón, herederos de Cristo: peronismo, religión secular y organizaciones de cuadros, Buenos Aires 2010; Lenci, María Laura: »La radicalización de los católicos en la Argentina. Peronismo, cristianismo y revolución (1966–1971)«, Cuadernos del CISH, Jg. 3, H. 4 (1998), S. 174–200. 73 So untersuchte Luis Miguel Donatello die Beteiligung katholischer Akteur*innen, vor allem aus den Jugendorganisationen der katholischen Aktion, an den Guerillagruppen und Gustavo Morello zeigte auf, wie mittels der ab 1966 publizierten Zeitschrift Cristianismo y Revolución um den Ex-Seminaristen Juan García Elorrio eine katholische Identität der Guerilla-Anhänger konstruiert wurde, so dass ihre Gewaltanwendung als Ausdruck des Glaubens interpretiert werden konnte. Vgl. Donatello, Luis Miguel: Catolicismo y montoneros. Religión, política y desencanto, Buenos Aires 2010; Morello, Gustavo: Cristianismo y revolución. Los orígenes intelectuales de la guerilla argentina, Córdoba 2003. 74 Vgl. Hensel, Silke: »Religion, Politik und Gewalt in Argentinien und Chile. Die Organisationen ›Priesterbewegung für die Dritte Welt‹ und ›Christen für den Sozialismus‹«, in: Dies./ Hubert Wolf (Hg.), Die katholische Kirche und Gewalt. Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 277–295; Burdick, Michael A.: For God and the Fatherland. Religion and Politics in Argentina, Albany 1995; Bresci, Domingo: Movimiento de sacerdotes para el Tercer Mundo. Documentos para la memoria histórica, Buenos Aires 1994; Martín, José Pablo: El movimiento de sacerdotes para el Tercer Mundo. Un debate argentino, San Antonio de Padua 1992. 75 Tercermundistas bedeutet sinngemäß Drittweltler oder Dritte-Welt-Aktivisten. 76 Vgl. Catoggio, María Soledad: »Católicos en el ›mundo de los pobres‹. Imaginarios y sentidos frente a la situación represiva durante la última dictadura militar argentina, 1976–1983«, in: Mallimaci, Fortunato/Elizabeth Judd (Hg.), Cristianismos en América Latina. Tiempo presente, historias y memorias, Buenos Aires 2013(b), S. 247–269. 77 Vgl. Touris, Claudia: Catolicismo y cultura política en la Argentina. La »constelación tercermundista« (1955–1976), unveröffentlichte Dissertationsschrift, Buenos Aires 2012.
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Positionen als Gefahr und versuchten, ihre eigenen Ordnungsvorstellungen bezüglich Kirche und Gesellschaft durchzusetzen. Die hier kurz skizzierte Radikalisierung und die daraus resultierenden Konflikte innerhalb der Institution Kirche dienen in der Forschung zur Erklärung der Positionierung des Episkopats während der Militärdiktatur. So wird zum einen argumentiert, die massiven Konflikte der postkonziliaren Krise hätten die Einheit der Kirche so stark gefährdet, dass es während der Militärdiktatur notwendig geworden sei, eine moderate offizielle Position zu finden. Deshalb sei auf extreme Positionierungen verzichtet worden, zu denen auch eine dezidierte Verteidigung der Menschenrechte gehört hätte. Oder anders formuliert: Die tiefen inneren Spaltungen der Kirche verhinderten, dass sie als kollektiver Akteur offiziell eine Initiative zur Verteidigung der Menschenrechte ergriff.78 Innerhalb des argentinischen Episkopats gab es laut Zanatta nicht den notwendigen Zusammenhalt, um die institutionelle Kohäsion der Kirche zu gewährleisten, wenn ähnlich wie in Chile ein Solidaritätsvikariat oder eine vergleichbare Institution gegründet worden wäre.79 Zum anderen werden in der wissenschaftlichen Argumentation die Konflikte innerhalb der Kirche als Problem der Disziplinierung adressiert. Aus der Perspektive etlicher Bischöfe sei es notwendig gewesen, den stark radikalisierten Klerus zu disziplinieren und damit wieder fest in die hierarchische Ordnung der Institution Kirche einzubinden. Mallimaci ist der Ansicht, dass vielen Bischöfen die Repression gegen vermeintlich ›subversive‹ Priester und Ordensleute eine willkommene Hilfe gewesen sei und die Streitkräfte wie ein bewaffneter Arm der kirchlichen Autorität agierten, um die ›Subversion‹ im Inneren der Kirche zu bekämpfen.80 Klaiber stellt ebenfalls auf die Problematik der Disziplinierung ab, wenn er argumentiert, die Bischöfe hätten angesichts der politischen Gewalt vor dem Militärputsch eine Stigmatisierung der Kirche als Verantwortliche des ›Chaos‹ befürchtet, da die politische Gewalt in den Jahren vor dem Putsch 1976 auch als Ergebnis der katholischen Radikalisierung gedeutet wurde. Jene Argu78 Vgl. Klaiber 1998, S. 180; Zanatta 2015, S. 224. 79 Vgl. Zanatta 1998, S. 181. Zanatta führt die ›Lähmung‹ der Amtskirche zudem darauf zurück, dass sie das Monopol über die legitime Auslegung der Religion verloren hatte, weil alle Akteur*innen behaupteten, im Namen der ›wahren Religion‹ zu handeln. Vgl. Zanatta 2015, S. 224. 80 Vgl. Mallimaci 1996. Ähnlich sieht dies Mignone, der darlegt, dass die Militärs die Kirche für das Entstehen von Guerillagruppen verantwortlich machten und die Bischöfe aufgrund ihrer vermeintlichen Schuld zustimmten, dass das Militär in der Kirche »aufräumte«; Mignone 2006, S. 158. Auch Obregón sieht eine Kontinuität zwischen der institutionellen Disziplinierung durch kirchliche Autoritäten und der staatlichen Repression. Obregón, Martín: »La iglesia argentina durante la última dictadura militar. El terror desplegado sobre el campo católico«, in: Pérotin-Dumon, Anne (Hg.), Historizar el pasado vivo en América Latina, online: http://etica.uahurtado.cl/historizarelpasadovivo/es_contenido.php (veröffentlicht 2007).
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mente, die sich auf die internen Konflikte der Kirche beziehen, finden sich auch bei Arturo Fernández und Martín Obregón, die jeweils eine Unterteilung des Episkopats in unterschiedliche Gruppen beziehungsweise Strömungen vornehmen. Fernández macht vier Gruppen aus: Ultrakonservative, Konservative, Modernisten und Progressive.81 Obregón folgt dieser Einteilung weitgehend, indem er drei unterschiedliche Strömungen innerhalb des Episkopats benennt – Traditionalisten, Konservative und Reformer, letztere wiederum unterteilt in Moderate und Engagierte.82 Wie Fernández argumentiert auch Obregón, dass sich Traditionalisten und Konservative ab Anfang der 1970er Jahre annäherten und zu einer dominanten Gruppe innerhalb des Episkopats wurden, deren Ziel es war, die progressiven und teilweise stark radikalisierten Teile der katholischen Kirche zu disziplinieren.83 Die insgesamt verhaltene Reaktion des Episkopats auf die Repression – auch gegen Kleriker – interpretiert Obregón als Ergebnis dieses dominanten Bündnisses zwischen Traditionalisten und Konservativen.84 Auch wenn im Werk Obregóns der Episkopat anhand seiner offiziellen Verlautbarungen Gegenstand der Analyse ist, so weist er ansatzweise auf die innere Heterogenität der Kirche hin und erwähnt punktuell auch die katholischen Opfer der Repression sowie die katholischen Menschenrechtsaktivist*innen. Letztere befanden sich angesichts der offiziellen Position der Amtskirche und des im kollektiven Imaginären spukenden Mythos der ›katholischen Nation Argentinien‹ in einer besonders schwierigen Lage, da die amtierende Militärjunta ihr Agieren als zur Rettung der ›katholischen Nation‹ notwendig darstellte.85 Für den Legitimationsdiskurs des Militärs war die im Kalten Krieg unter anderem in den USA entwickelte und vom argentinischen Militär adaptierte ›Doktrin der nationalen Sicherheit‹ richtungsweisend, die den Feind innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen verortete und ihn als das ›Andere‹ der argentinischen Nation konzipierte. Aus dieser Logik heraus erklärten die Militärmachthaber vor allem die Anhänger der Guerillagruppen Montoneros und Ejercito Revolucionario del Pueblo, aber auch politisch Andersdenkende, Gewerkschafter, in den Armen-
81 Vgl. Fernández, Arturo: Sindicalismo e Iglesia. 1976–1987, Buenos Aires 1990, S. 37ff. 82 Obregón merkt an, dass eine solche Kategoriebildung notwendigerweise Idealtypen hervorbringt und es realiter auch Überschneidungen gibt. Ghio, der ein Kapitel seiner Studie der Militärdiktatur widmet, nimmt dieselbe Einteilung der Bischofskonferenz vor wie Obregón. Vgl. Obregón 2005; Ghio 2007, S. 230ff. 83 Vgl. Obregón 2005, S. 46. 84 Er weist aber zumindest am Rande auf den Druck hin, der außer von den oppositionellen Bischöfen sowohl von Lai*innen als auch vom niederen Klerus auf die Bischofskonferenz ausgeübt wurde, ohne dies jedoch weiter zu untersuchen, Obregón 2005, S. 106. 85 Vgl. Zanatta 2015, S. 212; Lida, Miranda: »La ›nación católica‹ y la historia argentina contemporánea«, Corpus, Jg. 3, H. 2 (2013), http://corpusarchivos.revues.org/579 (abgerufen am 14. Oktober 2016), S. 1–6.
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vierteln tätige Katholiken oder Menschenrechtsaktivist*innen zu ›Subversiven‹.86 Für die katholischen Opfer der Repression bedeutete dieser Diskurs in Verbindung mit dem Mythos der ›katholischen Nation‹, so eine grundlegende Annahme dieser Studie, eine doppelte Marginalisierung, denn sie wurden sowohl als das ›Andere‹ der Nation als auch des Katholizismus konstruiert. Die Weigerung des Episkopats, die katholischen Opfer der Diktatur offiziell zu repräsentieren und in die religiöse Praxis zu inkludieren, verstärkte diesen Effekt. Auch jene Katholik*innen, die in der Menschenrechtsbewegung aktiv wurden, sahen sich dem von der Militärjunta konstruierten Vorwurf ausgesetzt, sie würden eine gegen die Nation gerichtete ›anti-argentinische Kampagne‹ befeuern und konnten nicht mit der Unterstützung durch die Amtskirche rechnen. Es konnte sogar so weit kommen, dass sich die Amtskirche offiziell von Menschenrechtsaktivist*innen distanzierte, so geschehen im Falle von Adolfo Pérez Esquivel, einem Laien, der die religiös geprägte Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia leitete und 1980 für seine Arbeit den Friedensnobelpreis erhielt.87 Aufgrund des klandestinen Charakters der Repression ist es nur schwer möglich, die Opfer genau zu beziffern. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 7.000 und 30.000 sogenannten Verschwundenen.88 Wie viele Katholik*innen darunter wa86 ›Subversive‹ waren in den Augen des Militärs keine Argentinier, wie Videla 1977 explizit formulierte. Vgl. Novaro/Palermo, S. 91. Die Konstruktion eines ›inneren Feindes‹ setzte bereits in den Jahren vor dem Militärputsch am 24. März 1976 ein. Vgl. Franco, Marina: Un enemigo para la nación. Orden interno, violencia y subversion. 1973–1976, Buenos Aires 2012; Osiel, Mark: »Constructing Subversion in Argentina’s Dirty War«, Representations, H. 75 (2001), S. 119–158; Pion-Berlin hat in seiner Studie die Bedeutung der Doktrin der nationalen Sicherheit nicht grundlegend in Frage gestellt, aber darauf hingewiesen, dass die Doktrin der Nationalen Sicherheit weitaus subtiler und ambiguer in Bezug auf die Konstruktion des ›Feindes‹ war, als gemeinhin angenommen wird. Pion-Berlin, David: »The National Security Doctrine, Military Threat Perception, and the ›Dirty War‹ in Argentina«, Comparative Political Studies, Jg. 21, H. 3 (1988), S. 382–407, hier S. 404. Da nicht nur die vermeintlich ›Subversiven‹ verfolgt wurden, arbeitete der Repressionsapparat mit einer gewissen kalkulierten Unschärfe, die zu einem generellen Klima der Angst beitrug. In der historiographischen Debatte gibt es unterschiedliche Aussagen darüber, wie stark die Gesellschaft als Ganze oder bestimmte Akteursgruppen betroffen waren und es wird diskutiert, ob die Militärdiktatur nicht neben einer ›Kultur der Angst‹ gleichzeitig für weite Teile der Bevölkerung eine ›Kultur der Sicherheit‹ schuf. Dabei geht es auch um die Frage der Verantwortung der Gesellschaft in der Militärdiktatur. Vgl. Novaro/Palermo 2003, S. 124ff; Crenzel, Emilio: »Cartas a Videla: una exploración sobre el miedo, el terror y la memoria«, Telar – Revista del Instituto Interdisciplinario de Estudios Latinoamericanos, Jg. 2, H. 2–3 (2005), S. 41–57; Vezzetti, Hugo: Pasado y Presente. Guerra, dictadura y sociedad en la argentina, Buenos Aires 2009; Águila 2015. 87 Siehe dazu Kapitel 4. 88 Vgl. Morello, Gustavo: »Violencia política y terrorismo de Estado en cifras. Argentina, 1969– 1983«, in: Romero, Silvia (Hg.), Historias recientes de Córdoba. Política y derechos humanos
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ren, ist nicht bekannt. Angesichts der hohen Zahl von Katholik*innen in Argentinien ist es wahrscheinlich, dass die Mehrheit der Opfer zumindest katholisch sozialisiert war und etliche sich dem Katholizismus verbunden fühlten. Die Briefe, die die Menschenrechtsgruppe Madres de Plaza de Mayo an die Bischofskonferenz richtete, lassen erkennen, dass die Aktivist*innen sich und ihre verschwundenen Kinder in religiöse Vorstellungswelten einschrieben und eine starke – wenn auch nicht absolute oder konfliktfreie – Identifikation mit dem Katholizismus zeigten.89 Die Zahl der Opfer innerhalb der Gruppe der Priester und Ordensleute lag laut Catoggio bei 113, Morello spricht von 127 Fällen von Repression gegen diese Gruppe nach dem Putsch im März 1976.90 Insgesamt sind die desaparecidos, ob katholisch oder nicht, die sichtbarste Opfergruppe in der erinnerungspolitischen Debatte und der Forschung, während die ohne juristisches Verfahren auf Geheiß der Exekutivgewalt Inhaftierten (detenidos a disposición del Poder Ejecutivo Nacional), die Folteropfer, die Exilierten und insbesondere die Überlebenden, auch als ex-desaparecidos bezeichnet, deutlich weniger Aufmerksamkeit erhalten haben. Allerdings ist gegenwärtig eine Tendenz in der Forschung erkennbar, auch diese Opfergruppen zum Gegenstand der Analyse zu machen.91 en la segunda mitad del siglo XX, Córdoba 2013, S. 177–194; Heinz, Wolfgang S./Hugo Frühling: Determinants of gross human rights violations by state and state-sponsored actors in Brazil, Uruguay, Chile, and Argentina, 1960–1990, Den Hague 1999; Verbitsky, Horacio: Las cifras de la guerra sucia, Buenos Aires 1988. Eine ausführliche Diskussion über die Etablierung der Zahl der 30.000 Verschwundenen im argentinischen Erinnerungsdiskurs bietet Hasgall, Alexander: Regime der Anerkennung. Kämpfe um Wahrheit und Recht in der Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur, Bielefeld 2016, S. 254ff; Brysk, Alison: »The Politics of Measurement. The Contested Count of the Disappeared in Argentina«, Human Rights Quarterly, Jg. 16, H. 4 (1994), S. 676–692. 89 Es handelte sich dabei nicht um eine eindeutige und stabile Identifikation, jedoch war der Rekurs auf den Katholizismus wesentliches Element ihrer Selbstbeschreibung und speiste sich nicht allein aus strategischen Erwägungen. Rupflin, Barbara: »›Nuestros hijos son también vuestras ovejas‹. Las Madres de Plaza de Mayo y la Iglesia católica argentina durante la dictadura militar«, in: Feierstein, Liliana Ruth/Lior Zylberman (Hg.), Narrativas del terror y la desaparición en América Latina, Sáenz Peña 2016, S. 121–138. Funes stellt eine der Madres in den Mittelpunkt ihrer Darstellung. Die Ausarbeitung macht unter anderem deutlich, welch bedeutende Rolle der katholische Glaube für diese Frau spielte. Vgl. Funes, Patricia: »›Mamá Mercedes‹. Diario de viaje de una Madre de Plaza de Mayo«, in: Mallimaci, Fortunato (Hg.), Modernidad, religión y memoria, Buenos Aires 2008, S. 145–158. 90 Catoggio, María Soledad: »Represión estatal entre las filas del catolicismo argentino durante la última dictadura militar. Una mirada del conjunto y de los perfiles de las víctimas«, Journal of Iberian and Latin American Research, Jg. 19, H. 1 (2013c), S. 118–132. Morello fasst die Gruppe etwas weiter und nimmt auch deutlich sichtbar engagierte Lai*innen mit auf, was auch die etwas höhere Fallzahl erklärt. Vgl. Morello 2013. 91 Vgl. Lampasona, Julieta: »Desaparición forzada en Argentina: Entre la desaparición y la sobrevida. O sobre la ›regla‹ y la ›excepción‹ en el despliegue de la tecnología de poder genocida«, Aletheia, Jg. 3, H. 6 (2013), S. 1–20; Jensen, Silvina/María Soledad Lastra Viaña/ Mario Ayala (Hg.): Exilios. Militancia y represión nuevas fuentes y nuevos abordajes de los
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Innerhalb des Forschungsfelds zur katholischen Kirche in Argentinien ist in den vergangenen Jahren ein allmählicher Paradigmenwechsel beobachtbar, da immer mehr Studien die Akteur*innen jenseits des Episkopats und die Heterogenität der Institution Kirche untersuchen.92 Vor allem die Soziologin Soledad Catoggio hat dazu beigetragen, das Forschungsfeld zu erweitern. Ihr kommt das Verdienst zu, Gender-Aspekte untersucht und sozialstatistische Daten erhoben zu haben. So erforschte sie unter anderem die Rolle von Ordensfrauen während der Diktatur, das soziale Profil der Repressionsopfer unter den Bischöfen, Priestern und Ordensleuten sowie die Reaktionen und insbesondere die Bedeutungskonstruktionen innerhalb des progressiven Katholizismus angesichts der Repression, auch über das Ende der Diktatur hinaus.93 Auch Gustavo Morello widmet sich den institutionell eingebundenen Repressionsopfern und stellt detailliert den Fall einer Gruppe aus Córdoba dar, zu der eine Ordensschwester, ein US-amerikanischer Priester und fünf Seminaristen gehörten.94 Anhand dieses Fallbeispiels stellt er die These auf, dass die Reaktion der katholischen Akteur*innen auf die Menschenrechtsverletzungen von ihrem Verhältnis zum Prozess der Säkularisierung abhing.95 Sowohl bei Morello als auch bei Catoggio
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destierros de la Argentina de los años setenta, La Plata 2014. Jensen, Silvina: Los exiliados. La lucha por los derechos humanos durante la dictadura militar, Buenos Aires 2010. Den beginnenden Perspektivwechsel konstatieren Hensel und Ruderer. Vgl. Hensel/Ruderer 2011. Autoren wie Mignone, Verbitsky oder Obregón verweisen am Rande immer wieder auf Akteur*innen, die nicht dem Episkopat angehören, untersuchen sie aber nicht eingehend. Ein kurzer Aufsatz von Forni widmet sich vor allem der von der ›Option für die Armen‹ inspirierten sozialen Basisarbeit in den Armenvierteln, die Priester und Ordensleute trotz der Repression und der mangelnden Unterstützung durch die Kirchenhierarchie versuchten weiterzuführen. Forni, Floreal H.: »Derechos humanos y trabajo de base. La reproducción de una línea en el catolicismo argentino«, Sociedad y Religión, H. 7 (1989), S. 46–54. Vgl. Catoggio 2010; Catoggio 2013b. In ihrer Monographie zeichnet Catoggio die Lebenswege von Priestern, Ordensleuten und Seminaristen, die Opfer der Repression wurden, nach und fragt nach deren Beziehungen innerhalb der ›katholischen Welt‹. Dieses Beziehungsnetz, so Catoggios zentrale These, stellt eine bestimmte Form der sozialen Interaktion (sociabilidad) dar, die sie als asketisch-altruistisch bezeichnet und welche die historischen Protagonist*innen zum einen untereinander und zum anderen mit Akteur*innen verbindet, die selbst die Diktatur nicht erlebt haben. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Konstruktion und soziale Einbettung von Erinnerungsnarrativen und arbeitet heraus, wie die Figur des Märtyrers politisiert und die Figur des desaparecido religiöse Bedeutung im erinnerungspolitischen Diskurs erlangte. Catoggio, María Soledad: Los desaparecidos de la Iglesia. El clero contestatario frente a la dictadura, Buenos Aires 2016. Vgl. auch Catoggio 2015. Vgl. Morello 2015; Morello 2011. Morello macht drei unterschiedliche Gruppen aus, die er als anti-säkulare, institutionelle und engagierte Katholik*innen benennt. Während die anti-säkularen Katholik*innen sich gegen den von der Moderne ausgelösten Wandel wehrten und den Staatsterror legitimierten, erkannten die institutionellen Katholik*innen die Notwendigkeit zur »Verhandlung mit der Moderne« (Morello 2015, S. 12, »negotiation with modernity«). Weil die Nation katholisch war, verstanden sie – so Morello – die Kirche als Vertreterin der Interessen der Bevölkerung gegenüber dem politischen System und beanspruchten einen privilegierten Zugang zu den
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ist insgesamt die Tendenz zu erkennen, der Rolle katholischer Akteur*innen in der Menschenrechtsbewegung eine etwas zu große Bedeutung beizumessen.96 Hinzu kommen einige kurze Arbeiten, die regionale Schwerpunkte setzen oder sich mit den Beiträgen einzelner katholischer Zeitschriften zu bestimmten Aspekten der Militärdiktatur befassen, wie beispielsweise der Legitimation des Putschs.97 Juan Bonnin zeigt mit seinen detaillierten linguistisch-diskursanalytischen Untersuchungen die prinzipielle Deutungsoffenheit der offiziellen Dokumente der Bischofskonferenz sowie ihre Anschlussfähigkeit an unterschiedliche, teils widersprüchliche politische Positionierungen auf.98 Auch die Arbeiten von Stephan Ruderer zu konservativen Lai*innengruppen und dem Militärklerus tragen dazu bei, ein differenzierteres Bild des argentinischen Katholizismus und der argentinischen Kirche zu zeichnen.99 Neben der Diversität der katholischen Akteur*innen werden zunehmend auch die transnationalen Bezüge innerhalb der katholischen Kirche sowie die Rolle katholischer Akteur*innen in der
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Regierenden, wobei sie die Autonomie der Kirche zu wahren suchten. Die engagierten Katholik*innen verschrieben sich dem öffentlichen Einstehen für die Armen und verteidigten die Menschenrechte. Vgl. Morello 2015, S.12f und S. 129ff. Morello ist selbst Jesuit, so dass es denkbar ist, dass das Überbetonen der positiven Beiträge der katholischen Kirche in der Menschenrechtsfrage Teil seiner eigenen Identitätskonstruktion ist. Brardinelli untersucht im Kontext der These von der Rückkehr des Religiösen die theologische Positionierung Novaks. Vgl. Brardinelli, Rodolfo Luis: »Resurgimiento religioso. El caso de monseñor Novak y la Iglesia de Quilmes durante la dictadura militar«, Scripta Ethnológica, H. 20 (1998), S. 73–84. Ripa fragt aus einer psychoanalytischen Perspektive danach, warum in der Diözese Quilmes Zeitzeugen zufolge so wenig über die Menschenrechtsverletzungen und die Menschenrechtsarbeit des Bischofs Jorge Novak bekannt war. Vgl. Ripa, Luisa: »Cómo entender lo que nos pasó? El caso Novak: Cuestiones de relevancia ética en el accionar del obispo quilmeño«, Mitologicas, Jg. 26 (2001), S. 45–64. Azconegui, María Cecilia: »La Iglesia Católica y la APDH neuquina frente al terrorismo de estado«, in: Muñoz Villagrán, Jorge (Hg.), Pedagogía Política en Don Jaime de Nevares. La dimensión política de su vida, Neuquén 2012, S. 256–288; Azconegui, María Cecilia: »De madres de desaparecidos a Madres de Plaza de Mayo (1976–1983)«, in: Favaro, Orietta/Graciela Iuorno (Hg.), El »arcón« de la historia reciente en la Norpatagonia argentina. Articulaciones de poder, actores y espacios de conflictos, 1983–2003, Buenos Aires 2010, S. 147–181; Orbe, Patricia A.: »›Cruzada nacionalista‹ y periodismo: La revista Cabildo ante el escenario mediático argentino (1973–1976)«, Revista Alpha – Revista de Artes, Letras y Filosofía (2012), S. 41–66.; Saborido, Jorge: »›Por la Nación contra el caos‹. La revista Cabildo y el Proceso de Reorganización Nacional«, in: Ders./ Marcelo Borrelli (Hg.), Voces y silencios. La prensa argentina y la dictadura militar (1976– 1983), Buenos Aires 2011, S. 185–224. Vgl. Bonnin, Juan E.: Génesis política del discurso religioso. Iglesia y comunidad nacional (1981) entre la dictadura y la democracia en la Argentina, Buenos Aires 2012. Vgl. Ruderer, Stephan: »›Der Kaplan soll uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist‹ – Das Militärvikariat und die Diktatur in Argentinien«, in: Hensel, Silke/Hubert Wolf (Hg.), Die katholische Kirche und Gewalt. Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/ Weimar 2013, S. 145–163; Ders.: »Between Religion and Politics: The Military Clergy during the Late Twentieth-Century Dictatorships in Argentina and Chile«, Journal of Latin American Studies, Jg. 47, H. 3 (2015), S. 463–489.
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Menschenrechtsbewegung untersucht. Catoggio zeichnet die religiöse Dimension der transnationalen Menschenrechts-Netzwerke nach und widmet sich dem Servicio Paz y Justicia (SERPAJ), einer religiös inspirierten Organisation innerhalb der argentinischen Menschenrechtsbewegung, die auch in Chile und Brasilien aktiv war.100 Morello legt dar, wie katholische Repressionsopfer Kontakte in den USA etablierten.101 So zeigen diese Arbeiten auf, wie durch das Überschreiten der nationalstaatlichen Grenzen der Mythos der ›katholischen Nation‹ und der offizielle Diskurs der Militärjunta in Frage gestellt werden konnten. Die Studien bilden zugleich den Ansatzpunkt, die Forschung zur katholischen Kirche mit der Forschung zur Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert miteinander zu verbinden, die – wie Wilde kritisch anmerkt – bisher noch zu wenig aufeinander Bezug nehmen. Er stellt fest, dass vor allem die neuesten Arbeiten zur Geschichte der Menschenrechte die Rolle religiöser Akteur*innen und Institutionen kaum berücksichtigen.102 Wildes Beobachtung trifft prinzipiell auch auf die spezifische Forschung zur Menschenrechtsbewegung in Argentinien während der Militärdiktatur zu, da religiöse Dimensionen der Menschenrechtsarbeit und die Beteiligung religiös motivierter Akteur*innen bisher höchstens punktuell erwähnt, aber nicht umfassend untersucht wurden.103 100 Vgl. Catoggio, María Soledad: »La trama religiosa de la redes humanitarias y del activismo transnacional en las dictaduras del cono sur de américa latina«, in: Jensen, Silvina/María Soledad Lastra Viaña/Mario Ayala (Hg.), Exilios. Militancia y represión nuevas fuentes y nuevos abordajes de los destierros de la Argentina de los años setenta, La Plata 2014, S. 187– 213; Dies.: »Activismos no violentos bajo dictaduras militares en Argentina y Chile. El Servicio de Paz y Justicia, 1974–1983«, Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, Jg. 52, H. 1 (2015), S. 291–314. 101 Vgl. Morello, Gustavo: »Secularización y Derechos Humanos. Actores católicos entre la dictadura argentina (1976) y la administración Carter (1977–1979)«, Latin American Research Review, Jg. 47, H. 3, S. 62–68. 102 Vgl. Wilde, Alexander: »Introducción«, in: Ders. (Hg.), Las iglesias ante la violencia en América Latina. Los derechos humanos en el pasado y el presente, México, D.F./Washington DC 2015(a), S. 17–41, hier S. 24; Moyn 2010. 103 Es gibt jedoch zumindest punktuelle Hinweise auf religiöse Akteur*innen, diese sind jedoch nicht Gegenstand der jeweiligen Untersuchungen. Brysk interpretiert die Entstehung des MEDH und anderer Menschenrechtsorganisationen als Reaktion oppositioneller Kleriker auf die mangelnde Bereitschaft der Kirche, das Engagement für Menschenrechte zu institutionalisieren. Brysk weist darauf hin, dass Angehörige des Klerus dem MEDH als offizielle Vertreter ihrer Ordensgemeinschaften angehörten. Bei SERPAJ und dem MEDH macht sie einen Bezug zur Befreiungstheologie aus. Vgl. Brysk, Alison: The Politics of Human Rights in Argentina. Protest, Change, and Democratization, Stanford 1994, S. 46 und S. 50f. Auch Jelin erwähnt die Mitarbeit von Geistlichen unterschiedlicher Religionen in den Menschenrechtsorganisationen und merkt an, dass insbesondere die dort aktiven katholischen Kleriker eine marginale Position gegenüber der Kirchenhierarchie einnahmen. Vgl. Jelin, Elizabeth: »The Politics of Memory: The Human Rights Movements and the Construction of Democracy in Argentina«, Latin American Perspectives, Jg. 21, H. 2 (1994), S. 38–58, hier S. 42. Wright erwähnt den »dissident catholic clergy« als Mitbegründer des MEDH. Vgl.
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Die vorliegende Arbeit greift die Ansätze zur Erforschung der Heterogenität der katholischen Kirche und des Katholizismus auf, indem sie die Auseinandersetzungen über Menschenrechte und die Praktiken im Umgang mit Repression zum Gegenstand der Untersuchung macht. Ihre Herangehensweise basiert theoretisch auf einer kulturgeschichtlichen Perspektive, der es – wie Barbara Stollberg-Rilinger programmatisch formuliert – darum geht, »historische Phänomene immer als Ergebnis von (impliziten oder expliziten) Sinnzuschreibungen, Geltungsbehauptungen und Deutungskonflikten der Akteure zu beschreiben.«104 Statt den Fokus allein auf die Institution oder bestimmte anhand von strukturellen Merkmalen definierte Akteur*innen und Akteursgruppen zu richten, werden im Sinne der kulturgeschichtlichen Perspektive die Konflikte um die Menschenrechte in den Fokus gerückt, um der Konstruktion institutioneller Konsensfassaden in Form von autoritativen Texten und ihrer Rezeption sowie den Praktiken und den Handlungsspielräumen katholischer Akteur*innen innerhalb der institutionellen Strukturen auf die Spur zu kommen.105 Es wird danach gefragt, wie die offiziellen Positionierungen der Institution Kirche zustande kamen und in welchen Kontexten und auf welche Weise die autoritativ festgeschriebenen, aber deutungsbedürftigen und deutungsoffenen Aussagen zur Menschenrechtsfrage in den Dokumenten der Bischöfe von katholischen Akteur*innen kritisiert oder angeeignet wurden. Des Weiteren wird exemplarisch nachgezeichnet, welche Positionierungen es unter Katholik*innen in der Menschenrechtsfrage gab. Ein weiterer Fokus liegt auf der Praxis innerhalb der Institution Kirche. Es wird untersucht, welche religiösen Praktiken und institutionellen Handlungsspielräume in Reaktion auf die Erfahrung der Repression und im Umgang mit Wright, Thomas C.: State Terrorism in Latin America. Chile, Argentina, and International Human Rights, Lanham 2007, S. 119. 104 Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 35) Berlin 2005. Zur grundsätzlichen Perspektive der Kulturgeschichte vgl. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001; Landwehr, Achim: Kulturgeschichte, Stuttgart 2009. 105 Vgl. Mergel, Thomas: »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, H. 4 (2002), S. 574–606.; Stollberg-Rilinger, Barbara: »Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), Berlin 2005, S. 9–24; Frevert, Ute/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt 2005; Landwehr, Achim: »Diskurs – Macht –Wissen«, Archiv für Kulturgeschichte, Jg. 85, H. 1 (2003), S. 71–117. Zum Begriff Konsensfassaden vgl. StollbergRilinger, Barbara: »Symbolische Kommunikation in der Vormoderne: Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven«, Zeitschrift für Historische Forschung, Jg. 31, H. 4 (2004), S. 489– 527, insbesondere S. 518ff; Althoff, Gerd: »Freiwilligkeit und Konsensfassaden: Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters«, in: Herding, Klaus/Bernhard Stumpfhaus (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin 2004, S. 145–161.
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der Menschenrechtsproblematik genutzt und in Aushandlungsprozessen geschaffen wurden. Die kulturgeschichtliche Herangehensweise ermöglicht es, sowohl die Praktiken von katholischen Lai*innen und Menschenrechtsaktivist*innen – mit oder gegen die Amtskirche – als auch die offiziellen Verlautbarungen der Bischofskonferenz als Teil von Aushandlungsprozessen in den Blick zu nehmen. Im Gegensatz zu Ansätzen, die sich allein auf die Vertreter der Amtskirche – als Verwalter der Heilsgüter und offizielle Repräsentanten der Institution – konzentrieren, werden mit diesem Ansatz – zumindest partiell – auch die Laiinnen und Laien erfasst. Diese Vorgehensweise greift die in der Kirchengeschichtsschreibung erhobene Forderung auf, nicht nur die Leitungsebene der katholischen Kirche, sondern auch die Kirchenmitglieder zum Gegenstand historischer Untersuchungen zu machen.106 Der Kompass der kulturwissenschaftlichen Theorie zeigte in der Auswertung der umfangreichen Quellenbestände – im Hinblick auf die Positionierungen und Praktiken der Institution Kirche bezüglich der Menschenrechtsverletzungen – den Weg zu bedeutenden Forschungsfeldern auf. Grundlegend war der Blick auf die Handlungsspielräume und damit die Handlungsfähigkeit (agency) der historischen Akteur*innen, seien es Bischöfe, Priester oder Lai*innen, in der prinzipiell hierarchisch konstituierten Institution Kirche.107 Ihr Handeln wird im Kontext der strukturellen Rahmenbedingungen untersucht, um sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen des Agierens zugunsten der Menschenrechte innerhalb der katholischen Kirche auszuloten. Die von der Repression betroffenen Katholik*innen und die – oftmals katholischen – Aktivistinnen und Aktivisten der Menschenrechtsbewegung, insbesondere die Madres de Plaza de Mayo, sind in diesem Zusammenhang zentrale Akteur*innen.108 106 So postuliert Blaschke bezogen auf die Forschung zur katholischen Kirche während des Nationalsozialismus: »Nimmt man jedoch das kirchliche Selbstverständnis von der Gemeinschaft der Gläubigen ernst, muss eine Geschichte der Kirchen auch die Kirchenmitglieder erfassen.« Blaschke, Olaf: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 11. 107 Der Fokus auf die Handlungsfähigkeit der Akteur*innen wurde unter anderem prominent von der Alltagsgeschichte in die Geschichtswissenschaft eingebracht, auch die Historische Anthropologie fokussiert das Handeln der Akteur*innen. Diese Ansätze waren nicht zuletzt eine Kritik an der strukturalistisch arbeitenden Sozialgeschichte, die die Alltagsgeschichte mit Ansätzen zur Untersuchung der Kategorie Geschlecht (gender) in historischen Kontexten und kulturgeschichtlichen Ansätzen teilt. Vgl. Lüdtke, Alf (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebenswelten, Frankfurt a. M. 1989; Welskopp, Thomas: »Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 24 (1998), S. 173–198; Schulze, Winfried (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, MikroHistorie. Eine Diskussion, Göttingen 1994; Tanner, Jakob: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004. 108 Zur Beziehung der Madres de Plaza de Mayo zum Katholizismus und zur katholischen Kirche vgl. Rupflin 2016. Die Geschichte der Madres de Plaza de Mayo ist vielfach unter
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Neben der Analyse der von katholischen Akteur*innen produzierten Diskursfragmente – soweit anhand der vorliegenden Quellen möglich inklusive ihrer Genese und Rezeption – erfolgt eine Analyse der symbolisch-performativen Dimension der Auseinandersetzung um die Menschenrechtsfrage, vor allem im Zusammenhang mit religiösen Praktiken, die die Erfahrung von Repression und Verschwindenlassen integrierten.109 Ein weiteres, relevantes Forschungsfeld in diesem Kontext ist die Frage des Verhältnisses des Individuums zur Institution Kirche, der auch hier aus dem spezifischen Blickwinkel der Opfer der Repression und der Menschenrechtsaktivist*innen nachgegangen wird. Für jene unter ihnen, die sich der katholischen Kirche prinzipiell zugehörig fühlten, entstand durch die unzureichende Repräsentation und fehlende Inklusion durch die Institution ein Konflikt, der auch das Gefühl der Zugehörigkeit berührte. Die vorliegende Studie zeigt, dass die Infragestellungen in Bezug auf die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, die aus den massiven Konflikten um die Menschenrechtsfrage resultierten, durch eine Verlagerung der Zugehörigkeit in eine andere Diözese als die Heimatdiözese transformiert werden konnten, so dass neben der Verlagerung der Zugehörigkeit innerhalb der Kirche auch eine qualitative Veränderung im Verhältnis zur Kirche insgesamt erfolgte. Zur Bezeich-
Gender-Aspekten untersucht worden. Dagegen konstatiert Sachse für die zeithistorische Menschenrechtsforschung im Allgemeinen jedoch eine »Leerstelle« in Bezug auf die Kategorie gender. Vgl. Sachse, Carola, »Leerstelle Geschlecht. Zur Kritik der neueren zeithistorischen Menschenrechtsforschung«, L’Homme, Jg. 25, H. 1 (2014), S. 103–122; Potthast betont die Bedeutung der Berufung auf die Mutterrolle für politisch relevante Identitätskonstruktionen unterschiedlicher sozialer Bewegungen, darunter die Madres de Plaza de Mayo. Vgl. Potthast, Barbara: »Frauen und soziale Bewegungen in historischer Perspektive«, in: Burchardt, Hans-Jürgen/Rainer Öhlschläger (Hg.), Soziale Bewegungen und Demokratie in Lateinamerika. Ein ambivalentes Verhältnis, Baden-Baden 2012, S. 43–58. Vgl. Navarro, Marysa: »The Personal is Political. Las Madres de la Plaza de Mayo«, in: Eckstein, Susan (Hg.), Power and Popular Protest. Latin American Social Movements, Berkeley/Los Angeles/ London 2001, S. 242–258. Im Rahmen dieser Arbeit wurde die Perspektive auf das Geschlecht als Analysekategorie nicht systematisch verfolgt, es sei aber darauf hingewiesen, dass insbesondere in den Konflikten der Menschenrechtsaktivist*innen mit der Amtskirche die Gender-Dimension insofern eine Rolle spielte, als die Machtkonstellationen innerhalb der Institution Kirche auch entlang der Kategorie Geschlecht verlaufen, da nur Männer Zugang zum Priester- und Bischofsamt haben. 109 Vgl. Landwehr, Achim: »Diskursgeschichte als Geschichte des Politischen«, in: Kerchner, Brigitte/Silke Schneider (Hg.), Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 104–122; Füssel, Marian/Tim Neu: »Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive«, in: Landwehr, Achim (Hg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235; Martschukat, Jürgen/Steffen Patzold: »Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur«, in: Dies. (Hg.), Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 1–31.
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nung dieses Phänomens wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Transposition eingeführt.110 Die Analyse des Konflikts um Zugehörigkeit knüpft an die Debatten um belonging als Kategorie zur Beschreibung von Zugehörigkeit an. Die Kategorie belonging spielt vor allem in Auseinandersetzungen um Staatsbürgerschaft eine Rolle, indem aufgrund von Zugehörigkeitspostulaten die Kodifizierung von Rechten oder aber die tatsächliche Gewährleistung der Ausübung bereits verbriefter Rechte thematisiert wird.111 Abstrakt formuliert geht es in beiden Kontexten, sowohl der Kirche als auch des Staats, um eine inkludierende Praxis. Insofern ist eine Ähnlichkeit bezogen auf die Institution Kirche gegeben, da von den Opfern der Repression und den Menschenrechtsaktivist*innen ebenfalls auf der Basis ihrer Zugehörigkeit eine Forderung nach Inklusion in die religiösinstitutionelle Praxis erhoben wurde. Im Unterschied zu Forderungen nach Rechten im Kontext von Staatsbürgerschaft verband sich dieses Bestreben jedoch mit der Forderung nach Repräsentation durch die Leitungsebene der Institution und brachte zudem Konflikte im Hinblick auf das Zugehörigkeitsgefühl zur Institution selbst hervor, bei dem die emotionale Dimension eine bedeutende Rolle spielte.112 In den Konflikten artikulierten sich, neben den konkreten Fragen um die Positionierung zu den Menschenrechten, auch grundsätzliche Differenzen um die Rolle der einfachen Mitglieder in der Kirche im Verhältnis zu den Amtsträgern. Hinzu kommt, dass es für die Institution Kirche keinen normativ festgeschriebenen Anspruch auf bestimmte Rechte gibt, sondern der Konflikt normativ aus der Selbstdefinition der katholischen Kirche durch das Postulat der ›Einheit der Kirche‹ prinzipiell ausgeschlossen und nicht legitim ist. Situationen, in denen Zugehörigkeit aus der Perspektive der Akteur*innen durch mangelnde Inklusion und Konflikte innerhalb des Kollektivs, dem sich die Betroffenen eigentlich zugehörig fühlten, in Frage gestellt ist, spielten in der Untersuchung von Fragen der Zugehörigkeit bisher keine Rolle. Daher wurden auch die Infragestellungen, Risse und Brüche in Bezug auf die individuelle Zugehörigkeit zu einer Institution oder vorgestellten Gemeinschaft bisher nicht untersucht. Der Begriff Zugehörigkeit meint im Rahmen dieser Arbeit zum einen die formale Zugehörigkeit zur Kirche, die auf der Mitgliedschaft beruht, und zum 110 Dieses Phänomen wird in Kapitel 7 und 8 behandelt. 111 Vgl. Schwarz, Tobias: »Aushandlungen von Zugehörigkeit und Vermittlung von Rechten – zur Verbindung von Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit in empirischen Forschungen des ›Kompetenznetzes Lateinamerika‹«, KLA Working Paper Series 7, Köln 2013. Zum Unterschied zwischen Kirche und Rechtsstaat siehe Stein, Tine: »›Complexio oppositorum‹ Die Verfassungsstruktur der römisch-katholischen Kirche aus politikwissenschaftlicher Perspektive«, Zeitschrift für Politik, Jg. 60, H. 3 (2013), S. 263–293. 112 Emotionen galten lange nicht als Bestandteil geschichtswissenschaftlicher Forschung. Vgl. Frevert, Ute: »Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 35 (2009), S. 183–208.
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anderen die emotionale Zugehörigkeit, die einzelne Kirchenmitglieder, egal ob sie Funktionsträger sind oder nicht, ausbilden können. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft lag jedoch nicht allein auf einer individuellen Ebene, da es für die jeweiligen Akteur*innen zentral war, von Funktionsträgern der Amtskirche und damit der Institution anerkannt zu werden, indem sie in institutionelle Praktiken eingeschlossen wurden. Prinzipiell wird die Annahme zu Grunde gelegt, dass üblicherweise eine Übereinstimmung zwischen der territorialen Zugehörigkeit eines Mitglieds zu einer Diözese und dem Gefühl der Zugehörigkeit besteht, wobei das individuelle Gefühl der Zugehörigkeit unterschiedlich stark ausgebildet sein kann.113 Im Konfliktfall kann daher auch das Gefühl der Zugehörigkeit berührt sein, so dass das Verhältnis des Mitglieds zur Institution in Frage gestellt ist. Neben der Verlagerung des Zugehörigkeitsgefühls wären andere Optionen zur Lösung dieses Konflikts ein Verlassen der Kirche oder aber Resignation und Rückzug auf die eigene Innerlichkeit.114 Der spezifische Blickwinkel auf den Umgang mit diesem Konflikt innerhalb der Strukturen der argentinischen Kirche lässt die Bedeutung der Diözesen erkennen, die als sinn- und ordnungsstiftende Einheiten Kristallisationspunkte für die Verlagerung des Zugehörigkeitsgefühls und teilweise auch der institutionellen Zugehörigkeit bildeten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die These von Wilhelm Damberg und Staf Hellemans, die für den europäischen Raum konstatieren, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Delokalisierung und Neulokalisierung kirchlicher Praxis stattfand, die zu einem »Aufstieg der intermediären Instanzen«115 innerhalb der Kirche geführt habe. Zu den intermediären Instanzen zählen die Wissenschaftler disparate Vergemeinschaftungsformen wie überregionale Veranstaltungsformate, zum Beispiel Kirchentage, aber auch Diözesen. Aus der Darstellung von Damberg und Hellemans geht weiterhin hervor, dass es sich in diesem Zusammenhang eher um das punktuelle Wahrnehmen von religiösen Angeboten im Sinne einer erlebnisorientierten Nachfrage seitens der Gläubigen handelte, die mit einem Rückgang von 113 Siehe zur unterschiedlichen Ausprägung von Gefühlen der Zugehörigkeit im Sinne von angenommenen Gemeinsamkeiten und wahrgenommener Verbundenheit Brubaker, Rogers/Frederick Cooper: »Beyond ›identity‹«, Theory & Society, Jg. 29, H.1 (2000), S. 1–47, insbesondere S. 13. 114 Sehr wahrscheinlich gab es im Kontext der Diktatur auch Kirchenaustritte und Rückzüge ›ins Private‹, allerdings lassen sich diese Formen des Umgangs mit dem Konflikt zwischen Amtskirche und Mitgliedern nicht anhand der vorhandenen Quellen nachvollziehen. Sie werden hier jedoch erwähnt, damit nicht der Eindruck entsteht, dass es sich bei einer Transposition um die einzig mögliche Umgangsweise handelte. In der Regel wird zwischen den Optionen voice oder exit unterschieden. Vgl. Stein 2013, S. 288. 115 Vgl. Damberg, Wilhelm/Staf Hellemans: »Delokalisierung, Neulokalisierung und der Aufstieg der intermediären Instanzen seit 1954/1960. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Die neue Mitte der Kirche. Der Aufstieg der intermediären Instanzen in den europäischen Großkirchen seit 1945, Stuttgart 2010, S. 7–20.
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strukturell abgesicherten Angeboten auf der Ebene der Gemeinde korrespondierte. Für den Untersuchungsgegenstand der beiden Forscher spielen tatsächliche Wechsel in andere Diözesen keine Rolle, ebenso wenig wie Vorstellungen über Zugehörigkeit zu einer anderen Diözese als der des eigenen Wohnorts. Auch Konflikte vor Ort sind keine relevante Kategorie in den Überlegungen von Damberg und Hellemans, denn sie halten die Attraktivität der Angebote auf Ebene der intermediären Instanzen für einen zentralen Faktor in den von ihnen beobachteten Prozessen.116 Im argentinischen Fall spielten während der Militärdiktatur nicht nur die schon in den 1960er-Jahren oftmals beobachtbaren Konflikte um das Glaubens- und Kirchenverständnis eine Rolle, sondern auch die Konflikte um die Zugehörigkeit zur Institution, die aus der Weigerung der Repräsentation und Inklusion der Erfahrung der politischen Verfolgung und insbesondere der Repressionspraxis des Verschwindenlassens resultierte.117 Insofern ist der argentinische Fall, vor allem durch den Kontext der Militärdiktatur, anders gelagert. Prinzipiell sieht sich die Erforschung der katholischen Kirche in Argentinien mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass kirchliche Archive in der Regel nicht zugänglich sind.118 Da es sich rechtlich gesehen um Privatarchive handelt, besteht anders als bei öffentlichen Archiven kein Recht auf Einsichtnahme, sondern der Zugang zu den Archivalien liegt im Ermessen der katholischen Kirche. Deshalb stellen die Quellen aus den Diözesen Neuquén und Goya einen umso wichtigeren 116 Sie zeigen zudem auf, wie sich bestimmte Aufgaben in den Organisationsstrukturen der Diözese bündeln, die zuvor auf der Ebene der Gemeinde angesiedelt waren. Dieses Phänomen erklären sie vor allem mit dem Rückgang der aktiven Kirchenmitglieder. 117 Im Hinblick auf die Konflikte innerhalb der Kirche auch zu anderen historischen Zeitpunkten oder Orten wäre es lohnenswert zu untersuchen, inwiefern eine Verlagerung von Zugehörigkeit, die zu einer positiven Veränderung im Verhältnis zur Gesamtinstitution führte (= Transposition), auch in diesen Kontexten nachvollzogen werden kann. Ebenso wäre es denkbar, diese Perspektive auf andere organisierte Großkollektive anzuwenden und zu fragen, ob eine Hinwendung zu (oder das Ausbilden von) intermediären Instanzen als Reaktion auf interne Konflikte beispielsweise auch in Parteien oder Gewerkschaften eine Rolle für eine Reaffirmation des Zugehörigkeitsgefühls der einzelnen Mitglieder spielt. Gleichzeitig wäre es interessant, den Wirkungen für die Institution nachzugehen, da durch das Ausbilden institutionell abgesicherter Zugehörigkeitsgemeinschaften auf intermediärer Ebene einerseits die Institution verändert, andererseits zugleich aber auch in ihrem Bestehen stabilisiert wurde, da ein Konflikt nicht über ein Verlassen der Institution gelöst wurde. 118 So konnte beispielsweise weder Einblick in das Archiv der argentinischen Bischofskonferenz noch in die Bestände des Erzbistums Buenos Aires, zum Zeitpunkt der Anfrage (2010) unter Leitung des Erzbischofs Jorge Mario Bergoglio (später Papst Franziskus), genommen werden. Zu den Archiven der Menschenrechtsorganisationen vgl. Bickford, Louis: »Human Rights Archives and Research on Historical Memory: Argentina, Chile, and Uruguay«, Latin American Research Review, Jg. 35, H. 2 (2000), S. 160–182; Nazar, Mariana: »Archivos, memoria y derechos: reflexiones en torno al caso argentino«, Comma, H. 2 (2010), S. 145– 158.
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Bestand dar. Sie umfassen handschriftliche Notizen der jeweiligen Bischöfe, unter anderem zum Verlauf der Bischofskonferenzen, Material zu den Vollversammlungen der Episkopate, Briefe an die Bischöfe, unter anderem von Repressionsopfern und Menschenrechtsaktivist*innen, und Dokumente zur Menschenrechtsbewegung.119 Die Notizen der Bischöfe geben Auskunft über interne Vorgänge der Bischofskonferenz sowie über ihre eigenen Positionierungen in der Menschenrechtsfrage. Die Briefe an den Bischof Jaime de Nevares der patagonischen Diözese Neuquén ermöglichen einen ungewöhnlichen Einblick in die Situation und die Vorstellungswelten von Lai*innen, Priestern, Ordensleuten und Seminaristen, die von Repression betroffen oder in der Menschenrechtsbewegung aktiv waren. Darüber hinaus wurden Bestände lokaler Menschenrechtsgruppen in Neuquén sowie der Menschenrechtsbewegung in Buenos Aires ausgewertet. Das Material liefert Einblicke in die Erwartungen an die katholische Kirche sowie die Konflikte der Menschenrechtsaktivist*innen insbesondere mit dem Episkopat, aber auch mit einzelnen Funktionsträgern der Amtskirche, wie Priestern und Bischöfen.120 Teilweise konnte auch die Tagespresse Aufschluss über die Konflikte geben.121
119 Das Bistumsarchiv Neuquén (BAN) war für die Recherche nur in Teilen zugänglich, da ein Teil des Bestands in der Verwaltung lagert und nicht freigegeben wurde. Aus diesen Beständen konnte die Historikerin María Andrea Nicoletti beglaubigte Kopien von Dokumenten machen, die sie im Hinblick auf politische Fragen für relevant hielt. Diese Kopien sind im Archiv der Pastoral de Migraciones der Diözese Neuquén einsehbar. Ein anderer umfangreicher Teil der Überlieferung im Bistumsarchiv Neuquén wurde für diese Arbeit zugänglich gemacht. Er ist bisher nur sehr rudimentär geordnet, der Großteil des Materials ist jedoch völlig unsystematisch abgelegt (Briefbündel, Notizbücher, Adressbücher und Dokumentmappen in Truhen). Anhand der Durchsicht des ungeordneten Materials wurde deutlich, dass die bereits anhand der Vergabe von thematischen Stichworten erfolgte Ordnung ( jedoch nicht nach archivalischen Prinzipien) nicht alle Dokumente, die zu dem jeweiligen Stichwort gehören, erfasst hat. Dies wird beispielsweise an dem Bestand der Briefe der Angehörigen der Verschwundenen deutlich (Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos). Sofern es bereits eine Stichwort-Bezeichnung gibt, wird diese übernommen, ansonsten wird ein Stichwort im Sinne eines Hinweises zur Auffindbarkeit gegeben (z. B. Briefe, Notizen). Das Bistumsarchiv Goya (BAG) ist stärker systematisch geordnet, so dass Dokumente sowohl thematisch als auch nach Provenienz abgelegt sind. Die Bestände sind jedoch nicht vollständig. Beispielsweise enthält der Bestand mit Dokumenten zu den Vollversammlungen der Bischöfe Lücken, was deshalb erstaunlich ist, da Bischof Devoto seine Notizen wesentlich stärker systematisch organisierte als Nevares und man deshalb erwarten könnte, dass auch das entsprechende Material ebenso systematisch und vollständig abgelegt wurde. 120 In Buenos Aires wurden das Archiv der Madres de Plaza de Mayo – línea fundadora (MADRES), das Archiv des Servicio Paz y Justica (SERPAJ), das Archiv der Asamblea Permanente por los derechos humanos (APDH) und das Archiv des Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) ausgewertet, in Neuquén das Archiv der Madres de Plaza de Mayo Neuquén y Alto Valle (MADRES – Neuquén), das Archiv der APDH Neuquén und das Archiv der Pastoral de Migraciones. Des Weiteren stellte David Lugones, der in der Menschrechtsbe-
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Für das Erfassen der religiösen Praxis sind die geheimdienstlichen Polizeidokumente der Dirección de Inteligencia de la Policía de la Provincia de Buenos Aires (DIPBA) in La Plata von großem Wert, da sie eine Untersuchung von innerkirchlichen Konflikten im Hinblick auf die Frage nach der Inklusion der Repressionserfahrung und der Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte
wegung in Neuquén aktiv ist, eine Mappe mit historischen Dokumenten zur Verfügung (Privatarchiv David Lugones). 121 Die Auswahl beschränkt sich auf die bonarenser Tageszeitungen La Opinión, La Prensa, La Nación und Clarín, sowie die regionale Tageszeitung Río Negro für die Provinz Neuquén. Zeitungen waren laut Borrelli das populärste Medium in den 1970er-Jahren. (Borrelli, Marcelo: »Voces y silencios: La prensa argentina durante la dictadura militar argentina (1976–1983)«, Perspectivas de la Comunicación, 4/1 (2011), S. 24–41, S. 29.) Zu den bedeutendsten Tageszeitungen mit nationaler Reichweite gehörten zum Zeitpunkt des Putschs La Nación, La Prensa, Clarín, Crónica, La Razón und La Opinión, von denen hier La Nación, La Prensa, Clarín und La Opinión ausgewertet wurden, so dass ein weites Meinungsspektrum abgedeckt wird. La Nación, gegründet 1870, mit einer Auflage von 248.000 Exemplaren, gilt als Stimme der Agraroligarchie und der besonders konservativen Teile der Gesellschaft. Während der Diktatur verteidigte La Nación aktiv den ›Kampf gegen die Subversion‹ und lehnte die ›ausländische Einmischung‹ in der Menschenrechtsfrage ab, äußerte sich allerdings mahnend, als die Repression auch Menschen traf, die sie nicht als Teil der ›linken Subversion‹ ansahen. La Prensa, gegründet 1869, mit einer Auflage von 162.000 Exemplaren, ist in ihrer Grundausrichtung konservativ und antiperonistisch. Das Blatt begrüßte zunächst den Putsch, entfernte sich dann aber nach und nach vom Militärregime. Ab 1978 äußerte La Prensa sich verstärkt kritisch und fiel durch die Forderung an die Regierung nach Informationen über die desaparecidos und dass die ›Subversion‹ mit legalen Mitteln bekämpft werden müsse, auf. Clarín, gegründet 1945, Ende der 1960er Jahre auflagenstärkste Tageszeitung mit 360.000 Exemplaren, stand dem Sektor der Industriellen nahe und vertrat auf ökonomischem Gebiet die Modernisierungstheorie. Clarín unterstützte den Putsch, die ›Wiederherstellung der Ordnung‹ durch das Militär und den ›Kampf gegen die Subversion‹. Ab 1979/1980 begann Clarín mit der regelmäßigen Veröffentlichung von bezahlten Aufrufen (solicitadas) der Angehörigen der Verschwundenen, was Borrelli als Anpassung an den beginnenden politischen Wandel deutet (Borrelli 2011, S. 37). La Opinión, gegründet 1970, war – neben dem englischsprachigen Buenos Aires Herald – die einzige Zeitung, die dem Thema Menschenrechtsverletzungen schon früh einen gewissen Raum einräumte, bis 1977 ihr Direktor Jacobo Timmermann entführt und eine intervención, d. h. ein dauerhaftes Eingreifen des Militärregimes in die Zeitungsproduktion, erfolgte. (Vgl. Schindel 2012, S. 77f; Borrelli 2011, insbesondere S. 37ff.) Neben diesen Tageszeitungen mit nationaler Reichweite wurde Río Negro für die Provinzen Río Negro und Neuquén ausgewertet, um Aufschluss über regionale und lokale Ereignisse zu erhalten. Río Negro, gegründet 1912, seit 1958 Tageszeitung, mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren in den 1970er Jahren, war eng mit dem lokalen Bürgertum verbunden. Die regionale Tageszeitung veröffentlichte zunächst nur sehr wenig Informationen aus offizieller Perspektive über die Repression und wandte sich ab etwa 1979 gegen die Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Vgl. Bergero, Fabian: »El diario Río Negro y el golpe de Estado de 1976: El sinuoso derrotero del diario mas influyente de la Patagonia Norte« (2011), online: https://www.academia.edu/32040595/El _diario_Río_Negro_y_el_golpe_de_Estado_de_1976_El_sinuoso_derrotero_del_diario_m as_influyente_de_la_Patagonia_Norte (abgerufen am 12. März 2017).
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in institutionelle Praktiken ermöglichen.122 Zur Untersuchung weiterer katholischer Perspektiven außerhalb des Episkopats wurden ausgewählte konfessionelle Zeitschriften verschiedener Ausrichtungen ausgewertet. Cabildo stellt dabei als national-katholische Zeitschrift mit großer Nähe zur Mentalität der Militärjunta ein Extrem des Spektrums katholischer Publikationen dar, während die Zeitschriften Actualidad Pastoral und Pan y Trabajo als Vertreterinnen eines postkonziliaren, befreiungstheologisch orientierten Katholizismus am anderen Ende verortet werden können.123 Des Weiteren wurden die einflussreiche Zeitschrift Criterio, die als liberal-katholisch gilt, sowie die Zeitschrift Boletín del CIAS des jesuitischen Forschungszentrums Centro de Investigación y Ación Social aufgenommen.124 Die Untersuchung der katholischen Zeitschriften ermöglicht eine neue Perspektive auf die Heterogenität der Haltungen zur Menschenrechtsfrage außerhalb der Ebene des Episkopats. Die Debatte um den Ort der Menschenrechte in Kirche und Katholizismus, also die mehrheitlich sprachlich verfassten Auseinandersetzungen um die Menschenrechte, bilden den Schwerpunkt des ersten Teils der Arbeit, während der zweite Teil sich mit Praktiken befasst, die innerhalb und teilweise auch gegen die Institution Kirche vollzogen wurden.125 Der systematisch-chronologische Zuschnitt des ersten Teils fokussiert unterschiedliche Schauplätze und historische Zeiträume, die in der Auseinandersetzung katholischer Akteur*innen mit der Menschenrechtsfrage relevant waren. Zunächst richtet sich der Blick auf die Auseinandersetzungen um die Festschreibung einer offiziellen Position der Amtskirche in Form von Dokumenten der Bischofskonferenz in den ersten 122 Vgl. Funes, Patricia: »Secretos, confidenciales y reservados. Los registros de las dictaduras en la Argentina. El Archivo de la Dirección de Inteligencia de la Policía de la Provincia de Buenos Aires«, in: Quiroga, Hugo/César Tcach/Waldo Ansaldi (Hg.), Argentina 1976–2006. Entre la sombra de la dictadura y el futuro de la democracia, Rosario 2006, S. 199–232; Kahan, Emmanuel Nicolás: »¿Qué represión, qué memoria? El ›Archivo de la represión‹ de la DIPBA: problemas y perspectivas«, Revista Question, H. 16 [o. S.]. 123 Bonnin konstatiert, dass Cabildo extreme Positionen vertrat, die jedoch keinesfalls marginal waren. Vgl. Bonnin 2012, S. 194. 124 Die Zeitschrift des jesuitischen Forschungszentrums wurde aufgrund der Bedeutung aufgenommen, die dem Jesuitenorden innerhalb der katholischen Kirche zugeschrieben wird. Vgl. Morello, Gustavo: »Perfil e historia del CIAS«, Revista del CIAS, H. 490 (2000), S. 47–55. Insgesamt ergab die Auswertung, dass die untersuchten katholischen Zeitschriften sich nur sehr selten in der Menschenrechtsfrage zu Wort meldeten. Oftmals beschränkte sich ihr Beitrag auf die vollständige Wiedergabe der offiziellen Dokumente der Bischofskonferenz, ohne dass ein eigenständiger Kommentar verfasst worden wäre. 125 Es handelt sich aber nicht um eine scharfe Abgrenzung der beiden Teile bezüglich der dargelegten Forschungsfragen, was auch der kulturgeschichtlichen Perspektive entspricht, dass Sprechen nicht grundsätzlich als etwas vom Handeln Verschiedenes zu verstehen ist, sondern es vielmehr als eine Art des Handelns begriffen werden sollte. Die Trennungslinie verläuft daher nur entlang der Schwerpunktbildung der beiden Teile der Arbeit. Vgl. Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen?, Wien 1990.
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beiden Jahren nach dem Militärputsch. Anders als in bisherigen Studien werden die offiziellen Texte im Kontext ihrer Genese und ihrer Rezeption untersucht. So wird im zweiten Kapitel danach gefragt, welche Erwartungen an die katholische Kirche hinsichtlich einer Positionierung in der Menschenrechtsfrage formuliert wurden, inwiefern diese aufgegriffen wurden, welche Debatten im Inneren der Bischofskonferenz zum Zustandekommen der offiziellen Dokumente führten und welche widerstreitenden Lesarten dieser autoritativ legitimierten Texte die Zeitgenoss*innen vornahmen. Im anschließenden dritten Kapitel wird der Blick geweitet und über die nationalstaatlichen Grenzen hinausgeführt. So wird gezeigt, dass im Zeitraum von Ende 1979 bis Anfang 1980 aus der Nutzung von Handlungsspielräumen und der Interaktion zwischen lokalen Akteuren in Argentinien und international bedeutsamen Akteuren – hier die Interamerikanische Menschenrechtskommission und Papst Johannes Paul II. – ein qualitativer Wandel im Sprechen über die desaparecidos in Argentinien ermöglicht wurde. Das vierte Kapitel zeigt in einer detaillierten Nahaufnahme die Konflikte um den Ort der Menschenrechte im Katholizismus und in der Kirche anhand der Auseinandersetzungen um die Vergabe des Friedensnobelpreises an den katholischen Menschenrechtsaktivisten Adolfo Pérez Esquivel im Oktober 1980. In den polemisch geführten Debatten um den Nobelpreisträger wurde zugleich das Verhältnis von Katholizismus und Menschenrechten verhandelt. Die katholische Kirche als Institution geriet bereits während der Diktatur für ihr Agieren in der Menschenrechtsfrage immer mehr ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik und versuchte ab den frühen 1980er-Jahren, die eigene Position zu reinterpretieren, um als Verteidigerin der Menschenrechte wahrgenommen zu werden. Die im fünften Kapitel untersuchten Konflikte zwischen der Amtskirche und den Vertreter*innen der Menschenrechtsbewegung zwischen 1981 und dem Ende der Diktatur 1983 zeigen, wie weit die Institution von den Forderungen der Menschenrechtsbewegung entfernt war und wie wenig sie bereit war, die Anliegen der Angehörigen der Verschwundenen und anderer Repressionsopfer in die institutionell abgesicherte Praxis zu integrieren. Der zweite Teil nimmt Praktiken im Umgang mit Repression und Menschenrechtsverletzungen in den Blick. Zunächst werden im sechsten Kapitel Konflikte um die Ausgestaltung religiöser Rituale wie Messen und Prozessionen untersucht, die entstanden, weil der Forderung von Menschenrechtsaktivist*innen wie den Madres de Plaza de Mayo nach Inklusion in die religiöse Praxis nicht oder nur teilweise entsprochen wurde. Eine Möglichkeit mit den Weigerungen der Vertreter der Institution umzugehen, bestand in der eigenmächtigen Aneignung religiöser Rituale, so dass die Madres performativ Teil der religiösen Praxis wurden und die Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte in diese Praxis einschrieben. Anschließend werden die Konflikte um die Zugehörigkeit zur Institution Kirche und die Bedeutung von Diözesen in-
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nerhalb der Organisationsstruktur der Kirche für die Menschenrechtspraxis untersucht. Zentral ist das Phänomen der Transposition, also die Verlagerung der Zugehörigkeit weg von der ursprünglichen Heimatdiözese in eine andere Diözese, die eine positive Veränderung im Hinblick auf das Gefühl der Zugehörigkeit zur Kirche insgesamt bewirken konnte. Sie konnte entweder mit einem dauerhaften oder vorübergehenden Ortswechsel einhergehen, wie in Kapitel sieben gezeigt wird, oder in Form einer imaginären, vorgestellten Vergemeinschaftung auf Distanz, die Gegenstand des achten Kapitels ist. So wird angesichts der Marginalisierung der Repressionsopfer und ihrer Angehörigen in den offiziellen Positionierungen der Amtskirche und der vorherrschenden Exklusion aus der religiösen Praxis nach den trotz allem vorhandenen Handlungsspielräumen im Hinblick auf eine Inklusion dieser Akteur*innen in religiöse Praktiken und institutionelle Kontexte gefragt.
Teil 1: Auseinandersetzungen um den Ort der Menschenrechte in Kirche und Katholizismus
2.
Konfliktive Aushandlungsprozesse, ambigues Sprechen, widerstreitende Lesarten: Die ersten Positionierungen der argentinischen Bischofskonferenz nach dem Putsch (1976–1977)
Die erste Zeit nach dem Militärputsch am 24. März 1976 gilt als besonders repressiv und wird seitens der Forschung vielfach dahingehend charakterisiert, dass ein Sprechen über Menschenrechtsverletzungen und insbesondere über das Phänomen der desaparecidos öffentlich kaum möglich war, da es mit der Angst einherging, selbst ins Visier der Militärmachthaber zu geraten.1 Zu den spezifischen Merkmalen der Repression nach dem Putsch gehörten die übergeordnete Koordination durch das Militär unter Beteiligung anderer Sicherheitskräfte wie lokaler und regionaler Polizeibataillone, die Schaffung von speziellen, in Zivil agierenden, verdeckten Einsatzgruppen (»grupos de tareas«), der systematische Gebrauch von physischer und psychischer Folter in geheimen Haftzentren, Entführungen, Erschießungen, das Verschwindenlassen und die verdeckte Zwangsadoption von in Foltergefängnissen geborenen Kindern.2 Die besonders perfide Praxis des Verschwindenlassens wurde heimlich ausgeübt und ihre Existenz von den Militärmachthabern vollständig negiert. Einige Elemente dieser Repressionspraxis waren jedoch für Teile der Gesellschaft wahrnehmbar, auch wenn diese vielfach nicht als Elemente einer systematischen Repressionsstrategie gedeutet wurden. So betont Águila in ihrer Analyse das »Doppelgesicht der Repression«3, die zwar grundsätzlich geheim vonstattenging, jedoch nicht völlig unsichtbar war, da beispielsweise immer wieder Menschen tagsüber – auf offener Straße, an ihrem Arbeitsplatz oder an ihrem Wohnort – von Spezialeinheiten in Zivil vor den Augen ihrer Mitmenschen verschleppt wurden und dann für immer verschwanden. Diese »öffentliche und sichtbare Dimension«4 zeigt sich laut Águila auch in der Beteiligung von Personen und Orten, die nicht unmittelbar zum 1 Zum öffentlichen Diskurs über die desaparecidos und die Aushandlungsprozesse und Kämpfe um die Grenzen des Sagbaren vgl. Schindel 2012, S. 77ff. 2 Vgl. Águila, Gabriela: »La represión en la historia reciente argentina: fases, dispositivos y dinámicas regionales«, in: Dies./Luciano Alonso (Hg.), Procesos represivos y actitudes sociales: entre la España franquista y las dictaduras del Cono Sur, Buenos Aires 2013, S. 92–121, S. 103. 3 »rostro bifronte del accionar represivo«, Águila 2013, S. 105. 4 »dimensión pública y visible«, ebd., S. 104.
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Konfliktive Aushandlungsprozesse, ambigues Sprechen, widerstreitende Lesarten
Militär oder den Sicherheitskräften gehörten – wie Krankenhäuser, in denen Verschwundene behandelt wurden, Leichenhallen, in die nicht identifizierbare, im öffentlichen Raum aufgefundene Tote gebracht wurden, Friedhöfe, auf denen anonyme Bestattungen stattfanden oder die Justiz, die immer wieder mittels Habeas-Corpus-Eingaben angerufen wurde, um die Verschwundenen zu lokalisieren. Auch wenn es diese punktuelle Sichtbarkeit der Repressionspraxis gab, so konstatiert auch Águila, basierte die Strategie des Militärs im Wesentlichen auf der Geheimhaltung des Verschwindenlassens und dem Negieren ihres unrechtmäßigen Vorgehens gegen politische Gegner*innen. Zur Umsetzung der Repressionsstrategie schufen Militär und staatliche Sicherheitsorgane ein verzweigtes Netz von geheimen Haft- und Folterstätten.5 Entweder wurden bestimmte Orte eigens zu diesem Zweck hergerichtet, wie leerstehende Werkstätten oder Wohnhäuser, oder es wurde auf bestehende Einrichtungen und Gebäude, wie Militärkomplexe oder Polizeistationen, zurückgegriffen. Diese bereits bestehenden, öffentlich bekannten Orte des militärischen und staatlichen Sicherheitsapparats erhielten somit eine geheime Zusatzfunktion in der Repressionspraxis des Verschwindenlassens.6 Bereits kurz nach dem Ende der Diktatur konnte im Zuge der Ermittlungen der CONADEP die Existenz von wenigstens 340 geheimen Foltergefängnissen nachgewiesen werden.7 In der spanischsprachigen Forschung werden diese Foltergefängnisse in der Regel mit dem Begriff Centros Clandestinos de Detención (CCD, zu Deutsch: geheime Haftzentren) bezeichnet. Mit der Zeit konnten – mit Hilfe von Zeitzeug*innen und Menschenrechtsorganisationen – immer mehr Orte identifiziert 5 Die Organisation der Repression und der Geheimgefängnisse folgte der grundlegenden hierarchischen Untergliederung des Militärs in Armeekorps, die schon 1975 mit dem Dekret Nummer 2722 als organisatorische Basis für den ›Krieg gegen die Subversion‹ genutzt worden war. Jedem der fünf Militärkorps mit seinen Unterabteilungen wurde dabei ein Gebiet auf argentinischem Territorium (beziehungsweise ein Zuständigkeitsbereich) zugewiesen. Die territoriale Einteilung anhand der fünf Militärkorps wurde durch eine weitergehende Untergliederung in »zonas«, »subzonas« und »áreas« komplementiert. Águila 2013, S. 101. 6 Scatizza differenziert anhand von Untersuchungen Nordpatagoniens Centros Clandestinos de Detención (CCD), zu Deutsch: Geheime Haftzentren, und Centros de Detención Clandestina (CDC), zu Deutsch: Zentren der geheimen Haft. Mit dem Begriff der CDC macht er darauf aufmerksam, dass auch Orte wie Polizeiwachen – bei denen es sich nicht um geheime Orte handelt – in das Netz der klandestinen Repression eingebunden waren und eine bedeutende Rolle spielten. Er erweitert damit die grundlegende Studie von Pilar Calveiro, die die geheimen Folterstätten in ihrer Pionierstudie als »campos de concentración y exterminio« (Konzentrations- und Vernichtungslager) analysierte. Vgl. Calveiro 1998; Scatizza, Pablo: »La detención clandestina más allá de los ›campos de concentración‹. Aportes analíticos a una clave explicativa canónica de la Argentina dictatorial«, Nuevo Mundo Mundos Nuevos – Cuestiones del tiempo presente, 2019, online: http://journals.openedition.org/nuevomundo/75993 (abgerufen am 10. Februar 2020), insbesondere S. 3f und S. 10ff. 7 Vgl. Nunca más. Informe de la Comisión Nacional sobre Desaparición de Personas, Buenos Aires 1984, S. 54.
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werden, die während der Militärdiktatur als geheime Haftzentren genutzt worden waren. Der 2015 veröffentliche Untersuchungsbericht des argentinischen Justizministeriums weist die Existenz von 762 geheimen Haft- und Folterstätten nach.8 Zu den größten und heute bekanntesten Foltergefängnissen gehören die Escuela Superior de Mecánica de la Armada (ESMA; Technische Schule der Marine) in Buenos Aires sowie die Geheimgefängnisse La Perla in der Provinz Córdoba und El Vesubio im Großraum Buenos Aires (La Matanza).9 Die vollumfängliche, systematische Nutzung von geheimen Haftzentren als zentrales Element der Repressionspraxis erfolgte nach dem Putsch 1976, nachdem Vorläufer bereits im Zuge des so genannten ›Kampfes gegen die Subversion‹ in den Jahren zuvor existiert hatten. Die überwiegende Mehrheit dieser geheimen Haftzentren wurde bis etwa 1979 genutzt. Etliche von ihnen wurden im Vorfeld von Ereignissen wie der 1978 in Argentinien ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft oder dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) 1979 geräumt und zerstört, um die Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur zu vertuschen.10 Es gab durchaus Militär- und Polizeiaktionen, die – anders als die Praxis des Verschwindenlassens – über die Presse gezielt öffentlich gemacht wurden, um der Bevölkerung Erfolge im ›Kampf gegen die 8 Vgl. Ministerio de Justicia y Derechos Humanos de la Nación/Secretaría de Derechos Humanos (Hg.): Informe de Investigación sobre Víctimas de Desaparición Forzada y Asesinato, por el accionar represivo del Estado y centros clandestinos de detención y otros lugares de reclusión clandestina – Anexo V: Listado de centros clandestinos de detención y otros lugares de reclusión ilegal del terrorismo de Estado en la Argentina entre 1974 y 1983, Buenos Aires 2015; online https://www.argentina.gob.ar/sites/default/files/6._anexo_v_listado_de_ccd-in vestigacion_ruvte-ilid.pdf (abgerufen am 11. Februar 2021). In diesem Bericht wird darauf hingewiesen, dass für den Beginn der Repressionspraxis des Verschwindenlassens kein spezifisches Datum festgelegt werden kann, da bereits vor dem Militärputsch 1976 Menschen im Zuge von Polizei- und Militäroperationen heimlich verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Deswegen umfasst der Berichtszeitraum die Jahre 1974 bis 1983. 9 Sie werden alle als Centros Clandestinos de Detención (CCD) bezeichnet. Der Bericht legt für die Centros Clandestinos de Detención folgende Definitionsmerkmale zu Grunde: a) Klandestinität und Geheimhaltung in Bezug auf die Nutzung der Orte b) andauernde Nutzung c) Installationen, die speziell zur dauerhaften Unterbringung einer größeren Zahl an Gefangenen gebaut oder adaptiert wurden d) Durchführung von systematischen Verhören an diesen Orten unter Anwendung von Folter durch die Spezialeinheiten (»grupos de tareas«) e) Ermordung der Gefangenen und Beseitigung ihrer sterblichen Überreste ausgehend von diesen Orten oder ebendort (S. 1575). Neben den CCD definiert der Bericht als weitere Orte der systematischen Repression geheime Gelegenheits-Haftzentren beziehungsweise Unterstützungspunkte (CCD de funcionamiento eventual o puntos de apoyo), die punktuell genutzt wurden. Zu diesen Orten gehören unter anderem viele Einrichtungen der Sicherheitskräfte und Polizeiwachen. Dort wurden Verschleppte ausnahmsweise und vorübergehend gefangen gehalten, bevor sie in andere geheime Haftzentren verbracht wurden. Ebd., S. 1576. Diese Kategorisierung entspricht der von Scatizza vorgenommenen Unterscheidung, allerdings bezieht er sie nicht in seine regionale Analyse ein. Vgl. Scatizza 2019. 10 Vgl. Águila 2013, S. 107.
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Subversion‹ zu präsentieren. Dabei legten die Militärmachthaber großen Wert darauf, ihr Agieren als legales Vorgehen in einem gesicherten rechtsstaatlichen Rahmen erscheinen zu lassen.11 Für die Angehörigen der Verschwundenen sowie kritische Journalist*innen war es ausgesprochen schwer, auf die Repression und das Phänomen der desaparecidos aufmerksam zu machen. Insbesondere im ersten Jahr nach dem Putsch war das öffentliche Sprechen über desaparecidos nicht möglich, für die Öffentlichkeit existierte das Phänomen der Verschwundenen nicht. Schindel zeigt anhand ihrer Analyse der argentinischen Presse auf, dass ein qualitativer Wandel hinsichtlich der Grenzen des Sagbaren bezüglich der desaparecidos erst im März und April 1977 erfolgte.12 Gerade angesichts der allgemein extrem begrenzten Artikulationsmöglichkeiten in der Menschenrechtsfrage gewannen die öffentlichen Äußerungen der Bischofskonferenz bezogen auf das Thema Menschenrechte im Zeitraum bis Mitte 1977 an Bedeutung, da sie durch die hohe Legitimität ihrer Sprecherposition – im Verhältnis zu vielen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen – erweiterte Artikulationsmöglichkeiten hatten. Somit gehören die Verlautbarungen der Bischöfe vom Mai 1976 und vom Mai 1977 zu den relevanten Diskursereignissen in der ersten Phase nach dem Putsch. Beide lieferten einen bedeutenden Beitrag zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Militärmachthaber und die Frage der Menschenrechtsverletzungen. Mit ihren Dokumenten versuchte die Institution Kirche, vertreten durch die Conferencia Episcopal Argentina (CEA), die argentinische Bischofskonferenz, ihre offizielle Position zu Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur autoritativ festzuschreiben und zu fixieren.13 Da es jedoch sehr unterschiedliche 11 Vgl. Águila 2013, S. 104. 12 Vgl. Schindel 2012, S. 218f. 13 Die argentinische Bischofskonferenz, Conferencia Episcopal Argentina (CEA), repräsentiert die katholische Kirche in Argentinien. Oberstes Gremium der CEA ist die Vollversammlung der argentinischen Bischöfe, die Asamblea Plenaria, die alle Mitglieder der CEA umfasst. Dazu gehören die Diözesanbischöfe (eines Bistums oder Erzbistums) und die Titularbischöfe sowie die Koadjutoren und jene Titularbischöfe, die im Auftrag des Vatikans oder der CEA dauerhaft auf argentinischem Gebiet tätig sind, die Geweihten nicht-lateinischer Riten mit episkopalem Charakter sowie die Verwalter vakanter Bistümer. (AICA (Hg.): Guía Eclesiástica Argentina, Buenos Aires 1992, S. 29). Die Bischofskonferenz setzt sich somit im Wesentlichen aus den Inhabern von Leitungsfunktionen auf Diözesanebene zusammen. Zwei Mal im Jahr tritt die Vollversammlung der argentinischen Bischöfe zusammen. Auf den Plenarsitzungen der Asamblea Plenaria werden die offiziellen Dokumente der Bischofskonferenz beraten, abgestimmt und die Ämter der CEA besetzt. Von 1976–1982 hatte Kardinal Raúl Francisco Primatesta, Erzbischof von Córdoba, das Amt des Präsidenten der CEA inne. 1982 trat Kardinal Juan Carlos Aramburu, Erzbischof von Buenos Aires, dessen Nachfolge an. Die katholische Kirche in Argentinien ist territorial in Erzbistümer und Bistümer gegliedert und weist durch das große Territorium des argentinischen Nationalstaats eine vergleichsweise große Zahl an Diözesen auf. 1976 gab es in Argentinien 12 Erzbistümer und 41 Bistümer, bis 1983 kamen vier Bistümer durch Neugründungen hinzu. Die Gesamt-
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Meinungen dazu gab, wie die Kirche sich zur Militärjunta und der von ihr verübten Repression stellen sollte, war der Inhalt dieser Dokumente hochgradig umkämpft. An den Auseinandersetzungen beteiligten sich nicht nur die in der Bischofskonferenz versammelten Bischöfe, sondern auch Akteur*innen des religiösen wie des politischen Felds, wenn es darum ging, im Vorfeld implizite oder explizit formulierte Erwartungen an die Bischöfe heranzutragen oder die Bischofsworte nach ihrer Veröffentlichung zu deuten und für die jeweils eigenen Positionen nutzbar zu machen. Gerade die unterschiedlichen Rezeptionsweisen zeigen, dass es sich bei den letztlich veröffentlichten Texten des Episkopats immer um Versuche einer Bedeutungsfixierung durch einen intentionalen Sprechakt handelte, der jedoch nie abschließend sein konnte, da die Deutung der final herausgegebenen Texte ebenso umkämpft war wie ihre Formulierung im Entstehungsprozess. Neben der allgemeinen Relevanz der Rezeption für den sozialen Gebrauch von Texten verweisen die unterschiedlichen zeitgenössischen Lesarten der Bischofsdokumente auf die spezifische Ambiguität dieser Texte. Diese war ein Resultat der inneren Heterogenität der Bischofskonferenz und des normativen Selbstverständnisses, als eine Einheit zu sprechen und die Einheit ›der Kirche‹ zu verkörpern. Aufgrund der großen Diversität unter den Bischöfen war dieser Anspruch letztlich nicht einlösbar, so dass mit den Dokumenten eine Konsensfassade geschaffen wurde, um dem eigenen Selbstverständnis Genüge zu tun. Diese war jedoch nicht hermetisch, sondern von Fissuren und Ambivalenzen zahl der argentinischen Bischöfe (Diözesan- und Titularbischöfe) ist im Statistischen Jahrbuch der Katholischen Kirche für 1983 mit 91 beziffert, für das Jahr 1976 wurden keine Angaben zur Gesamtzahl der Bischöfe gemacht, im Jahr 1978 waren es 89 Bischöfe insgesamt. In Chile gab es im selben Zeitraum unverändert 14 Bistümer und 5 Erzbistümer, für 1983 weist das Statistische Jahrbuch 39 Bischöfe aus. (Rationarium Generale Ecclesiae (Hg.): Annuarium statisticum Ecclesiae 1976/1978/1983, Città del Vaticano.) Ein weiteres Gremium der CEA ist die Comisión Ejecutiva, die aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und einem Generalsekretär besteht. Sie beruft die Asamblea Plenaria ein und leitet sie. Zudem ist sie für die Klärung dringlicher Angelegenheiten zwischen den Vollversammlungen zuständig. Die Comisión Ejecutiva ist als Ganze Teil der Comisión Permanente, die für die Umsetzung der Beschlüsse der CEA sorgt, die Kontinuität zwischen den Vollversammlungen der Bischöfe sicherstellt und die Tagesordnung der halbjährlichen Bischofstreffen festlegt. Neben den Bischöfen der Comisión Ejecutiva sind die Erzbischöfe als Vertreter der argentinischen Kirchenprovinzen Teil der Comisión Ejecutiva. Zudem bildet die CEA unterschiedliche Comisiones Pastorales oder Equipos Pastorales, um spezifische pastorale Aufgaben wahrzunehmen, wie beispielsweise die Comisión Episcopal de la Familia. (vgl. Fabris 2011, S. 35f.) Im Untersuchungszeitraum 1976 nahm die Zahl der Diözesanpriester, Ordensgeistlichen und Ordensfrauen in Argentinien insgesamt zu. 1976 waren 4934 Priester auf argentinischem Gebiet tätig, davon 2255 in Bistümern und 2679 in Ordensgemeinschaften. 1983 stieg die Gesamtzahl der Priester auf 5496 (Ordensklerus 2908, Diözesanpriester 2588). Die Zahl der Ordensfrauen stieg von 12.078 im Jahr 1976 auf 12.709 im Jahr 1983. (Ecclesia Catholica/ Rationarium Generale Ecclesiae (Hg.): Annuarium statisticum Ecclesiae 1976/1983, Città del Vaticano.).
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gezeichnet, die bei genauem Hinsehen auf interne Deutungskämpfe und Aushandlungsprozesse zurückverweisen. Selbst logische Widersprüche konnten in ein- und demselben Dokument nebeneinander Bestand haben, so dass diametral entgegengesetzte Positionen in die Bischofsdokumente integriert wurden, ohne dass notwendigerweise eine inhaltliche Kohärenz geschaffen worden wäre. Deswegen sind die Bischofsdokumente nicht so sehr das Ergebnis eines »doppelten Spiels«14 oder einer kollektiv verfolgten »diskursiven Strategie«15 der Bischöfe, sondern das Ergebnis der inneren Heterogenität des Bischofskollegiums und der konfliktiven Aushandlungsprozesse in den Vollversammlungen der Bischöfe. Die bisher nicht wissenschaftlich untersuchten internen Vorgänge während der Plenarsitzungen im Mai 1976 und 1977 werden hier anhand der Notizen der Bischöfe Nevares und Devoto aus den jeweiligen Bischofskonferenzen sowie der Vorversionen der später veröffentlichten Dokumente rekonstruiert. Die zeitgenössische Rezeption liefert ebenfalls einen Hinweis auf die in den Schriftstücken vorhandene Ambiguität, da sie verschiedene Deutungen erkennen lässt, die sich auf unterschiedliche Aussagen des Texts bezogen. Auf diese Art und Weise war in den Dokumenten selbst bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit unterschiedlicher Lesarten bereits angelegt, was jedoch nicht bedeutet, dass damit eine oder mehrere Lesarten determiniert worden wären, sondern lediglich, dass es sich um die anhand von Tagespresse und katholischen Zeitschriften feststellbaren, divergierenden Deutungen der Zeitgenoss*innen handelte. Oftmals stellten die verschiedenen Lesarten bestimmte Aspekte der offiziellen Bischofsdokumente in den Vordergrund. Um die Deutungskämpfe und Aushandlungsprozesse im Zusammenhang mit den Dokumenten vom Mai 1976 und vom Mai 1977 sichtbar werden zu lassen, werden deshalb nicht nur die Dokumente selbst, sondern auch die Genese und die Rezeption der Dokumente analysiert, da die offiziellen Verlautbarungen des Episkopats nicht als absolut begriffen werden, sondern als umkämpfter, autoritativer Versuch einer Fixierung von Bedeutung. Aus dieser Perspektive lässt sich nachvollziehen, warum sich das Dokument des Episkopats vom Mai 1976 mit dem Begriff der Menschenrechte einer in diesem historischen Moment eher unwahrscheinlichen Semantik bediente, warum es von Zeitgenoss*innen als außergewöhnlich wahrgenommen wurde und wie das Thema Menschenrechte überhaupt Eingang in dieses Dokument fand. In ähnlicher Weise beleuchtet dieses Kapitel für das Dokument der Bischöfe vom Mai 1977, wie es zu dieser – für den argentinischen Episkopat, der mehrheitlich als regimestützend gilt – relativ starken Kritik an den Menschenrechtsverletzungen kam. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwiefern diese Kritik 14 Verbitsky 2006. 15 Obregón 2005, S. 103.
Menschenrechte und Repression im Bischofsdokument vom Mai 1976
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zeitgenössisch wahrgenommen und in der Menschenrechtsdebatte aufgegriffen wurde. Bisher dominiert in der Forschung bei der Betrachtung der Bischofsdokumente eine ex post Perspektive, die vor allem eine unzureichende Artikulation des Episkopats in Sachen Menschenrechte in den Vordergrund stellt, ohne zu berücksichtigen, dass solche Äußerungen angesichts der Mehrheitsverhältnisse im argentinischen Episkopat und der großen Nähe vieler tonangebender Bischöfe zum Militär zum damaligen Zeitpunkt nicht unbedingt wahrscheinlich waren. Mit der detaillierten Analyse, die neben den Dokumenten Genese und Rezeption berücksichtigt, wird nicht zuletzt der Deutungskampf um die offizielle Positionierung der Institution Kirche als Prozess sichtbar gemacht und die historische Darstellung mit einer größeren Tiefenschärfe versehen.
2.1
Menschenrechte und Repression im Bischofsdokument vom Mai 1976
Das erste Pastoraldokument der argentinischen Bischofskonferenz nach dem Militärputsch vom 24. März 1976 wurde am 15. Mai 1976, unmittelbar nach der fünf Tage andauernden Vollversammlung der Bischöfe, zunächst ohne offiziellen Titel veröffentlicht und später mit dem Titel País y bien común versehen.16 Ein Blick in die Tagespresse sowie in die katholischen Publikationen zeigt, dass diese Zusammenkunft des nationalen Episkopats mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt und die Publikation eines Bischofsdokuments über die aktuelle politische Lage in Argentinien mit Spannung erwartet wurde.17 Ein weiterer Faktor für die erhöhte Aufmerksamkeit lag in den anstehenden Wahlen des Episkopats, bei denen nicht nur die Kommissionen der Bischofskonferenz neu besetzt, sondern auch ihr Präsident gewählt wurde. Anhand der Entscheidung über die Leitungsfunktion des höchsten Gremiums der katholischen Kirche auf nationalstaatlicher Ebene erhofften sich viele einen Hinweis auf die Positionierung der gesamten argentinischen Kirche und eine Auskunft über deren zukünftige Entwicklung. Die besondere Bedeutung, die dem Bischofsdokument von den Zeitgenoss*innen 16 Contribución a la recuperación y salvación de la Argentina, in: AICA-DOC 57, Suplemento del Boletín AICA 1030 (20. Mai 1976), im Folgenden zitiert als CEA-DOC Mai 1976. 17 So schrieb beispielsweise La Razón: »Es previsible que al término de la labor los obispos den a conocer una declaración que fije la posición de la Iglesia y sintetice al mismo tiempo, en forma armónica, los puntos de vista ya expuestos por varios prelados de distintas regiones de la República en torno a temas de palpitante actualidad.« (»Es ist vorherzusehen, dass die Bischöfe mit Beendigung ihrer Arbeit eine Deklaration bekannt machen, die die Position der Kirche fixiert und zugleich, in harmonischer Art und Weise, die bereits von verschiedenen Prälaten aus verschiedenen Regionen der Republik dargelegten Sichtweisen in Bezug auf brennende Themen der Gegenwart synthetisiert.« ); La Razón, 10. Mai 1976, Delibera el episcopado.
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zugeschrieben wurde, äußerte sich unter anderem in der weiten Verbreitung des gesamten Texts. Nicht nur im katholischen Mitteilungsblatt AICA (Agencia Informativa Católica Argentina), das üblicherweise über für die katholische Kirche wichtige Ereignisse berichtete und kirchliche Dokumente veröffentlichte, sondern auch in vielen anderen katholischen Publikationen wurde das Schriftstück vollständig abgedruckt.18 Auch über die Tagespresse war der vollständige Text des Dokuments zugänglich.19 Das Dokument der Bischofskonferenz hielt Gedanken zur politischen Lage in Argentinien fest und lieferte Reflexionen zum Handeln sowohl der Regierenden als auch der Individuen vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse. Der Text richtete sich dabei nicht nur an Katholiken, sondern war an »alle Argentinier« adressiert, von denen – so die Bischöfe – keiner frei von Verantwortung sei und ein jeder die Pflicht habe, zur »Wiederherstellung und Rettung Argentiniens«20 beizutragen. Mit der Ansprache an alle Argentinier und den Einlassungen zur politischen Situation überschritten die Bischöfe die Grenzen des religiösen Felds und begaben sich auf das politische Feld. Die Schwierigkeiten, die eine solche Intervention sowohl im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis als auch in Bezug auf die Außenwirkung der Institution Kirche bergen konnte, war den Bischöfen mehrheitlich bewusst. Deshalb bemühte sich der Text, die Äußerung der Bischöfe an sich zu legitimieren und ihre Positionierung von der Sphäre des Politischen abzugrenzen. Dazu beriefen sich die Kleriker auf die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes als autoritativen Text, der eine prinzipielle Trennung der kirchlichen Aufgaben von der Sphäre des Politischen konstatierte.21 Diese sehr dezidierte Abgrenzung zeigt, wie die Institution Kirche sich als kollektiver Akteur immer wieder im Grenzbereich zwischen dem religiösen und dem politischen Feld bewegte und dass Grenzüberschreitungen sowohl aus der Innen- als auch der Außenperspektive nicht uneingeschränkt als legitim und wünschenswert eingestuft wurden.22 Gleichzeitig zeigten solche Abgrenzungsbemühungen, 18 So beispielsweise Los obispos hablan de la patria, in: Pan y Trabajo 71 (Juni 1976). Einen redaktionellen Beitrag gab es nicht. 19 Siehe beispielsweise La Opinión, 16. Mai 1976, Definen los obispos el deber de cada sector – En un lúcido documento sobre el proceso. 20 CEA-DOC Mai 1976, »recuperación y salvación de la Argentina«. 21 Ebd., »la Iglesia […] por razón de su misión y de su competencia no se confunde en modo alguno con la comunidad política ni está ligada a sistema político alguno« (»die Kirche vermischt sich auf Grund ihrer Mission und ihren Kompetenzen in keiner Weise mit der Politik noch ist sie mit irgendeinem politischen System verbunden«). Betont wurde dies auch von Kardinal Primatesta in einem Interview, in dem er sagte, dass die Kirche keine politische Wertung vornehme, La Opinión, 16. Mai 1976, Crecimiento implica crisis, dijo Primatesta. 22 Darauf deutet auch der Kommentar in Criterio hin, der ebenfalls konstatiert, die Kirche würde die Grenzen des religiösen Feldes nicht überschreiten: »Los obispos no se exceden un centímetro en los límites de su misión, que, como ellos mismos dicen, no es ni técnica, ni política, sino religiosa.« (»Die Bischöfe überschreiten nicht einen Zentimeter die Grenzen
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dass die Einhaltung dieser imaginären, normativ eingezogenen Grenze keinesfalls für selbstverständlich gehalten wurde. Aus historischer Perspektive lässt sich allerdings feststellen, dass die enge Verflechtung zwischen Religion und Politik eines der herausragendsten Merkmale der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Insofern war es nicht ungewöhnlich, dass sich die Bischöfe kollektiv zu bedeutenden politischen Fragen äußerten. Ungewöhnlich hingegen war an diesem Dokument des Episkopats zum einen, dass es die Repression bereits zwei Monate nach dem Putsch thematisierte und zum anderen, dass dies in der Semantik der Menschenrechte geschah – sofern man Barros’ Untersuchung über die Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses folgt, die besagt, dass die Semantik der Menschenrechte weder in der politischen Kultur vor noch in der Zeit unmittelbar nach dem Putsch eine Rolle spielte. Sie wurde für die Angehörigen der desaparecidos laut Barros erst nach einiger Zeit mittels des internationalen Diskurses über Menschenrechte »verfügbar«23. Aber entgegen dieser Annahme eines erst späteren, von außerhalb kommenden Sprechens über Menschenrechte bediente sich die Institution Kirche bereits im Mai 1976 der Semantik der Menschenrechte, obwohl Menschenrechte auch für die argentinische Kirche bis dato keine relevante Bezugsgröße in den offiziellen Dokumenten der Bischofskonferenz waren, wenn es um politisch motivierte oder staatlich verübte Gewalt ging.24 Insofern stellt sich vor dem Hintergrund der Kontingenz des historischen Augenblicks die Frage, wie und warum diese spezifische Art und Weise, das Gewaltgeschehen zu konzeptualisieren, zur offiziellen Positionierung der Bischofskonferenz wurde, da es der bisherigen Forschung zufolge für keinen Akteur in Argentinien wahrscheinlich oder naheliegend war, zu diesem Zeitpunkt von Menschenrechten zu sprechen. Hinzu kommt, dass die konservativen Bischöfe im argentinischen Episkopat die Mehrheit stellten und ihrer Mission, die, wie sie selbst sagen, weder technisch noch politisch ist, sondern religiös.«), La asamblea del Episcopado, in: Criterio 1740 (27. Mai 1976). 23 Barros, Mercedes María: Discourse of Human Rights. Emergence and Constitution of Human Rights Movement in Argentina, Villa María 2011, S. 260f. 24 Die CEA äußerte sich auch vor dem Putsch 1976 schon zu Phänomenen der politischen Gewalt, darunter auch solche, die aus heutiger Perspektive als Menschenrechtsverletzungen bezeichnet werden, wie Folter und staatliche Repression. Die Semantik der Menschenrechte kommt in diesem Zusammenhang jedoch nicht vor. In Bezug auf andere Fragen wie beispielsweise das Recht der Kirche, Bildungsanstalten zu unterhalten, taucht der Begriff der Menschenrechte auf und es wird ein Bezug zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hergestellt. Für die Zeitgenoss*innen scheint es einen signifikanten Unterschied zwischen der Rede von den Menschenrechten und der Würde des Menschen gegeben zu haben. Rubén Dri zitiert den apostolischen Nuntius Pio Laghi, der sagte, er spreche lieber von der Würde des Menschen als von den Menschenrechten, weil der Begriff der Menschenrechte schnell für Unruhe sorgen könne. Das ist deshalb interessant, weil daran deutlich wird, dass es zur Semantik der Menschenrechte eine klare Alternative gab, die jedoch im Mai 1976 von den Bischöfen nicht genutzt wurde. Dri 1987, S. 219.
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die Zahl der für die Menschenrechte engagierten Bischöfe auf höchstens fünf beziffert wird.25 Bei Betrachtung der im Bischofsdokument getätigten Aussagen zu Menschenrechten fällt auf, dass Äußerungen nebeneinanderstehen, die einen logischen Widerspruch darstellen. Sie sind in ihrer Widersprüchlichkeit der deutlichste Ausdruck der Ambiguität episkopaler Dokumente, die gerade durch solche Polyvalenzen auf der Ebene der Aussagen anschlussfähig für vielfältige und teils widerstreitende Deutungen wurden. Der fragliche Abschnitt aus dem Dokument vom Mai 1976 vereinte sowohl das Postulat der universellen Gültigkeit der Menschenrechte als auch die Feststellung, dass eine situativ bedingte Abwandlung und sogar Einschränkung der Menschenrechte notwendig sein könne: »Das Gemeinwohl und die Menschenrechte sind permanent, unveräußerlich, und jederzeit und überall gültig, ohne dass ein Notfall, so schwerwiegend er auch sein möge, das Recht verleiht, sie zu ignorieren; aber die Form sie zu leben ist unterschiedlich, entsprechend den Variationen des Orts und des historischen Moments, in dem sie ausgeübt werden. Die Einflüsse der äußeren Bedingungen sind umso spürbarer, je schwerwiegender die Situationen sind, so wie die, die Argentinien heute durchlebt, in ein finanzielles Desaster gestürzt, an schwersten ökonomischen Problemen leidend und ein Klima der Gewalt erlebend, von dem es nicht nötig ist, es detailliert zu beschreiben. Unter diesen Bedingungen können wir nicht vernünftigerweise den Genuss des Gemeinwohls und eine volle Ausübung der Rechte beanspruchen, wie in Zeiten des Überflusses und des Friedens.«26
Für die Deutung dieses Absatzes war entscheidend, wie die logisch widersprüchlichen Äußerungen zueinander in Beziehung gesetzt und welche Aspekte in den Vordergrund gestellt wurden. Hinzu kommt die Art und Weise, wie diese Elemente mit den folgenden Äußerungen der Bischöfe verknüpft wurden, die besagten, dass in der aktuellen Lage unbeabsichtigt Irrtümer begangen werden könnten und die Bischöfe daher um das größtmögliche Verständnis für die Irrtümer des jeweils anderen bitten würden.27 Die Rede von »Irrtümern« impli25 Vgl. Obregón 2005, S. 72ff. 26 CEA-DOC Mai 1976, »El bien común y los derechos humanos son permanentes, inalienables y valen en todo tiempo-espacio concreto, sin que ninguna emergencia, por aguda que sea, autorice a ignorarlos; pero la forma de vivirlos es distinta, según las variaciones de lugar y momento histórico en el cual se ejercen. Esas influencias de las condiciones externas serán tanto más sensibles, cuanto más agudas sean las situaciones, como las que hoy vive la Argentina, sumergida en un desastre financiero, sufriendo fortísimas dificultades económicas y viviendo un clima de violencia física, que es innecesario detallar. En tales condiciones no podemos razonablemente pretender un goce del bien común y un ejercicio pleno de los derechos, como en época de abundancia y de paz.«. 27 Ebd., »En un momento tan difícil, creemos que nuestra misión es pedir a cada uno el cumplimiento estricto de su deber y a cada uno, también, la máxima comprensión y tolerancia hacia los errores involuntarios del otro.« (»In einem so schweren Moment glauben wir,
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ziert, dass das so bezeichnete Agieren weder als intentional gedacht wurde noch eine vollumfängliche Verantwortung dafür angenommen werden konnte. Jedoch fiel laut dem Bischofsdokument nicht jedes Handeln unter das Konzept der »unbeabsichtigten Irrtümer«. Ganz deutlich grenzte der Text sogenannte »Sünden« von »Irrtümern« ab, welche im Gegensatz zu den »Irrtümern« vollständig delegitimiert wurden. Als »Sünde« bezeichnete das Dokument der Bischöfe sowohl eine grenzenlose Ausbeutung, die andere Hunger leiden lässt, als auch das Morden, mit oder ohne vorangegangene Entführung und unabhängig davon, auf welcher Seite der Mörder stehe. Beides verurteilte der Episkopat mit seinem Dokument unmissverständlich. Mit der hier noch vagen Verortung der Akteure im Gewaltgeschehen in unterschiedlichen Lagern ist in der Anlage bereits eine Aussage bezüglich der Täterschaft getroffen, die später unter dem Schlagwort der ›dos demonios‹ (›zwei Dämonen‹) bekannt wurde. Marina Franco setzt sich eingehend mit diesem Narrativ auseinander und legt dar, dass in der Regel eine Erzählung über Ursache und Schuld konstruiert wurde, in der linke GuerillaAnhänger für den Ausbruch der Gewalt in den 70er-Jahren verantwortlich waren und somit letztlich auch für die Repression, die in Reaktion auf diese GuerillaGewalt ausgeübt wurde. Ein weiteres zentrales Element ist die Idee, dass es sich ›auf beiden Seiten‹ um Kräfte gehandelt habe, die außerhalb der Gesellschaft standen, so dass die Gesellschaft keinerlei Verantwortung für das Gewaltgeschehen trug, sondern zum Opfer der ›zwei Dämonen‹ wurde.28 Die Äußerungen der Bischöfe sind eng mit dem Narrativ des ›schmutzigen Krieges‹ verknüpft, da die Bischöfe die Vorstellung von Gegnern evozierten, die in gleicher Weise am Konflikt beteiligt waren, statt eine fundamentale Unterscheidung zwischen der Gewaltausübung staatlicher Sicherheitskräfte und der politischen Gewalt von Guerillagruppen zu treffen. Ebenso wenig wird in dem Dokument die Täterschaft des Militärs und der ihm unterstehenden Polizei- und Sicherheitseinheiten eindeutig benannt oder gar eine Systematik in der Repression konstatiert, obwohl die Phänomene, die diese Repression hervorbrachte, durchaus benannt wurden. Stattdessen finden sich im Text der Bischöfe unterschiedliche Passagen, die im Sinne einer Legitimierung des Vorgehens der Militärs gedeutet werden können, so insbesondere, wenn die Bischöfe davon sprachen, man irrte, würde man beanspruchen, dass die Sicherheitskräfte mit der gleichen chemischen Reinheit dass es unsere Mission ist, von jedem die strikte Einhaltung seiner Pflicht zu erbitten und auch maximales Verständnis und maximale Toleranz gegenüber den ungewollten Fehlern des Anderen.«). 28 Franco ist der Ansicht, dass es keine kohärente ›Theorie der zwei Dämonen‹ gibt, sondern vielmehr ein heterogenes Narrativ, das die Existenz der genannten Deutungsschemata postuliert. Vgl. Franco, Marina: »La ›teoría de los dos demonios‹: un símbolo de la posdictadura en la Argentina«, A Contracorriente, Jg. 11, H. 2 (2014), S. 22–52.
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operierten wie in Friedenszeiten.29 In dieser Äußerung ist ebenfalls die Legitimationsfigur des ›schmutzigen Krieges‹ enthalten, der sich die Junta bediente, um Repressionsmaßnahmen zu rechtfertigen. Derartige Diskursfragmente lassen sich nahtlos in den offiziellen Diskurs der Militärjunta einfügen und machen erneut die in der Forschung vielfach konstatierte ideologische Nähe eines Großteils der Bischöfe zum Militär deutlich. Auch die Aussagen bezüglich der Rolle des Militärs im Gewaltgeschehen, das durch den Putsch die Staatsaufgaben übernommen hatte, lassen unterschiedliche Deutungen zu. So kann der Verweis auf die fehlende Präzision in der Repression dahingehend interpretiert werden, dass staatliches Agieren als Ursache für etliche der beobachteten Gewaltphänomene und Menschenrechtsverletzungen gesehen wurde. Die Aussage, der Staat werde seiner Aufgabe nicht gerecht, wenn er bloßer Zuschauer der Gewaltakte sei, kann hingegen so verstanden werden, dass er zu diesem Zeitpunkt im Gegenteil eben nicht für einen Akteur des Gewaltgeschehens gehalten wurde. Zugleich kann diese Äußerung aber auch als Legitimierung des Militärputschs im Sinne einer zwingenden Notwendigkeit zur Intervention in das politische Geschehen gedeutet werden. Wesentlich für die Deutungsoffenheit bezüglich der Täterschaft ist nicht zuletzt die Unbestimmtheit des verwendeten Gewaltbegriffs. Gewalt konnte sowohl die politische Gewalt von Guerillagruppen als auch politische Morde sowie illegal durch staatliche Sicherheitskräfte ausgeübte Repression inklusive Folter und Verschwindenlassen bedeuten. Einen hohen Grad an Konkretion hingegen wies das Dokument auf, als es – subsumiert unter die möglichen »Irrtümer«30 – Phänomene der Repression benannte. So würde man den Bischöfen zufolge irren, wenn es im Bestreben, für Sicherheit zu sorgen, zu willkürlichen Verhaftungen nicht nachvollziehbarer Dauer, zu Unkenntnis über den Verbleib der Gefangenen, zu Insolationshaft von ungewöhnlicher Dauer und zum Verweigern religiösen Beistands käme. Der konkreten Benennung der Missstände steht der Gebrauch des Subjunktivs als Möglichkeitsform gegenüber, der offen ließ, inwiefern es sich um Tatsachen handelte, über die auf der Basis gesicherten Wissens gesprochen wurde, oder um potentielle ›Irrtümer‹, die zwar im Bereich des Möglichen angesiedelt, aber nicht im Bereich des Faktischen verortet wurden. Es handelte sich deshalb nicht um ein autoritatives Postulat eines gesicherten Wissensbestands, das den Betroffenen eine uneingeschränkte Bestätigung ihrer Realitätserfahrung geliefert hätte. Aber trotz der mit dieser spezifischen Semantik verbundenen Unsicherheit über den Realitätsgehalt des Gesagten wurde es zumindest in den Bereich des Möglichen gerückt und nicht als völlig außerhalb des Wahren liegend gedeutet. Auf diese Weise barg diese Formulierung trotz der deutlichen semantischen Abschwä29 CEA-DOC Mai 1976. 30 Ebd.
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chung durch den spanischen Subjunktiv die Möglichkeit, sie als Aussage über eine konkrete Realität zu lesen.31 Zugleich wurden die genannten Missstände als ›Irrtümer‹ angesprochen, so dass sie nicht als Bestandteil einer systematischen Repression außerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens interpretiert wurden, sondern gewissermaßen als ›Versehen‹, für das keine klare Verantwortlichkeit ausgemacht werden konnte. Außerdem berief sich der Episkopat auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und verlangte die Einhaltung legitimer Verfahren. So sprach das Dokument davon, dass es sich um einen Fehler handeln würde, wenn die verfassungsmäßigen Garantien und das Recht auf Verteidigung außer Kraft gesetzt werden würden. Sowohl der Bezug auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien wie auch die Formulierung, dass die oben genannten ›Fehler‹ im Bestreben begangen werden könnten, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen, verwies implizit auf staatliche Akteure. Deshalb konnte das Dokument trotz der vorsichtigen Formulierungen und dem häufigen Gebrauch von Möglichkeitsformen auch als Kritik an der Militärregierung gelesen werden.
2.2
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Die parallelen Aufzeichnungen aus der Hand zweier Bischöfe, Alberto Devoto und Jaime de Nevares, die das Geschehen in der Bischofskonferenz jeweils in einer Art persönlichem Verlaufsprotokoll festhielten, liefern wichtige Informationen zum Prozess, an dessen Ende das Dokument der Bischöfe publiziert wurde. Aus ihrer Analyse ergibt sich, dass zu Beginn der Bischofskonferenz am Nachmittag des 10. Mai 1976 kurz nach der Eröffnung der Vollversammlung der Bischofskonferenz zunächst über die Veröffentlichung eines Dokuments verhandelt wurde. In den von Bischof Alberto Devoto archivierten Unterlagen finden sich mehrere Entwürfe für das letztlich veröffentlichte Bischofsdokument. Sie lassen sich eindeutig in zwei völlig unterschiedliche Serien unterteilen, das heißt, es gibt einen ersten Entwurf, von dem die zweite Fassung überliefert ist (A-2), und drei Versionen eines zweiten, gänzlich anderen Entwurfs, der die Grundlage des endgültigen Texts bildete (B1-3). Die überlieferte Version A-2 war im Vergleich zur Serie B wenig aussagekräftig in Bezug auf die aktuellen Geschehnisse nach dem Putsch, insbesondere die Repression betreffend, und in einem abstrakten, schwer verständlichen Stil abgefasst. Für das später veröf31 So beispielsweise in der Rezeption durch die vorwiegend katholisch geprägte Menschenrechtsorganisation SERPAJ und ihrer Zeitschrift Paz y Justicia. Vgl. Editorial – Por quien doblan las campanas, in: Paz y Justicia 39–40 (Juni-Juli 1976).
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fentlichte Bischofdokument hat die Versionsserie A letztlich keine Relevanz, jedoch ist sie sehr wichtig für das Verständnis der Genese des Dokuments und erlaubt Rückschlüsse auf die Verhältnisse innerhalb des Episkopats. Die Notizen sowohl von Nevares als auch von Devoto lassen darauf schließen, dass der erste Entwurf (Serie A) spätestens nach dem Bericht etlicher Bischöfe über die Repression in ihren Diözesen verworfen wurde, denn nach diesen Berichten erfolgte eine generelle Abstimmung über den ersten Entwurf in seiner zweiten Fassung (A-2), die mit 38 Stimmen non placet, 19 Stimmen placet und einer Enthaltung beschieden wurde.32 Diese erste Dokumentserie (A) ließ Verbitsky in seiner Interpretation völlig außer Acht, so dass seine Darstellung die fragliche erste Abstimmung über das Dokument fälschlicherweise auf das erste Dokument der Serie B bezieht und deshalb meint, dass es von den Bischöfen abgelehnt wurde, weil es sich zu explizit zum Thema Repression und Menschenrechte äußerte. Er ist der Ansicht, dass es in der nachfolgenden Bearbeitung so weit abgeschwächt wurde, bis es die Zustimmung der Mehrheit der Bischöfe erhielt. Die Interpretation Verbitskys ist bezogen auf eine tendenzielle inhaltliche Abschwächung der Serie B im Verlauf des Bearbeitungsprozesses zutreffend. Diese erfolgte im Wesentlichen durch den Gebrauch des Konditionals anstelle des Indikativs, so dass es beispielsweise nicht mehr hieß »man kann sich irren«, sondern »man könnte sich irren«, wenn es zu außergewöhnlich langen Verhaftungen käme. Ähnlich verhielt es sich mit der Änderung der Formulierung »es ist leicht, sich zu irren« in »es wäre leicht, sich zu irren«, wenn man »davon ausgeht, die Sicherheitskräfte operierten mit derselben chemischen Reinheit wie zu Friedenszeiten, während jeden Tag Blut fließt«33. Allerdings ignoriert Verbitsky den ersten Entwurf und damit die deutliche qualitative Veränderung von der ersten Versionsreihe A zur zweiten Versionsreihe B vollständig, die ein anderes Licht auf die Entstehung des
32 Möglicherweise gab es schon vor den Berichten die Idee, dass der Entwurf grundlegend überarbeitet werden müsse, denn Devoto notierte vor den Berichten aus den Diözesen unter anderem die Stichpunkte »Necesidad de un nuevo documento, Lectura del texto del nuevo documento« (»Notwendigkeit eines neuen Dokuments, Lesung des Texts des neuen Dokuments«) und direkt darauf: »discusión del documento« (»Diskussion des Dokuments«) und die Namen der an der Debatte beteiligten Bischöfe: Kemerer, Aguirre, Quarracino, Iriarte, Primatesta, López, Ponce, Nevares, Angelleli, Zaspe, Raspanti. Zu den Einlassungen ist nichts notiert. In den Notizen Nevares’ gibt es dazu keine Hinweise. Bezogen auf diesen Tagesordnungspunkt gestalten sich seine Aufzeichnungen deutlich knapper, er verzeichnet lediglich: »Mons. Tortolo explica el ›iter‹ del proyecto de exhortación pastoral« (»Mons. Tortolo erklärt den Fortgang des Projekts des pastoralen Dokuments«). 33 BAG, CEA Asamblea Plenaria, Carta Pastoral (Anteproyecto); CEA-DOC 1976, »Pero hay que recordar que sería fácil errar con buena voluntad contra el bien común, si se pretendiera: – que en un mes se frenara una inflación de un porcentaje de tres cifras o que en ese plazo bajasen los precios; – o que los organismos de seguridad actuaran con pureza química de tiempo de paz, mientras corre sangre cada día.«.
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Dokuments wirft und es ermöglicht, zu verstehen, warum Zeitgenoss*innen die Äußerungen der Bischöfe als unerwartet einstuften. Hier wird die These vertreten, dass die Bischofskonferenz die erste Versionsreihe (A) verwarf und es zu einer deutlichen qualitativen Veränderung kam, weil etliche Bischöfe in der Vollversammlung zur Repression in ihrer Diözese Stellung genommen hatten und so das Thema Menschenrechte in die Debatte eingebracht wurde. Dafür finden sich Belege in den Notizen der beiden Bischöfe, insbesondere in den Randnotizen Devotos am ersten Entwurf in der zweiten Fassung (A-2). Zudem liefert die Zeitschrift Criterio einen Beleg für diese Interpretation. Dort wird über die Aufnahme junger Bischöfe ins Episkopat berichtet, die nach Aussage des Kardinals Primatesta neue Erfahrungen einbrächten und damit einen wertvollen Beitrag leisteten. Criterio wertete dies positiv im Sinne einer Offenheit des Episkopats, das sich neuen oder sogar unerwarteten Perspektiven nicht verschließe und damit Neuerungen akzeptiere. Unmittelbar anschließend an diese Überlegungen zur Wandlungsfähigkeit des argentinischen Episkopats berichtete Criterio aus der Bischofsversammlung: »Zu einem gewissen Zeitpunkt der Vollversammlung, als das Abfassen des endgültigen Dokuments vorbereitet wurde, wurden die Bischöfe gebeten, auf Vorschlag eines Bischofs, dass sie, zur Veranschaulichung für die anderen, über die Erfahrungen berichten, die sie derzeit, nach dem politischen Wechsel, in ihren unterschiedlichen Diözesen machen. Es ist klar, dass dies kräftig zur Bereicherung des Texts in Vorbereitung beitrug und ihm seinen Realismus verlieh. Es ist ein weiteres Indiz des guten Funktionierens der höchsten episkopalen Institution [d. h. der Bischofskonferenz, B.R.].«34
Es ist anzunehmen, dass mindestens ein Mitarbeiter von Criterio entweder selbst als Berater in der Vollversammlung anwesend war oder Kontakte hatte, über die er Informationen zum Verlauf erhielt. Auch wenn Criterio hier nicht explizit von Repression und Menschenrechtsverletzungen sprach, wird deutlich, worauf sich die Formulierung bezog, die Bischöfe hätten von den »aktuellen Erfahrungen nach dem politischen Wechsel«35 berichtet. Wer von den Bischöfen den Vorschlag einbrachte, über die Lage in den Diözesen zu sprechen, geht nicht aus den Notizen der Bischöfe Nevares und Devoto hervor, allerdings besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es Nevares selbst war, da er die Berichtsrunde in der Vollversammlung einleitete. Die Tatsache, dass er bereits seit Dezember 1975 34 La asamblea del Episcopado, in: Criterio 1740 (27. Mai 1976), »A una cierta altura de la asamblea, cuando se preparaba la redacción del documento final, se pidió a los obispos, por sugestión de uno de ellos, que narraran, para ilustración de los demás, las experiencias que actualmente viven, después del cambio político efectuado, en sus diversas diócesis. Es claro que esto contribuyó vigorosamente al enriquecimiento del texto en preparación y a darle su sabor de realismo. Es un indicio más del buen funcionamiento de la institución episcopal suprema.«. 35 Ebd.
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Ehrenvorsitzender der APDH auf nationaler Ebene war und Kirchenmitglieder in der Diözese Neuquén schon vor dem Putsch der Repression zum Opfer fielen, ist ebenfalls ein Indiz dafür, dass er zu den Protagonisten gehörte, die die Menschenrechtsfrage im Episkopat virulent werden ließen. Nach Nevares berichteten auch die Bischöfe Quarracino, Scozzina, Angelelli, Ponce de León, Hesayne, Iriarte, Primatesta und Zaspe über die Repression in ihren jeweiligen Diözesen. Nevares sprach in diesem Rahmen ebenso über das Phänomen der desaparecidos, deren Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte. Zur Sprache kamen auch Verhaftungen und Verschleppungen von Lai*innen und Priestern, Hausdurchsuchungen und Plünderungen sowie Schikanen und Bedrohung von Priestern und sogar Bischöfen.36 Anhand der Berichte war deutlich geworden, dass die Repression auch die Institution Kirche betraf. Im Anschluss stimmten die Bischöfe grundlegend über den vorliegenden Entwurf des Dokuments (Serie A) ab und wählten – am folgenden Sitzungstag – eine Redaktionskommission für den Neuentwurf (Serie B). Bezogen auf diesen Moment in der Vollversammlung ist die Interpretation Verbitskys ebenfalls fraglich, da er schreibt, die Bischöfe hätten nach den Berichten über Repression in den jeweiligen Diözesen lange darüber beraten, ob man etwas über diese Geschehnisse publizieren wolle oder nicht, und, weil angeblich keine Einigkeit in der Frage bestand, anschließend darüber abgestimmt und damit eine Veröffentlichung abgelehnt.37 Da er die erste Dokumentserie (A1-A2) außen vor lässt, bezieht er irrtümlich die oben dargestellte Abstimmung über placet oder non placet auf die erste Version des zweiten Entwurfs (B-1) und nicht auf die zweite Version des ersten Entwurfs (A-2). Worauf seine Deutung basiert, ist nicht nachzuvollziehen, denn weder Devoto noch Nevares notierten etwas über eine Diskussion nach den Berichten über die Repression. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Verbitsky dazu kommt, von einer intensiven Debatte über die Frage, ob etwas publiziert werden sollte oder nicht, zu sprechen, da die Quellen dazu keinerlei Hinweis liefern. Vielmehr folgt in den Aufzeichnungen beider Bischöfe nach den Berichten über Repression in den Diözesen unmittelbar die erwähnte grundlegende Abstimmung, mit der die erste Versionsserie (A) verworfen wurde – und nicht etwa die Idee, überhaupt ein Dokument zu publizieren. Damit endete der erste Sitzungstag. Am folgenden Morgen wurde dann, nach einem kurzen Tagesordnungspunkt zu religiösen Feiern, ohne eine vorhergehende Debatte die Redaktionskommission gewählt, so dass es abwegig ist, anzunehmen, dass die Bischöfe mit der Abstimmung am Vorabend gegen die Veröffentlichung eines Dokuments ge36 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1976; BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1976. 37 Vgl. Verbitsky 2006, S. 27.
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stimmt haben könnten. Richtig ist vielmehr, dass sich der Episkopat gegen die Verwendung der ersten Vorlage in ihrer zweiten Fassung (A-2) wandte und die neu gewählte Redaktionskommission mit der Ausarbeitung eines völlig neuen Dokumententwurfs betraute. Damit wurde die Dokumentserie A komplett verworfen und spielte für das letztlich publizierte Dokument keine Rolle mehr. Gewählt wurden Quarracino mit 38 Stimmen, Zaspe mit 35 und Iriarte mit 19 Stimmen.38 Am 13. Mai 1976 stand nachmittags erneut das Dokument der Bischöfe auf der Tagesordnung. Es erfolgte eine Lesung des Neuentwurfs. Devoto machte dazu unter der Überschrift »Lektüre des neuen Dokuments« den Vermerk »Änderung der Ideen«39, mit der er die starke qualitative Veränderung des Bischofsdokuments durch die Neuabfassung benannte. Auch Nevares schrieb von einer »Prüfung des neuen pastoralen Projekts«. Dieser Neuentwurf fand den Aufzeichnungen beider Bischöfe zufolge allgemeine Zustimmung in der Bischofskonferenz. So hieß es bei Nevares: »wird generell angenommen«40 und bei Devoto: »Das Dokument wird angenommen und es werden Vorschläge akzeptiert«41. Letzteres weist bereits auf die noch folgenden Änderungen am Text hin (von der zu diesem Zeitpunkt vorgestellten Version B-1 über B-2 und B-3 bis zum endgültigen Dokument). Zwischen der Wahl der Redaktionskommission und der Vorstellung des besagten Entwurfs (B-1) sind demnach eineinhalb Sitzungstage vergangen, was ebenfalls für einen kompletten Neuentwurf des Dokuments spricht. Würde es sich nur um vereinzelte Änderungen handeln, wie sie von Version B-1 zu B-2 erfolgt sind, und die Verbitsky fälschlicherweise diesem Zeitraum zuordnet, wäre weder ein solch langer Bearbeitungszeitraum notwendig gewesen, noch eine anschließende Lektüre des gesamten Dokuments in 38 López erhielt 18, Di Stéfano 16, Primatesta 11 und Laguna 9 Stimmen. Gewählt waren die drei Bischöfe, die am meisten Stimmen auf sich vereinen konnten. Quarracino war Bischof von Avellaneda-Lanús und vertrat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zunächst die progressiven Entwicklungen dieser Jahre, wurde mit den Jahren jedoch zum Vertreter des katholischen Konservatismus. Zaspe war Erzbischof der Diözese Santa Fe de la Cruz und entwickelte einen eigenen pastoralen Stil, indem er sonntägliche Fernsehansprachen hielt, die ihm von Konservativen die Kritik einbrachten, sich politisch zu weit links zu positionieren. Er gilt als Bischof, der sich während der Diktatur nicht mit den Militärmachthabern gemein machte. Iriarte, Bischof der Diözese Reconquista, hatte während des Zweiten Vatikanischen Konzils den Katakombenpakt unterzeichnet, eine Selbstverpflichtung zu einem einfachen Lebensstil und zum Dienst an den Armen. BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1976. Zanattas Interpretation über den Ablauf der Bischofskonferenz geht ebenfalls davon aus, dass ein erster Entwurf abgelehnt und eine reformistisch orientierte Gruppe von Bischöfen für die Neufassung bestimmt wurde. Vgl. Zanatta 2015, S. 217f. 39 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1976, »Lectura del nuevo documento« (»Lesung des neuen Dokuments«) und »cambio de ideas« (»Änderung der Ideen«). 40 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1976, »Se aprueba en general«. 41 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1976, »Se apruba el documento y se aceptan sugerencias«.
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der Vollversammlung. Für die These einer qualitativen Neuausrichtung des Dokuments sprechen auch die umfangreichen Marginalien Devotos am Rand des ersten Entwurfs (A-2), bei denen es sich um die in der Diskussion genannten Kritikpunkte handelt. Zentral sind die Anmerkungen »brauchbare Dinge – dient nur als BASIS und alles auf eine neue Grundlage stellen« und »totale Überarbeitung«42. Neben der gut nachvollziehbaren Kritik an dem schwer verständlichen Stil des ersten Entwurfs, finden sich zudem etliche inhaltliche Kritikpunkte, die sich auf die politische Lage beziehungsweise die Menschenrechtsfrage bezogen.43 So notierte Devoto, dass es nicht Aufgabe der Bischöfe sei, den Putsch zu legitimieren.44 Tatsächlich findet sich in der Vorversion (A-2) eine Legitimierung, die in dieser Eindeutigkeit im endgültigen Dokument nicht mehr zu finden ist: »Und wir haben vor uns den Versuch einer Wiederherstellung [der Ordnung, B.R.], den die Führung der Streitkräfte übernommen hat, weil sie erwogen hat, dass die Tiefe, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Krise es ihnen auferlegte in Erfüllung ihrer ureigensten Pflicht, die die Verteidigung der Nation ist.«45
Die Aufzeichnungen geben keinen Aufschluss über den weiteren Bearbeitungsprozess. Nevares vermerkte lediglich, dass er am Abend des 13. Mai 1976 erst um 19 Uhr, also eine Stunde nachdem der fragliche Sitzungsteil begonnen hatte, zur Vollversammlung stieß, weil er Änderungen für das Dokument vorbereitet und sich mit dem Vorsitzenden der Asamblea Permanente de Derechos Humanos
42 BAG, CEA Asamblea Plenaria, XXXIII Asamblea Plenaria, Proyecto de carta o exhortación pastoral (Segunda redacción) im Folgenden zitiert als CEA-DOC 1976 Entwurf A-2, »Cosas aprovechables – solo sirve como BASE [sic] y refundarlo todo« (»Nutzbare Dinge – es dient nur als BASIS und alles auf eine neue Grundlage stellen«) und »Refundación total« (»totale Neuausrichtung«). 43 Die Deutung, dass es sich um in der Bischofskonferenz geäußerte Kritikpunkte handelt, stützt sich auf den Umstand, dass die Kritikpunkte nicht thematisch oder systematisch geordnet sind, was nicht der sonst erkennbaren, üblicherweise äußerst geordneten Arbeitsweise Devotos entspricht. Zudem weisen sie etliche Redundanzen auf, was dagegen spricht, dass es sich um Devotos persönliche Anmerkungen handelt. Punkte, die sich auf die Verständlichkeit des Texts beziehen und die u. a. besagte Redundanzen erkennen lassen, sind: »Estilo dificil«, »q el documento aclare y no estobe«, »No parece oportuno así, académico«, »Estilo muy rebuscado«, »Faltan titulos«, »Repeticiones«, »Oscuro«, »Lenguaje no popular«, [am dritten Absatz, mit Pfeil der auf selbigen verweist:] »dificil captación«; (»Schwieriger Stil«, »d[ass] das Dokument erhelle und nicht behindere«, »scheint so nicht angemessen, akademisch«, »sehr gekünstelter Stil«, »es fehlen Überschriften«, »Wiederholungen«, »dunkel«, »Sprache nicht volksnah«, [am dritten Absatz, mit Pfeil der auf selbigen verweist:] »Erfassen schwierig«); CEA-DOC 1976 Entwurf A-2. 44 Ebd., »No hacer aprobación golpe (no nos correponde)« (»Nicht den Putsch gutheißen (nicht unsere Aufgabe)«. 45 Ebd., »Y se está ante el intento de una recuperación asumida en su conducción por las Fuerzas Armadas, por considerar que la hondura, extensión y persistencia de la crisis se lo imponía como deber inherente al cumplimiento de su misión propia, que es la defensa de la Nación.«.
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getroffen hatte.46 Was genau bei diesem Treffen besprochen wurde und inwiefern Nevares Inhalte aus dem Gespräch in die Bischofskonferenz einbrachte, muss mangels Quellen offen bleiben, ebenso wie Nevares’ konkreter Beitrag zum Dokument der Bischöfe. Das Zusammentreffen ist jedoch ein erneuter Hinweis auf Nevares’ besondere Rolle im Gefüge der Bischofskonferenz, wenn es um die Haltung zu Menschenrechtsverletzungen ging, die sich daraus ergab, dass er enge Kontakte zu Menschenrechtsaktivist*innen unterhielt und dementsprechend gut informiert war. Hinzu kommt, dass er sich durch seinen Ehrenvorsitz bei der APDH unmissverständlich und öffentlich zu den Menschenrechten bekannte und die Bewegung – nicht zuletzt durch sein hohes symbolisches Kapital als Bischof – wesentlich unterstützte. Nevares’ Rolle in der Menschenrechtsbewegung ist ein Indiz dafür, dass er wesentlich dazu beitrug, die Menschenrechtsfrage im Dokument der Bischöfe zu verankern, und auch daran beteiligt war, die Semantik der Menschenrechte einzubringen.47 Bemerkenswert ist, dass der erste Entwurf (Serie A) im Vergleich zum später veröffentlichten Dokument (basierend auf der Serie B) weder den Begriff Menschenrechte (derechos humanos) noch erkennbare Hinweise auf die Repression enthielt. Während im endgültigen Dokument der Bischöfe konkrete Formen der Repression und die Existenz physischer Gewalt benannt wurden, gab es im ersten Entwurf (Serie A) keine derartigen Inhalte. Einige der von Devoto notierten Punkte interpretierten dies als Mangel des Entwurfs: »Notwendigkeit, die reale Situation widerzuspiegeln; Notwendigkeit eines Panoramas des Landes; sehr mager (Notwendigkeit, uns zu informieren); es fehlt ein Bezug zu unserer Situation: Volk, das leidet«.48 Die Unzufriedenheit mit der Vagheit des Entwurfs zeigt sich auch in den Anmerkungen »klar über den rechten Gebrauch der Macht sprechen« und »das Dokument ist ausweichend«.49 Bei Betrachtung der Anmerkungen, die sich auf das Selbstverständnis und die Definition der eigenen Aufgabe angesichts der aktuellen politischen Lage bezogen, wird deutlich, dass die Bischöfe sich als wesentliche gesellschaftliche Akteure begriffen und sich der ihrer Sprecherposition zugeschriebenen Legitimität und ihrer Legitimierungs46 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1976, »yo llegué a las 19 por preparar los cambios al Proyecto de Pastoral y recibir al Pres. de la Asamblea Permanente de defensa de dd. humanos« (»ich kam um 19 [Uhr, B.R.] wegen der Änderungen des Proyecto de Pastoral und weil ich den Vorsitzenden der Asamblea Permanente zur Verteidigung der Menschenrechte empfangen habe«). 47 Die Indizien sollten jedoch nicht im Sinne eines Beweises missverstanden werden, da dieser mangels historischer Belege nicht möglich ist, so dass nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann. 48 CEA-DOC 1976 Entwurf A-2, »Necesidad reflejar real situación; Necesidad de un panorama del país; Muy descarnado (necesidad de informarnos); falta relación con nuestra situación: pueblo q[ue] sufre«. 49 Ebd., »Hablar claro del recto uso del poder« und »el documento es evasivo«.
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funktion deutlich bewusst waren. Einer der darauf bezogenen Punkte benennt die Aufgabe der Bischöfe beziehungsweise des vorliegenden Dokuments allgemein als »Regierte und Regierende orientieren«.50 Ein anderer Stichpunkt ist in seiner Aussage deutlich spezifischer und präsentiert ein Selbstverständnis, in dem die Kirche als Fürsprecher der Leidenden erscheint: »Angesichts des Schweigens vieler Stimmen: Pflicht, eine Stimme jener zu sein, die keine Stimme haben.«51 Gleichzeitig enthält der Punkt die Idee einer moralischen Verpflichtung der Bischöfe gegenüber den Opfern der Diktatur. In eine ähnliche Richtung geht auch die im folgenden Punkt enthaltene Argumentation: »Auf uns schauen die, die leiden, und die, die befehlen (Schweigen [ist unsere52] Komplizenschaft/ Mitschuld)«.53 Anhand von im Bestand des Bischofs Nevares archivierten Briefen wird deutlich, dass schon in den Monaten vor der Bischofskonferenz im Mai 1976 Erwartungen in diese Richtung direkt an Nevares herangetragen wurden und erste kollektive Schreiben an kirchliche Autoritäten gingen, so beispielsweise an Bischof Tortolo.54 Die so vorgebrachten Ansprüche der Opfer der Repression, von der Bischofskonferenz vertreten zu werden, scheinen bei den Beratungen in der Plenarsitzung gegenwärtig gewesen zu sein. Die Analyse der Dokumente zeigt, dass die Semantik der Menschenrechte in den Beratungen eingebracht wurde, die zum Verwerfen des ersten und zur Schaffung eines völlig neuen, zweiten Entwurfs führten. Unter Devotos Randnotizen findet sich an einer Stelle explizit der Begriff der Menschenrechte. Sie werden dort als ein wesentliches Element des Gemeinwohls bezeichnet. Da das Gemeinwohl den Leitgedanken im endgültigen Dokument bildete, nahm auch das Konzept der Menschenrechte einen hohen Stellenwert ein.55 Zudem bezogen sich weitere Punkte auf Menschenrechtsverletzungen und thematisierten die 50 CEA-DOC 1976 Entwurf A-2, »Orientar a gobernados y gobernantes«. 51 Ebd., »Ante silencio muchas voces deber de ser una voz de la [sic] que no tienen voz«. 52 Die Transkription der handschriftlichen Anmerkung ist bezogen auf eine Stelle unsicher, so dass nicht mit völliger Gewissheit gesagt werden kann, ob Devoto »es« notierte oder möglicherweise etwas anderes. 53 CEA-DOC 1976 Entwurf A-2, »Nos miran los que sufren y los q[ue] mandan (silencio [es] n. complicidad)«. 54 Teilweise wurde schon vor dem Putsch die Forderung, die Kirche solle sich zum Gewaltgeschehen äußern, an Nevares herangetragen. BAN, Briefe, Carlos J. Segovia an Nevares, 2. Januar 1976; BAN, [o. Name] an Jaime de Nevares, 1. Mai 1976; Siehe auch Ruz, Matías Omar: Die argentinische Bischofskonferenz und das Drama der nationalen Versöhnung. Geschichte und theologische Würdigung eines ambivalenten Vorschlages, Wiesbaden 2016, S. 194, insbesondere Fußnote 126. Für spätere Zeitpunkte sind die Erwartungshaltungen gegenüber der Bischofskonferenz deutlich besser dokumentiert, unter anderem in Form von kollektiven Briefen der Menschenrechtsorganisationen. 55 CEA-DOC Mai 1976; Die Menschenrechte wurden als erster Unterpunkt des Konzepts des Gemeinwohls genannt, was auf deren hohe Bedeutung hinweist: »Bien común: derechos humanos – Justicia – liberalismo actual – propiedad – economia« (»Gemeinwohl: Menschenrechte – Gerechtigkeit – gegenwärtiger Liberalismus – Eigentum – Ökonomie«).
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Situation der Gefangenen, die ohne gesetzeskonformes Verfahren inhaftiert worden waren, die Dauer der Verhöre, das Recht auf Information sowie das Klima der Verdächtigungen und Denunziationen. Inwieweit diese Punkte Einzelmeinungen repräsentierten oder welche Äußerungen auf breite Zustimmung innerhalb des Episkopats trafen, lässt sich nur indirekt anhand des Vergleichs dieser Fassung mit der endgültigen Fassung des Dokuments schließen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die vorgenommenen qualitativen Änderungen vom Entwurf A zum Entwurf B etliche der von Devoto festgehaltenen Kritikpunkte aufgriffen. Sie führten dazu, dass eine völlig neue Textfassung erstellt wurde, die nicht mehr mit der vorhergehenden Version korrespondierte, das heißt, die erste Versionsserie (A) wurde weder als Inspirationsquelle noch als Steinbruch für Textteile verwandt, sondern tatsächlich komplett verworfen. Im Vergleich ist zu erkennen, dass eine deutlich klarere sprachliche Gestaltung den schwer zugänglichen Stil des ersten Entwurfs ablöste. Der zweite Entwurf (B) wandte sich konkreten Phänomenen zu, während der erste Entwurf (A) sich im Wesentlichen auf einer spirituellen Ebene bewegte. So präsentierte das Dokument beispielsweise im ersten Entwurf die spirituelle Umkehr als Grundlage zur Erlangung des Gemeinwohls, während es im zweiten Entwurf konkrete Handlungen und Umstände benannte, die in den Augen der Bischöfe wesentliche Voraussetzungen für das Gemeinwohl sein sollten. Gemeinsam ist beiden Entwürfen, dass sie die Verantwortung des Individuums betonten und das Gemeinwohl als wesentliches Staatsziel definierten. Insgesamt war der zweite Entwurf – und damit auch das Dokument in seiner endgültigen Fassung – wesentlich konkreter und stellte explizit Bezüge zur politischen Lage her, inklusive der Repression und der Menschenrechtsverletzungen. In der Neufassung wurde der Putsch nicht mehr explizit legitimiert. Er enthielt allerdings weiterhin Passagen, die ohne Weiteres als Legitimation der Militärjunta und ihrer Herrschaft gelesen werden konnten. Neu im zweiten Textentwurf waren der Begriff der Menschenrechte und der Bezug auf die Gewaltproblematik, die im ersten Dokumententwurf noch keine Rolle gespielt hatte. Die letzte Abstimmung bezüglich des Dokuments ist für den 14. Mai 1976 verzeichnet. Nevares hielt fest, dass das neue Dokument mit 51 placet, 10 non placet und einer Enthaltung angenommen wurde.56
56 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1976. Bei Devotos Aufzeichnungen ist die Enthaltung nicht vermerkt, er notierte nur 51 placet und 10 non placet, BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1976.
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2.3
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Die nach dem Verwerfen der Vorversion neu eingebrachten Aussagen zum Gewaltgeschehen und den Menschenrechtsverletzungen wurden in der Rezeption verstärkt aufgegriffen, wie die Analyse der Tagespresse und katholischer Publikationen zeigt. Sowohl die liberal katholische Zeitschrift Criterio als auch die Zeitschrift des SERPAJ, die soziale Missstände thematisierte und befreiungstheologisch inspiriert war, werteten das Dokument der Bischofskonferenz als außergewöhnlich. Criterio betonte, dass das bischöfliche Dokument nicht unbedingt den Erwartungen entsprochen habe und bei vielen für Erstaunen gesorgt haben dürfte: »Vielen wird dieser Brief auffallen, sei es weil sie nicht so viel von den Bischöfen erwartet hatten, oder sei es weil sie nicht das erwartet hatten.«57 Auch der SERPAJ stellte fest, dass das Bischofsdokument hinsichtlich der Deutlichkeit der Äußerungen die Erwartungen übertroffen habe, und wertete es als wesentlichen Beitrag im Kampf für die Menschenrechte. Nachdem zunächst der vollständige Text abgedruckt worden war, folgte in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift ein ausführlicher Beitrag zu dem Dokument. Der Artikel deutete das Dokument der Bischöfe vor dem Hintergrund der im Vorfeld vorhandenen Erwartungen und stellte fest: »Dieses Bischofsdokument sprach mit mehr Klarheit, als viele sich vorgestellt hatten, vor allem, indem es sich auf das Gemeinwohl als Staatsziel bezog, das sich in den kompliziertesten Situationen durchsetzt. Was an diesem Dokument auffällt, ist seine konkrete Sprache, wenn es die ›Fehler‹ und die ›Sünden‹ aufzeigt, die in einem politischen und ökonomisch-sozialen Prozess begangen werden können. Fehler wären für die Bischöfe die wahllosen Verhaftungen, die Unkenntnis über das Schicksal der Gefangenen und deren zeitlich unbestimmte Isolation, die Beseitigung von Garantien und die Beschränkung des Rechts auf Verteidigung, die Entlassungen und die Arbeitslosigkeit, das Annullieren jeglicher gerechtfertigter und notwendiger Kritik, ›auch wenn sie schmerzen sollte‹.«58
57 La asamblea del Episcopado, in: Criterio 1740 (27. Mai 1976), »A más que uno llamará la atención esta carta, sea porque no esperaban tanto [kursiv im Original, B.R.] de los obispos, sea al revés porque no esperaban esto [kursiv im Original, B.R.].«. 58 Editorial – Por quien doblan las campanas, in: Paz y Justicia 39–40 (Juni-Juli 1976), »Esta Carta Pastoral habló con más claridad de lo que muchos imaginaban, particularmente al referirse sobre el Bien Común como fin del estado, imponiéndose en las condiciones más complicadas. Lo que ha llamado la atención en esta Pastoral, es su lenguaje concreto al señalar los ›errores‹ y ›pecados‹ que pueden llegarse a cometer en un proceso político y económico social. Para los Obispos serían errores [kursiv im Original] el detener indiscriminadamente, la ignorancia sobre el destino de los detenidos y su incomunicación indefinida, la supresión de garantías y la limitación del derecho de defensa, los despedidos y las cesantías, la anulación de toda crítica justa y necesaria, ›aunque duela‹.«.
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Sowohl der SERPAJ als auch Criterio legten den Schwerpunkt in ihrer Interpretation auf die Äußerungen zur uneingeschränkten Gültigkeit der Menschenrechte und gewichteten ihn letztlich stärker als die einschränkenden und relativierenden Äußerungen im selben Abschnitt des Dokuments. So referierte Criterio zwar zunächst die relativierenden Passagen des Dokumentes und kommentierte, dass sie nicht nur vom Realismus der Bischöfe zeugten, sondern von ihrem gesunden und angemessenen Urteil über die gelegentliche Konfliktivität von Rechten, um abschließend festzustellen: »[…] aber die Betonung liegt unverwechselbar auf der notwendigen Gültigkeit der Menschenrechte, klar beschrieben, auch in der Situation, in der wir leben.«59 Interessanterweise wird der Begriff der Menschenrechte ohne weitere Erläuterung verwendet, so dass Criterio wahrscheinlich davon ausging, dass er seinen Leser*innen verständlich sein sollte. Diese Selbstverständlichkeit, mit der von Menschenrechten geschrieben wurde, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Gewaltproblematik und die Repression in Argentinien schon früh in der Semantik der Menschenrechte formuliert wurden, und zwar nicht nur von Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung.60 Auch die Ausführungen Criterios folgten jedoch – trotz der vorgenommenen Gewichtung zugunsten der Idee der Menschenrechte – weitgehend der Ambivalenz des bischöflichen Dokuments, indem sie die bischöflichen Aussagen zur Einschränkung der Gültigkeit der Menschenrechte prinzipiell guthießen. Der SERPAJ hingegen schloss diese Anteile des Dokuments aus seiner Rezeption aus und bezog sich allein auf jene Passagen, die eine Einhaltung der Menschenrechte forderten. Dementsprechend sah der SERPAJ die argentinische Kirche in ihrer Gesamtheit nach der Veröffentlichung des Bischofsdokuments als wesentlichen Akteur im Kampf um Menschenrechte und schrieb ihr eine Vorreiterrolle an der Seite der Marginalisierten zu. Aus der Retrospektive betrachtet drückte diese Zuschreibung eher einen Wunsch nach Repräsentation durch die Amtskirche aus als eine tatsächliche hohe Übereinstimmung in der Menschenrechtsfrage. Der Umgang mit dem Bischofsdokument zeigt, wie stark die Rezeption auch von der eigenen Position bestimmt war und in welcher Weise die Bischofsworte zur Legitimierung dieser Position herangezogen wurden. Obwohl der SERPAJ die Verteidigung der Menschenrechte als Kern des Bischofsdokuments interpretierte und diese Deutung im Duktus der Gewissheit präsentierte, war den Verfasser*innen des Editorials durchaus bewusst, dass es sich keineswegs um eine 59 La asamblea del Episcopado, in: Criterio 1740 (27. Mai 1976), »[…] pero el acento está inconfundiblemente puesto en la necesaria vigencia de los derechos humanos, netamente descritos, incluso en la situación que vivimos.«. 60 Hier könnte eine genaue Untersuchung des Sprechens über Menschenrechte und der Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit für die Dekaden vor dem Putsch 1976, die derzeit ein Desiderat darstellt, interessante Ergebnisse bringen.
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stabile, unhinterfragte Position der Bischöfe handelte und dass die Wirkmächtigkeit dieser bischöflichen Äußerung nicht unbedingt gesichert war. Deswegen riefen sie ihre Leser dazu auf, die Worte der Bischöfe durch Aktionen unterschiedlichster Art symbolisch zu legitimieren und zu verstärken: »[…] es ist notwendig, dass diesen Deklarationen eine massive Unterstützung der Gläubigen folgt, durch Veranstaltungen der Reflexion und des Gebets wie sie in der Diözese Morón stattfanden […], oder vielleicht, indem Tausende und Abertausende von Unterschriften gesammelt werden in Solidarität mit diesen episkopalen Äußerungen und Aufforderungen.«61
Mit diesen symbolischen Akten wurde versucht, sowohl die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Menschenrechte zu erhöhen als auch Einfluss auf die Bischöfe insgesamt zu nehmen. Die Menschenrechtsfrage wurde dabei nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext des sozialen Friedens und demokratischer Entscheidungsstrukturen gesehen: »Für den sozialen Frieden zu arbeiten heißt nicht, ihn als Epitaph auf Tausende von Leichen zu meißeln. Im Gegenteil, wenn wir den FRIEDEN wollen – wie es unlängst Paul VI. sagte – verteidigen wir das LEBEN. Und dazu ist es notwendig, zwei historische, unbestreitbare Erfordernisse zu berücksichtigen: Den uneingeschränkten Respekt für die fundamentalen Rechte der Person und mehr demokratischen Raum für die Partizipation der unterschiedlichen Sektoren der Bevölkerung.«62
Der SERPAJ bot so einen Artikulationsraum für Katholiken, die sich einer progressiven Strömung des Katholizismus zugehörig fühlten und in der Verteidigung der Menschenrechte engagierten. Dies gilt auch für jene Bischöfe, die sich in besonderer Weise der entstehenden Menschenrechtsbewegung verpflichtet fühlten oder zumindest ein Bewusstsein für die Menschenrechtsproblematik entwickelt hatten. Besonders interessant ist vor dem Hintergrund der massiv eingeschränkten öffentlichen Artikulationsmöglichkeiten das Aufgreifen einer Predigt des Bischofs Zaspe mit dem Titel El Dolor de la Patria (Der Schmerz des Vaterlands) aus Anlass des argentinischen Nationalfeiertags, die vom SERPAJ im Rahmen des Editorials auszugsweise abgedruckt wurde. Denn hier benutzte 61 Editorial – Por quien doblan las campanas, in: Paz y Justicia 39–40 (Juni-Juli 1976), »[…] es necesario que estas declaraciones sean seguidas del apoyo masivo de los fi[e]les [sic] mediante jornadas de reflexión y oración, como las realizadas en la diócesis de Morón […], o talvez juntando miles y miles de firmas en solidaridad con esos pronunciamientos y requerimientos episcopales«. 62 Ebd., »Trabajar por la Paz Social no es gravarla como epitafio sobre miles de cadáveres. Por el contrario si queremos la PAZ –como acaba de decirlo Pablo VI– defendamos la ›VIDA‹. Y para ello hace falta tener en cuenta dos exigencias históricamente indiscutibles, el respeto irrestricto por los derechos fundamentales de la persona y un mayor espacio democrático para la participación de los diversos sectores populares.«.
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Zaspe den Begriff desaparecido, noch bevor er eine weitere Verbreitung in der Öffentlichkeit erfuhr oder gar etabliert wurde.63 In seinen Ausführungen bezog der Bischof sich auf die Sakralität der Person und lieferte einen Hinweis auf die Täterschaft des staatlichen Repressionsapparats, wenn er davon sprach, dass es sich bei dem Mörder um eine Körperschaft handele: »Das Vaterland – sagte Monseñor Zaspe – arbeitet gut mit der Hoffnung, aber mit einem großen Anteil an Schmerz; es ist der Schmerz, den jeder Tote, Verschwundene, Verschleppte in seinem Zuhause hinterlässt, in seinen Kindern, in seinen Eltern und seinen Freunden. Es ist ein Schmerz, der nicht nur Resultat des biologischen Todes ist, sondern des infamen Todes, des listigen und sogar frevlerischen, wo der Mörder eine Körperschaft ist, eine Abkürzung, ein Instrument, wo der dosierte Tod manifestiert, dass der Mensch aufgehört hat, unantastbar zu sein. […] Es ist der Schmerz wegen der Gefangenen, die fordern, dass ermittelt wird, dass sie vor Gericht gestellt werden, dass sie freigelassen oder verurteilt werden. Es ist der Schmerz der Entführten, die nicht nach Hause zurückkehren und für die es keine Autorität gibt, die sich verantwortlich zeigt.«64
Allerdings blieb der Verweis auf die Täterschaft relativ schwach. Zaspe benannte nicht eindeutig und unmissverständlich die Verantwortlichen für die unterschiedlichen Formen der Menschenrechtsverletzungen. Die Zurückhaltung an dieser Stelle hing möglicherweise mit der Angst vor Repression zusammen, die jedoch nicht so massiv gewesen zu sein scheint, dass sie ein Schweigen des Bischofs Zaspe bezüglich des Themas bewirkt hätte. Der Kommentar der Autoren des SERPAJ zur allgemeinen Rezeption des Bischofsdokuments verweist zudem auf die unterschiedlichen zeitgenössischen Deutungen: »Diese Haltung der Kirche, sich an die Seite jener zu stellen, die leiden, und zusammen mit all jenen voranzuschreiten, die sich für den Respekt der menschlichen Person und ihrer Rechte aussprechen, hat einen tiefen Eindruck in der Öffentlichkeit gemacht und selbstverständlich einen sehr positiven. Zugleich haben andere Sektoren dieses Bischofsdokument als eine Disqualifizierung ihrer aggressiven Aktivitäten und ihrer ge-
63 In der AICA hingegen, die regelmäßig Predigten vollständig abdruckt, findet sich diese Predigt Zaspes nicht. 64 Editorial – Por quien doblan las campanas, in: Paz y Justicia 39–40 (Juni-Juli 1976), SERPAJ »La Patria –dijo monseñor Zaspe – trabaja bien con esperanza pero con una cuota grande de dolor; es el dolor que cada muerto, desaparecido, secuestrado deja en su hogar, en sus hijos, en sus padres y en sus amigos. Es el dolor que surge no sólo de la muerte biológica sino de la muerte infame, artera y hasta sacrílega, donde el asesino es una entidad, una sigla, un instrumento, donde la muerte dosificada manifiesta que la persona ha dejado de ser sagrada. […] Es el dolor por los detenidos que piden ser investigados, juzgados, absueltos o condenados. Es el dolor de los secuestrados que no vuelven a sus hogares y de los cuales no hay autoridad que responda.«.
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schickten Techniken gesehen, die moralische Stärke der Kirche als Unterstützung des Status Quo zu nutzen.«65
Hinweise auf die unterschiedlichen Lesarten des Dokuments bieten auch die Äußerungen einiger Bischöfe in der Tagespresse sowie die wiederholt aufgegriffene Frage, wie die Militärjunta zu dem Dokument stünde. Die unterschiedlichen Kommentare zum Dokument bezogen sich auf die Heterogenität des Episkopats, die im zeitgenössischen Diskurs zum Thema wurde. So wurde verschiedentlich die Frage nach dem Entstehungsprozess des Dokuments und der Rolle der einzelnen Bischöfe gestellt. Zudem gaben einige der Bischöfe Kommentare zum Dokument des Episkopats ab oder wurden von Journalisten gezielt nach einer persönlichen Einschätzung befragt, was erneut die Deutungsoffenheit des Dokuments aufzeigt und zugleich deutlich werden lässt, dass es unter den Zeitgenoss*innen ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Haltungen innerhalb des Episkopats gab. Gemäß dem Einheitsideal als einem zentralen Element des kirchlichen Selbstverständnisses wurden solcherlei Anfragen von den kirchlichen Würdenträgern dahingehend beantwortet, dass sich in dem Dokument die einmütige Position der Bischöfe ausdrücke. Primatesta erklärte in einer Pressekonferenz, das Dokument sei einstimmig angenommen worden, mit Ausnahme einiger, weniger Enthaltungen, und ergänzte, dass ein solches Dokument nicht das Produkt von zwei oder drei Bischöfen sei, sondern der ganzen Bischofskonferenz.66 Dies widerspricht allerdings den Notizen der Bischöfe Nevares und Devoto zum Verlauf der Bischofskonferenz, aus denen hervorgeht, dass es bei der Abstimmung über die endgültige Fassung 10 Gegenstimmen und eine Enthaltung gab. Insbesondere mit seiner Äußerung, es handele sich um das Produkt der gesamten Bischofskonferenz, betonte Primatesta noch einmal die normativ erwünschte Einheit des argentinischen Episkopats. Auch hier kann das dezidierte Evozieren des Bildes von Einheit so gelesen werden, dass dieses Bild der Einheit immer wieder mit großer Mühe hergestellt werden musste. Trotz
65 Editorial – Por quien doblan las campanas, in: Paz y Justicia 39–40 (Juni-Juli 1976), »Esta actitud de la Iglesia de colocarse del lado de los que sufren y de caminar junto a todos los que se pronuncian por el respeto a la persona humana y a sus derechos fundamentales, ha causado una profunda impresión en la opinión pública y por supuesto que muy favorable. Pero al mismo tiempo otros sectores han considerado a esta Carta Pastoral como una abierta descalificación de sus actividades agresivas o de sus técnicas avezadas en utilizar la fuerza moral de la Iglesia como suporte de Status Quo.«. 66 La Opinión, 18. Mai 1976, Habla Monseñor Primatesta – Dijo que el Pueblo busca soluciones en dios, »[…] ›salvo algún voto en blanco, fue aprobado por unanimidad‹. ›Un documento – agregó – no es producto de uno, dos o tres obispos, sino el producto de toda la conferencia.‹« (»[…] ›bis auf einige Enthaltungen wurde das Dokument einstimmig angenommen‹. ›Ein Dokument – fügte er hinzu – ist nicht das Produkt von ein, zwei oder drei Bischöfen, sondern das Produkt der gesamten [Bischofs-]Konferenz.‹«).
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dieser Bemühungen blieben die kleinen Fissuren für aufmerksame Beobachter*innen genauso sichtbar wie die großen Brüche und Verwerfungen. Da das Dokument selbst vollständig in der Tagespresse abgedruckt wurde, war mit seinem Text auch der Begriff der Menschenrechte in der Öffentlichkeit präsent.67 Explizit aufgegriffen wurde er jedoch nur im redaktionellen Teil der Zeitung La Opinión, die Zeitungen La Razón und La Nación benutzten ihn in ihren Darstellungen nicht. La Opinión schrieb, dass das Gemeinwohl und die Menschenrechte die zentrale Aufgabe aller Argentinier darstellten. Insgesamt hielt sich die Presse – abgesehen von La Opinión – mit Kommentaren und Einschätzungen zu diesem Dokument zurück. La Nación stellte die Weichen für die Rezeption in eine andere Richtung als La Opinión, indem mit der Überschrift zum Bischofsdokument die Einschränkungen von Rechten angesichts der allgemeinen Lage in den Vordergrund rückten.68 In der Berichterstattung finden sich Hinweise darauf, dass die im Bischofsdokument geäußerte Kritik durchaus als an die Junta gerichtet wahrgenommen wurde, auch wenn sie durch den Gebrauch der Möglichkeitsform des spanischen Subjunktivs, der hier dem deutschen Konjunktiv entspricht, tendenziell abgeschwächt war. So beantwortete Kardinal Primatesta die Frage, wie General Videla beim Treffen mit einigen Bischöfen am 17. Mai 1976 das Dokument kommentiert habe, folgendermaßen: »Ich kann nicht sagen, was der Präsident gesagt hat, aber durch den Charakter, den das Treffen hatte, und die ausgesprochene Herzlichkeit, mit der es ablief, glaube ich, dass es kein Dokument ist, das eine schwierige Situation provoziert hätte.«69 Die Frage danach, ob das Dokument zu einer Missstimmung zwischen den Junta-Generälen und den Bischöfen geführt habe, und das Zurückweisen dieser Annahme durch den Kardinal machen deutlich, dass dem Dokument von dem Berichterstatter zumindest ein gewisses kritisches Potential zugeschrieben wurde. Auch Bischof Zaspe wurde zu dem Treffen mit den Generälen interviewt. Er bewertete das Treffen mit den Militärmachthabern ebenfalls als positiv und erwehrte sich der Vermutung, das Dokument könnte negative Reaktionen ausgelöst haben. Videla habe sich mit dem Dokument zufrieden gezeigt und hinzugefügt, die Regierung könne sich in keiner Weise verärgert fühlen, erklärte der
67 La Razón, 15. Mai 1976, Dio una Carta Pastoral al Finalizar sus Deliberaciones el Episcopado Nacional; La Opinión, 16. Mai 1976, Aceptando las dificultades del proceso, los obispos alientan la libertad y la justicia. 68 La Nación, 16. Mai 1976, Un documento del Episcopado – No se puede pretender un goce del bien común como en una época de abundancia y de paz, expresa. 69 La Opinión, 18. Mai 1976, Habla Monseñor Primatesta – Dijo que el Pueblo busca soluciones en dios. »No puedo decir que dijo el presidente, pero del carácter que tuvo la audiencia, de la suma cordialidad con que está se desarrolló, pienso que no es un documento que haya provocado una situación difícil.«.
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Bischof.70 Obwohl der Vizepräsident des Episkopats die guten Beziehungen zur Militärjunta konstatierte, war er gleichzeitig darum bemüht, die Kirche als unabhängigen Akteur zu präsentieren und wies deshalb die vom Interviewer aufgestellte These, die Kirche würde sich den politischen Umständen anpassen, kategorisch zurück.71 Insgesamt lässt sich mit dem Blick in die Tagespresse feststellen, dass die Semantik der Menschenrechte über das Bischofsdokument öffentlich zugänglich war, aber dass zu diesem Zeitpunkt noch keine breite Debatte zum Thema Menschenrechtsverletzungen oder gar über die Täterschaft von Militär und Polizei stattfand.
2.4
Ein Jahr nach dem Putsch: Die desaparecidos werden sichtbar
Der argentinische Herbst 1977, vor allem die Wochen Ende April und Anfang Mai 1977, können als zentraler Moment im Diskurs über die Menschenrechte und das Sprechen über die desaparecidos in Argentinien gefasst werden, da es in diesem Zeitraum bedeutende öffentliche Beiträge unterschiedlichster Akteur*innen gab. Laut Schindel ist für diese Phase ein qualitativer Sprung festzustellen, da jetzt begonnen wurde, öffentlich über die Verschwundenen als kollektives Phänomen zu sprechen. Zentral waren die erste Demonstration der Madres de Plaza de Mayo am 30. April 1977, die Veröffentlichung des Dokuments der Bischofskonferenz Reflexiones cristianas para el pueblo de la patria am 7. Mai 1977 und die Äußerungen von Jorge Videla über die Verschwundenen. Mit seinen Worten bestätigte Videla – auf eine sehr eigenwillige Art und Weise – zum ersten Mal die Existenz des Phänomens der desaparecidos, während er gleichzeitig eine Reihe aus heutiger Perspektive abstrus anmutender Gründe für das ›Verschwinden‹ von Menschen anführte, mit denen er zu zeigen versuchte, dass die Militärjunta angeblich weder Schuld noch Verantwortung trüge.72 70 La Opinión, 23. Mai 1976, Zaspe niega la tesis de una Iglesia acomodaticia, »El Presidente nos dijo que había leído el día anterior el documento y que le había satisfecho; añadió que de ninguna manera el Gobierno podía sentirse molesto […] para mi la reunión fue altamente positiva.« (»Der Präsident hat uns gesagt, dass er das Dokument am Vortag gelesen hat und dass er damit zufrieden ist; er fügte hinzu, dass die Regierung sich in keiner Weise verärgert fühlen kann […] für mich war das Treffen hochgradig positiv.«). 71 Ebd. 72 La Opinión, 13. Mai 1977, Videla reiteró las metas del gobierno y dijo que no hay colisión con la Iglesia; Videla wird folgendermaßen zitiert: »Carecería de cierto sentido ético que yo quisiera ocultar a través de esta pregunta que Ud. me hace que en nuestro país han desaparecido personas. Esta es una tristísima realidad pero que objetivamente debemos reconocer. Resulta difícil explicar por qué y por vía de quién esas personas han desaparecido, y voy al caso, por ejemplo de cinco o seis alternativas que pueden caber para cada caso en particular, que de marras la persona ha desaparecido porque pasó a la clandestinidad; hay hechos evidentes que prueban que está es una actitud ocurrida. Días atrás en una conferencia de
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Das Dokument der Bischofskonferenz war ein wichtiger Bezugspunkt für das Sprechen über desaparecidos und Menschenrechte, vor allem für Katholiken. Bereits im Vorfeld der Bischofskonferenz und während ihres Verlaufs fand eine rege Berichterstattung statt, die von dem allgemein großen Interesse an der angekündigten offiziellen Äußerung der Bischöfe zeugt und die Bedeutung für die Zeitgenoss*innen deutlich macht, wie sich auch an den vielfältigen Reaktionen ablesen lässt. Dazu gehörten Presseberichte, journalistische Kommentare, Zeitschriftenartikel, Statements einzelner Bischöfe, Briefe individueller und kollektiver Akteure an die Bischöfe sowie Äußerungen von Mitgliedern der Militärregierung. Anhand dieser Quellen ist es möglich, nachzuvollziehen, wie das Dokument unmittelbar nach seiner Veröffentlichung aufgenommen wurde und welche Interpretation der Bischofsworte unter den Zeitgenoss*innen dominant war. So wird die Wirkung des Dokuments in seiner historischen Dimension erfasst und vermieden, eine dekontextualisierte Textinterpretation a posteriori vorzunehmen.73 Dies ist besonders wichtig, wenn man die Ambivalenz und die prensa realizada en un país europeo aparecieron en la pantalla de televisión enjuiciando al país argentino, personas que ya no son argentinos pero que se hacían víctimas de haber sido secuestrados o desaparecidas. Otra alternativa: que por falta de lealtad a las organizaciones paramilitares o político-militares subversivas hayan sido eliminadas por la propia subversión porque dudaban de la fidelidad de los compromisos previamente contraídos. Tercera alternativa: problema de conciencia del hombre que sabe entró en un camino que no tiene regreso como esta subversión o se automargina, se autosecuestra para desaparecer del escenario político. Otra alternativa: esta misma circunstancia que yo puntualizo lo lleva al hombre a veces a un terreno de la desesperación y un suicidio de quien no se tiene más noticias. Y acepto la quinta: un exceso de la represión de las fuerzas del orden. […]« (»Es würde eines gewissen ethischen Sinns entbehren, wenn ich auf die Frage, die Sie mir stellen, zu verheimlichen versuchte, dass in unserem Land Menschen ›verschwunden‹ sind. Dies ist eine sehr traurige Realität, die wir aber objektiv anerkennen müssen. Es fällt schwer zu erklären, warum und durch wen diese Personen verschwunden sind und ich werde Ihnen, zum Beispiel, fünf oder sechs Alternativen nennen, die für jeden einzelnen Fall gelten können, dass die Person bewusst verschwunden ist, weil sie in den Untergrund gegangen ist; es gibt offensichtliche Tatsachen, dass ein solches Verhalten vorgekommen ist. Vor einigen Tagen, in einer in einem europäischen Land organisierten Pressekonferenz, erschienen auf dem Bildschirm Personen, die das Land Argentinien anklagten, Personen, die nicht mehr Argentinier sind, aber die behaupteten, man habe sie entführt oder verschwinden lassen. Eine andere Alternative: dass sie wegen fehlender Loyalität zu den paramilitärischen oder politisch-militärischen subversiven Organisationen durch die Subversion selbst eliminiert wurden, weil an ihrer Treue zu ihrer zuvor eingegangenen Verpflichtung gezweifelt wurde. Dritte Alternative: Gewissensprobleme des Menschen, der weiß, dass er einen Weg eingeschlagen hat von dem es kein Zurück gibt wie diese Subversion oder er serviert sich selbst ab, entführt sich selbst um von der politischen Bühne zu verschwinden. Andere Alternative: derselbe Umstand den ich detailliert darlege bringt den Menschen manchmal zur Verzweiflung und zu einem Suizid von jenem, von dem man keine Nachricht mehr hat. Und ich akzeptiere die fünfte: einen Exzess der Repression der Sicherheitskräfte. […]«). 73 Ein extremes Beispiel ist die Interpretation von Dri. Er deutet das Dokument der Bischofskonferenz vom Mai 1977 als Ergebnis der Intervention der rechten Bischöfe. Vgl. Dri 2011, S. 55.
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Konfliktive Aushandlungsprozesse, ambigues Sprechen, widerstreitende Lesarten
große Deutungsoffenheit der Bischofsdokumente vor Augen hat. Mit dem Blick auf die Rezeption wird erneut die Heterogenität des argentinischen Katholizismus und der Institution Kirche in Bezug auf die Menschenrechtsfrage sichtbar. Hierzu gehört, den Entstehungsprozesses des endgültigen Texts nachzuvollziehen.
2.5
Die Bischofskonferenz im Mai 1977
Die Menschenrechtsfrage nahm während der Plenarsitzung der Bischofskonferenz im Mai 1977 großen Raum ein, was umso erstaunlicher scheint vor dem Hintergrund, dass die Literatur zur Haltung der Kirche während der Militärdiktatur darin übereinstimmt, dass es nur wenige Bischöfe gab, die sich für die Menschenrechte einsetzten, und der Episkopat mehrheitlich mit konservativen Bischöfen besetzt war, die zusammen mit den traditionalistischen Bischöfen eine stabile Mehrheit innehatten. Ebenso erstaunlich ist, dass am Ende der Bischofskonferenz ein Dokument veröffentlicht wurde, das von den meisten Zeitgenoss*innen unabhängig von ihrem jeweiligen Standpunkt und Deutungsschema als kritisch in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen wahrgenommen wurde. Bereits zu Beginn der Zusammenkunft der Bischöfe im Mai 1977 war das Thema Menschenrechte auf der Tagesordnung. Kardinal Primatesta eröffnete die Plenarsitzung mit Reflexionen über die generelle Lage des Landes und berichtete über das Agieren der Bischöfe in den vergangenen Monaten, in denen auf unterschiedlichste Weise mit den Militärmachthabern kommuniziert worden war. Unter anderem schickte die Comisión Permanente des Episkopats der Junta im März 1977 einen Brief, dessen Inhalt nur den Bischöfen, nicht aber der Öffentlichkeit bekannt war. Außerdem hatte ein dreistündiges Mittagessen einiger Bischöfe mit Vertretern der Militärregierung stattgefunden, über das die Tagespresse berichtet hatte. Laut dem in der Plenarsitzung des Episkopats verlesenen Memorandum zu diesem Treffen hatte Videla stillschweigend die Existenz von Exekutionen und Folter zugegeben. Unmittelbar im Anschluss an diese Lektüre schlug der Kardinal Primatesta den Besuch der Generäle Jaúregui und Martinez in der Vollversammlung der Bischöfe vor, damit sie über die repressiven Maßnahmen der Militärjunta berichteten, die als ›Kampf gegen die Subversion‹ tituliert waren. Über die Frage, ob man die Generäle empfangen wolle oder nicht, entbrannte eine lange Debatte unter den Bischöfen. Während dieser Debatte wurden viele Argumente geäußert, die sich nicht nur auf den Besuch der Generäle bezogen, sondern allgemeinerer Natur waren und letztlich die Veröffentlichung eines Dokuments der Bischofskonferenz zum Thema Repression begründeten. Immer
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wieder wurde über die Rolle reflektiert, welche die Kirche einnehmen sollte, was zeigt, dass die Bischöfe eine Vorstellung von der Bedeutung ihrer Handlungen hatten und sich der Erwartungshaltungen gegenüber der Institution Kirche bewusst waren.74 In ihren Beiträgen während der Vollversammlung erörterten die intervenierenden Bischöfe unter anderem die Frage, wie die Kirche öffentlich wahrgenommen wurde, und dass Lai*innen in Briefen an den Episkopat eine Intervention der Kirche gefordert hatten. Die Bischöfe diskutierten auch über das Image, das sie mit dem Empfang der Generäle hervorrufen würden. Sie fragten danach, was es für die Beziehung zu den Militärmachthabern bedeute, die Generäle zu empfangen, und ob etwas damit erreicht werden könne, wenn man sie in der Vollversammlung der Bischöfe sprechen ließe. Unter den Stimmen, die sich gegen einen Besuch der Generäle aussprachen, war die des Bischofs Zaspe eine der vehementesten. Er insistierte, laut den Aufzeichnungen von Nevares, dass das Bild der Kirche in Gefahr sei, die Rechte selbst auf dem Spiel stünden und dass die Kirche in diesem Augenblick eine entscheidende Rolle spiele. Er stellte die grundsätzliche Frage, ob die Kirche nicht die Pflicht habe, zu sprechen, und bezog sich auf andere Episkopate, die sich in ähnlichen Situationen öffentlich positioniert hatten. Unter den Überlegungen der Bischöfe finden sich einige, die dem Handeln der Bischöfe eine große Wirkmächtigkeit zuschrieben, so wie beispielsweise die Äußerung des Bischofs Kemerer, der fragte, ob nicht das »Nachlassen« der Militärs in der Ausübung der Repression dem Umstand geschuldet sei, dass die Bischöfe ihre Vollversammlung abhielten. Kemerer artikulierte die Befürchtung, dass die Kirche, wenn sie weiter schweige, zum Komplizen werde. Deswegen sprach er sich gegen den Besuch der Generäle aus und plädierte dafür, ein gemeinsames Dokument der Bischöfe zu veröffentlichen. Trotz der bischöflichen Sorge um die symbolische Dimension des Besuchs der Generäle und der Gegenargumente, die von einigen Bischöfen vorgebracht worden waren, folgte die Mehrheit der Bischöfe den befürwortenden Stimmen, die sich während der Debatte die Waage mit den kritischen Äußerungen hielten. Schließlich stimmten die Bischöfe mit 46 placet und 8 non placet für einen Besuch der Generäle in der Vollversammlung. Das Ergebnis der Abstimmung zeigt
74 BAN, Derechos humanos (4), Familiares de desaparecidos y detenidos políticos de Córdoba an Jaime de Nevares, 21. Oktober 1976. Auch der Priester Vernazza, der dem MSTM angehörte, formulierte in einem Brief an Nevares seine Erwartungen an die Bischofskonferenz: »Lo acompañamos espiritualmente en sus trabajos; especialmente en estos días. Son muchos los que en estos momentos de tanta depresión y tristeza esperan, no sólo un documento ya anunciado – sino también una actitud clara y firme de los Pastores.« (»Wir begleiten sie spirituell in ihren Arbeiten; besonders in diesen Tagen. Es sind viele, die in diesen Momenten der vielen Depression und Trauer nicht nur ein bereits angekündigtes Dokument erwarten – sondern auch eine klare und unbeirrbare Haltung der Hirten.«), BAN, Briefe, Jorge Vernazza an Jaime de Nevares, 4. Mai 1977.
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deutlich die marginale Position derjenigen Bischöfe, die eine größere Distanz zur Militärjunta favorisierten.75 Nachdem ein Zeitpunkt für den Besuch der Generäle festgelegt worden war, wurde die Auseinandersetzung darüber, welche Haltung die Kirche einnehmen sollte, bis zum Ende der Zusammenkunft fortgesetzt. Der folgende Sitzungstag begann mit einer Zusammenfassung der bisherigen Punkte durch Kardinal Primatesta. Unter den Interventionen sticht besonders der Beitrag von Jaime de Nevares heraus, der auf den Widerspruch zwischen dem wiederholten Bekenntnis der Militärs zum christlichen Glauben und ihrem Agieren hinwies. Ein solches Bekenntnis sei, so Nevares, mit der Pflicht verbunden, nach christlichen Prinzipien zu handeln. Devoto notierte diesen Gedanken in seinen Notizen folgendermaßen: »Eine gut definierte Position der Kirche könnte ein positiver Beitrag sein, vor allem wenn man ihre [d. h. der regierenden Militärs, B.R.] wiederholten Bekenntnisse zum Glauben berücksichtigt«.76 Darüber, ob man ein Dokument publizieren solle oder nicht, stimmten die Bischöfe per Handzeichen ab. Eine deutliche Mehrheit sprach sich für eine öffentliche Positionierung des Episkopats aus. Die Argumente für ein erneutes offizielles Dokument der Bischofskonferenz hatten also Wirkung gezeigt. Zunächst wurde der erste Entwurf, vorgelegt von der Comisión Ejecutiva der CEA, mit 59 placet und 3 non placet zur Grundlage für das Bischofsdokument bestimmt.77 Der Austausch über die aktuelle Lage und die Rolle der Kirche endete mit einem Beitrag von Nevares, der zeigt, wie gut die Bischöfe über das Phänomen der Verschwundenen informiert waren. Auf die Frage, wie viele desaparecidos es gäbe, antwortete Nevares, laut Informationen des Nuntius seien es 1800. Zudem verlas er den Brief eines nicht näher benannten Angehörigen des Militärs, der über Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren berichtete und darüber, dass Repressionsopfer aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen wurden.78 Auf diesen Bericht über die Repression aus erster Hand folgte keine weitere Einlassung zum Thema, sondern man ging unmittelbar zu einem gänzlich anderen Tagesordnungspunkt über. Dies ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund, dass es sich keinesfalls um eine allgemein bekannte Information handelte. Erst Anfang 1984 berichtete die argentinische Presse über die so genannten Todes75 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1977; BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1977. 76 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1977, »Podría ser un aporte positivo una posición bien definida de la Iglesia sobre todo teniendo en cuenta sus [de los gobernantes de facto] repetitivas profesiones de fe«. 77 Außerdem wurde die Redaktionskommission gewählt, bestehend aus Laguna (35 Stimmen), Iriarte (24 Stimmen) und Tortolo (21 Stimmen). BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1977. 78 Ebd.
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flüge. Im Jahr 1995 wurde ihre Existenz durch die Bekenntnisse des Marineoffiziers Scilingo erneut einem breiten Publikum präsentiert.79 Wiederholt Thema war das Projekt eines offiziellen Bischofsdokuments am Mittag des 4. Mai, noch vor dem Besuch der Generäle in der Vollversammlung. Der Textentwurf wurde verlesen, ohne dass jedoch eine Debatte stattfand. Erst am 6. Mai verlas man den bis dahin weiter modifizierten Entwurf. Den Aufzeichnungen Devotos zufolge war das Dokument stark umstritten. Er notierte, die Bischöfe seien geteilter Meinung, es gäbe sogar Bischöfe, die das Dokument in Gänze ablehnen würden, ohne zu benennen, um wen es sich handelte. Leider sind die vorliegenden Aufzeichnungen beider Bischöfe relativ spärlich, so dass die Auseinandersetzung unter den Bischöfen um den Textentwurf nicht im Einzelnen nachvollzogen werden kann. In jedem Fall verweist die bereits genannte starke Konfliktivität des Gegenstands darauf, dass unter den Bischöfen eine Auseinandersetzung um die Art der offiziellen Festschreibung stattfand, die das Dokument leisten sollte. Bei näherer Betrachtung des Prozesses der Ausarbeitung des Dokuments bis zu seiner endgültigen Fassung, lassen sich verschiedene Veränderungen feststellen, die zu einer Abschwächung der Aussagen führten. Diese Änderungen lassen sich als Ergebnis der unter den Bischöfen bestehenden Sorge um die Beziehung zu den Militärs deuten, da insbesondere Äußerungen zu den Akteur*innen des repressiven Gewaltgeschehens geändert beziehungsweise gestrichen worden waren. So wurde beispielsweise ein Textteil, der Folter thematisierte, so geändert, dass nicht mehr erwähnt wurde, dass sich die Folteropfer in der Gewalt staatlicher Akteure befanden. Ausdruck der Sorge um das Verhältnis zu den Militärmachthabern waren auch die neu eingefügten Passagen, in denen eine explizite Wertschätzung der Militärregierung formuliert wurde. Bei der Bezugnahme auf die Verschwundenen erfolgte eine Streichung, die ebenfalls als Abschwächung gedeutet werden kann. Statt das Phänomen des Verschwindenlassens als »eine der größten Sorgen«80 der Bischofskonferenz zu präsentieren, wie 79 Wie Feld schreibt, war dies 1984 noch nicht der Fall, was man daran erkennen könne, dass die Enthüllungen des an den Todesflügen beteiligten Scilingo im Jahr 1995 als sensationelle ›Neuigkeit‹ rezipiert wurden. Vgl. Feld, Claudia: »La prensa de la transición ante el problema de los desaparecidos: El discurso del ›show del horror‹«, in: Dies./Marina Franco (Hg.), Democracia, hora cero. Actores, políticas y debates en los inicios de la posdictadura, Buenos Aires 2015, S. 269–316, hier insbesondere S. 312. Zu den Todesflügen vgl. Verbitsky, Horacio: El vuelo, Barcelona 1995; englische Übersetzung: The Flight. Confessions of an Argentine Dirty Warrior, New York 1996. 80 BAG, CEA Asamblea Plenaria, Reflexión para el pueblo cristiano de la Patria (Anteproyecto) [im Folgenden zitiert als CEA-DOC Mai 1977 Entwurf A-1]; BAG, CEA Asamblea Plenaria, Reflexión cristiana para el pueblo de la Patria (Proyecto), im Folgenden zitiert als CEA-DOC Mai 1977 Entwurf A-2; Reflexión cristiana para el pueblo de la Patria, in: AICA-DOC 62, Suplemento del Boletín AICA 1964/1065 (19. Mai 1977), im Folgenden zitiert als CEA-DOC Mai 1977.
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es im Entwurf der Fall war, wurde die Problematik zu einem Punkt unter etlichen anderen, ohne dass sie besonders hervorgehoben worden wäre. An den Unterschieden in der Ansprache von Guerilla-Mitgliedern einerseits und dem Militär andererseits wird ersichtlich, dass mit dem Dokument eine deutliche Abgrenzung von Mitgliedern der Guerilla gewünscht wurde. So richtete sich das Dokument »in besonderer Weise« an jene, die »die Subversion initiierten, säten und weiterhin säen«, statt sich »auch« an sie zu wenden, wie im Falle des Militärs.81 Auf diese Weise legte das Dokument implizit eine größere Verantwortung der Guerilla für das Gewaltgeschehen nahe.82 In den Aufzeichnungen von Nevares ist eine Äußerung des Bischofs López festgehalten, die einen Hinweis darauf gibt, warum es trotz der Differenzen unter den Bischöfen letztlich im Prozess der Ausarbeitung dazu kam, dass das Dokument von einer großen Mehrheit akzeptiert wurde. López sagte, er schließe sich dem Dokument voll und ganz an, und zwar aus den folgenden Gründen: der pastoralen Sorge um die Regierenden, weil es sich um eine Antwort auf die Erwartungen des Volkes handele und wegen der Besonnenheit und Vorsicht, mit der es verfasst worden sei. Insgesamt drückt er damit eine eher junta-nahe Haltung aus, da er die Junta als Adressaten in den Vordergrund stellt und den moderaten Ton des Dokumentes lobt. Angenommen wurde das Bischofsdokument in seiner endgültigen Fassung mit 52 Ja-Stimmen, vier Gegenstimmen und zwei Enthaltungen.
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Ambigue Positionierungen und kritische Worte des argentinischen Episkopats
Wie die Analyse des Erarbeitungsprozesses und der vorangegangenen Debatte um die Rolle der Kirche gezeigt hat, versuchten einige Bischöfe das Thema Menschenrechte stark zu machen, während andere um die Beziehung zu den Militärs besorgt waren, wobei nicht immer eine trennscharfe Unterscheidung getroffen werden kann und es sich bei den Positionen nicht notwendigerweise um Widersprüche handelte. So setzte sich Zaspe beispielsweise vehement für eine kritische Positionierung der Amtskirche und die Verteidigung der Menschenrechte ein und befürwortete zugleich einen Besuch der Generäle in der Vollversammlung der Bischöfe. Die Heterogenität der Positionen innerhalb der Bischofskonferenz zeigt sich auch im abschließenden Dokument. Trotz der bereits dargestellten Modifikationen und der positiven Äußerungen über die Militärregierung wurde das Dokument von den Zeitgenoss*innen als wesentlicher 81 CEA-DOC Mai 1977. 82 Ebd.
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Beitrag zur Menschenrechtsdebatte rezipiert. Um besser zu verstehen, worauf sich diese Lesart gründete und wo Ambivalenzen lagen, wird vor der Analyse der Reaktionen auf das Dokument ein Blick auf die Inhalte desselben geworfen. Dabei liegt der Fokus auf der Darstellung der Beziehungen zwischen Kirche und Militärjunta, der Äußerungen zum Phänomen der desaparecidos und der Menschenrechtsverletzungen. An unterschiedlicher Stelle zeigten die Bischöfe eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Militärregierung. So wird das Regierungsgeschäft als »schwere und mühselige Aufgabe«83 beschrieben, die die Bischöfe laut eigener Aussage keineswegs behindern wollten. Eine explizit positive Würdigung des Militärs brachte ein ganzer Absatz zum Ausdruck, in dem es hieß, man schätze und kenne die Anstrengungen von Regierenden und Staatsdienern, ihre Hingabe und ihre Uneigennützigkeit im Dienst am Vaterland, die in nicht wenigen Fällen das Opfer des eigenen Lebens bedeutet habe.84 Die Nähe zum Militär ist auch auf der Ebene etlicher Elemente zu erkennen, die sich nahtlos in den Diskurs der Militärmachthaber einfügen lassen. Dazu gehört beispielsweise die Idee, es existiere eine internationale ›anti-argentinische‹ Kampagne, oder die Vorstellung einer ›argentinischen Nation‹, zu deren Wesensmerkmal es gehöre, dass sie mit dem Marxismus unvereinbar sei. Ein weiteres Merkmal der vorgestellten nationalen Gemeinschaft war aus der Perspektive der kirchlichen Würdenträger der christliche Glaube, der metaphorisch als »nährende Wurzel« sowohl für Regierende als auch Regierte vorgestellt wurde. Mit der diskursiven Inklusion aller Argentinier in eine vorgestellte Gemeinschaft, die neben der Zugehörigkeit zum Nationalstaat auch die religiöse Zugehörigkeit umfassen sollte, wurde so eine Schicksalsgemeinschaft konstruiert, in der politische Differenzen nivelliert wurden. Dieser Diskursstrang lässt sich der Konstruktion einer ›katholischen Nation‹ im kollektiven Imaginären zuordnen. Bei Berücksichtigung des wiederholten Auftretens von Diskurselementen, die nahtlos im Diskurs der Militärjunta aufgingen, erscheint es mehr als folgerichtig, dass ein gewisses Verständnis und eine Rechtfertigung der repressiven Maßnahmen der Militärregierung formuliert wurden, wie beispielsweise im folgenden Absatz: »Wir verstehen das schwierige Unternehmen, das die Bewahrung des Gemeinwohls
83 CEA-DOC Mai 1977, »difícil y ardua tarea de gobierno«. 84 Ebd., »Conocemos y valoramos el esfuerzo de gobernantes y funcionarios, de su entrega y desinterés al servicio de la patria, que en no pocos casos ha significado la ofrenda de la propia vida […]«. (»Wir kennen und schätzen die Anstrengungen der Regierenden und der Beamten, ihrer Hingabe und ihre Selbstlosigkeit im Dienst für das Vaterland, die in nicht wenigen Fällen das Opfer des eigenen Lebens bedeutet hat […]«).
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Konfliktive Aushandlungsprozesse, ambigues Sprechen, widerstreitende Lesarten
bedeutet […] und wie die Bewahrung des Gemeinwohls kollidieren kann mit bestimmten Rechten der Person.«85 Wie im Vorjahr wurde auch in diesem Abschnitt ein Konflikt zwischen der Wahrung des Gemeinwohls und individuellen Rechten konstruiert. Umso erstaunlicher ist vor diesem Hintergrund die ebenfalls im Dokument lesbare Kritik an der Junta und das Anprangern der Menschenrechtsverletzungen. Der besondere Charakter dieses Bischofsdokuments vom Mai 1977 manifestiert sich auch in dem deutlichen Bemühen der Bischöfe, ihre Intervention bezüglich der Menschenrechte in besonderer Weise zu legitimieren. Deswegen sprachen sie in den ersten Absätzen davon, dass das Recht zu sprechen sich in Situationen wie der aktuellen in eine Pflicht verwandele. Schweigen bedeute Untreue, so das Bischofsdokument.86 An dieser Stelle spiegelt sich die Debatte um die Rolle der Amtskirche in der Vollversammlung der Bischöfe wider. Es ist bemerkenswert, dass die Bischöfe in ihrem Dokument – wie bereits im Jahr zuvor – von der Universalität der Menschenrechte sprachen und das Akzeptieren von Menschenrechtsverletzungen verurteilten.87 Die Idee der allgemeinen Gültigkeit der 85 CEA-DOC Mai 1977, »Comprendemos la difícil empresa que en la práctica significa custodiar el bien común […] y cómo la custodia del bien común puede entrar en aparente colisión con determinados derechos de la persona.«. 86 Ebd., »Hablamos, porque el derecho que tenemos a iluminar con la luz del evangelio la vida de los hombres dándoles la doctrina y evaluando también, a la luz de la misma, la moralidad de los hechos individuales y sociales, se convierte en circunstancias como las actuales en un deber. Callar sería infidelidad.« (»Wir sprechen, weil das Recht, das wir haben, mit dem Licht des Evangeliums das Leben der Menschen zu erhellen, indem wir ihnen die Doktrin geben und auch im Lichte dieser Doktrin die Sittlichkeit einzelner Tatsachen einschätzen, die sich in Umständen wie den gegenwärtigen in eine Pflicht verwandelt.«). 87 Ebd., »La alteración de este orden [orden social], así como un concepto equivocado de la seguridad personal o social han llevado a muchas conciencias a tolerar y aun a aceptar, la violación de elementales derechos del hombre, creado a imagen de Dios y redimido por Cristo; así como ha llevado también a admitir la licitud del asesinato del enemigo, la tortura moral y física, la privación ilegítima de la libertad o la eliminación de todos aquellos de los que pudiera presumirse que son agresores de la seguridad personal o colectiva, en contradicción al principio de Pablo VI ›si quieres la paz, defiende la vida‹.«. (»Die Beeinträchtigung dieser Ordnung [der sozialen Ordnung], ebenso wie ein irriges Konzept der persönlichen oder sozialen Sicherheit hat viele Gewissen dazu gebracht, die Verletzung der elementaren Rechte des Menschen, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes und erlöst durch Christus, zu tolerieren oder sogar zu akzeptieren; ebenso wie sie dazu geführt hat, die Zulässigkeit der Ermordung des Feindes zuzugestehen, die moralische und physische Folter, der illegitime Freiheitsentzug oder der Eliminierung all jener, von denen man annehmen könnte, dass sie Angreifer der individuellen oder kollektiven Sicherheit sind, im Widerspruch zum Prinzip von Paul VI ›wenn du den Frieden willst, verteidige das Leben‹.«). Beigetragen zu einer klareren Haltung des Episkopats in der Menschenrechtsfrage hatte nach Einschätzung Obregóns die anhaltende Repression gegen Kirchenmitglieder. Zugleich hält er es für möglich, dass der Vatikan dem nationalen Episkopat eine klare Stellungnahme abgefordert hat. Seine Einschätzung basiert auf der Aussage des Priesters Giustoni, der in engem Kontakt mit dem Nuntius Pio Laghi stand und in einem Interview berichtete, dass Paul VI. einflussreichen Mitgliedern der
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Menschenrechte legitimierten sie durch die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (imago dei). So lieferten sie eine religiöse Begründung für die Universalität der Menschenrechte, die in der Regel säkular gedacht werden und so auch in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN kodifiziert sind.88 Wie im Dokument vom Mai 1976 postulierten die Bischöfe einerseits die Universalität der Menschenrechte und sprachen andererseits von der Notwendigkeit zur Einschränkung von Rechten zugunsten eines übergeordneten Ziels, hier konzeptioniert als Gemeinwohl. Insgesamt ist durch das Zusammenspiel der junta-nahen Passagen und der kritischen Einlassungen auch in diesem Dokument eine starke Ambiguität der Aussagen festzustellen. Einen wichtigen Stellenwert nahm im Bischofsdokument der Begriff der Wahrheit ein. Wahrheit stelle, so die Worte der Bischöfe, ein zwingend notwendiges Mittel dar, um die umfassende Gültigkeit des Gesetzes zu gewährleisten.89 Aus einer normativen Perspektive betonten sie damit die grundlegende Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit. Inbegriffen in der Vorstellung gültigen Rechts war ein Recht auf Wissen, hier vor allem das Wissen um den Verbleib der verschwundenen Angehörigen, das der Staat und seine Institutionen garantieren sollten. Die »volle Wahrheit ohne Maskierung«90 sei der einzige Weg, dem Recht zur Gültigkeit zu verhelfen. Da das Vorenthalten von Informationen ein wesentlicher Bestandteil der systematischen Repression war, gewann die Äußerung, die Wahrheit verhelfe zum Recht, besondere Relevanz. Sie entsprach den Forderungen der Angehörigen der Verschwundenen nach Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Bezugnahme auf die Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit, verbunden mit dem Postulat, dass die Ausübung von Gewalt nur im Rahmen rechtlicher Regelungen erfolgen dürfe. Das Dokument der Bischöfe betonte, dass dies auch für die repressiven Maßnahmen gelte. Auch wenn es besondere Umstände geben könne, die eine Einschränkung der individuellen Rechte zur Wahrung des Gemeinwohls notwendig
Kirchenhierarchie zu verstehen gegeben habe, dass es Zeit sei, etwas zu sagen. Obregón 2005, S. 130. 88 Damit sollen weder die ideengeschichtlichen Verflechtungen noch die Relevanz religiöser Akteur*innen verneint werden, wie sie von Moyn hervorgehoben werden. Es geht lediglich darum, zu verdeutlichen, dass Menschenrechte in der Regel als säkulares Konzept verstanden werden. Moyn, Samuel: Christian Human Rights, Philadelphia 2015. 89 CEA-DOC Mai 1977, »Para superar esta dificultad, quizás la más grave de este proceso que nos toca vivir, hay un solo principio liberador, la plena vigencia de la ley justa y un solo camino para llegar a ello, la verdad plena y sin disfraz.« (»Um diese Schwierigkeit zu überwinden, vielleicht die schwerwiegendste dieses Prozesses, den wir durchleben, gibt es nur ein befreiendes Prinzip, die vollumfängliche Gültigkeit des gerechten Gesetzes und einen einzigen Weg, um dorthin zu gelangen, die volle Wahrheit ohne Maskierung.«). 90 Ebd.
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mache, müsse für eine »legitime Repression«91 immer innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens agiert werden. Wie bereits im Dokument vom Mai 1976 bediente sich die Bischofskonferenz auch in diesem Text der Semantik der Menschenrechte. Sie sprach davon, dass falsche Vorstellungen der persönlichen oder sozialen Sicherheit dazu geführt hätten, dass viele die Verletzung der elementaren Rechte des Menschen tolerieren oder sogar akzeptieren würden. Auch an dieser Stelle bezogen die Bischöfe sich auf die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit, um die Menschenrechte religiös zu begründen. Bevor die kirchlichen Würdenträger jedoch detailliert auf die unterschiedlichen Formen der Menschenrechtsverletzungen eingingen, wandten sie sich mit den folgenden Worten direkt an die Militärs: »Wir haben viele Male die Streitkräfte den christlichen Charakter bekunden hören, den sie ihrer Amtsführung aufprägen wollen. Das verpflichtet uns dazu, daran zu erinnern, dass das Christsein seinem Wesen nach ein uneigennütziges, praktisches Engagement umfasst.«92
In diesem Verweis auf die notwendige Korrespondenz von christlichem Bekenntnis und praktischem Handeln lässt sich die Intervention des Bischofs Nevares wiedererkennen, der, wie dargelegt, den Gedanken in der Bischofsversammlung vorbrachte, dass das christliche Bekenntnis darauf verpflichte, gemäß christlicher Prinzipien zu handeln. Unmittelbar an diesen Absatz schloss eine detaillierte Darstellung der Probleme an, die, so die Bischöfe, bei ihnen »ernsthafte Beunruhigung« auslösten. Es handelte sich, so das offizielle Bischofsdokument, um das Verschwinden von Personen und um Entführungen, das Fehlen von Information über verschwundene und verhaftete Personen, um Folter und lange andauernde Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren und ohne Möglichkeit zur juristischen Verteidigung.93 In diesem Zusammenhang verwandte der ar91 CEA-DOC Mai 1977, »Cuando se viven circunstancias excepcionales y de extraordinario peligro para el ser nacional, estas leyes podrán ser también excepcionales y extraordinarias, sacrificando, si fuese necesario, derechos individuales en beneficio del bien común. Pero ha de procederse siempre en el marco de la ley y bajo su amparo para una legitima represión, la cual no es otra cosa, cuando así se la practica, que una forma del ejercicio de la justicia.« (»Wenn außergewöhnliche und ausgesprochen gefährliche Umstände für das nationale Wesen herrschen, können diese Gesetze auch außergewöhnlich und außerordentlich sein, die individuellen Rechte zugunsten des Gemeinwohls opfernd, sollte es nötig sein. Aber es muss immer im Rahmen des Gesetzes und unter seinem Schutz vorgegangen werden für eine legitime Repression, welche nichts anders ist, wenn sie so praktiziert wird, als eine Form der Gerechtigkeit.«). 92 Ebd., »Hemos escuchado muchas veces manifestar el carácter cristiano que el gobierno de las Fuerzas Armadas quiere imprimir a su gestión. Esto nos obliga a recordar que el ser cristiano incluye en su esencia, un abnegado compromiso práctico.«. 93 Ebd., »a) Las numerosas desapariciones y secuestros, que son frecuentemente denunciados, sin que ninguna autoridad pueda responder a los reclamos que se formulan, lo cual parecería manifestar que el gobierno no ha logrado aun el uso exclusivo de la fuerza. b) La situación de
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gentinische Episkopat erstmals den Begriff desaparecidos in einem offiziellen Dokument. Allerdings blieb auch diesmal eine vollständige autoritative Bestätigung der Erfahrung der Angehörigen aus, da die Bischofskonferenz nicht konstatierte, dass es desaparecidos gab, sondern davon sprach, sie würden von den Angehörigen und Freunden als solche präsentiert. Damit weigerte die Bischofskonferenz sich offiziell, sich die Sprecherposition der Angehörigen der Verschwundenen zu eigen zu machen, obwohl sie festhielt, dass »zahlreiche Fälle von desapariciones [des Verschwindens] und Entführungen regelmäßig angezeigt« wurden. Auch in der Formulierung über Folter wahrte das Bischofsdokument in ähnlicher Weise Distanz zu den Opfern der Repression. Gleichzeitig verwies das Dokument in der konkreten Benennung der Missstände auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und forderte von den regierenden Generälen dessen Einhaltung. Ein direkter Angriff auf Militär und staatliche Sicherheitskräfte erfolgte nicht, aber es wurden Passagen formuliert, die als Verweise auf ihre Täterschaft fungierten. So hieß es, dass die Angehörigen der Verschwundenen und Entführten in Gruppen auftretende Täter ausmachten, die sich während der Razzien und Verschleppungen selbst als Mitglieder der Streitkräfte oder von Polizeieinheiten identifizierten. Aber auch hier wurde die Deutung der Angehörigen nicht offiziell von der Institution Kirche übernommen. Dennoch eröffnete die Kirche mit der Aufnahme der Themenkomplexe in numerosos habitantes de nuestro país, a quienes la solicitud de familiares y amigos presentan como desaparecidos o secuestrados por grupos autoidentificados como miembros de las Fuerzas Armadas o policiales, sin lograr, en la mayoría de los casos, ni los familiares, ni los obispos que tantas veces han intercedido, información alguna sobre ellos c) El hecho de que muchos presos, según sus declaraciones o las de sus familiares, habrían sido sometidos a torturas que, por cierto, son inaceptables en conciencia para todo cristiano y que degradan, no sólo al que las sufre, sino sobre todo al que las ejecuta. d) Finalmente, algo que es muy difícil de justificar: las largas detenciones sin que el detenido pueda defenderse o saber, al menos, la causa de su prisión; tanto más, cuanto que la situación carcelaria a veces no contempla primordiales necesidades humanas, sin excluir las religiosas.« (»a) Das zahlreiche Verschwinden und die zahlreichen Entführungen, die oft angezeigt werden, ohne dass irgendeine Autorität auf die Beschwerden, die formuliert werden, antworten könnte, was darauf hinzuweisen scheint, dass die Regierung noch nicht die exklusive Ausübung der Gewalt erlangt hat. b) Die Situation vieler Einwohner unseres Landes, die die Anfragen der Familienangehörigen und Freunde anzeigen als verschwunden oder entführt von Gruppen, die sich selbst als Angehöriges des Militärs oder der Polizei vorstellen, ohne dass, in der Mehrheit der Fälle, irgendeine Information über sie erlangt werden kann, weder von den Angehörigen noch von den Bischöfen, die so oft interveniert haben c) Die Tatsache, dass viele Gefangene, gemäß ihrer eigenen oder der Aussagen ihrer Angehörigen der Folter unterzogen wurden, die im Übrigen inakzeptabel ist im Bewusstsein eines jeden Christen und die nicht nur den entwürdigen, der sie erleidet, sondern vor allem jenen, der sie ausübt. d) Schließlich, etwas das nur schwer zu rechtfertigen ist: die langen Gefangenschaften ohne dass der Gefangene sich verteidigen oder wenigstens den Grund seiner Gefangenschaft erfahren kann; umso mehr, da die Situation in den Gefängnissen manchmal die vorrangigen menschlichen Bedürfnisse nicht berücksichtigt, ohne die religiösen davon auszunehmen.«).
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das Dokument die Möglichkeit, die Erfahrungen und die Perspektive der Repressionsopfer als existent und wahr zu deuten. In einem gewissen Widerspruch zum Referieren der Beobachtung der Angehörigen bezüglich der Täterschaft stand allerdings die Äußerung des Bischofsdokuments, dass das Verschwinden und die Entführungen zeigen würden, dass die Regierung noch nicht die exklusive Kontrolle über das Gewaltmonopol erlangt habe. Damit knüpfte das Dokument an die Legitimationsfigur des ›Exzesses‹ in der Repression an, die die Militärjunta offiziell vertrat, und enthob mit dieser Äußerung die Regierenden der unmittelbaren Verantwortung für das Gewaltgeschehen. Zudem wurde durch die fehlende Benennung von Akteuren indirekt auf politische Gewalt nichtstaatlicher Akteure angespielt, die dieser Äußerung zufolge auch als potentielle Täter*innen in Frage kamen. Gemäß dieser Deutung handelte es sich bei den festgestellten Fällen des Verschwindenlassens und der Entführungen nicht um ein systematisches und von den regierenden Generälen angeordnetes Vorgehen, sondern um unkontrollierte Aktionen nicht näher benannter Akteure, die sich der Kontrolle der Militärregierung vermeintlich entzogen.
2.7
Rezeption des Bischofsdokuments vom Mai 1977
Der kritische Gehalt des Dokuments entging weder der argentinischen Tagespresse noch den katholischen Zeitschriften, so dass sie das Dokument mehrheitlich als wichtigen Beitrag zur Menschenrechtsdebatte werteten. Etliche Artikel griffen das Thema der Repression auf und sprachen explizit von Folter, Verschwundenen und Entführungen. Wie auch im Bischofsdokument selbst, gab es in den Presseberichten keine explizite Benennung der Täterschaft der Militärmachthaber. Wer für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war, blieb deshalb zu diesem Zeitpunkt aus der öffentlichen Auseinandersetzung weiterhin ausgespart. Die Rezeption des Dokuments erfolgte zwar aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, aber ungeachtet des jeweiligen Standorts wird anhand der Lektüre der publizierten Deutungen des Dokumentes deutlich, dass die zeitgenössischen Autor*innen und Leser*innen die kritischen Äußerungen zur Repression wahrnahmen. Und zwar unabhängig davon, ob sie die Äußerungen des Bischofsdokuments zur Menschenrechtsfrage grundsätzlich positiv oder negativ bewerteten. So sahen Menschenrechtsorganisationen das Dokument als positiven Beitrag der katholischen Kirche im Kampf für die Menschenrechte, während nationalkonservative katholische Kräfte es als Werk vermeintlich ›linker‹ Bischöfe deuteten und dementsprechend negativ sahen. Im Beitrag der national-katholischen Zeitschrift Cabildo wurde zunächst über die Heterogenität des Episkopats reflektiert, das der Autor des Artikels in vier Gruppen unterteilte. Erstens gebe es die »sehr guten Bischöfe«, zweitens die
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Schweigenden, drittens diejenigen, die der Mehrheit folgten, und viertens eine kleine, sehr aktive Gruppe Bischöfe mit »klaren drittweltlerischen und sozialistischen Tendenzen«.94 Ausgehend von dieser Perspektive auf den Episkopat betonte der Autor, dass die Bischofsdokumente notwendigerweise schon in Stil und Tonfall den Kompromiss erkennen lassen, der seiner Ansicht nach das Ergebnis einer »fiktiven und formalen Einheit« sei. Dieser unverblümte Blick auf die Differenzen innerhalb der Bischofskonferenz rührte nicht zuletzt aus der Unzufriedenheit mit dem Dokument der Bischöfe. Die harsche Kritik des Autors identifizierte zwei »Unterlassungen«95 innerhalb des Dokuments. Zum einen habe es versäumt, das Problem der marxistischen Unterwanderung der Kirche anzusprechen, und zum anderen habe es nicht klar von der aktuellen Lage gesprochen, schließlich handelte es sich, so die Perspektive des Autors, um einen von der Guerilla entfesselten Krieg, von dem die Nation heimgesucht werde. Deswegen hielt er die Kritik der Bischöfe an der Repression für absolut unangemessen. Denn die von den Bischöfen angesprochenen »Exzesse« seien nichts anderes als die »unvermeidliche Quote an Grausamkeit und Ungerechtigkeit, die jeden Krieg begleitet; Exzesse […], die nicht in einem falschen Kontext eines liberalen Personalismus beurteilt werden dürfen, egal mit wie vielen konziliaren Zitaten man auch meint, ihn begründen zu können.«96
Indirekt bezog sich Cabildo mit der Kritik an einem »liberalen Personalismus« auf die Idee der Menschenrechte und setzte ihnen eine naturrechtlich begründete Vorstellung vom ›gerechten Krieg‹ entgegen, die jegliches Handeln des Militärs als notwendig legitimieren sollte. Aus dieser Logik heraus war die Repression vor allem eine Reaktion auf die Gewalt von Guerillagruppen, die somit als Urheber verantwortlich gemacht wurden. In ähnlicher Weise argumentierte die liberalkatholische Zeitschrift Criterio und machte deutlich, dass sie das Vorgehen der Junta insgesamt für richtig hielt. Sie bewertete das Dokument der Bischöfe allerdings nicht negativ wie Cabildo, sondern tendenziell positiv, weil es Probleme wie das Verschwinden von Menschen, Entführungen und Folter benannte.97 Insgesamt vertrat Criterio eine im Vergleich zu Cabildo moderate Haltung und zeigte eine große Übereinstimmung mit der offiziellen Positionierung der Bischöfe. Cabildo dagegen stellte die Legitimierungsstrategie der argentinischen
94 Un penoso desencuentro, in: Cabildo 8, (Mai-Juni 1977), »Obispos de decididas tendencias tercermundistas y socializantes«. 95 Ebd. 96 Ebd., »inevitable cuota de crueldad e injusticia que acompaña a toda guerra; excesos […] que no pueden ser juzgados en el falso contexto de un personalismo liberal por más citas conciliares con que se pretenda avalarlo.«. 97 Los caminos de la razón, in: Criterio 1764 (26. Mai 1977).
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Bischöfe, ihr Dokument mit Bezügen zur Pastoralkonstitution Gaudium et Spes zu untermauern, in Frage und ließ damit eine negative Haltung gegenüber den Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils erkennen. Interessant ist, dass der Artikel Gerüchte über den Ablauf der Bischofskonferenz kolportierte und berichtete, die Mehrheit der Bischöfe habe zunächst gegen das Dokument gestimmt, und dass das Dokument das Werk einiger ›linker‹ Bischöfe – darunter Iriarte, Devoto, Nevares und Hesayne – gewesen sei. Mit dieser Deutung schrieb Cabildo diesen Bischöfen eine große Handlungsmacht zu, die sicher nicht ihren realen Handlungsmöglichkeiten entsprach. Trotz ihrer starken Übertreibung verweist auch diese Interpretation auf den Beitrag derjenigen Bischöfe, die sich sowohl den konziliaren Neuerungen als auch der Verteidigung der Menschenrechte verschrieben hatten. Insgesamt lässt sich erkennen, dass Cabildo den kritischen Gehalt des Bischofsdokuments in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen klar wahrnahm, weil die Zeitschrift das Dokument aus einer junta-nahen Haltung heraus scharf kritisierte und damit wiederum auf die episkopale Kritik am Agieren der Junta reagierte. Auch die Äußerungen des Militärbischofs Bonamín machen deutlich, dass der Text nicht nur von Menschenrechtsaktivist*innen als Kritik an der Repressionspraxis verstanden wurde, sondern auch die Militärmachthaber Adressaten des Dokuments waren. Insofern erweckt Bonamíns über die Tagespresse verbreiteter Kommentar zum Bischofsdokument den Eindruck, dass es ihm vor allem darum ging, der dort formulierten Kritik die Spitze zu nehmen und deutlich zu machen, dass der Episkopat das Agieren der Militärjunta unterstützte. Das von ihm bemühte Bild der kleinen, väterlichen Ohrfeige drückte dabei zugleich eine familiäre Nähe zwischen Militär und Kirche sowie eine moralische Autorität der kirchlichen Würdenträger aus, die ein hierarchisches Verhältnis begründete: »Das Militär ist es, das die Ohrfeigen erhält mit all dieser Subversion. Deswegen hat dieses Episkopat dieses Dokument veröffentlicht. Weil es liebt, weil es das Handeln der Regierung in diesen Momenten unterstützt. Diese Worte […], die momentan ein wenig heftig erscheinen, sind wie die kleine Ohrfeige, die der Vater dem Sohn gibt. Das Dokument ist ernst, ja, aber etwas heftig.«98
Interessant ist, dass Bonamín das Dokument als »etwas heftig« bezeichnete, weil es sich um einen Versuch handelte, Einfluss auf die Rezeption der Bischofsworte 98 La Opinión, 13. Mai 1977, Evalúan la posición episcopal – Opiniones de los monseñores Sansierra y Bonamín, »El Ejército es el que está recibiendo las cachetadas con toda esta subversión. Por eso, este Episcopado ha dado este documento. Porque ama, porque apoya la acción que está desarollando el gobierno en estos momentos. Esas palabras […] que por momentos parecen un poco fuertes, son como la cachetadita que da el padre al hijo. El documento es serio, si, pero un poco fuerte.«.
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zu nehmen, indem er die Deutung als »heftig« mittels des Adjektivs »etwas« deutlich abschwächte und das Verhältnis von Kirche und Militärjunta als insgesamt positiv charakterisierte. Dies spricht dafür, dass auch aus seiner Perspektive unterschiedliche Lesarten des Dokuments möglich waren beziehungsweise er von diesen Interpretationen Kenntnis hatte. Auch die Einlassungen des Kardinals Primatesta sind ein Hinweis darauf, dass das Dokument als Kritik begriffen wurde, da er den Sprechakt des Episkopats explizit mit den Worten rechtfertigte, man habe das Dokument mit aufrichtiger Intention und ohne negative Einstellung abgefasst.99 Bei diesen Kommentaren zum Bischofsdokument handelte es sich um den Versuch, die Rezeption des Texts im Sinne der eigenen Position zu beeinflussen, denn sie waren Teil des Deutungskampfs um die offizielle Haltung der Institution Kirche zu den Menschenrechtsverletzungen. Wiederholt betonten einige Bischöfe und Mitglieder der Junta, dass die Beziehungen zwischen Junta und Bischofskonferenz gut seien, und wiesen die Annahme zurück, das Dokument richte sich gegen das Agieren der Junta.100 Auch dies belegt, dass die Wahrnehmung des kritischen Gehalts des episkopalen Dokuments vom Mai 1977 weit verbreitet war. Eine solche öffentliche Affirmation guter Beziehungen zwischen Junta und Episkopat war nicht zuletzt eine Gegenreaktion auf die trotz der Ambivalenzen erkennbare Kritik des Bischofsdokuments, die sich in der Rezeption anderer Akteur*innen widerspiegelte. Aus einer gänzlich anderen Perspektive bewerteten in der Menschenrechtsbewegung aktive Priester und Lai*innen das Dokument. Die Priester der Diözese Neuquén schlossen sich dem Bischofsdokument mit einer eigenen Erklärung an, die zumindest auszugsweise auch in der überregionalen Tagespresse wiedergegeben wurde. Dort bekräftigten sie ihr Engagement für die Menschenrechte und schrieben, sie seien froh, es im Wissen auszuüben, sich in Übereinstimmung mit dem Episkopat zu befinden.101 Diese Aussage könnte als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Priester sich zuvor nicht sicher sein konnten, dass ihr Handeln tatsächlich im Einklang mit der Bischofskonferenz stand oder sie es nicht für 99 La Opinión, 16. Mai 1977, Crecimiento implica crisis, dijo Primatesta, Primatesta wird folgendermaßen zitiert: »El Episcopado ha dado un documento […], procurando hacerlo con toda independencia y con toda la muy recta intención de servir y de ayudar. No con criterios negativos, sino buscando servir a Dios encontrando su voluntad, sin prescindir de las situaciones concretas.« (»Der Episkopat hat ein Dokument veröffentlicht […], sich darum bemühend, es mit völliger Unabhängigkeit und der absolut aufrichtigen Intention zu dienen und zu helfen, zu tun.«). 100 La Opinión, 13. Mai 1977, Evalúan la posición episcopal – Opiniones de los monseñores Sansierra y Bonamín; La Opinión, 13. Mai 1977, Videla reiteró las metas del gobierno y dijo que no hay colisión con la Iglesia; La Opinión, 17. Mai 1977, Sansierra volvió a referirse al documento del Episcopado; La Opinión, 20. Mai 1977, El diálogo Iglesia-Estado tras el informe episcopal. 101 La Nación, 25. Mai 1977, Adhiérense sacerdotes al texto episcopal; Privatarchiv David Lugones, Brief der Priester von Neuquén an die CEA, 19. Mai 1977.
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selbstverständlich hielten, dass es sie gab. Ihre schriftliche Unterstützung des Bischofsdokuments stellte ebenfalls einen Versuch dar, die Rezeption des Texts in die von ihnen favorisierte Richtung zu lenken. Der Beitrag der Priester im Deutungskampf wurde zumindest fragmentarisch außerhalb Neuquéns wahrgenommen102, während das Bischofsdokument selbst sogar im institutionellen Kontext der Kirche ignoriert werden konnte. So schrieb eine Laiin aus Tucumán an Bischof Nevares, dass das Bischofsdokument den »obersten Ebenen«103 der Diözese Tucumán nicht gefallen habe und der Bischof Conrero so tue, als gäbe es das Dokument nicht. Conrero gilt als junta-naher Bischof. Sein Umgang mit dem Dokument zeigt, wie stark die Ablehnung dieses Texts unter den Befürwortern der Diktatur und ihrer Repressionsmethoden war und welche Relevanz der Umgang mit den episkopalen Positionierungen auf der intermediären Ebene der Diözese hatte. Im Gegensatz dazu wurde das Dokument unter den Angehörigen der Verschwundenen sehr positiv aufgenommen. Teilweise waren die Reaktionen geradezu enthusiastisch. Eine Autorin schrieb: »[…] meinen warmherzigsten Zuspruch (und meine immense und angenehme Überraschung) zu diesem Juwel, das das von Ihnen verfasste Dokument war.«104 Auch hier drückte sich erneut ein Erstaunen über den Inhalt des Dokuments aus, das daher rührte, dass die Hoffnungen der Menschenrechtsaktivist*innen angesichts der Zusammensetzung des Episkopats in Hinblick auf eine menschenrechtsaffine Äußerung nicht besonders hoch waren. Ein anderer Absender wertete das Dokument als »viel besser als das vom vergangenen Mai« und machte so ebenfalls auf den Ausnahmecharakter des Texts aufmerksam. Im Vergleich zum Bischofsdokument des Vorjahres beurteilte er die neue offizielle Positionierung vom Mai 1977 als »standhafter und konkreter, vor allem, was die Menschenrechte betrifft.«105 102 BAN, Briefe, Augustín [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 29. Mai 1977. 103 BAN, Briefe, Malene [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 14. Mai 1977, »Muy bueno el documento. Sé que hubo discrepancias […] porque era más duro, pero salió bien. […] en los niveles superiores de aquí [Tucumán] no cayó bien. […] Aquí es como si no existiera.« (»Das Dokument ist sehr gut. Ich weiß, dass es Diskrepanzen gab […], weil es härter war, aber es ist gut gelungen. […] auf den obersten Ebenen hier [Tucumán] hat es nicht gefallen. Hier ist es, als ob es nicht existierte.«). 104 BAN, Briefe, María Rosa [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 15. August 1977. »[…] mi más cálida adhesión (y mi enorme y grata sorpresa) por esa joya que fue el documento redactado por Uds.«. 105 BAN, Briefe, Luis Fernando an Jaime de Nevares, 7. Januar 1977, »[…] veo que la Asamblea se sigue moviendo y me parece muy bien alguien tiene que levantar la voz de los sin voz, y la Iglesia creo que es la más indicada. Leí el documento ›Reflexión cristiana para el pueblo de la Patria‹, y me pareció mucho mejor que el del mayo del año pasado. Lo veo más firme y concreto sobre todo en los que ha derechos humanos concierne.« (»[…] ich sehe, dass die Asamblea sich weiterhin bewegt und es erscheint mir sehr gut, jemand muss die Stimme derjenigen ohne Stimme erheben, und ich glaube die Kirche ist am geeignetsten. Ich habe
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Andere Briefe thematisierten die Wirkung des Texts auf die Angehörigen der Verschwundenen und die Repressionsopfer: »Ich habe in den Zeitungen, wenn auch zerstückelt, die Deklaration ›Reflexión Cristiana para el Pueblo de la Patria‹ gelesen. Nach der gründlichen Lektüre derselben erschien sie mir, meine einfache und bescheidene Meinung, sehr treffend. Diese gemäßigte Warnung, dieser wachsame Aufruf mit präzisen Kritiken und großer Ernsthaftigkeit, hat sich zu Recht großes Lob verdient und Hoffnung gebracht in so viele von der ökonomischen Situation zerstörte Häuser der Arbeiterklasse, in diese Häuser, angstvoll und beklommen wegen des Verschwindens und der Entführung von Familienangehörigen und Freunden.«106
An dieser Stelle wird deutlich, dass im historischen Moment der Publikation, in dem das Sprechen über desaparecidos erstmals öffentlich erfolgte, das Dokument eine große Bedeutung für die Angehörigen der Verschwundenen und die Opfer der Repression erlangte. Noch ein Jahr später schrieb die Menschenrechtsorganisation Madres de Plaza de Mayo, dass sie sich von dieser Haltung des Episkopats, ihrem christlichen Erbarmen angesichts ihrer Tragödie, »getröstet«107 fühlte. Sie zeigte so, wie wichtig für sie neben der Anklage der Menschenrechtsverletzungen durch den Episkopat, die eine Legitimierung ihres Engagements bedeutete, auch die spirituell-emotionale Dimension war. Für etliche Angehörige von desaparecidos war das Bischofsdokument Lichtblick und Anlass zur Hoffnung zugleich.108 Deshalb wurde es in den folgenden Jahren zu einer das Dokument ›Reflexión cristiana para el pueblo de la Patria‹ gelesen, und es kam mir viel besser vor als das vom vergangenen Mai. Ich sehe es als firmer und konkreter was die Menschenrechte betrifft«); BAN, Briefe, Graziano [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 31. Mai 1977, »Me alegra la ›parresia‹ con que hablaron, mientras sufro por los hechos que motivaron tal declaración y sigo pidiendo a Dios paz y justicia con todos hombres de buena voluntad.« (»Mich freut die ›Parrhesia‹ [Redefreiheit, B.R.] mit der sie gesprochen haben, während ich unter den Tatsachen leide, die eine solche Erklärung verursacht haben und bitte Gott weiterhin um Frieden und Gerechtigkeit mit allen Menschen guten Willens.«). 106 BAN, Briefe, Lorenzo Horacio Alvarez an Jaime de Nevares, Juli 1977, »He leído en los diarios, aunque fraccionado, la declaración ›Reflexión Cristiano para el Pueblo de la Patria‹. Tras detenida lectura del mismo, me pareció, como simple y humilde opinión, muy oportuna. Ese toque de advertencia, ese llamado alerta, con precisiones críticas y de gran severidad han merecido grandes elogios y esperanzas en tantos hogares destrozados por la situación económica imperante en la clase trabajadora, en esos hogares angustiados por numerosas desapariciones y secuestros de familiares o amigos.«. 107 MADRES – línea fundadora, B4.411, Madres de Plaza de Mayo an Primatesta, 14. Juli 1978, »confortados por esa actitud del Episcopado, de cristiana piedad y comprensión ante nuestra tragedia.« (»getröstet durch diese Haltung des Episkopats, von christlichem Erbarmen und Verständnis angesichts unserer Tragödie.«). 108 BAN, Briefe, Ana Lucia Wilson de Cullen an Jaime de Nevares, 16. Mai 1977, »Junto con toda la flia [sic] te felicitamos por el documento Episcopal en el que se ve tu mano y en donde tenemos puestas muchas esperanzas.« (»Mit der ganzen Familie beglückwünschen wir dich zum Dokument des Episkopats, in dem man deine Handschrift erkennt und in das wir viele Hoffnungen setzen.«).
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wichtigen Referenz des Menschenrechtsdiskurses, allerdings nicht, ohne dass der Rekurs auf diesen Text mit der Forderung nach einer erneuten deutlichen Positionierung und vor allem nach konkretem Handeln zugunsten der Einhaltung der Menschenrechte einherging. Insofern mischte sich die positive Bewertung schnell mit Kritik an der Leitungsebene der Institution Kirche. Auf individueller Ebene formulierte beispielsweise ein katholischer Laie und Menschenrechtsaktivist in einem Brief an Nevares, dass es eines Bischofsdokuments mit mehr Schneid bedürfe, da das letzte keine Wirkung gezeigt habe.109 Diese und ähnliche zeitgenössische Einschätzungen mögen im Hinblick auf die direkte Wirkung in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen richtig sein, da die Repression nicht beendet wurde. Die rein zeitgenössische Perspektive verstellt aber möglicherweise den Blick dafür, dass das Bischofsdokument dazu beitrug, die Räume des Sagbaren zu erweitern. Bei Analyse der Reaktion der Militärjunta auf das Dokument wird deutlich, dass das erste öffentliche Eingeständnis Videlas, dass es tatsächlich desaparecidos gab, bezeichnenderweise im selben Augenblick erfolgte, in dem er sich auf das Dokument der Bischöfe bezog.110 Zunächst betonte er gegenüber seinem Interviewer in Venezuela, dass die offizielle Positionierung des argentinischen Episkopats keine »Kollision mit dem Handeln der Regierung«111 bedeute. Er fügte hinzu: »Die argentinische Regierung akzeptiert diese Reflexion der argentinischen Kirche, […] die einer Realität entspricht. Es würde eines gewissen ethischen Sinns entbehren, wenn ich auf die Frage, die Sie mir stellen, zu verheimlichen versuchte, dass in unserem Land Menschen verschwunden sind. Dies ist eine sehr traurige Realität, die wir aber objektiv anerkennen müssen.«112
Videla bestätigte in diesem Interview nicht nur die Existenz des Phänomens der desaparecidos, sondern schloss auch eine Verantwortung der staatlichen Sicherheitskräfte nicht völlig aus, stellte das Verschwinden von Menschen und die Folter aber als Folge von »Exzessen« dar und leugnete so die Systematik des illegalen Verschwindenlassens und der Repression. Die von Videla präsentierten vermeintlichen Gründe für das Verschwinden von Personen waren, dass die
109 BAN, Briefe, Remo Berardo an Jaime de Nevares, 5. Juli 1977, »Creo, Mons. que nos hace falta un documento con más agallas de parte del Episcopado Argentina, el último ha caído en el vacío.« (»Ich glaube, Monseñor, dass wir ein Dokument des Episkopats mit mehr Schneid brauchen, das letzte fiel ins Leere.«). 110 La Opinión, 13. Mai 1977, De las desapariciones y del texto episcopal habló Videla. 111 Ebd. (»colisión con la acción de gobierno«). 112 La Opinión, 13. Mai 1977, Videla reiteró las metas del gobierno y dijo que no hay colisión con la Iglesia, »El gobierno argentino acepta esta reflexión de la Iglesia argentina que […] responde a una realidad. Carecería de cierto sentido ético que yo quisiera ocultar a través de esta pregunta que Ud. me hace que en nuestro país han desaparecido personas. Esta es una tristísima realidad pero que objetivamente debemos reconocer.«.
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desaparecidos in den Untergrund gegangen waren, aufgrund von Verrat von der eigenen Guerillagruppe umgebracht wurden, eine Art »Selbstentführung« von Guerilleros vorlag, um von der politischen Bildfläche zu verschwinden, oder die Verschwundenen Suizid begangen haben. Als Letztes fügte Videla hinzu, dass er noch einen weiteren Grund anerkenne: »einen Exzess der Sicherheitskräfte«113. Es sei aber unmöglich zu sagen, was im Einzelfall auf den verschwundenen Menschen zutreffe, behauptete Videla. Trotz dieser Einschränkungen bedeutete die Anerkennung der Existenz des Phänomens durch den regierenden Junta-General Videla im Anschluss an Schindel eine entscheidende neue Qualität im Sprechen über desaparecidos, da die Verschwundenen zu diesem Zeitpunkt begannen, in der öffentlichen Auseinandersetzung sichtbar zu werden.114 Ab diesem Moment konnte die Tatsache des Verschwindens nicht mehr ohne Weiteres geleugnet werden. Neben nationalstaatlich organisierten Menschenrechtsaktivist*innen sowie inter- und transnationalen Akteuren trug der argentinische Episkopat zu diesem historischen Wandel bei. Bei ihren Beratungen hatten die Bischöfe die Erwartungshaltung gegenüber dem Episkopat klar vor Augen und diskutierten, welche Rolle die Kirche einnehmen sollte. Das Aufgreifen der Erwartungen an den Episkopat zeigte sich in den Interventionen während der Plenarsitzungen und bewirkte, dass die Menschenrechte zu einem zentralen Thema des Dokuments wurden. Mit ihrer offiziellen Positionierung trafen die Bischöfe – trotz der Ambivalenzen und Auslassungen vor allem bezüglich der Systematik der Repression und der Täterschaft des Militärs – den Nerv ihrer Zeitgenoss*innen, die unabhängig von ihrer Haltung zur Junta und den Menschenrechtsverbrechen die kritischen Töne deutlich zu hören vermochten. Auch die spätere Verwendung des Bischofsdokuments durch Menschenrechtsaktivist*innen zur Legitimierung der eigenen Position zeigt die Bedeutung des Texts für die Zeitgenoss*innen. Bei Betrachtung der weiteren offiziellen Positionierungen des Episkopats während der Militärdiktatur lässt sich feststellen, dass das Dokument vom Mai 1977 die aussagekräftigste und deutlichste Positionierung der Amtskirche blieb.115 Eine ähnlich klare Positionierung der CEA gab es in den folgenden Jahren nicht mehr, höchstens, wenn die Bischofskonferenz in neuerlichen Stellungnahmen ihre eigenen Dokumente zitierte und diese damit reaktualisierte. Darüber hinaus ging die Bischofskonferenz jedoch nicht. Vor allem bot sie den Opfern der Repression weder eine inkludierende religiöse Praxis noch eine institutionelle Unterstützung der Menschenrechtsarbeit. Deswegen nahm die Kritik von Menschenrechtsak113 La Opinión, 13. Mai 1977, Videla reiteró las metas del gobierno y dijo que no hay colisión con la Iglesia. 114 Schindel 2012, S. 230. 115 Obregón bezeichnet das Dokument als »härteste institutionelle Position der Kirche gegenüber dem Militärregime«, Obregón 2005, S. 130.
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tivist*innen an der offiziellen Haltung der argentinischen Amtskirche mit der Zeit zu. Seit den 1980er-Jahren formulierten sie ihre Kritik auch zunehmend öffentlich. Die Bischofskonferenz reagierte darauf, indem sie sich bemühte, ein positives Bild ihres Agierens in der Menschenrechtsfrage zu zeichnen.116
116 Siehe dazu Kapitel 5.
3.
Menschenrechtsverletzungen im Fokus: Der Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und die Intervention des Papstes (1978–1980)
Für die Menschenrechtsbewegung in Argentinien bedeutete die Vor-Ort-Untersuchung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (Comisión Interamericana de Derechos Humanos, CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im September 1979 und der anschließend im April 1980 publizierte Bericht zu den staatlich verübten Gewaltverbrechen einen großen Erfolg, weil das Thema Menschenrechte endlich auch in Argentinien breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Während der von Argentinien ausgerichteten und gewonnenen Fußballweltmeisterschaft 1978 war es gelungen, das Interesse der internationalen Presse nicht nur auf die sportlichen Erfolge, sondern auch auf die Menschenrechtsverletzungen zu lenken. Jedoch wurden innerhalb des Landes jegliche Bemühungen in dieser Hinsicht von einer Welle nationalistischer Euphorie und gezielter Propaganda der Junta überrollt, die das Land als zivilisiert und friedlich präsentierte.1 Die Junta stellte ihre Propaganda als Reaktion auf eine vermeintliche ›anti-argentinische Kampagne‹ aus dem Ausland dar, die laut Junta mit der Behauptung von Menschenrechtsverbrechen darauf abzielte, den argentinischen Staat zu diskreditieren.2 Mit Postkarten und Aufklebern brachte die Militärregierung deshalb eine von einer US-amerikanischen PR-Agentur entwickelte Botschaft unter die Bevölkerung, die die Klagen über Menschenrechtsverbrechen ironisierend zurückweisen sollte. »Somos derechos y huma1 Einen bedeutenden Beitrag zu der erhöhten Aufmerksamkeit in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien leisteten auch die Exil-Argentinier*innen und die Solidaritätsgruppen. Franco, Marina: »Solidaridad internacional, exilio y dictadura en torno al Mundial de 1978«, in: Yankelevich, Pablo/Silvina Jensen (Hg.), Exilios. Destinos y experiencias bajo la dictadura militar, Buenos Aires 2007, S. 147–186. 2 Siehe beispielsweise La Prensa, 6. September 1978, Acusó Videla en Roma a la prensa extranjera – Dice que canaliza la campaña izquierdista contra la Argentina – Réplica a sus críticos. Auch Unternehmen beteiligten sich an der Propaganda. Siehe hier unter anderem die bezahlte Werbeanzeige des Unternehmens Austral, La Opinión, 20. September 1979, Anzeige: Los argentinos somos derechos y humanos. Zur von der Junta beauftragten PR-Kampagne vgl. Schoultz, Lars: Human Rights and United States Policy toward Latin America, Princeton 1981, S. 50.
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nos«3, zu Deutsch »Wir sind aufrecht und menschlich«, hieß es in Anspielung auf den Begriff der Menschenrechte (Derechos Humanos). Auch wenn es etlichen Zeitgenoss*innen im Fußballfieber und im Siegestaumel über den argentinischen WM-Titel entgangen sein mochte, verhandelte die Junta zu dieser Zeit bereits über eine Inspektion vor Ort und stimmte schließlich am 3. September 1978 am Rande der Einsetzungsfeierlichkeiten von Papst Johannes Paul I. in Rom zu, dass die CIDH in Argentinien Untersuchungen zur Menschenrechtssituation anstellten durfte.4 Verschiedentlich wurde dieser Schritt der Junta so gedeutet, dass mit dem Einverständnis zur Inspektion durch die CIDH die Hoffnung auf eine positive Bewertung der Menschenrechtssituation in Argentinien und damit eine Entlastung der Militärjunta verbunden war. Mit der Schließung geheimer Folterzentren, der Verlegung von desaparecidos in andere Folterzentren und punktuellen Freilassungen versuchte die Junta den Eindruck zu erwecken, es gebe keine Menschenrechtsverletzungen.5 Aber anders als von der Junta erhofft und erwartet, wurden der Besuch und der Bericht zu einem weiteren Meilenstein im Kampf um die Menschenrechte und machten das Thema einer breiteren Öffentlichkeit im Land bekannt. Mit dem Bericht der CIDH gab es ab diesem Zeitpunkt einen autorisierten Wissensbestand über die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien, der zwar von der Militärjunta nicht als gültig anerkannt wurde und dessen Verbreitung sie zu unterdrücken versuchte, mit dem sie sich aber auseinandersetzen musste.6 Durch das Agieren der CIDH spielte ein suprastaatlicher Akteur Ende der 1970er Jahre eine wesentliche Rolle für das Erweitern der Artikulationsmöglichkeiten in Argentinien selbst. Hinzu kamen weitere Akteure außerhalb Argentiniens, darunter die US-amerikanische Regierung unter dem 1977 angetretenen Präsidenten Carter, der Menschenrechte zu einem besonderen Fokus seiner Außenpolitik erklärt hatte. Die US-amerikanische Regierung übte beispielsweise Druck auf die argentinische Junta aus, indem sie kurz nach dem 3 Vgl. Franco, Marina: »Derechos humanos, política y fútbol«, Entrepasados, H. 28 (2005), S. 27– 46; Dies.: »La ›campaña antiargentina‹: La prensa, el discurso militar y la construcción de consenso«, in: Casali de Babot, Judith /María Victoria Grillo (Hg.), Derecha, fascismo y antifascismo en Europa y Argentina, Tucumán 2002, S. 195–225. 4 Für eine ausführliche Darstellung des Verhandlungsprozesses siehe Novaro, Marcos/Alejandro Avenburg: »La CIDH en Argentina: Entre la democratización y los derechos humanos«, Desarrollo Económico, Jg. 49, H. 193 (2009), S. 61–90. Johannes Paul I. war nur 33 Tage im Amt (26. August 1978–28. September 1978). 5 Vgl. Gorini, Ulises: La rebelión de las madres. 1976–1983, Buenos Aires 2006, S. 325f. 6 Vgl. Skiba, Lynsay: »Shifting Sites of Argentine Advocacy and the Shape of 1970s Human Rights Debates«, in: Eckel, Jan/Samuel Moyn (Hg.), The Breakthrough. Human Rights in the 1970s, Philadelphia 2014, S. 107–124. Dykmann dagegen hält die Wirkung, die dem Besuch der CIDH und dem Bericht zugeschrieben wird, für überschätzt. Dykmann, Klaas: Philanthropic Endeavors or the Exploitation of an Ideal? The Human Rights Policy of the Organization of American States in Latin America (1970–1991), Frankfurt a. M. 2004, S. 310.
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Amtsantritt Carters im Februar 1977 die Auslandshilfe für Argentinien kürzte und deutlich auf die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern hinwies.7 Es waren aber nicht staatliche oder suprastaatliche Akteur*innen allein, die auf die Einhaltung der Menschenrechte drängten. Der Diskurs über Menschenrechte im Fall Argentinien wurde, ebenso wie in vielen anderen Fällen, in den 1970er-Jahren von Nicht-Regierungsorganisationen vorangetrieben, sowohl außerhalb Argentiniens als auch im Inland. Dieser letztgenannte Punkt ist meines Erachtens wesentlich, da er teilweise in der Historiographie zu Menschenrechten in Argentinien übersehen wird, so beispielsweise in der Deutung, der internationale Druck habe zu einer Öffnung innerhalb des Landes geführt, vor allem, wenn dieser als primär oder sogar allein ursächlich dargestellt wird und die im nationalstaatlichen Rahmen angesiedelten Akteur*innen außer Acht gelassen werden. So erweckt beispielsweise die Darstellung bei Barros trotz des Fokus der Studie auf Akteur*innen in Argentinien insgesamt den Eindruck, als sei es der internationale Diskurs um Menschenrechte gewesen, der die Sprache der Menschenrechte überhaupt erst ins Land gebracht habe.8 Dagegen ist eine grundsätzlich auf Wechselwirkungen abstellende Perspektive wie bei Skiba deutlich fruchtbarer. Sie zeigt, wie im Zusammenspiel von Akteur*innen aus Argentinien und trans- oder internationalen Akteuren, wie der Nichtregierungsorganisation Amnesty International oder Personal aus der US-amerikanischen Regierung, das Thema Menschenrechtsverletzungen in Argentinien auf internationaler Ebene größeren Raum einnahm und wie das Aufgreifen der Problematik in unterschiedlichen Kontexten außerhalb Argentiniens wiederum auf den Menschenrechtsdiskurs im Land zurückwirken konnte.9 In den Zeitraum zwischen Besuch und Bericht der CIDH fällt auch die Intervention eines anderen, bedeutenden Akteurs außerhalb Argentiniens. Ende Oktober 1979 meldete sich Papst Johannes Paul II. erstmals explizit in der argentinischen Menschenrechtsfrage zu Wort und sprach laut Zanatta »niemals zuvor gehörte Worte der Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Argentinien.«10 Ähnlich wie in der Darstellung zur Entwicklung der Menschenrechtsdiskurses stellt auch Zanatta das Agieren des Papstes als unabhängig von Akteur*innen in Argentinien dar und führt als Gründe der Intervention des Papstes dessen kritische Haltung zum Regime in seinem Heimatland Polen an 7 Vgl. Eckel 2014, S. 502f. 8 Vgl. Barros 2011, S. 260f. 9 Vgl. Skiba 2014. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive weist auch Brysk auf die Bedeutung lokaler Akteur*innen und transnationaler Nicht-Regierungsorganisationen hin. Vgl. Brysk, Alison: »From Above and Below. Social Movements, the International System, and Human Rights in Argentina«, Comparative Political Studies, Jg. 26, H. 3 (1993), S. 259–285. 10 Vgl. Zanatta 2015, S. 288.
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und schrieb, die Situation in Argentinien sei reif für eine solche Intervention gewesen. Es ist sicher richtig, dass das Menschenrechtsengagement dieses Papstes ein Motiv in seiner antikommunistischen Haltung und seiner Unterstützung der polnischen Opposition hatte. Es greift jedoch zu kurz, allein diesen Umstand und eine unbestimmte ›Reife‹ der argentinischen Situation heranzuziehen, um zu erklären, warum Johannes Paul II. sich zu diesem Zeitpunkt und in dieser Weise an die argentinischen Bischöfe wandte, die zu ihrem alle fünf Jahre stattfindenden Besuch ad limina in Rom versammelt waren. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass in Zusammenhang mit den Papstworten auch in Argentinien angesiedelte Akteur*innen intervenierten, die schon seit geraumer Zeit darauf hingearbeitet hatten, eine Positionierung des Oberhauptes der katholischen Kirche zu erhalten. Der Wirkmechanismus des Zusammenspiels ist hier ganz ähnlich wie auch in anderen Fällen, in denen nationalstaatlich basierte Akteure mit trans-, supra- oder internationalen Akteuren in Kontakt standen und gemeinsam zur Artikulation des Menschenrechtsdiskurses sowohl außerhalb als auch innerhalb Argentiniens beitrugen. Die unterschiedlichen Akteure hatten dabei grundsätzlich andere Ausgangsbedingungen, was die Möglichkeiten des Sprechens betraf. Während die Menschenrechtsaktivist*innen in Argentinien ihren Artikulationsraum gegen die repressiven Maßnahmen der Junta erkämpfen mussten und der Verfolgung ausgesetzt waren, konnten sich Akteure außerhalb Argentiniens frei zum Thema äußern. Informationen über die konkrete Lage in Argentinien stellten jedoch primär die im Land befindlichen Akteure bereit, oftmals in enger Zusammenarbeit mit Argentinier*innen im Exil. Diese Informationen dienten den Akteuren außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen als Grundlage für eine systematische Zusammenstellung von Wissen über die Repression und das Verschwindenlassen sowie als Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen und öffentliche Äußerungen. Auf diese Wissensbestände und Positionierungen – ausgestattet mit der Autorität und dem meist hohen symbolischen Kapital des jeweiligen Akteurs außerhalb Argentiniens – griffen die Akteure in Argentinien dann zurück, um ihrer eigenen Sprecherposition eine größere Legitimität zu verleihen und den Artikulationsraum im Land zu vergrößern. Hier wird deutlich, wie sehr die Akteur*innen vor Ort daran beteiligt waren, das Sprechen über desaparecidos und Menschenrechte in die internationale wie auch die argentinische Öffentlichkeit zu bringen, denn diese Menschen waren keinesfalls lediglich Rezipienten eines internationalen, von außen stammenden Menschenrechtsdiskurses, sondern schufen ihn aktiv mit. Die Akteur*innen innerhalb Argentiniens waren wesentlich daran beteiligt, dass das Verschwindenlassen zu einem juristisch definierten Straftatbestand
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wurde.11 Dabei nahmen sie das Risiko auf sich, von den staatlichen Sicherheitskräften verschleppt, gefoltert und ermordet zu werden. Es handelte sich nicht um ein abstraktes, theoretisches Risiko. Unter den Opfern der brutalen Repression der Militärdiktatur finden sich viele, die sich für die Menschenrechte engagiert hatten, so wie beispielsweise die Gründungsgruppe der Madres de Plaza de Mayo oder der Bischof Enrique Angelelli. Wie in den Jahren zuvor spielte im hier untersuchten Zeitraum von Mitte 1979 bis zur Publikation des Berichts der CIDH im April 1980 der Konflikt um die öffentliche Positionierung der Institution Kirche weiterhin eine Rolle. Die katholische Kirche äußerte sich wiederholt zu den Themen desaparecidos und Menschenrechtsverbrechen. Auch wenn sie sich dabei nicht explizit auf den Besuch der CIDH bezog, so standen die Aussagen der Kirche in einem klaren Zusammenhang zur vom Besuch der CIDH angestoßenen und wie unter einem Brennglas vergrößerten Debatte. Anhand der offiziellen Positionierungen der argentinischen Bischofskonferenz zeigt die folgende Analyse, dass sich die Amtskirche – trotz der auf sie gerichteten und durch das Dokument vom Mai 1977 bestärkten Hoffnungen – Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre einer klaren Positionierung zugunsten der Menschenrechtsbewegung und der Arbeit der CIDH verweigerte. Da die Positionierungen der Bischofskonferenz nicht den Erwartungen der Menschenrechtsaktivist*innen in Argentinien entsprachen, gab es immer wieder Bemühungen, über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus aktiv zu werden und den Papst zu mobilisieren, dessen Intervention wiederum auf die Situation in Argentinien zurückwirken sollte. Ende Oktober 1979 war es schließlich so weit und der Papst sprach endlich die erhofften Worte zu den Menschenrechtsverletzungen in Argentinien. Diskursfragmente über Menschenrechte zirkulierten sowohl innerhalb Argentiniens als auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg und wurden von den verschiedenen Akteur*innen in ein Netz aus Verweisen eingebettet. Durch die Analyse der unterschiedlichen Äußerungen und Interventionen wird gezeigt, wie in diesem Zeitraum nicht nur im nationalstaatlichen Kontext, sondern auch über dessen Grenzen hinweg um die Positionierung der Institution Kirche in der Menschenrechtsfrage gestritten wurde. Der Besuch und der Bericht der CIDH sind auch deshalb von Interesse, da sie seitens der Militärjunta mit der Ankündigung einer gewissen politischen Öffnung, bezeichnet als ›Dialog‹, beantwortet wurde. Für die Junta war die katholische Kirche dabei ein bevorzugter Ansprechpartner, was sich daran zeigte, dass die Ankündigung des ›Dialogs‹ mit dem Hinweis versehen war, dass die Junta zuerst mit den Vertretern der Kirchenhierarchie sprechen wollte. Parallel zur 11 Vgl. Figari Layus, Rosario: Das Verschwindenlassen: Zum Verständnis der UN-Konvention, MenschenRechtsMagazin, Jg. 15 H. 2 (2010), S. 151–160.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
Erklärung der Junta über das angestrebte ›Dialog‹-Projekt verbreitete sie am selben Tag, dass sie den Bericht der CIDH ablehne und die OAS darüber in Kenntnis setzten werde.12 Auch wenn kein expliziter Zusammenhang hergestellt wurde, so war diese Gleichzeitigkeit alles andere als zufällig. Vielmehr stellte sie eine gezielte Intervention der Militärjunta zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung dar. In diesem Kontext wurde die katholische Kirche zu einem zentralen Akteur, weil sie als erster Ansprechpartner der Junta dem Projekt des ›Dialogs‹ Legitimität verleihen und dazu beitragen sollte, das Thema Menschenrechtsverletzungen, das mit dem Besuch der CIDH erhöhte Aufmerksamkeit erhalten hatte, erneut zu marginalisieren. Insofern ist es interessant, zu untersuchen, wie die Kirche auf die Anfrage der Junta im März 1980, kurz vor der Veröffentlichung des Berichtes der CIDH, reagierte. Ihre offizielle Positionierung wurde auf der Bischofskonferenz vom Mai 1980 beraten und im Anschluss in einem Dokument veröffentlicht, das eine Antwort der Bischöfe auf den von Junta-General Videla proklamierten gesellschaftlichen ›Dialog‹ darstellte.
3.1
Der Umgang mit dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
Der Umgang der argentinischen Amtskirche mit der CIDH war insgesamt von einer distanzierten Haltung geprägt, die sich deutlich in dem von der AICA veröffentlichten Artikel zum Besuch der CIDH bei Vertretern der Bischofskonferenz widerspiegelte. Am 12. September 1979 stattete die CIDH Kardinal Primatesta in seiner Funktion als Repräsentant der Kirchenhierarchie einen Besuch ab, welcher laut Angaben der AICA eineinhalb Stunden gedauert haben soll und an dessen Anschluss Kardinal Primatesta den anwesenden Pressevertretern einige Fragen beantwortete. Über die konkreten Inhalte der Unterredung erfuhr die Öffentlichkeit nichts, die Äußerungen blieben vage, dafür wurde zuerst darauf hingewiesen, dass der Besuch auf einer rein protokollarischen Ebene abgelaufen war, womit Primatesta bereits zu Beginn der Pressekonferenz eine Distanz zur CIDH markierte. Dieser Effekt wurde durch die Aussage verstärkt, man sei bei der episkopalen Entscheidung, die CIDH zu empfangen, der Entscheidung der Militärjunta gefolgt. Auf diese Weise präsentierte Primatesta die Junta als höchste Autorität für das Handeln der Amtskirche.13 Trotzdem beantwortete der Kardinal die Frage nach einem Einfluss des Besuchs der CIDH auf 12 La Opinión, 26. Februar 1980, Diálogo – El Presidente lo iniciará con la jerarquía eclesiástica; La Opinión, 26. Februar 1980, Respuesta – La Junta militar rechazará el documento de la CIDH. 13 La C.I.D.H. visitó al Cardenal Primatesta, in: AICA 1187 (20. September 1979).
Der Umgang mit dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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die Haltung der Kirche negativ und stellte fest, dass die katholische Kirche so handeln werde, wie sie es immer getan habe, »weil sie ihre Kriterien hat«14. Die hier vorgenommene Selbstbeschreibung der Amtskirche als unabhängiger Akteur stand allerdings in Widerspruch zu der im selben Dokument gezeigten Nähe zu den Entscheidungen der Militärjunta. Zur Selbstbeschreibung der Amtskirche in den Worten Primatestas gehörte auch, dass die Kirche als kollektiver Akteur mit einer moralischen Autorität verstanden wurde. Gleichzeitig lieferte der Kardinal einen Hinweis darauf, dass es durchaus unterschiedliche Positionen innerhalb des Bischofskollegiums gab, wenn er davon sprach, dass er nicht befugt sei, seine persönliche Meinung kundzutun, sondern die des gesamten Episkopats zu vertreten habe. In der Presse wurde er folgendermaßen zitiert: »In meiner Funktion als Präsident des Episkopats habe ich nicht die Befugnis, meine persönliche Meinung zu verbreiten, sondern muss […] die Haltung widerspiegeln, die die Kirche bezüglich all jener Probleme eingenommen hat, die unser Vaterland erschüttern können. Ich glaube, […] die Kirche hat ausreichend moralische Autorität, um den Zuständigen die Probleme aufzuzeigen und eine Situation zu reflektieren. Das wurde getan und das wird man immer tun […].«15
In dieser komprimierten Selbstbeschreibung der Amtskirche wurde beansprucht, die Rolle der moralischen Autorität überzeitlich und unabhängig vom politischen Kontext auszufüllen. Da im Zusammenhang mit dem Besuch der CIDH Fragen der politischen Agenda verhandelt wurden, präsentierte sich die Amtskirche de facto aber nicht nur als Autorität des religiösen, sondern auch des politischen Felds.16 Das zeigen auch die Äußerungen im Hinblick auf den Inhalt der Konsultation durch die CIDH. So griff Primatesta – abgesehen von der Nennung des vollen Namens der CIDH – die Semantik der Menschenrechte nicht auf. Ebenso wenig sprach er über die konkreten Menschenrechtsverletzungen wie Folter, das Verschwindenlassen oder gar über die Täterschaft der staatlichen Sicherheitskräfte. Der Kardinal gab gegenüber den Journalisten an, man habe mit der CIDH über die bisher veröffentlichten Dokumente der Bischofskonferenz und über die allgemeine Lage Argentiniens gesprochen. Auffällig an diesen beiden Äußerungen sind die vagen Referenzen. So wird im Zusammenhang der Publikation der Dokumente der Bischofskonferenz davon gesprochen, sie seien unter »anderen Umständen« veröffentlicht worden. Zudem sei über die »allge14 La C.I.D.H. visitó al Cardenal Primatesta, in: AICA 1187 (20. September 1979), »ya que tiene su criterio«. 15 Ebd., »En mi calidad de presidente del Episcopado no tengo autoridad para verter mi opinión personal sino que tengo que reflejar –agregó– la conducta que ha asumido la Iglesia en todos los problemas que puedan agitar a nuestra patria. Creo [… que] la Iglesia tiene suficiente autoridad moral como para presentar los problemas a quien corresponda y reflejar una situación. Eso se hizo y se seguirá haciendo siempre […].«. 16 Vgl. Ruderer 2010.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
meine Situation des Landes« gesprochen worden und die »Haltung der Kirche in all diesen Jahren bezogen auf das, was die Republik betrifft«.17 Um welche Umstände es sich handelte und welche Geschehnisse in Argentinien gemeint waren, wurde nicht benannt und kann nur anhand des Kontexts erschlossen werden. Auch an dieser Stelle ist ein aussagekräftiges Schweigen festzustellen, denn es wäre für den Kardinal Primatesta aufgrund seiner einflussreichen Position und der mit ihr einhergehenden Autorität, die sich über das religiöse Feld hinaus auch auf das politische Feld erstreckte, möglich gewesen, die Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen und sowohl von der Folter als auch von den Verschwundenen zu sprechen – denn dies hatte die Bischofskonferenz 1976 und 1977 bereits getan.18 Dass es zu diesem Zeitpunkt nicht nur möglich geworden war, über konkrete Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, sondern dass sie auch in der Öffentlichkeit zu einem immer breiter diskutierten Thema wurden, zeigt die umfangreiche Berichterstattung über den Besuch der CIDH.19 Eine weitere Leerstelle lässt sich darin sehen, dass es in dem Gespräch zwischen den Bischöfen und der CIDH nicht darum ging, Informationen über konkrete Fälle von Menschenrechtsverbrechen weiterzugeben, obwohl die Amtskirche durch die vielfach bei ihren Vertretern eingegangenen Berichte der Angehörigen Daten zu einer Vielzahl von Fällen vorliegen hatte. Auf dieser Ebene trug die Amtskirche also nicht zur Untersuchung der CIDH bei. Die katholische Kirche wurde jedoch selbst Gegenstand des Berichts der CIDH, der im Abschnitt »El problema de los desaparecidos«20 kurz über die Haltung der argentinischen Kirche Auskunft gab. Darin wurde festgehalten, dass viele Familien von desaparecidos sich an die Kirchenhierarchie gewandt hatten und die Amtskirche seit 1977 die sogenannte Comisión de Enlace unterhielt. Diese Gruppe von Bischöfen traf sich mit Mitgliedern der Junta regelmäßig zu Besprechungen, meist im Rahmen eines Mittagessens. Trotz dieser informellen und gleichzeitig institutionalisierten Unterredungen mit den Militärmachthabern konnten aber leider, so resümierte der Bericht der CIDH, keine Erfolge verzeichnet werden.21 Bezüglich des Besuchs bei Kardinal Primatesta heißt es, er habe gesagt, dass die 17 La C.I.D.H. visitó al cardenal Primatesta, in: AICA 1187 (20. September 1979), »actitud que ha tenido la Iglesia en todos estos años con respecto a lo que vive la República.«. 18 Siehe dazu Kapitel 2. 19 Die Menschenrechtsorganisation CELS bietet eine umfangreiche Pressesammlung, online: http://cels.org.ar/common/documentos/sintesis de prensa_cidh.pdf (abgerufen am 21. Oktober 2015). Zur Berichterstattung der Tageszeitung Clarín vgl. Iturralde, Micaela: »El diario Clarín y la visita de la CIDH a la Argentina (1979–1980): Silencio estratégico y reposicionamiento editorial«, Question, Jg. 37, H. 1 (2013), S. 316–327. 20 OEA/Ser.L/V/II.49, doc. 19, 11. April 1980, Informe sobre la situación de los Derechos Humanos en Argentina, online: http://www.cidh.org/countryrep/Argentina80sp/indice.htm (abgerufen am 12. Januar 2017). 21 Ebd.
Der Umgang mit dem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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Kirche in ihren Dokumenten ihre Besorgnis ausgedrückt habe mit dem Ziel, dass diese Tatbestände aufgeklärt werden. Als bedeutendes Dokument stellte die CIDH das Bischofsdokument vom Mai 1977 heraus und zitierte daraus einige zentrale Passagen zu den desaparecidos.22 Wie in der Analyse des Bischofsdokuments vom Mai 1977 dargelegt, benannte die Kirche die Täterschaft des Militärs nicht als Tatsache, sondern höchstens als Vermutung und rekurrierte stattdessen auf die Deutung der Junta, dass es sich um Täter handelte, die von den staatlichen Sicherheitskräften noch nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. Damals markierte das Dokument eine deutliche Distanz zur Sprecherposition der Angehörigen der Repressionsopfer, da es nicht davon sprach, dass es desaparecidos gab, sondern lediglich davon, dass diese von ihren Angehörigen als solche bezeichnet wurden.23 Da im Bericht der CIDH genau diese Passagen als zentrale Äußerungen der Kirche erschienen, wurde mit der Wiederholung dieser Aussage – erneut – eine gewisse Distanz der Kirche zu den Angehörigen der Verschwundenen geschaffen.24 Eine gewisse Distanz der Amtskirche lässt sich, wie bereits dargelegt, auch zur CIDH selbst feststellen. Die Amtskirche hat mit ihren Äußerungen unmittelbar nach dem Besuch der CIDH die Legitimität der Menschenrechtskommission zwar nicht vollständig negiert, jedoch Raum für Zweifel an der Legitimität der Untersuchung von Menschenrechtsverbrechen durch die CIDH gegeben. Hinzu kam Primatestas Bemerkung, er hoffe, dass das Handeln der CIDH zum Guten beitragen möge, die eher ein Ausdruck des Zweifelns und der Delegitimierung war, als eine Legitimierung der CIDH.25
22 OEA/Ser.L/V/II.49, doc. 19, 11. April 1980, Informe sobre la situación de los Derechos Humanos en Argentina, online: http://www.cidh.org/countryrep/Argentina80sp/indice.htm (abgerufen am 12. Januar 2017), zitiert wird – wortwörtlich – das Dokument vom Mai 1977 (CEA-DOC Mai 1977; die Quellenangabe im Bericht der CIDH spricht davon, das Dokument trage den Titel: Los caminos de la Paz; dies war aber der Titel einer Publikation, die die Bischofsdokumente von 1976, 1977 und 1978 zusammenfasste.): »[…] nos atrevemos a manifestar los siguientes hechos, entre otros, que provocan en nuestro ánimo serias inquietudes: a) Las numerosas desapariciones y secuestros que son frecuentemente denunciados, sin que ninguna autoridad pueda responder a los reclamos que se formulan, lo cual parecería manifestar que el Gobierno no ha logrado aún el uso exclusivo de la fuerza. b) La situación de nuestro país, a quienes la solicitud de familiares y amigos presentan como desaparecidos o secuestrados por grupos autoindentificados como miembros de la Fuerzas Armadas o Policiales, sin lograr, en la mayoría de los casos, no los familiares, ni los Obispos que tantas veces han intercedido, información alguna sobre ellos.« (Übersetzung siehe S. 88f, Fußnote 93). Zu den Dokumenten der Bischofskonferenz vom Mai 1976 und 1977 siehe Kapitel 2. 23 Zu den Dokumenten der Bischofskonferenz vom Mai 1976 und 1977 siehe Kapitel 1. 24 Ob dies von den Kirchenvertretern, die sich mit der CIDH trafen, so intendiert war oder ob dieser Eindruck durch die Auswahl der Passagen durch die CIDH entstanden ist, lässt sich nicht nachvollziehen. 25 La C.I.D.H. visitó al cardenal Primatesta, in: AICA 1187 (20. September 1979).
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
Deutlich stärker noch stellten die öffentlich vorgebrachten Kritiken einzelner Bischöfe die Legitimität des Besuchs der CIDH in Frage, so zum Beispiel von Bischof Bolatti26, Bischof Sansierra, Bischof Laise27 oder Militärbischof Bonamín28. Sie sahen die Untersuchung der CIDH als unzulässige Einmischung in Angelegenheiten des argentinischen Nationalstaats und delegitimierten das Agieren der Kommission mit dem Verweis darauf, dass in anderen Ländern Menschenrechte verletzt würden, ohne dass dort solche Untersuchungen stattfänden. In ihrer Argumentation blendeten sie die konkreten Menschenrechtsverletzungen aus und verknüpften stattdessen die Debatte um Menschenrechte in Argentinien mit der Debatte um die Legalisierung der Abtreibung in anderen Ländern, die in den Augen dieser Bischöfe auch eine Menschenrechtsverletzung darstellte. Die von ihnen vorgebrachte Kritik fügte sich dabei in das Narrativ der Junta von einer ›anti-argentinischen Kampagne‹ ein, das während des Besuchs der CIDH gezielt aktualisiert wurde. So wurden die Feierlichkeiten zum Gewinn der Fußballjugendweltmeisterschaft, die Argentinien am 7. September 1979 gegen die Sowjetunion gewonnen hatte, im Zentrum von Buenos Aires während der Untersuchung der CIDH zu einer Demonstration gegen den Besuch der Kommission. Die jubelnde Menge zog »Somos derechos y humanos«29 skandierend an den Angehörigen vorbei, die darauf warteten, bei der CIDH ihren jeweiligen Fall zu Protokoll zu geben. Auch die national-katholische Zeitschrift Cabildo lehnte den Besuch der CIDH als Verletzung der Souveränität des argentinischen Nationalstaats ab.30 Von den Bischöfen, die sich in der Menschenrechtsbewegung engagierten, wurden in den großen Tageszeitungen keine Aussagen wiedergegeben, so dass neben der offiziellen Stimme des Episkopats, verbreitet über die AICA und die argentinische Tagespresse, einzig die Stimmen einzelner konservativer bis integralistischer Bischöfe während der Untersuchung der CIDH in der Öffentlichkeit präsent waren.
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La Opinión, 13. September 1979, Primatesta, clara voz de la Iglesia. La Opinión, 9. September 1979, Opiniones sobre la gestión de la CIDH. Clarín, 6. September 1979, Opinó Bonamín sobre la visita de la Comisión. La Nación, 7. September 1979, El festejo visto desde la Casa de Gobierno; La Opinión, 8. September 1979, El fútbol unió a los argentinos; La Opinión, 8. September 1979, Fiesta de todos y para todos. 30 Vgl. Borrelli, Marcelo/Florencia Lanfranco: »Otra intromisión que no debió permitirse: La revista Cabildo frente a la visita de la Comisión Interamericana de Derechos Humanos a la Argentina en 1979« Diálogos, H. 84 (2012), S. 1–18.
Die argentinischen Bischöfe in Rom
3.2
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Die argentinischen Bischöfe in Rom
Bevor sich die argentinischen Bischöfe wieder kollektiv öffentlich äußerten, reisten etliche von ihnen zunächst im Oktober 1979 nach Rom, um den obligatorischen, alle fünf Jahre stattfindenden Besuch ad limina zu absolvieren und dem Papst Bericht über die Entwicklungen in ihren jeweiligen Diözesen zu erstatten. Dieses Zusammentreffen mit dem Papst nutzte der Bischof Nevares, um mit ihm über die Menschenrechtsverletzungen und das gravierende Problem der Verschwundenen zu sprechen und ihm umfangreiches Dokumentationsmaterial mitzubringen, das von den Menschenrechtsorganisationen unter anderem in Vorbereitung auf den Besuch der CIDH systematisch gesammelt worden war. In Argentinien wurde dieses Material unter anderem von der Diözese Neuquén aus weiter verteilt. So besuchten Aktivist*innen etwa 20 Bischöfe, um ihnen eine von der Menschenrechtsorganisation APDH zusammengestellte Dokumentation über die systematische Repression zu überbringen. Eines der Anliegen war, neben der generellen Information über die Dimension der Verbrechen, Argumente gegen das von der Junta erlassene Gesetz des ›mutmaßlichen Todes‹ zu liefern. Das Gesetz 22.068 wurde am 12. September 1979 verfügt, noch während sich die CIDH in Argentinien befand, und regulierte den juristischen Status der desaparecidos. Es legte fest, dass alle im Zeitraum vom 6. November 1974 bis zum Erlass des Gesetzes als verschwunden angezeigten Personen juristisch als ›mutmaßlich verstorben‹ gelten können und als Sterbedatum der Tag des Verschwindens bei den Behörden eingetragen werden sollte. Die Junta präsentierte dieses Vorgehen als vermeintliche Lösung für das Problem der desaparecidos. Dagegen setzte sich die Menschenrechtsbewegung zur Wehr, unter anderem, indem sie die oben genannte Dokumentation bereits kurz nach der Untersuchung der CIDH in Argentinien an etliche Bischöfe verteilte, noch Monate bevor der offizielle Bericht der CIDH erschien. Die Reaktionen der aufgesuchten argentinischen Bischöfe wurden schriftlich festgehalten und zeigen ausschnittsweise die Heterogenität unter den Klerikern. Einige von ihnen waren dankbar für die Informationen und zeigten sich ob der Brutalität und des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen betroffen, andere hingegen wollten die Dokumentation gar nicht erst in Empfang nehmen.31 Das Verteilen der Dokumentation an kirchliche Würdenträger und ihre Reaktionen auf dieses Material macht die Bedeutung sichtbar, die das Sammeln und Verbreiten von Informationen in den Auseinandersetzungen um die Haltung zur Menschenrechtsfrage auch zu diesem Zeitpunkt hatte. Auch Akteur*innen aus der Diözese Neuquén waren daran beteiligt, diese Informationen in Umlauf zu 31 BAN, Derechos Humanos, [o. Titel, Schriftstück über Besuche bei Bischöfen in deren jeweiligen Diözesen].
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
bringen. Mit Blick auf die offiziellen Äußerungen der Kirche wird jedoch deutlich, dass es in diesem für die Menschenrechtsbewegung so wichtigen historischen Moment des Besuchs der CIDH keine offizielle Unterstützung des Episkopats gab. Stattdessen lagen die Initiativen zugunsten der Menschenrechte im Katholizismus bei Lai*innen, Priestern- und Ordensleuten sowie einigen wenigen aktiven Bischöfen. Bischof Nevares gehörte unzweifelhaft zu denjenigen, die sich immer wieder gegen die Verbrechen der Militärdiktatur einsetzten und versuchten, die kollektiven Entscheidungen im Episkopat zugunsten der Menschenrechte zu beeinflussen. So auch bei seinem Besuch in Rom. Laut seinen Notizen schlug er dem Papst in einer privaten Unterredung im Oktober 1979 vor, sich mit einem Brief an die argentinischen Bischöfe zu wenden. Ein solcher Brief sollte, so Nevares, dazu dienen, »zu einen und zu definieren«32. Der Papst nickte zustimmend, wie Nevares in seinen persönlichen Aufzeichnungen festhielt. In einem Geheimdienstbericht wurde der Besuch von Nevares beim Papst ebenfalls thematisiert. Dort hieß es, dass Nevares bei seinem Besuch den Papst detailliert über die Situation in Argentinien unterrichtet habe, der Papst über die desaparecidos bestens informiert sei und Nevares darin bestärkt habe, sich weiter für die Opfer der Menschenrechtsverbrechen zu engagieren, was bei Nevares eine »unbändige Freude«33 ausgelöst habe. Vor dem Hintergrund des äußerst zurückhaltenden Umgangs des argentinischen Episkopats mit der CIDH gewann Nevares’ Intervention beim Papst nochmals an Bedeutung, da sie nicht nur den Papst zu einer Positionierung aufforderte, sondern ihn auch bat, auf die Haltung des argentinischen Episkopats einzuwirken. An dieser Stelle nutzte Nevares seine strukturell bedeutsame Rolle und seinen Handlungsspielraum als Bischof sowohl um eine Veränderung innerhalb der Institution Kirche anzustoßen als auch um die Menschenrechtsbewegung in Argentinien, der er selbst angehörte, zu stärken. Auch andere Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung wandten sich immer wieder an den Papst, hatten jedoch – anders als beispielsweise der Bischof Nevares – nicht die Möglichkeit, dem Papst in einem persönlichen Gespräch zu begegnen. So schrieben die Madres de Plaza de Mayo unter anderem im April und im August
32 BAN, Notizen Nevares, Audiencia con el papa 1979; »Temor del S.P. de una interpretación como intervención en asuntos internos / Mi propuesta de una carta a los Obispos argentinos – Serviría para unir y definir – Asintió«. 33 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14432. »[…] DE NEVARES regresó con una alegría terrible y evidentemente las declaraciones posteriores del Papa son reflejo de esa realidad.« (»[…] DE NEVARES kehrte mit einer unbändigen Freude zurück und offensichtlich sind die darauffolgenden Erklärungen des Papstes Ausdruck dieser Realität.«.
Die argentinischen Bischöfe in Rom
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1979 an Papst Johannes Paul II., ein persönliches Treffen mit ihm kam jedoch erst 1980 bei dessen Brasilienreise zustande.34 Auch der Bischof Hesayne nutzte seinen Besuch im Vatikan, um dem Papst Informationsmaterial zu geben. Indem er Johannes Paul II. persönlich den Brief der Ehefrau eines Verschwundenen überreichte, die er zufällig unmittelbar vor seinem Gespräch im Vatikan antraf, bemühte er sich darum, ihre individuelle Stimme zu verstärken und damit den Erfahrungen der Betroffenen in der Wahrnehmung des Papstes mehr Raum zu verschaffen. Wie er nach dem Gespräch mit dem Papst an eine befreundete Menschenrechtsaktivistin schrieb, machte der Papst auf ihn einen sehr besorgten Eindruck.35 Ganz sicher waren die beiden Bischöfe nicht die einzigen Personen, die den Papst über das Problem der desaparecidos informiert und ihn zu einer Positionierung aufgefordert hatten. Während es in anderen Fällen nicht nachvollziehbar ist, inwiefern Bitten und Apelle vom Oberhaupt der Kirche wahrgenommen wurden, scheinen die Appelle der Bischöfe Nevares und Hesayne nicht völlig ohne Wirkung geblieben zu sein, da der Papst kurz nach ihrem Besuch eine erste, bedeutende Botschaft in Sachen Menschenrechte an die argentinischen Bischöfe formulierte. Obwohl die beiden Bischöfe als Leiter von Provinzdiözesen innerhalb der hierarchischen Struktur der Institution Kirche keine prominente Position innehatten, gelang es ihnen, dem Papst die Problematik näherzubringen. So trugen sie dazu bei, dass Johannes Paul II. am 28. Oktober 1979 das Problem der Menschenrechtsverletzungen in Argentinien öffentlich thematisierte. Wesentlich für den Handlungsspielraum der Bischöfe war die Organisationsstruktur der katholischen Kirche, in der es keine weitere Ebene zwischen dem Papst und den Bischöfen gibt. So konnten die Bischöfe – wenn auch selten, im Rahmen der institutionalisierten Reisen alle fünf Jahre – in einen unmittelbaren und persönlichen Kontakt mit der obersten Führungsfigur der Institution treten. Hinzu kam das Selbstverständnis der beiden Bischöfe. Bei Betrachtung ihres Agierens wird deutlich, dass sie sich gegenüber dem Papst berechtigt sahen, ihm Gesprächsthemen zu unterbreiten, und nicht auf seine Initiative warteten. Insofern hatten Nevares und Hesayne einem strikt hierarchisch gedachten Verhältnis zum Oberhaupt der katholischen Kirche, in der eine Initiative vom Papst auszugehen hatte, eine Absage erteilt.36 Mit ihrem Verständnis bezüglich ihrer
34 CELS, Otras organizaciones, Madres de Plaza de Mayo an Papst Johannes Paul II., April 1979; Madres de Plaza de Mayo an Papst Johannes Paul II., 30. August 1979, zitiert bei Gorini 2006, S. 309. 35 BAN, Derechos Humanos, Miguel Hesayne an Noemí Fiorito de Labrune, 24. Oktober 1979. 36 Es handelte sich nicht um eine selbstverständliche Definition der eigenen Rolle. So beantwortete Kardinal Aramburu im Jahr 1982 die Frage danach, ob er mit dem Papst über die desaparecidos sprechen werde, damit, dass er es nicht wisse. Es sei der Papst, der die Fragen
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
Rolle als Bischöfe standen sie damit in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils und den Debatten um das Autoritäts- und Gehorsamsverständnis in der katholischen Kirche, die letztlich zu mehr Eigenverantwortung der Individuen führten.37 Damit vergrößerte sich auch der Handlungsspielraum der Akteur*innen innerhalb der Institution Kirche. In beiden Fällen nutzten die Bischöfe ihn dazu, dem Problem des Verschwindenlassens eine größere Präsenz und ein größeres Gewicht innerhalb der Institution zu verleihen. Schließlich ging der Papst am 28. Oktober 1979, dem letzten Tag des Besuchs der argentinischen Bischöfe in Rom, bei gleich zwei Gelegenheiten auf die argentinische Situation ein. So sprach er sowohl im Rahmen des Angelus-Gebets auf dem Petersplatz vor Tausenden von Gläubigen als auch in seiner letzten Ansprache für die in Rom versammelten argentinischen Bischöfe über desaparecidos in Argentinien und die Notwendigkeit der Einhaltung der Menschenrechte. Dabei begründete Johannes Paul II. die Idee der Menschenrechte mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.38 Zanatta bewertet diese Stellungnahme des Papstes als Zäsur, auch im Hinblick auf die Positionierungen des argentinischen Episkopats, da es eine so klare Stellungnahme von Johannes Paul II. zum argentinischen Fall vorher nicht gegeben hatte und, wie er formuliert, in der Folge die ›Union zwischen Kreuz und Schwert‹ in Argentinien zerbrach.39 Auch wenn Zanatta die Veränderung im Verhältnis zwischen Militär und Amtskirche hier zu stark zuspitzt, so weist er doch auf einen wichtigen, beginnenden Wandel hin, der vor allem seit Anfang der 1980er Jahre immer greifbarer wurde, als die Institution in Reaktion auf den sich abzeichnenden und teilweise begonnenen politischen Transitionsprozess mit einer Repositionierung reagierte.40 Durch seine explizite Bezugnahme auf die desaparecidos und die Menschenrechte wurde der seit 1978 amtierende Papst Johannes Paul II. zu einem wichtigen Akteur der transnational geführten Debatte um die Menschenrechte in Argentinien. Im Land selbst fanden seine Worte ein deutliches Echo in der Presse, die ganz klar den wesentlichen Kern der päpstlichen Botschaft erfasste. So schrieb La Prensa, der Papst habe eine »ausdrucksstarken Aufruf zugunsten der
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stelle, und er werde sie beantworten. Es sei aber möglich, dass man über das Thema sprechen werde. Clarín, 10. November 1982, Aramburu hablaría con el Papa sobre los desaparecidos. Diese Entwicklung betraf die gesamte Kirche, sie ist jedoch nur teilweise erforscht. Ausführlich zum Wandel der Autoritäts- und Gehorsamsvorstellungen im Jesuitenorden siehe Schnoor 2016, insbesondere S. 95ff. Discurso del Santo Padre Juan Pablo II a un grupo de obispos argentinos en visita »ad limina apostolorum«, 28. Oktober 1979, online: https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/es/spee ches/1979/october/documents/hf_jp-ii_spe_19791028_argentina-ad-limina.html; Juan Pablo II: Ángelus, 28. Oktober 1979, online: https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/es/angelu s/1979/documents/hf_jp-ii_ang_19791028.html (abgerufen am 12. April 2016). Vgl. Zanatta 2015, S. 288f. Siehe hierzu Kapitel 5.
Die argentinischen Bischöfe in Rom
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Gefangenen und Verschwundenen in Argentinien und Chile«41 formuliert. Einige Tage später, nachdem die offiziellen Texte des Angelus-Gebets und der Ansprache an die argentinischen Bischöfe offiziell vom Vatikan zur Verfügung gestellt und von der argentinischen Bischofskonferenz veröffentlicht worden waren, verbreiteten etliche Medien in Argentinien den gesamten Text.42 Neben der Tagespresse druckten auch katholische Publikationen wie Criterio und Actualidad Pastoral die Worte des Papstes vollständig ab.43 Auch in der Menschenrechtsbewegung wurde ihnen eine große Bedeutung zugemessen. Der SERPAJ veröffentlichte beide Dokumente in einer eigenen Flugschrift, um sie öffentlich bekannt zu machen.44 Die Madres de Plaza de Mayo griffen die Worte des Papstes ebenfalls auf. Sie rezipierten sie als klare Forderung, wie ihre Solicitada von Anfang November 1979 zeigt: »Der Papst und die Hoffnung – Seine Heiligkeit Johannes Paul II. forderte vor 70.000 Gläubigen am 28. Oktober 1979 dringende Aufklärung der Situation der Verschwundenen und der Gefangenen. Er bat eindringlich darum, dass es ›eine strikte Einhaltung der Gesetze gebe und dass die physische und moralische Person respektiert werde, auch die der Gewaltausübung Schuldigen oder Verdächtigen‹. Der Osservatore Romano schreibt: ›Heute hoffen Tausende Männer und Frauen, dass die bescheidene und leidenschaftliche Forderung des Papstes gehört werde.‹ Wir schließen uns dieser Forderung mit unserer verzweifelten [Forderung, B.R.] an. Kann es sein, dass Argentinien diesem dramatischen Appell des Heiligen Vaters kein Gehör schenkt?«45
An dieser Stelle lässt sich die Strategie, das hohe symbolische Kapital des Papstes zum Untermauern der eigenen Legitimität heranzuziehen, gut nachvollziehen. Die große Wirkung der Papstworte war nicht nur in der Autorität des Amtes begründet, sondern auch dadurch, dass die Junta sich auf den Katholizismus 41 La Prensa, 29. Oktober 1979, Llamamiento del Santo Padre en favor de los derechos humanos, »vigoroso llamamiento en favor de los detenidos y desaparecidos en la Argentina y Chile«; siehe auch La Nación, 29. Oktober 1979, El Papa habló del individuo y sus derechos. 42 La Prensa, 2. November 1979, El papa con obispos argentinos – Arraigo de la familia, las relaciones laborales, derechos humanos y Chile; Clarín, 1. November 1979, Difundieron el texto de las expresiones del Papa sobre la situación argentina. 43 Dos alocuciones de Juan Pablo II a obispos argentinos, in: Criterio 1824 (22. November 1979); Mensaje a la Argentina – Juan Pablo II, in: Actualidad Pastoral 134. 44 Archiv CELS, Otras organizaciones, Versión oficial de las alocusiones [sic] del Papa Juan Pablo II, sobre la situación de detenidos y desaparecidos en la Argentina y en Chile, y en la reunión privada con los obispos argentinos [Flugschrift des SERPAJ o. Datum]. 45 Archiv CELS, Otras organizaciones, Clarín, 8. November 1979 [Presseausschnitt], »El Papa y la Esperanza – Su Santidad Juan Pablo II pidió ante setenta mil fieles el 28/10/79 Urgente [sic] esclarecimiento de la situación de los desaparecidos y detenidos. Instando a que ›haya una rigurosa adherencia a la ley y se respeta la persona física y moral aún de los culpables o tachados de violencia.‹ Dice el Observatore Romano [sic]: ›Hoy miles de hombres y mujeres esperan que el reclamo humilde y apasionado del Papa sea escuchado‹ [sic] Nos unimos a ese reclamo con el nuestro desesperado. Puede Argentina desoír esta dramática apelación del Santo Padre?«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
berief und versuchte, sich christlich zu legitimieren. Deswegen hätte die Militärregierung den Papst nicht angreifen können, ohne die Glaubwürdigkeit ihrer Selbstverortung im Katholizismus zu gefährden. Im Falle der säkularen CIDH war das anders. Hier hielt sich die Junta nicht mit ihrer Kritik zurück, sondern versuchte, den abschließenden Bericht zu delegitimieren. Das erklärt unter anderem, warum Menschenrechtsaktivist*innen die Papstworte aufgriffen, für ihre Verbreitung sorgten und in ihrem Sprechen über Menschenrechtsverletzungen immer wieder darauf rekurrierten, unabhängig davon, ob sie sich der Kirche oder dem katholischen Glauben grundsätzlich verbunden fühlten oder nicht. Sowohl der Sonderdruck des SERPAJ als auch die Solicitada der Madres zeigen die Bedeutung, die den Äußerungen des Papstes als höchster Autorität der katholischen Kirche von Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung zugeschrieben wurde. Im Falle der Madres lässt sich eine Aneignung der Papstworte erkennen, die eine Verstärkung ihrer Positionierung bedeutete. Im Rekurs der Madres auf die Äußerungen des Papstes wurde aus der Hoffnung des Papstes auf die Aufklärung der Fälle eine Forderung nach allgemeiner Aufklärung, was erneut zeigt, dass nicht allein die Äußerungen an sich relevant sind, sondern dass es auch auf ihre Rezeption und ihren sozialen Gebrauch ankommt. Die offizielle Lesart der Institution Kirche war in diesem Zusammenhang etwas anders als die der Menschenrechtsaktivist*innen. Die Amtskirche äußerte sich mit dem Dokument der Comisión Permanente der CEA Llamado a una mayor reconciliación vom 14. Dezember 197946 erstmals nach Abreise der CIDH zur Menschenrechtsfrage, ohne allerdings auf deren Besuch einzugehen. Dafür standen die in Rom vernommenen Papstworte im Mittelpunkt des Texts. Anders als die Madres sprachen die Bischöfe in Bezug auf die Papstworte nicht von einer Forderung, sondern von einer »Hoffnung«47 auf Aufklärung, die der Papst formuliert habe. Zudem habe der Papst, so das Dokument der Comisión Permanente der CEA, um Gebete und das Teilen des Schmerzes jener gebeten, die »keine Hoffnung mehr haben, ihre liebsten Angehörigen in die Arme schließen zu können«.48 Diese Zusammenfassung lag relativ nah am Original-Wortlaut der päpstlichen Äußerung, in der Johannes Paul II. formuliert hatte, dass »wir nicht die Hoffnung verlieren, dass so leidvolle Probleme aufgeklärt werden«.49 46 Llamado a una mayor reconciliación, in: AICA-Doc 71, Suplemento AICA 1200, (20. Dezember 1979), im Folgenden zitiert als CEA-DOC 1979. 47 CEA-DOC 1979. 48 Ebd., »[…] con respecto al problema de los desaparecidos, el supremo pastor confía en su esclarecimiento, y pide, no sólo oraciones, sino también que se comparta el dolor de aquellos que ya no tienen esperanza de abrazar a sus seres queridos«. 49 Die Passage des Angelus-Gebets, in der sich Johannes Paul II. auf die desparecidos bezieht, lautet im Original: »[…] en ocasión de los encuentros con peregrinos, con Obispos de América Latina, en particular de la Argentina y de Chile, aparece a menudo el problema de las personas desaparecidas o perdidas. Oramos para que el Señor reconforte a cuantos no tienen
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Sowohl die Formulierungen des Papstes selbst als auch die Zusammenfassung der argentinischen Bischöfe lagen mehrheitlich auf einer spirituellen Ebene und berührten semantisch kaum das politische Feld, da der Papst – und mit ihm die argentinischen Bischöfe – die Hoffnung auf eine Aufklärung richtete, ohne allerdings zu benennen, wer diese Aufklärung leisten sollte. Statt eine Forderung mit eindeutig politischer Semantik zu erheben, bat der Papst an dieser Stelle um Gebete und Mitgefühl für die Angehörigen der desaparecidos. Die Äußerungen des Papstes und der argentinischen Bischofskonferenz an sich stellten jedoch Interventionen auf dem politischen Feld dar. Dies gilt ebenso für die päpstliche Feststellung, dass die Menschenrechte eingehalten werden müssen, die die argentinischen Bischöfe ebenfalls übernahmen.50 Im Dokument der Comisión Permanente der CEA wurden außerdem Vorstellungen artikuliert, die zeigen, dass die Institution Kirche durchaus den Anspruch erhob, eine Autorität des politischen Felds zu sein und relevante Beiträge zur Formation des Gemeinwesens zu liefern. So referierte der Text einleitend in einer Art kurzen Synopse die wesentlichen Äußerungen des Papstes, die es zu berücksichtigen gelte, wenn man den Zustand der Versöhnung in Argentinien erreichen wolle. Unter anderem sei es notwendig, für die Verbreitung und Einhaltung der katholischen Soziallehre zu sorgen, da ihre Nichtbeachtung aus der Sicht des Papstes die Ursache für die Gewalt in Argentinien darstellte. Damit wurde die katholische Soziallehre zum Fundament des staatlich verfassten Gemeinwesens erhoben, so dass in diesem Zusammenhang ein Verhältnis von Staat und Kirche entworfen wurde, in dem die Kirche die moralische Grundlage für allgemeingültige Normen liefern sollte. In Bezug auf die eigene Rolle der Institution Kirche in Argentinien war ein zentrales Anliegen des Dokuments der Comisión Permanente der CEA zu zeigen, dass die argentinischen Bischöfe den von Johannes Paul II. formulierten Leitli-
ya esperanza de volver a abrazar sus propios seres queridos. Compartamos plenamente su dolor y no perdemos la esperanza de que problemas tan penosos sea esclarecidos para el bien no solamente de los familiares interesados, sino también para el bien y la paz interna de esas comunidades tan queridas por nosotros.« (»[…] bei den Zusammentreffen mit Pilgern, mit Bischöfen aus Lateinamerika, insbesondere aus Argentinien und Chile, taucht oftmals das Problem der verschwundenen oder vermissten Personen auf. Beten wir, dass der Herr jene tröste, die keine Hoffnung mehr haben, wieder ihre Lieben in die Arme zu schließen. Teilen wir vollumfänglich ihren Schmerz und verlieren wir nicht die Hoffnung, dass solch schmerzvolle Probleme nicht nur zum Wohl der beteiligten Familien geklärt werden, sondern zum Wohle und zum inneren Frieden jener Gemeinschaften, die wir so lieben.«), La Argentina en la plegaría del Papa – Alocución del Santo Padre Juan Pablo II, al rezo del Angelus en la Plaza San Pedro, en Roma, el domingo 28 de octubre de 1979, in: AICA-Doc 70, Suplemento AICA 1192–93 (1. November 1979). 50 CEA-DOC 1979. Wiederholt wird diese Forderung an anderer Stelle des Bischofsdokuments mit den Worten: »Solicitamos, por lo tanto, un total respeto de los derechos humanos.«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
nien in Sachen Menschenrechte bereits in der Vergangenheit gefolgt waren.51 Dazu zitierte die Kommission zentrale, von der Bischofskonferenz herausgegebene Dokumente. Konkret handelt es sich um das erste Dokument nach dem Putsch vom 15. Mai 1976, das Dokument vom 7. Mai 1977 und das Dokument vom 18. November 1978. In ihrer Selbstreferentialität nahmen die Bischöfe eine Selektion vor, die insgesamt eine tendenzielle Verdichtung zugunsten der getätigten Aussagen in Sachen Menschenrechte bedeutete, auch wenn die ambivalenten und junta-legitimierenden Anteile durchaus noch vorhanden waren. Aus dem ersten nach dem Putsch veröffentlichten Dokument vom Mai 1976, das von großer Ambivalenz geprägt war und auch als Legitimation des Militärputschs gelesen werden konnte, zitierte das fragliche Dokument nur den Halbsatz: »el bien común y los derechos humanos son permanentes«52. Das Dokument vom Mai 1977 wurde mit einer längeren Passage zitiert, in der die Bischöfe davon sprachen, dass die Störung der sozialen Ordnung sowie ein fehlgeleitetes Konzept der persönlichen und sozialen Sicherheit dazu geführt haben, die Verletzung der elementaren Menschenrechte zu tolerieren oder gar zu akzeptieren. Es habe ebenfalls dazu geführt, die Tötung des Feindes für legitim zu erachten, ebenso wie die moralische und physische Folter, die illegitime Verhaftung oder die Eliminierung all jener, von denen man annehmen könnte, dass sie die persönliche und kollektive Sicherheit bedrohen.53 51 Diese Zuspitzung auf die Menschenrechtsfrage weist darauf hin, welche Wirkung die Worte des Papstes hatten und dass insbesondere dieser Aspekt rezipiert wurde, auch wenn der Papst am 28. Oktober 1979 im Angelus-Gebet und in der Unterredung mit den argentinischen Bischöfen nicht nur darüber, sondern deutlich umfangreicher über andere Themen, wie beispielsweise die Familienpastoral, sprach. 52 CEA-DOC 1979, (»das Gemeinwohl und die Menschenrechte sind immerwährend«). 53 Ebd., Bezug nehmend auf CEA-Doc 1977: »La alteración (del orden social), así como un concepto equivocado de la seguridad personal o social, han llevado a muchas conciencias a tolerar y aún a aceptar la violación de elementales derechos del hombre creado a imagen de Dios y redimido por Cristo; así como ha llevado también a admitir la licitud del asesinato del enemigo, la tortura moral y física, la privación ilegítima de la libertad o la eliminación de todos aquellos de los que pudiera presumirse que son agresores de la seguridad personal y colectiva. Para superar esta dificultad hay un solo principio liberador, la plena vigencia de la ley justa y un solo camino para llegar a ello, la verdad, plena y sin disfraz. Cuando se viven circunstancias excepcionales y de extraordinario peligro para el ser nacional, estas leyes podrán ser también excepcionales; pero ha de procederse siempre en el marco de la ley y bajo su amparo para una legítima represión, la cual no es otra cosa, cuando así se la practica, que una forma del ejercicio de la justicia.« (»Die Beeinträchtigung (der sozialen Ordnung), ebenso wie ein irriges Konzept der persönlichen oder sozialen Sicherheit hat viele Gewissen dazu gebracht, die Verletzung der elementaren Rechte des Menschen, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes und erlöst durch Christus, zu tolerieren oder sogar zu akzeptieren; ebenso wie sie dazu geführt hat, die Zulässigkeit der Ermordung des Feindes zuzugestehen, die moralische und physische Folter, der illegitime Freiheitsentzug oder die Eliminierung all jener, von denen man annehmen könnte, dass sie Angreifer der individuellen oder kollektiven Sicherheit sind. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, vielleicht die schwerwiegendste
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Damit sprachen die Bischöfe zwar über die Verletzungen der Menschenrechte, aber in der von ihnen zitierten und damit aktualisierten Passage war weder konkret von den desaparecidos die Rede, noch wurden die Täter eindeutig benannt. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, von den Bischöfen als Lösung proklamiert, konnte jedoch auch in diesem Kontext zumindest als impliziter Hinweis auf die Täterschaft der Militärdiktatur gelesen werden, obwohl die Deutung des Militärs geteilt wurde, es bestünde eine außerordentliche Gefahr für das essentialistisch gedachte Wesen der ›argentinischen Nation‹. Des Weiteren erinnerten die Bischöfe an ihre im November 1978 vorgebrachte Forderung an die staatlichen Autoritäten, dass die Angehörigen Auskunft über den Verbleib der Verschwundenen erhalten sollten.54 Dagegen gehörte die kritiklose Übernahme zweier Gründe, die das Militärregime für das Verschwinden in Umlauf gebracht hatte, eindeutig zu den junta-nahen Elementen: »Obwohl es wahr ist, dass die nationale Regierung die Situation vieler aufgeklärt und veröffentlicht hat, und dass das Gesetz 22.068 die Abwesenheit mit der Mutmaßung des Todesfalls reguliert und so versucht, einige erbrechtliche Probleme zu lösen; besteht das Problem der verschwundenen Personen fort, sei es wegen der Subversion oder der Repression oder auch aufgrund freien Entschlusses.«55
Beide Argumentationsfiguren, sowohl jene, die besagte, das Verschwinden sei auf sogenannte ›subversive‹ Aktivitäten zurückzuführen, als auch jene, die behauptete, es gäbe Menschen, die quasi aus freien Stücken verschwinden, wurden vom Militärregime als vermeintliche Erklärung des Phänomens verbreitet, nachdem es durch die öffentliche Anklage der Menschenrechtsverbrechen durch nationalstaatlich basierte sowie trans- und internationale Akteur*innen, darunter Amnesty International und die US-amerikanische Regierung Carters, unter Druck geraten war. Neben der Übernahme dieser Argumentation interpretierten die Bischöfe den Erlass des Gesetzes über den ›mutmaßlichen Todesfall‹ als positiven Schritt und bescheinigten der Junta, viele Fälle der desdieses Prozesses, den wir durchleben, gibt es nur ein befreiendes Prinzip, die vollumfängliche Gültigkeit des gerechten Gesetzes und einen einzigen Weg, um dorthin zu gelangen, die volle Wahrheit ohne Maskierung. Wenn außergewöhnliche und ausgesprochen gefährliche Umstände für das nationale Wesen herrschen, können diese Gesetze auch außergewöhnlich und außerordentlich sein, die individuellen Rechte zugunsten des Gemeinwohls opfernd, sollte es nötig sein. Aber es muss immer im Rahmen des Gesetzes und unter seinem Schutz vorgegangen werden für eine legitime Repression, welche nichts anders ist, wenn sie so praktiziert wird, als eine Form der Gerechtigkeit.«). 54 CEA-DOC 1979. 55 Ebd., »Si bien es cierto que el gobierno nacional ha aclarado y publicado la situación de muchos; y que la ley 22.068 regula la ausencia con presunción de fallecimiento, intentando así resolver algunos problemas jurídico-patrimoniales; sin embargo todavía subsiste el problema de personas desaparecidas, sea por la subversión o por la represión o también por libre determinación.«.
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aparecidos aufgeklärt zu haben, was den Behauptungen der Junta, die Verschwundenen seien Opfer von Guerilla-Schießereien und Guerilla-Selbstjustiz geworden oder befänden sich im Ausland, Vorschub leistete.56 Da die Amtskirche sich positiv auf das Gesetz zum ›mutmaßlichen Todesfall‹ bezog, stellte sie diese Deutung nicht einmal ansatzweise in Frage. Dagegen verwies der dritte von der Amtskirche benannte Grund für das Verschwinden von Menschen »aufgrund der Repression« (»por represión«) auf die Verantwortung der staatlichen Sicherheitskräfte und stellte somit eine gegenläufige Tendenz zum dominanten Diskurs dar. Auch die Aufforderung an die Militärjunta am Ende des Dokuments, die Repression auf der Grundlage des Rechtsstaats auszuüben, kann als impliziter Verweis auf eine Täterschaft gelesen werden: »in der notwendigen Verteidigung des Gemeinwohls und der öffentlichen Ordnung, mit konsequenter Repression, erinnern wir daran, dass sie nicht erfolgen darf, es sei denn mit legitimen und legalen Mitteln, gemäß des Rechtsstaats.«57 Mit diesen Worten wandte sich die CEA klar an die Militärjunta, da die Aussagen unter der Überschrift »an die Autoritäten« standen. Andere Teile waren durch die verwendeten Zwischentitel an unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen beziehungsweise Gruppen adressiert, wie zum Beispiel »die Familien« oder »die Arbeiter«.58 Die Aufforderung zur Einhaltung der Menschenrechte richtete sich jedoch nicht an die Junta, sondern »an alle«59. Es wurde die Idee präsentiert, dass es persönlicher Anstrengungen eines jeden bedürfe, um die gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und den Zustand der Versöhnung zu erreichen. Das angestrebte Ziel der Versöhnung wurde in Zusammenhang mit dem Begriff der Gerechtigkeit gebracht, indem der Episkopat Gerechtigkeit als notwendige Bedingung von Versöhnung konzeptionierte. Die Passage kam jedoch ohne konkrete Bezüge aus und konnte daher auf mindestens zwei ganz unterschiedliche Weisen gelesen werden, je nachdem, was unter dem Begriff der Gewalt verstanden wurde: »Von allen, die in diesem unserem Vaterland leben, erbitten wir einen persönlichen und gemeinschaftlichen Einsatz, um die Spaltungen und den Hass zu eliminieren und die Versöhnung zu schaffen, welche Gerechtigkeit fordert und welche zur Zivilisation der Liebe führt, indem sie die Gründe eliminiert und die Bedingungen verändert, die
56 Diese Behauptungen verbreitete die Junta in ihrer Publikation, die als Gegenbericht zum Bericht der CIDH angelegt war. Circulo Militar (Hg.): Observaciones y comentarios críticos del gobierno argentino al informe de la CIDH sobre la situación de los derechos humanos en Argentina (Abril 1980), Buenos Aires 1980. 57 CEA-DOC 1979, »en la necesaria defensa del bien común y orden público, con la consecuente represión, recordamos que ella no debe realizarse sino con medios lícitos y legales, según el estado de derecho.«. 58 Ebd. 59 Ebd.
Menschenrechtsaktivist*innen zwischen Papst und Episkopat
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Entschuldigung oder Vorwand für Gewalt sind. Wir erbitten deshalb einen absoluten Respekt für die Menschenrechte.«60
Es bleibt offen, welche Form der Gewalt gemeint war, und damit, welche Gründe und Bedingungen, die als Vorwand für die Gewaltanwendung benutzt wurden, eliminiert werden sollten. Wie auch in den Dokumenten der Vorjahre lässt sich hier eine Unbestimmtheit des Gewaltbegriffs feststellen, die einen relativ großen Raum für unterschiedliche Deutungen öffnete. So könnten in diesem Abschnitt entweder Guerillagruppen oder das Militär als Gewaltakteure gemeint sein oder aber auch beide gleichzeitig. Dem jeweiligen Gewaltakteur entsprechend wären die Gründe beziehungsweise Vorwände für die Anwendung von Gewalt entweder die ›Bekämpfung der Subversion‹ im Falle des Militärs respektive die ›Überwindung von ungerechten gesellschaftlichen Strukturen‹ im Falle der bewaffneten Guerillagruppen. Durch die mehrdeutige Referenz vermied die Bischofskonferenz an dieser Stelle, die Verantwortlichkeit des Staats für das Unterbinden des Gewaltgeschehens und die Einhaltung der Menschenrechte zu benennen, und verlagerte so die Verantwortung auf jeden Einzelnen und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Obgleich keine direkte Ansprache der Militärmachthaber erfolgte, waren sie an dieser Stelle trotzdem in das nationalstaatlich gedachte Kollektiv eingeschlossen, ohne jedoch als Täter benannt oder in besonderer Weise adressiert zu werden. So wurde eine allgemeine und relativ abstrakte Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte formuliert, die als implizite Forderung und als Hinweis auf die Täterschaft der staatlichen Sicherheitskräfte gelesen werden konnte, aber nicht notwendigerweise so gedeutet werden musste.
3.3
Menschenrechtsaktivist*innen zwischen Papst und Episkopat
Die nicht nur an dieser Stelle auftretende Ambiguität in den offiziellen Dokumenten der katholischen Kirche wurde vor allem von Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung immer wieder kritisiert. Auch wurde von ihnen eine klarere Positionierung seitens der Kirche gefordert, da nicht nur den Worten des Papstes, sondern auch den Sprechakten der argentinischen Amtskirche eine hohe Wirksamkeit zugeschrieben wurde. Die Annahme der hohen gesellschaftlichen Relevanz ist kongruent mit dem von der Amtskirche vertretenen Selbstverständnis, dem zufolge die katholische Kirche ein wichtiger Akteur innerhalb 60 CEA-DOC 1979, »A todos los que viven en ésta nuestra patria, solicitamos un esfuerzo personal y comunitario, para erradicar las divisiones y el odio e implantar la reconciliación que exige justicia y que lleva a la civilización del amor, eliminando las causas y modificando las condiciones que son disculpa o pretexto para la violencia. Solicitamos, por lo tanto, un total respeto de los derechos humanos.«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
der gesellschaftlichen Debatten war. Anerkannt wurde dieser Anspruch nicht nur von Menschenrechtsorganisationen wie den Madres de Plaza de Mayo, sondern unter anderem auch von der regimestützenden Presse, wie zum Beispiel der Tageszeitung La Nación, was erneut die mächtige Position der Kirche auch im politischen Feld Argentiniens deutlich macht. Gerade deshalb fand sich bei den Madres immer wieder die nachdrückliche Aufforderung an die Bischöfe, mit ihrem Sprechen und vor allem mit Praktiken zugunsten der Menschenrechte einzugreifen, da sie in den Augen der Madres die dazu nötige Autorität besaßen und ihre Interventionen zu Veränderungen führen würden. Die Erwartungshaltungen gegenüber der katholischen Kirche kamen auch in einem Brief der Madres an Kardinal Primatesta vom 20. Dezember 1979 zum Ausdruck, mit dem sie auf die – bereits analysierten – Äußerungen der Bischofskonferenz vom Dezember 1979 mit dem Titel Llamado a una mayor reconciliación61 (Aufruf zu einer umfassenderen Versöhnung) reagierten. Dort postulierten die Madres: »die Stimme der Kirche, mit enormem Gewicht in unserer Gesellschaft, erreicht nicht nur die Gläubigen, sondern alle Menschen guten Willens.«62 In ihrem Brief an Primatesta und die gesamte Bischofskonferenz legten die Madres dar, welche Erwartungen sie angesichts der großen Reichweite der bischöflichen Äußerungen und vor allem vor dem Hintergrund der veränderten Situation nach dem Besuch der CIDH an die Bischöfe hatten. Zunächst erläuterten sie, dass sich die Situation der desaparecidos zwar nicht verändert habe, dass aber durch den Besuch der CIDH eine qualitative Veränderung in der Menschenrechtsdebatte festzustellen sei. Als neue Tatsache konstatierten sie, dass Tausende von Menschen die Anzeige des Verschwindens eines Angehörigen öffentlich vor einem internationalen Gremium vornehmen konnten. Das Narrativ der Madres über das Verschwinden widersprach grundlegend den von der Junta verbreiteten vermeintlichen Gründen für das Verschwinden von Menschen. Die Madres benannten in aller Klarheit, dass die desaparecidos entführt worden waren, und zwar von bewaffneten Gruppen, die sie anhand der gesammelten Beweise als 61 CEA-DOC 1979. 62 MADRES, B4.320, Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Raúl Primatesta, 20. Dezember 1979, »[…] la voz de la Iglesia, de enorme gravitación dentro de nuestra sociedad, llega no solo a los creyentes sino a todos los hombres de buena voluntad.« Die Autorschaft dieses Dokuments wird den Madres zugeschrieben, ist jedoch nicht vollständig gesichert, da im Archiv der Madres keine Seite mit Unterschriften vorhanden ist. Außerdem gibt es keine Selbstbeschreibung im Dokument, die die Autorinnen dezidiert oder indirekt als Madres de Plaza de Mayo ausweist. Ein Brief mit identischem Text ist im Archiv CELS aufbewahrt (fondo correspondencia 1977–1981). Hier sind die unterzeichnenden Mitglieder des CELS unter anderem Emilio Mignone und Angélica Sosa de Mignone (die gleichzeitig zur Gruppe Madres de Plaza de Mayo gehörte). Die Tatsache, dass das Dokument im Archiv der Madres als Dokument der Madres klassifiziert wurde, legt nahe, dass die Madres de Plaza de Mayo sich mit den Inhalten identifizierten. Denkbar ist auch, dass derselbe Text von unterschiedlichen Gruppen verwendet wurde.
Menschenrechtsaktivist*innen zwischen Papst und Episkopat
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staatliche Akteure identifiziert hatten.63 Ihre Deutung, die zugleich die Deutung der Menschenrechtsbewegung in Argentinien war, hatte durch die CIDH eine wirkmächtige Legitimation erhalten. Die Madres hoben zudem als neue Tatsache hervor, dass mit dem Besuch der CIDH das Thema Menschenrechtsverletzungen endlich öffentlich verhandelt wurde.64 Die Sichtbarkeit des Problems und seiner Ausmaße kam nicht zuletzt dadurch zustande, dass tagelang Hunderte von Angehörigen im Zentrum von Buenos Aires Schlange standen, um bei der CIDH konkrete Angaben über die Umstände des Verschwindens ihrer Familienmitglieder zu machen. Die anhaltende Sichtbarkeit der großen Masse der Angehörigen im Stadtbild von Buenos Aires kann als performativer Akt gefasst werden, der unmöglich nicht wahrgenommen werden konnte, wie auch die Presseberichte zum Besuch der CIDH zeigen.65 Da neben Tätern und Opfern die Reaktion vermeintlich unbeteiligter Akteur*innen eine zentrale Rolle für die Entwicklung eines Gewaltgeschehens spielt, ist es nicht verwunderlich, dass auch die Madres der gesellschaftlichen Reaktion Bedeutung zuschrieben und die katholische Kirche unmittelbar ansprachen. In ihrem Brief stellten sie fest, dass sich »gesellschaftliche Akteure«66, die sie nicht näher benannten, der Deutung der regierenden Militärjunta angeschlossen hatten, welche besagte, dass das Handeln der Streitkräfte notwendig zur Rettung der westlichen, christlichen Werte gewesen sei. Dem setzten die Madres eine fundamental andere inhaltliche Bestimmung der christlichen Werte entgegen, denn aus ihrer Perspektive konnten diese nur durch die strikte Einhaltung der Menschenrechte gewahrt werden. Die Madres verknüpften hier ihre Vorstellungen von christlichen Werten mit der Einhaltung des säkularen Prinzips der Menschenrechte und sakralisierten es auf diese Weise. Im Anschluss legten die Madres ihre Erwartungshaltung gegenüber der argentinischen Amtskirche dar. Insbesondere der Wahrheitsbegriff spielt im Diskurs der Madres, die zu diesem Zeitpunkt vor allem Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen forderten, eine zentrale Rolle: »Wir erwarteten mit Sehnsucht, um den Zyklus der Gewalt in unserem Vaterland zu beenden, dass diese Botschaft [der Bischöfe, B.R.] die konkrete Anwendung des Leitspruchs sei, den der Heilige Vater der Menschheit für das kommende Jahr vorschlägt: ›Die Wahrheit, Kraft des Friedens‹. Wir wussten, dass es in diesem Moment in Ar63 MADRES, B4.320, Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Raúl Primatesta, 20. Dezember 1979, »[…] grupos armados que actuaron con las carácteristicas de quiénes se hallan en el ejercicio de la autoridad pública.«. 64 Ebd. 65 Clarín, 8. September 1979, Formularon pedidos ante la sede de la OEA familiares de desaparecidos; Gorini 2005, S. 336. Zur Berichterstattung der Tageszeitung Clarín siehe Iturralde 2013. 66 MADRES, B4.320, Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Raúl Primatesta, 20. Dezember 1979.
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gentinien, um die Wahrheit zu sagen, des Heldenmuts bedarf, und, uns unserer eigenen Grenzen bewusst, brauchten wir das Vorbild der katholischen Hierarchie.«67
Die Amtskirche sollte aus der Perspektive der Madres Vorbild couragierten Handelns sein und sich den Anliegen der Menschenrechtsaktivistinnen annehmen. Mit der Berufung auf den Papst als höchste Autorität des religiösen Felds, die zudem den argentinischen Bischöfen hierarchisch übergeordnet war, wandten die Madres eine wiederholt benutzte Legitimationsstrategie an, die sich nicht nur bei den Madres, sondern auch bei anderen Menschenrechtsorganisationen finden lässt. Durch den Rekurs auf eine Instanz mit großem symbolischem Kapital versuchten sie, das eigene symbolische Kapital zu vergrößern und ihre relativ marginale Sprecherposition aufzuwerten, um sich Gehör zu verschaffen. Zugleich machten die Madres in ihrem Brief auf die Diskrepanz zwischen dem Agieren des Papstes und dem der argentinischen Bischöfe aufmerksam. Letztere hatten ihre Erwartungen schwer enttäuscht, wie sie unmissverständlich deutlich machten: »Mit unermesslichem Bedauern müssen wir Ihnen sagen, dass man in dem Dokument des Episkopats nicht die Wahrheit über das Problem der desaparecidos gesagt hat.«68 Angesichts der hohen Bedeutung des Wahrheitsbegriffs für die katholische Kirche handelte es sich um eine besonders drastische Kritik an der Bischofskonferenz. Besonders der Teil, in dem die Bischöfe über die Ursachen des Verschwindens sprachen, wurde von den Madres scharf kritisiert; hier wurden vor allem die von der Junta angegebenen Ursachen des Verschwindens als falsch zurückgewiesen. Stattdessen verliehen die Madres ihrem Wissen um das Verschwindenlassen den Status einer allgemein bekannten und anerkannten Wahrheit und kritisierten das Dokument der Bischöfe: »[…] wir alle wissen, dass Tausende von Männern und Frauen in den letzten vier Jahren für immer verschwunden sind, aufgrund der repressiven Maßnahmen der Streitkräfte, die entschlossen sind, nicht darüber zu informieren, ob jene [Verschwundenen, B.R.] leben oder nicht. Und noch weniger, ob sie wegen ihrer Taten oder ihrer Ideen ausgelöscht wurden; ob man sie exekutiert hat aufgrund eines Fehlers oder eines Verdachts. Wie viele waren Geiseln, und wer von ihnen starb nach grausamen Foltern, damit wir alle Angst haben und schweigen sollten. Aber nichts davon scheint durch in dem Abschnitt, der die aktuelle Situation der desaparecidos beschreibt.«69 67 MADRES, B4.320, Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Raúl Primatesta, 20. Dezember 1979, »Ansiábamos que, para cerrar el ciclo de violencia en nuestra Patria, ese mensaje fuera la aplicación concreta del lema que el Santo Padre propone a la Humanidad para el año que comienza: ›La verdad fuerza de la Paz‹. Sabíamos que en este momento argentino, decir la verdad requiere heroísmo, y conscientes de nuestras propias limitaciones, nececitábamos el ejemplo de la Jerarquía Católica.«. 68 Ebd., »Con inmenso pesar, debemos decirle que en el Documento del Episcopado no se ha dicho la verdad sobre el problema de los desaparecidos.«. 69 Ebd., »[…] todos sabemos que millares de hombres y mujeres desaparecieron para siempre en los últimos cuatro años, a consecuencia de la acción represiva de las Fuerzas Armadas, las
Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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Somit drücken die Madres nicht nur ihre Erwartung an die katholische Kirche aus, sondern auch die Enttäuschung darüber, dass die Bischöfe das Dokument nicht dazu genutzt hatten, die Repression klar und unmissverständlich zu benennen. Sie kritisieren insbesondere, dass die Bischöfe das Narrativ der Madres nicht uneingeschränkt teilten und somit auch nicht zur Etablierung der Wahrheit über die Verschwundenen beitrugen, sondern stattdessen den Diskurs der Junta perpetuierten. Ihre Forderung nach Aufklärung fassten die Madres konzeptuell als Recht auf Wahrheit und sahen auf dieser Grundlage insbesondere die Kirchenvertreter in der Pflicht, vor allem, da jene immer wieder öffentlich den Anspruch erhoben, für die Wahrheit einzustehen. Da die Bischöfe jedoch die Wahrheit der Menschenrechtsbewegung nicht offiziell legitimierten, stellten die Madres eine teilweise unüberwindbare Differenz zwischen den Weltdeutungen der Bischöfe und ihren eigenen fest, insbesondere in Bezug auf die Implikationen, die sich aus dem christlichen Begriff von Wahrheit für das konkrete Handeln ergeben sollten. Während die Madres aus ihrem Wahrheitsbegriff für die Würdenträger der Amtskirche einen moralischen Imperativ ableiteten, der zu einer klaren Forderung nach Aufklärung gegenüber der Militärjunta führen musste, interpretierten die Bischöfe ihren eigenen Auftrag anders. Es wäre hier meines Erachtens allerdings falsch zu behaupten, dass die Bischofskonferenz sich völlig indifferent oder allein regimestützend geäußert hätte. Dies erkannten auch die Madres trotz ihrer scharfen Kritik zumindest partiell an. Aber sie machten zu diesem Zeitpunkt erneut deutlich, dass sie eine klarere Haltung und deutliche Forderungen seitens der Bischöfe erwarteten.
3.4
Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
Eine unmittelbare Antwort auf den oben analysierten Brief der Madres an Kardinal Primatesta und die Bischofskonferenz ist nicht überliefert. Die Bischöfe äußerten sich erst wieder nach der Zusammenkunft der Bischofskonferenz im Mai 1980 öffentlich zum Thema desaparecidos, diesmal eingebettet in ein Dokument über den politischen Dialog. Es handelt sich um eine Reaktion der Bischöfe auf eine Anfrage der Junta im März 1980, kurz vor der Veröffentlichung des Berichts der CIDH. Auch die Madres wandten sich im Vorfeld der Bique están decididas a no informar si aquéllos viven o no. Y menos aún si fueron eliminados por sus acciones o por sus ideas; si se los ejecutó por error o por las dudas. Cuántos fueron rehenes, y cuáles murieron después de atroces torturas, para que todos tuviéramos miedo y nos calláramos. Empero, nada de esto se deja traslucir en el párrafo que describe la situación actual de los desaparecidos.«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
schofskonferenz Ende April erneut an die argentinischen Bischöfe, so dass die Bischofskonferenz bei der Abfassung ihres Dokuments mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert war. Angesichts des Konflikts um das Thema der desaparecidos, der durch die Publikation des Berichts der CIDH im April 1980 verschärft worden war, ist es von besonderem Interesse, die Reaktion der Bischöfe auch dahingehend zu untersuchen, inwiefern sie auf die an sie gerichteten Erwartungen eingegangen sind, sowohl auf jene der Junta als auch auf jene der Madres. Wie im vorangegangenen Brief sprachen die Madres in ihrem Brief vom 22. April 1980 an Kardinal Primatesta und die Bischofskonferenz auch über die aktuelle Situation in Argentinien, den Aufruf der Junta zum ›Dialog‹ und über ihre Erwartungen an die Bischofskonferenz als offizielle Repräsentanten der katholischen Kirche. Sie bekräftigten dabei ihre im Dezember 1980 formulierten Erwartungen und bezogen sich auf den zu diesem Zeitpunkt soeben erschienenen Bericht der CIDH, der eine wichtige Legitimitätsressource für die Menschenrechtsbewegung darstellte. Erstens, weil er Tausende Fälle von Menschenrechtsverletzungen auflistete und öffentlich verfügbar machte, und zweitens, weil er diese Informationen als wahr auswies. Insbesondere die von der CIDH ausgesprochene Empfehlung, die Militärjunta solle über die Situation der desaparecidos informieren, trugen die Madres an die Amtskirche heran und forderten, sie möge sich jene zu eigen machen: »Und die Kirche, durch die Stimme ihres Episkopats, muss ebenfalls diese Erklärung fordern. Wir alle müssen die Wahrheit erfahren. Und die Regierung, so wie es aus ihren eigenen Äußerungen hervorgeht, hat die Möglichkeit, es zu tun, und muss es tun.«70
Gerade in diesem Brief an die Bischofskonferenz wird die Erwartungshaltung der Madres besonders deutlich sichtbar, da sie ihre eigenen normativen Vorstellungen über die Rolle der Kirche thematisierten. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass viele Angehörige der Verschwundenen unmittelbar nach der Verschleppung sowohl spirituellen Beistand als auch konkrete Hilfe bei den Repräsentanten der katholischen Kirche suchten. Die individuellen Reaktionen der Bischöfe wurden von den Angehörigen der desaparecidos deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen, ebenso wie die offiziellen Äußerungen und Handlungen der Amtskirche. In diesem Dokument gaben die Madres, über vier Jahre nach dem Militärputsch, eine Einschätzung zum Agieren der Kirche der vergangenen Jahre, dem sie bescheinigten, zu schwach und ineffizient ausgefallen zu sein: 70 MADRES, B4.98, Madres de Plaza de Mayo an Raúl Primatesta und die Bischofskonferenz, 22. April 1980, »Y la Iglesia, por la Voz de su Episcopado, también debe exigir esta explicación. Todos debemos saber la verdad. Y el gobierno, tal como surge de sus propias manifestaciones, está en condiciones de hacerlo y debe hacerlo.«.
Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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»In einer Vollversammlung des Episkopats drückte die Kirche ihre Haltung mittels eines öffentlichen Dokuments aus; in anderen vertraulich, was absolut wirkungslos ist. Vielleicht hätte eine rechtzeitige feierliche Deklaration helfen können, in vielem, zum Frieden und der Rettung von Leben. Betrüblicherweise war es nicht so.«71
Die Madres waren weiterhin der Ansicht, dass die Bischöfe bei weitem nicht die ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume ausgereizt hatten, und forderten sie deshalb erneut auf, klare Worte in Bezug auf die Situation der desaparecidos und die Menschenrechtsverletzungen zu finden: »Heute erwarten wir von den Herren Bischöfen eine Deklaration, die hilft, durch die Kraft ihrer Predigt, zur Wiederbegegnung mit der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Johannes Paul II. stellte dieses Jahr unter das Motto: ›Die Wahrheit ist die Kraft des Friedens‹. Und in der Botschaft des Weltfriedenstags 1979 sagte er: ›Die Wahrheit wiederherzustellen ist, vor allem, die Akte der Gewalt in jeglicher Form bei ihrem Namen zu nennen. Der Mord muss beim Namen genannt werden; der Mord ist Mord, und die politischen und ideologischen Motive sind weit davon entfernt, seine Natur zu verändern, im Gegenteil, sie verlieren ihre eigene Würde. Die Folter muss beim Namen genannt werden und mit angemessenen Termini alle Formen des Drucks und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen … [sic]‹.«72
Ihre Forderungen und Erwartungen an die Bischöfe formulieren die Madres zugleich als moralischen Imperativ und als eine ihrer subjektiven Position entstammende Bitte: »Werte Bischöfe, da Sie Repräsentanten seiner Heiligkeit in unserem Land und Verkünder des barmherzigen Wortes Christi sind, glauben wir Mütter, dass es Ihnen zusteht, zu fordern, dass die Wahrheit gesagt wird, und zwar die ganze Wahrheit. Wir Mütter bitten bescheiden die Herren Bischöfe, dass sie uns Ihre Stimme geben, um unsere Forderung in Worte zu fassen.«73 71 MADRES, B4.98, Madres de Plaza de Mayo an Raúl Primatesta und die Bischofskonferenz, 22. April 1980, »En una reunión episcopal, la posición de la Iglesia se expresó a través de un documento público; en otras, reservado, lo que es totalmente ineficaz. Quizás una solemne declaración a tiempo pudo haber ayudado, en mucho, a la paz y la salvación de vidas. Desgraciadamente no fue así.«. 72 Ebd., »Hoy esperamos obtener de los Señores Obispos la declaración que ayude, por la fuerza de su prédica, al reencuentro con la justicia y la verdad. Juan Pablo II puso este año bajo la advocación del lema: ›La verdad es la fuerza de la paz.‹ Y en el mensaje de la Jornada Mundial de la Paz, de 1979, ha dicho: ›Restaurar la verdad es, ante todo, llamar por su nombre los actos de violencia bajo todas sus formas. Hay que llamar al homicidio por su nombre; el homicidio es homicidio y las motivaciones políticas e ideológicas, lejos de cambiar su naturaleza, pierden por el contrario su dignidad propia. Hay que llamar por su nombre la tortura y con los términos apropiados a todas las formas de presión y explotación del hombre por el hombre… [sic]‹.«. 73 Ebd., »Señores Obispos, siendo ustedes los representantes de Su Santidad en nuestro país y los portadores de la palabra piadosa de Cristo, las madres entendemos que a ustedes corresponde exigir que se diga la verdad y toda la verdad. Las madres rogamos, humildemente, a los Señores Obispos que nos den su voz para expresar nuestro pedido.«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
Auf diese Weise stellten sie die Bischöfe in eine zweifache Verpflichtung, die sich aus ihrer Rolle als Repräsentanten des Papstes ableitet und aus der Rolle für die Madres, die sie ebenfalls repräsentieren sollten. Zwar nahmen die Madres hier – anders als in etlichen anderen Briefen – keine explizite Selbstbeschreibung vor, die eine christliche Identität erkennen ließe, aber ihr positiver Bezug zum Christentum wurde in der Darstellung der Angehörigen deutlich, da die Madres davon sprachen, dass es sich bei der Mehrheit der Opfer um Christen oder Christinnen handelte.74 Die subjektive Erfahrung der Verschleppung und der Folter sowie des Leids der suchenden Angehörigen sollten durch das Sprechen der Bischofskonferenz als legitim und wahr im Diskurs etabliert werden – gerade weil den betroffenen Menschen eine christliche Identität zugeschrieben wurde, die sie mit den Bischöfen und letztlich mit der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen teilten, auch wenn dieses identitäre Merkmal nicht als conditio sine qua non gedacht wurde, sondern implizit der Verweis auf die säkularen Menschenrechte erfolgte: »Die Herren Bischöfe sollten eintauchen in die Lektüre der Zeugenberichte und der Berichte Freigelassener. Auch wenn es ihr christliches Herz ekelt bis zum Brechreiz. Weil die Mehrheit der Gefolterten Christen sind, und auch wenn sie es nicht wären, sind sie Menschen. Die Herren Bischöfe haben Partei ergriffen. Weil die Kritik an der Gewalt, der Schutz der Hilflosen, der Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit Teil des Geistes der Kirche ist und mit unumstößlicher Kraft im Dokument von Puebla ausgedrückt wurde, das der Papst bestätigt hat. Und diese universelle, humanitäre Gesinnung war in den Herzen unserer Kinder.«75
Zugleich werden erneut bedeutende Autoritäten des religiösen Felds – der Papst und die lateinamerikanische Bischofskonferenz – zur Legitimation der eigenen Äußerungen angerufen, die von den argentinischen Bischöfen per definitionem als ranghöhere Autoritäten akzeptiert werden müssen und die öffentlich nicht in 74 Letztlich kann die dort postulierte christliche Selbstverortung auch für die Madres angenommen werden, da sie sich gewissermaßen auch als Repräsentantinnen ihrer verschwundenen Kinder verstanden. Zur Selbstverortung im Katholizismus und zum Einschreiben der Madres de Plaza de Mayo in religiöse Narrative vgl. Feierstein, Liliana Ruth: »Duelo y/o melancholía. Huellas religiosas en las representaciones de la violencia en Argentina«, in: Dies./Lior Zylberman (Hg.), Narrativas del terror y la desaparición en América Latina, Sáenz Peña 2016, S. 99–119 und Rupflin 2016. 75 MADRES, B4.98, Madres de Plaza de Mayo an Raúl Primatesta und die Bischofskonferenz, 22. April 1980, »Los señores Obispos deben adentrase en la lectura de los testimonios y de los informes de personas liberadas. Aunque repugne a su corazón de cristiano hasta las náuseas. Porque la mayoría de los torturados son cristianos y aunque no lo fuesen son seres humanos. Los señores Obispos tomaron partido. Porque la censura a la violencia, la protección al desvalido, el sentido de equidad y justicia es parte del espíritu de la Iglesia y está expresando con fuerza incontrastable en el documento de Puebla que ha sido refrendado por el Papa. Y ese sentimiento humanitario universal estaba en el corazón de nuestros hijos.«.
Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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Frage gestellt werden können, ohne die Zugehörigkeit zur Amtskirche – für die das Ideal der Einheit konstitutiv ist – zu gefährden. Auch für ihre Zurückweisung der von der Junta beanspruchten Deutungshoheit nutzten die Madres die Äußerungen der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, indem sie sich auf das 1979 in Puebla abgefasste Dokument und die dort vorgebrachte Kritik an der Doktrin der Nationalen Sicherheit bezogen. Sie konstatierten, dass das Dokument von Puebla eindeutig in seiner Verurteilung der Doktrin der Nationalen Sicherheit sei. Für die christliche Moral, so die Madres, gebe es keine »verdammenswerten Verbrechen und löbliche Verbrechen, gute Folter und schlechte Folter«.76 Ihre Deutung der Situation und ihre klare Wortwahl zeigen, dass die Madres eine oppositionelle Haltung gegenüber der Junta einnahmen und deren Legitimationsversuche massiv in Frage stellten. Während der Brief der Madres von den Bischöfen nicht einmal partiell öffentlich gemacht wurde, druckte die AICA die Anfrage Videlas im Namen der Junta vom 25. März 1980 vollständig ab.77 In dem knappen Schreiben stellte Videla den Aufruf zum ›Dialog‹ als Schritt einer neuen Etappe der Herrschaft des Militärs dar, die vorgeblich zur Etablierung einer »authentischen und stabilen, pluralistischen Demokratie«78 führen sollte. Da Videla die Amtskirche als wesentlichen gesellschaftlichen Akteur definierte, bat er sie um ihre Meinung zu der in Aussicht gestellten politischen Öffnung, die in der Semantik der Junta als ›Dialog‹ firmierte. Die Anfrage Videlas formulierte weder explizite Erwartungen an die Kirche noch enthielt sie eine Bewertung oder Kritik, sondern versuchte, die Institution als Legitimationsressource für die Herrschaft des Militärs zu vereinnahmen. Videla trug sein Ersuchen an die Kirche heran, kurz bevor die CIDH ihren abschließenden Bericht veröffentlichen sollte, um damit von der Amtskirche eine Legitimation für das Narrativ eines fundamentalen Wandels in der Repressionspolitik und der Frage der Menschenrechte zu erhalten. Die Anfrage war somit Teil der Reaktion auf den Bericht, der zwar noch nicht öffentlich
76 MADRES, B4.98, Madres de Plaza de Mayo an Raúl Primatesta und die Bischofskonferenz, 22. April 1980, »De las declaraciones de los militares argentinos sobre el asunto que motiva esta carta, surge claro -y además lo han repetido taxativamente- que su política se inscribe en la llamada teoría de la seguridad del Estado. El documento de Publa es claro, preciso, terminante, en su posición de repudio a esa teoría. Para la moral cristiana no hay crímenes execrables y crímenes loables, torturas malas y torturas buenas.« (»Aus den Erklärungen der argentinischen Militärmachthaber über die Angelegenheit, die Anlass für diesen Brief sind, geht klar hervor – und außerdem haben sie es kategorisch wiederholt – dass ihre Politik sich einschreibt in die so genannte Theorie der Sicherheit des Staates. Das Dokument von Puebla ist klar, präzise, ausdrücklich in seiner Position der Ablehnung dieser Theorie. Für die christliche Moral gibt es keine verdammenswerten Verbrechen und ehrenwerte Verbrechen, gute Folter und schlechte Folter.«). 77 Carta del presidente Videla al Episcopado, in: AICA 1215 (3. April 1980). 78 Ebd., »auténtica democracia estable y pluralista«.
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
bekannt war, der Junta aber bereits seit Dezember 1979 vorlag.79 Als Kritikpunkte an den Ergebnissen der CIDH brachte die Junta den angeblich harschen Ton des Berichts und die Art der Darstellung der Menschenrechtsverbrechen vor, beließ es aber nicht dabei, sondern initiierte eine breite Gegenoffensive, deren Kernelement eine Art Gegenbericht zum Bericht der CIDH war. Das umfangreiche Junta-Dokument mit dem Titel »Beobachtungen und kritische Kommentare der argentinischen Regierung zu dem Bericht der CIDH über die Situation der Menschenrechte in Argentinien«80 sollte die Ergebnisse der CIDH relativieren und die aus der Untersuchung vor Ort gezogenen Schlüsse widerlegen. Insbesondere die Täterschaft staatlicher Organe wurde geleugnet. Erneut bemühte sich die Militärregierung, die immer wieder vorgebrachte Serie von vermeintlichen Gründen für die Existenz von desaparecidos anzubringen, zu denen bewaffnete Auseinandersetzungen, Tötung durch Mitglieder der eigenen Guerilla-Organisation und anonyme Bestattungen durch andere Guerilla-Mitglieder gehörten. Außerdem gebe es »vermeintliche desaparecidos«81, die laut Darstellung der Junta im Ausland lebten oder in den Untergrund gegangen seien. Zentral war, dass all diese vermeintlichen Gründe belegen sollten, dass die Existenz des Phänomens der desaparecidos nicht im Verantwortungsbereich der Junta lag. Insofern lässt sich zu diesem Zeitpunkt keine wie auch immer geartete Anerkennung der Täterschaft durch die Junta feststellen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Entwicklung des Sprechens über desaparecidos Produkt der ständigen Auseinandersetzung der beteiligten Akteur*innen war und immer wieder massiv um die Deutungen des Gewaltgeschehens gestritten wurde. Aus der Perspektive der Menschenrechtsaktivist*innen waren zu einem bestimmten Zeitpunkt errungene Teilerfolge immer gefährdet und mussten weiterhin verteidigt werden, da die Junta aus ihrer Machtposition heraus ständig bestrebt war, ihre Deutungshoheit aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund war das autoritative Sprechen der Bischofskonferenz in Form offizieller Dokumente ganz besonders bedeutsam, da es einen Beitrag zur Legitimierung oder Delegitimierung bestimmter Deutungen liefern konnte. Die im Mai 1980 veröffentlichte Reaktion der Bischofskonferenz auf die Anfrage Videlas, zum von der Junta proklamierten Dialog Stellung zu nehmen, fiel relativ umfangreich aus, allerdings befasst sich nur ein kurzer Abschnitt mit den desaparecidos und den Gefangenen, die ohne juristisches Verfahren in Haft waren. Der Episkopat stellte die »beängstigende Ungewissheit über die desapa-
79 Vgl. Dykmann 2004, S. 295. 80 Circulo Militar (Hg.): Observaciones y comentarios críticos del gobierno argentino al informe de la CIDH sobre la situación de los derechos humanos en Argentina (Abril 1980), Buenos Aires 1980. 81 Ebd., insbesondere S. 69ff.
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recidos« und die »Situation der Gefangenen ohne Prozess«82 als zentralen Hinderungsgrund für die gesellschaftliche Einheit dar – oder, um es andersherum zu formulieren, als Grund für starke gesellschaftliche Spannungen. Diese Tatsachen, so hieß es, »erfordern ohne Verzögerung eine Lösung, die wir als Bischöfe nicht nur anraten, sondern um die wir bitten.«83 Diese Wendung war möglicherweise eine Reaktion auf die starke Erwartungshaltung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie den Madres, die ja gerade die schwachen Formulierungen des Episkopats kritisiert hatten. Es kann jedoch nicht die Rede davon sein, dass die Forderungen der Madres übernommen worden wären, denn eine eindeutige Benennung der konkreten Menschenrechtsverletzungen, wie Folter und Mord durch staatliche Repressionsorgane, erfolgte auch jetzt nicht. Zudem rückte das Dokument die Angehörigen und die Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung in ein zweifelhaftes Licht, da nicht näher benannte Interessen hinter ihren Aktivitäten suggeriert und sie in engen Zusammenhang mit jenen gebracht wurden, die »im Willen zu Gewalt und Zerstörung verharren«.84 Dagegen bezogen die Bischöfe im Sinne der Menschenrechtsbewegung Stellung, als sie von der Würde und den Rechten des Menschen sprachen, deren Verteidigung Bestandteil des Gemeinwohls sein sollte. Zudem artikulierten die kirchlichen Würdenträger normative Staatsvorstellungen, die sowohl beinhalteten, dass ein Staat die Menschenrechte zu verteidigen habe, als auch die Idee, dass er eingreifen müsse, sollte die Wahrung des Gemeinwohls dies erfordern. Auch in diesen Äußerungen steckte eine gewisse Ambivalenz, da das Verhältnis von Menschenrechten und Gemeinwohl nicht geklärt wurde. So konnte die Äußerung bezüglich des Gemeinwohls in den Kontext des Diskurses zum Erhalt der ›nationalen Sicherheit‹ gestellt werden, als deren Wächter das Militär sich 82 Evangelio, diálogo y sociedad, in: AICA-Doc 72, Suplemento AICA 1220 (8. Mai 1980), im Folgenden zitiert als CEA-DOC 1980. 83 CEA-DOC 1980, »Como nos señalara el Santo Padre (20/X/1979), la incertidumbre angustiosa sobre los desaparecidos, la situación de los detenidos sin proceso cuentan entre las causas profundas que impiden el mayor encuentro de los argentinos y que esperan sin demora alguna una solución que nosotros, como obispos, no sólo aconsejamos sino pedimos, y que, como verdad, aún dolorosa, será siempre fuerza para la paz.« (»Wie uns der Heilige Vater (20/ X/1979) deutlich macht, die angsterfüllte Ungewissheit über die Verschwundenen, die Situation der Gefangenen ohne Prozess gehören zu den tiefgreifenden Gründen, die eine größere Begegnung der Argentinier verhindern und die ohne Verzögerung eine Lösung erfordern, die wir als Bischöfe nicht nur anraten, sondern um die wir bitten, und dass die Wahrheit, auch wenn sie schmerzhaft ist, immer die Kraft des Friedens sei.«). 84 Ebd., »Debemos decir también con claridad, que crean una desconfianza general y destruyen profundamente el tejido social, aquellos que instrumentan la tragedia y el dolor de otros para fines inconfesados, y aquellos que persisten en una voluntad de violencia y destrucción.« (»Wir müssen auch mit Klarheit sagen, dass jene, die die Tragödie und den Schmerz anderer mit ungenannten Zielen instrumentalisieren, ein generelles Misstrauen schaffen und das Sozialgefüge schwerwiegend zerstören, ebenso wie jene, die im Willen zu Gewalt und Zerstörung verharren.«).
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Menschenrechtsverletzungen im Fokus
selbst proklamierte und als das es oftmals angesehen wurde, auch wenn das Dokument allgemein über die Aufgaben des Staates sprach und nicht konkret über die Junta. So hieß es, der Staat solle »weiser und umsichtiger Wächter über die Einheit und die Sicherheit der Nation«85 sein. In dieser Lesart des politischen Geschehens lag eine implizite Legitimation der Militärdiktatur, da ihr Agieren als zwingend notwendiges Eingreifen zum Schutz der ›nationalen Sicherheit‹ begriffen wurde. Insgesamt wohnt dem Bischofsdokument der Impetus inne, im von der Junta ausgerufenen gesellschaftlichen ›Dialog‹ und der damit verheißenen politischen Öffnung eine positive Entwicklung zu sehen. Das Dokument zeigte so einerseits eine positive Haltung gegenüber dem ›Dialog‹-Projekt der Junta und andererseits einen deutlichen Hinweis auf die Notwendigkeit der Aufklärung der Situation der Verschwundenen und der politischen Gefangenen, so dass es trotz der stark legitimierenden Aussagen zum ›Dialog‹-Projekt der Junta durchaus ein kritisches Moment enthielt. Dabei gingen die Bischöfe jedoch nicht so weit, den Forderungen der Madres und anderer Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung zu entsprechen und sich deutlicher zur Menschenrechtsfrage zu äußern. So blieb der Bericht der CIDH trotz seiner Bedeutung als zentrale Referenz des Menschenrechtsdiskurses im Dokument der Bischöfe unerwähnt. In seiner Gesamtheit stützte es eher die Position der Junta, als dass es kritische Äußerungen machte. Nicht zuletzt durch seine Eigenschaft als Antwort auf die von Videla formulierte Anfrage im März 1980 zeigt dieses Dokument, dass es für die Bischofskonferenz von relativ großer Bedeutung war, auf die Initiative der Junta einzugehen und sie zu unterstützen. Die insgesamt positive Reaktion auf die Anfrage der Junta, sich an ihrem ›Dialog‹-Projekt zu beteiligen, zeigt, dass die Institution Kirche in deutlich größerem Maße auf die Erwartungen der Junta als auf die Forderungen der Menschenrechtsaktivistinnen einging. Deshalb empfanden die Madres de Plaza de Mayo die Positionierung der Bischöfe auch diesmal als zu schwach, wie sie in einem Brief an Kardinal Primatesta am 14. Mai 1980 mit Bezug auf das Dokument der Bischofskonferenz darlegten: »Wir verlangten von den Herren Bischöfen, dass ihre Bitte sich in eine Forderung verwandle. Da das Dokument [der Bischöfe, B.R.] besagt, ›dass niemand sich fern halten kann (vom Dialog) aufgrund von lebloser Teilnahmslosigkeit oder haltloser Sorglosigkeit, noch sich jemand ausschließen sollte‹, müssen die Herren Bischöfe um das Wort bitten, um, unter anderem, unsere Situation zu behandeln, die ›ein generelles Misstrauen schafft und zutiefst den sozialen Zusammenhalt zerstört‹.«86
85 CEA-DOC 1980, »sabio y prudente custodio de la unidad y seguridad de la nación«. 86 CELS, Otras organizaciones, Madres de Plaza de Mayo an Primatesta, 14. Mai 1980, »Nosotras solicitamos a los señores Obispos que su pedido se transforme en exigencia. Habiendo
Reaktionen auf den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission
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Mit ihren Zitaten aus den Dokumenten der Bischöfe erinnerten die Madres die Bischöfe an die von ihnen selbst getätigten Äußerungen, was nahelegt, dass sie im Agieren der Bischöfe auch jene Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit erkannten, gegen die die Bischöfe sich eigentlich öffentlich gestellt hatten. Die Madres hielten deshalb daran fest, dass es die Aufgabe der kirchlichen Würdenträger sein musste, das Wort zu ergreifen. Über die öffentliche Stimme der Bischöfe hinaus baten die Madres um spirituellen Beistand im Sinne einer Alltagspraxis zur Verarbeitung der psychosozialen Folgen der Repression: »Und voller Respekt fassen wir den Mut, Sie um Ihre tägliche, alltägliche, brüderliche Stimme von den Kanzeln zu bitten, um zu verhindern, dass das Schweigen über diese Tragödie sich in ein Trauma verwandelt, in einen Krebs, der verletzt und zerstört.«87
Die Notwendigkeit, diesen Beistand explizit zu erbitten, verweist erneut darauf, wie wenig er den Angehörigen der desaparecidos und den Opfern der Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen gewährt wurde, auch wenn es immer wieder Ausnahmen unter den Bischöfen, Ordensleuten und Priestern gab. Auch die im Zusammenhang mit dem Besuch der CIDH verschiedentlich vorgebrachte Kritik der Madres an der Amtskirche und die Formulierung, sowohl ihrer Erwartungen als auch ihrer Enttäuschungen, zeigen auf, welche Distanz zwischen der Amtskirche und der Menschenrechtsbewegung bestand. Für jene Personen und Gruppen, die sich selbst als christlich oder katholisch definierten, kann festgehalten werden, dass die mit der geteilten Zugehörigkeit zum Katholizismus verbundenen Hoffnungen auf Repräsentation und Unterstützung seitens der Institution Kirche nicht erfüllt wurden.
caracterizado el documento ›que nadie se puede apartar (del diálogo) por inerte indiferencia o por abandonada despreocupación, ni nadie se debe excluir‹ los señores obispos deben pedir la palabra para tratar, entre otras, ésta nuestra situación ›que crea una desconfianza general y destruye profundamente el tejido social.‹«. 87 CELS, Otras organizaciones, Madres de Plaza de Mayo an Primatesta, 14. Mai 1980, »Y respetuosamente nos animamos a pedirles su voz diaria, cotidiana, fraterna, desde los púlpitos, para evitar que el silencio sobre esta tragedia la transforme en trauma, en cáncer que lacera y destruye.«.
4.
Wie katholisch sind Menschenrechte? Die Debatte um den Friedensnobelpreis für den Menschenrechtsaktivisten Pérez Esquivel (1980)
Die Bekanntgabe des Friedensnobelpreisträgers im Jahr 1980 löste in Argentinien unterschiedlichste Reaktionen aus, die von einer vollständigen Ablehnung der Entscheidung des Nobelpreiskomitees bis zu begeistertem Jubel reichten. Im Gegensatz zum Vorjahr, in dem Mutter Teresa den Preis verliehen bekam, wollte sich jedoch keine umfassende Begeisterung bei den argentinischen Katholiken einstellen, obwohl mit Adolfo Pérez Esquivel ein bekennender Katholik für sein Engagement geehrt wurde. Seine Arbeit innerhalb der Menschenrechtsbewegung in Argentinien wurde nicht so uneingeschränkt positiv gewertet wie die karitative Hilfe der barmherzigen Ordensschwester Teresa in Kalkutta, sondern löste polemisch geführte öffentliche Debatten um die Legitimität des Nobelpreises für ihn aus.1 In diesen Auseinandersetzungen wurde nicht nur über das Verhältnis Pérez Esquivels und der Menschenrechtsorganisation SERPAJ, deren Koordinator er war, zur Institution Kirche verhandelt, sondern es wurde auch über den Ort der Menschenrechte in Kirche und Katholizismus gestritten, da Pérez Esquivel eindeutig wegen seines Engagements für die Menschenrechte und gegen die Repression der Militärdiktatur ausgezeichnet wurde. In der zeitgenössischen Berichterstattung bestand – auch wenn die Meinungen über die Preisverleihung weit auseinandergingen – über diesen Zusammenhang kein Zweifel. Der Blick in die Tagespresse zeigt darüber hinaus, dass auch über Pérez Esquivels christliches Selbstverständnis berichtet wurde. So wurde als Grund für die Würdigung seiner Person in La Opinión explizit angeführt, dass er ein »Verteidiger der Gültigkeit der Menschenrechte« sei, ebenso wurde auf seine enge Verbindung zur katholischen Kirche hingewiesen.2 Auch die Tageszeitung La Nación rekurrierte auf diesen Zusammenhang und bezeichnete Pérez Esquivel 1 Die Kontroversen wurden auch Gegenstand der Berichterstattung in der Presse. Siehe beispielsweise: La Opinión, 16. Oktober 1980, Continúa dando lugar a encontradas opiniones el Premio Nobel de la Paz; La Nación, 16. Oktober 1980, Nuevas reacciones sobre Adolfo Pérez Esquivel. 2 La Opinión, 14. Oktober 1980, Lo obtuvo el escultor Adolfo Pérez Esquivel – Conceden el Premio Nobel de la Paz a un argentino, »defensor de la vigencia de derechos humanos«.
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Wie katholisch sind Menschenrechte?
als »Anführer einer christlichen Bewegung für den Frieden in Lateinamerika«3, der den Preis für seine »Kampagnen für die Menschenrechte und die individuellen Freiheiten«4 erhalten habe. Spätestens mit der Verleihung des Friedensnobelpreises war sein Menschenrechtsengagement also einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Da Pérez Esquivel sich selbst eindeutig zum katholischen Glauben bekannte, wurde die Auseinandersetzung um die Legitimität seiner Menschenrechtsarbeit auch zu einer Frage nach dem Selbst- und Kirchenverständnis der jeweiligen religiösen Akteur*innen. Gleichzeitig handelte es sich um eine Auseinandersetzung über die Herrschaftspraxis der Militärjunta, da der Preis für den Menschenrechtsaktivisten als Angriff auf sie gewertet wurde. Diese Verquickung der Frage nach dem religiösen Selbstverständnis und der politischen Bedeutung des Friedensnobelpreises war wesentlich dafür, dass die Auseinandersetzungen – gerade unter Katholiken – mit viel Verve vonstattengingen. Wie konfliktiv das Thema Friedensnobelpreis Ende 1980, Anfang 1981 nicht nur in der publizistischen Debatte, sondern auch in persönlichen Gesprächen war, machte ein Autor der katholischen Zeitschrift Actualidad Pastoral deutlich: »Jeder einzelne meiner Leser wird die Erfahrung von Zusammenkünften gemacht haben, in denen das Thema Pérez Esquivel tabu war, nicht darüber gesprochen werden konnte, oder in denen der Dialog gar unmöglich war, weil die Positionen von vornherein feststanden.«5
Diese Deutungskämpfe um die Verleihung des Friedensnobelpreises an Adolfo Pérez Esquivel sind in besonderer Weise geeignet, die Haltungen katholischer Akteur*innen zur Menschenrechtsfrage in Argentinien zu analysieren, da sich in dieser Angelegenheit auch katholische Zeitschriften zu Wort meldeten, die sonst keine Aussagen in der Menschenrechtsfrage trafen. Auch wenn hier nicht der Anspruch erhoben wird, ein umfassendes Bild des argentinischen Katholizismus zu zeichnen, so ist es doch möglich, das Spektrum der Haltungen katholischer Akteur*innen zur Menschenrechtsfrage ausschnittsweise abzubilden und danach zu fragen, inwiefern Menschenrechtsarbeit als Bestandteil einer katholischen Praxis verstanden wurde. Dazu werden sowohl die Äußerungen ausgewählter katholischer Zeitschriften als auch Äußerungen der Amtskirche und einzelner Bischöfe analysiert und in Beziehung gesetzt zu den Vorstellungen von Glaube und Kirche, wie sie in diesem Kontext prominent von Pérez Esquivel
3 La Nación, 20. Oktober 1980 (Edición internacional), Un argentino obtuvo el Nobel de la Paz, »jefe de un movimiento de paz cristiano en América Latina«. 4 Ebd., »campañas por los derechos humanos y las libertades individuales«. 5 Lucha y contemplación, in: Actualidad Pastoral 135 (Januar-März 1981), »Cada uno de mis lectores habrá tenido experiencias de reuniones en que el tema Pérez Esquivel era tabú, y sobre el que no se dialogaba, o donde el diálogo era imposible porque ya estaban tomadas las posiciones de antemano.«.
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vertreten wurden. Von den umstrittenen Punkten in der Debatte um den Friedensnobelpreis 1980 sollen hier von allem die folgenden in den Blick genommen werden: Die Zugehörigkeit des Friedensnobelpreisträgers zur Gemeinschaft der Katholiken und sein Verhältnis zur Institution Kirche, sein Verhältnis zur ›argentinischen Nation‹ sowie die Debatte um die Legitimität der Preisverleihung an Pérez Esquivel. Mit Adolfo Pérez Esquivel wurde eine zentrale Figur innerhalb der argentinischen Menschenrechtsbewegung ausgezeichnet, so dass nicht nur seine Person, sondern die gesamte Bewegung große öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, sowohl innerhalb Argentiniens als auch international.6 Der Friedensnobelpreisträger selbst trug dabei entscheidend zu der erhöhten Aufmerksamkeit für die Menschenrechtsbewegung bei, indem er den Preis als kollektiven Preis für eine »ganze Bewegung«7 deklarierte, den er gewissermaßen nur stellvertretend erhalten habe. Er bezog sich dabei auf die Menschenrechtsorganisation SERPAJ, diese Äußerung konnte jedoch auch in einem weiteren Sinne auf die Menschenrechtsbewegung insgesamt bezogen werden. Seit 1974 war Pérez Esquivel Koordinator des Servicio Paz y Justicia, einer christlichen, von den nachkonziliaren Entwicklungen in Lateinamerika und befreiungstheologischen Einflüssen geprägten Organisation, die überregional in mehreren lateinamerikanischen Ländern tätig war und in den späten 1970erJahren Ableger auf nationalstaatlicher Ebene gründete.8 Nach dem Putsch in Argentinien 1976 begann der SERPAJ sich mit den Folgen der Repression des Militärregimes – insbesondere mit dem Phänomen der Verschwundenen und den politischen Gefangenen – zu beschäftigen und Gegenaktionen zu entwickeln. Auch Mitglieder des SERPAJ waren unmittelbar Opfer der Repression, darunter Pérez Esquivel selbst, der 1977 verhaftet wurde, zunächst verschwunden war und anschließend, mit großer Wahrscheinlichkeit aufgrund des öffentlichen Drucks im In- und Ausland, offiziell zu einem Gefangenen der Exekutivgewalt (Poder Ejecutivo Nacional) erklärt wurde.9 Nach 14 Monaten Gefängnis kam er unter 6 Über die internationalen Reaktionen berichtete auch die argentinische Presse. La Opinión, 15. Oktober 1980, Repercusión en el mundo por la distinción de un argentino. 7 La Opinión, 14. Oktober 1980, Lo obtuvo el escultor Adolfo Pérez Esquivel – Conceden el Premio Nobel de la Paz a un argentino, »›El premio no pertenece a una persona, sino a todo el movimiento‹ afirmó Pérez Esquivel a los periodistas que concurrieron en las oficinas de esa organización en la zona céntrica de la capital.« (»›Der Nobelpreis gehört nicht einer Person, sondern der ganzen Bewegung‹ bekräftigte Pérez Esquivel den Journalisten, die in den Räumlichkeiten dieser Organisation im Zentrum der Hauptstadt zusammenkamen.«); La Nación, 20. Oktober 1980 (Edición internacional), Un argentino obtuvo el Nobel de la Paz. 8 Zur Geschichte des SERPAJ vgl. Catoggio 2015. 9 Seine Erfahrungen in der Zeit der Gefangenschaft, während der er gefoltert wurde, schildert Pérez Esquivel in seiner Autobiographie. Pérez Esquivel, Adolfo: Una gota de tiempo. Crónica entre la angustia y la esperanza. Córdoba 1996.
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Wie katholisch sind Menschenrechte?
Auflagen frei, ohne dass jemals eine offizielle Anklage erhoben oder ein juristisches Verfahren gegen ihn angestrengt worden wäre. Neben seiner Tätigkeit für den SERPAJ gehörte Adolfo Pérez Esquivel zu den Gründungsmitgliedern der seit Ende 1975 bestehenden Asamblea Permanente por los Derechos Humanos und zum 1976 gegründeten Movimiento Ecumenico por los Derechos Humanos. Er stand in engem Kontakt mit den Madres de Plaza de Mayo und spielte durch seine transnationale Vernetzung eine wesentliche Rolle als Multiplikator. Während der Visitation der CIDH 1979 war er einer der zentralen Informanten bezüglich der Menschenrechtsverbrechen in Argentinien.10
4.1
Das christliche Selbstverständnis Pérez Esquivels und des Servicio Paz y Justicia
Wie Pérez Esquivel immer wieder öffentlich betonte, war der christliche Glaube für sein Selbstverständnis und sein Engagement zentral. Dies betonte er auch in seiner Rede, als er den Friedensnobelpreis in Oslo entgegennahm. Die Rede wurde in der jesuitischen Zeitschrift CIAS und Paz y Justicia, der Zeitschrift des SERPAJ, abgedruckt.11 Eine weitere Rede hielt Pérez Esquivel an der Osloer Universität.12 Mit beiden Reden verortete er sich innerhalb der progressiven, befreiungstheologisch inspirierten Strömungen der katholischen Kirche. Sein eigenes Engagement begründete er in einem vom nachkonziliaren Wandel geprägten kirchlichen Selbstverständnis, wobei er gegenläufige und widersprüchliche Entwicklungen zu den konziliaren Innovationen ausblendete. Die theologischen Neuerungen präsentierte er als universelle Erfahrung der gesamten Kirche, so dass die eigentlich partikulare und Anfang der 1980er Jahre zunehmend marginalisierte Strömung der progressiven Theologie als die zentrale Manifestation institutioneller Praxis erschien. Ebenso stellte Pérez Esquivel die von ihm vorgenommene Bestimmung der zentralen Inhalte des christlichen Glaubens als universell dar. Aus dieser Perspektive war die Verteidigung der »heiligen, transzendental und unveräußerlichen Würde des Menschen«13 eine
10 La Nación, 16. Oktober 1980, Ecos en la OEA del premio por la paz. 11 Palabras de Adolfo P. Esquivel en Oslo, al recibir el premio nobel, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980); »Mi voz quiere tener la fuerza de la voz de los humildes«, in: CIAS 299 (Dezember 1980). 12 Desde la Universidad de Oslo (Noruega), Discurso de nuestro coordinador, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980); Discurso en la Universidad de Oslo, in: Actualidad Pastoral 135 (Febrero-Marzo 1981). 13 Desde la Universidad de Oslo (Noruega), Discurso de nuestro coordinador, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980), »La sagrada, trascendente e irrenunciable dignidad del hombre«.
Das christliche Selbstverständnis Pérez Esquivels und des Servicio Paz y Justicia
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zentrale Aufgabe eines jeden Christen. In seiner Rede wandte sich Pérez Esquivel aber nicht nur an Christ*innen, sondern sprach auch andere gesellschaftliche Akteur*innen »de buena voluntad«14 an, also jene, die guten Willens waren, sich seiner Sache anzuschließen. Das Bekenntnis zum katholischen oder christlichen Glauben funktionierte hier also nicht mehr als trennscharfes, exkludierendes Abgrenzungskriterium der Zugehörigkeit, so dass eine gewisse Säkularisierungstendenz in seiner Haltung erkennbar ist. Neben der Vorstellung von einer dem Menschen eigenen Würde, die er aus der Definition des Menschen als »Kind Gottes und Bruder in Christus«15 ableitete, bezog Pérez Esquivel sich auf das Konzept der Menschenrechte und sprach unter anderem über die Verfolgten, die Opfer von Gewalt und die desaparecidos. Er berief sich auf ihre subjektiven Erfahrungen und beanspruchte, in ihrem Namen zu sprechen, da er in ihnen das »leidende Antlitz Christus, unseres Herrn«16 sah. Sich selbst präsentierte Pérez Esquivel als Stimme jener, die keine Stimme haben. Die Auszeichnung seiner Person mit dem Friedensnobelpreis bezeichnete er als »hohe Auszeichnung der Armen und Marginalisierten Lateinamerikas«17 und brachte erneut die Idee zum Ausdruck, dass der Preis nicht ihn persönlich auszeichne, sondern alle, die gegen politische Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und soziale Missstände einstanden. Bei seiner Selbstverortung innerhalb des religiösen Felds bezog sich Pérez Esquivel auf unterschiedliche Akteur*innen und Konzepte innerhalb des Katholizismus. Wichtige Referenzen der eigenen Selbstpositionierung waren die von der lateinamerikanischen Bischofskonferenz 1979 in Puebla formulierte ›opción preferencial por los pobres‹, die Person des Erzbischofs von El Salvador, Oscar Romero, den er »Märtyrer des Friedens«18 nannte, sowie Papst Paul VI. Letzteren bedachte Pérez Esquivel sogar mit dem Attribut »querido«, einem Ausdruck emotionaler Verbundenheit, der in gleicher Weise nicht in Bezug auf den 1980 amtierenden Papst Johannes Paul II. zu finden ist. Durch Pérez Esquivels Berufen auf die lateinamerikanische Bischofskonferenz CELAM als bedeutender Institution der Amtskirche auf dem lateinamerikanischen Kontinent rückte er sich in die Nähe eines mit großer Autorität versehenen kollektiven Akteurs innerhalb des religiösen Felds, der die Idee der Menschenrechte offiziell als Teil des kirchlichen Selbstverständnisses ausgewiesen hatte. Einen weiteren Bezug zur lateinamerikanischen Bischofskonferenz stellte Pérez Esquivel mittels
14 Desde la Universidad de Oslo (Noruega), Discurso de nuestro coordinador, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980). 15 Ebd., »Hijo de Dios y hermano en Cristo«. 16 Ebd., »el rostro sufriente de Cristo, nuestro Señor«. 17 Ebd., »[…] alta distinción a los humildes de América Latina«. 18 Ebd., »mártir de la paz«.
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des Rekurses auf das Konzept der »institutionalisierten Gewalt«19 her, das in der lateinamerikanischen Kirche der 1960er und 1970er Jahre viel diskutiert und auch von der lateinamerikanischen Bischofskonferenz aufgegriffen wurde. Auffällig an Pérez Esquivels Selbstpositionierung ist, dass er sich nicht auf die katholische Kirche in Argentinien bezog, sondern stattdessen auf die in Puebla versammelten Bischöfe und die »engagierten Christen, die in den Bewegungen für die Menschenrechte kämpfen«20. Damit markierte er eine Distanz zur Institution Kirche auf nationalstaatlicher Ebene und verwies gleichzeitig erneut darauf, dass sein Vergemeinschaftungsmodus sowohl durch seine christlichen Vorstellungen als auch durch das Einstehen für die Menschenrechte definiert war. Da er keinen positiven Bezug zur argentinischen Amtskirche herstellte, lässt sich schließen, dass er nicht den Eindruck hatte, es hätte ein geteiltes Selbstverständnis gegeben, das eine positive Identifikation und damit eine Basis für ein Gefühl unhinterfragter Zugehörigkeit ermöglicht hätte. Die Legitimation der Menschenrechtsarbeit in religiösen Vorstellungen präsentierte Pérez Esquivel auch in einer Stellungnahme, die vollständig in der Tagespresse abgedruckt wurde.21 Damit waren seine Aussagen bezüglich seines Glaubens- und Kirchenverständnisses auch für ein breites Publikum verfügbar. Für Pérez Esquivel war diese Stellungnahme, wie er erklärte, angesichts der oftmals polemisierenden Presseberichte der vorausgegangenen Tage notwendig geworden. Denn in den Tagen nach der Preisverleihung entbrannte in Argentinien eine öffentliche Debatte um die Legitimität des Friedensnobelpreises, in die sich neben verschiedenen gesellschaftlichen Akteur*innen auch die Militärjunta eingeschaltet hatte, um ihre Kritik an der Preisverleihung zu artikulieren. Insgesamt herrschte in der Presse der Tenor vor, dass dieser Preis ungerechtfertigterweise an Pérez Esquivel gegangen war und es andere, deutlich besser geeignete Kandidaten für den Friedensnobelpreis gegeben hätte. Auf die Infragestellungen seiner Person und seines Engagements reagierte Pérez Esquivel, indem er seine Motive und seine Haltung darlegte. Auch in diesem Kontext lieferte er eine Selbstlegitimation und sprach davon, dass er sich als Christ und Katholik für die Menschenrechte engagiere. Er präsentierte sein Agieren als religiös begründeten Handlungsimperativ und versuchte, ihn auf 19 Palabras de Adolfo P. Esquivel en Oslo, al recibir el premio nobel, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980), »violencia institucionalizada«. Die Analyse, dass strukturelle soziale Ungleichheit ein gewaltförmiges Machtverhältnis bedeuten, definierte der Theoretiker Johann Galtung als strukturelle Gewalt. Vgl. Galtung, Johann: Strukturelle Gewalt, Reinbek 1975. 20 Palabras de Adolfo P. Esquivel en Oslo, al recibir el premio nobel, in: Paz y Justicia 79 (OktoberNovember-Dezember 1980), »los cristianos comprometidos en los movimientos que luchan por los derechos humanos«. 21 La Nación, 18. Oktober 1980, Una declaración dio a conocer Pérez Esquivel.
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diese Weise den vielfachen Infragestellungen zu entziehen. Neben dem Papst als höchster kirchlicher Autorität berief Pérez Esquivel sich an dieser Stelle sinngemäß auf die Worte der argentinischen Bischofskonferenz vom Mai 1980 zum von der Junta proklamierten Projekt des ›Dialogs‹, mit dem seitens der Junta ein politischer Öffnungsprozess in Aussicht gestellt worden war.22 Anders als bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises bezog sich Pérez Esquivel hier positiv auf den argentinischen Episkopat. Es handelte sich jedoch nicht so sehr um einen Ausdruck von Zugehörigkeit, sondern eher um eine Bezugnahme, die dazu diente, seine eigene Position durch die Autorität der Institution zu legitimieren. Auch wenn Pérez Esquivel sich in seiner Erklärung nicht der Semantik der Menschenrechte bediente, war die Idee des Rechts präsent, wenn er forderte, dass der Rechtsstaat wiederhergestellt werden sollte. Diese Forderung berührte letztlich auch die Frage der Menschenrechte, da ein intakter Rechtsstaat gemäß den normativen Ordnungsvorstellungen für ihre Einhaltung zuständig war. Zeitgleich mit der Erklärung Pérez Esquivels gab auch der SERPAJ eine Erklärung ab, die zumindest auszugsweise in der Tagespresse erschien.23 Während in der Erklärung Pérez Esquivels das Thema Menschenrechte nur implizit enthalten war, bezog sich die Erklärung des SERPAJ explizit auf die Menschenrechte. Mit seinen Interpretationen markierte der SERPAJ seine Zugehörigkeit zum religiösen Feld, so zum Beispiel durch die Deutung, dass es sich bei politischer Gewalt um unmenschliche Akte handelt, die die Menschheit und Gott angreifen. Menschenrechte verstand der SERPAJ explizit als bürgerliche Freiheitsrechte wie auch als soziale Rechte und bezog sich damit auf einen umfassenden Menschenrechtsbegriff. Zudem zeigte der SERPAJ die Rolle von Pérez Esquivel für die Entstehung von Menschenrechtsorganisationen in Argentinien auf und machte deutlich, dass der Friedensnobelpreis für Pérez Esquivel als Preis für die Menschenrechtsbewegung verstanden wurde: »[…] mit dieser Auszeichnung wird nicht nur die Arbeit einer Person ausgezeichnet, die sich aus einer Perspektive des christlichen Glaubens für die Gewaltlosigkeit gemäß der Evangelien engagiert, sondern insgesamt die Arbeit für die Gerechtigkeit, den Frieden und die Würde des Menschen und der Völker.«24
Der Friedensnobelpreis legitimierte in den Deutungen der Akteur*innen der Menschenrechtsbewegung – sowie aus der Sicht der progressiven argentinischen und lateinamerikanischen Katholik*innen – das eigene Engagement und die 22 Siehe dazu Kapitel 3. 23 La Nación, 18. Oktober 1980, Una declaración dio a conocer Pérez Esquivel. 24 Ebd., »[…] con esta distinción no solo se premia el trabajo de una persona, que desde una perspectiva de fe cristiana se ha comprometido con la causa de la no violencia evangélica, sino una línea de trabajo de lucha por la justicia, la paz y la dignidad de la persona y de los pueblos.«.
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Wie katholisch sind Menschenrechte?
selbst gewählten Vergemeinschaftungsformen. Ein zentrales Merkmal für das Selbstverständnis des SERPAJ war der christliche Glaube, der zumindest stellenweise spezifischer als »katholischer Glaube« benannt wurde. So bezeichnet sich Pérez Esquivel als »cristiano y católico«25 und gab in einem Interview an, dass die Mehrheit der Mitglieder des SERPAJ katholisch sei. Wie erwähnt, zitierte La Opinión Pérez Esquivel indirekt mit der Aussage, die Organisation SERPAJ sei »eng mit der katholischen Kirche verbunden«26. Auch wenn die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christen für viele in der Menschenrechtsbewegung engagierte Personen wesentlich war, funktioniert der christliche beziehungsweise katholische Glaube nicht als exkludierendes Kriterium. Im Gegenteil betonte der SERPAJ seine ökumenische Ausrichtung und seine prinzipielle Offenheit, indem er seine Botschaften immer wieder an »alle Menschen guten Willens« richtete. Auch Pérez Esquivel nahm diese inkludierende Perspektive ein, so dass die Vorstellung einer Gemeinschaft entstand, die sich über das gemeinsame Verfolgen von Zielen konstituierte, zu denen ganz wesentlich die Wiederherstellung des Rechtsstaats und die Einhaltung der Menschenrechte gehörten.
4.2
Das Verhältnis zwischen Pérez Esquivel und der Amtskirche
Der argentinische Episkopat konnte mit einem hohen Maß an Autorität innerhalb des religiösen Felds sprechen, die sich aufgrund der Bedeutung der katholischen Religion und der katholischen Kirche in Argentinien darüber hinaus auch auf das politische Feld erstreckte. Im Gegensatz dazu lässt sich die Position Pérez Esquivels als relativ marginal fassen, da er als Laie weder einen direkten Zugang zu den Ressourcen der Institution Kirche besaß noch über ein ähnlich hohes symbolisches Kapital verfügte wie Priester oder gar Bischöfe. Zudem war er nicht in kirchliche Strukturen eingebunden, die seiner Menschenrechtsarbeit eine offizielle Legitimierung durch die Institution Kirche hätten verleihen können. Stattdessen war die Organisation SERPAJ eine außerhalb der Kirchenstrukturen stehende Gruppe, in der vorwiegend Lai*innen aktiv waren. Tatkräftige Unterstützung erhielten sie von einzelnen Priestern und von einer sehr kleinen Zahl von Bischöfen aus Argentinien sowie von Bischöfen anderer lateinamerikanischer Länder, in denen der SERPAJ ebenfalls aktiv war. Die Tatsache, dass es sich beim SERPAJ nicht um einen Teil des Institutionengefüges der katholischen Kirche handelte, machte die Amtskirche dezidiert 25 Premio Nobel de la Paz, in: Pan y Trabajo 124 (November 1980). 26 La Opinión, 14. Oktober 1980, Lo obtuvo el escultor Adolfo Pérez Esquivel – Conceden el Premio Nobel de la Paz a un argentino, »estrechamente ligada a la Iglesia católica«.
Das Verhältnis zwischen Pérez Esquivel und der Amtskirche
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zum Thema. Nach Bekanntwerden der Verleihung des Friedensnobelpreises an Pérez Esquivel äußerte sich die Bischofskonferenz in einer Pressemitteilung – jedoch nicht, um den Preisträger zu beglückwünschen, sondern um für eine Richtigstellung zu sorgen.27 Das recht kurze Dokument blieb die einzige Äußerung seitens des argentinischen Episkopats und damit der Amtskirche in den Deutungskämpfen um den Friedensnobelpreis des Jahres 1980.28 Es handelt sich trotz seiner Kürze um ein sehr aufschlussreiches Dokument, vor allem, wenn nicht nur das Gesagte analysiert wird, sondern auch das, was in diesem Dokument nicht gesagt wurde. Ausgangspunkt der Pressemitteilung war die Feststellung, es sei in verschiedenen Zeitungen berichtet worden, dass die Organisation Pérez Esquivels, der SERPAJ, in Verbindung mit den kirchlichen Autoritäten arbeiten würde oder dass diese Organisation eng mit der katholischen Kirche verbunden sei.29 Da diese Aussagen nicht zutreffend seien, sehe sich die argentinische Amtskirche dazu veranlasst, darauf aufmerksam zu machen, dass aufgrund der Namensähnlichkeit des Servicio Paz y Justicia (SERPAJ) mit der Comisión Pontifica Justicia y Paz des Vatikans oder mit der Comisión Argentina de Justicia y Paz der argentinischen Bischofskonferenz eine Verwechslung leicht möglich sei. Zudem betonte die Presseerklärung der Bischöfe, dass der SERPAJ nicht von der katholischen Kirche finanziert wurde, sondern in erster Linie vom ökumenischen Weltkirchenrat, dem die katholische Kirche nicht angehörte. Besonders bedeutsam war die Feststellung, dass der SERPAJ nicht in Beziehung zur katholischen Kirche als Institution stand: »[…] der erwähnte ›Servicio‹ hat keine Verbindung zur katholischen Kirche oder zu kirchlichen Autoritäten, wie behauptet worden ist.«30 Auf diese Weise wurde eine Distanz zwischen der Amtskirche und dem Preisträger hergestellt, so dass dessen marginaler Ort im religiösen Feld seitens der Bischofskonferenz deutlich markiert wurde. Insgesamt fand also eine weitreichende Distanzierung der Amtskirche vom Friedensnobelpreisträger statt. Diese allerdings war nicht absolut, denn es wurde in der Mitteilung auch darauf verwiesen, dass damit kein Urteil über die Zuge27 Aclaración sobre la comisión Justicia y Paz, in: AICA 1244–45 (30. Oktober 1980). 28 Das Dokument wird als Pressemitteilung der AICA präsentiert und kann aufgrund der Anbindung an das argentinische Episkopat dahingehend interpretiert werden, dass es sich um die Perspektive der argentinischen Amtskirche handelt, als deren Organ die AICA 1955 von der Bischofskonferenz gegründet worden war. 29 Aclaración sobre la comisión Justicia y Paz, in: AICA 1244–45 (30. Oktober 1980), »[…] se ha afirmado que la organización en la que actúa el señor Adolfo Pérez Esquivel ›trabaja vinculada a las autoridades eclesiásticas‹, o que dicha organización ›está estrechamente ligada a la Iglesia Católica‹.« (»[…] es wurde bestätigt, dass die Organisation, in der Adolfo Pérez Esquivel tätig ist ›verbunden mit den kirchlichen Autoritäten arbeitet‹ oder dass die besagte Organisation ›eng mit der katholischen Kirche verbunden ist‹.«). 30 Ebd., »[…] el mencionado ›Servicio‹ no tiene ninguna vinculación con la Iglesia Católica o con las autoridades eclesiásticas como se ha afirmado.«.
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Wie katholisch sind Menschenrechte?
hörigkeit zur katholischen Kirche einiger Mitglieder des SERPAJ gefällt werden sollte, ebenso wenig wurde geleugnet, dass es eventuell persönliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern des SERPAJ und »personas eclesiásticas«31, also Amtsträgern der katholischen Kirche, geben könne. Auch wenn einzelnen Mitgliedern und dem SERPAJ nicht abgesprochen werden sollte, katholisch zu sein und damit zur Kirche zu gehören, beinhaltete diese Pressemitteilung eine deutliche Delegitimierung von Pérez Esquivel und seiner Arbeit für die Menschenrechte, da weder ein positiver Bezug beispielsweise in Form eines Glückwunschs noch eine Erwähnung der Menschenrechtsarbeit von Pérez Esquivel beziehungsweise des SERPAJ erfolgte. Die Pressemitteilung wurde am selben Tag in Umlauf gebracht, an dem die Militärjunta – nach ihrer anfänglichen expliziten Weigerung, sich zur Verleihung des Friedensnobelpreises zu äußern – eine Stellungnahme mit eindeutig ablehnendem Grundtenor veröffentlichte.32 Dort erklärten die regierenden Junta-Generäle, dass sie die Interpretation ablehnten, die Verleihung des Friedensnobelpreises an Pérez Esquivel würde eine Art Verurteilung ihrer Herrschaft bedeuteten.33 Sie wiederholten die bekannten Legitimationsfiguren ihrer Herrschaftsausübung und sprachen von einem ›Krieg‹, in dem Argentinien sich befunden habe. Zudem präsentierte die Junta sich als Verfechterin von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten. An dieser Stelle wird zum einen deutlich, wie wichtig neben der gewaltsamen Repression die Legitimation der Junta für ihre Existenz war. Zum anderen wird sichtbar, dass die zunehmend in der Öffentlichkeit bekannten Tatsachen über die Repressionspraxis des Militärs die Fundamente des Regimes ins Wanken bringen konnten. Deshalb versuchte die Junta zu diesem Zeitpunkt verstärkt ihre Herrschaftslegitimation an den immer bedeutsameren normativen Vorstellungen eines funktionierenden Rechtsstaats auszurichten. In der Tagespresse erschienen die Erklärung der Junta und die Erklärung des Episkopats zum selben Zeitpunkt, teilweise auf derselben Seite einer Zeitung34, so dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang rezipiert wurden. Der 31 Aclaración sobre la comisión Justicia y Paz, in: AICA 1244–45 (30. Oktober 1980). 32 So schrieb La Nación: »Un total hermetismo observó el gobierno nacional sobre la designación del doctor Pérez Esquivel como Premio Nobel de la Paz. ›No hay ningún comentario oficial que hacer‹ -expresó el director de prensa de la Secretaria de Información Pública, en respuesta al requerimiento periodístico.« (»Die nationale argentinische Regierung zeigt sich total verschlossen bezüglich der Ernennung des Doktor Pérez Esquivel zum Nobelpreisträger. ›Es gibt keinen offiziellen Kommentar, der gemacht werden müsste‹ – sagte der Leiter der Pressestelle des Sekretariats für öffentliche Information in Antwort auf die journalistische Anfrage.«),La Nación (edición internacional), 20. Oktober 1980, Un argentino obtuvo el Nobel de la Paz. 33 La Opinión, 15. Oktober 1980, Ratifica que el objetivo del gobierno es la unión de los argentinos – Comunicado sobre el Premio Nobel de la Paz. 34 So zum Beispiel auf dem Titelblatt von La Opinión, 15. Oktober 1980.
Das Verhältnis zwischen Pérez Esquivel und der Amtskirche
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Eindruck einer deutlichen Distanzierung seitens der Amtskirche verstärkte sich zudem noch durch die oftmals verkürzte Wiedergabe der Mitteilung der AICA. So resümierte beispielsweise La Opinión den Inhalt der offiziellen bischöflichen Stellungnahme folgendermaßen: »Die argentinische katholische Nachrichtenagentur (AICA), die zum Episkopat gehört, stellte gestern in einer Mitteilung klar, dass der Servicio Paz y Justicia, dem der aktuelle Friedensnobelpreisträger, Adolfo Pérez Esquivel, angehört, ›nichts mit der Päpstlichen Kommission Justicia y Paz des Heiligen Stuhls zu tun hat‹.«35
Derartige Verkürzungen bewirkten, dass nur noch die Distanzierung thematisiert wurde. Da der Hinweis bezüglich der Zugehörigkeit von Mitgliedern des SERPAJ zur katholischen Kirche nicht aufgegriffen wurde, entstand – noch schärfer als in der ursprünglichen Langversion der episkopalen Pressemitteilung – der Eindruck einer absoluten Distanzierung der katholischen Amtskirche vom Friedensnobelpreisträger und der Menschenrechtsorganisation SERPAJ. Wie bereits erwähnt, trug dazu auch das Fehlen jeglicher positiver Bezugnahme auf den Friedensnobelpreisträger bei, so dass die Leerstellen in der Äußerung der Amtskirche deutlich werden lassen, dass sie nicht bereit war, dem Engagement für die Menschenrechte, für die Verschwundenen und die politischen Gefangenen, für das Pérez Esquivel stellvertretend stand, öffentlich Legitimität zu verleihen. Stattdessen war die Amtskirche in erster Linie um eine mögliche Verwechslung besorgt, die dazu führen könnte, mit der umstrittenen Arbeit für die Menschenrechte in Verbindung gebracht zu werden.36 Auch die Tatsache, dass es sich bei Pérez Esquivel um einen bekennenden Katholiken handelte, der sein Engagement für die Menschenrechte im christlichen Glauben begründet und legitimiert sah, wurde in der Mitteilung der AICA nicht erwähnt. Hätte es eine inhaltliche Übereinstimmung der Bischofskonferenz mit den Zielen und dem Handeln des Friedensnobelpreisträgers gegeben, so ließe sich ein positiver Bezug insbesondere zum katholischen Glauben des Friedensnobelpreisträgers erwarten, da dieses Zugehörigkeitsmerkmal geteilt wurde. Da aber ein solch positiver Bezug fehlte, wird deutlich, dass das religiöse Selbstverständnis und die konkrete Ausgestaltung der Glaubenspraxis zwischen der Amtskirche und dem Friedensnobelpreisträger grundsätzlich divergierten. Die 35 La Opinión, 15. Oktober 1980, Aclaración por la expresión ›justicia y paz‹, »La Agencia Informativa Católica Argentina (AICA) dependiente del episcopado aclaró ayer en una de sus despachos que el Servicio Paz y Justicia al que pertenece el reciente premio Nobel de la Paz, Adolfo Pérez Esquivel, ›no tiene nada que ver con la Comisión Pontifica Justicia y Paz dependiente de la Santa Sede‹.«. 36 Die Zuschreibung, der SERPAJ gehöre zur argentinischen Kirche, kann auch durch die Berichterstattung des vatikanischen Osservatore Romano entstanden sein. Dort wird Pérez Esquivel fälschlicherweise als »segretario del comitato argentino dell pontificia comissione ›Justicia et Pax‹« bezeichnet. L’Osservatore Romano, 15. Oktober 1980.
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Distanz der Amtskirche impliziert somit auch eine Marginalisierung der innerkirchlichen Strömung, der Pérez Esquivel sich verbunden fühlte. Die distanzierende Presseerklärung der AICA enthielt zwar keine Äußerungen zum Selbstverständnis des Bischofskollegiums, konnte aber nicht nur im Hinblick auf die Menschenrechtsarbeit, sondern auch im Hinblick auf das theologische wie pastorale Selbstverständnis von Pérez Esquivel als Distanzierung gelesen werden, da eine positive Bezugnahme zur Person und zum Handeln von Pérez Esquivel vollständig ausblieb. Dass eine solche positive Referenz innerhalb der Gesamtkirche möglich gewesen wäre und auch erfolgte, lässt sich an dem Artikel des vom Apostolischen Stuhl herausgegebenen Osservatore Romano ablesen, dessen Tenor insgesamt positiv war.37 Weder die Art der Berichterstattung über die Verleihung des Friedensnobelpreises noch die Art über den Preisträger und dessen Vita zu berichten lassen Antipathie oder eine distanzierte Haltung erkennen. Dabei wurde allerdings nichts ausgesagt, das Aufschluss über die Selbstverortung von Pérez Esquivel innerhalb eines bestimmten Sektors der katholischen Kirche hätte geben können. Es ist die Rede davon, dass Pérez Esquivel sich der »nobile causa dei diritti umani e della non violenza«38 widmete. Er wurde sogar – fälschlicherweise – als »segretario del comitato argentino dell pontificia comissione ›Justicia et Pax‹«39 vorgestellt, eine Position für den katholische Laien Pérez Esquivel, die für den Autor des Osservatore Romano zumindest im Bereich des Möglichen lag. Hätte er es für unmöglich oder völlig unwahrscheinlich gehalten, dass der Nobelpreisträger ein solches Amt innehaben könnte, so lässt sich annehmen, dass er diese Angabe vor der Druckfreigabe der Zeitung noch einmal überprüft hätte. Tatsächlich war der Berater der bischöflichen Comisión Argentina de Justicia y Paz zu diesem Zeitpunkt der Weihbischof Domingo Castagna aus der Diözese Buenos Aires, ein mit deutlich höherem symbolischen Kapital ausgestatteter Akteur auf dem religiösen Feld als der Laie Pérez Esquivel. Weihbischof Castagna spielte jedoch in der argentinischen Menschenrechtsbewegung ebenso wenig eine Rolle wie die bischöfliche Kommission Comisión Argentina de Justicia y Paz.40
37 L’Osservatore Romano, 15. Oktober 1980; Der Artikel wurde in spanischer Übersetzung auch in La Opinión zitiert, wo es hieß, der Preis sei an Pérez Esquivel verliehen worden »[…] por la eficaz obra llevada a cabo por la coordinación de los diversos movimientos para la no violencia que actúan en América Latina«, (»[…] für die effiziente Arbeit zur Koordinierung der unterschiedlichen Bewegungen für die Gewaltfreiheit, die in Lateinamerika aktiv sind.«), La Opinión, 15. Oktober 1980, Repercusión en el mundo por la distinción de un argentino. 38 L’Osservatore Romano, 15. Oktober 1980, (»edle Sache der Menschenrechte und der Gewaltlosigkeit«). 39 Ebd., (»Sekretär des argentinischen Komitees der päpstlichen Kommission ›Justicia et Pax‹«). 40 Vgl. Klaiber 1998, S. 84.
Die katholischen Zeitschriften über Pérez Esquivel
4.3
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Die katholischen Zeitschriften über Pérez Esquivel
Die Berufung auf christliche Werte seitens des Friedensnobelpreisträgers und des SERPAJ wurde in den Beiträgen katholischer Zeitschriften keinesfalls uneingeschränkt akzeptiert, sondern teilweise sogar massiv in Frage gestellt. Sowohl in der Tagespresse als auch in katholischen Zeitschriften wurden Stimmen laut, die an der Legitimität des Engagements von Pérez Esquivel zweifelten und insbesondere seinen Anspruch zurückwiesen, aus einer christlichen oder katholischen Überzeugung heraus zu handeln.41 Andere Stimmen aus dem katholischen Spektrum wiederum unterstützten Pérez Esquivels Haltung ausdrücklich, darunter die katholische Zeitschrift Actualidad Pastoral. Auch einige argentinische Bischöfe äußerten sich öffentlich zum Preisträger, wobei sowohl zustimmende als auch ablehnende Stimmen vernehmbar waren, die punktuell Eingang in die Artikel der katholischen Zeitschriften fanden. Insgesamt sind bei den katholischen Presseerzeugnissen deutliche Tendenzen zu erkennen, die der jeweiligen, allgemeinen Positionierung der Zeitschrift entsprechen. Während im progressiven Spektrum der Kirche verortete katholische Medien wie Actualidad Pastoral den Friedensnobelpreis positiv aufnahmen, zeigte sich das liberal-katholische Blatt Criterio eher reserviert bis ablehnend, und die national-konservative Zeitschrift Cabildo lehnte den Friedensnobelpreisträger als »Scheinheiligen«42, der eigentlich Gewalt predige, rundheraus ab. Die in Cabildo vertretene Position stellt dabei ein Extrem im Spektrum der feststellbaren Reaktionen dar, an dessen anderen Ende die uneingeschränkt zustimmenden Äußerungen seitens des progressiven Katholizismus zu verorten sind. Eine der wenigen katholischen Zeitschriften, die eine uneingeschränkt positive Reaktion auf die Friedensnobelpreisverleihung zeigte, war Actualidad Pastoral. Der Autor bezog für Pérez Esquivel als Preisträger klar Stellung und verlieh der Entscheidung des Osloer Komitees dadurch Legitimität, dass er auf die Wahl Mutter Teresas im Vorjahr verwies:
41 So äußerte eine Gruppe Angehöriger der Streitkräfte in einer Presserklärung: »[…] el desitinatario de tal premio, además de otros problemas policiales tenidos en diversos paises, ha estado detenido a disposición del Poder Ejecutivo Nacional, por configurar su actuación, por acción u omisión, inclinaciones izquierdizantes que atentan contra nuestro modo de vida occidental y cristiano.« (»[…] der Empfänger dieses Preises war, über andere polizeiliche Schwierigkeiten in verschiedenen anderen Ländern hinaus, gefangen auf Geheiß der nationalen Exekutivgewalt, wegen der Gestaltung seiner Handlungen, wegen Aktivitäten oder Unterlassungen, linkszugewandten Tendenzen, die unsere westliche und christliche Lebensweise angreifen.«), La Opinión, 17. Oktober 1980, Nuevas expresiones sobre el Premio Nobel de la Paz. 42 Pan y Trabajo: Cuando el progresismo se Quita el Disfraz [sic], in: Cabildo 17 (Juni 1978).
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Wie katholisch sind Menschenrechte?
»Dieselbe internationale Jury, die im vergangenen Jahr Mutter Teresa ausgezeichnet hat, hat dieses Jahr einen vom Christentum inspirierten Landsmann gewählt. Es wäre ein gewagtes Urteil, dieser internationalen Jury schlechte Absichten zu unterstellen.«43
Mit dieser Äußerung wurde der Anspruch Pérez Esquivels anerkannt, aus einer christlichen Motivation heraus zu agieren und es wurde zugleich die Infragestellung der Motive für die Preisverleihung zurückgewiesen. Ebenso wie die Verleihung an Mutter Teresa wurde auch der Friedensnobelpreis für Pérez Esquivel als richtige und legitime Entscheidung gedeutet, nicht zuletzt, da es sich bei beiden um gläubige Katholiken handelte. In einer persönlich gehaltenen Passage des Texts verteidigte der Autor Pérez Esquivel zudem gegen die an anderer Stelle vorgebrachten Anfechtungen: »Mich persönlich beeindruckt, über die Zeugnisse vernünftiger Personen hinaus, alles was Pérez Esquivel seit seiner Nominierung gesagt hat. Er tritt mit Edelmut und christlicher Würde in Erscheinung. Er ist zum Dialog mit allen bereit […] und bekräftigt aufrichtig, dass er nie etwas mit Terrorismus zu tun hatte und dass er in seinem katholischen Glauben die Kraft findet, für die Sache des Menschen zu arbeiten.«44
Neben der unmittelbaren, persönlichen Zeugenschaft einiger nicht näher benannter Personen stützte der Autor sein Urteil über den Preisträger auf dessen Agieren, dem er »christliche Würde« attestiert. Aus dieser Darstellung sprach eine hohe Identifikation und ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit Pérez Esquivel, der als Teil derselben christlichen Gemeinschaft vorgestellt wurde. Auch ein Autor der jesuitischen Zeitschrift CIAS stellte die Arbeit Pérez Esquivels als Ausdruck seiner christlichen Überzeugung dar und erkannte somit die religiöse Legitimation der Menschenrechtsarbeit an. Über Pérez Esquivel schrieb er am Anfang des Artikels: »Seine Botschaft ist christlich. Der Erklärung von Medellín folgend, verurteilt er jede Form von Gewalt, sowohl von oben als auch von unten, von links ebenso wie von rechts.«45 Mit dem Bezug auf die Bischofskonferenz in Medellín 1968 verortet der Autor das Handeln Pérez Esquivels im Kontext der Lehrmeinung der lateinamerikanischen Kirche, so dass es innerhalb
43 Lucha y contemplación, in: Actualidad Pastoral 135 (Januar-März 1981), »El mismo jurado internacional que el año pasado distinguió a la Madre Teresa, este año ha elegido a un compatriota inspirado por el cristianismo. Pensar en la mala fe de ese jurado internacional pasa de ser un juicio temerario.«. 44 Ebd., »Personalmente me impresiona favorablemente, además del testimonio de las personas sensatas, todo lo que Pérez Esquivel ha ido pronunciando desde su nominación. Se maneja con señorio y dignidad cristiana. Está dispuesto al diálogo con todos […] y afirma sinceramente que nunca estuvo con el terrorismo y que en su fe católica encuentra las fuerzas para trabajar por la causa del hombre.«. 45 El Nobel de la Paz, in: Revista del CIAS 299 (Dezember 1980), »Su mensaje es evangélico. Siguiendo la declaración de Medellín, condena todo tipo de violencia, tanto de arriba como de abajo, de izquiera como de derecha.«.
Die katholischen Zeitschriften über Pérez Esquivel
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des religiösen Felds eine größere Autorität beanspruchen kann. Diese Legitimation entsprach damit der Selbstverortung des Friedensnobelpreisträgers, der immer wieder seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche betonte und sich auf kirchliche Autoritäten berief. Die liberal-katholische Zeitschrift Criterio dagegen ging nicht explizit auf die christliche Identität des Preisträgers ein, sondern wies darauf hin, dass sein Agieren, anders als die humanitäre Hilfe Albert Schweitzers oder Mutter Teresas, den Charakter einer »Politik der Zeugenschaft«, einer »política testimonial«46 habe. Somit hörte die – grundsätzlich begrüßenswerte – gewaltfreie Menschenrechtsarbeit laut Criterio auf, eine rein prophetische, religiöse Zeugenschaft zu sein. Stattdessen werde sie zu einer politischen Aktion, die die Benennung von Freund und Feind impliziere und eine gewisse Ambiguität mit sich bringe. Damit kritisierte Criterio das Überschreiten einer Grenze zwischen religiösem und politischem Feld, da die politische Dimension des Einsatzes für die Menschenrechte in den Augen des Autors dazu führt, dass eine Legitimierung im christlichen Glauben fragwürdig wird. So betonte Criterio, dass aus der Erklärung des Nobelpreiskomitees nicht hervorgehe, auf welche Art und Weise Pérez Esquivel zum Frieden beigetragen habe. Insgesamt finden sich in dem relativ kurz gehaltenen Artikel etliche Elemente, die eine deutliche Distanz zu Pérez Esquivel markieren und die Vergabe des Friedensnobelpreises in Frage stellen. Ein wichtiges Element dabei stellte die Rede von Pérez Esquivel als einem »Unbekannten« dar, die auch in der öffentlichen Auseinandersetzung um den Friedensnobelpreis eine zentrale Rolle spielte. Da Pérez Esquivel bereits vor der Verleihung des Preises zu den exponierten katholischen Akteuren innerhalb der argentinischen Menschenrechtsbewegung gehörte, wurde sein Agieren, wenn auch nicht von einer breiten Öffentlichkeit, immerhin in begrenztem Maße auch außerhalb der Bewegung wahrgenommen.47 Allerdings war Pérez Esquivel vor der Bekanntgabe seiner Ernennung weit davon entfernt, eine Person des öffentlichen Lebens zu sein, was mit der zu Beginn der 1980er-Jahre weiterhin bestehenden Marginalisierung der Menschenrechtsbewegung zusammenhing. Damit ließe sich auch das vielfach in der Tagespresse und in der katholischen Publizistik zum Ausdruck gebrachte Staunen über die Wahl eines »desconocido«, eines Unbekannten, zum Friedensnobelpreisträger erklären. Bliebe es bei dieser Betrachtung, die diese Äußerungen als einfaches Abbild der Wirklichkeit und nicht als Teil eines Kampfs um Deutungshoheit versteht, würden allerdings wichtige Aspekte der Bezeichnung von Pérez Esquivel als »Unbekanntem« und die Rede von einer mit Staunen vernommenen Überraschung aus dem Blick 46 El Premio Nobel de la Paz, in: Criterio 1846, (23. Oktober 1980). 47 Darauf weist ein Artikel in Cabildo hin, in dem es unter anderem um Adolfo Pérez Esquivel geht. Pan y Trabajo: Cuando el progresismo se Quita el Disfraz [sic], in: Cabildo 17 (Juni 1978).
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geraten – Aspekte, die in ihrer Bedeutung als delegitimierende Äußerungen in diesem Deutungskampf ebenso analysiert werden müssen. Auch im Beitrag der liberal-katholischen Zeitschrift Criterio wurde auf den Topos des »Unbekannten« rekurriert. Die Verwendung eines Zitats des argentinischen Schriftstellers José Luis Borges durch das Osloer Komitee bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Pérez Esquivel bewertete Criterio als fehlgeleitet und absichtlich irreführend beziehungsweise missbräuchlich. Ausgerechnet Borges, so hieß es, dessen literarisches Werk international anerkannt sei, werde dazu instrumentalisiert, einem »Unbekannten« wie Pérez Esquivel mehr Gewicht zu verleihen, und das, obwohl Borges – aus der Sicht von Criterio – ungerechtfertigterweise der Literaturnobelpreis vorenthalten werde, da Borges zur politischen Rechten zähle. Auch diese Äußerung macht deutlich, wie wenig die Autoren der Zeitschrift Criterio mit der Wahl des Friedensnobelpreisträgers einverstanden waren. Criterio behauptete, über das Agieren Pérez Esquivels kein Urteil fällen zu wollen, mit der Begründung, keine Informationen über seine politische Haltung zu haben. Damit markierte Criterio erneut eine deutliche Distanz zum Friedensnobelpreisträger, die als vermeintliche Neutralität präsentiert wurde. Ebenso wie in der Pressemitteilung der Bischofskonferenz erfolgte auch hier keine Identifikation mit Pérez Esquivel. Stattdessen wurde in Zweifel gezogen, dass der Friedensnobelpreis eine positive Wirkung haben könne, wie der abschließende Satz zum Preis für den Menschenrechtsaktivisten durch den Gebrauch des Konditionals suggeriert: »Wenn dies alles dazu dienen würde, dass in unserem Land und im Rest Lateinamerikas der Respekt des Menschen für den Menschen steigen würde, dass die Gewalt abgelehnt würde und mit derselben Inbrunst die Pflichten des Menschen geltend gemacht würden, wie die Rechte des Menschen, würden wir uns glücklich fühlen.«48
Trotz dieser insgesamt distanzierten bis ablehnenden Haltung druckte Criterio in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift die Erklärung von Pérez Esquivel vom 17. Oktober 1980 und die Erklärung des SERPAJ ab. Beide wurden unkommentiert in der Sektion »Información« der Zeitschrift veröffentlicht.49 Wie und warum es trotz der allgemeinen Skepsis und generellen Ablehnung im Artikel der vorherigen Ausgabe zum Abdruck der beiden Erklärungen kam, kann anhand der vorliegenden Quellen nicht nachvollzogen werden. Es lässt sich jedoch feststellen, dass auf diese Art und Weise sowohl Pérez Esquivel als auch dem SERPAJ 48 El Premio Nobel de la Paz, in: Criterio 1846, (23. Oktober 1980), »Si todo esto sirviera para que en nuestro país, y en el resto de América Latina, se acreciente el respeto del hombre por el hombre, se renuncie a la violencia y se invoquen con igual fervor tanto los deberes como los derechos del hombre, nos sentiríamos felices.«. 49 Declaración del Premio Nobel de la Paz 1980 und Comunicado del Servicio Paz y Justicia, in: Criterio 1847 (13. November 1980).
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eine Artikulationsmöglichkeit gegeben wurde. Dieser Umstand verlieh den beiden Erklärungen indirekt Legitimität, so dass die stark kritisch-distanzierte Haltung, die in der vorherigen Ausgabe vorherrschend war, zumindest in einem gewissen Maße relativiert wurde. Eine eigene explizite Positionierung nahm die Zeitschrift jedoch nicht vor und auch in den folgenden Ausgaben äußerte sich Criterio nicht mehr zum Thema, so dass insgesamt die Delegitimierung des Friedensnobelpreisträgers überwog. Vor allem der Verzicht darauf, Pérez Esquivel als Katholiken auszuweisen, muss in diesem Zusammenhang als Distanzierung gewertet werden. Seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der katholischen Gläubigen nicht einmal zu erwähnen, bedeutete, dass er von Criterio nicht als Person vorgestellt wurde, mit der man sich als Katholik*in positiv identifizieren konnte. Über seine Person hinaus gilt dies auch für das Menschenrechtsengagement, für das er geehrt wurde. Allerdings ging Criterio nicht so weit, Pérez Esquivels Zugehörigkeit zur katholischen Kirche in Frage zu stellen, anders als Mitglieder der Laiengruppe Falange de la Fe und die Autoren der Zeitschrift Cabildo. So machen die Worte der Falange de Fe in einem über die Tagespresse verbreiteten Dokument deutlich, dass sie die Verleihung des Friedensnobelpreises an Pérez Esquivel als Angriff auf das Projekt der ›katholischen Nation Argentinien‹ und als Teil einer ›anti-argentinischen Kampagne‹ begriffen: »als argentinische Bürger und als römischapostolische Katholiken verurteilen wir und schämen wir uns angesichts dieser aus dem Ausland kommenden erneuten Verunglimpfung der Nation.«50 Indem sie ihre eigene Identität als Katholik*innen in den Vordergrund stellten, delegitimierten sie den Anspruch Pérez Esquivels als Katholik zu sprechen. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch unter katholischen Lai*innen umstritten war, welche Deutung und Ausgestaltung des Katholizismus in Argentinien Legitimität beanspruchen konnte. Vor allem national-katholische Äußerungen wie die der Gruppierung Falange de la Fe waren in der Tagespresse präsent. Unter anderem wurden Leserzuschriften veröffentlicht, die in ihrer Argumentation der Zeitschrift Cabildo sehr ähnlich waren. Dies sagt aber nicht unbedingt etwas über die Verbreitung national-katholischen Gedankenguts in der Bevölkerung aus, zeigt aber, dass solchen Deutungen in der öffentlichen Auseinandersetzung viel Raum gegeben wurde und für die Zeitgenoss*innen diese Stimmen besonders deutlich vernehmbar waren. Auf besonders drastische Weise äußerten sich die Autoren von Cabildo, die sich in der Ausgabe vom Oktober 1980 gleich in zwei Artikeln des Themas annahmen. Zentral in ihren Ausführungen war die Behauptung, dass Pérez Esquivel 50 La Nación, 16. Oktober 1980, Nuevas reacciones sobre Adolfo Pérez Esquivel, »[…] como ciudadanos argentinos y como católicos apostólicos romanos, condenamos y nos avergonzamos de este nuevo ultraje que, desde el extranjero, se hace a la Nación.«.
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den bewaffneten Guerilla-Kampf unterstützte oder, wie sie selbst es auf dem Titelblatt formulierten, ein »Agent des subversiven Krieges«51 sei. Dort ist zudem ein Foto von einer Gruppe des Partido Revolucionario de los Trabajadores (PRT) abgedruckt, der in den 1970er-Jahren die Strategie des bewaffneten Kampfs verfolgte. Auch die Überschrift des ersten Artikels »Wie ein Guerillero den Frieden gewann«52 im Innenteil legt diese Deutung nahe. Beim zweiten Artikel handelt es sich um den Wiederabdruck eines Cabildo-Beitrags von 1977, in dem es bereits um Pérez Esquivel ging. Cabildo deutete an dieser Stelle Pérez Esquivel als ›Subversiven‹, der für sie klar das ›Andere‹ der ›katholischen Nation Argentinien‹ verkörperte: »Die Vorgeschichte von Esquivel […] lässt keinen Zweifel an seinem subversiven Werdegang: Indigenist und ›lateinamerikanisch‹ wegen der Zurückweisung des Katholisch-Argentinischen, heuert er beim ghandischen Orientalismus um 1971 an und vermischt das Evangelium mit der Baghavagad Gita.«53
In der Ablehnung der nicht-katholischen religiösen Elemente drückt sich die Vorstellung religiöser Reinheit aus, die mit einer auf Eindeutigkeit ausgerichteten Vorstellung von katholischer Identität einherging. Da der Friedensnobelpreisträger in den Augen von Cabildo die identitätsstiftende Grenze zu anderen religiösen Bekenntnissen überschritt, hatte er das essentialistisch gedachte Wesen des Katholizismus in seiner Integrität verletzt. Das bedeutet, dass er aus der national-katholischen Perspektive von Cabildo nicht mehr Teil der Gemeinschaft der Katholiken sein konnte, ebenso wenig wie er ein würdiger Vertreter der argentinischen Nation war, da er seine Identität nicht nationalstaatlich, sondern territorial auf alle lateinamerikanischen Länder bezog. Cabildo trug somit zum von der Junta verbreiteten Diskurs über ›die Subversiven‹ bei und schloss Pérez Esquivel ebenso wie alle anderen, die mit dieser Kategorie belegt wurden, aus der ›katholischen Nation Argentinien‹ aus. Zugleich grenzte Cabildo sich scharf vom Kirchen- und Religionsverständnis des progressiven Katholizismus ab. Die von Pérez Esquivel selbst vorgebrachte religiöse Legitimation seines Engagements für die Menschenrechte war für Cabildo nichts als ein Deckmantel für die Rolle, die Pérez Esquivel im »aparato subversivo«, in den klandestinen Strukturen der Guerilla, angeblich spielte. Immer wenn ein Mitglied der Guerilla gefangengenommen wurde, sei er öffentlich in Erscheinung getreten »[…] mit dem Schutzschild seiner Theologie, mit der Maske seines 51 Titelblatt Cabildo 37 (Oktober 1980), »agente de la guerra subversiva«. 52 De Cómo un Guerillero Ganó la Paz, in: Cabildo 37 (Oktober 1980). 53 Pan y Trabajo: Cuando el progresismo se Quita el Disfraz [sic], in: Cabildo 17 (Juni 1978). »Los antecedentes de Esquivel […] no dejan lugar a dudas sobre su itinerario subversivo: Indigenista y ›latinoamericano‹ por renunciamiento a lo argentino católico, se enrola en el orientalismo ghandiano hacia 1971 mezclando el Evangelio con el Baghavagad Gita [sic].«.
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Ghandismus, mit der Verkleidung seiner Fastenaktionen.«54 Pérez Esquivel war aus dieser Perspektive kein würdiger Friedensnobelpreisträger, da er laut Cabildo statt zum Frieden zur Eskalation der Gewalt beitrug. Seine Ehrung war für Cabildo deshalb aberwitzig.55 Bildlich verdichtet fand sich das Urteil über Pérez Esquivel in einer Karikatur neben dem Artikel. Sie zeigt den Preisträger, der mit Hammer und Sichel in der linken und dem Kreuz in der rechten Hand die Arme vor einer Figur ausbreitet, die einen Guerilla-Kämpfer darstellt. Dieser wurde mit negativen bildlichen Attributen versehen: er duckt sich, hat einen dichten Bart, eine Maschinenpistole in der Hand und versucht sich zu verstecken, ist aber gleichzeitig sprungbereit. Pérez Esquivel trägt in der Darstellung ein ärmliches Gewand, auf dem »Paz« steht und, so legt es die Bildsprache nahe, schützt durch seine Präsenz den bewaffneten und gewaltbereiten Guerillero. Die Autoren des Cabildo kritisierten die Überschreitung der Grenze zwischen religiösem und politischem Feld und delegitimierten damit die von Pérez Esquivel selbst vorgebrachte religiöse Legitimation der Menschenrechtsarbeit. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Personen und Bewegungen des politischen Felds, die Cabildo im linken Spektrum verortete oder für kommunistisch hielt, wurde massiv angegriffen. So wurde die Genese der Menschenrechtsorganisationen in Argentinien inklusive des SERPAJ auf kommunistische Einflüsse zurückgeführt und der progressive Sektor innerhalb des Katholizismus, konkret die Zeitschrift Pan y Trabajo, galt für Cabildo als »cristo-marxista«.56 Zur Delegitimierung trug der überwiegend spöttische Tonfall bei, der aus dem Handeln Pérez Esquivels ein ›Apostolat‹ machte, das nach Ansicht von Cabildo vor allem darin bestand, Beziehungen mit – so wörtlich – »radikalisierten«57 Personen und Bewegungen zu pflegen, darunter Priester des Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo, die kommunistische Partei Polens, der brasilianische Bischof Helder Câmara und Amnesty International. Es handelte sich bei diesen Äußerungen um Elemente des Diskurses über die Unterwanderung der katholischen Kirche durch kommunistische Kräfte. Innerhalb dieses Deutungshorizonts war kein Platz für Pérez Esquivel in der Gemeinschaft der Katholik*innen. Der Konflikt der divergierenden Haltungen innerhalb des argentinischen Katholizismus zeigte sich in Äußerungen, die Papst Johannes Paul II., der ebenfalls 1980 für den Friedensnobelpreis nominiert war, gewissermaßen als den ›besseren Preisträger‹ präsentierten. So schrieb die Liga Argentina de Victimas
54 Pan y Trabajo: Cuando el progresismo se Quita el Disfraz [sic], in: Cabildo 17 (Juni 1978). »[…] con el escudo de su teología, con la máscara de su ghandismo, con el disfraz de sus ayunos.«. 55 De Cómo un Guerillero Ganó la Paz, in: Cabildo 37 (Oktober 1980). 56 Ebd. 57 Ebd.
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del Terrorismo58 in einem über die Tagespresse in Gänze verbreiteten offenen Brief, dass man überrascht sei, dass der Preis an Pérez Esquivel gegangen sei, wo doch so anerkannte, international agierende Persönlichkeiten wie Johannes Paul II. nominiert waren.59 Auch in diesem Zusammenhang wurde eine Preiswürdigkeit an den Grad der öffentlichen Bekanntheit und das bereits akkumulierte symbolische Kapital gekoppelt. Diese Deutung war auch in nicht-konfessionellen Medienerzeugnissen weit verbreitet. So stellte beispielsweise die populäre Zeitschrift Gente in ihrem Editorial die rhetorische Frage: »Hat nicht Johannes Paul II. mit mehr Kraft und mit größerer Ökumene diesen Kampf für die Achtung der Menschenrechte geführt?«60 In diesem Diskursstrang zeigte sich implizit ein Kirchenverständnis, das den unterschiedlichen hierarchischen Positionen innerhalb der katholischen Kirche eine große Bedeutung beimaß. Aus dieser Perspektive konnte die Distanz zwischen dem Papst und einem Laien nicht größer sein. Die jesuitische Zeitschrift CIAS griff die in der öffentlichen Auseinandersetzung besonders virulente Debatte um den Papst als ›besserem Friedensnobelpreisträger‹ auf. Der Autor der CIAS war der Ansicht, dass Papst Johannes Paul II., anders als Pérez Esquivel, keinen Friedensnobelpreis brauche, damit sein Wirken öffentlich anerkannt werde, und dass eine Auszeichnung des Papstes eher den Verleihern des Friedensnobelpreises zur Ehre gereicht hätte, als dem Papst selbst. Aber anders als im Fall des Papstes, habe es im Fall Pérez Esquivels des Preises bedurft, um die Aufmerksamkeit auf sein Engagement zu richten. Und auch zur Debatte darum, dass es sich bei Pérez Esquivel vermeintlich um einen Unbekannten handelte, lieferte der Autor des CIAS einen Beitrag. Dass Pérez Esquivel wenig bekannt sei, so schrieb er, sei nicht etwa mangelnden Verdiensten geschuldet, sondern der Tatsache, dass sein Wirken für viele in etlichen Ländern Lateinamerikas unbequem war und dass er deshalb des Landes verwiesen, isoliert und eingesperrt worden war.61 Mit seinen Worten versuchte der Autor eine gegenläufige Deutung 58 Die Liga Argentina de Victimas del Terrorismo war eine Gruppe, die eine Gegenposition zu den Gruppen der Angehörigen der Verschwundenen einnahm und sich für die ›Opfer der Subversion‹ einsetzte, wie sie es formulierte. 59 La Opinión, 17. Oktober 1980, Una carta abierta al premio nobel de la paz. 60 ¿Quien es Adolfo Pérez Esquivel? El caso del Premio Nobel de la Paz, in: Gente 795 (16. Oktober 1980), »Acaso Juan Pablo II no presentaba con más fuerza y con más ecumenismo esa batalla por el respeto de los derechos humanos?«. 61 El Nobel de la Paz, in: Revista del CIAS 299 (Dezember 1980), »La verdad es que Borges no necesita el Nobel de Literatura […] De modo similar, a Juan Pablo II poco le añdiría el Nobel de la Paz. El pueblo ya los ha consagrado. En caso de que se les concediera el Premio, quedarían más honrados los otorgantes, con su presencia, que los laureados, con la distinción. Nosotros, en cambio, necesitábamos un llamado de atención para volver los ojos hacia este luchador de la paz de dimensión continental. Que fuera poco conocido, no se debió ni a falta de méritos ni a un capricho de la fortuna. Su palabra y su testimonio incomodaron a mucha gente en los diversos países en que actuó de América Latina. Lo fueron, entonces,
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zum dominanten Diskurs zu etablieren, indem er die Verleihung des Preises an Pérez Esquivel als legitim und sogar gesellschaftlich notwendig interpretierte.62 Insgesamt zeigte der Beitrag in der jesuitischen Zeitschrift eine starke Identifikation mit dem Selbst- und Kirchenverständnis des Preisträgers und den Anliegen der Menschenrechtsbewegung. Fragt man in Anbetracht der Zugehörigkeit Pérez Esquivels zur katholischen Kirche danach, wie über die Beziehungen zwischen ihm und der Amtskirche berichtet wurde, so lassen sich hierzu keine expliziten Äußerungen finden, so dass hier von einem aussagekräftigen Schweigen gesprochen werden kann. Zwar wurde das oben analysierte Dokument der AICA in der Tagespresse zitiert, aber eine darüber hinausgehende Äußerung oder gar eine Kommentierung ist nicht zu finden. Auch in der katholischen Publizistik finden sich weder eine Bezugnahme auf die Verlautbarung der AICA noch eine Thematisierung der Beziehungen zwischen dem Friedensnobelpreisträger und der Institution Kirche. Worüber hingegen berichtet wurde, sind Äußerungen einzelner Bischöfe sowohl aus Argentinien als auch aus dem Ausland. Insbesondere Beiträge der katholischen Publizistik, die um Legitimierung bemüht waren – sei es des Preisträgers, der Menschenrechtsarbeit oder des Glaubens- und Kirchenverständnisses, das er verkörperte – zitierten Würdenträger der katholischen Kirche. Dies ist der Fall in den Zeitschriften Actualidad Pastoral, Boletín del CIAS und Pan y Trabajo. Das Titelbild der Actualidad Pastoral vom Januar 198163 zeigt ein Foto, auf dem Papst Johannes Paul II. während einer Audienz im Vatikan am 17. Dezember 1980 mit beiden Händen Pérez Esquivels rechte Hand umfasst. In der linken unteren Ecke des Zeitschriftencovers wurde das Titelblatt der Ausgabe über die Friedensnobelpreisverleihung an Mutter Teresa im Vorjahr platziert, das ein kleines Portrait von ihr zeigt. Beide Bilder stellten eine positiv konnotierte Beziehung der Abgebildeten zum Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel her. Durch die Abbildung von Mutter Teresa, die ebenfalls Friedensnobelpreisträgerin war, wurde eine Parallele gezogen, die zur Legitimierung Pérez Esquivels beitrug, da Mutter Teresa große Wertschätzung unter Katholiken genoss. Das Bild, auf dem der expulsando, aíslando, encarcelando.« (»Die Wahrheit ist, dass Borges den Literaturnobelpreis nicht brauchte […]. Auf ähnliche Weise würde der Nobelpreis Johannes Paul II. wenig hinzufügen. Das Volk hat sie schon geheiligt. In dem Falle, dass man ihnen den Preis verleihen würde, würden eher die Verleiher des Preises geehrt, mit ihrer Anwesenheit, als die Preisträger mit der Auszeichnung. Wir aber brauchten es, dass Aufmerksamkeit erzeugt wurde, um die Augen auf diesen Kämpfer des Friedens kontinentalen Ausmaßes zu richten. Dass er wenig bekannt war, war weder einem Mangel an Verdiensten geschuldet noch einer Laune des Schicksals. Sein Wort und seine Zeugenschaft störten viele Leute in den unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas in denen er tätig war. Daraufhin wiesen sie ihn aus, isolierten ihn, sperrten ihn ins Gefängnis.«). 62 Diesen Grundtenor behält der mit 19 Seiten recht lange Text durchgängig bei. 63 Lucha y contemplación, in: Actualidad Pastoral 135 (Januar-März 1981).
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Papst Pérez Esquivel mit einer wohlwollenden, umfangenden Geste begegnete, stellt vor dem Hintergrund der Stellung des Papstes innerhalb der katholischen Kirche eine besonders starke, bildlich verdichtete Legitimation dar.64 Auf der Textebene wurde daran angeknüpft, indem der Artikel mit dem Hinweis auf Pérez Esquivels Audienz beim Papst einleitete. Zudem wurden der Bischof Ivo Lorscheiter, Präsident der brasilianischen Bischofskonferenz, und der Kardinal Landazuri, Erzbischof von Lima, mit positiven Äußerungen bezüglich der Preisverleihung an Pérez Esquivel zitiert. Die wenigen argentinischen Bischöfe, die sich öffentlich äußerten, wurden hier nicht genannt, anders als in der Zeitschrift CIAS, in der zumindest drei von ihnen namentlich erwähnt wurden. Dort nahm der Autor Bezug auf die Äußerungen der Bischöfe Laguna, Zaspe und Di Stéfano. Den Bischof Laguna präsentierte er als Gewährsmann für die Integrität Pérez Esquivels, die dieser deshalb beurteilen könne, weil Pérez Esquivel bereits mehr als 20 Jahre zu den Mitgliedern seiner Gemeinde in San Isidro gehörte. Die besondere Legitimität rührte hier aus der Kombination der Amtsautorität des Bischofs und der damit verbundenen Stellung innerhalb des religiösen Felds mit der Autorität der persönlichen Zeugenschaft, die mit dem Effekt einherging, der Äußerung größere Authentizität zuzuschreiben. Auch beim Verweis auf einen persönlichen, bis dato unveröffentlichten Brief des Bischofs Vicente Zaspe an Pérez Esquivel, kam dieser Effekt zum Tragen: »Vom ersten Moment an freute mich die Nachricht sehr, aber als ich die Kommentare vernahm, die einige Sektoren gemacht haben, mischte sich die Freude mit Traurigkeit und Ärger. Ich möchte, dass du mich deiner Person und deinem Werk sehr verbunden weißt. Ich kenne deinen Lebensweg und ich weiß um die Reinheit deiner Intentionen und um den Großmut deiner Hingabe für den Frieden durch das Mittel der Gewaltfreiheit.«65
Anders als der Brief von Zaspe waren die Äußerungen der Bischöfe Laguna und Di Stéfano Teil des öffentlichen Diskurses und lagen publiziert vor. Laguna wurde in der Tagespresse allerdings so zitiert, dass der Eindruck entstand, Pérez Esquivel werde von ihm nicht uneingeschränkt unterstützt.66 Im Artikel des CIAS 64 Auch die Zeitschrift des SERPAJ nutzte ein ähnliches Foto von Pérez Esquivel und dem Papst als Titelbild. Paz y Justicia 80 (Januar-Februar 1981). 65 El Nobel de la Paz, in: Revista del CIAS 299 (Dezember 1980), »Desde el primer momento tuve una gran alegría con la noticia, pero al ver los comentarios que algunos sectores han hecho, la alegría se mezcló con la tristeza y el fastidio. Quiero que me sientas muy unido a tu persona y a tu obra. Conozco tu trayectoria y sé de la limpieza de tus intenciones y la generosidad de tu entrega en la causa de la paz por medio de la no violencia.«. 66 La Opinión, 16. Oktober 1980, Continúa dando lugar a encontradas opiniones el Premio Nobel de la Paz. Die Äußerungen Lagunas wurden in La Opinión folgendermaßen in den redaktionellen Text eingebaut: »[…] Laguna […] reclamó ayer que el premio a la Paz, otorgado a Adolfo Pérez Esquivel ›no sea usado para atacar a nuestra patria, ya que de alguna manera nos honra‹ y añadió que ›ello depende de nosotros, que no debemos hacer el juego a
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hingegen deutete der Autor die Worte Lagunas als eindeutige Positionierung zugunsten Pérez Esquivels. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass ein wesentliches Anliegen des Autors darin bestand, zu zeigen, dass die katholische Kirche nicht gegen die Verleihung des Friedensnobelpreises an Pérez Esquivel gewesen sei. So bezog er sich auf Aussagen des Bischofs Di Stéfano und lehnte die verschiedentlich vorgebrachte Deutung ab, dass die Einlassungen Di Stéfanos ein Beleg dafür seien, dass die Kirche gegen die Verleihung des Friedensnobelpreises an den katholischen Laien Pérez Esquivel gewesen sei.67 Bei Analyse der ursprünglichen Äußerungen Di Stéfanos wird deutlich, warum zeitgenössische Rezipient*innen aus diesen eine ablehnende Haltung herauslesen konnten und es, wie es scheint, auch taten. Di Stéfano konstatierte, dass die Freude über die Verleihung des Nobelpreises an Mutter Teresa unter den Katholiken groß gewesen sei.68 Er stellte in keiner Weise in Frage, dass sie den Preis verdientermaßen erhalten hatte, sondern bewertete die Entscheidung des FriedensnobelpreisKomitees als hochgradig legitim. Über Pérez Esquivel hingegen sprach er nicht in annähernd ähnlicher Weise, vielmehr fragte er nach der Motivation der Preisverleihung, die er als Ergebnis der Bemühungen bestimmter Personen und Interessen sah, die er aber nicht weiter benannte. Auf die Frage, ob die Kirche sich mit der Organisation Pérez Esquivels identifiziere, gab Di Stéfano zu Protokoll:
quienes lo pretendan.‹ […] Laguna dijo que ›yo puedo garantizar personalmente‹ que Pérez Esquivel ›es un pacificador‹, pero aclarando que ›no sé si comparto otro tipo de postura, inclusive la metodología‹ que utiliza.« (»[…] Laguna […] mahnte gestern an, dass der Friedenspreis, der an Adolfo Pérez Esquivel verliehen wurde ›nicht dazu genutzt werde, um unser Vaterland anzugreifen, da er uns in gewisser Weise ehrt‹ und fügte hinzu, dass ›das von uns abhängt, dass wir nicht jenen in die Hände spielen dürfen, die dies beabsichtigen‹, aber klarstellend, dass ›ich nicht weiß, ob ich nicht eine andere Haltung teile, inklusive der Methode‹ die er nutzt.«). 67 El Nobel de la Paz, in: Revista del CIAS 299 (Dezember 1980), »Mons. Di Stéfano ha realizado un interesante aporte crítico a nuestra cuestión. Quienes leen todo en diagonal, se apuraron a publicar algunas frases suyas como prueba de que la Iglesia estaba contra la designación.« (»Mons. Di Stéfano hat einen interessanten, kritischen Beitrag zu unserer Frage geliefert. Jene, die alles querlesen, beeilen sich, einige seiner Sätze zu veröffentlichen als Beweis dafür, dass die Kirche gegen seine Ernennung war.«). 68 AICA-Doc 83, Suplemento AICA 1250 (4. Dezember 1980), »Los católicos y sobre todo las mujeres y las religiosas se sintieron felices el año pasado cuando la madre Teresa de Calcuta, esa hermana albanesa proveniente del país más comunista del mundo, donde los sacerdotes son fusilados por decir misa, fue distinguida con dicho premio por su maravillosa obra de bien en la India.« (»Die Katholiken und vor allem die Frauen und die Ordensfrauen fühlten sich glücklich als im vergangenen Jahr Mutter Teresa von Calcutta, diese albanische Schwester aus dem kommunistischsten Land der Welt, in dem die Priester erschossen werden für das Halten der Messe, mit besagtem Preis ausgezeichnet wurde für ihr wundervolles Werk der Güte in Indien.«).
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»Es gibt keine Verbindung.«69. Zudem betonte er, dass es sich um eine ökumenische Gruppierung handelte, die von ausländischen Gruppen unterstützt werde. Neben der Distanzierung, die er als Vertreter der Amtskirche vornahm, und auf die er auch verwies, gab er mit dieser Äußerung zu verstehen, dass die Verleihung des Preises aus seiner Perspektive interessegeleitet war. Er hätte für die Ehrung mit dem Friedensnobelpreis lieber sowjetische Dissidenten, die hervorragende Verteidiger der Menschenrechte seien, vorgeschlagen und war der Ansicht, dass die Weltöffentlichkeit in Begeisterungsstürme ausgebrochen wäre, hätte Papst Johannes Paul II., Lech Wałe˛sa oder der polnische Kardinal Wyszyn´ski den Preis erhalten. Auch wenn Di Stéfano nicht explizit an der Legitimation des Friedensnobelpreises für Pérez Esquivel zweifelte, so war sein Beitrag von einer mehr als skeptischen Haltung geprägt, die letztlich auf eine Delegitimierung des Preisträgers hinauslief, auch deshalb, weil auch er – ebenso wie die Institution Kirche – keinen positiven Bezug zu Pérez Esquivel und seinem katholischen Selbstverständnis herstellte. Zwar äußerte Di Stéfano, dass er nicht die »mutmaßlichen Verdienste«70 des Preisträgers, sondern die Umstände der Preisverleihung ablehne. Aber auch hier ist durch das Beifügen des Adjektivs »mutmaßlich« eine Distanzierung zu erkennen, da nicht einfach die Rede von Verdiensten war, die er so vorbehaltlos anerkannt hätte, sondern von mutmaßlichen Verdiensten, die daher sogleich in Zweifel standen. Damit lagen die Äußerungen des Bischofs auf der Linie der Pressemitteilung des Episkopats, die, wie oben dargelegt, eine weitgehende Distanzierung gegenüber Pérez Esquivel bedeutete. Dennoch sah der Autor des CIAS in den Äußerungen von Di Stéfano einen Beleg für dessen Annahme, dass die Kirche den Friedensnobelpreisträger nicht in Frage stellte, und zog den Schluss, dass Di Stéfanos Äußerungen nicht dazu verwendet werden könnten, Pérez Esquivel anzugreifen.71 Besonders in69 AICA-Doc 83, Suplemento AICA 1250 (4. Dezember 1980), »Se me ha preguntado si la Iglesia está identificada con su movimineto pro-paz y justicia, y he dicho lo que ya anuncié al Episcopado. ›No hay ninguna vinculación.‹ Aún cuando personas individuales de la Iglesia a título personal, se hayan adherido o congratulado con él, más bien pertenece a un movimiento ecuménico de varias confesiones, sólidamente asistido por organismos del exterior, algunos de cuyos directivos pertenecen al consejo de la fundación Nobel.« (»Man hat mich gefragt, ob die Kirche sich mit seiner Bewegung für den Frieden und die Gerechtigkeit identifiziert und ich habe gesagt, was ich bereits dem Episkopat bekannt gegeben habe. ›Es gibt keine Verbindung‹ Auch wenn einzelne Personen der Kirche auf persönlicher Grundlage sich ihm angeschlossen haben mögen oder ihm gratuliert haben, gehört er doch vielmehr zu einer ökumenischen Bewegung verschiedener Konfessionen, substantiell unterstützt von Organisationen aus dem Ausland, darunter einige, deren Leitung zum Beratungsgremium der Nobel-Stiftung gehören.«). 70 AICA-Doc 83, Suplemento AICA 1250 (4. Dezember 1980). 71 El Nobel de la Paz, in: Revista del CIAS 299 (Dezember 1980), »Quienes pretendieron utilizar a Mons. Di Stéfano para arremeter contra el laureado, comprenderán que esta agua no puede ser llevada a su molino.« (»Jene, die beabsichtigten, Mons. Di Stéfano zu instrumentalisieren,
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teressant ist in diesem Zusammenhang, dass die positive Deutung der Haltung Di Stéfanos, die der Autor des CIAS auf die gesamte Amtskirche übertrug, nicht mit der Pressemitteilung der AICA in Beziehungen gesetzt wurde. Vor allem in Anbetracht des sehr langen, 19-seitigen Artikels und dem akribischen Zitieren unterschiedlichster zeitgenössischer Publikationen ist das Fehlen jeglichen Bezugs auf die Bischofskonferenz und ihre Pressemitteilung auffällig. Als Erklärung ist denkbar, dass der Autor das distanzierende Dokument der Bischöfe ausblendete, um zum einen seine positive Deutung im Hinblick auf die Haltung der Kirche nicht zu gefährden und zum anderen, um nicht in einen offenen Konflikt mit der Kirchenhierarchie zu geraten. Wie wenig positive Resonanz der Friedensnobelpreis für Pérez Esquivel unter den argentinischen Bischöfen fand, lässt sich auch an der geringen Zahl der gratulierenden Bischöfe erkennen. Paz y Justicia berichtet über zahlreiche Glückwünsche und Zustimmungsbekundungen aus dem In- und Ausland, gab sie teilweise im Wortlaut wieder oder druckte sie sogar als Faksimile ab. Aus dem Kreis der mehr als 70 argentinischen Bischöfe sind nur Gratulationen von Hesayne, Casaretto, Aguirre, Zaspe und Iriarte festgehalten.72 Da der SERPAJ die Zuschriften in seiner Zeitschrift Paz y Justicia sehr umfassend dokumentierte und Zuschriften von Bischöfen eine besondere Legitimitätsressource waren, ist davon auszugehen, dass es weitere positive Äußerungen in Schriftform nicht gab. Auch anhand der Feier des Friedensnobelpreises für Pérez Esquivel wurde seine Marginalität im Verhältnis zur Institution Kirche sichtbar. Die Feier fand am 24. Oktober in der Kirche Santa Cruz des Passionisten-Ordens statt. In diesem Rahmen bedankte sich Pérez Esquivel für die positiven Reaktionen einiger argentinischer Bischöfe, und bezog sich mit der Benennung ihrer Diözesen indirekt auch die folgenden Bischöfe: Antonio Aguirre, Jaime de Nevares, Jorge Casaretto, Miguel Hesayne, Justo Laguna und Jorge Novak.73 Da es mehrheitlich dieselben Bischöfe waren, die ihm auch zur Verleihung des Friedensnobelpreises gratuliert hatten, kann festgehalten werden, dass für insgesamt acht Bischöfe Belege für einen positiven Bezug auf den Friedensnobelpreisträger und sein Engagement vorliegen. Anders als die oberste Leitungsebene der katholischen Kirche in Argentinien und der Episkopat in seiner Gesamtheit, inkludierten diese Bischöfe das Thema Menschenrechtsverletzungen teilweise in ihre religiöse Praxis, so wie Novak, der aus Anlass der Verleihung des Friedensnobelpreises einen Gebetstag für die desaparecidos organisierte.74 Auf symbolischer Ebene schloss er Pérez um den Preisträger anzugreifen, werden verstehen, dass sie so ihre Schäfchen nichts in Trockene bringen können.«). 72 Obispos argentinos, in: Paz y Justicia 79 (Oktober-November-Dezember 1980). 73 La Prensa, 14. November 1980, Demonstración al Premio Nobel de la Paz, zitiert nach Noticiero APDH 17 (November 1980). 74 El Obispo de Quilmes se refirió al premio Nobel de la Paz, in: AICA 1246 (6. November 1980).
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Esquivel in die katholische Kirche ein, als er in seiner Rede während der Feierlichkeiten konstatierte: »Er ist ein Mann der Kirche.«75 Bezogen auf den Episkopat vertrat er damit eine sehr kleine Minderheit. Auch unter den katholischen Stimmen war die Perspektive, Pérez Esquivel gehöre zur Kirche, ganz sicher kein vorherrschender Modus der Positionierung, auch wenn vor allem die progressiven Zeitschriften wie Actualidad Pastoral und Pan y Trabajo den Friedensnobelpreis begrüßten, ebenso wie die jesuitische Zeitschrift CIAS. Criterio dagegen stand dem Nobelpreisträger skeptisch bis ablehnend gegenüber, während Cabildo ihn sogar scharf verurteilte. Die hier analysierten Positionierungen machen einmal mehr deutlich, dass die Konfliktlinie bezüglich der Haltung der Menschenrechtsfrage nicht entlang des jeweiligen Status innerhalb der Institution Kirche verlief, sondern dass vor allem das individuelle Glaubens- und Kirchenverständnis der verschiedenen Akteur*innen für die jeweilige Positionierung wesentlich war. Für viele Aktivist*innen der Menschenrechtsbewegung jedenfalls stellte das Engagement Pérez Esquivels eine wichtige religiöse Praxis dar. Deshalb feierten die Madres de Plaza de Mayo den Friedensnobelpreis sowohl in La Plata als auch in Buenos Aires mit Gottesdiensten.76 Um diese Inklusion in das religiöse Ritual des Gottesdienstes möglich zu machen, nutzten die jeweiligen Gemeindepriester ihre Handlungsspielräume und boten der Menschenrechtsbewegung zumindest auf der Ebene der jeweiligen Gemeinde eine inkludierende Praxis an.77
75 El Obispo de Quilmes se refirió al premio Nobel de la Paz, in: AICA 1246 (6. November 1980), »Es un hombre de la Iglesia.«. 76 Pérez Esquivel, Premio Nobel de la Paz visitó la Ciudad de la Plata, in: Boletín Madres 3 (November 1980); Misa en la la capital en homenaje a Pérez Esquivel, ebd. 77 Siehe dazu Kapitel 6.
5.
Versöhnen, Vergessen, Reinterpretieren: Die Auseinandersetzungen um die Deutung der Diktatur und die Rolle der Kirche während der Transition (1981–1983)
Mit dem umfangreichen Dokument Iglesia y Comunidad Nacional, das auf der Bischofskonferenz im Mai 1981 beraten und schließlich nach einer langwierigen redaktionellen Bearbeitung am 30. Juni 1981 (mit dem Datum 8. Mai) veröffentlicht wurde, lieferte die Bischofskonferenz nach übereinstimmender Ansicht von Bonnin und Fabris eine Neubestimmung ihres Selbstverständnisses und ihres Verhältnisses zur Demokratie. Wie Bonnin detailliert herausarbeitete, wurde die in diesem Dokument propagierte »reconciliación« (Versöhnung) zu einem Leitthema des politischen Diskurses in den letzten Jahren der Militärdiktatur und darüber hinaus.1 Zugespitzt lässt sich für den Zeitraum ab 1981 sagen, dass bereits über die Bewertung und den künftigen Umgang mit der noch nicht vergangenen Militärdiktatur verhandelt wurde. Ihr Ende stand 1981 zwar noch nicht unausweichlich und unmittelbar bevor, aber es zeichnete sich zumindest als immer wahrscheinlicher ab. Canelo spricht für die letzten beiden Jahre der Militärdiktatur von einem fortschreitenden Zersetzungsprozess, dessen Beginn sie für Anfang 1981 konstatiert.2 Die Menschenrechtsbewegung und die politischen Parteien hatten sich so weit formiert, dass es ab 1981 wiederholt Massendemonstrationen gegen die Menschenrechtsverbrechen und die Diktatur im Zentrum von Buenos Aires gab. Den Anfang machten die Madres de Plaza de Mayo. Zu ihrem vierten Gründungstag kamen im April 1981 trotz des Demon1 Vgl. Bonnin 2012; Fabris, Mariano: Iglesia y democracia. Avatares de la jerarquía católica en la Argentina post autoritaria (1983–1989), Rosario 2011. 2 Vgl. Canelo, Paula Vera: »La legitimación del Proceso de Reorganización Nacional y la construcción de la amenaza en el discurso militar«, Sociohistórica, H. 9–10 (2001), S. 103–134, hier S. 104. Dabei ist dies nur eine Möglichkeit, den Wandel in den 1980er-Jahren festzumachen, der sich nicht punktuell, sondern als Prozess vollzieht. So schreibt Gorini über eine solicitada vom 12. August 1980, dass diese einen Wendepunkt markiere, da mit ihr etliche Intellektuelle und andere Akteur*innen von einer Unterstützung des Regimes zu einer Kritik an den Menschenrechtsverletzungen übergingen. Die Figur, mit der dieser Wandel legitimiert wurde, ist die Figur des »Gewahrwerdens« (»darse cuenta«) – es wurde also behauptet, man habe vorher nichts (oder nicht genug) gewusst, um die Menschenrechtsverbrechen kritisieren zu können. Gorini 2006, S. 395ff.
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strationsverbots um die 2000 Menschen auf der Plaza de Mayo zusammen.3 Am 15. Oktober riefen die Menschenrechtsorganisationen erstmals gemeinsam zu einer Demonstration auf. Am 10. Dezember 1981 fand dann die erste, 24 Stunden dauernde Marcha de la Resistencia statt, an der 150 Madres sowie ihre Familienangehörigen und Freunde teilnahmen. Am 11. Dezember kamen zur Demonstration der Madres Mitglieder weiterer Menschenrechtsorganisationen hinzu. Die Gesamtzahl der Teilnehmer*innen wird zwischen 1000 und 2500 geschätzt, auch die Presse berichtete über diesen Protestmarsch.4 Von da an wurde die Marcha de la Resistencia jährlich wiederholt. Im darauf folgenden Dezember 1982 war die Zahl der Protestierenden laut Presseberichten deutlich gestiegen und lag, je nach Schätzung, zwischen 7000 und 15000 Personen.5 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage einschneidend verändert, da das argentinische Militär mit der Niederlage im von ihm selbst provozierten Falkland/MalvinenKrieg im August 1982 auch Prestige und Rückhalt in der Bevölkerung verloren hatte. Die Rückkehr zur Demokratie galt seitdem als politische Gewissheit. Im Zeitraum bis zu ihrem endgültigen Abtreten am 10. Dezember 1983 versuchte die Militärjunta ein letztes Mal, eine eigene autoritative Deutung der Diktatur durchzusetzen, und brachte im April 1983 ein Abschlussdokument heraus, in dem sie die gewaltsame Repression als legitime Notwendigkeit eines ›schmutzigen Krieges‹ gegen die Guerilla präsentierte. Schon zu diesem Zeitpunkt ermöglichte das politische Klima der Transition eine kritische öffentliche Auseinandersetzung mit der Deutung der Junta, an der sich auch katholische Akteur*innen beteiligten. Entscheidend in diesem Prozess waren die Organisationen der Menschenrechtsbewegung, die sich zu einem zentralen politischen Akteur der Transition entwickelten. Am 30. Oktober 1983 fanden Wahlen statt, aus denen der radikale Kandidat Alfonsín als Sieger hervorging. Die nach dem Ende der Diktatur wiedergewonnenen politischen Freiheiten ermöglichten es einer Vielzahl von sozialen und politischen Akteur*innen, sich ohne die Gefahr der Repression öffentlich und kritisch zu artikulieren, so dass die massiven Menschenrechtsverletzungen und die Verantwortung der Täter ins Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung rückten. Die massenhafte, größtenteils sensationalistische Berichterstattung 3 Vgl. Jelin, Elizabeth: »Certezas, incertidumbres y búsquedas: El movimiento de derechos humanos en la transición«, in: Feld, Claudia/Marina Franco (Hg.), Democracia, hora cero. Actores, políticas y debates en los inicios de la posdictadura, Buenos Aires 2015, S. 195–223, hier S. 202. 4 La Prensa, 11. Dezember 1981, Iniciaron ayer una marcha de 24 horas las Madres de Plaza de Mayo. Der Protest der Madres wurde am 12. Dezember mit einer Fastenaktion in Quilmes und Neuquén fortgesetzt. Siehe Kapitel 6. 5 Vgl. Vázquez, Inés et al. (Hg.): Luchar siempre. Las marchas de la resistencia 1981–2001, Buenos Aires 2002. Es handelt sich um eine Darstellung der Geschichte der Marchas de la resistencia aus Akteurssicht.
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über Folter und Verschwindenlassen sowie die Funde immer neuer Massengräber und Folterzentren sorgten für eine anhaltende Präsenz des Themas. Neben der medialen Verbreitung von Informationen über die systematischen Menschenrechtsverletzungen erfolgte eine institutionelle Aufarbeitung der Verbrechen. Bereits fünf Tage nach seiner Vereidigung als Präsident rief Alfonsín am 15. Dezember 1983 die Wahrheitskommission CONADEP ins Leben, die genaue Daten über das Ausmaß und den Charakter der Repression erheben sollte. Ihr Bericht wurde im November 1984 vorgelegt.6 So spielten die Auseinandersetzungen um die Deutung und den Umgang mit der Diktaturvergangenheit in dieser Phase des politischen Wandels weiterhin eine wesentliche Rolle. Die Institution Kirche trat in der öffentlichen Debatte als Akteur auf, wurde gleichzeitig aber auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung, wenn über ihre Rolle während der Diktatur gestritten wurde. Die Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise das Etablieren bestimmter Deutungsmuster der Diktatur hatte nicht erst nach den Wahlen im Dezember 1983 begonnen, setzte sich aber ab 1984 mit verstärkter Vehemenz fort und legte bereits vorhandene Konfliktlinien vollständig offen. Auch wenn schon während der Diktatur immer wieder Enttäuschungen formuliert worden waren und Kritik an der Institution Kirche geübt worden war, gewannen die Vorwürfe vor allem seitens der Menschenrechtsbewegung an Schärfe. Sie verdichteten sich zum Bild der »Iglesia cómplice« (»Komplizen-Kirche«), das bis heute prägend für die Wahrnehmung des Verhältnisses von Kirchenoberen und Militärjunta geblieben ist. Insgesamt wurden die Äußerungen der Bischofskonferenz, mit denen jene damals versuchte, die Vorwürfe der Komplizenschaft und der unterlassenen Verteidigung der Menschenrechte zu entkräften, als Projekt der Selbstlegitimation und Repositionierung im neuen politischen Kontext des Übergangs zur Demokratie erkennbar.7
5.1
Die beginnende politische Öffnung und die Erwartungen an die Bischofskonferenz
Geprägt war der Beginn dieser Phase von einem gewandelten Sprechen über Menschenrechte. Nachdem 1980 die CIDH ihren Bericht vorgelegt hatte und den Menschenrechtsverletzungen spätestens mit der Nobelpreisverleihung an den Menschenrechtsaktivisten Pérez Esquivel im selben Jahr weltweite Aufmerksamkeit zuteil geworden war, war es für die Junta nicht mehr ohne weiteres 6 Vgl. Nunca más. Informe de la Comisión Nacional sobre Desaparición de Personas, Buenos Aires 2009. 7 Vgl. Ruz 2016.
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möglich, zu bestreiten, dass es Verschwundene gab. Entsprechend wandelte sich der Diskurs der Militärmachthaber, so dass die Junta Anfang der 1980er-Jahre zwar nicht mehr kategorisch die Existenz des Phänomens Verschwundene leugnete, aber weiterhin ihre Verantwortung bestritt. Zugleich schwand – unter anderem aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage – ihre Legitimität, und unterschiedliche soziale wie politische Akteur*innen erhoben öffentlich die Forderung nach Demokratisierung.8 Weitere Anzeichen für die graduelle politische Öffnung waren auch die vermehrte Berichterstattung über das Problem der desaparecidos und die Aktivitäten der Menschenrechtsbewegung. Die Dominanz des offiziellen Diskurses zum Thema Menschenrechte auf nationaler Ebene konnte jedoch erst nach der militärischen Niederlage im Malvinen/FalklandKrieg gebrochen werden.9 In diesem Zeitraum stellte das 1981 von der Bischofskonferenz veröffentlichte Dokument Iglesia y Comunidad Nacional eine wichtige Repositionierung der Institution Kirche dar. Nach dessen Veröffentlichung entwickelte es sich zu einer vielfach und in unterschiedlichster Weise verwendeten Legitimationsressource im Transitionsprozess von der Diktatur zur Demokratie. Ein zentrales Element war dabei die positive Bezugnahme auf die Demokratie, die im Dokument der Bischöfe als wünschenswerte Staatsform präsentiert wurde. Besonders in den Blick genommen werden im Folgenden die Erwartungen an die Institution Kirche im Moment dieses beginnenden politischen Wandels, insbesondere in Bezug auf die Menschenrechtsfrage und den Beitrag, den das Dokument zum Diskurs über Menschenrechtsverletzungen lieferte, sowie die verschiedenen Lesarten und Verwendungsweisen des Texts. Schon im Vorfeld der Bischofskonferenz im Mai war die Publikation eines Dokuments zur politischen Lage des Landes angekündigt worden, so dass der Prozess seiner Entstehung zeitgenössisch mit großem Interesse verfolgt wurde. Auch die Madres de Plaza de Mayo schrieben dem angekündigten Dokument eine große Bedeutung zu und unternahmen etliche Anstrengungen, um ihre Positionen und Forderungen Teil der offiziellen Haltung der Kirche werden zu lassen. So wandten die Madres sich am 1. April 1981 mit einem fünfseitigen Brief an die Bischofskonferenz und verliehen ihrer Forderung, von der Bischofskonferenz angehört zu werden, durch tagelange massive Präsenz vor dem Gebäude der Vollversammlung der Bischöfe in San Miguel Nachdruck.10 Der Brief vom 8 Vgl. Novaro/Palermo 2003, S. 461ff. 9 Vgl. Crenzel, Emilio A.: La historia política del »Nunca Más«. La memoria de las desapariciones en la Argentina, Buenos Aires 2008, S. 53. 10 Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Primatesta und die Bischofskonferenz, 1. April 1981, online: http://www.ruinasdigitales.com/revistas/ddhh/1981 – Carta del Serpaj.pdf (abgerufen am 5. April 2016), fälschlicherweise als Carta del SERPAJ bezeichnet, eigentlicher Urheber: Madres de Plaza de Mayo (am Logo, an der Selbstbezeichnung Madres de Plaza de Mayo im Text und den Unterschriften zu erkennen).
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1. April 1981 formulierte deutlich die Erwartungen an die katholische Kirche, die aus der Perspektive der Mütter der Verschwundenen als einzige zur Intervention fähige Institution adressiert wurde und deshalb, so die Madres, zu einer »Wahrheit und Gerechtigkeit«11 einschließenden Lösung beitragen könne und müsse. Mit diesen beiden Begriffen sprachen die Madres zwei zentrale Themen der Debatte um die desaparecidos zu diesem Zeitpunkt an. Zum einen sollte das Schicksal der Verschwundenen aufgeklärt werden (Wahrheit) und zum anderen sollten die Täter juristisch zur Verantwortung gezogen werden (Gerechtigkeit). Neben den Forderungen der Madres wurde in dem Brief explizit das spannungsreiche Verhältnis der Madres zur Bischofskonferenz angesprochen. So erinnerten sie daran, dass sie Jahr um Jahr viele Schreiben an die Bischöfe gesandt hatten, in denen sie ihre Hoffnungen und Erwartungen in Bezug auf die Dokumente der Bischofskonferenz geäußert hatten.12 Mit dem Verweis auf diese bereits fünf Jahre dauernde Praxis wurde der deutliche Hinweis verbunden, dass es auch Anfang 1981 noch immer notwendig sei, auf das Problem der desaparecidos aufmerksam zu machen. Wenn die Madres dabei formulierten, dass ihr Insistieren den Bischöfen als Wiederholung erscheinen mag, gaben sie einer erwarteten, erwartbaren oder an anderer Stelle bereits erfahrenen Reaktion auf ihr Anliegen Ausdruck und versuchten, diese rhetorisch abzufedern.13 Diese Antizipation einer Reaktion verweist zugleich auf den gewandelten Diskurs um Menschenrechte, in dem seitens der Junta das Ende der Repression behauptet und der Versuch unternommen wurde, das Thema der desaparecidos ad acta zu legen – unter anderem indem davon gesprochen wurde, die desaparecidos seien
11 Ebd., »Las Madres de Plaza de Mayo hace ya cinco años que presentan su problema a dicha Asamblea. […] En el archivo de la Asamblea Episcopal deben guradarse las cartas que fueron señalando, año tras año, nuestros dolores y nuestros decaímientos, y que expresaban, asimismo, las esperanzas que poníamos en los documentos que emitiría la Asamblea, por considerarlas el único órgano capaz de interceder y lograr una salida – la válida, la que se conjuga con ›verdad‹ y ›justicia‹ – para nuestro tremendo problema.« (»Die Madres de Plaza de Mayo präsentieren ihr Problem schon seit fünf Jahren der besagten Asamblea. […] Im Archiv der Bischofskonferenz müssten die Briefe aufbewahrt werden, die Jahr um Jahr unsere Schmerzen und unsere Niedergeschlagenheiten aufzeigten, und die zugleich die Hoffnungen ausdrückten, die wir in die Dokumente der Bischofskonferenz legten, weil wir sie für das einzige Organ halten, das fähig ist, einzuschreiten und eine Lösung zu erwirken – eine gültige Lösung, die sich verbindet mit Wahrheit und Gerechtigkeit – für unser fürchterliches Problem.«). 12 Ebd. 13 Ebd., »Insistir sobre el mismo podrá entonces parecer reiterativo a los señores Obispos. Pero a las madres, no. Las madres siguen esperando de los Ministros de la Iglesia de Cristo, su activa participación en la solución del problema de los desaparecidos.«(»Darauf zu insistieren könnte den Bischöfen als Wiederholung erscheinen. Aber den Madres nicht. Die Madres erwarten weiterhin von den Vertretern der Kirche Christi ihre aktive Partizipation an der Lösung des Problems der Verschwundenen.«).
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gar nicht verschwunden, sondern tot.14 Damit versuchte die Junta, die Frage nach den desaparecidos als Thema der Vergangenheit zu etablieren, so dass es öffentlich nur noch um die vermeintlich sachliche Bearbeitung dieser Vergangenheit gehen sollte, statt um die Lösung eines aktuellen, drängenden Problems.15 Gerade deshalb wiederholten die Madres in ihrem Schreiben an die Bischöfe, dass sie große Hoffnungen in die Würdenträger der katholischen Kirche setzten und eine »aktive Beteiligung an der Lösung des Problems der desaparecidos«16 erwarteten. Ihre an verschiedenen Stellen des Briefs vorgebrachten Ansprüche an die katholische Kirche leiteten sie – wie bei anderen Gelegenheiten auch – aus einem Kirchenverständnis her, in dem die Kirche als ›Stimme der Stimmlosen‹ fungieren sollte. Die Madres präsentierten eine essentialisierende Vorstellung vom ›Wesen der Kirche‹, in der ein Eintreten für die Menschenrechte dem »Geist der Kirche«17 entsprach, und beriefen sich dabei auf das Dokument der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Puebla. Der Konflikt um die Haltung der Institution Kirche zu Menschenrechtsverletzungen wurde zumindest an dieser Stelle vollständig ausgeblendet, so dass der Eindruck erweckt wurde, dass es sich um die Position der Kirche handelte. Zusammen mit den Bezügen zu Akteur*innen mit hohem symbolischem Kapital, wie dem lateinamerikanischen 14 Auf die Frage nach dem Verbleib der desaparecidos werden seitens der Militärmachthaber unterschiedliche Antworten gegeben, so dass der Eindruck entsteht, dass sie keine klare Strategie diesbezüglich verfolgten. Vor allem Anfang 1981 ging es um die Frage, ob davon auszugehen sei, dass die desaparecidos tot seien und ob die Junta dies bestätigen könne. Gegen die pauschale Erklärung, die desaparecidos seien tot und nicht verschwunden, wehrten sich die Madres mit dem Slogan: »Aparición con vida« (»Lebendiges Erscheinen«), mit dem sie auf die Täterschaft der staatlichen Sicherheitskräfte verwiesen und auf die Tatsache, dass die desaparecidos lebend verschleppt wurden und ihr vermeintlicher Tod nicht pauschal erklärt werden kann, sondern immer aufgeklärt werden muss. Gorini stellt detailliert dar, wie die Madres den Slogan entwickelten; Gorini 2006, S. 411ff. 15 Vgl. ebd., S. 358. 16 Das spanische Verb esperar kann sowohl »hoffen« als auch »erwarten« bedeuten. 17 Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Primatesta und die Bischofskonferenz, 1. April 1981, online: http://www.ruinasdigitales.com/revistas/ddhh/1981 – Carta del Serpaj.pdf (abgerufen am 5. April 2016, Urheber falsch angegeben, siehe Fußnote 10), »Las madres siguen esperando de los Ministros de la Iglesia de Cristo, su activa participación en la solución del problema de los desaparecidos. Porque censura a la violencia, la defensa de la dignidad del hombre, el repudio a la tortura, la protección al desvalido, el sentido de equidad, de justicia y de ética está en el espíritu mismo de la Iglesia, lo que se reafirma, con fuerza incontrastable, en el documento de Puebla, decíamos en nuestra carta del año anterior.«, (»Die Mütter erwarten weiterhin von den Vertretern der Kirche Christi ihre aktive Partizipation an der Lösung des Problems der Verschwundenen. Weil die Zensur der Gewalt, der Verteidigung der Würde des Menschen, die Ablehnung der Folter, der Schutz der Schutzlosen, das Gefühl der Rechtmäßigkeit, der Gerechtigkeit und der Ethik im Geist der Kirche enthalten sind, was mit unumstößlicher Kraft im Dokument von Puebla bestätigt wird, wie wir in unserem Brief vom vergangenen Jahr sagten.«).
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Bischofsrat CELAM und dem Papst, führte diese Art der Darstellung zu einer Erhöhung der Legitimität der eigenen Sprecherposition. Auf diese Weise wurde mit einem Zitat von Papst Johannes Paul II. ein Anspruch auf Wahrheit postuliert, der über die eigene Subjektivität hinauswies.18 Mit ihrer Bezugnahme auf die höchste kirchliche Autorität verliehen die Madres dem für sie zentralen Thema zusätzliches Gewicht. Der Begriff der Wahrheit umfasste die Forderung nach umfassender Aufklärung der Fälle der Verschwundenen, die auch eine Ermittlung der Täter einschloss. Er diente als Gegenbegriff sowohl zum Vergessen als auch zum Schweigen, die beide als Strategien der Junta im Umgang mit den desaparecidos seitens der Madres deutlich benannt wurden. Auch die Täterschaft der Sicherheitskräfte wird im Schreiben der Madres an die Bischöfe eindeutig angesprochen. Ebenso entschieden wiesen die Madres die immer wieder vorgebrachten Behauptungen zurück, man wisse nichts über die Täter und hätte keine Gewissheit über die staatliche Beteiligung an den Menschenrechtsverbrechen. Auch die Bischöfe wüssten, so wie jedermann, der die Zeitung lese, genau Bescheid über die Repression, nicht zuletzt aufgrund der vielen Informationen über desaparecidos, die ihnen die Angehörigen Jahr um Jahr zugeschickt hatten, hielten die Madres unmissverständlich fest.19 In diesem Brief ist zwar keine explizite Selbstbeschreibung zu finden, die die Madres als katholisch ausweist, es sind jedoch immer wieder religiöse Diskurselemente enthalten, die als Zugehörigkeitsmarker wirken. So sprachen die Madres vom »Martyrium« ihrer verschwundenen Kinder, beschrieben die Situation der Verschwundenen und die ihrer Angehörigen als »Hölle« und sprachen davon, dass diese »nie dagewesene Tragödie« eine »Situation der Sünde« sei.20 Sich selbst bezeichneten die Madres unter anderem als »los que no tienen voz«, also als die, die keine Stimme haben, und setzten damit einen positiven Bezug zur postkonziliaren Erneuerung in Lateinamerika, für die das Einstehen für die Armen und Entrechteten in den 1960er und 1970er Jahren besondere Bedeutung gewonnen hatte. Auf diese Weise schrieben sich die Madres, auch wenn nicht alle dem katholischen oder christlichen Glauben angehörten, diskursiv in die Gemeinschaft der Gläubigen ein. Darüber hinaus betonten sie die 18 Ebd. Die Madres zitierten eine Botschaft von Johannes Paul II. zum Weltfriedenstag 1979: »Restaurar la verdad es ante todo llamar por su nombre los actos de violencia bajo todas sus formas.« (»Die Wahrheit wiederherzustellen ist vor allem, die Akte der Gewalt in allen ihren Ausprägungen beim Namen zu nennen.«). 19 Ebd. 20 Ebd., »Y de este lado de ese infierno, en este mundo real, la voz de sus familiares. La otra vertiente del dolor de esta tragedia inédita, de esta situación de pecado, de un pecado de injusticia lamentablemente inventado en la Argentina.« (»Und von dieser Seite dieser Hölle, in dieser realen Welt, die Stimme ihrer Angehörigen. Der andere Aspekt dieser noch nie dagewesenen Tragödie, dieser Situation der Sünde, einer Sünde der Ungerechtigkeit, die leider in Argentinien erfunden wurde.«).
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moralische Dimension des Problems der desaparecidos, so dass ihre Sprecherposition gegenüber den Bischöfen an Bedeutung gewann und der Druck auf die kirchlichen Würdenträger erhöht wurde. Zugleich artikulierten sie erneut ihren Anspruch auf Integration und Repräsentation durch die Institution Kirche. Wie konfliktreich und spannungsgeladen das Verhältnis der Madres zur Institution Kirche und insbesondere zur argentinischen Bischofskonferenz zu diesem Zeitpunkt war, wird nicht nur an dem bereits erwähnten Verweis auf das langjährige Einfordern von Unterstützung deutlich, sondern auch an etlichen anderen Stellen des Briefs. Immer wieder bezogen sich die Autorinnen auf Autoritäten beziehungsweise autoritative Texte des religiösen Felds, wie Äußerungen des Papstes oder der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, um ihre Vorstellungen von Kirche und der ihr zugeschriebenen Verpflichtung zur Intervention zugunsten der desaparecidos zu legitimieren. Auffällig ist, dass die Dokumente der Bischofskonferenz, im Gegensatz zum Dokument von Puebla oder den Äußerungen des Papstes Johannes Paul II., die wörtlich zitiert wurden, nur punktuell als Referenz dienen. In ihrem Schreiben beziehen sich die Madres positiv auf das Dokument der argentinischen Bischöfe vom Mai 1977 und erwähnen das Dokument über den Dialog vom April 1980, mit dem – so die Madres – sich die Kirche zur Mittlerin derer, »die keine Stimme haben«, erhob. Diese beiden Schriftstücke bleiben jedoch die einzigen positiven Bezüge zur argentinischen Bischofskonferenz, so dass hier eine gewisse Distanz markiert wurde. Interessant ist, dass sich die Madres, wenn sie über die Bischofskonferenz vom Mai 1977 sprachen, statt aus dem Dokument der Bischofskonferenz von 1977 zu zitieren, auf Hirtenbriefe der Bischöfe Novak und Hesayne stützten.21 Die dort entnommenen Passagen nutzten die Madres als Quelle für ihren religiös begründeten Diskurs zur Verteidigung der Menschenrechte. Damit wird – ohne dass dies explizit gemacht werden musste – deutlich, dass die Menschenrechtsgruppe der Madres sich diesen Bischöfen und ihrem Umgang mit der Repression in besonderer Weise verbunden fühlte. Zugleich wurde damit erneut auch der Dissens mit der Bischofskonferenz, verstanden als offizieller Repräsentanz der katholischen Kirche in Argentinien, ausgedrückt. Dass dieser Dissens auch den Adressaten ihres Briefes nicht verborgen bleiben konnte beziehungsweise ihnen ohnehin zu Genüge bekannt war, muss den Madres beim Abfassen bewusst gewesen sein. So begegneten sie dem potentiellen Vorwurf, unbotmäßige Kritik an der Kirche zu üben, mit dem expliziten Hinweis, es gehe nicht darum, die Kirche zu kritisieren, sondern darum, eine von ihnen, den Madres, erfahrene
21 Auch wenn die Madres sich auf das Dokument vom Mai 1977 bezogen, zitierten sie einen Hirtenbrief Hesaynes zu diesem Dokument und nicht das Dokument selbst. Das einzige wörtliche Zitat stammte aus dem Dokument der Bischofskonferenz vom April 1980.
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Realität darzulegen und eine eindeutige Stellungnahme der Kirche zu erbitten.22 Trotz dieses gewissermaßen präventiv formulierten Dementis blieb die Kritik an der Institution deutlich erkennbar, wenn die Madres davon sprachen, dass sie vergeblich darauf gewartet hätten, dass sich eine wirkmächtige Stimme erhebe für sie, die sie ›ohne Stimme sind‹. Wenn sich eine Stimme erhoben haben sollte, so die Madres, dann hätten sie nichts davon erfahren, denn eine Änderung der Situation sei nicht eingetreten.23 Wie an anderer Stelle formulieren auch hier die Madres die Erwartung, dass ein klares Eingreifen der Institution Kirche einen wesentlichen Unterschied machen würde beziehungsweise gemacht hätte. Zugleich spielten die Madres auf die bisherigen öffentlichen wie auch nicht-öffentlichen Beiträge der Bischofskonferenz zum Thema Repression und desaparecidos an, die als zu zaghaft und deshalb wirkungslos angesehen wurden, vor allem dann, wenn sie geheim gehalten wurden.24 Die Perspektive, dass das bisherige Agieren ungenügend sei, ist ebenfalls erkennbar, wenn die Madres de Plaza de Mayo neben dem Sprechen das Handeln der Kirche einforderten.25 Implizit erkannten die Madres damit an, dass die Bischofskonferenz bereits Äußerungen im Sinne der Madres getätigt hatte, auch wenn sie diese für unzureichend und wirkungslos hielten. Inwiefern es sich dabei um eine strategische Anerkennung der positiv auf Menschenrechte bezogenen Fragmente des offiziellen kirchlichen Diskurses handelt, ist anhand der vorliegenden Quellen schwer abzuschätzen und verweist erneut auf das ambivalente und konfliktreiche Verhältnis zwischen den Madres de Plaza de Mayo und der Bischofskonferenz. So forderten die Madres die Bischofskonferenz auf, sich klar und deutlich zu positionieren und in das Gewaltgeschehen einzugreifen, kritisierten sie aber gleichzeitig auch für ihr bishe22 Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Primatesta und die Bischofskonferenz, 1. April 1981, online: http://www.ruinasdigitales.com/revistas/ddhh/1981 – Carta del Serpaj.pdf (abgerufen am 5. April 2016, Urheber falsch angegeben, siehe Fußnote 10), »pedimos una clara definición de la Iglesia«. 23 Ebd., »Nosotras sentimos que integrábamos ese enorme grupo de ›los que no tienen voz‹, porque pocos habían gritado con nosotras nuestras denuncias y apoyado nuestros reclamos. Y esperamos. Pero si esa voz se levantó, si fue nuestra intérprete, no lo supimos porque nada cambió.« (»Wir fühlten, dass wir zu dieser enormen Gruppe jener gehörten, die ›keine Stimme haben‹, denn nur wenige haben mit unseren Klagen geschrien und unsere Forderungen unterstützt. Und wir warteten. Aber wenn diese Stimme sich erhoben haben sollte, wenn sie unser Mittler gewesen sein sollte, so erfuhren wir es nicht, denn es änderte sich nichts.«). 24 Ebd., »[…] en otra oportunidad elaboró un documento secreto, lo que no fue efectivo […]«. (»[…] bei anderer Gelegenheit erarbeitete sie ein geheimes Dokument, was nicht wirksam war […]«). 25 Ebd., »[…] venimos a pedir a esta Asamblea que sea voz y acto en la solución de este dramático problema […]« (»[…] Wir sind gekommen, um diese Versammlung zu bitten, Stimme und Werk zu sein für die Lösung dieses dramatischen Problems […].«).
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Versöhnen, Vergessen, Reinterpretieren
riges Agieren, wobei das Bemühen erkennbar ist, die Institution Kirche als Legitimitätsressource für die Menschenrechtsbewegung nicht vollständig zu diskreditieren. Es ist davon auszugehen, dass die Vorsicht und die Vorwegnahme potentieller Kritik von den Madres auch strategisch begründet war, wobei jedoch die emotionale Zugehörigkeit vieler Madres zum Katholizismus und damit auch zur Institution Kirche nicht außer Acht gelassen werden darf. Neben den strategischen Erwägungen dürfte auch das bei vielen Madres vorhandene Gefühl der Verbundenheit dazu beigetragen haben, keinen drastischen Bruch mit der Institution zu formulieren und weiterhin Hoffnung auf ein aktives Eingreifen zu hegen, auch wenn die Erwartungen in den vergangenen Jahren immer wieder enttäuscht worden waren. Zudem ist an dem Brief erkennbar, dass an den Erwartungen gegenüber der Institution Kirche festgehalten wurde. Auf diese Weise bekräftigten die Madres ihren normativen Anspruch an die Kirche als politischen Akteur, den sie an anderer Stelle explizit formuliert hatten.
5.2
Im Herzen der Kirche oder an den Rand gedrängt? – Die Madres de Plaza de Mayo und die Bischofskonferenz im Mai 1981
Das konfliktive Verhältnis zwischen den Madres de Plaza de Mayo und der Bischofskonferenz zeigte sich ebenso deutlich an der Frage, ob die Bischofskonferenz die Madres während ihrer Vollversammlung empfangen werde, wie die Madres auch im Mai 1981 forderten. In den Jahren seit dem Putsch 1976 hatten die Madres immer wieder versucht, offiziell von der Bischofskonferenz empfangen zu werden, wurden jedoch zu keinem Zeitpunkt zur Vollversammlung vorgelassen, sondern bekamen höchstens die Gelegenheit zum Gespräch mit einigen wenigen Bischöfen. Die Madres empfanden dies als große Niederlage und versuchten bei jeder Zusammenkunft der argentinischen Bischofskonferenz erneut zur Vollversammlung vorzudringen. Im Mai 1981 wurde darüber sogar in der Tagespresse berichtet. Mit der Presse als Beobachter änderte sich auch der Handlungsrahmen der Akteur*innen, die jetzt davon ausgehen konnten, dass ihr Handeln zumindest in Teilen öffentlich bekannt und beurteilt werden würde. Im Vordergrund stand für die Madres, ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen und – wortwörtlich – von allen Bischöfen angehört zu werden, damit diesen das Ausmaß und die Dramatik des Problems der desaparecidos bewusst werde und sie in der Folge kollektiv als offizielle Repräsentanten der Institution Kirche den Kampf der Madres unterstützten. Über das unmittelbare Anliegen der Madres hinaus, Informationen zu vermitteln und Überzeugungsarbeit zu leisten, hatte der Konflikt um den Zugang zur Bischofskonferenz eine symbolische Dimen-
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sion, in der das Verhältnis der Madres zur Institution Kirche verhandelt und dargestellt wurde. Auch wenn verfahrenstechnisch nicht immer alles, was zur offiziellen Position der katholischen Kirche eines Nationalstaats wird, in der Bischofskonferenz abschließend beraten wird26, so gilt sie dennoch als kirchliche Instanz mit den größten Möglichkeiten innerhalb eines nationalstaatlichen Territoriums, wenn es darum geht, die offizielle Linie der katholischen Kirche in einem Land zu bestimmen.27 Zusammen mit den weiteren Organen der Bischofskonferenz repräsentiert sie die katholische Kirche auf nationalstaatlicher Ebene und kann deshalb als Zentrum der katholischen Kirche in Argentinien begriffen werden. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Forderung der Madres, zur Bischofskonferenz vorgelassen zu werden, auf symbolischer Ebene den Anspruch beinhaltete, von der Institution ohne Vorbehalte integriert und repräsentiert zu werden. Letztlich wäre damit ihren Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte höchste institutionelle Legitimität zuteil geworden, die vor dem Hintergrund der proklamierten christlichen Gesinnung der Militärjunta weiter an Gewicht gewonnen hätte. Aber auch im Mai 1981 kam es nicht dazu, dass die Madres vor allen Bischöfen sprechen konnten. Trotzdem fanden am Rande der Bischofskonferenz immer wieder Interaktionen zwischen den Müttern der Verschwundenen und einigen Bischöfen statt. Laut einer in der AICA abgedruckten Pressemitteilung der Bischofskonferenz gab es an dem Tag drei offizielle Treffen unterschiedlicher Bischöfe mit den Madres.28 Das Veröffentlichen der Pressemitteilung ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang, denn bis dato hatte sich die CEA noch kein einziges Mal zur Präsenz der Madres oder anderer Menschenrechtsorganisationen am Rande der Vollversammlung geäußert. Das erste Treffen fand am Vormittag statt, das zweite am Nachmittag und das dritte am Abend gegen 20 Uhr. Zunächst wurden die Bischöfe Alemán und García aus der Vollversammlung heraus zu den Madres geschickt.29 In einem Pressebeitrag von La Prensa wurde über die Begebenheit relativ detailliert berichtet. So erfuhren die Leser*innen, dass die Unterredung am Vormittag etwa eine Stunde gedauert hatte, im Stehen in den Gärten des Tagungsgebäudes stattgefunden hatte und bis auf einige
26 Vgl. Bonnin 2012, S. 18f. 27 Inwieweit die Bischofskonferenz strukturell ein geeigneter Ort ist, um die Menschenrechte zu verteidigen, wird mit Blick auf die innerkirchlichen Strukturen und insbesondere die Diözesanebene in Kapitel 7 und 8 diskutiert. 28 Familiares de presos y desaparecidos, in: AICA 1237 (14. Mai 1981). 29 Es existieren unterschiedliche Darstellungen dazu, in wessen Namen oder Auftrag die Bischöfe zu den Madres kamen. Laut Gorini waren sie von der Vollversammlung delegiert worden (Gorini 2006, S. 451), in der Tageszeitung La Prensa stand, sie seien als Delegierte der Comisión Ejecutiva geschickt worden. La Prensa, 5. Mai 1981, Hubo una reunión con madres y parientes de desaparecidos.
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lautstarke Kommentare und Unterbrechungen insgesamt »normal«30 verlaufen sei. Der Artikel lässt keinen Zweifel daran, dass es zum einen um die Situation der desaparecidos und zum anderen um die Haltung der Kirche zur Menschenrechtsfrage ging, auch wenn der Begriff Menschenrechte nicht explizit erwähnt wurde. Dementsprechend wurde die direkte Konfrontation der Madres mit den beiden anwesenden Bischöfen umfangreich dargestellt, auch über das Erscheinen weiterer Bischöfe, darunter Nevares, gegen Ende des Gesprächs wurde berichtet. Ihre Forderungen brachten die Menschenrechtsaktivistinnen durch das Verlesen ihres Briefs an die Bischofskonferenz, im Gespräch und durch Zwischenrufe zum Ausdruck.31 In dem Zusammentreffen der Familienangehörigen von Verschwundenen mit den Bischöfen Alemán und García wurde der Konflikt um die verweigerte Repräsentation und Integration der Menschenrechtsaktivist*innen seitens der Institution Kirche offen artikuliert. Im Gespräch reagierten die Bischöfe laut der Darstellung in La Prensa auf die Forderung nach einer »konkreten und unmittelbaren Antwort«32 mit einer Verteidigung des bisherigen Agierens der Bischofskonferenz. So legten die Bischöfe dar, dass der Episkopat sich sowohl für die »öffentliche Anklage«33 als auch für ein »konstantes privates Insistieren gegenüber den Autoritäten«34 entschieden habe. Mit der zweitgenannten Strategie habe man nicht wenige Freilassungen erreichen können, argumentierten die Bischöfe. Bezogen auf das Verhältnis von Episkopat und Menschenrechtsbewegung behauptete der Bischof Alemán, dass der Episkopat durch die drei Bischöfe Nevares, Novak und Hesayne in der Menschenrechtsorganisation APDH vertreten sei. La Prensa zitierte Aléman mit den Worten, die drei genannten Bischöfe seien dort »por delegación«35, also als Delegierte. Die Aussage ist sachlich nicht richtig, denn die genannten Bischöfe waren aus eigenem Antrieb aktiv und keineswegs als Vertreter der Bischofskonferenz. Im Gegenteil, ihr Engagement wurde nicht offiziell unterstützt und von anderen Bischöfen immer wieder in Frage gestellt. Ganz deutlich wurde das Missfallen über den Menschenrechts30 La Prensa, 5. Mai 1981, Hubo una reunión con madres y parientes de desaparecidos. 31 Ebd., »Una de las mujeres leyó una nota dirigida al presidente del episcopado, en la que se plantea el problema de las personas desaparecidas, se insiste en recurrir al auxilio de la Iglesia ante ›la angustia creciente por la injustificada negativa del gobierno‹ a brindar explicaciones y puntualizan que ›el transcurso del tiempo no disminuye la gravedad del problema‹.« (»Eine der Frauen las einen an den Präsidenten des Episkopats gerichteten Brief, in dem das Problem der verschwundenen Personen dargelegt wurde, man insistierte darauf, die Hilfe der Kirche in Anspruch zu nehmen angesichts ›der wachsenden Angst wegen der ungerechtfertigten Weigerung der Regierung‹ Erklärungen zu liefern und stellten klar, dass ›das Vergehen der Zeit nicht die Schwere des Problems verkleinert‹.«). 32 Ebd. 33 Ebd., »denuncia pública«. 34 Ebd., »una persistente insistencia privada ante las autoridades«. 35 Ebd.
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aktivismus anhand eines Schreibens einer Gruppe von Bischöfen an Kardinal Primatesta, die Nevares wegen seiner Mitarbeit in der APDH scharf kritisierten.36 Angesichts der Konflikte, die diese Bischöfe aufgrund ihres Menschenrechtsengagements mit etlichen ihrer Amtsbrüder hatten, handelte es sich um einen Versuch, sie an dieser Stelle für die Konstruktion eines positiven Bildes der Bischofskonferenz zu vereinnahmen. Zudem ist die Aussage des Bischofs Alemán ungenau, da nicht alle drei Bischöfe in der APDH aktiv waren, sondern nur Nevares und Hesayne, während Novak im MEDH organisiert war. Damit offenbarte Alemán, dass sein Wissen um die Menschenrechtsarbeit seiner Amtsbrüder sehr begrenzt war, was wiederum darauf hinweist, dass ihrem Engagement keine große Bedeutung beigemessen wurde. Laut Gorinis Darstellung der Episode rief der Vereinnahmungsversuch massiven Unmut bei den Madres hervor, die zur Genüge um die Konflikte unter den Bischöfen wussten, und war zumindest bei den anwesenden Menschenrechtler*innen nicht erfolgreich. In dem Presseartikel blieb die Behauptung, die Bischofskonferenz sei durch ihre Delegierten in der Menschenrechtsbewegung aktiv, jedoch unwidersprochen, so dass eigentlich nur Kenner*innen des Gefüges der Menschenrechtsbewegung wissen konnten, dass die Aussage falsch war. Der dargestellte Vereinnahmungsversuch belegt außerdem, dass den in dieser Situation stellvertretend agierenden Bischöfen zum einen bewusst war, wie ihre Haltung zu den Menschenrechtsverbrechen von den Betroffenen interpretiert wurde, und zum anderen, dass sie dieser Interpretation wenig entgegenzusetzen hatten. Andernfalls wäre es nicht nötig gewesen, den individuellen und gegen Widerstände ausgeübten Menschenrechtsaktivismus einiger weniger Bischöfe als offiziell beauftragtes und autorisiertes Handeln auszugeben. Durchgedrungen ist in der Presseberichterstattung hingegen der lautstarke Protest der Madres gegen die »privaten Verhandlungen«37 zwischen Kirchenoberen und Militärmachthabern. Aus ihrer Perspektive war diese Strategie klar »gescheitert«.38 Neben der offenen Kritik am Agieren der Bischofskonferenz wurde die Forderung nach einer inkludierenden religiösen Praxis artikuliert, als eine der Anwesenden vorschlug, alle Mitglieder der Bischofskonferenz sollten mit den Angehörigen der desaparecidos sofort an Ort und Stelle zu einer »vigilia de oración« (Gebetsnacht) zusammenkommen.39 Ein solches gemeinschaftlich und öffentlich vollzogenes Gebet hätte eine gemeinschaftsstiftende Wirkung haben und das Gefühl von Zugehörigkeit zur Kirche unter den Angehörigen der Verschwundenen hervorrufen können. Darüber hinaus wäre es als symbolische Legitimierung 36 Archiv Pastoral de Migraciones (Neuquén), Reunión Episcopal del N.O.A. an Kardinal Primatesta, 7. Februar 1978 [Kopie aus dem BAN, Carpeta Obispos Argentinos]. 37 La Prensa, 5. Mai 1981, Hubo una reunión con madres y parientes de desaparecidos. 38 Ebd. 39 Ebd.
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des Protests verstanden worden, wenn gemeinsam für die Verschwundenen gebetet worden wäre. Jedoch gab es während des gesamten Verlaufs der Bischofskonferenz keinerlei religiöse Praxis, an der die Mitglieder der Bischofskonferenz und die Menschenrechtsaktivist*innen gemeinsam teilgehabt hätten. Nach Ablauf einer Stunde ging es, laut Darstellung der Presse, tumultartig zu, als einige Bischöfe nach dem ersten Sitzungsblock in den Garten kamen und von den Menschenrechtsaktivist*innen umringt wurden. Unter ihnen war auch der Bischof Nevares aus der patagonischen Provinzdiözese Neuquén. Viele der Anwesenden kannten ihn und begrüßten ihn überschwänglich. Ihre emotionale Verbundenheit mit ihm bildet in dem Pressebericht einen deutlichen Kontrast zu dem Zusammentreffen mit den anderen Bischöfen. Nevares schaltete sich in das Gespräch ein und teilte mit, dass das Thema der desaparecidos in der Vollversammlung der Bischöfe aufgekommen sei und man sicher später noch ausführlicher darüber sprechen werde. Zudem, so Nevares, enthalte der Entwurf des Dokuments der Bischöfe einen Bezug zu den desaparecidos. Er reagierte damit auf die Erwartungen der Madres, die er aufgrund seiner Menschenrechtsarbeit gut kannte und ihre Anliegen deshalb nicht erneut vor Ort gehört haben musste, um auf sie eingehen zu können, und versuchte, eine Mittlerposition zwischen der Gruppe der Bischöfe und den Menschenrechtsaktivistinnen einzunehmen. Am Nachmittag kamen dann die Bischöfe Zaspe und Di Stéfano zu den Madres, um mit ihnen zu sprechen, denn diese bestanden laut Presseberichten darauf, zur Bischofsversammlung vorgelassen zu werden, und taten kund, im Zweifelsfall über Nacht vor dem Gebäude auszuharren, bis ihrem Ersuchen stattgeben werde.40 Die vorhandenen Quellen legen nahe, dass der von den Madres ausgeübte Druck zumindest insofern Erfolg zeigte, als sich die Bischofskonferenz ausführlich mit ihnen und ihrem Anliegen befassen musste. So beriet sich die Bischofskonferenz am späten Nachmittag in der Angelegenheit und beschloss nach einer intensiven Debatte per Abstimmung, dass man die Madres de Plaza de Mayo nicht in der Vollversammlung empfangen werde.41 Die Notizen der Bischöfe Nevares und Devoto zu dieser Debatte in der Bischofskonferenz sind formal sehr unterschiedlich, stimmen aber im Wesentli40 La Prensa schrieb, dass die Madres die ganze Nacht dort verbringen wollten, bis sie angehört werden würden. Um 18 Uhr änderte die Asamblea die Tagesordnung, um die Lage zu analysieren. In der Asamblea soll eine Stunde über die Forderungen der Madres debattiert worden sein, dann wurde entschieden, eine Kommission zu bilden (Zaspe und Di Stéfano), die zwei aus der Gruppe der Madres und eine aus der Madres de detenidos um 21 Uhr empfangen sollte, was dann auch geschah, La Prensa, 5. Mai 1981, Inició sus deliberaciones la Asamblea del Episcopado. 41 Notiz, am Rand versehen mit der Uhrzeit 18 Uhr: »Card. PRIMATESTA. Las Madres. Transmite el pedido de las Madres. Amplia discusión, bastante movida«, BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981. (»Card. PRIMATESTA. Die Madres. Überbringt das Ersuchen der Madres. Breite Diskussion, ziemlich bewegt.«).
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chen überein. Während Nevares festhielt, wer von den Bischöfen sich in der Diskussion für und wer sich gegen den Empfang der Madres durch die Vollversammlung äußerte, ohne die Argumente im Einzelnen aufzuzeichnen, verhält es sich bei Devoto genau andersherum. Er notierte die genannten Argumente, ohne jedoch zu notieren, von wem sie vorgebracht wurden. Obwohl die Aufzeichnungen zunächst wie die komplementären Teile eines Puzzles wirken, ist es nicht möglich, die Argumente zweifelsfrei den jeweiligen Bischöfen zuzuordnen, da Nevares die Namen als Aufzählung, unterteilt in Pro und Contra, festgehalten hat und nicht in der Reihenfolge der Interventionen, und Devoto nicht alle genannten Argumente notiert zu haben scheint. Übereinstimmend hielten beide jedoch explizit fest, dass es sich um eine lange und kontrovers geführte Debatte gehandelt hat. Nevares’ Charakterisierung als »ziemlich bewegt«42 deutet zudem auf die emotionale Intensität hin, mit der über den Empfang der Madres gestritten wurde. Während Nevares’ synthetische Notizen fast nichts über die konkreten Inhalte der Debatte aussagen, finden sich bei Devoto viele der geäußerten Argumente sowie Aufzeichnungen der Aspekte, die die Bischofskonferenz für bedenkenswert hielt. Dabei lassen sich Stellungnahmen identifizieren, die auf einer religiös-pastoralen Ebene angesiedelt waren,43 und andere, die stärker auf die Rolle der Kirche und ihre Beziehung zu den Opfern der Repression Bezug nahmen. So wurde darauf hingewiesen, dass das Vertrauen, das die Angehörigen der Verschwundenen in die Bischofskonferenz setzten, berücksichtigt werden müsse. Der Bericht über das spontane Gespräch am Rande der Bischofskonferenz betonte noch einmal, dass den Müttern der Verschwundenen die Kirche als »einzige Zuflucht«44 erscheine. Wie die Aufzeichnungen zeigen, war den Bischöfen bekannt, dass die Madres darauf bestanden, angehört zu werden, und angekündigt hatten, während der sechs Tage dauernden Bischofskonferenz vor dem Gebäude ausharren zu wollen. Somit standen sowohl die klare Erwartungshaltung als auch der Nachdruck, mit dem sie artikuliert wurde, den Bischöfen klar vor Augen, als sie über den Wunsch der Madres entschieden, vor der Vollversammlung zu sprechen. Weitere Einlassungen verschiedener Bischöfe zeigen eine Tendenz, eine positive Reaktion 42 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981. »bastante movida«. Devoto notiert unmittelbar vor dem Abstimmungsergebnis: »Se siguen intercambiando opiniones largamente con disposiciones distintas y posiciones opuestas.« (»Man tauscht weiterhin über lange Zeit Meinungen aus mit unterschiedlichen Dispositionen und gegensätzlichen Positionen.«), BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1981. 43 Beispielsweise: »Necesidad de extremar nuestro tacto pastoral« oder »Necesidas de un testimonio de amor por encima de las divisiones«, »Hacerlo con un auténtico sentido de MISERICORDIA«, ebd. (»Notwendigkeit uns größte Mühe mit unserem pastoralen Fingerspitzengefühl zu geben« oder »Notwendigkeit eines Zeugnisses der Liebe über die Spaltungen hinweg«, »Es mit einem wahrhaften Sinn der BARMHERZIGKEIT tun«.). 44 Ebd., »la I. aparece como único refugio.«.
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der Kirche als Pflicht oder Notwendigkeit darzustellen, wobei eine Begründung für diese Position nicht aufgezeichnet wurde. Interessant ist die Äußerung, dass man bedenken müsse, dass der Papst die Madres in Brasilien empfangen habe. Damit wird darauf verwiesen, dass die Menschenrechtsaktivistinnen innerhalb der hierarchischen Struktur der Kirche bereits legitimiert worden waren. Dieser Verweis lässt sich insgesamt als Argument für einen offiziellen Empfang der Mütter der Verschwundenen lesen, weil so das Handeln des argentinischen Episkopats im Einklang mit dem des Papstes gewesen wäre. Insgesamt überwiegen in den Aufzeichnungen Devotos die Pro-Argumente, wobei dies eher der Priorisierung durch den aufzeichnenden Bischof geschuldet zu sein scheint als der tatsächlichen Verteilung, denn Nevares notierte namentlich sieben Bischöfe unter der Rubrik »a favor de recibir« und ebenfalls sieben Bischöfe unter dem Rubrum »contra«45. Zugänglich und eindeutig zuzuordnen ist hier allein der Beitrag von Bischof Nevares, den er auf einem Sprechzettel vorbereitet hatte. Es darf zwar nicht vorausgesetzt werden, dass er genau das sagte, was er sich zuvor notiert hatte, aber es ist anzunehmen, dass er zumindest wesentliche Teile der zuvor notierten Argumente auch vortrug.46 In jedem Fall gewährt dieser Sprechzettel Einblick in seine Überlegungen zur Debatte der Bischöfe. Nevares thematisierte unter anderem den umfassenden Kenntnisstand der Bischöfe in Sachen Menschenrechtsverletzungen, der auch das Wissen um die Verantwortung der Regierung für die Verbrechen einschloss, »bis in die Spitze hinauf«47. Er bezog sich positiv auf zwei nicht öffentliche Dokumente der Comisión Permanente an die Junta, die er als Intervention zugunsten der Menschenrechte interpretierte, jedoch nicht ohne sie zu der anhaltenden Weigerung, die Angehörigen der Repressionsopfer zu empfangen, in scharfen Gegensatz zu bringen. Zentral sind auch Nevares’ Darlegungen über das Verhalten von Priestern gegenüber den Madres und anderen Menschenrechtsaktivist*innen und die daraus resultierenden Konsequenzen. Er notierte Ereignisse, bei denen sich Priester abweisend bis feindselig gegenüber den Madres verhalten hatten. Er erwähnte beispielsweise einen Fall, in dem Kirchentüren zugesperrt wurden, damit die Madres nicht in die Kirche gelangen konnten oder einen anderen Fall, in dem ein Priester sich weigerte, den Namen eines desaparecido in einer Messe zu nennen und auf die Anfrage mit dem Vorwurf reagierte, die Angehörigen des Verschwundenen würden ihn gefährden. Das Resultat sei, so hält Nevares fest, 45 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981. 46 Ebd. 47 Ebd., »[…] sabemos (nuestro memorandum, Gral. Riveros, Gral. Galtieri etc. etc.) que este Gobierno hasta los más altos (Junta Militar) son responsables de todas las violaciones a la dignidad del h. [hombre, B.R.] andere« (»[…] wir wissen (unser Memorandum, Gral. Riveros, Gral. Galtieri etc. etc.), dass diese Regierung bis in die Spitze hinauf (Militärjunta) verantwortlich ist für alle Verletzungen der Würde des M[enschen].«).
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dass sich die Angehörigen von der Kirche verlassen fühlten und sich teilweise anderen Religionsgemeinschaften zuwandten.48 Damit sprach er eines der zentralen Probleme im Verhältnis zwischen der Institution Kirche und den Angehörigen der Verschwundenen an. Letztere sahen sich von der Institution nicht repräsentiert und in einer Weise marginalisiert, dass es für viele schwierig wurde, die emotionale Zugehörigkeit zur Institution Kirche bruchlos aufrechtzuerhalten. Der Umgang mit dieser Situation mündete aber nicht unweigerlich in einer Exit-Option, sondern brachte ein oftmals ambivalentes und konfliktives Verhältnis zur Institution hervor. Die affektive Bindung konnte teilweise durch die Verlagerung von Zugehörigkeit von der Heimatdiözese in eine andere Wahldiözese und die Schaffung von imaginierten Zugehörigkeitsgemeinschaften erneuert und bestärkt werden.49 In der Auseinandersetzung unter den Bischöfen machte Nevares deutlich, dass er es für die Aufgabe der Kirche hielt, die Menschenrechtsaktivist*innen und ihren Kampf für die Menschenrechte auf allen Hierarchieebenen der Institution vollständig zu integrieren. Seine Deutung bildete in dem hier dargelegten Kontext ein Extrem im Spektrum der Haltungen ab. Wo sich die anderen Bischöfe im Einzelnen verorteten, ist nur punktuell nachvollziehbar. Basierend auf den Aufzeichnungen Devotos scheint es zumindest zeitweise eine positive Tendenz innerhalb der Vollversammlung der Bischöfe im Hinblick auf die Forderung der Madres gegeben zu haben, vorsprechen zu dürfen. Es handelt sich wohlgemerkt um eine Einschätzung eines Bischofs, von der man nicht wissen kann, worauf genau sie sich gründete, und die – wie seine Notizen – möglicherweise voreingenommener Natur sind, da er sich selbst eher der zustimmenden Haltung verbunden fühlte. Wie er festhielt, hatte er, nachdem die Debatte bereits eine Weile lief, den Eindruck, dass es unter bestimmten Voraussetzungen eine Mehrheit für den Empfang geben könnte, auch wenn darin Risiken gesehen würden. Weder die Voraussetzungen noch die von den Bischöfen vermuteten Risiken werden benannt, so dass die gegenläufigen Argumente unspezifisch bleiben. In der noch über einen längeren Zeitraum geführten Debatte wurden »gegensätzliche Standpunkte«50 vertreten, wie Devoto notierte, ohne diese jedoch im Einzelnen aufzuführen. 48 BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981. 49 Siehe dazu Teil II der vorliegenden Arbeit. 50 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1981, »Hay diversas opiniones entre los obispos _ pero parece que hay una mayoría _ que se inclina por RECIBIRLAS con determinadas condiciones _ aún reconociendo riesgos […] Se siguen intercambiando opiniones largamente con disposiciones distintas _ y posiciones opuestas«. (»Es gibt unterschiedliche Meinungen unter den Bischöfen _ aber es scheint, dass es eine Mehrheit gibt _ die dazu neigt sie unter bestimmten Bedingungen zu EMPFANGEN _ obwohl man die Risiken erkennt […] Man fährt lange mit dem Austausch von Meinungen mit unterschiedlichen Dispositionen fort _ und mit gegensätzlichen Positionen«).
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Letztlich beschieden 38 Bischöfe das Ansinnen, die Madres in der Plenarsitzung der Bischöfe zu empfangen, mit non placet und 31 mit placet. Dieses Abstimmungsergebnis zeigt ebenso wie die vorangegangene Debatte auf, dass es keine einmütige Strategie im Umgang mit der Menschenrechtsbewegung gab, sondern im Gegenteil starke Auseinandersetzungen um das Agieren des Episkopats herrschten. Dieser Befund macht die These von einem klaren strategischen Handeln der Bischofskonferenz im Sinne eines ›doppelten Spiels‹, wie Verbitsky sie vertritt, unwahrscheinlich. Allerdings gilt es zu bedenken, dass das Abstimmungsverhalten nur bedingt Rückschlüsse auf die Motive zulässt. So kann sich die relativ hohe Zustimmung sowohl aus einer Übereinstimmung mit den Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte als auch aus strategischen Überlegungen ableiten oder gänzlich anderen Motiven folgen. In jedem Fall zeigt das knappe Abstimmungsergebnis – bei dem nur vier Bischöfe anders hätten stimmen müssen, um die Mehrheitsverhältnisse zu verschieben – die innere Heterogenität der Bischofskonferenz, die keinesfalls als homogener Akteur, der kohärent und intentional handelte, gesehen werden sollte. Vielmehr stellt sich das Agieren des Episkopats als Ergebnis von komplexen Aushandlungsprozessen dar. Im Anschluss an das ablehnende Votum bestand, so die Notizen von Nevares, Dissens über die daraus resultierenden Konsequenzen. Schließlich wurde darüber abgestimmt, ob statt der Gesamtheit der Bischöfe eine Delegation von Bischöfen die Madres empfangen sollte. Mit 57 placet, 9 non placet und zwei Enthaltungen wurde der Vorschlag angenommen. Gegen 20 Uhr am selben Abend traf sich die Kommission, bestehend aus den Bischöfen Zaspe, Di Stéfano, Bianchi di Cárcano und Galán, mit Maria Adela de Antokoletz und Hebe de Bonafini, beide Vertreterinnen der Madres de Plaza de Mayo, und Angela Westerkamp, einer Vertreterin der Menschenrechtsgruppe Familiares de detenidos-desaparecidos.51 Deutlich wird an dem Abstimmungsergebnis für das Treffen im kleinen Rahmen, dass es für etliche Bischöfe einen großen Unterschied bedeutete, ob die Menschenrechtsaktivist*innen vor der Vollversammlung sprechen oder sich mit einer kleinen Abordnung der Bischöfe treffen sollten. Man mag arbeitsökonomische Gründe für die endgültige Entscheidung in dieser Sache anführen, jedoch würde dies meines Erachtens zu kurz greifen.52 Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang die symbolische Dimension zu sein, die von den Bischöfen ebenso wahrgenommen wurde wie von den Madres und den anderen Menschenrechtsgruppen, so dass ein Zulassen zur Vollversammlung von beiden Akteursgruppen gleichermaßen als Akt höchster 51 Familiares de presos y desaparecidos, in: AICA 1237 (14. Mai 1981). 52 Bei anderen Gästen der Vollversammlung war dies kein Kriterium, so beispielsweise bei einem mehr als drei Stunden dauernden Besuch von Militärs in der Vollversammlung vom Mai 1977.
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institutioneller Legitimierung gedeutet wurde, während einer Unterredung mit einer kleinen Delegation deutlich weniger symbolische Wirkmächtigkeit zugeschrieben wurde. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für die Forderung der Madres die Rahmenbedingung für die Entscheidung verändert hatte. Eine vollständige Ablehnung des Gesuchs wäre mit großer Wahrscheinlichkeit als deutliche Zurückweisung der Menschenrechtsbewegung interpretiert worden. In der damaligen Situation des beginnenden politischen Wandels, zu dessen Protagonisten die Bewegung gehörte, konnte bei einer solchen Reaktion mit öffentlicher Kritik an der Institution Kirche gerechnet werden. So wird verständlich, warum zunächst nicht mehr als 31 von 69 Bischöfen einem Empfang der Madres in der Vollversammlung zustimmten, so dass die Ablehnungen mit 38 Gegenstimmen überwogen, dann aber eine große Mehrheit von 57 Bischöfen der Unterredung mit einer Delegation zustimmte. Der scheinbar formale Unterschied zwischen der Vollversammlung oder einer Delegation wird dann bedeutsam, wenn der symbolische Gehalt der Rahmenbedingungen des Zusammentreffens zwischen Bischöfen und Menschenrechtsaktivistinnen berücksichtigt wird.53 Auch wenn es sich bei beiden Interaktions53 Verbitsky stellt die Abstimmungssituation in der CEA anders dar. Er ist der Ansicht, dass die Kommission, gebildet nach der Ablehnung eines Empfangs der Madres in der Vollversammlung, nur übermitteln sollte, dass die Madres nicht empfangen werden, und dass das längere Gespräch am Abend spontan zustande gekommen sei. Er bezieht sich auf die Notizen Devotos, die hier – neben den Notizen Nevares’ und anderen Quellen – ebenfalls ausgewertet wurden. Kurioserweise schreibt Verbitsky, es stehe eindeutig in den Notizen Devotos, dass man den Madres lediglich die auf Lateinisch gefällte Entscheidung, dass man sie nicht empfangen werde, auf Spanisch habe mitteilen wollen. Allerdings ist in den Aufzeichnungen Devotos keine solche Aussage zu finden, nicht einmal eine Aussage, die sich in diese Richtung interpretieren ließe. Verbitsky widerspricht zudem den Zeitzeugenaussagen des von ihm interviewten Bischofs Giaquinta und stellt die Geschehnisse so dar, dass es bei der Abstimmung – anders als Giaquinta aussagte – nicht um die Frage gegangen sei, an welchem Ort – im Saal der Vollversammlung oder einem kleinen Nebenraum – man die Madres empfangen sollte, sondern darum, ob man sie überhaupt empfangen wollte. Das ist insofern richtig, als die erste Abstimmung diese Frage behandelte – Giaquinta bezieht sich jedoch auf die Frage, in welchem Rahmen die Madres empfangen werden sollten, die Gegenstand der zweiten Abstimmung war. Verbitsky vertritt außerdem die Meinung, dass das Abstimmungsergebnis der ersten Abstimmung mit 38 non placet zu 31 placet nicht knapp war, wie Giaquinta darstellt, sondern eine mit 55 Prozent der Stimmen bequeme Mehrheit erzielt wurde (vgl. Verbitsky 2006, S. 310f). Es handelt sich hier um eine Interpretationsfrage. Angesichts der oft mit überwältigender Mehrheit getroffenen Entscheidungen innerhalb der Vollversammlung ist es zumindest bemerkenswert, dass das Ergebnis anders ausgefallen wäre, hätten vier weitere (von 69 abstimmenden) Bischöfe ein positives Votum abgegeben. Ob es sich dabei um eine knappe Entscheidung handelte oder nicht, möge der/die Leser*in selbst entscheiden. Ungenau wird Verbitskys Darstellung vor dem Hintergrund, dass die zweite Abstimmung darum kreiste, ob eine Delegation zum Empfang der Madres gebildet werden sollte. Dies implizierte den Empfang an einem Ort außerhalb der Räumlichkeiten der Vollversammlung, auch wenn die Örtlichkeit sicher nicht der zentrale Punkt war, sondern die damit und mit der Größe der
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modi um offizielle Treffen im Rahmen der Institution Kirche handelte, wurden sie von den Zeitgenoss*innen unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet. Der von der Bischofskonferenz gewählte Weg ist deshalb Teil einer performativ erzeugten Aussage über ihr Verhältnis zur Menschenrechtsbewegung. Ihr wurde – nicht nur bei dieser Gelegenheit, sondern über den gesamten Zeitraum der Diktatur hinweg – kein Zugang zum Zentrum der Institution Kirche gewährt.54 Auch nach der genauen Analyse der Konflikte zwischen Menschenrechtsbewegung und Episkopat bleibt das Ergebnis des Entscheidungsprozesses unbestreitbar dasselbe. Aber die genaue Analyse ermöglicht es, die Heterogenität innerhalb des Episkopats wahrzunehmen und den Blick für die historische Kontingenz in diesem Entscheidungsprozess zu schärfen, die bei einer in erster Linie auf moralische Beurteilung ausgerichteten ex post Darstellung keine Berücksichtigung findet. Gleichzeitig werden damit die Handlungsspielräume der historischen Akteur*innen neu vermessen. Bezogen auf die Madres de Plaza de Mayo wird die Frage, wie viel Einfluss sie hatten und was sie erreicht haben, oftmals dahingehend beantwortet, dass sie mit ihren Anliegen gescheitert sind. Interpretiert man die hier dargelegten Geschehnisse rund um die Bischofskonbischöflichen Gruppe verbundene symbolische Dimension. Auf diese rekurriert auch Bischof Giaquinta, indem er den Ort als Referenz für das gesamte Setting der Interaktion und damit gewissermaßen als Metapher benutzt. Aus den vorliegenden Quellen geht klar hervor, dass der Gegenstand der zweiten Abstimmung das Bilden einer Delegation war, die die Angehörigen der desaparecidos zum Gespräch empfangen sollte, und dass diese schließlich getroffene Entscheidung am Abend umgesetzt wurde. Nevares notierte: »Se vota si una delegación de Obispos recibe a 3 de las madres Pl 57, NP 9, En Bl. 2«; BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981; Devoto hielt nach der zweiten Abstimmung fest: »Se entrevistan dos obispos con las Madres de desaparecidos«; BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1981). Verbitskys Darstellung lässt auch hier eine Tendenz zur meinungsstarken Zuspitzung des eigenen Narrativs erkennen, die zu Lasten der Genauigkeit geht. Vgl. Verbitsky 2006, S. 309ff. 54 Ein Ausdruck von Distanz ist auch die Begebenheit am 8. Mai 1981, dem letzten Tag der bischöflichen Vollversammlung, an dem sich erneut eine Gruppe von Menschenrechtsaktivist*innen in der Nähe des Gebäudes aufhielt, in dem die Bischofskonferenz tagte. In der Presse werden sie mit der Aussage zitiert, sie würden an dieser Stelle auf die versprochene Antwort der Bischofskonferenz warten. Anders als am vorausgegangenen Montag, so schrieb der Reporter, konnte die Gruppe jedoch nicht bis zur Tür des Versammlungsgebäudes vordringen, da sie auf Geheiß der Bischofskonferenz von der Polizei davon abgehalten wurde, so dass sie in etwa hundert Meter Abstand zum Sitz der Vollversammlung blieb. Die detaillierte Schilderung der Präsenz der Madres verweist erneut auf die symbolische Dimension ihrer Anwesenheit, ihre Nähe und Distanz zum institutionellen Zentrum der katholischen Kirche in Argentinien. La Prensa, 9. Mai 1981, Hoy finaliza la Asamblea Episcopal; An der Pressekonferenz zur Präsentation des Dokuments konnten die Angehörigen der desaparecidos ebenfalls nicht teilnehmen, wie die Presse berichtete. Vor dem Haupteingang hatte sich eine größere Menschenansammlung, bestehend aus Angehörigen von desaparecidos, gebildet, die versucht hatte, an der Pressekonferenz teilzunehmen, um zu erfahren, ob das Dokument Aussagen zu den Verschwundenen enthielt. Deswegen mussten die Journalisten einen Seiteneingang benutzten. La Prensa, 1. Juli 1981, El documento del Episcopado.
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ferenz vom Mai 1981 allein als Misserfolg, bleibt unsichtbar, welche Veränderungen im Verhältnis zu den Vorjahren eingetreten waren und wie sich Handlungsspielräume schon während der Diktatur in neuer Weise konfigurierten. Dabei sollte man aber nicht der Versuchung erliegen, die Interpretation ins Gegenteil umschlagen zu lassen und eine Erfolgsgeschichte zu konstruieren und die Reichweite ihrer Handlungen zu überschätzen. Die Untersuchung der Interaktionen am Rande der Bischofskonferenz und ihres Widerhalls in der Tagespresse zeigen, dass die Madres Anfang 1981 zu einem relevanten politischen Akteur geworden waren. Dies hatten sie nicht zuletzt durch ihre Öffentlichkeitsarbeit und die Kooperation mit staatlichen wie nichtstaatlichen Menschenrechtsakteur*innen im In- und Ausland erreicht. So haben die Madres dazu beigetragen, das Thema der desaparecidos mit solchem Nachdruck in den politischen Diskurs einzubringen, dass ein schlichtes Leugnen des Problems seitens der argentinischen Militärjunta nicht mehr möglich war. Auch die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche bekam eine neue Dimension, da die Mütter der Verschwundenen als Protagonistinnen von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden und über ihre Forderungen und ihre Kritik an der Kirche berichtet wurde. Durch diese öffentliche Sichtbarkeit erhöhte sich ihr Handlungsspielraum, da sie nicht nur direkt, mittels der von ihnen verfassten Briefe, Forderungen an die Institution Kirche stellen konnten, sondern ihr Anliegen auch indirekt über die Presseberichterstattung transportiert wurde. Dies hatte zugleich den Effekt, eine öffentliche Erwartungshaltung gegenüber der Bischofskonferenz zu schaffen, die zwar nicht unbedingt die Absichten der Madres teilen musste, aber zumindest darauf gerichtet war, dass sich die Kirche in der Frage der Verschwundenen positionierte. Über den Hebel der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Interaktion zwischen Menschenrechtsaktivistinnen und Bischofskonferenz wurde so der Wirkradius der Angehörigen der Verschwundenen vergrößert und gleichzeitig die Rolle der Kirche für das Gewaltgeschehen unter der Militärdiktatur in den Fokus gerückt, was bis dato nicht der Fall gewesen war. Für die Bischofskonferenz im November 1980 geht aus einem Polizeibericht hervor, dass die Reaktion der Bischöfe noch bei der vorhergehenden Bischofskonferenz abweisend ausgefallen war: »[…] in San Miguel, auf dem Gelände, auf dem die Bischofskonferenz stattfindet, versammelten sich 50 Personen, mehrheitlich Frauen, die sich als Mütter von Verschwundenen zu erkennen gaben, mit Linienbusen angereist und von zwei Bischöfen empfangen, einer davon identifiziert als Monseñor ROMERO, von diesen Unterstützung ihres Protests fordernd, wurden sie informiert, dass dieses Thema bereits behandelt wurde und dass bereits ein Dokument veröffentlicht wurde und dass sie es nicht wieder tun könnten, da sie wichtigere Themen zu behandeln hätten. Die Gruppe zog
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sich enttäuscht zurück, ohne ein Dokument oder eine Bittschrift abzugeben, es gab weder Plakate noch Ausrufe.«55
Die Berichtschreiber*innen stellten explizit fest, dass es kein Interesse seitens der Bischofskonferenz gab, die Mütter der Verschwundenen zu empfangen.56 Insofern ist ein deutlicher Unterschied zur hier untersuchten Bischofskonferenz ein halbes Jahr später festzustellen, als insgesamt drei Zusammentreffen an einem Tag stattfanden, von denen das letzte offiziell in der Bischofskonferenz beschlossen worden war. Allerdings lässt sich anhand der offiziellen kirchlichen Darstellung des Zusammentreffens erkennen, wie sehr von Seiten der Institution im Mai 1981 versucht wurde, zu reagieren, ohne zu deutlich Position beziehen zu müssen. Dies zeigt in gewisser Weise die Grenzen der Handlungsmacht der Angehörigen auf, da das Ziel, eine klare Positionierung zu erwirken, nicht erreicht wurde, auch wenn sie sich mehr Gehör verschaffen konnten als zuvor. Über den Inhalt des Gesprächs am Abend des 4. Mai 1981 wurde über die Presse nur wenig bekannt. Zitiert wurden in zwei kurzen Absätzen die Aussagen der Madres nach dem Gespräch, dass sie um eine Positionierung der Kirche gebeten hatten und dass sie die »Besorgnis des Episkopats über die Situation der Gefangenen und Verschwundenen«57 betonten. In dieser Darstellung wirkt das Auftreten der Madres gegenüber der Bischofskonferenz etwas weniger konfrontativ. Was im Einzelnen besprochen wurde, ist dem Artikel nicht zu entnehmen. Auch aus der offiziellen Pressemitteilung der CEA wird nichts über die Inhalte der Unterredung offenkundig. Diese teilte lediglich mit, dass die Bischöfe am folgenden Tag über das letzte, eineinhalb Stunden andauernde Gespräch mit den Menschenrechtsaktivistinnen informiert wurden.58 Aufschlussreich ist, dass in der offiziellen Darstellung der Bischofskonferenz über das Zusammentreffen weitgehend Stillschweigen über die Menschenrechtsverletzungen bewahrt wurde.59 Zwar besagte die Erklärung, die Gruppe habe ihre »anhelos y quejas«60 55 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16704, »[…] se hicieron presentes en San Miguel en el recinto donde se lleva a cabo la reunión Episcopal, unas 50 personas de su mayoría mujeres las que se identificaron como madres de desaparecidos, quienes llegaron en vehículos colectivos de líneas locales, siendo recibidas por dos prelados uno de ellos identificado como Monseñor ROMERO, solicitándoles adhesión a sus reclamos siendo informados por este que ese tema ya había sido tratado y se había dado un documento oportunamente, no puediendo hacerlo nuevamente ya que tenían que tratar otros temas más importantes. El grupo desilusionado se retiró sin entregar aparentemente ningún documento ni petitorio, no hubo carteles ni exteriorizaciones.«. 56 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16704. 57 La Prensa, 5. Mai 1981, Hubo una reunión con madres y parientes de desaparecidos. »[…] recalcaron ›preocupación del Episcopado argentino por la situación de los detenidos y desaparecidos‹«. 58 Familiares de presos y desaparecidos, in: AICA 1237 (14. Mai 1981). 59 Ebd. Die Menschenrechtsverletzungen sind in der Überschrift präsent und dadurch, dass von »familiares de presos y desaparecidos en la acción anti-subversiva« die Rede ist.
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vorbringen können, bezeichnenderweise ging die Mitteilung der AICA nicht genauer auf den Inhalt der Forderungen und Beschwerden ein. Stattdessen wurde detailliert aufgeführt, wann sich welche Bischöfe mit den Madres zum Gespräch trafen. Somit vermied das offizielle Kommuniqué eine explizite Stellungnahme zum Thema Menschenrechte sowie zum Verhältnis der Kirche zur Menschenrechtsbewegung, indem es die konkreten Forderungen der Menschenrechtsaktivistinnen nicht erwähnte. Somit geriet die Bischofskonferenz auch nicht in die schwierige Lage, eine Antwort auf ebendiese Forderungen geben zu müssen. Der Konflikt mit der Institution Kirche wurde dadurch ausgeblendet. Im Vergleich mit der Pressemeldung fällt auf, dass die Bischofskonferenz weder den Namen der Organisation der Aktivistinnen noch die Namen der einzelnen Akteurinnen nannte, während sie in der Presse namentlich figurierten. Dagegen wurden in der offiziellen kirchlichen Darstellung nur die beteiligten Bischöfe mit Namen und Funktion genannt, so dass ein hierarchischer Unterschied zu den namenlosen Personen der Menschenrechtsbewegung geschaffen wurde. Denn obwohl die Menschenrechtsgruppe zu diesem Zeitpunkt bereits unter ihrem Namen Madres de Plaza de Mayo öffentlich bekannt war, blieben die Aktivistinnen in der offiziellen Version der Bischofskonferenz eine namen- und organisationslose »Gruppe von Personen«61. Dennoch maß die CEA den vor den Toren des Tagungsgebäudes versammelten Menschenrechtsaktivistinnen so viel Bedeutung bei, dass sie einige ihrer Mitglieder nicht nur einmal, sondern mehrfach damit beauftragte, mit den Madres zu sprechen. Auch wenn der eigentliche Text der Pressemitteilung neben der Nennung der beteiligten Bischöfe nur wenig Information beinhaltete, zeigt die Analyse eine deutliche Ambivalenz im Sprechen über die Menschenrechtsverletzungen und die Verschwundenen. So birgt die Formulierung, es habe sich um eine Gruppe von »Frauen, Angehörigen von Gefangenen und in der anti-subversiven Aktion Verschwundenen«62 gehandelt, eine Deutung der Situation, die indirekt auf die Täterschaft des Militärs und der staatlichen Sicherheitskräfte verweist, indem sie die Verschwundenen mit dem Agieren des Militärs gegen die Guerilla zusammenbringt. Der Terminus desaparecido war zu diesem Zeitpunkt ein öffentlich geläufiger Begriff und wurde auch von der Institution Kirche wie selbstverständlich gebraucht. Mit ebenso großer Selbstverständlichkeit wurde aber auch von der »anti-subversiven Aktion«63 gesprochen, so dass der offizielle Diskurs der Junta in seinem Geltungsanspruch bestätigt wurde.
60 61 62 63
Familiares de presos y desaparecidos, in: AICA 1237 (14. Mai 1981). Ebd. Ebd., »señoras, familiares de presos y desaparecidos en la acción antisubversiva«. Ebd.
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Aus den Notizen Nevares’ und Devotos, die sich auf diese Unterrichtung der Bischöfe beziehen, sind einige der Inhalte des Gesprächs rekonstruierbar. Die Madres forderten, so Devoto, eine »feste und einmütige Haltung des ganzen Episkopats in Bezug auf das Problem der Verschwundenen«64 und kritisierten erneut, dass das bisherige Agieren keinerlei Resultat hervorgebracht habe und dass mit einer standhaften und einmütigen Haltung der Bischöfe mehr erreicht werden könnte. Laut Nevares hatten die Madres die Amtskirche dazu aufgefordert, Druck auszuüben, um eine Änderung der Situation herbeizuführen, beispielsweise durch Exkommunikationen, Kirchenschließungen, das Akzeptieren der von den Madres gewünschten Messen und das Einschließen der Problematik der desaparecidos in die Gebete im ganzen Land.65 Die vorgeschlagenen Maßnahmen weisen sowohl eine politische als auch eine religiöse Dimension auf, da Praktiken, die primär in einem religiösen Handlungsrahmen angesiedelt sind, als Ausdruck politischen Protests genutzt werden sollten. Diese umzusetzen hätte aber nicht nur eine offizielle öffentliche Positionierung der Amtskirche in der Menschenrechtsfrage bedeutet, sondern hätte auch Aussagen über das Wesen des katholischen Glaubens und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen getroffen. Formal gesehen handelt es sich bei der Exkommunikation nicht um einen Ausschluss aus der Kirche – er wäre kirchenrechtlich auch gar nicht möglich – sondern um einen Ausschluss von den Sakramenten und von kirchlichen Ämtern. Auf symbolischer Ebene stellt eine Exkommunikation jedoch die stärkste denkbare Exklusion eines Katholiken dar, da er nicht mehr an den konstituierenden Ritualen der Glaubensgemeinschaft teilhaben kann und diese Tatsache in der Teilöffentlichkeit einer Gemeinde unmittelbar vor Augen geführt wird, wenn beispielsweise die betreffende Person während einer Messe nicht wie 64 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1981, »GALÁN informe sobre la entrevista _ en la que las madres reclaman _ una actitud firme y unánime de todo el Episcopado _ sobre el problema de los desaparecidos / Por otro lado hacen notar que las actitudes previas de la CEA _ no han tenido resultado alguno _ y la convicción de que una acción firme y unánime de los Obispos _ podría lograr más ante esta situación«. (»GALÁN informiert über das Gespräch _ in dem die Mütter forderten _ eine unbeirrbare und einmütige Haltung des ganzen Episkopats _ bezüglich des Problems der Verschwundenen / Andererseits machen sie deutlich, dass die vorhergehenden Haltungen der CEA _ kein Ergebnis hatten _ und die Überzeugung, dass eine unbeirrbare und einmütige Aktion der Bischöfe _ mehr erreichen könnte angesichts dieser Situation.«). 65 Nevares notierte dazu: »GALÁN, a pedido del Pres. informa acerca de la reunión con 3 delegadas de las madres […]. Piden actitudes de presión de la Iglesia para obtener un cambio de la situación. Tales cómos: excomunión (?), cierre de Iglesias en señal de protesta, aceptar las Misas que piden, se ponga en la oración de los fieles de todo el país.« (»GALÁN, auf Bitten des Präs. informiert über das Treffen mit den 3 Delegierten der Madres […| Sie bitten um Haltungen mit Druck um einen Wandel der Situation zu erreichen. Wie: Exkommunikation (? [sic]), Schließung von Kirchen als Zeichen des Protests, die Messen, um die sie bitten akzeptieren, dass man es in das Gebet aller Gläubigen des Landes aufnehme.«), BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981.
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alle anderen die Kommunion empfängt. Die konkrete Deutung dieses Umstands hinge jedoch von dem Wissen um den Grund der Exkommunikation ab und bedürfte daher einer öffentlichen Bekanntmachung und Erklärung. Dies wiederum wäre, deutlich stärker als die konkrete Umsetzung der Exkommunikation im Ritualgeschehen selbst, Ausdruck des politischen Protests gegen die Menschenrechtsverletzungen.66 Ähnlich verhält es sich mit der Praktik der Kirchenschließung, die ebenfalls einer begleitenden Erläuterung bedürfte, auch wenn sie – genau wie die konkret vollzogene Exkommunikation – einen Teil der Aussage bereits performativ enthält. Mit der Schließung eines Gotteshauses könnte die Institution Kirche auf die Missstände aufmerksam machen und symbolisch zeigen, dass für Folter und Verschwindenlassen kein Platz in der Kirche ist. Anders als die Exkommunikation oder die Messen und Gebete für die Verschwundenen stellt eine Schließung von Gotteshäusern keine religiöse Praxis dar, in die der Protest gegen Menschenrechtsverletzungen integriert werden könnte. Vielmehr hätte es sich im Falle einer Realisierung – die empirisch mit dem ausgewerteten Material nicht belegt werden kann – um eine neue Form des Protests unter Rückgriff auf materielle wie symbolische Ressourcen der Institution Kirche gehandelt, die auf öffentliche Aufmerksamkeit und darüber auf politische Wirkmächtigkeit hofft.67 Auch Messen und Gebete für die Verschwundenen können der Sichtbarkeit des Anliegens zumindest in der Teilöffentlichkeit der Anwesenden dienen. Zugleich wurden die mittelbar von der Repression betroffenen Familienangehörigen durch den Einschluss und die Repräsentation in religiösen Praktiken auch in die Gemeinschaft der Gläubigen integriert, allerdings passierte dies nicht wie gefordert im ganzen Land, sondern nur sehr punktuell in einzelnen Diözesen und Gemeinden. Darüber hinaus bedeutete die Integration in religiöse Praktiken innerhalb des institutionellen Rahmens der katholischen Kirche eine autoritative Legitimierung der Menschenrechtsarbeit. Nicht zuletzt bot sie eine kollektive Verarbeitungsform des traumatischen Erlebnisses des Verschwindens eines Familienangehörigen oder Freundes, mit der die Betroffenen die oftmals erlebte soziale Isolation überwinden konnten. Die von den Madres im Gespräch mit den Vertretern der Bischofskonferenz aufgestellten Forderungen richteten sich auf die Praxis der gesamten Institution und wurden nicht erfüllt, weil es keine handlungsleitenden Empfehlungen der Bischofskonferenz in ihrem Sinne gab. Eine konkrete Umsetzung derartiger religiös-politischer Proteste hätte in der Hand der einzelnen 66 Im Gegensatz dazu gab es in Chile Exkommunikationen, über die auch in Argentinien berichtet wurde. La Opinión, 18. August 1976, La Iglesia ha dictado excomuniones; Los obispos chilenos condenan la Tortura y excomulgan a los torturadores, in: Paz y Justicia 80 (JanuarFebruar 1981). 67 In den Quellen, die für diese Arbeit gesichtet wurden, konnte kein Fall einer Kirchenschließung gefunden werden.
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Bischöfe und Gemeindepriester gelegen. Welche Handlungsspielräume es trotzdem sowohl auf der Diözesan- und Gemeindeebene gab, wird anhand der Untersuchung von empirisch belegten religiös-politischen Praktiken im zweiten Teil der Arbeit dargelegt.
5.3
Rezeption des Dokuments Iglesia y comunidad nacional
Das auf der Bischofskonferenz im Mai beschlossene Dokument Iglesia y comunidad nacional hatte, wie Bonnin und Fabris umfassend darstellen, eine große Bedeutung für den Übergang zur Demokratie in Argentinien und wurde von unterschiedlichsten sozialen Akteur*innen als Referenz und Legitimationsressource genutzt.68 Die politische Wirkung soll hier jedoch nicht umfassend beleuchtet werden, sondern nur jene Aspekte, die für die Debatte um die Menschenrechtsverletzungen eine Rolle spielten. Das Dokument selbst enthält einen Absatz mit Bezug auf die Verschwundenen, der erst im Laufe des Bearbeitungsprozesses eingefügt wurde. Bischof Novak berichtet in einem biographischen Interview, dass es ihm zusammen mit dem Bischof Laguna gelungen war, in einer späten Phase der Abfassung des Dokuments ein Abschnitt über die desaparecidos einzufügen.69 Allerdings war laut den Aufzeichnungen Devotos schon bei der ersten Besprechung der Bischöfe am 4. Mai davon die Rede gewesen, dass das Thema im Dokument der Bischöfe behandelt werden sollte. Deswegen ist nicht ganz klar, auf welchen Zeitpunkt sich Novak im genannten Interview bezieht. Möglicherweise meinte er, dass ein solcher Passus im Entwurf, angefertigt im Vorfeld der Bischofskonferenz, noch nicht enthalten war. Abgesehen von dem hier zitierten, erst lange nach den Ereignissen entstandenen Zeitzeugenbericht von Novak, lässt sich anhand der vorliegenden zeitgenössischen Quellen nicht nachvollziehen, wann und unter welchen Umständen der von Laguna erwähnte Abschnitt zu den Menschenrechtsverletzungen eingefügt worden sein soll. Laut Novak wurde sein Vorschlag noch um einen Zusatz über die »Opfer des Terrorismus und der Subversion« ergänzt.70 Die Aussagen über die Verschwundenen
68 Vgl. Bonnin 2012; Fabris, Mariano: »Perdonar y reconciliarse: La Iglesia Católica Argentina, el retorno de la democracia y la revisión de las violaciones a los derechos humanos«, Secuencia – Revista de Historia y Ciencias Sociales, Jg. 85 (2013), S. 69–89. 69 Interview mit Jorge Novak (Interviewerin Luisa Ripa), zitiert bei Bonnin 2012, S. 76–77. 70 Trotz dieser Relativierung schätzt Novak selbst die Tatsache, dass das Thema in diesem bedeutenden Bischofsdokument überhaupt zur Sprache kam, als Erfolg ein. »Pero de todos maneras en un documento tan importante, los DDHH, los desaparecidos, en un documento de tanta importancia histórica como ›Iglesia y comunidad nacional‹ esto pudo quedar« [Grammatik im Original fehlerhaft]. (»Aber auf jeden Fall konnte in einem so wichtigen Dokument, die Menschenrechte, die Verschwundenen, in einem Dokument von solch his-
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sind im endgültigen Dokument in Abschnitt 37 enthalten. Eingeleitet wurde der Abschnitt mit dem Hinweis, dass man es sich erlaube, auf einige Probleme hinzuweisen. Zunächst wurden die ökonomischen Schwierigkeiten im Land und der Verfall kultureller Werte thematisiert, um dann auf das Problem der Verschwundenen einzugehen. Dazu hieß es: »Und in besonderer Weise [weisen wir hin auf, B.R.] die Situation der Angehörigen der Verschwundenen, die schon seit unserem Dokument vom Mai 1977 von uns aufgegriffen wurde, und dessen Besorgnis wir heute wiederholen; ebenso wie das Problem jener, die ohne Gerichtsverfahren inhaftiert sind oder, nachdem sie ihre Strafe verbüßt haben, weiterhin auf unbestimmte Zeit auf Geheiß der Exekutivgewalt gefangen gehalten werden. Diese Erwähnung bedeutet nicht, dass wir den Schmerz der Opfer des Terrorismus und der Subversion vergessen. Ihnen gilt gleichfalls unser tröstendes und verständiges Wort.«71
Durch die Gleichsetzung der Opfer politisch motivierter Gewalt, unabhängig von den Tätern und den Tatumständen, trug die Bischofskonferenz zu einem Narrativ bei, das von Kritikern mit dem Begriff der ›Theorie der zwei Dämonen‹ bezeichnet wurde und auch heute teilweise noch so bezeichnet wird.72 Marina Franco setzt sich eingehend mit diesem Narrativ auseinander und legt dar, dass in der Regel eine Erzählung über Ursache und Schuld konstruiert wird, in der linke Guerilla-Anhänger für den Ausbruch der Gewalt in den 70er-Jahren verantwortlich waren und somit letztlich auch für die Repression, die in Reaktion auf diese Guerilla-Gewalt ausgeübt wurde. Weiteres zentrales Element ist die Idee, dass es sich ›auf beiden Seiten‹ um Kräfte gehandelt habe, die außerhalb der Gesellschaft standen, so dass diese keinerlei Verantwortung für das Gewaltgeschehen trug, sondern zum Opfer der ›zwei Dämonen‹ wurde. Diese Implikation im Sinne des Narrativs der ›zwei Dämonen‹ war jedoch noch nicht in der ersten Aussage des Bischofsdokuments über die Verschwundenen vorhanden, als diese als Änderungsvorschlag eingereicht wurde, sondern kam erst mit der Ergänzung hinzu. Bonnin wirft deshalb die Frage auf, wem die Autorschaft dieses Textteils zugeschrieben werden kann und wessen Mentalität er zum Ausdruck bringt. In seiner Untersuchung stellt Bonnin heraus, dass es sich hier um ein Beispiel für torischer Bedeutung wie Iglesia y comunidad nacional konnte das bleiben.«; Interview mit Jorge Novak (Interviewerin Luisa Ripa), zitiert bei Bonnin 2012, S. 76–77. 71 CEA (Hg.): Iglesia y comunidad nacional, Buenos Aires 1981 [im Folgenden zitiert als CEADoc 1981], »Y de un modo especial, la situación angustiosa de los familiares de los desaparecidos, de la cual ya nos hicimos eco desde nuestro documento de mayo de 1977, y cuya preocupación hoy reiteramos; así como también el problema de los que siguen detenidos sin proceso o después de haber cumplido sus condenas, a disposición indefinida del Poder Ejecutivo nacional. Esta mención no significa que olvidemos el dolor de las víctimas del terrorismo y la subversión. A ello llegue también nuestra palabra de consuelo y comprensión.«. 72 Vgl. Franco 2014.
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übliche Vorgehensweisen in der Aushandlung von Konflikten in der kollektiven Abfassung eines Texts handelt. Diese bezeichnet er als »intratextuelle Reformulierung gefolgt von einer polemischen Negation«73. Für den hier vorliegenden Fall lasse sich aber keine Auflösung des Widerspruchs feststellen, indem eine der Aussagen zurückgewiesen wird, sondern es wird stattdessen eine Verbindung mittels der Konjunktion ›ebenfalls‹ hergestellt. So ermöglicht es die Untersuchung der Genese des Textfragments, die Konflikte innerhalb des Episkopats sichtbar zu machen, indem die Ambiguität der Aussagen sichtbar wird.74 In der Presse wurde der erst spät eingefügte Teil zu den desaparecidos gesondert gewürdigt und auch erwähnt, dass er nicht Teil der Entwürfe war, die den Journalisten im Mai 1981 zur Verfügung standen.75 Diese Darstellung entspricht der Version des Bischofs Novak, der sagte, es sei ihm zusammen mit Bischof Laguna in letzter Sekunde gelungen, diesen Abschnitt in dem Dokument unterzubringen. Die späte Ergänzung könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass es sich nicht um ein zentrales Thema für die Mehrheit der Bischöfe handelte. Dagegen spricht jedoch, dass sowohl aus den Notizen Devotos als auch Nevares’ hervorgeht, dass das Thema bereits in der ersten Erörterung des Dokuments zur Sprache kam.76 Inwiefern die Präsenz der Angehörigen der Verschwundenen vor den Toren der Bischofskonferenz und ihre Interaktion mit den Bischöfen am Rande der Vollversammlung eine Rolle für die Aufnahme dieser Passage spielten, ist schwer nachzuvollziehen, da es keinen direkten Beleg für einen Einfluss gibt. Die auch von der Presse wahrgenommene und an die Öffentlichkeit getragene Anwesenheit der Angehörigen hatte zumindest, wie bereits analysiert, die Rahmenbedingungen des bischöflichen Entscheidungsprozesses verändert. Es ist deshalb nicht völlig ausgeschlossen, dass die darüber transportierte starke Erwartungshaltung, die über die spezifische Gruppe der Angehörigen hinausging, dazu beitrug, dass die Menschenrechtsfrage in der Bischofskonferenz größeren Raum einnahm als zunächst vorgesehen. Darauf weist ebenso die längere Debatte um den Empfang der Vertreterinnen der Menschenrechtsbewegung hin, die zu einer Abweichung von der Tagesordnung geführt hatte. Es ist denkbar, dass die verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit bei einigen Bischöfen die Bereitschaft erhöht hatte, eine Aussage zu den desaparecidos in dem Dokument zuzulassen. Auch die Annahme Bonnins, dass der Druck der Madres dazu geführt hatte, die Publikation des Dokuments zu verschieben, stützt sich auf eine damals in der 73 Bonnin 2012, S. 44. 74 Vgl. Bonnin 2012, S. 43f. 75 Ein Journalist schrieb in seinem Kommentar, dass in der Vorversion, die La Prensa im Mai veröffentlicht hatte, die desaparecidos nicht erwähnt worden waren. La Prensa, 2. Juli 1981, La voz de la Iglesia. 76 BAG, Notizen Devoto zur Bischofskonferenz im Mai 1981; BAN, Notizen Nevares zur Bischofskonferenz im Mai 1981.
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Presse verbreitete Mutmaßung und damit auf einen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eher schwachen Beleg. Ein nicht ganz unwesentlicher Faktor dürfte die Länge des Dokuments und der Umfang der Nachbearbeitungen gewesen sein. Die Notwendigkeit einer Nachbearbeitung zeichnete sich schon im Vorfeld ab, deswegen kündigte die AICA noch vor der Bischofskonferenz an, dass das Dokument aufgrund seiner Länge möglicherweise nicht unmittelbar nach Abschluss der Konferenz veröffentlicht werden würde.77 Die Madres de Plaza de Mayo reagierten auf die Verschiebung des Publikationstermins mit einem Schreiben an die Bischofskonferenz, in dem sie erneut ihre Forderungen erhoben und deutlich machten, welche Handlungsmacht sie der Bischofskonferenz zuschrieben: »[…] angesichts der schrecklichen und verzweifelt beklemmenden Situation, seit fünf Jahren nichts über unsere verhafteten-verschwundenen Kinder zu wissen, verlangen wir die sofortige Publikation des Dokumentes, um unsere Kinder lebend zurückzubekommen. Es ist Ihre Pflicht, nicht nur uns gegenüber, sondern auch vor Gott.«78
Hier wurde insbesondere die aus dem Glauben resultierende moralische Pflicht der Bischöfe hervorgehoben und mit dem Verweis auf Gott mit einem transzendentalen Charakter versehen, dessen Autorität in der hier vorgebrachten Diktion keinen Widerspruch und kein Ausweichen duldete. Die Madres forderten somit eine politische Stellungnahme ein, die auf religiösen Vorstellungen gründete. Als die Vertreter der Bischofskonferenz das 74-seitige, aus 203 nummerierten Absätzen bestehende Dokument schließlich am 30. Juni 1981 der Öffentlichkeit präsentierten, war das allgemeine Interesse groß.79 Gerade in dieser Situation der beginnenden politischen Öffnung richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Aussagen zur politischen Ordnung, ebenso wie auf die Menschenrechtsfrage, die im Dokument selbst, wie bereits dargestellt, nur wenig Raum einnahm. So bewertet La Prensa das Dokument als bisher stärkste Distanzierung von der Junta.80 Bezogen auf die Menschenrechtsproblematik schrieb die Tageszeitung: 77 Im Vorfeld der Bischofskonferenz wurde bereits angekündigt, dass sich die Publikation des Dokuments aufgrund der Länge und der Anzahl der vorzunehmenden Änderungen wahrscheinlich verzögern werde. Asamblea Plenaria del Episcopado Argentino, in: Boletín AICA 1271 (30. April 1981). 78 Brief der Madres de Plaza de Mayo an die CEA vom 4. Juni 1981, zitiert in Gorini, S. 456. Der Brief befand sich zum Zeitpunkt der Recherche nicht im Archiv der MADRES – Línea fundadora; »[…] dada la terrible y desesperada situación angustiosa de no saber nada de nuestros hijos detenidos-desaparecidos desde hace más de cinco años, demandamos la inmediata publicación del documento, para recuperar con vida nuestros hijos. Esta es la obligación de Uds., no sólo hacia nosotras, sino ante Dios.«. 79 Die erste Auflage mit 10.000 Exemplaren war nach einer Woche vergriffen. Por la reconciliación y la esperanza, in: CIAS 309 (Juli-August 1981). 80 La Prensa 2. Juli 1981, La voz de la Iglesia, »Por primera vez desde 1976, la Iglesia argentina ha marcado una clara linea divisoria frente al poder militar, aunque con la prudencia y habilidad
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»Es ist gewiss, dass die Bischofskonferenz vor 1976 vor den Gefahren der Gewalt warnte und den Terrorismus verurteilte, und 1977, inmitten der Repression, ihre Besorgnis über die desaparecidos äußerte, es ist aber ebenso gewiss, dass sie weder bei der einen noch bei der anderen Gelegenheit ihre Haltung in so deutlicher und eindrücklicher Weise manifestierte wie jetzt in diesem Dokument.«81
Die Wahrnehmung des Dokuments als Wandel in der Haltung der Kirche wurde erneut thematisiert, als es darum ging, wie es von Angehörigen des Militärs und vor allem von denjenigen rezipiert wurde, die, wie es hieß, im ›Kampf gegen die Subversion‹ tätig waren. Diese hätten, so wurde formuliert, »indirekte Ermutigung im Schweigen oder im schwachen Widerstand des […] konservativen Flügels der Kirche gefunden«, so dass es nicht verwundern dürfte, dass sie jetzt »die Rügen der Bischöfe mit einiger Verwirrung, wenn nicht mit direkter Missbilligung aufnehmen, jetzt, wenn alles, oder das Schlimmste, schon vorbei ist.«82 Von den Angehörigen der Menschenrechtsbewegung finden sich kaum Reaktionen auf das Dokument. Lediglich die Madres de Plaza de Mayo reagierten am 6. August 1981 mit einem kurzen Brief an die Bischofskonferenz. Dort schrieben sie, dass nach »so langer Zeit der Ungerechtigkeit die Zeit gekommen ist, die Stimme unserer Kirche zu hören. Jetzt kann man nicht mehr die Verantwortung für eine Vergangenheit, die das ganze Volk belastet, von sich wei-
que la caracteriza se ha abstenido de señalar una ruptura.« (»Zum ersten Mal seit 1976 hat die argentinische Kirche eine klare Trennlinie zur militärischen Macht gezogen, auch wenn sie mit der Besonnenheit und dem Geschick, die sie charakterisieren, darauf verzichtet hat, einen Bruch zu signalisieren.«). 81 Zur Menschenrechtsproblematik schrieb La Prensa (ebd.): »Si bien es cierto que antes de 1976 la conferencia episcopal advirtió sobre los peligros de la violencia y condenó el terrorismo, y que en 1977, en plena represión, expresó su preocupación por los desaparecidos, también es cierto que ni en una ni en otra ocasión su actitud se manifestó en forma tan clara y contundente como ahora en este documento.«. 82 Ebd., »Luego, quienes en el ›proceso‹ se plegaron a los procedimientos de la ›guerra sucia‹ y condujeron la lucha contra el terrorismo fuera de toda norma jurídica o ética, encontraron también aliento indirecto en el silencio, o la resistencia débil de las mal llamadas alas conservadoras de la Iglesia. No debe sorprender, pues, que los destinatarios de esas dos posturas de entonces reciban ahora con bastante perplejidad, si no con franco desagrado, las reprimendas de los obispos, cuando ya todo, o lo peor, ha pasado.« (»Zudem, jene, die während des ›proceso‹ sich den Vorgehensweisen des ›schmutzigen Krieges‹ beugten und den Kampf gegen den Terrorismus außerhalb jeder gesetzlichen oder ethischen Norm führten, haben hier auch indirekte Ermutigung im Schweigen oder im schwachen Widerstand des schlechterdings sogenannten konservativen Flügels der Kirche gefunden. Es dürfte nicht verwundern, dass die Empfänger dieser damaligen Haltungen jetzt die Rügen der Bischöfe mit einiger Verwirrung, wenn nicht mit direkter Missbilligung aufnehmen, jetzt, wenn alles, oder das Schlimmste, schon vorbei ist.«) Wenn sogar die konsternierte Reaktion der Angehörigen der Sicherheitskräfte thematisiert wurde, ist davon auszugehen, dass die Passage über die Menschenrechtsfrage in dem Dokument zur Kenntnis genommen und allgemein verstanden wurde, auch wenn sie nicht besonders stark formuliert worden war.
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sen.«83 Obwohl die Madres sich dem Dokument der Bischöfe voll und ganz anschlossen, lässt die Formulierung »es sei die Zeit gekommen, die Stimme der Kirche zu hören«, erneut eine Unzufriedenheit mit der Institution erkennen, die jetzt jedoch nicht mehr so vehement vorgebracht wurde.84 Auch in diesem Kontext verorteten sie sich als der Institution zugehörig, wenn sie von »unserer Kirche«85 sprachen, und unterstrichen damit erneut ihren Anspruch auf Repräsentation. Zur Bischofskonferenz im November 1981 meldeten sich die Madres mit einem neuerlichen Schreiben zu Wort, das auch ausführlich in der Presse zitiert wurde.86 Darin ging es um das Verhalten der Institution Kirche, um die Frage nach der juristischen Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen sowie um die Auseinandersetzung über Listen mit Namen von Verhafteten-Verschwundenen. Die Herausgabe solcher Listen wurde von der Militärjunta als ›Lösung‹ des Problems der desaparecidos präsentiert, von den Menschenrechtsorganisationen jedoch strikt zurückgewiesen, da auf diese Art und Weise der Debatte um die desaparecidos ein Ende bereitet und von der Täterschaft des Militärs und der Sicherheitskräfte abgelenkt werden sollte. Stattdessen forderten die Menschenrechtsaktivist*innen, so wie auch die Madres in dem hier erwähnten Brief, dass die jeweiligen Fälle umfassend aufgeklärt und die Täter vor ein ziviles Gericht gestellt werden sollten. Erneut wurde der Konflikt zwischen den Müttern der Verschwundenen und der CEA öffentlich thematisiert, als aus dem Brief der Madres eine Passage zitiert wurde, in der sie schrieben, dass sie in den vergangenen fünf Jahren noch kein einziges Mal die Ehre gehabt hatten, von der Vollversammlung der Bischöfe empfangen zu werden. Zum wiederholten Male verwiesen die Madres auf die symbolische Dimension ihres Ersuchens an die Bischofskonferenz, und auf die Weigerung der Bischöfe, sie anzuhören. Dabei zeigten die Madres den – hier zuvor untersuchten – graduellen Wandel auf, indem sie schrieben, sie seien im Vorjahr zumindest von drei Bischöfen im Gebäude empfangen und nicht wie in den Jahren zuvor bei Hitze und bei Regen vor den Toren der Bischofskonferenz stehen gelassen worden.87 In diesem Brief machten sie sich den Abschnitt über die Verschwundenen aus Iglesia y Comunidad nacional zu eigen und beriefen sich auf die Aussage, dass die »Versöhnung
83 Brief der Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Primatesta, 6. August 1981, abgedruckt im Boletín Madres 7 (1981), S. 21. 84 Gorini schreibt, dass die Madres sehr enttäuscht waren, da sie deutlich mehr von dem Dokument erwartet hatten. Vgl. Gorini 2006, S. 457. 85 Brief der Madres de Plaza de Mayo an Kardinal Primatesta, 6. August 1981, abgedruckt im Boletín Madres 7 (1981), S. 21. 86 La Prensa, 12. November 1981, Gestión ante la Iglesia por los desaparecidos. 87 Ebd.
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auf dem Fundament der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Freiheit aufbaut«88, um so ihre Forderung nach Aufklärung und juristischer Verfolgung der Menschenrechtsverbrechen zu untermauern. Die Madres zeigten dabei auch an dieser Stelle eine partielle Aneignung der offiziellen kirchlichen Äußerungen, die sowohl der Legitimation des eigenen Anliegens diente als auch auf die Bischofskonferenz im Sinne einer Mahnung und Verpflichtung auf die vom Episkopat selbst autoritativ gesprochen Worte zurückwirken sollte. Dennoch wurde die Kritik an der Institution Kirche zu diesem Zeitpunkt offen und öffentlich artikuliert.
5.4
Öffentliche Kritik an der Kirche
Nachdem die nationalistische Euphorie, ausgelöst vom Krieg um die Malvinas/ Falkland-Inseln, durch die endgültige Niederlage Argentiniens am 20. Juni 1982 einen herben Dämpfer erfahren und die Junta sich als militärisch inkompetent diskreditiert hatte, war klar, dass ihre Herrschaft in nicht allzu ferner Zukunft ein Ende finden würde. Es sollte jedoch noch bis zum 28. Februar 1983 dauern, bis der de facto amtierende Präsident General Bignone demokratische Wahlen für den 30. Oktober 1983 ankündigte. Die Phase des politischen Übergangs zur Demokratie war geprägt von wachsenden Protesten auf den Straßen und Plätzen in Buenos Aires und anderen Städten des Landes, intensiven Auseinandersetzungen um die Menschenrechtsverbrechen und die politische Zukunft des Landes. Mit den zunehmenden Artikulationsmöglichkeiten veränderten sich zugleich die Bedingungen des Sprechens über Menschenrechte und letztlich das Sprechen über Menschenrechte selbst. Da die Repression in dieser Phase deutlich nachgelassen hatte, war es nicht in gleicher Weise gefährlich, sich über die Verschwundenen zu äußern, wie in den ersten Jahren nach dem Putsch. Während es in der besonders repressiven Phase nach dem Putsch 1976/1977 vor allem darum gegangen war, das Problem der desaparecidos als wahr und legitim im Diskurs zu etablieren sowie die systematische Verantwortung der Militärmachthaber aufzuzeigen, ging es jetzt verstärkt um die Frage, ob und wie die Täter juristisch zur Verantwortung gezogen werden sollten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die zuvor relevanten Fragen um den Nachweis der Systematik und der Täterschaft keine Bedeutung mehr hatten oder es einen Konsens über die Deutung der Menschenrechtsverletzungen gegeben hätte. Im Gegenteil, sie waren auch in den 1980er-Jahren und über das Ende der Diktatur hinaus noch immer hochgradig umstritten. 88 La Prensa, 12. November 1981, Gestión ante la Iglesia por los desaparecidos. »se edifica sobre la verdad, la justicia y la libertad«.
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Massiv gewandelt hatte sich jedoch die Position der Menschenrechtsaktivist*innen. Während sie in den späten 1970er-Jahren darum gekämpft hatten, sich überhaupt Gehör zu verschaffen, und ihre Forderungen und ihren Protest aus einer marginalen und von gewaltsamer Repression bedrohten Position heraus artikulierten, wurden sie in den 1980er-Jahren zu einem wesentlichen politischen Akteur. Zudem fanden sie, vor allem nachdem das Militärregime durch die Niederlage im Malvinas/Falkland-Krieg massiv an Legitimität verloren hatte, immer mehr Unterstützer*innen, so dass ihre Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte, Aufklärung und juristischer Aufarbeitung von unterschiedlichsten Akteur*innen angeeignet wurden und zeitweise sogar die politischen Auseinandersetzungen dominierten. Die Institution Kirche beteiligte sich ebenfalls an diesen Debatten, war jedoch weit davon entfernt, sich den Diskurs der Menschenrechtsbewegung zu eigen zu machen. Inwiefern sich die Kirche beziehungsweise einzelne Bischöfe in dieser Transitionsphase bis zu den Wahlen im Oktober 1983 bereits mit der Kritik an ihrem Agieren in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen mussten, wurde an unterschiedlichen Ereignissen in den letzten Jahren der Diktatur sichtbar. Dazu gehörten Konflikte, in denen unter anderem um die Deutung des kirchlichen Handelns gestritten wurde sowie Diskursbeiträge verschiedener Akteur*innen, die versuchten, eine bestimmte Deutung des kirchlichen Handelns in der Menschenrechtsfrage zu etablieren. Vor allem die Madres de Plaza de Mayo übten immer wieder in unterschiedlicher Intensität Kritik an der katholischen Kirche.89 Die anhand der Quellen ausgemachten Beiträge sind dabei nicht immer als unmittelbare Reaktion auf andere Äußerungen zu verstehen, bildeten aber dennoch einen Teil der hier behandelten Auseinandersetzungen, in denen die Institution Kirche zugleich Akteur und Gegenstand des Disputs war. So wurde im Oktober 1982 von der Bischofskonferenz eine Sammlung eigener Dokumente herausgebracht, die zwar nicht beanspruchte, das Thema Menschenrechte oder der Verschwundenen zu behandeln, die aber verschiedentlich unter diesem Rubrum gelesen wurde, auch wenn sie deutlich umfangreicher war.90 Der Band umfasste die Dokumente der argentinischen Bischofskonferenz seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil.91 Als Bischof Zaspe, der als recht meinungsstark und äußerungsfreudig charakterisiert werden kann, 89 Editorial: El problema de los desaparecidos, in: Boletín Madres 11 (September 1982). Beispielsweise wird im Editorial der Zeitschrift der Madres vom September 1982 das Agieren der Kirche kritisiert, wenn auch nicht besonders scharf. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits begonnen, über ein Amnestiegesetz zu diskutieren. 90 Documentos del Episcopado argentino, in: AICA 1343 (16. September 1982). 91 Die Sammlung wurde im Oktober veröffentlicht. Conferencia Episcopal Argentina (Hg.): Documentos del Episcopado Argentino 1965–1981. Colección completa del magisterio postconciliar del Conferencia Episcopal Argentina, Buenos Aires 1982.
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in einem seiner üblichen Radiokommentare sagte, dass dieser Band bald herausgebracht werde, lieferte er – auch wenn er nicht explizit von Menschenrechten und desaparecidos sprach – zugleich eine Legitimation des Handelns der Kirche während der Diktatur, indem er zu Protokoll gab, dass der Episkopat »nicht geschwiegen hat, wenn er sprechen sollte, und gehandelt hat, wenn er handeln sollte«92. Oder wenn er ausführte, dass man »nicht behaupten kann, dass der argentinische Episkopat Stillschweigen über fundamentale Probleme bewahrt hätte«.93 Auch die Rezeption der Dokumentensammlung steht im Zusammenhang mit der Menschenrechtsfrage. Obwohl es sich nach eigenem Bekunden der Bischofskonferenz um eine Sammlung ihrer zwischen 1965 und 1981 veröffentlichten Dokumente handelte, wurden auch unveröffentlichte Texte aufgenommen. Besonders bemerkenswert ist die Publikation einer Reihe von Briefen an die Militärjunta, die bis dato der Öffentlichkeit unbekannt waren. Diese Briefe wurden dann auch, als die Dokumentensammlung im November 1982 vorgestellt wurde, in der Berichterstattung besonders hervorgehoben. Die Tageszeitung La Nación referierte unter der Überschrift »Bischöflicher Protest gegen Entführungen und Verschwundene«94 Passagen aus einem Brief vom November 1977 an die Generäle der Militärjunta, die sich gegen die Menschenrechtsverletzungen wandten. Dabei wird es als ein Dokument unter vielen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, präsentiert, und so in ein Narrativ eingebunden, das behauptet, die Institution Kirche habe sich immer deutlich gegen die Menschenrechtsverletzungen gestellt.95 Bei Betrachtung der Veröffentlichung dieser Dokumentensammlung im Kontext der immer wieder auftretenden Auseinandersetzungen um die Rolle der Institution Kirche, wie am Beispiel der Bischofskonferenz im Mai 1981 dargestellt, kann ihre Publikation als Beitrag zu dieser Auseinandersetzung gelesen werden und wurde von zeitgenössischen Akteur*innen auch als solcher verstanden. Die Publikation bildet somit gewissermaßen einen – wenn auch deutlich weniger offensiven – Vorläufer zu dem Heft Iglesia y derechos humanos, das von der Bischofskonferenz 1984 herausgebracht wurde.96 Letzterem ist, vor allem vor dem Hintergrund der gezielten Auslassung junta-freundlicher Aussagen, ganz deutlich der Charakter einer Verteidigungsschrift zu eigen. Deswegen kann es, 92 93 94 95
A la actuación del episcopado refiriose Monseñor Zaspe, in: AICA 1296 (22. Oktober 1981). Ebd. La Nación, 6. November 1982, Reclamo episcopal sobre secuestros y desaparecidos. Andere Dokumente aus der umfangreichen, um die 500 Seiten langen Publikation wurden nicht erwähnt. La Nación, 6. November 1982, Reclamo episcopal sobre secuestros y desaparecidos. 96 Vgl. Conferencia Episcopal Argentina (Hg.): La Iglesia y los derechos humanos, Buenos Aires 1984.
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auch wenn kein unmittelbar auslösendes Ereignis ausgemacht werden kann, als Antwort auf die seit den 1980er-Jahren immer wieder geäußerte Kritik an der Institution Kirche gedeutet werden. Neben den Konflikten der Menschenrechtsakteur*innen mit der Bischofskonferenz gab es auch Konflikte mit einzelnen Würdenträgern der Kirche.97 Im November 1982 kam es zur öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den Madres de Plaza de Mayo und dem Kardinal Aramburu über dessen Äußerungen zu den desaparecidos, die sich über die Tagespresse nachverfolgen lässt. Im März 1983 wurde ein Konflikt zwischen dem katholischen Menschenrechtsaktivisten Mignone und dem Bischof Quarracino öffentlich ausgetragen.98 Hinzu kam Anfang März 1983 ein Besuch der Madres bei Papst Johannes Paul II. in Rom, der ihren Konflikt mit der katholischen Kirche in Argentinien öffentlich präsent hielt. Ende April 1983 veröffentlichten die Madres dann eine solicitada, eine bezahlte Anzeige in der Tagespresse, in der sie scharfe Kritik an der argentinischen Kirche übten. Auf diese massiven Vorwürfe reagierte das Leitungsgremium der Bischofskonferenz mit einer Pressekonferenz. Auch in der Debatte um das Documento Final, den letzten großangelegten Versuch der Selbstlegitimierung der Militärjunta vom April 1983, und das Amnestiegesetz vom 22. September 1983, das die Täter dauerhaft ihrer juristischen Verantwortung für die Menschenrechtsverbrechen entheben sollte, meldeten sich katholische Akteur*innen zu Wort und diskutierten neben den politischen wie juristischen Fragen auch die Haltung der Institution Kirche.99 Deutlich stärker als in den Jahren ab 1976 wurden jetzt in den 1980er-Jahren die Konflikte mit der katholischen Kirche offen und öffentlich verhandelt. Das bedeutet nicht, dass es zuvor keine Konflikte zwischen der Institution Kirche und der Menschenrechtsbewegung gegeben hätte, aber wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, wurden sie in der Regel unter den beteiligten Akteur*innen ausgetragen, ohne dass sie Widerhall in der Presse gefunden hätten. Als Faktoren für diesen Wandel lassen sich zunächst die erweiterten Artikulationsmöglichkeiten in den 1980er-Jahren ausmachen, als das Thema der desaparecidos gewissermaßen im öffentlichen Diskurs angekommen war. Hinzu kommt, dass die sich zu diesem Zeitpunkt wieder formierenden politischen Kräfte auf die Menschenrechte beriefen und so dieser Problematik einen festen Platz auf der politischen Agenda verschafften. Es macht den Eindruck, dass die Menschenrechtsaktivist*innen in dem Maße, in dem ihre Forderungen öffentlich wahrgenommen wurden, auch ihre Enttäuschung über das Agieren der Institution 97 Einige der Konflikte werden in Kapitel 6 behandelt. Die hier vorgenommene Zusammenstellung der Konflikte zwischen Menschenrechtsaktivist*innen und der Institution Kirche erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. 98 La Nación, 23. März 1983, Piden precisiones sobre desaparecidos a Mons. Quarracino. 99 Gesetz Nr. 22.924, Ley de Pacificación Nacional, 22. September 1983.
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Kirche stärker öffentlich artikulierten. Möglicherweise hing dies auch damit zusammen, dass sie nach der jahrelangen Erfahrung der weitgehenden Exklusion aus religiösen Diskursen und Praktiken nicht mehr ernsthaft darauf hofften, in der Institution die gewünschte Unterstützung zu finden, so dass eine zuvor möglicherweise vorhandene strategische Zurückhaltung in ihrer Kritik aufgegeben wurde. Eine Berichterstattung über die Kritik an einzelnen Kardinälen oder Bischöfen lässt sich für die ersten Jahre nach dem Putsch nicht feststellen. Anders verhält es sich in den 1980er-Jahren. Einzelne Würdenträger der katholischen Kirche dürfen ganz sicher nicht in Eins gesetzt werden mit der gesamten Institution Kirche, so dass es in diesen Fällen nicht um die Rolle der Institution insgesamt gehen kann. Das bedeutet aber nicht, dass die fraglichen Bischöfe außerhalb der institutionellen Zusammenhänge standen, schließlich hatten sie als kirchliche Amtsinhaber strukturell einflussreiche Positionen im hierarchischen Gefüge inne. Bei Betrachtung mancher eigenmächtig getätigten Äußerungen, die unabhängig von einer Repräsentationsfunktion für die Bischofskonferenz erfolgten, wird deutlich, dass Bischöfe auch bei diesen Gelegenheiten den Anspruch erheben konnten, für die Institution zu sprechen, ohne dazu befugt gewesen zu sein. Es ist aber davon auszugehen, dass auch in der Rezeption nicht immer eine klare Trennung zwischen dem Bischof als Individuum und dem Bischof als Repräsentant der Institution vorgenommen wurde. Wesentlich für die zeitgenössischen Akteur*innen dürfte die dem jeweiligen kirchlichen Amtsinhaber zugeschriebene symbolische Macht gewesen sein, so dass die Erwartungen an jemanden wie Kardinal Aramburu, Erzbischof von Buenos Aires, besonders hoch waren. Aramburu geriet im November 1982 ins Kreuzfeuer der Kritik, in der es nicht nur um seine zu diesem Zeitpunkt getroffenen Aussagen über die desaparecidos ging, sondern auch um sein Agieren während der gesamten Diktatur. Am Rande seiner Romreise sprach er mit einem Reporter der italienischen Zeitung Il Messagero über die desaparecidos sowie anonyme Massengräber, die kurz zuvor in Argentinien entdeckt worden waren.100 Auch in Argentinien berichtete die Presse über Aramburus Einlassungen sowie die heftigen Reaktionen der Madres de Plaza de Mayo, da der Kardinal behauptete, in Argentinien gebe es keine Massengräber. Von dem italienischen Journalisten nach den Verschwundenen befragt, führte er aus: »Sie wissen, dass es Verschwundene gibt, die heute seelenruhig in Europa leben. Sicherlich gibt es das Problem [gemeint sind die desaparecidos, B.R.], aber es muss auf eine realistische und vernünftige Art ange-
100 La Nación, 11. November 1982, Denuncian tumbas N.N. en el cementerio de Luján.
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gangen und präsentiert werden.«101 Auch die Rolle der Kirche wurde angesprochen. Der Journalist sagte, es habe bei einigen Gelegenheiten den Eindruck gemacht, als würde die Kirche das argentinische Regime legitimieren. Darauf erwiderte Aramburu, dies sei nicht korrekt, die Bischöfe hätten wiederholt die notwendigen Schritte gegen den »Missbrauch«102 unternommen und sich zwölf Mal an die herrschenden Autoritäten gewandt. An dieser Stelle zeigte sich, dass die Debatte um die Rolle der Kirche nicht nur in Argentinien relevant war. Über das transnationale Interesse an den Menschenrechtsverletzungen in Argentinien gelangte die Thematik erneut in die argentinische Öffentlichkeit, so dass sich die Bedeutung dieser Frage auch im nationalstaatlichen Kontext weiter vergrößerte. Fünf Tage später meldeten sich die Madres de Plaza de Mayo zu Wort und kritisierten Aramburu scharf. Besondere Beachtung findet im Pressebericht von La Nación ihre allgemeine Beurteilung seines Verhaltens ihnen gegenüber sowie die Tatsache, dass er sie trotz vielfacher Aufforderung niemals empfangen hatte. Dies wurde sogar zwei Mal in dem nicht allzu langen, zweispaltigen Artikel erwähnt. Dagegen traten die sachlichen Gründe für den Konflikt fast vollständig in den Hintergrund. Hier spielte vor allem die Frage nach der Existenz von Massengräbern eine Rolle. Rhetorisch fragten die Madres danach, ob es denn »[…] realistisch und vernünftig für eine spirituelle Führungspersönlichkeit der westlichen, christlichen Welt sei, erwiesene Wahrheiten zu negieren und zu verzerren, und so zu denken und sich so zu äußern, wie es die obersten Verantwortlichen der brutalen Repression gegen die Argentinier tun […]?«103
Damit stellten sie Aramburus Aussagen auf eine Stufe mit dem Diskurs der Militärjunta. Auch bei dieser Gelegenheit machten die Madres unmissverständlich deutlich, dass dieses Verhalten nicht ihren Glaubens- und Kirchenvorstellungen entsprach. Eine direkte und unmittelbare Reaktion des Kardinals mit Bezug auf diese Vorwürfe gab es nicht. Erst am 18. November 1982 berichtete die Presse über ein Dementi des Kardinals bezüglich seiner Erklärungen zu den Massengräbern, also einen Tag nach den Vorwürfen der Madres und sechs Tage, nachdem über die Aussagen Aramburus in der argentinischen Presse berichtet worden war. In 101 La Nación, 12. November 1982, No hay fosas comunes en la Argentina, dijo Aramburu. »Usted sabe que hay desaparecidos que hoy viven tranquilamente en Europa. Ciertamente el problema existe, pero se ha de afrontar y presentar en términos realistas y razonables.«. 102 Ebd., »No, esto no es exacto. Los obispos argentinos cumplieron repetidos pasos contra los abusos cometidos. Nos dirigimos a las autoridades en doce ocasiones.«. 103 Die Madres de Plaza de Mayo wurden folgendermaßen zitiert: »[…] sería realista y razonable para un guía espiritual del mundo occidental y cristiano negar y distorsionar verdades comprobadas como lo hicieran los máximos responsables de la brutal represión que se ejerció sobre los argentinos […].« La Nación, 17. November 1982, Madres de Plaza de Mayo: »Lamentable conducta« del cardenal Aramburu.
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seiner Erklärung behauptete der Kardinal, es habe kein Interview mit dem Journalisten stattgefunden, sondern lediglich ein kurzes informelles Gespräch gegeben, in dem er mitgeteilt habe, dass er kein Interview geben könne. Zudem erklärte er, dass er keinesfalls die Ergebnisse einer Untersuchung über die mutmaßlichen Massengräber habe vorwegnehmen wollen.104 Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Dementis wirft die Frage auf, warum Aramburu erst sechs Tage, nachdem in der argentinischen Öffentlichkeit seine Aussagen verbreitet worden waren, auf die vermeintlich falsche Darstellung reagierte. Da die Menschenrechtsaktivist*innen ihre Vorwürfe just am Vortag formuliert hatten, ist es durchaus denkbar, dass seine Erklärung, er habe sich niemals derart geäußert, eben jenen Vorwürfen die Grundlage entziehen sollte und eine indirekte Reaktion darstellte. Ganz sicher bestand ein inhaltlicher Zusammenhang, da es in beiden Fällen um die Äußerungen des Kardinals ging, auch wenn das Dementi Aramburus sich nicht direkt auf die Vorwürfe bezog. Zumindest der dezidierte Hinweis des Artikels auf die Wahrheitsliebe des Kardinals stand inhaltlich in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Madres, er leugne erwiesene Wahrheiten, und ist damit ein weiteres Indiz dafür, dass das Dementi als Reaktion gelesen werden kann. Die Auseinandersetzung hatte eine neue Qualität, da hier öffentlich massive Kritik am Verhalten eines der bedeutendsten Amtsträger der argentinischen Kirche geübt wurde. Diese Kritik bezog sich nicht nur auf eine von Aramburus Äußerungen, sondern erstreckte sich allgemein auf seine Haltung während der Militärdiktatur, deren Ende sich bereits abzeichnete. Die Institution Kirche geriet im März und April erneut in den Fokus der Kritik der Madres de Plaza de Mayo, als diese zunächst einer Audienz bei Papst Johannes Paul II. in Rom beiwohnten und dann Mitte April 1983 eine solicitada veröffentlichten, in der sie das Agieren der argentinischen Kirche anprangerten. Im Zuge ihrer Europareise gelang es den Madres, am 1. März 1983 in einer Sammelaudienz beim Papst empfangen zu werden. Sie nutzten die Gelegenheit zum einen, um ihre Forderungen vorzubringen, und zum anderen, um ihrer Unzufriedenheit mit der argentinischen Kirche Luft zu machen. Dank der Berichterstattung durch die argentinische Presse waren beide Themen auch in Argentinien präsent. Laut Gorini wurde während der Europareise der Madres und dem Papstbesuch in Rom erstmals umfangreich über die Madres de Plaza de Mayo in der argentinischen Presse berichtet.105 Somit war es erneut das Überschreiten der nationalstaatlichen Grenzen, das zur Vergrößerung der Artikula104 La Nación, 18. November 1982, Declaraciones atribuidas a Aramburu – El Arzobispado las desmintió y en Italia fueron corroboradas. Die dementierenden Äußerungen Aramburus wurden in der Presse in einer Art und Weise mit den Aussagen des Journalisten von Il Messaggero konfrontiert, dass der Eindruck erweckt wurde, der italienische Journalist sei über jeden Zweifel erhaben. 105 Gorini 2006, S. 572f.
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tionsmöglichkeiten beitrug. Auch waren die Menschenrechtsaktivistinnen außer Landes weitgehend vor der Repression der Junta geschützt. Zudem fanden ihr Protest und ihr Zusammentreffen mit bedeutenden Persönlichkeiten, wie europäischen Politiker*innen oder dem Papst, über die Berichterstattung Eingang in die öffentliche Debatte in Argentinien. So konnten die Madres das hohe symbolische Kapital ihrer Gesprächspartner*innen nicht zuletzt dafür nutzen, ihre Anliegen zu legitimieren und sich im eigenen Land mehr Gehör zu verschaffen. Besonders der Besuch beim Papst, auch wenn er nicht im Rahmen einer Privat-, sondern lediglich einer Sammelaudienz stattfand, war hierfür besonders geeignet, da das hohe symbolische Kapital des Papstes in Argentinien, wo der Katholizismus eine herausragende gesellschaftliche Rolle spielt, noch einmal an Gewicht gewann. Es erschien unter anderem ein Foto des Papstes, wie er den beiden Vertreterinnen der Organisation Madres de Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini und Maria Adela de Antokoletz, eine zärtlich-umarmende Geste zuteilwerden ließ.106 Auf symbolischer Ebene drückte das Bild die Inklusion in die katholische Kirche aus, die die Madres de Plaza de Mayo immer wieder von der argentinischen Amtskirche erhofft und gefordert hatten. Während der Audienz versicherte der Papst den Madres seine direkte Unterstützung. Er beteuerte, dass er bei der argentinischen Regierung für die desaparecidos eingetreten sei und dies wieder tun werde. Auf die Bitten der Madres versicherte er erneut, dass er auch neue Wege suchen würde, das Problem anzusprechen, wenn dies nötig sein sollte. Neben der direkten Unterstützung war ein zentraler Aspekt dieses Zusammentreffens die symbolische Inklusion der Madres durch das Oberhaupt der katholischen Kirche. Sie erfolgte neben der bereits erwähnten umarmenden Geste durch mehrfache Segnungen. Den Segen, den die Vorsitzende der Madres, Hebe de Bonafini, erbeten hatte, erteilte ihr Papst Johannes Paul II. ihrer Aussage zufolge stellvertretend für alle Madres de Plaza de Mayo. Nachdem er die beiden Mütter Hebe de Bonafini und Maria Adela de Antokoletz umarmt hatte, fragte er danach, wie viele Verschwundene wohl noch am Leben seien, woraufhin ihm die beiden anwesenden Mütter keine Antwort zu geben wussten. Er segnete sie erneut und zeichnete mit dem Finger ein Kreuz auf ihre Stirn. Nicht ohne Grund wurden diese performativen Akte in Argentinien so detailliert berichtet, schließlich enthielten sie eine wesentliche Botschaft. Der Papst legitimierte die Madres und ihr Anliegen und zeigte eine empathische Nähe, die in schroffem Gegensatz zu den Reaktionen der argentinischen Amtskirche in ihrer überwiegenden Mehrheit stand. Diese war während der Audienz ebenfalls ein Thema, als Maria Adela de Antokoletz sagte, »die Kirche muss mehr für die Verschwundenen tun«, und Hebe de Bonafini ergänzte,
106 La Nación, 2. März 1983, Juan Pablo II dialogó con las Madres de Plaza de Mayo.
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dass man »jene, die noch am Leben sind, retten muss.«107 Zudem überreichten die beiden Vertreterinnen der Madres eine umfangreiche Mappe mit Kopien aller Briefe, Bitten und Botschaften, die die Organisation Madres de Plaza de Mayo seit 1977 an die Kirche gerichtet hatte.108 Mit der Übergabe des gesammelten Materials dokumentierten die Madres zum einen ihre Bemühungen um die offizielle Unterstützung der Amtskirche, zum anderen – auch wenn dies nicht explizit gemacht wurde – machte die Übergabe einer solchen Menge an Schriftstücken deutlich, wie wenig diese Bitten aus der Perspektive der Madres erfüllt worden waren, da erst nach Jahren der erfolglosen Bemühungen diese Audienz in Rom zustande kam. Hätte es für die Madres de Plaza de Mayo nicht eine solch große Bedeutung gehabt, die Unterstützung der katholischen Kirche zu gewinnen, hätten sie sicher nicht vorrangig die Schreiben an die Kirche überreicht, sondern den Schwerpunkt auf informative Dokumente über die Situation von Gefangenen und Verschwundenen in Argentinien gelegt. Zwei solcher Dokumente hatten sie ebenfalls beigelegt. Sie machten aber, wenn man der Berichterstattung Glauben schenken darf, nur einen kleinen Teil des überreichten Konvoluts aus. Beim Vergleich der bei der Papstaudienz erfolgten Kritik mit der am 22. April veröffentlichten solicitada, einer bezahlten Anzeige in der Tagespresse, so fiel die beim Papst geäußerte Kritik zur Institution Kirche in Argentinien recht gemäßigt aus.109 So kurz die Anzeige vom April 1983 auch war, so unmissverständlich brachten die Madres de Plaza de Mayo auf den Punkt, wie tief ihre Enttäuschung über die Kirche saß. Der Text, der strategisch während der laufenden Bischofskonferenz platziert wurde, kam einer Abrechnung gleich. Jedem einzelnen Jahr der Militärherrschaft ordneten die Madres eine ihrer Forderungen zu und kontrastieren diese in der nächsten Zeile mit der jeweiligen Reaktion der katholischen Kirche. Nur für 1976 und 1977 fiel die Antwort des Episkopats in den Augen der Madres positiv aus, da er im Mai 1977 ein »kritisches Dokument« abgefasst hatte. Mittels der kontrastiven Methode brachten sie zum Ausdruck, wie stark sie die Diskrepanz zwischen Forderung und Reaktion empfanden, und bekräftigten dies durch die abschließende, apodiktische Zurückweisung der genannten Reaktionen. Um zu verdeutlichen, wie die Madres gegen Ende der Diktatur das Agieren der Kirche sahen, und um den Tonfall der Anklage un107 La Nación, 2. März 1983, Juan Pablo II dialogó con las Madres de Plaza de Mayo, »El diálogo […] se hizo particularmente intenso cuando María Adela [de] Antokoletz manifestó ›la Iglesia debe hacer más por los desaparecidos‹ y Hebe de Bonafini agregó que ›hay que salvar a quienes todavía están vivo‹.«; Entrevista con el Papa, in: Boletín Madres 4 (April 1982). 108 Es wird nicht dargelegt, an wen genau die Briefe gerichtet waren, es macht aber den Eindruck, dass damit sowohl Briefe an Amtsautoritäten in Argentinien, die argentinische Bischofskonferenz sowie den Papst gemeint sind. 109 Solicitada, in: Boletín Madres 5 (Mai 1983).
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mittelbar wahrnehmen zu können, wird hier der Anzeigentext im Wortlaut wiedergegeben: »An die Bischofskonferenz – An die in San Miguel versammelten Herren Bischöfe / 1976 und 1977 brachten wir die Verhaftung und das Verschwinden unserer Kinder an die Öffentlichkeit. Die Antwort 1977 war ein kritisches Dokument. / 1978 forderten wir die Intervention der Bischofskonferenz, um Leben zu retten. Die Antwort war Schweigen. / 1979 baten wir flehentlich um Ihre Vermittlung. Die Antwort war ein laues Dokument. / 1980 forderten wird das lebendige Erscheinen der Verhafteten-Verschwundenen. Die Kirche schlug den Dialog vor. / 1981 beharrten wir auf allen vorangegangenen Forderungen. Die Kirche schlug die Versöhnung vor. / 1982 forderten wir die Bestrafung der Verantwortlichen. Die Antwort war Vergebung. / 1983 sagen wir: Weder Schweigen noch Dokumente noch Dialog noch Versöhnung noch Vergebung. / Lebendiges Erscheinen – Wenn dies nicht geschieht: Könnte der Episkopat einen Genozid unterstützen? – Madres de Plaza de Mayo.«110
Der Vorwurf, die katholische Kirche unterstütze mit ihrer Haltung einen Genozid wog besonders schwer, weil sie so zu einem direkten Mitverantwortlichen für die brutale Ermordung Tausender Menschen gemacht wurde. Auch an dieser Stelle machten die Madres deutlich, dass es für sie kein ›Außerhalb‹ des Gewaltgeschehens gab und somit keine neutrale Position. Ganz besonders galt dies für die katholische Kirche, da sie ihr eine besondere Handlungsmacht zuschrieben. Dieser massive Angriff auf die Institution Kirche blieb nicht unbeantwortet, auch wenn es sich nur um einen Kommentar am Rande einer Pressekonferenz der CEA handelte. Nach der Vorstellung des Bischofsdokuments En la hora actual del país am 23. April 1983 fragte ein Journalist nach der anklagenden Anzeige der Madres. Aramburu vermied es, direkt auf die Vorwürfe einzugehen. Stattdessen bediente er sich in seiner Entgegnung einer oftmals recht wirksamen Methode, wenn es darum ging, von den Inhalten einer Auseinandersetzung abzulenken. Er kritisierte Stil und Tonfall der Madres und delegitimierte ihre Anzeige, indem er meinte, sie sei in einem Moment mangelnder Geistesgegenwärtigkeit (oder Gemütsruhe) entstanden.111 Von einem solchen Gebaren grenzte er 110 Solicitada, in: Boletín Madres 5 (Mai 1983), »A la conferencia episcopal / A los señores obispos reunidos en San Miguel / En 1976 y 1977 DENUNCIAMOS la detención y desaparición de nuestros hijos. La respuesta fue en 1977 un crítico documento. / En 1978 RECLAMAMOS la intervención de esa Asamblea para salvar vidas. La respuesta fue el silencio. / En 1979 IMPLORAMOS su mediación. La respuesta fue un tibio documento. / En 1980 EXIGIMOS la aparición con vida de los ›detenidos-desaparecidos‹. La Iglesia propuso el diálogo. / En 1981 INSISTIMOS en todos los anteriores reclamos. La Iglesia propuso reconciliación. / En 1982 PEDIMOS castigo a los responsables. La respuesta fue el perdón. / En 1983 DECIMOS: ni silencio ni documentos ni diálogo ni reconciliación ni perdón. / APARICION CON VIDA – SI ES-TO NO OCURRIERA: ¿EL EPISCOPADO PODRIA AVALAR UN GENOCIDIO? – MADRES DE PLAZA DE MAYO.«. 111 Conferencia de Prensa, in: AICA 1375, (28. April 1983), »[…] pareciera haber sido hecha en un momento de poca serenidad«.
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die Institution Kirche deutlich ab und betonte, dass die Kirche sich nicht auf Konfrontationen oder Polemiken einließe, weil sie die Einheit und »wahrhaftig das Gute«112 suche. Die Kirchenhierarchie, so führte er weiter aus, werde nicht auf Beleidigungen reagieren. Mit dieser Äußerung delegitimierte Aramburu ebenfalls die Vorwürfe der Madres, da er sie nicht auf der Sachebene adressierte, sondern sie als ehrverletzende Äußerungen darstellte, die, so wurde suggeriert, keinerlei Grundlage hatten. Anschließend verteidigt er die Haltung der Kirche und postulierte, sie werde weiterhin ihrer Linie treu bleiben und von Vergebung und Versöhnung sprechen. Hervorzuheben ist, dass das offizielle Mitteilungsblatt der AICA über diesen Konflikt berichtete, was zeigt, welche Bedeutung die Madres als politischer Akteur erlangt hatten. Sogar ihre Positionen fanden zumindest teilweise Eingang in den Text der AICA, der in aller Kürze berichtete, dass die Madres »weder Schweigen noch Dokumente noch Versöhnung noch Vergebung«113 wollten und den Episkopat indirekt beschuldigten, einen Genozid zu unterstützen. Diese Aussage der Madres fand sich erneut in der Presse, als es darum ging, dass der Papst sich mit den Angehörigen der Verschwundenen solidarisch gezeigt hatte, als er am 4. Mai 1983 auf dem Petersplatz zu den Gläubigen sprach. Zugleich mit der Anteilnahme mit den Angehörigen gab er zu verstehen, dass er annahm, die Verschwundenen seien tot. Wörtlich sagte er: »Ich möchte gegenüber den Familien, die einen solch tiefen Dorn im Herzen tragen wegen des Schicksals ihrer geliebten Angehörigen, meine mitfühlende Anteilnahme an ihren Leiden erneuern, in diesem Moment, in dem es scheint, dass sich die Hoffnung, die sie hegten, zerschlagen hat.«114
Gerade diese Aussage führte bei den Angehörigen zu großer Enttäuschung, da sie zu diesem Zeitpunkt keineswegs die Hoffnung aufgegeben hatten, dass die Verschwundenen noch am Leben sein könnten. Vielmehr wehrten sie sich vehement gegen den Diskurs, alle Verschwundenen seien tot, der von der Militärjunta in Argentinien in einem Abschlussbericht vom 28. April 1983 erneut verbreitet worden war. Das Documento Final der Junta, von dem noch die Rede sein wird, sollte dazu dienen, weitere Nachforschungen bezüglich der desaparecidos zu unterbinden. Die Angehörigen hatten jedoch Anlass zur Annahme, es gebe lebende Verschwundene, da immer wieder Freilassungen erfolgt waren und auch
112 Conferencia de Prensa, in: AICA 1375, (28. April 1983). 113 Ebd. 114 La Nación, 5. Mai 1983, Solidaridad del Papa con los familiares. Papst Johannes Paul II. wird folgendermaßen zitiert: »Deseo renovar a las familias que tienen en el corazón una espina tan aguda por la suerte de sus seres queridos mi sentida participación en sus sufrimientos en un momento en que parece que se hubiera roto la esperanza que todavía nutrian.«.
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verschwundene, minderjährige Kinder lebend aufgefunden worden waren.115 Vom Papst hatten die Angehörigen erwartet, dass er explizit dazu aufrufen würde, die noch lebenden Verschwundenen freizulassen, und waren, da dies nicht geschah, laut Pressebericht, enttäuscht.116 Diese Kritik am Papst ist ungewöhnlich, da seine Äußerungen von den Madres sonst – wo irgend möglich – zur Legitimierung der eigenen Position herangezogen wurden. Die Erwartungen und Enttäuschungen der Madres schafften es in diesem Fall sogar auf die Titelseite der Tagespresse, und die Kritik an der Institution Kirche wurde erneut mit den Worten der solicitada vom April 1983 ausgedrückt. Zitiert wurde Angela Boitano, die Vorsitzende der italienischen Angehörigen der Verschwundenen. Sie sagte, dass trotz des wiederholten Ersuchens an die katholische Kirche, einzugreifen, um Menschenleben zu retten, die Antwort in lauen Dokumenten, Vorschlägen zum Dialog, zur Versöhnung und Vergebung bestanden habe, und zitierte im Anschluss beinahe wörtlich die letzten Zeilen der solicitada der Madres de Plaza de Mayo.117 Damit nahm die Kritik der Angehörigen der Verschwundenen erneut einen prominenten öffentlichen Platz ein. Wie in anderen Fällen wurde der Artikulationsraum in Argentinien hier durch das Überschreiten der nationalstaatlichen Grenze und das transnationale Zirkulieren von Äußerungen erweitert. Die hier untersuchten Ereignisse zeigen, wie sehr sich das Sprechen über Menschenrechte gewandelt hatte, so dass selbst die Konflikte mit der Institution Kirche und ihren Repräsentanten öffentlich verhandelt wurden. Auch wenn einige Vertreter der katholischen Kirche, wie Aramburu im Fall der kritischen Anzeige vom April 1983, den Versuch machten, die Äußerungen der Angehörigen der desaparecidos zu delegitimieren, so war es in den 1980er-Jahren immer schwerer geworden, ihre Worte vollständig zu ignorieren. Für die Institution Kirche wurde es dadurch problematisch, in der Phase des Übergangs zur Demokratie ein ungebrochen positives öffentliches Bild bezüglich ihres Handelns in Sachen Menschenrechte herzustellen, das sie benötigt hätte, um nicht ihre Legitimität als relevanter sozialer und politischer Akteur zu gefährden.
115 La Nación, 5. Mai 1983, Solidaridad del Papa con los familiares. 116 Ebd., »El mensaje dirigido ayer por el Papa Juan Pablo II sobre el problema de los ›desaparecidos‹ en la Argentina decepcionó a los familiares de estos, que aguardaban con ansiedad las palabras del Pontífice.« (»Die gestrige Botschaft des Papstes Johannes Paul II zum Problem der ›desaparecidos‹ in Argentinien enttäuschte die Angehörigen ebenjener, die ängstlich auf die Worte des Pontifex warteten.«). 117 Ebd. Die fast gleichlautende Formulierung zeigt, dass enge Verbindungen zwischen den beiden Gruppen bestanden. Solicitada, in: Boletín Madres 5 (Mai 1983).
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Debatten um das Documento Final der Junta
Ende Februar 1983 stand der Zeitplan für die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie in Argentinien fest. Der regierende Junta-General Bignone kündigte am 28. Februar an, dass es am 30. Oktober 1983 demokratische Wahlen geben werde. Bis dahin versuchte die Militärjunta noch, richtungsweisende politische Entscheidungen voranzutreiben und sich vor allem eine möglichst umfassende Straffreiheit für die begangenen Menschenrechtsverletzungen zu verschaffen. Dazu setzte sie etliche Anstrengungen daran, ihre Deutung über das Gewaltgeschehen nach dem Putsch zu etablieren. Zentral war der Abschlussbericht Documento Final de la Junta Militar sobre la guerra contra la subversión y el terrorismo vom 28. April 1983118, der ihre Version eines ›schmutzigen Krieges‹ propagierte und versuchte, das gewaltsame und illegale Vorgehen gegen politische Gegner als legitim darzustellen. Zudem wollte die Junta mit einem Amnestiegesetz im September 1983 die Angehörigen des Militärs und der Sicherheitskräfte langfristig vor juristischer Verfolgung schützen.119 Damit sollte den Debatten um Menschenrechte endgültig ein Ende bereitet werden. Aber die mittlerweile gut etablierte Menschenrechtsbewegung setzte diesen Versuchen ihren massiven Protest entgegen und konnte letztlich in den Deutungskämpfen um die Diktatur-Vergangenheit dazu beitragen, dass der neu gewählte Präsident Alfonsín die Untersuchungskommission CONADEP einberief.120 Mit ihrem Bericht Nunca más (Nie wieder) Ende 1984 belegte die Kommission das Ausmaß und die Systematik der Menschenrechtsverletzungen. Durch ihre hohe Legitimität als staatliche autorisierte Untersuchungskommission trug sie dazu bei, den Rechtfertigungsdiskurs der mittlerweile abgetretenen Militärjunta massiv zu delegitimieren. Damit hatten sich die Bedingungen für das Sprechen über Menschenrechte grundlegend gewandelt. Von einem marginalisierten und prekären Diskurs in der Anfangsphase der Diktatur war der Kampf um Menschenrechte nach der Rückkehr zur Demokratie zu einer zentralen Staatsaufgabe 118 Zu Deutsch: »Abschlussdokument der Militärjunta über den Krieg gegen die Subversion und den Terrorismus«. 119 Das Amnestie-Gesetz wurde am 22. September 1983 kurz vor dem Abtreten der Militärjunta erlassen und trug den Titel »Gesetz der nationalen Befriedung«; Ley de pacificación nacional, Ley No 22.924. 120 Dabei entsprach die eingesetzte Kommission nicht vollständig den Vorstellungen der meisten Menschenrechtsorganisation, die eine parlamentarische Untersuchungskommission favorisiert hatten. Stattdessen richtete Alfonsín eine präsidiale Untersuchungskommission ein, die kein Mandat hatte, die juristische Strafverfolgung voranzutreiben. Deswegen wollten einige der Menschenrechtsgruppen zunächst nicht mit der CONADEP zusammenarbeiten. Etliche wählten die Doppelstrategie, die Kommission zu kritisieren, ihr aber dennoch das während der Diktatur gesammelte Material über Fälle von Verschwundenen zur Verfügung zu stellen. Vgl. Crenzel 2008.
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geworden. Somit konnte auch die juristische Strafverfolgung der Menschenrechtsverbrechen in Angriff genommen werden. 1986 fanden schließlich die Prozesse gegen die Militärjunta der Diktatur von 1976 bis 1983 statt. Zwar wurde mit den Gesetzen »Punto final« und »Obediencia debida« Ende der 1980er Jahre die Strafverfolgung ausgesetzt, langfristig gesehen gelang es der Menschenrechtsbewegung jedoch, etliche Täter vor Gericht zu bringen. Dieser Prozess ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Noch heute finden in Argentinien juristische Verfahren gegen die Täter statt. Insgesamt gehört Argentinien zu den lateinamerikanischen Ländern, in denen die Aufarbeitung der staatlichen Gewalt durch die Justiz vergleichsweise weit fortgeschritten ist.121 Die Reaktionen katholischer Akteur*innen auf das Abschlussdokument der Junta vom 1983 sind zum einen deshalb interessant, weil sich auch hier die Heterogenität des argentinischen Katholizismus zeigt, und zudem deutlich wird, welche Bandbreite an Positionen möglich war. Zum anderen zeigt der Blick auf die Institution Kirche, wie diese mit dem hier kurz skizzierten Wandel des Diskurses um Menschenrechte umging und versuchte, das Narrativ zu etablieren, die argentinische Kirche habe als Institution auch vor und während der Diktatur viel für die Einhaltung der Menschenrechte getan. Angesichts der in den vorigen Kapiteln dargestellten Konflikte und ambiguen Äußerungen in der Menschenrechtsfrage war dies aber nicht so ohne weiteres möglich. Im Folgenden werden daher die Reaktionen katholischer Akteure auf das Documento Final beleuchtet, um nachzuvollziehen, ob der Wandel im Diskurs um Menschenrechte auch bei diesen Akteuren zu einem Wandel in ihren Haltungen geführt hat und welche Deutungskonflikte insbesondere zwischen religiös motivierten Menschenrechtsaktivist*innen und der Amtskirche bestanden.122 In der Öffentlichkeit wurden zwei Aspekte des Documento Final der Militärjunta besonders hervorgehoben. Erstens hatte die Junta die Verschwundenen für tot erklärt, sofern sie sich nicht im Ausland oder im ›Untergrund‹ befanden. Zweitens war es der Versuch, die brutale Repression zu legitimieren und sich zugleich einem juristischen Urteil zu entziehen. Dazu bemühte die Junta erneut das Narrativ vom ›schmutzigen Krieg‹, in dem besondere Umstände auch die Anwendung besonderer Methoden der Kriegsführung erforderten. So besagte das Dokument, es seien Fehler begangen worden, die manchmal die »Grenzen
121 Zu den Prozessen vgl. Vezzetti, Hugo: »El imperativo de la memoria y la demanda de justicia: El Juicio a las juntas argentinas«, Iberoamericana, Jg. 1, H. 1 (2001), S. 77–86. 122 Dabei lassen sich nur punktuell direkte Auseinandersetzungen zwischen der Institution Kirche und Vertreter*innen der Menschenrechtsbewegung feststellen. Die divergierenden Haltungen lassen sich in der Debatte um das Documento Final vor allem auf der inhaltlichen Ebene festmachen.
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des Respekts für die Menschenrechte überschritten haben könnten«123 und über die – so formulierten es die Militärmachthaber – allein Gott zu urteilen habe. Zudem bestritten die Militärs die Existenz von geheimen Folterzentren.124 Neben der Anrufung Gottes als oberstem und vor allem alleinigen Richter präsentierten sich die Generäle der Junta als »authentische Christen«125. Damit bestärkten sie erneut ihren Anspruch, als ›Retter der katholischen Nation Argentinien‹ in das politische Geschehen eingegriffen zu haben. Die starken, von vielen unterschiedlichen Akteur*innen vorgebrachten Kritiken an dem Dokument zeigen, dass sich die Junta zu diesem Zeitpunkt ihre Deutung der Diktatur und der von ihr verantworteten brutalen Menschenrechtsverletzungen nicht mehr durchsetzen konnte.126 Dies lässt sich als Erfolg der Menschenrechtsbewegung werten, deren Kritik – anders als noch in den 1970er-Jahren – mittlerweile relativ viel Raum in der Tagespresse einnahm.127 Zudem wurde der Protest jetzt massiv auf die Straße getragen. Am Donnerstag nach der Veröffentlichung des Junta-Dokuments kamen spontan, ohne dass es einen Aufruf dazu gegeben hätte, zwischen 2500 und 5000 Menschen zur wöchentlichen Demonstration der Madres auf die Plaza de Mayo128 und am 20. Mai 1983 demonstrieren etwa 30.000 Leute gegen das Documento Final.129 123 Documento final de la Junta Militar sobre la guerra contra la subversión y el terrorismo, Abril de 1983, S. 9 und S. 13, »En este marco, casí apocalíptico, se cometieron errores que, como sucede en todo conflicto bélico, pudieron traspasar, a veces, los límites de respeto a los derechos humanos fundamentales, y que quedan sujetos al juicio de dios en cada conciencia y a la comprensión de los hombres. […] debe quedar definitivamente claro que quienes figuran en nóminas de desaparecidos y que no se encuentran exiliados o en la clandestinidad, a los efectos jurídicos y administrativos se consideran muertos, aún cuando no pueda precisarse hasta el momento la causa y oportunidad del eventual deceso, ni la ubicación de sus sepulturas.« (»In diesem Rahmen, beinahe apokalyptisch, wurden Fehler begangen, wie es in jedem kriegerischen Konflikt vorkommt, es könnten, manchmal, die Grenzen des Respekts der fundamentalen Menschenrechte überschritten worden sein, und diese [Fehler] bleiben dem Urteil Gottes in jedem Gewissen unterworfen und dem Verständnis der Menschen. […] Es muss absolut klar sein, dass jene, die in den Listen der desaparecidos erscheinen und die sich nicht im Exil oder im Untergrund befinden, in Bezug auf juristische und administrative Angelegenheiten als tot erachtet werden, auch wenn man bis zum jetzigen Zeitpunkt weder Grund und Umstände des eventuellen Ablebens noch den Ort ihrer Grabstätten kennt.«); Zur zeitgenössischen Berichterstattung siehe La Prensa, 29. April 1983, Documentos final sobre la lucha antisubversiva; La Nación, 29. April 1983, La Junta dió el documento final sobre la lucha antisubversiva. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 La Prensa, 30. April 1983, El documento de la Junta crea polémicas; La Nación, 30. April 1983, Amplia repercusión del documento de la Junta. 127 La Nación, 30. April, Entidades de derechos humanos – Duros conceptos en respuesta al documento de las Fuerzas Armadas. 128 La Nación, 6. Mai 1983, Realizaron otra marcha las Madres de Plaza de Mayo; Gorini 2006, S. 581. 129 La Nación, 21. Mai 1983, La marcha por los derechos humanos; Gorini 2006, S. 593.
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Auch der Versuch der Generäle, ihr Handeln christlich zu legitimieren, wurde, vor allem von religiösen Akteur*innen, in unterschiedlicher Intensität zurückgewiesen, ebenso wie der Versuch, eine Aufklärung und ( juristische) Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzung zu verhindern. Daneben gab es aber auch unterstützende Äußerungen katholischer Protagonisten für die Junta, wie beispielsweise seitens der Comisión Ejecutiva, der argentinischen Bischofskonferenz. Dabei war es allerdings nicht die Bischofskonferenz, die als Erstes reagierte. Stattdessen meldeten sich zuerst einzelne Bischöfe sowie der katholische Laie und Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel zu Wort, so dass ihnen besondere Aufmerksamkeit für ihre Positionen gewiss war.130 Neben Hesayne und Novak, beide bekannt für ihr Menschenrechtsengagement, äußerten sich Laguna, Bianchi di Cárcano und Rubiolo kritisch zum Dokument der Junta, wobei die Kritik des Bischofs Rubiolo relativ moderat ausfiel und mit einer positiven Wertung einherging.131 Er betonte den Beitrag des Junta-Dokuments zur »Versöhnung der Argentinier«132 und entsprach hierin dem Diskurs der Militärmachthaber, die – zugespitzt formuliert – lieber von Versöhnung als von einer möglichen Strafverfolgung sprachen. Die anderen Bischöfe hingegen, und damit die Mehrheit der öffentlich vernehmbaren Vertreter der Amtskirche, kritisierten das Dokument und verschafften somit der ablehnenden Position in der öffentlichen Rezeption erhöhte Aufmerksamkeit.133 Die Kritik bezog sich auf den mangelnden Wahrheitsgehalt des Dokuments und die Verweigerung einer juristischen Aufarbeitung. Am vehementesten trat Bischof Hesayne auf, der den Versuch, die Repression zu legitimieren, als unmoralisch bezeichnete und die Verwendung des Adjektivs »christlich« für das Militär als scheinheilig. Novak betrachtete die religiöse Dimension, die in das Documento Final eingeschrieben worden war, als unangemessen und delegitimierte damit ebenfalls die Vorstellung eines christlichen Handelns der Junta. Indem er hinzufügte, dass die religiösen Bezüge jenen überlassen werden sollten, die »die religiöse Welt«134 repräsentierten, verteidigte er die Grenzen des religiösen Felds und bekräftigte, um die Rolle der Funktionsträger der Institution Kirche zu stärken, ihren Anspruch auf das Monopol zur Verwaltung der Heilsgüter. Auch der Nobelpreisträger Pérez Esquivel adressierte die religiöse Dimension der Auseinandersetzung. Er schien mit dem ihm zugesprochenen Preis trotz der heftigen Debatte, die 1980 in Argentinien um seine Ehrung als Nobelpreisträger 130 131 132 133
La Nación, 30. April 1983, La Opinión de los obispos. Ebd. La Prensa, 30. April 1983, El Documento de la Junta crea polémicas. Darauf deutet der auf der Titelseite von La Nación platzierte Artikel, in dem über die Äußerungen der Bischöfe berichtet wurde, hin. La Nación, 30. April 1983, La Opinión de los obispos. 134 La Prensa, 30. April 1983, Repercusión del documento de la Junta.
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tobte, ein großes symbolisches Kapital erworben zu haben, so dass sein Widerspruch in der Tagezeitung La Prensa unter einer eigenen Überschrift verhandelt wurde und nicht als Teil des größeren Artikels, wie im Falle anderer religiöser oder politischer Akteur*innen.135 Pérez Esquivels zentrale Botschaft war schon in der Überschrift enthalten, so dass seinen Aussagen mit dieser Hervorhebung eine besondere Bedeutung zugeschrieben wurde. Er kritisierte das Dokument als »unmoralisch, gegen das Evangelium, einseitig«136 und widersprach ebenfalls dem Ansinnen der Junta, ihr Agieren christlich zu legitimieren. Diese Beiträge standen im Gegensatz zum Diskurs der Junta, der vom ehemaligen De-facto-Präsidenten Videla unterstützt wurde. Videla war der Ansicht, das Documento Final sei Ausdruck einer christlichen Gesinnung und ein »Werk der Liebe«137, und seiner Meinung wurde in der Presse große Beachtung geschenkt. Der General empfahl, das Documento Final im Zusammenhang mit dem letzten Bischofsdokument zu lesen, in dem die Bischöfe erneut zur Versöhnung aufgerufen hatten.138 Damit versuchte er den offiziellen Diskurs der Bischofskonferenz zur Legitimierung sowohl der Vergangenheitsdeutung als auch zur Gestaltung der politischen Zukunft zu nutzen. Erneut ist es der Begriff der Versöhnung, der hier in Stellung gebracht wurde, um jegliches Ansinnen einer Strafverfolgung auszuhebeln. Eine solche inhaltliche Füllung des Begriffs blieb jedoch nicht unwidersprochen. Von besonderem Interesse ist an dieser Stelle, dass sich auch Videla, der ganz klar den Diskurs der amtierenden Junta mittrug, am Deutungskampf um das beteiligte, was als ›wahrhaftig christlich‹ gelten sollte. Sowohl die Selbstdarstellung der Junta als auch Videlas Beitrag zeigen, dass es in der Auseinandersetzung um die Inhalte des Christentums und insbesondere des Katholizismus in Argentinien ging. Insofern spielt es nicht nur eine Rolle, wie von einzelnen Katholiken auf die Deutungsansprüche der Militärmachthaber reagiert wurde, sondern auch, welche Positionen andere katholische Akteur*innen einnahmen und wie sich die Institution Kirche offiziell zu diesen Ansprüchen auf Deutungshoheit verhielt. Bischof Hesayne wies den Rekurs Videlas auf das Christentum als Legitimationsressource zurück und sprach Videla ganz direkt ab, Christ zu sein.139 Das Dokument der Junta sei keineswegs ein Schritt zur Versöhnung, zu der die Bi135 La Prensa, 30. April 1983, Pérez Esquivel opina que el documento es inmoral y parcial. Auf derselben Zeitungsseite: La Prensa, 30. April 1983, Repercusión del documento de la Junta. Allerdings sind seine Äußerungen nicht in der Tageszeitung La Nación zu finden, was darauf hinweist, dass er nicht uneingeschränkt als wichtiger Protagonist der Menschenrechtsdebatte gesehen wurde, zumindest nicht in dem Maße, dass nicht auf seine Äußerungen hätte verzichtet werden können. 136 La Prensa, 30. April 1983, Pérez Esquivel opina que el documento es inmoral y parcial. 137 La Prensa, 30. April 1983, El Documento de la Junta crea polémicas. 138 En la hora actual del país, in: AICA-Doc 132, Suplemento AICA 1375 (4. April 1983). 139 La Nación, 6. Mai 1983, El obispo Hesayne – Desautorizó al general Videla como cristiano.
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schöfe mit ihrem Dokument En la hora actual del país aufgerufen hatten, da das Dokument der Junta im Lichte dieser bischöflichen Erklärung gesehen »falsch, unmoralisch und scheinheilig«140 sei. Es enthalte nicht die ganze Wahrheit über die von den Streitkräften verübten systematischen Menschenrechtsverletzungen und bediene sich der christlichen Sprache in einer Weise, die Worte wie Liebe, Glaube, Versöhnung, Verständnis, Erbarmen und Vergebung ihres Inhaltes entleere. Diese Formulierung zeigte den Anspruch Hesaynes auf die inhaltliche Definition dieser Begriffe, die er naturalisierte, indem er einen ihnen essentiell eigenen Sinn zuschrieb. Ähnlich wie in der Debatte um die legitime Verwendung des Adjektivs ›christlich‹ wurde der Anspruch auf einen ›wahren‹ und somit essentialistisch gedachten Kern des Begriffs erhoben. Dieser vermeintlich essentielle Kern entsprach bei allen an der Diskussion beteiligten Akteur*innen letztlich der eigenen Deutung und Positionierung. Bedeutend für den Beitrag Hesaynes ist, dass er als Bischof eine mit hohem symbolischem Kapital ausgestattete Sprecherposition einnahm und sein Beitrag damit eine größere Chance auf Wirkung hatte als beispielsweise die einer katholischen Laiin. Allerdings handelte es sich um die Positionierung eines einzelnen Bischofs und nicht um die eines repräsentativen Organs der argentinischen Kirche auf nationalstaatlicher Ebene. Weitergehender als die Kritik des Bischofs Hesayne war die Maßnahme eines Priesters aus Neuquén, der alle Mitglieder der Junta mittels einer Pastoralnorm vom Empfang der Sakramente in seiner Gemeindekirche ausschloss. Er begründete diesen Schritt damit, dass das Dokument der Junta »voller falscher Angaben und Lügen«141 sei. Gültig bleibe die Entscheidung so lange, bis die betreffenden Junta-Mitglieder und andere Angehörige der Streit- und Sicherheitskräfte »ihre Ablehnung der [Menschenrechts-]Verbrechen, den Willen zur Wiedergutmachung, die Unterwerfung unter die Justiz und einen deutlichen Wandel der persönlichen Haltung zeigen«.142 In dieser Begründung mischt sich die persönliche Ebene mit einer politischen und juristischen Dimension. Hieran wird deutlich, dass der Priester neben dem angemessenen politischen und juristischen Umgang mit der Menschenrechtsfrage auch den Anspruch erhob, dass die Verantwortlichen einen individuellen Wandel im Sinne einer christlichen Umkehr zu vollziehen hätten. Indirekt griff er damit den christlichen Anspruch der Junta auf. Allerdings waren für ihn an die Erfüllung dieses Anspruchs gänzlich andere Bedingungen geknüpft. Im Vordergrund standen die symbolische Dimension und das öffentliche Verkünden der Maßnahme, denn es war 140 La Nación, 6. Mai 1983, El obispo Hesayne – Desautorizó al general Videla como cristiano, »falso, inmoral e hipócrita«. 141 La Nación, 5. Mai 1983, Un párroco prohíbe asistir a misa a Bignone y a la Junta. 142 Ebd.
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relativ unwahrscheinlich, dass die Junta-Generäle in einer Gemeinde der Provinz Neuquén zur Messe gehen würden. Es handelte sich vielmehr um einen symbolischen Akt des Protests gegen den Anspruch des Militärs, sich christlich zu legitimieren. Indem ein Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen deklariert wurde, wurden sowohl die Taten des Militärs als auch dessen Legitimationsversuch als unchristlich zurückgewiesen.143 Von den gesichteten katholischen Zeitschriften befassten sich Criterio und Pan y Trabajo mit dem Documento Final. Criterio beteiligte sich zwar nicht am Diskurs über die christliche Selbstdarstellung der Junta, verwies aber auf die religiös-moralische Dimension der Junta-Aussagen zur Repression.144 Zunächst kritisierte die Zeitschrift, die Junta bereite mehr die politische Zukunft vor, als dass sie Rechenschaft über die Vergangenheit ablegen würde. Angezweifelt wurde in besonderem Maße der Wahrheitsgehalt des Dokuments der Junta, weshalb die anonymen Autor*innen meinten, es wäre besser gewesen, die Junta hätte geschwiegen. Über die von der Junta als ›Fehler‹ titulierte Repression schrieb das Blatt, dass die Bischofskonferenz schon im Mai 1976 zwischen Fehlern und Sünden unterschieden habe. Die Autor*innen zitierten die Passage des Dokuments, in dem die Bischöfe festhielten, dass es Taten gebe, die kein Fehler seien, sondern Sünde. Dazu gehöre »das Morden – mit oder ohne vorausgegangener Entführung – egal welcher Seite der Ermordete angehörte«.145 Indem der Leitartikel von Criterio den Begriff der Sünde einführte, legte er religiöse Maßstäbe an das Handeln der Militärmachthaber und der ihnen unterstellten Sicherheitskräfte an. Statt der juristischen wurde so die moralische Dimension vorrangig. Allerdings schloss Criterio die Strafverfolgung nicht per se als Möglichkeit aus, denn der Leitartikel konstatierte: »Die Wege des Gesetzes und der Justiz müssen immer offenbleiben.«146 An dieser Stelle positionierte sich die Zeitschrift sehr eindeutig gegen den Diskurs der Junta. Damit näherte Criterio sich den Positionen der Menschenrechtsbewegung an. In puncto Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen teilte die katholische Zeitschrift Pan y Trabajo ebenfalls den Diskurs der Menschenrechtsbewegung. Weitere Forderungen griff der Artikel aber nicht auf. Leitthema des Artikels waren das Anerkennen der Wahrheit und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Zunächst wurde über die Grundlagen einer möglichen gesellschaftlichen Versöhnung reflektiert. Dazu gehörte laut dem Artikel in Pan y Trabajo unabdingbar, sich der Wahrheit zu stellen. Er bezog sich in diesem Zusammenhang auf das Dokument der Bischöfe 143 In Chile waren es dagegen Bischöfe, die die Exkommunikation vornahmen. La Opinión, 18. August 1976, La Iglesia ha dictado excomuniones; Los obispos chilenos condenan la Tortura y excomulgan a los torturadores, in: Paz y Justicia 80 (Januar-Februar 1981). 144 »Un tiempo para callar…«, in: Criterio 1901 (12. Mai 1983). 145 Ebd. 146 Ebd., »Los caminos de la ley y de la justicia siempre deben quedar abiertos.«.
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En la hora actual del país und zitierte den Teil, in dem es um das Bekennen der eigenen Fehler ging. Der Autor vertrat die Ansicht, dass das Dokument der Junta deswegen so stark abgelehnt werde, weil die von den Bischöfen formulierten Grundsätze nicht eingehalten wurden und die Junta, statt aufzuklären, der Wahrheit ausgewichen sei.147 Obwohl in Pan y Trabajo von der Notwendigkeit gesprochen wurde, die Wahrheit über Menschenrechtsverbrechen wie Verschwindenlassen, Folter, Mord und Raubzüge im Rahmen der Verschleppungen zu erfahren, spielte in der Reflektion des Junta-Dokuments das Thema der Strafverfolgung der Täter keine Rolle. Die Reaktion der CEA auf die christlich gespeisten Legitimationsversuche der Junta fiel im Vergleich zu den Reaktionen des Bischofs Hesayne, des Priesters aus Neuquén oder der Zeitschrift Pan y Trabajo sehr gemäßigt aus. Statt die Argumentation der Junta in Frage zu stellen oder gar vollständig zurückzuweisen, lobte die Exekutivkommission der CEA die Junta in ihrem Dokument vom 5. Mai 1983 für ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben. Jedoch übte die CEA auch Kritik am Inhalt des Dokuments. So wurde neben den positiven Aspekten, die einen Schritt Richtung Versöhnung darstellen könnten, davon gesprochen, dass das Dokument der Junta unzureichend sei.148 Es hieß, einige Punkte müssten ausführlicher erklärt werden, vor allem sei eine Suche nach Lösungen zur Wahrung der Rechte der verschwundenen Minderjährigen nötig. Die begangenen Fehler müssten anerkannt und moralisch verurteilt werden. Der Verweis der CEA auf das Bischofsdokument vom Mai 1977 schloss dabei an die Debatte um das Wesen des Christentums an, indem sie erneut konstatierte, dass für einen Christen jederzeit gelte: »Das Ziel rechtfertigt nicht die Mittel«.149 Darüber hinausgehende Beiträge zur Frage, welches Handeln christlich legitimiert sei, lieferte das Dokument nicht. Aber mit dieser Feststellung machten die Bischöfe zumindest deutlich, dass sie den Legitimationsversuch der Militärjunta nicht uneingeschränkt akzeptierten, auch wenn sie ihre Identifikation mit dem Christentum beziehungsweise dem Katholizismus nicht in Frage stellten. Insgesamt 147 El miedo a la verdad, in: Pan y Trabajo 155 (Juni 1983), »Se necesitaba una verdadera respuesta sobre el doloroso problema de los desaparecidos y un reconocimiento de otras cuestiones nunca sacadas a la luz: torturas, muertes, robos. Se prefirió eludir la verdad y la sociedad argentina continúa con esa llaga abierta, sin poder curarla en orden a lograr transitar un camino de paz y justicia.« (»Man brauchte eine wahrhaftige Antwort auf das Problem der desaparecidos und eine Anerkennung anderer Fragen, die nie ans Licht gekommen sind: Folter, Todesfälle, Diebstähle. Man zog es vor, der Wahrheit auszuweichen und die argentinische Gesellschaft macht weiter mit dieser offenen Wunde ohne sie ordnungsgemäß heilen zu können, um einen Weg des Friedens und der Gerechtigkeit beschreiten zu können.«). 148 El documento de la Junta militar tiene aspectos positivos pero no es suficiente, in: AICA-Doc 133, Suplemento AICA 1376 (5. Mai 1983). 149 Ebd., »El fin no justifica los medios […]«.
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fiel das Dokument, wie bereits festgestellt, recht moderat aus. Die Frage der Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen wurde vollständig ausgeklammert, das mögliche Amnestiegesetz wurde ebenso wenig angesprochen wie die Forderung der Menschenrechtsbewegung, alle noch lebenden Verschwundenen aus den geheimen Foltergefängnissen freizulassen. Zentrale Themen der Debatte um Menschenrechte spielten damit in der Erklärung der Comisión Ejecutiva der CEA keine Rolle. Wenn man betrachtet, welche Beiträge zur Verteidigung der Menschenrechte andere katholische Akteur*innen zu diesem Zeitpunkt leisteten, wird verständlich, dass die Madres de Plaza de Mayo erneut enttäuscht von der offiziellen Positionierung der Institution Kirche waren. In ihrem Schreiben an die Bischöfe heißt es: »Das Dokument wiederholt nicht nur die zögerlichen Erklärungen der Vorjahre, sondern ist noch vorsichtiger und weniger engagiert, weil es alles vermeidet, was sich auf die unabdingbaren Voraussetzungen von Wahrheit und Gerechtigkeit beziehen könnte.«150 Die Madres kritisierten weiterhin, dass die Bischöfe nicht das lebendige Wiederauftauchen aller Verschwundenen forderten und nur von ›Fehlern‹ sprachen, statt eindeutig die Verbrechen, die Folter und die Gewalttaten zu verurteilen. Die Straflosigkeit der Menschenrechtsverbrechen, deren Existenz die Kirche selbst anerkannt hatte, so die Madres, könne niemals zu einer wahrhaften Versöhnung führen, sondern verhindere sie vielmehr. Insbesondere bemängelten die Madres, dass die Strafverfolgung nicht Gegenstand der Erklärung der Exekutivkommission der CEA war. Zwar griffen die Menschenrechtsaktivistinnen den Diskurs um Versöhnung der Amtskirche auf, stellten aber in diesem Schreiben keine weiteren religiösen Bezüge her. Beim Vergleich dieses Briefs mit anderen Texten der Madres fällt auf, dass sie sich hier nicht in einen religiösen Kontext einschrieben. Dies kann als Indiz für eine zunehmende Distanzierung auch auf emotionaler Ebene gewertet werden, die das Resultat der in steigendem Maße explizit geäußerten Enttäuschung über die Institution Kirche war. Insgesamt zeigt die Analyse der Auseinandersetzungen um die Haltung der Institution Kirche zur Menschenrechtsfrage im Zeitraum zwischen 1981 und 1983, dass die katholische Kirche und ihre Würdenträger immer wieder in der Kritik standen, wenn es um ihr kollektives Agieren in der Menschenrechtsfrage ging. Diese Kritik wurde nach dem Ende der Diktatur noch deutlicher artikuliert. Insofern war die 1984 veröffentlichte Sammlung von kirchlichen Dokumenten Iglesia y derechos humanos ein Versuch, die Kirche als bedeutenden Akteur im 150 MADRES, B4.327, Las Madres de Plaza de Mayo responden al documento episcopal sobre los desaparecidos, 6. Mai 1983, »El documento de la Iglesia no solo reitera las vacilantes declaraciones de años anteriores, sino que resulta aún más cauto y menos comprometido eludiendo todo lo que se refiera a las condiciones insoslayables de Verdad y Justicia.«.
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Kampf um Menschenrechte darzustellen und die Vorwürfe der Komplizenschaft und des mangelnden Einsatzes für die Opfer der Repression zu entkräften. Das Heft Iglesia y derechos humanos der Bischofskonferenz, das 65 Seiten umfasst, stellt einen Höhepunkt in der institutionell vorgenommenen Umdeutung der eigenen Rolle dar. Die Publikation versammelte Ausschnitte aus Bischofsdokumenten und Briefen des Zeitraums 1970 bis 1982 mit der Intention, das Narrativ von der Institution Kirche, die die Menschenrechte verteidigte, zu untermauern.151 Diese offizielle kirchliche Deutung wurde jedoch massiv in Frage gestellt und konnte sich in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Spätestens mit dem 1986 erschienenen Buch Iglesia y Dictadura des katholischen Menschenrechtsaktivisten Emilio Mignone wurde die vielfache Nähe und Komplizenschaft von wichtigen Amtsträgern und der Institution Kirche zur dominanten Interpretation über die Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur.
151 Vgl. Conferencia Episcopal Argentina (Hg.): La Iglesia y los derechos humanos, Buenos Aires 1984.
Teil 2: Religiöse Dimensionen und institutionelle Handlungsspielräume im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen
6.
Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen: Politischer Protest im religiösen Ritual
Wenn man nach der Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur fragt, spielt nicht nur die Dimension des öffentlichen Sprechens über Menschenrechte und die Ebene der Konflikte innerhalb der Institution Kirche eine Rolle, sondern auch die religiöse Praxis, in der der politische Protest artikuliert wurde, ist von essentieller Bedeutung.1 Da die religiöse Praxis zu dieser Zeit in der Regel nicht schriftlich niedergelegt wurde, ist ihre Untersuchung oft schwierig. Greifbar sind die religiösen Protestformen meist nur dann, wenn Medien der Menschenrechtsbewegung oder, in seltenen Ausnahmefällen, sogar die Tagespresse über sie berichtete. Einige Fälle ließen sich auf diesem Weg ermitteln. Einen weiteren Überlieferungsweg stellen Akten der Polizei dar, die politisch-religiösen Protest zum Gegenstand geheimdienstlicher Überwachung machten. Ebenso wäre denkbar, Informationen über die religiöse Praxis aus Nachlässen von Priestern und Bischöfen zu erhalten, jedoch konnte in den für die vorliegende Arbeit konsultierten Diözesanarchiven in Goya und Neuquén kaum derartiges Material gefunden werden. Insgesamt wurden die weniger spektakulären Protestformen außerhalb der Metropole Buenos Aires, wie Jelin feststellt, von der Historiographie zur argentinischen Militärdiktatur bisher nicht bearbeitet.2 Dies trifft weitgehend auch auf Praktiken des religiös-politischen Protests zu. So wurden beispielsweise die Messen für die Verschwundenen oder die Fastenaktionen noch nicht untersucht, lediglich zum Phänomen der Wallfahrten und Prozessionen liegen zwei kürzere
1 Die religiöse Praxis kann auch Teil des öffentlichen Sprechens über Menschenrechte sein, insofern sie sich an die Öffentlichkeit richtet oder an öffentlichen Orten stattfindet. Darüber hinaus gibt es Praktiken, die nicht über die Teilöffentlichkeit der Anwesenden hinausgehen und dementsprechend Teil einer Präsenzkultur sind, die nicht medial vermittelt ist. 2 Jelin spricht davon, dass die stärker informellen und lokal situierten Protestformen nicht Teil der offiziellen Geschichte des Widerstands gegen die Diktatur geworden sind. Vgl. Jelin 2015.
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Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
Arbeiten von Laura Mombello zu Prozessionen in Neuquén und von Miranda Lida zu katholischen Massenveranstaltungen während der Diktatur vor.3 Für die folgende Analyse wurden Publikationen der Menschenrechtsbewegung ausgewertet, in denen die Mitglieder ihre Aktionen ankündigten oder über sie berichteten, sowie die Archive von Menschenrechtsorganisationen im Hinblick auf Material über religiöse Praktiken in Bezug auf die Verschwundenen durchsucht. Teilweise sind auch Texte überliefert, die im religiösen Zeremoniell selbst benutzt wurden, wie Bibelzitate, Gebete, Fürbitten, Lieder oder Predigten. Des Weiteren wurde das Polizeiarchiv der DIPBA konsultiert. In seinen Beständen finden sich einige Akten, die neben den Polizeiberichten auch von verdeckten Ermittlern konfisziertes Material enthalten, so dass auch auf diesem Überlieferungsweg punktuell Texte der religiösen Praxis verfügbar sind. Der Geheimdienst beobachtete den religiös eingebetteten Protest genau und klassifizierte ihn als ›subversiv‹. Somit galt er als (potentiell) gefährlich für die Herrschaft der Junta-Generäle. Dieses Material bietet eine Beobachterperspektive auf die Aktivitäten der Menschenrechtsaktivist*innen, darunter auch Priester oder Bischöfe, die ganz klar von der geheimdienstlichen Wahrnehmung der religiösen Protestpraktiken als ›subversive Gefahr‹ geprägt ist. Die Publikationen der Menschenrechtsbewegung hingegen stellen Selbstbeschreibungen dar, bei denen die Mobilisierung für und die Legitimierung des eigenen Handelns im Vordergrund steht. Beide Quellenbestände zusammen erlauben einen interessanten Einblick in das Phänomen des politisch-religiösen Protests, der aufgrund der Überlieferungssituation jedoch seine Grenzen hat. Denn insgesamt sind die Quellen weder besonders umfangreich vorhanden, noch kann der erhobene Bestand in dem Sinne als repräsentativ bezeichnet werden, als dass er genaue quantifizierende Aussagen über die hier untersuchten Phänomene des religiösen Protests zuließe. Aber allein die im Verhältnis zum großen Umfang des Materials der Menschenrechtsbewegung relativ geringe Menge der auf religiösen Protest bezogenen Quellen ist schon ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein weit verbreitetes Phänomen gehandelt haben kann. Diese Feststellung gilt auch unter der Prämisse, dass religiöse Praktiken sehr wahrscheinlich kaum verschriftlicht und archiviert wurden. Zwar gab es sicher mehr Fälle religiös-politischer Praktiken als bei der hier zu Grunde liegenden Ar3 Der Beitrag von Mombello ist überwiegend deskriptiv und gibt keine Quellen für die Darstellung der unterschiedlichen Protestmärsche in Neuquén an. Vgl. Mombello, Laura Cecilia: »Neuquén, la memoria peregrina«, in: Jelin, Elizabeth/Victoria Langland (Hg.), Monumentos, memoriales y marcas territoriales, Madrid 2003, S. 149–164. Der Beitrag von Lida ist ebenfalls in erster Linie deskriptiv. Es ist zum Beispiel völlig unklar, wie die Autorin die massenhaften Zusammenkünfte junger Katholiken unter der Militärdiktatur interpretiert. Es bleibt daher offen, ob sie diese Zusammenkünfte als einen Protestakt deutet oder als Ausdruck einer neuen Religiosität. Vgl. Lida 2008.
Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
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chivrecherche zu Tage gefördert werden konnten, und sicher auch als überhaupt überliefert sind, jedoch wäre es unzulässig, daraus zu schließen, dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen gehandelt hat. Ein solcher Schluss stünde in eklatantem Widerspruch zu den bisherigen Forschungsergebnissen in Bezug auf die katholische Kirche während der argentinischen Militärdiktatur. Dementsprechend sollten die hier analysierten Fälle bezogen auf die Kirche in Argentinien meines Erachtens als Ausnahmeerscheinungen verstanden werden. Ihre Untersuchung erlaubt dennoch wichtige Einsichten. Zunächst lässt sich aufzeigen, welche Handlungsmöglichkeiten es innerhalb des institutionellen Rahmens gab, da die durch Quellen dokumentierten Fälle – auch wenn sie nicht die Regel waren – empirische Belege für bestimmte Handlungsmöglichkeiten darstellen. Ein derartiges Handeln zugunsten der Menschenrechte war folglich auch unter der Militärdiktatur und trotz einer mangelnden bis schwachen Unterstützung der Menschenrechtsarbeit durch Bischöfe und Gremien der Institution Kirche möglich. Gleichzeitig dokumentieren die untersuchten Fälle die Konflikte zwischen den Menschenrechtsaktivist*innen und der Institution um die Ausgestaltung der religiösen Praxis. Des Weiteren lässt sich nachvollziehen, in welcher Art und Weise politische Inhalte Teil der religiösen Praxis wurden. Empirisch lassen sich Messen für die Verschwundenen, Wallfahrten und Prozessionen sowie Gebets- und Fastenaktionen feststellen. Wie das Quellenmaterial zeigt, gab es unterschiedliche Wege, den politischen Protest gegen die Diktatur und den Kampf für Menschenrechte in religiöse Praktiken einzubinden. Die Ausgestaltung reicht dabei von einer Integration von Protestinhalten in ein religiöses Ritual über das Aneignen einer religiösen Veranstaltung durch die Menschenrechtsaktivist*innen – mit unterschiedlichen Graden der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung seitens der zuständigen Priester beziehungsweise Bischöfe – bis hin zu von außen am Ritualgeschehen selbst nicht mehr erkennbaren Bedeutungszuschreibungen durch die beteiligten Akteur*innen. Die politisch-religiösen Protestformen erfüllten unterschiedliche, sich teilweise ergänzende Funktionen. Auf symbolischer Ebene zielten sie in der Regel auf Legitimation und Inklusion ab. Daneben spielte das Schaffen von Öffentlichkeit oftmals eine große Rolle. Auch die spirituell-religiöse Komponente sollte nicht außer Acht gelassen werden, da auf dieser Ebene das Gefühl von Zugehörigkeit zur Institution Kirche gestärkt und neben der politischen auch eine emotionale Bearbeitung des traumatischen Erlebnisses des Verschwindens eines nahestehenden Menschen stattfinden konnte. Zudem boten die religiösen Praktiken die Möglichkeit, sich zu treffen und Informationen auszutauschen.
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6.1
Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
Kirchliche Räume als Treffpunkte und Informationsbörsen
Bei Betrachtung der Entstehung der Menschenrechtsorganisation Madres de Plaza de Mayo in Buenos Aires oder der Menschenrechtsgruppen in der Provinz Neuquén wird deutlich, dass kirchliche Räume als Versammlungsorte der Menschenrechtsaktivist*innen genutzt wurden. Vor allem in der Formierungsphase wählten die Madres de Plaza de Mayo in Buenos Aires Kirchen als Treffpunkte und versammelten sich in den Räumen des Zentrums Casa Nazareth der Kirche Santa Cruz sowie in der Kirche selbst. In Neuquén war es der an die Kathedrale angrenzende Versammlungssaal, in dem die lokalen Menschenrechtsorganisationen zusammenkamen.4 In beiden hier genannten Fällen wurde die Menschenrechtsarbeit unterstützt, einmal von dem Orden der Passionisten, die für die Casa Nazareth zuständig waren, und in Neuquén von den Priestern und dem Bischof der Diözese.5 Eine solch uneingeschränkte Unterstützung lässt sich nur für wenige Orte nachweisen. In den meisten Städten und Gemeinden war das Verhalten der zuständigen Bischöfe und Priester weniger eindeutig und konnte von verhaltener Billigung bis hin zur Ablehnung der Menschenrechtsarbeit reichen. Dementsprechend gibt es Fälle, in denen die Menschenrechtsaktivist*innen auch ohne eine dezidierte Unterstützung des verantwortlichen Priesters oder Bischofs kirchliche Räume für ihre Aktivitäten nutzten, indem sie sie mit religiösen Praktiken verbanden. So finden sich in den Polizeiakten der DIPBA mehrere Berichte über Zusammenkünfte von Müttern von Verschwundenen, die sich zum Rosenkranzgebet in der Kirche San Ponciano in La Plata trafen. Im Anschluss hielten sie sich 4 In der Forschung zu Sozialen Bewegungen wird diese Funktion oftmals mit Hilfe des Ressourcen-Mobilisierungs-Ansatzes als ein Zur-Verfügung-Stellen bewegungsrelevanter Ressourcen interpretiert, zu denen neben den materiellen Ressourcen auch die Bereitstellung eines Interpretationsrahmens gehört, mit dem der Protest als legitim gedeutet und artikuliert werden kann. Mayer und Zald betonen dabei die Bedeutung der von religiösen Institutionen bereitgestellten materiellen, personellen und organisatorischen Ressourcen für soziale Bewegungen. Die aus dem Glauben resultierenden kognitiven Orientierungen halten sie jedoch für unbedeutend. Dies wurde von Smith sowie von Nepstad und Williams kritisiert, da sie auch die kognitive Orientierung für relevant halten, wenn es um das Artikulieren von Protest und die Mobilisierung von Aktivist*innen geht. Vgl. Zald, Mayer N./McCarthy, John D.: »Religious Groups as Crucibles of Social Movements«, in: Dies. (Hg.), Social Movements in an Organizational Society, New Brunswick 1998, S. 67–95; Smith, Christian: »Correcting a Curious Neglect, or Bringing Religion Back In«, in: Ders. (Hg.), Disruptive Religion: The Force of Faith in Social Movement Activism, New York 2014, S. 1–25, hier S. 5; Nepstad, Sharon E./Rhys E. Williams: »Religion in Rebellion, Resistance and Social Movements«, in: Beckford, James A./ Nicholas Jay Demerath (Hg.), The SAGE Handbook of the Sociology of Religion, Los Angeles 2007, S. 419–437, hier S. 423. 5 Mallimaci und Giménez Béliveau bezeichnen die Kirche Santa Cruz als symbolträchtigsten Ort des Widerstandes. Sie spielte vor allem für die Bewegung in der Hauptstadt Buenos Aires eine große Rolle. Vgl. Mallimaci/Giménez Béliveau 2009.
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im Innenhof der Kirche auf und besprachen sich.6 Aus den Berichten geht nicht hervor, wie die für das Gotteshaus zuständigen Priester zu diesen Treffen standen. Insgesamt vermittelt diese Art und Weise die Treffen zu gestalten jedoch den Eindruck, dass es seitens der institutionell verantwortlichen Akteure keine Bemühungen gab, sie offensiv zu unterstützen, denn sonst hätte den Müttern der Verschwundenen ein Versammlungsraum der Gemeinde zur Verfügung gestellt werden können.7 Dagegen lässt sich einwenden, dass Versammlungen im Innenhof der Kirche sehr wahrscheinlich nicht gegen den dezidierten Willen des Gemeindepfarrers hätten stattfinden können, zumal sich in der betreffenden Gemeinde San Ponciano laut Polizeiberichten regelmäßig derartige Rosenkranzgebete mit anschließenden Versammlungen im Atrium ereigneten.8 Für eines dieser Treffen ist belegt, dass es eineinhalb Stunden dauerte – andere von der Polizei beobachtete Zusammenkünfte im Anschluss an das Rosenkranzgebet waren hingegen nach 10 bis 20 Minuten beendet. Dies deutet erneut darauf hin, dass die Treffen keine institutionell abgesicherte Praxis darstellten, sondern eher das Resultat des eigenmächtigen Handelns der Madres von La Plata waren. Dafür spricht auch, dass eine aktive Beteiligung des Gemeindepriesters aus den vorhandenen Quellen nicht hervorgeht. Wie es aussieht, wurden die Zusammenkünfte von den zuständigen Priestern aber zumindest eine Zeit lang toleriert. Diesen Eindruck erweckt auch eine auf Zeitzeuginnen-Berichten basierende Darstellung der lokalen Gruppe der Madres de Plaza de Mayo in La Plata, auch wenn in dem dort präsentierten Narrativ die ablehnende Haltung der kirchlichen Akteure besonders hervorgehoben wird. Nachdem sich die Mütter regelmäßig in der Kirche San Ponciano zum Rosenkranzgebet getroffen hatten, wurden sie – dem Bericht einer Madre de Plaza de Mayo zufolge – von dort vertrieben beziehungsweise wurde versucht, sie von dort zu vertreiben.9 Wann genau dies 6 Die vorliegenden Dokumente verzeichnen fünf Treffen: 23. Juli 1980, 30. Juli 1980, 20. August 1980, 3. September 1980, 10. September 1980. DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16662; DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16047. 7 Dies setzt zunächst voraus, dass es einen solchen Raum gibt; in der Regel steht auch kleinen Gemeinden ein Raum für Treffen zur Verfügung. Denkbar wäre ebenso eine Versammlung in der Kirche, die jedoch nicht ohne Billigung des Gemeindepriesters hätte erfolgen können. 8 Im Bericht den 20. August 1980 betreffend heißt es, dass das Rosenkranzgebet »wie gewohnt« stattfand, so dass eine gewisse Dauerhaftigkeit dieser Praxis angenommen werden kann. DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16662. 9 Vgl. Dossier der Comisión por la Memoria über die Madres de Plaza de Mayo, online: http:// www.comisionporlamemoria.org/investigacionyensenanza/materiales/dossiersddhh/dossier 3madres.pdf (abgerufen am 12. Juni 2016); In einem Interview mit Adelina Dematti de Alaye, einer der Madres de Plaza de Mayo, berichtet diese, dass die Protestmärsche in la Plata an der Kirche San Ponciano ihren Ausgang nahmen. Einige der Mütter der Verschwundenen zogen es vor, in der Kirche zu bleiben, statt sich dem Protestmarsch anzuschließen. Auch Adelina Dematti de Alaye berichtet davon, dass die Madres de Plaza de Mayo von La Plata sich im Innenhof der Kirche zu Besprechungen trafen. Dies geschah nach den Protestmärschen, die
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passierte, ist nicht eindeutig zu belegen. Die vorliegenden Polizeiakten über Rosenkranzgebete in dieser Gemeinde stammen aus den Jahren 1980 und 1981.10 In der Kurzdarstellung der lokalen Madres-Gruppe von La Plata sind keine eindeutigen Datierungen in Bezug auf die Treffen in der Kirche San Ponciano enthalten, so dass unklar bleibt, wie lange diese Praxis andauerte. Es entsteht bei der Lektüre der unterschiedlichen Quellen und Darstellungen der Eindruck, dass es sich um eine recht früh in der Geschichte der lokalen Gruppe der Madres de Plaza de Mayo etablierte Praxis handelte, die den öffentlichen Protesten in La Plata vorausging, die ab 1979 stattfanden. Sofern dies stimmt, würde das Fortsetzen der Treffen auch in den Jahren 1980 und 1981 für eine gewisse Institutionalisierung sprechen, so dass eine zeitweise Billigung wahrscheinlicher wird. Jedoch lassen sich keine Hinweise auf eine dezidierte Autorisierung der Treffen finden, sondern lediglich Anhaltspunkte bezüglich einer ablehnenden Haltung des Kirchenpersonals. Ob die eindeutigen Signale der Missbilligung seitens der Gemeindeverantwortlichen, von denen die Menschenrechtsaktivistin aus La Plata berichtete, letztlich dazu geführt hatten, dass sich die Gruppe der Mütter dort nicht mehr traf, kann anhand der vorliegenden Quellen nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Diese Lesart legt zumindest das bei der Comisión por La Memoria hinterlegte Dokument über die lokale Gruppe der Madres de Plaza de Mayo in La Plata nahe.11 In einem anderen Fall belegen Polizeiakten, dass der zuständige Gemeindepriester ganz klar gegen ein Treffen der Comisión de Familiares de Detenidos y
– wie das Rosenkranzgebet – immer mittwochs stattfanden. Der Zeitzeugin zufolge habe man die Türen der Kirche nach dem zweiten dieser Protestmärsche verschlossen vorgefunden. Das Rosenkranzgebet erwähnt Adelina Dematti de Alaye dabei nicht. Ihrer Darstellung stehen sowohl die Polizeiakten als auch die historisierende Darstellung einer anderen Zeitzeugin, Gewährsfrau für die bereits erwähnte, über die Madres de Plaza de Mayo in La Plata entgegen. Es macht den Eindruck, dass in der Erzählung von Adelina Dematti de Alaye die insgesamt eher ablehnende Haltung der Gemeindeverantwortlichen zum Bild der »immer verschlossenen Tür« verdichtet wurde und die Praxis des regelmäßigen Rosenkranzgebets damit überlagert hat, so dass es in der Erzählung über die Genese der Protestmärsche in La Plata nicht mehr auftaucht. 10 Dass keine weiteren Akten verfügbar sind, kann entweder daran liegen, dass keine weiteren Treffen stattfanden, sie von der Polizei nicht beobachtet wurden, die Akten nicht überliefert sind oder sie von den Archivar*innen, die die Recherche ausführen, nicht zugänglich gemacht wurden. Im Archiv der DIPBA in La Plata gibt es weder Findbücher, noch können die Akten selbst eingesehen werden. Die zuständigen Archivar*innen suchen das Material anhand von knappen, stichpunktartigen Angaben zum Forschungsinteresse heraus und stellen Kopien zur Verfügung, auf denen zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten alle Personennamen geschwärzt wurden, sofern es sich nicht um Personen des öffentlichen Lebens handelt. 11 Vgl. Dossier der Comisión por la Memoria über die Madres de Plaza de Mayo: http://www. comisionporlamemoria.org/investigacionyensenanza/materiales/dossiersddhh/dossier3ma dres.pdf (abgerufen am 12. Juni 2016).
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Desaparecidos por Razones Políticas in der Kirche Nuestra Señora de Luján war.12 Aus diesem Grund wurde laut Polizeibericht das Treffen der Menschenrechtsgruppe an einem anderen Ort abgehalten, was erneut darauf hinweist, wie wichtig die explizite Autorisierung durch den Priester sein konnte. Dies bedeutet aber nicht, dass es notwendigerweise immer eine explizite Erlaubnis für Zusammenkünfte von Menschenrechtsaktivist*innen in Kirchen oder Gemeinderäumen gegeben haben muss, wie das Beispiel der Treffen im Anschluss an die Rosenkranzgebete im Atrium der Kirche San Ponciano zeigt. Ein Gegenbeispiel in dem Sinne, dass der Priester Versammlungen politischen Charakters in seiner Gemeinde klar unterstützte, stellen die Aktivitäten in der Gemeinde San Vicente de Paul dar. Hier trafen sich einem Polizeibericht zufolge regelmäßig Jugendliche und mutmaßlich auch Angehörige von Verschwundenen.13 Anders als in San Ponciano, fanden die Treffen mit Unterstützung des Gemeindepfarrers statt, der deshalb auch im Fokus polizeilicher Ermittlungen stand. Aus den behördlichen Berichten geht hervor, dass die Beziehungen dieses Priesters zum zuständigen Bischof Esposito Castro nicht gut waren, da der Bischof unter anderem nicht damit einverstanden war, dass der Priester Kontakte zu sacerdotes tercermundistas unterhielt.14 Als tercermundistas wurden zu jener Zeit Kleriker bezeichnet, die in der Gruppe der Priester für die Dritte Welt aktiv waren, ihr zugerechnet wurden oder mit ihr sympathisierten.15 Eine andere Polizeiakte hielt über den Priester der Gemeinde Santa Ana fest, dass seine Messen die Jugend von Mar del Plata anzogen und dort Lieder ideologischen Inhalts gesungen sowie über Menschenrechte, die Verschwundenen und ihre Angehörigen gesprochen wurde.16 Im Vergleich wird erneut deutlich, dass es in San Ponciano sehr wahrscheinlich höchstens eine Art von Duldung der Treffen gegeben haben wird, denn der Gemeindepriester selbst wurde nicht zum Gegenstand der Ermittlungen, wie in jenen Gemeinden, die die Angehörigen der Verschwundenen aktiv unterstützten. Gerade wenn Gemeindepriester, Ordensleute oder Bischöfe selbst aktiv waren, gerieten sie ins Visier der polizeilichen Ermittlungen.17 Dies wird anhand weiterer Fälle deutlich, in denen Messen oder andere religiös-politische Protestformen polizeilich beobachtet wurden.
12 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 18971. 13 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 1052. 14 Im Bericht der Polizei werden sie als Drittwelt-Priester (›sacerdotes tercermundistas‹) bezeichnet. 15 Auch Ordensleute oder Lai*innen konnten als tercermundistas bezeichnet werden. Vgl. Hensel 2013; Touris 2012. 16 DIPBA, Mesa E. Religiosas, Legajo 308. 17 Vgl. Catoggio 2013c.
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Gottesdienste, in denen das Thema der desaparecidos eine Rolle spielte, sind im hier untersuchten Kontext von besonderer Bedeutung, da es sich beim Abendmahl um ein zentrales Ritualgeschehen der katholischen Liturgie handelt. Aufgrund der gemeinschaftsstiftenden Wirkung des Rituals wurde bei den Messen immer auch die Frage nach der Inklusion der Angehörigen der Verschwundenen und ihres Protests in die religiös-institutionelle Praxis verhandelt. Die stärkste inkludierende Wirkung dürften für die Angehörigen der Verschwundenen Messen gehabt haben, die explizit den desaparecidos gewidmet waren und im Ritualgeschehen einen Bezug herstellten, beispielsweise durch Fürbitten oder Predigten. Das andere Extrem stellt die dezidierte Weigerung dar, die Angehörigen und ihre Anliegen in die religiöse Praxis einzubinden, indem beispielsweise ein Halten von Messen für die Verschwundenen abgelehnt wurde.18 Sowohl bei der vollständigen Inklusion als auch bei der dezidierten Verweigerung kam dem Priester eine zentrale Rolle zu, da er die Gestaltung des von ihm gehaltenen Gottesdienstes maßgeblich beeinflusste. Dies gilt auch, wenn eine Partizipation durch die Angehörigen im Rahmen der üblichen Liturgie vorgesehen war, da eine legitime Modifikation nicht ohne die Absprache mit dem Priester erfolgen konnte. Da die Angehörigen von sich aus die Bitte um Gottesdienste für die Verschwundenen formulierten, nahmen sie eine Akteursrolle in der Genese dieser politisch-religiösen Protestform ein. Nicht immer wurde ihren Wünschen vollständig entsprochen, so dass die letztlich abgehaltene Messe Produkt des Aushandlungsprozesses zwischen dem zuständigen Priester und den Menschenrechtsaktivist*innen war. Dieser Prozess war dabei nicht als eine Verhandlung zu verstehen, in der gleichberechtigte Partner ähnliche Chancen auf die Durchsetzung ihrer Vorstellungen hatten. Vielmehr lässt sich anhand der folgenden Beispiele erkennen, dass der Priester als religiöser Spezialist und ›legitimer Verwalter der Heilsgüter‹ eine strukturell entschieden machtvollere Position einnahm. Dies bedeutet dennoch nicht, dass er damit das Geschehen vollständig kontrollieren konnte und die Angehörigen der Verschwundenen keinerlei Handlungsspielraum mehr gehabt hätten. Wenn der zuständige Priester eine offizielle Integration in das religiöse Ritual ablehnte, blieb den Menschenrechtsaktivist*innen noch die Möglichkeit der eigenmächtigen Aneignung der religiösen Praxis. Der Begriff der eigenmächtigen Aneignung bezeichnet hier die Intervention in religiöse Praktiken seitens der 18 Beispielsweise lehnte ein Priester laut Polizeibericht ab, regelmäßig Messen für die Verschwundenen abzuhalten und dabei ihre Namen zu nennen. Vgl. Mesa DS, Carpeta Varios, Legajo 11945.
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Angehörigen der Verschwundenen, die keiner Abstimmung mit den institutionell Verantwortlichen bedurfte. Dies sagt zunächst nichts darüber aus, wie der jeweilige Geistliche zu dieser Aneignung stand. Sie konnte im Einvernehmen mit den Handlungen der Priester und Bischöfe stehen oder ohne expliziten Konsens über die so vorgenommene Veränderung der üblichen religiösen Praxis erfolgen. Sie wird hier deshalb als eigenmächtig charakterisiert, weil diese Praxis der Aneignung nicht abhängig von der Zustimmung der jeweils Verantwortlichen war, und selbst dann ausgeübt werden konnte, wenn Priester oder Bischöfe die Praxis der Aneignung stillschweigend missbilligten oder explizit zurückwiesen.19 Über eine solch eindeutige Zurückweisung berichtet Lidia Anselmi de Diaz, organisiert bei den Madres de Plaza de Mayo von La Plata. Die lokale Menschenrechtsgruppe nahm an einer Gebetsnacht für die katholische Jugend mit einer Messe am darauf folgenden Morgen teil, die von Erzbischof Plaza unter dem Namen ›heroische Nacht‹ (›noche heróica‹) im November 1977 ausgerichtet wurde.20 Die Madres de Plaza de Mayo aus La Plata nutzten die Veranstaltung, um den teilnehmenden Jugendlichen von ihren Kindern, den Verschwundenen, zu berichten. Etliche der Jugendlichen hörten deshalb aus Protest auf, die vorgegebenen Lieder zu singen oder verließen die Veranstaltung. Die Mütter der Verschwundenen nahmen auch an der morgendlichen Messe teil. Statt beim Empfang des Sakramentes der Kommunion ›Amen‹ zu sagen, sprachen sie dem Bericht der Zeitzeugin zufolge die Worte: »Für unsere verschwundenen Kinder«21. Einigen sei deshalb die Kommunion verweigert worden. Eine ähnliche Situation berichtet Gorini während der zentralen Messe der Wallfahrt nach Luján im Jahr 1977. Hier sagten die Madres während der Kommunion statt Amen »Für die Wiederkehr meines verschwundenen Kindes«, woraufhin ihnen der Priester ebenfalls die Kommunion verweigerte.22 An diesen Beispielen wird deutlich, dass es den Menschenrechtsaktivist*innen gelingen konnte, die religiöse Praxis zur Artikulation ihres Anliegens zu nutzen, diese Aneignung aber an Grenzen stieß und – so wie es berichtet wurde – auch eindeutig zurückgewiesen werden konnte. Der Aneignung des Rituals und dem damit verbundenen politischen Protest wurde somit seitens der Vertreter der Amtskirche widersprochen. Sie delegitimierten sowohl die Praxis der eigen19 Für eine explizite Zurückweisung im Ritualgeschehen konnten anhand des vorliegenden Materials nur die im Folgenden ausgeführten Beispiele gefunden werden, während Weigerungen im Vorfeld in zwei Fällen überliefert sind. 20 Allgemein zur Durchführung von abendlichen oder nächtlichen religiösen Massenveranstaltungen für Jugendliche im Untersuchungszeitraum vgl. Lida, Movilizaciones católicas (o. J.). 21 Vgl. Ginzberg, Victoria: Dossier Madres de Plaza de Mayo, online: http://comisionporlamemo ria.org/bibliografia_web/recursos_dossier.html (abgerufen am 17. August 2013). 22 Gorini 2006, S. 118, »Por la aparición de mi hijo desaparecido.«.
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mächtigen Intervention als auch das durch jene ausgedrückte Anliegen. Dennoch wurde das Ritual im hier dargelegten Fall im Sinne der Akteur*innen genutzt und die gesendete Botschaft konnte zumindest von einigen anderen Teilnehmer*innen wahrgenommen werden. Aufgrund der Quellenlage kann nichts darüber ausgesagt werden, welche Wirkung eine solche eigenmächtige Aneignung in den hier geschilderten Fällen auf die anwesenden Gläubigen hatte und ob sie die Aneignung als legitime Intervention oder als illegitime Störung der gewohnten Ordnung betrachteten. Den verdeckten Ermittlern der Polizei ist die Intervention der Madres de Plaza de Mayo zumindest vollständig entgangen, was darauf hinweist, dass es nur einem Teil der Anwesenden überhaupt möglich war, das Agieren der Madres wahrzunehmen und in diesem Zusammenhang auch den Konflikt zwischen den Madres und der Amtskirche.23 Die Spannung zwischen nicht autorisierter Aneignung und expliziter Delegitimierung seitens der institutionell zuständigen Akteure machte in dem hier geschilderten Fall den Konflikt zwischen der Menschenrechtsbewegung und der Amtskirche im Ritualgeschehen präsent. Auch wenn er nicht manifest wurde, wie hier durch die Verweigerung der Kommunion, konnte er latent vorhanden sein und von den Anwesenden wahrgenommen werden – zum Beispiel durch Abweichungen vom bekannten Ritualablauf sowie durch die fehlende Integration dieser Abweichung seitens der Priester in ihrer Funktion als legitime Verwalter der Heilsgüter. Ein ebensolcher Fall findet sich in den Polizeiakten, die festhalten, dass eine ältere Frau bei einer Messe während der Ausgabe der Kommunion schrie: »Beten wir zum Herrn, für unsere verschwundenen Kinder«.24 Eine Reaktion des Priesters oder der anwesenden Lai*innen auf diesen Zwischenruf ist nicht überliefert. Da in den Akten verzeichnet wurde, dass die Messe ansonsten »in absoluter Normalität verlief«25, ist davon auszugehen, dass eine Abwandlung der Liturgie zur Inklusion der Anliegen der Angehörigen der Verschwundenen 23 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 565. Die Berichtschreiber der DIPBA sahen die Gebetsnacht unter der Leitung von Plaza als richtungsweisend für die argentinische Jugend und bewerteten sie positiv. An der Veranstaltung sollen etwa 2000 Jugendliche teilgenommen haben, Plaza sprach in seiner Predigt von der christlichen Bildung der Jugend und ihrer Verantwortung in »heutigen Zeiten«. Diese Art der besonderen religiösen Jungendveranstaltung lässt sich als Gegenentwurf zu den gegen Diktatur und Repression gerichteten religiösen Veranstaltungen interpretieren, ebenso wie gegen religiöse Praktiken progressiven Inhalts. Indem solche religiösen Veranstaltungen gewisse Partizipationsmöglichkeiten boten, gelang es den Teilnehmer*innen unter Umständen, ihr Bedürfnis nach kollektiver Artikulation zu befriedigen. Jedenfalls zeigt sich hier in der religiösen Praxis ein Kampf um die inhaltliche Ausgestaltung des religiösen wie politischen Lebens. Es wird eine sich oberflächlich absolut unpolitisch gerierende Variante des Katholizismus praktiziert, die jedoch nur vermeintlich unpolitisch war, da sie in ihrer Konfiguration Teil des dominanten Diskurses über die ›richtige‹ politische und soziale Ordnung bildet. 24 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14434, »Pidamos al señor por nuestros hijos desaparecidos«. 25 Ebd.
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nicht stattgefunden hat. In Fällen, in denen eine Erwähnung der Verschwundenen durch den Priester erfolgte, wurde dies in den Polizeiakten vermerkt, da es sich aus polizeilicher Perspektive um eine relevante Information handelte. Zudem wurde solchen Akten oftmals die Vorgeschichte des Betreffenden beigefügt und die Überwachung des örtlichen Priesters intensiviert, da er als ›subversiv‹ und damit gefährlich eingestuft wurde.26 Dies war hier allerdings nicht der Fall, was die Annahme stützt, dass es sich um eine Intervention handelte, die nicht mit dem Priester abgestimmt war. Die Messe fand in der bereits durch die Rosenkranzgebete bekannten Kirche von San Ponciano statt. Auch in diesem Fall versammelten sich anschließend circa 50 Personen für die Dauer von 15 Minuten im Innenhof der Kirche. Der folgende Fall zeigt eine Situation, in der ein Priester die Bitte von Angehörigen nach einer Messe für die Verschwundenen explizit abgelehnt hat und in der die Angehörigen den ihnen verbliebenen Handlungsspielraum nutzten, um der religiösen Praxis die von ihnen gewünschte Bedeutung zuzuschreiben. Die Messe fand am 16. Juli 1978 in der Gemeinde Santo Cristo statt. Als die Menschenrechtsgruppe Familiares de Desaparecidos por Razones Políticas im Vorfeld mit der Bitte um eine Messe an den Priester der Gemeinde herantrat, forderte sie von ihm die Nennung der Namen ihrer verschwundenen Angehörigen. Laut Polizeibericht, der sich auf die Aussage des Priesters stützte, wurden während der Messe keine Namen von Verschwundenen genannt. Der Priester sagte zudem aus, er habe sich gegenüber den Vertretern der Gruppe explizit geweigert, Namen in der Messe zu nennen oder Ansprachen zu halten, um die »aparición sana y salva«27 der Verschwundenen zu fordern. Die Gruppe hingegen hatte die Absicht, regelmäßig Messen für die Verschwundenen zu organisieren. Der Priester teilte ihr laut eigener Aussage daraufhin mit, dass er »unter diesen Umständen«28 darauf verzichten würde, Messen abzuhalten, und dass er erklärt habe, dass sich keine Kirche weigere, Gottesdienste zu feiern, aber dass diese im Einklang mit den in der Kirche geltenden Regeln stattfinden müssten. Seine Entscheidung, 26 Besonders häufig wurde über die Aktivitäten von Jorge Novak, Bischof von Quilmes, berichtet. Über ihn wird in den Akten festgehalten: »[…] su incansable accionar que lo ha transformado en directo interlocutor de todos aquellos sectores de su diócesis que se encuentran en conflicto o efectúan reclamaos a las autoridades de PRN. En este caso con los familiares de los desaparecidos, elementos con los cuales ha mantenido muy estrecha relación, habiendo peticionado a las autoridades en muchas oportunidades para el esclarecimiento de sus situaciones.« (»[…] sein unermüdliches Handeln ist es, das ihn zum direkten Ansprechpartner all jener Teile seiner Diözese gemacht hat, die im Konflikt mit den Autoritäten des PRN stehen oder Beschwerden bei ihnen vorbringen. In diesem Fall mit den Angehörigen der Verschwundenen, Elemente, zu denen er eine enge Beziehung pflegt, die bei vielen Gelegenheiten bei den Autoritäten zur Aufklärung ihrer Situation Petitionen eingereicht haben.«) DIPBA, Mesa DE, E. Religiosos, Legajo 565. 27 Zu Deutsch in etwa: »das wohlbehaltene Erscheinen«; DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 11945. 28 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 11945.
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keine Messe für die Verschwundenen abzuhalten, vor allem wenn dabei Namen genannt werden sollten, begründete er mit den Normen der Institution. Auf diese Weise präsentierte er sein Handeln als alternativlosen Sachzwang und enthob sich der persönlichen Verantwortung, indem er behauptete, keinen Handlungsspielraum zu haben. Dass es diesen Handlungsspielraum durchaus gegeben hätte, zeigen die Messen, die tatsächlich für die Verschwundenen in anderen Gemeinden gehalten wurden. Dem Polizeibericht vom 31. Juni 1978 über die Messe vom 16. Juli 1978 in der Gemeinde Santo Cristo, der ebenfalls in der Akte abgeheftet ist, war eine Aufforderung zur Untersuchung der Angelegenheit vorausgegangen. Sie enthält auch den Aufruf zu besagter Messe vom 16. Juli 1978, in dem die unterzeichnende Gruppe der Familiares de Desaparecidos por Razones Políticas kurz und knapp ihre Forderungen und die Namen ihrer verschwundenen Angehörigen nennt. Vorausgesetzt, dass die Einlassung des Priesters gegenüber der Polizei dem Ablauf der Ereignisse entspricht, nahm die Menschenrechtsgruppe an der Messe teil, obwohl der Priester im Vorfeld ihre Forderungen nach expliziter Integration in die religiöse Praxis verweigert hatte.29 Darüber hinaus brachte die Gruppe ihre Forderungen und die Namen der Verschwundenen durch den Aufruf per Handzettel mit der Messe in Verbindung. Zumindest für diejenigen, die diesen Handzettel kannten, war klar, dass die Messe für die dort genannten Verschwundenen gehalten wurde und dass sich mit dem religiösen Ritual eine politische Forderung nach deren Wiedererscheinen verband, auch wenn dies in der Messe selbst nicht artikuliert wurde. Somit nutzten die Angehörigen hier einen gewissen Handlungsspielraum, um der Messe die von ihnen intendierte Bedeutung zu verleihen. Für die Anwesenden, die den Aufruf nicht kannten, war es – soweit das den Akten zu entnehmen ist – nicht möglich, die Messe als Messe für die desaparecidos zu erkennen, so dass in diesem Fall die Teilnahme an der religiösen Praxis nicht ausreichte, um die ihr zugeschriebene Bedeutung zu erfassen. Sie konnte nur durch den per Handzettel vermittelten Kontext wahrgenommen werden. Auch hier lässt sich das Vorgehen der Menschenrechtsgruppe als eigenmächtige Aneignung des religiösen Ritus begreifen, da zumindest für einen Teil der Anwesenden die Messe den Verschwundenen gewidmet war. Allerdings wurde diese Bedeutungszuschreibung nicht seitens der Institution, das
29 Denkbar wäre auch, dass der Priester, um sich selbst zu schützen, bei der polizeilichen Befragung leugnete, dafür mitverantwortlich zu sein, dass die Messe per Handzettel als Messe für die Verschwundenen angekündigt worden war. Da der Priester aber nicht zum Kreis der aktenkundigen ›subversiven‹ Priester gehörte, über ihn noch keine Informationen vorlagen und er auch nicht Gegenstand weiterer Ermittlungen wurde, ist sehr viel wahrscheinlicher, dass seine Darstellung dem Ablauf der Ereignisse entspricht.
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heißt in diesem Fall von Seiten des zuständigen Priesters, vorgenommen, so dass eine Legitimation durch die Institution Kirche ausblieb.30 In den Quellen ist ein weiterer Fall überliefert, in dem Außenstehende anhand des Ritualgeschehens selbst keinerlei Verbindungen zur Menschenrechtsbewegung oder zu den Verschwundenen herstellen konnten. Aus diesem Grund wurde jene Messe in den Polizeiakten als »verdeckte Messe für die Verschwundenen« bezeichnet.31 Bei der fraglichen Messe am 19. Oktober 1982 in der Kirche San Luis Gonzaga in Mercedes ging die Initiative von den Madres de Plaza de Mayo aus. Laut Polizeibericht hörte ein verdeckter Ermittler ein Gespräch zwischen den Madres nach der Messe beim Verlassen der Kirche mit, in dem Unmut darüber laut wurde, dass die Verschwundenen in der Messe nicht erwähnt worden waren. Diejenige der Mütter, die dafür zuständig war, die Messe zu erbitten, erwiderte darauf, dass der Priester schon im Vorfeld gesagt habe, dass er keine »exklusive Messe« für sie halten könne und er »es nicht öffentlich machen werde«.32 Notiert wurde im Bericht, der Priester habe gesagt, es sei Sache der Angehörigen, das besondere Anliegen (auch als Intention bezeichnet) in die Messfeier zu legen: »que era cosa de los familiares poner la intensión [sic].«33 In der katholischen Kirche kann um das Abhalten einer Messe im Sinne eines bestimmten Anliegens ersucht werden. Dieses Anliegen wird dann, beispielsweise in Form einer Fürbitte, in die Liturgie eingebracht oder aber die gesamte Messe wird dezidiert diesem Anliegen gewidmet. Wenn der Priester also auf die Bitte um eine Messe für das besondere Anliegen der Madres de Plaza de Mayo hin erklärte, die Intention müsse von den Teilnehmer*innen selbst mittels ihrer Imagination in die Messe gelegt werden, dann bedeutet das, dass er sich weigerte, ihr Anliegen offiziell für alle Anwesenden sichtbar in den religiösen Ritus zu integrieren. Aus dem Bericht, der auf polizeilichen Beobachtungen beruhte, geht weiterhin hervor, dass der Priester zu keinem Zeitpunkt die desaparecidos erwähnte. Die Gruppe der Madres de Plaza de Mayo, so heißt es, »verwandte keines ihrer charakteristischen Elemente (Kopftücher, Armbänder etc.)«34. Für Außenste30 Ein anderer Fall einer Aneignung ist durch ein Flugblatt der Familiares de desaparecidos y detenidos por razones políticas belegt. Sie befanden sich unter den 3000 Teilnehmer*innen einer Messe mit dem Motto »Si quieres la paz, defiende la vida« (»Wenn du den Frieden willst, verteidige das Leben«), in der Kirche San Francisco in Buenos Aires, die eigentlich nicht den Verschwundenen gewidmet war. Mit ihrer Erklärung stellten sie diesen Bezug erst her und postulierten, dass sie sich durch die Messe in ihrem Anliegen bestärkt sahen. AD, Derechos Humanos, Familiares de desaparecidos y detenidos por razones políticas, Erklärung vom 7. August 1978. 31 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 19885, »misa encubierta por los desaparecidos«. 32 Ebd., »misa exclusiva«; »no lo iba a hacer publico«. 33 Ebd. (»dass es Sache der Angehörigen sei, die Intention hineinzugeben«). 34 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 19885, »no utilizó elementos que los caractericen (pañuelosbrazaletes, etc.)«.
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hende war die Messe deshalb nicht als Messe für die Verschwundenen zu erkennen, ihre Bedeutung kannten neben den polizeilichen Ermittlern nur der Priester, die Aktivist*innen der Menschenrechtsgruppe und möglicherweise ihnen bekannte Personen, die über die Messe informiert worden waren. Der aus dem Bericht hervorgehende Unmut über diese Tatsache macht deutlich, dass die Erwartung an diese Messe eine andere war und es der Menschenrechtsgruppe um eine öffentliche und damit legitimierende Inklusion in die religiöse Praxis ging. Interessant ist hier, dass die Menschenrechtsaktivist*innen trotz der Ankündigung, es werde keine explizite Inklusion ihres Anliegens geben, einer Messe beiwohnten, die äußerlich durch nichts von anderen Messen zu unterscheiden war. Vermutlich war nicht allen bewusst, dass es keine explizite Referenz geben würde oder sie hegten Hoffnung, dass der Priester dennoch einige Worte im Sinne der Aktivist*innen sprechen würde. Eine weitere Erklärung wäre, dass lediglich die Vorstellung, die Messe sei in besonderer Weise den Verschwundenen gewidmet, für die Akteur*innen eine ausreichend große Bedeutung hatte, um an der Messe teilzunehmen. Letzteres würde bedeuten, dass die religiöse Vorstellung, die Messe in Gedanken den Verschwundenen zu widmen, positiv bewertet wurde und subjektiv Sinn ergeben konnte, auch wenn die politische Dimension, die einer Öffentlichmachung bedurft hätte, im Ritual keine Rolle spielte. Dies stellt ein weiteres Indiz dafür dar, dass die spirituell-religiöse Dimension der Messen, die für die Verschwundenen abgehalten wurden, nicht irrelevant war. Die Teilnahme von Menschenrechtsaktivist*innen sollte deshalb nicht allein als instrumentelles Nutzen kirchlicher Ressourcen gedeutet werden. Denn obwohl nicht quantifiziert werden kann, wie viele Madres sich in welcher Intensität mit dem Geschehen identifizierten, lässt sich die Teilnahme an der oben geschilderten Messe auch als Ausdruck von Zugehörigkeit zum Katholizismus interpretieren. Allerdings geben die Quellen keine weitergehenden Hinweise dazu, wie stark sich die Menschenrechtsaktivist*innen diese gewissermaßen ›verdeckte Messe‹ zu eigen gemacht haben. Ihre Teilnahme, trotz der Weigerung des Priesters, spricht jedoch dafür, dass sie es zumindest in einer rudimentären Weise taten, so dass es sich hier ebenfalls um einen Fall von Aneignung handelt. Diese fand – sofern die überlieferten Äußerungen des Priesters als glaubwürdig erachtet werden – im Einvernehmen mit dem zuständigen Priester statt. Ungewöhnlich an diesem Fall ist, dass die Madres de Plaza de Mayo ihre Präsenz hier nicht durch weiße Kopftücher kenntlich machten, wie es gängige Praxis war.
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Die symbolische Dimension der eigenmächtigen Aneignung
Die Aneignung eines religiösen Rituals durch die Teilnahme der Madres de Plaza de Mayo an Gottesdiensten in ihren emblematischen Kopftüchern lässt sich anhand von Polizeiakten in mehreren Fällen nachvollziehen. Einige der erwähnten Messen erhielten nur durch die Kopftücher der Madres eine besondere symbolische Dimension, da weder durch den Inhalt noch den Ablauf des Rituals Bezüge zur Menschenrechtsfrage hergestellt wurden. Bei anderen Messen war die Verwendung des Kopftuchs durch die Mütter dagegen verknüpft mit weiteren Elementen, die die Messe klar erkennbar zu einer Messe für die desaparecidos machten. Im Folgenden sollen zunächst die Messen untersucht werden, bei denen allein die massive Präsenz der Mütter der Verschwundenen mit ihren Kopftüchern als Verweis auf das Problem des Verschwindenlassens diente. In der Regel sind die Polizeiberichte zu diesen Messen kurz, da während der fraglichen Gottesdienste, abgesehen von der Anwesenheit der Madres de Plaza de Mayo mit ihren Kopftüchern, keine besonderen Vorkommnisse beobachtet werden konnten. Die Kopftücher wurden von den Madres in der Öffentlichkeit getragen, zum einen, um sich als Mütter von Verschwundenen sichtbar zu machen und zum anderen, um sich bei der Teilnahme an Massenveranstaltungen untereinander zu erkennen. Erstmals benutzt wurden sie bei der Wallfahrt zum Nationalheiligtum in Luján im Oktober 1977. Ursprünglich handelte es sich bei den Kopftüchern um Windeln, so dass bereits die materielle Beschaffenheit des Kopftuchs ein Bezug zu den verschwundenen Kindern enthielt. Später wurden die Windeln durch weiße Dreieckstücher ersetzt und die Namen der Verschwundenen, das Datum der Verschleppung und der Begriff desaparecido wurden darauf gestickt. Da die Kopftücher ab Ende 1977 jeden Donnerstag bei den Protestmärschen auf der zentralen Plaza de Mayo in Buenos Aires benutzt wurden, avancierten sie bald zum Symbol für den Einsatz der Mütter für ihre verschwundenen Söhne und Töchter und den Kampf für die Menschenrechte im Allgemeinen. Mit dem Tragen der Kopftücher machten sich die Mütter der Verschwundenen, wie Hufschmitt formuliert, selbst zum Symbol.35 Auf diese Weise konnten die Madres mit ihrer physischen Präsenz auch ihr Anliegen sichtbar machen, wenn sie öffentlich auftraten und an religiösen Praktiken wie Messen oder Pilgermärschen teilnahmen. Sie zeigten durch ihre zahlreiche Anwesenheit zugleich, dass das Verschwindenlassen eine systematische Praxis darstellte und es sich nicht um Einzelfälle handelte. Mittels ihrer Präsenz nahmen sie sowohl physisch als auch symbolisch Raum ein, der das Ritual zwar nicht in seinem Ablauf veränderte, ihm aber eine zuvor nicht vor35 Vgl. Huffschmid, Anne: Risse im Raum. Gewalt, Erinnerung städtisches Leben in Lateinamerika, Wiesbaden 2015, S. 232f.
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handene Bedeutungsdimension hinzufügte. Die Mütter machten so den Gottesdienst, an dem sie als deutlich sichtbares Kollektiv teilnahmen, auch zu einem Gottesdienst für die Verschwundenen, obwohl von Seiten der zuständigen Priester oftmals keine offizielle Legitimation dieser Bedeutungszuschreibung erfolgte. Aus den vorliegenden Quellen geht in den meisten Fällen nicht hervor, wie die jeweils zuständigen Priester auf die Anwesenheit der Mütter reagierten. Aus diesem Grund konnte die Haltung des Geistlichen vor Ort bezüglich einer solchen Aneignung der Messe durch die Madres entweder zustimmend oder ablehnend sein. Insgesamt wird deutlich, dass es selbst bei einer ablehnenden Haltung eines Priesters einen gewissen Handlungsspielraum für die Madres de Plaza de Mayo gab. Sie konnten ihren Anspruch auf Inklusion in religiöse Praktiken sichtbar machen und gleichzeitig in gewissen Grenzen dennoch realisieren, da sie selbst – zum Symbol geworden – am Gottesdienst teilnahmen. Da aber, wie bereits festgestellt, keine Legitimation seitens der institutionell verantwortlichen Priester erfolgte, blieb eine solche Aneignung eine eigenmächtige Handlung, die unterschiedlich gedeutet werden konnte. Wie häufig solche Aneignungen stattfanden, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen nicht feststellen, ebenso wenig lässt sich sagen, welche Reichweite sie hatten. Es gibt aber zumindest Hinweise darauf, dass nicht nur die Anwesenden von der Aneignung des religiösen Rituals durch die Madres de Plaza de Mayo erfuhren. So berichtete beispielsweise die Zeitung Crónica über die Teilnahme der Madres de Plaza de Mayo an einer Messe in der Kathedrale von Buenos Aires am 30. August 1981. Die Messe wurde aus Anlass der Mediation des Papstes im Grenzkonflikt mit Chile abgehalten. Laut Zeitungsnotiz schlossen sich die Madres de Plaza de Mayo dieser religiösen Praktik an und beteten für die desaparecidos.36 Aus dem Bericht geht hervor, dass sich die etwa hundert Madres de Plaza de Mayo von den anderen Anwesenden durch ihre Kopftücher unterschieden. Im Anschluss an den Gottesdienst verteilten die Madres eine Erklärung, in der sie schrieben, dass sie für »den glücklichen Ausgang der päpstlichen Mediation in der Auseinandersetzung zwischen Argentinien und Chile um den Beagle-Kanal und für das lebendige Erscheinen unserer verhafteten-verschwundenen Kinder« gebetet haben.37 Obwohl die Messe einem anderen Sachverhalt gewidmet war, gelang es den Madres, sie sich anzueignen und das journalistische Interesse an dieser besonderen Messe für sich zu nutzen. So enthielt
36 Zu deutsch: »Lebendiges Erscheinen unserer verhafteten-verschwundenen Kinder«; Artikel aus der Tageszeitung Crónica vom 31. August 1981, abgedruckt in: Boletín Madres 8 (November 1981). 37 Ebd., »[…] una feliz culminación de la tarea mediadora del Santo Padre en el diferendo por el Canal de Beagle entre la Argentina y Chile y por la aparición con vida de nuestros hijos detenidos-desaparecidos.«.
Die symbolische Dimension der eigenmächtigen Aneignung
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der relativ kurze Text der Tagespresse über den Gottesdienst sogar zwei Mal die zentrale Forderung der Madres nach dem lebendigen Erscheinen ihrer Kinder.38 Bemerkenswert ist die Teilnahme an der Messe nicht nur aufgrund des Presseberichts, sondern auch vor dem Hintergrund, dass Kardinal Juan Carlos Aramburu, zu diesem Zeitpunkt Erzbischof von Buenos Aires, als regimestützend galt und ganz sicher nicht in der Menschenrechtsbewegung engagiert war.39 Der daraus resultierende Konflikt zwischen ihm und den Madres war während des Ritualgeschehens zumindest für diejenigen präsent, die beide Haltungen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur kannten. Aus dieser Perspektive konnte die Präsenz der Madres als Forderung nach einer Integration ihres Anliegens in die religiöse Praxis gelesen werden. Ohne dieses Wissen wäre es denkbar, die Anwesenheit der Madres de Plaza de Mayo in der Messe als Zeichen institutioneller Anerkennung und Integration zu lesen, indem der performativ vollzogenen Aneignung der religiösen Praxis eine Legitimierung durch die Vertreter der Amtskirche zugeschrieben wurde. Diese Lesart ist deshalb möglich, weil der eigenmächtigen Partizipation als deutlich erkennbare Menschenrechtsgruppe im Gottesdienst selbst nicht widersprochen wurde. Ein solcher Widerspruch wäre mit großer Wahrscheinlichkeit allgemein als Ablehnung und Delegitimation der Menschenrechtsaktivist*innen interpretiert und sehr wahrscheinlich auch als Störung der normativen Ordnung des Ritualverlaufs empfunden worden. Wesentlich dafür, dass kein für alle Anwesenden vernehmbarer Widerspruch gegen die Teilnahme der Madres in Kopftüchern erhoben wurde, dürfte das Einheitsideal der Kirche gewesen sein. Wäre der vorhandene Dissens vor allen Anwesenden explizit gemacht worden, hätte diese bedeutende normative Vorstellung von Einheit zerstört werden müssen. In den hier untersuchten Fällen gab es allerdings weder eine explizite, für alle Anwesenden vernehmbare Ablehnung der Menschenrechtsaktivist*innen und ihrer Anliegen, noch einen autoritativ gestützten Bezug zu den Verschwundenen während des religiösen Rituals.40 Deshalb gab es definitiv keine explizite Legi38 Artikel aus der Tageszeitung Crónica vom 31. August 1981, abgedruckt in: Boletín Madres 8 (November 1981). 39 Aramburu äußerte sich positiv zum Militärputsch 1976. Vgl. Obregón 2005, S. 60. Er unterstützte auch die Amnestie für das Militär. Vgl. Obregón, Martín: »La Iglesia argentina durante el ›Proceso‹ (1976–1983)«, Prismas – Revista de historia intelectual, Jg. 9 (2005), S. 259–270, hier 264ff. Die Haltung Aramburus zu kritischen Interventionen wurde bereits während der Diktatur von 1966 bis 1973 deutlich, als er im Januar 1969 den Priestern seiner Diözese verbot, zu politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Fragen öffentlich Stellung zu nehmen. Vgl. Mallimaci/Giménez Béliveau 2009, S. 423. 40 Die hier getroffene Aussage bezieht sich auf einen für alle Anwesenden vernehmbaren Widerspruch. Der oben geschilderte Fall der Verweigerung der Kommunion fällt nicht darunter, da er nur von sehr wenigen Anwesenden überhaupt wahrgenommen werden konnte. Nur wer sich in Hör- oder Sichtweite befand, als die jeweiligen Madres aus La Plata die Kommunion
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timation von Seiten der kirchlichen Autoritäten, die beispielsweise durch eine Widmung der Messe, eine Fürbitte oder ein Gebet für die desaparecidos möglich gewesen wäre. Inwiefern die Partizipation an der religiösen Praxis als Legitimation der von den Madres eingebrachten Inhalte gelesen wurde, lassen die Quellen nicht erkennen. Es handelt sich meines Erachtens aber um eine durchaus denkbare Deutung. Die Anwesenheit der Madres de Plaza de Mayo mit ihren Kopftüchern konnte, je nach Kenntnisstand der Betrachter*innen, als Forderung nach Integration, als Ausdruck von Dissens mit der offiziellen Haltung und Praxis der Kirche, oder als eine von offizieller Seite legitimierte Inklusion in die religiöse Praxis gelesen werden. Letztere Lesart ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn der betreffende Geistliche in dem konkreten religiösen Ritual keinen expliziten Bezug herstellte, aber allgemein für sein Menschenrechtsengagement bekannt war. Dies trifft beispielsweise auf Bischof Novak zu, über dessen Einsatz für die Menschenrechte auch die lokale Presse berichtete.41 In seinem Fall hielten die Polizeiakten eine Messe zum Abschluss des Marienjahres am 7. Dezember 1980 unter freiem Himmel fest, in der es zwar nicht um die Verschwundenen ging und bei der laut Polizeibericht weder Kritik an der Militärjunta noch an dem von ihr so genannten ›Prozess der Nationalen Reorganisation‹ geübt wurde.42 Aber unter den circa 90 Teilnehmer*innen waren 30 bis 40 Madres de Plaza de Mayo mit Kopftüchern, die sich hier durch ihre Symbolpräsenz den religiösen Ritus aneigneten. In diesem Fall darf davon ausgegangen werden, dass Bischof Novak die Aneignung wohlwollend aufnahm und billigte, auch wenn er dies während der Messe nicht explizit machte. Die Wahrscheinlichkeit, dass viele der Anwesenden um seine Haltung in der Menschenrechtsfrage wussten, ist relativ hoch. Dies besagt jedoch nicht, dass sie jedem Anwesenden bekannt und bewusst war und empfingen, konnte ihn überhaupt wahrnehmen. Für eine Messe während des Marienkongresses 1980 in Mendoza ist belegt, dass den Madres mit Berufung auf »eine explizite Anweisung des Erzbistums« befohlen wurde, die Kopftücher während der Messe abzusetzen. Aus der Darstellung des Ereignisses geht nicht hervor, wer genau diesen Befehl artikulierte und in welchem Kontext dies geschah. Da es in dem Bericht um polizeiliche Überwachung geht, könnten es Polizisten gewesen sein. Darauf deutet auch die Semantik der Formulierung »ausdrücklicher Befehl des Erzbistums« hin, wäre es der Bischof selbst gewesen und hätte er während des Ritualgeschehens diese Forderung vorgebracht, wäre die Wortwahl eine andere gewesen. Delegación de Madres al Congreso Mariano, in: Boletín Madres 3 (November 1980). Einzige Ausnahme im vorliegenden Material stellen die Äußerungen des Priesters Psenda dar, der während der Sonntagsmesse sagte, die Nutzung der Kathedrale von Quilmes sei für eine Fastenaktion der Madres de Plaza de Mayo nicht autorisiert worden. Allerdings kreist der Konflikt hier nicht um eine Aneignung des religiösen Rituals, sondern um die Aneignung des Ortes. La Nación, 15. Dezember 1981, Ayunan madres [sic] de Plaza de Mayo. 41 El Sol, 15. August 1980, Es una forma de ateísmo la violación de derechos humanos, Kopie des Artikels in der Akte DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2454. 42 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 256.
Inklusion und Legitimation des Protestanliegens
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verweist darauf, wie wichtig im Kontext der Diktatur das Wissen um Positionierungen und Symbole war, um bestimmte Ereignisse im Hinblick auf ihren Protestgehalt und dessen Legitimierung durch Vertreter der Amtskirche lesen zu können.
6.4
Inklusion und Legitimation des Protestanliegens
Die bisher betrachteten Fälle haben gemeinsam, dass keine legitimierte Integration der Menschenrechtsfrage in die religiöse Praxis erfolgte und die Vertreter der Amtskirche das Anliegen der Angehörigen der Verschwundenen nicht klar unterstützten, auch wenn in einigen Fällen ein stilles Einverständnis – wie im Falle der thematisch nicht den desaparecidos gewidmeten Messen des Bischofs Novak – oder eine implizite Duldung denkbar ist, so wie im Fall der ausführlich diskutierten ›verdeckten Messe‹. Gänzlich anders liegen die Fälle, in denen im Ritualgeschehen durch den Priester ein expliziter Bezug zu den desaparecidos und zur Menschenrechtsfrage hergestellt wurde. Hier fand eine klare Integration des Protestanliegens in die religiöse Praxis statt, so dass es eine offizielle Legitimierung von Seiten der institutionell verantwortlichen Akteure erfuhr. Diese so gestalteten Gottesdienste als ganz oder teilweise den Verschwundenen gewidmet zu deuten, war demnach nicht von bestimmten Wissensbeständen abhängig, sondern durch die eindeutige Benennung im Ritualgeschehen allen Anwesenden zugänglich. Dies war der Fall, wenn ein Gottesdienst den Verschwundenen gewidmet war, wie beispielsweise in der Gemeinde San Carlos im Mai 1981. Laut Polizeibericht beschränkte sich der Priester dabei auf die übliche Liturgie ohne von ihr abzuweichen. Kenntlich machte er die Messe lediglich durch den Hinweis, dass es sich um eine Messe für die Verschwundenen handelte.43 In diesem Fall scheint der Bezug zu den Verschwundenen zwar nicht in die üblichen Formen des Rituals integriert worden zu sein, zum Beispiel in Form einer Fürbitte oder Predigt, doch wurde er in die vom Priester vorgenommenen Handlungen eingebettet, so dass bei dieser Messe eine Integration des Protestanliegens in die religiöse Praxis stattfand. Ein weiteres Element waren die Mütter der Verschwundenen, die auch hier in Kopftüchern an der Messe teilnahmen. Unter den etwa 130 Gläubigen sollen sich circa 60 Angehörige von Verschwundenen befunden haben, die auch hier anhand ihrer Kopftücher identifiziert wurden. Durch die explizite Widmung und die mit ihr einhergehende Legitimation wird deutlich, dass die Präsenz der Madres in Kopftüchern nicht im Widerspruch zum Handeln des zuständigen Priesters stand. Aber auch wenn Einvernehmen über die Bedeutung des Got43 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 17542.
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tesdienstes zwischen den Madres de Plaza de Mayo bestand, blieben die Madres selbst dafür verantwortlich, ihre Kopftücher zu tragen und handelten daher auch in diesem Fall eigenmächtig. Dass es keine Handlungsroutine gab, die dazu geführt hätte, dass die Madres immer Kopftücher trugen, zeigt der Fall der bereits geschilderten ›verdeckten Messe‹, denn dort waren die Madres de Plaza de Mayo ohne Kopftücher erschienen.44 Möglicherweise reagierten sie damit auf die Weigerung des Priesters, eine Messe explizit für die Verschwundenen zu gestalten.45 In anderen Fällen hingegen, in denen keine Integration ihres Anliegens in den Gottesdienst erfolgte, optierten die Madres oft genug dafür, trotzdem in Kopftüchern – und damit als verkörperte Symbolisierung des Kampfes für die Verschwundenen und die Einhaltung der Menschenrechte – zu erscheinen. Aus der hier vorgenommenen Zusammenschau der unterschiedlichen Vorgehensweisen und Situationen wird deutlich, dass die Entscheidung und damit die Handlungsmacht bei den Müttern der Verschwundenen lag. Deshalb fällt meines Erachtens das Erscheinen in Kopftüchern auch im Fall einer bejahenden Haltung des Priesters in die Kategorie der Aneignung einer religiösen Praxis. Der wesentliche Unterschied zu den anderen Fällen liegt darin, dass der institutionell verantwortliche Priester diese Aneignung explizit legitimierte, indem er die Messe den desaparecidos widmete oder das Protestanliegen in das religiöse Ritual integrierte. Die Eigenmächtigkeit anhand der Kategorisierung auch in dieser Konstellation stark zu machen, dient unter anderem dazu, den Akteursstatus der Angehörigen der Verschwundenen im Blick zu behalten, denn dieser ließe sich leicht aus den Augen verlieren, würde man sich zu stark auf die Rolle des Priesters konzentrieren. Letzterer spielte zwar aufgrund seiner strukturellen Position innerhalb der Institution Kirche eine wichtige Rolle, konnte aber – wie bereits geschildert – keineswegs autoritativ und völlig autonom über das Geschehen bestimmen, sondern musste sich zu den Madres de Plaza de Mayo verhalten, die ihrerseits Einfluss auf die Gestalt der religiösen Praxis nahmen. Sie waren es, von denen der Wunsch und die Forderung nach Integration in die religiöse Praxis ausging. Sie waren es auch, die selbst bei einer expliziten Verweigerung durch die institutionell Verantwortlichen eigenmächtig ihren Handlungsspielraum nutzen
44 Am 2. Januar 1982 fand in der Gemeinde Santa Faz eine Messe für die Verschwundenen statt. Laut Polizeibericht war sie den Verschwundenen gewidmet, darüber hinaus gab es aber auch in diesem Fall keine Bezüge zu den desaparecidos. Unter den 80 Teilnehmer*innen konnten laut Polizeibericht keine der Madres de Plaza de Mayo identifiziert werden. Beim Vergleich dieses Berichts mit anderen, lässt sich aus dieser Information schließen, dass während der Messe niemand ein Kopftuch trug. Meines Erachtens schließt dies aber nicht aus, dass Angehörige von Verschwundenen teilnahmen, die in der Gruppe Madres de Plaza de Mayo organisiert waren. DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 59 (tachado 597). 45 Denkbar ist auch, dass das Weglassen der Kopftücher in Absprache mit dem Priester erfolgte.
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konnten, indem sie sich mittels ihrer symbolisch aufgeladenen, sichtbaren Teilnahme die religiöse Praxis aneigneten. Dieser Handlungsspielraum für eigenmächtige Aneignungen war allerdings begrenzt auf Praktiken, für die keine Beteiligung von Priestern nötig war. Insofern nahm der Priester, wie bereits erwähnt, eine strukturell bedeutende Position ein, die, aufgrund der unterschiedlichen Optionen sich zur Menschenrechtsfrage zu verhalten, mit einem relativ großen Handlungsspielraum einherging. Denn eine Inklusion in die religiöse Praxis der Institution, die für die Legitimation des Anliegens der Angehörigen der Verschwundenen zentral war, konnte erst durch ihn erfolgen, indem Wünsche und Forderungen der Menschenrechtsaktivist*innen aufgegriffen wurden und sie an der Gestaltung der Messen für die Verschwundenen beteiligt wurden und ihre Anliegen dort Raum fanden. Diese im Einvernehmen mit dem zuständigen Priester gestalteten Messen waren dementsprechend das Resultat eines Aushandlungsprozesses, der zu einer inkludierenden Praxis der Institution Kirche – zumindest in der betreffenden Gemeinde oder Diözese – führte. Insbesondere wenn die Problematik der systematischen Repression und vor allem des Verschwindenlassens von Menschen in die religiöse Praxis und Vorstellungswelt durch verschiedene Elemente eingebunden wurde, erfolgte eine starke Legitimierung des Menschenrechtsaktivismus. Bei den so gestalteten Gottesdiensten verband sich der politische Protest mit der religiösen Praxis. Im Folgenden wird untersucht, auf welche Art und Weise das Problem der desaparecidos in religiöse Deutungsmuster eingeschrieben wurde und welche Diskurselemente in die religiöse Praxis integriert wurden. Für die Frage nach der Rolle der Institution Kirche ist es von Bedeutung, zu analysieren, welche Position der beteiligte Priester einnahm, ob es sich beispielsweise um einen Gemeindepfarrer oder den Bischof der Diözese handelte. Es wird zudem der Frage nachgegangen, inwiefern diese religiöse Praxis Teil eines Kommunikationsprozesses war und wie sie Öffentlichkeit schaffen konnte. Auf welchen Wegen wurden die Messen für die Verschwundenen angekündigt? Beschränkte sich der Kreis der Teilnehmer*innen auf die Betroffenen oder ging er darüber hinaus? Lässt sich Anschlusskommunikation über diese besondere Form des Gottesdienstes feststellen? Um einen expliziten Bezug zu den desaparecidos und den Menschenrechten im religiösen Ritual herzustellen, gab es unterschiedliche Möglichkeiten. Zunächst konnte die gesamte Messe den Verschwundenen gewidmet werden. Oftmals gab es darüber hinaus jedoch keine weiteren Elemente, die sich auf diese Thematik bezogen, so dass der Ablauf des Rituals, abgesehen von der anfänglichen Widmung, nicht verändert wurde. In diesen Fällen vermerkten die Polizeiakten, dass die Messen mit Ausnahme der Widmung »normal« verlaufen
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seien.46 Die Widmung konnte jedoch in diesen Fällen als Schlüssel zur Interpretation bestimmter liturgischer Elemente dienen, wie zum Beispiel der Lesung aus dem Evangelium oder der Predigt. Auch wenn diese Elemente sich nicht konkret auf die desaparecidos bezogen, konnte diese Bedeutungsdimension mitgedacht werden, da es sich ja um eine Messe für die Verschwundenen handelte.47 Manchmal kamen zu der Widmung der Messe für die Verschwundenen weitere Elemente wie Fürbitten oder Lieder im Ritualablauf hinzu, die einen Bezug zu den desaparecidos oder der Menschenrechtsfrage herstellten. Mit ihnen wurden die Verschwundenen und ihre Angehörigen oftmals explizit in die religiöse Vorstellungswelt eingeschrieben. Es sind aber nur in wenigen Fällen Quellen verfügbar, die Einblicke in den Ritualablauf oder zumindest einzelne Elemente desselben geben. Bei der Untersuchung dieser vollständig überlieferten Ritualabläufe fällt auf, dass es zwar diese auf die Menschenrechtsfrage verweisenden Elemente gab, ein Großteil des Ritualgeschehens aber keine expliziten Bezüge bot. Die meisten Einzelelemente des religiösen Rituals stellten auch in diesen Fällen keine Abweichung von der üblichen Messfeier dar, sondern hätten sich ebenso gut in einer thematisch unspezifischen Messe finden können. Daran wird deutlich, dass die Praktik der rezeptionsleitenden Bedeutungszuschreibung durch den Priester oder Bischof sowohl für Messen, die durch eine Widmung kenntlich gemacht wurden, als auch für Messen mit zusätzlichen, eindeutigen Referenzen in einzelnen liturgischen Bestandteilen eine große Rolle spielte – denn so konnten auch die zunächst unmarkierten Elemente der Liturgie auf die Verschwundenen bezogen werden.48 Aus diesem Grund konnten die Anwesenden 46 Es ist nicht ausgeschlossen, dass es doch besondere, auf Verschwundene und Menschenrechte bezogene Elemente gegeben haben könnte, die von den Berichtschreiber*innen nicht als außergewöhnlich oder im Sinne der polizeilichen Überwachung für relevant gehalten wurden und deshalb nicht aufgezeichnet wurden. Ebenso wenig lässt sich ausschließen, dass bestimmte Beobachtungen nicht berichtet wurden, sei es aus Sympathie oder zur Vermeidung von zusätzlichen (Schreib-)Arbeiten. Trotz allem ist es meines Erachtens aber zulässig, anzunehmen, dass die Berichte in der Regel gemäß den Vorgaben zur gründlichen Beobachtung und Berichterstattung erstellt worden sind und daher eine verwertbare Quelle darstellen. Dies zeigen auch die Akten, in denen aus Perspektive der Polizei relevante Besonderheiten minutiös dargelegt wurden. 47 Vgl. zum Sprechen im Kontext von Diktaturen Lüdtke, Alf/Peter Becker (Hg.): Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte – Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997. Scott weist mit den Begriffen des ›public transcript‹ und des ›hidden transcript‹ einerseits auf die offene Kritik von Machtbeziehungen und andererseits auf die Unsichtbarkeit widerständiger Praktiken für die Mächtigen hin. Praktiken, die von außen nicht als widerständig gelesen werden konnten, können auch im hier untersuchten Zusammenhang als Teil eines ›hidden transcript‹ verstanden werden. Vgl. Scott, James C., Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990. 48 Wird davon ausgegangen, dass die Rezeption und Deutung bestimmter Inhalte auch durch die Rezipient*innen geschaffen wird, dann ist eine solche Lesart ebenfalls in Gottesdiensten
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die desaparecidos auch in jenen Momenten in die religiöse Vorstellungswelt einschließen, in denen die jeweiligen Elemente einer Messe keine Bezüge aufwiesen und auch kein erneutes Einschreiben der Thematik durch den Priester erfolgte. So konnten Signifikanten mit einer sehr vagen allgemeinen Bedeutung, wie Frieden oder Gerechtigkeit, auch ohne nähere Bestimmung als Ausdruck der Problematik der Repression und des Verschwindenlassens sowie des politischen Protests gegen die staatlich verübte Gewalt gelesen werden.49 Jene Elemente, die einen klaren Bezug zu den Verschwundenen herstellten, waren hingegen deutlich weniger deutungsbedürftig, da sie einen klaren, unmittelbar verständlichen Zusammenhang herstellten. In diesen Fällen konnte sowohl explizit politischer Protest artikuliert werden als auch eine Integration der Verschwundenen und ihrer Angehörigen in die religiöse Vorstellungswelt erfolgen. Der dezidierte, offene politische Protest lässt sich – was angesichts der starken Repression nicht verwundert – deutlich seltener finden, als Äußerungen einer religiös geprägten Semantik, die auf die Verschwundenen, politische Gefangene oder Folter bezogen waren. Letztere konnte damit als implizite Kritik an der Repressionspraxis gelesen werden, ohne dass sich einer Protest- oder Forderungssemantik bedient wurde. Von der Polizei wurde vor allem die Möglichkeit, dass religiöse Praktiken zur Artikulation genutzt werden konnten, als gefährlich eingestuft. Entsprechend standen religiöse Ereignisse mit einer hohen Teilnehmerzahl unter Beobachtung, vor allem dann, wenn bereits in religiöse Rituale eingebetteter Protest in derselben Diözese oder Gemeinde beobachtet worden war.50 Ein Beispiel für dezidierten Protest stellt die Messe des Bischofs Novak vom 21. Oktober 1979 in der Gemeinde Nuestra Señora de Lourdes in Quilmes dar. Während der Predigt äußerte der Bischof vor etwa 300 Anwesenden: »Man muss kämpfen, um den Aufenthaltsort der Verschwundenen ausfindig zu machen.«51 Während der Predigt bezog sich Novak auf Papst Johannes Paul II. und rief die ohne jegliche Markierung als Gottesdienste für die Verschwundenen möglich. So konnte beispielsweise das im Religiösen bedeutsame Thema des Friedens auf die politische Lage und die Repressionsproblematik bezogen werden. 49 Solche stark deutungsbedürftigen und deutungsoffenen Begriffe bezeichnen Lauclau und Mouffe als ›leere Signifikanten‹, vgl. Laclau, Ernesto/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 3. Aufl., Wien 2006. 50 So wurden beispielsweise die religiösen Akte in verschiedenen Diözesen, darunter Quilmes und Mar del Plata, im Rahmen der Osterwoche 1981 beobachtet. Die Geheimdienstler gingen davon aus, dass die Predigten zum Verbreiten politischer Inhalte genutzt werden könnten und die Madres de Plaza de Mayo oder Gewerkschafter beispielsweise »gewisse Situationen nutzen könnten, um ihre Standpunkte oder Absichten kundzutun«. (»[…] pueden llegar a capitalizar ciertas situaciones para exponer sus puntos de vista o intenciones, entre ellos se puede mencionar al grupo denominado ›Madres de Plaza de Mayo‹ o algunos sectores del gremialismo […]«), DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 308. 51 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2441.
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Gläubigen dazu auf, sich dessen Worte in Erinnerung zu rufen und »für den Frieden und die Gerechtigkeit der Welt«52 zu beten. Damit bezog Novak sich auf die höchste kirchliche Autorität der katholischen Kirche und verknüpfte seine Äußerungen mit denen des Papstes, so dass sie durch die Nähe zu den Papstworten an Legitimität gewannen.53 Im Anschluss an die Predigt ging er durch die Kirche und nahm Briefe entgegen, von denen es im Polizeibericht heißt, dass man ihren Inhalt nicht ermitteln konnte. Es wurde gemutmaßt, dass es sich um Bittschriften für die Verschwundenen handelte. Sofern diese Vermutung richtig war, wurde die Messe dadurch auch zu einem Kommunikationsraum, in dem Dokumente relativ sicher übergeben werden konnten. Dies gilt ebenso für das Verteilen von Kopien von Zeitungsartikeln über die Verschwundenen. Anhand der konfiszierten Textblätter der Messe zeigt auch dieser Fall, dass nur ein kleiner Teil der Liturgie einen direkten Bezug zu den desaparecidos herstellte. So wurden Fürbitten für die Verschwundenen gehalten. Diese sollten von der Gemeinde jeweils mit der Formel »Für unsere verschwundenen Angehörigen, bitten wir Dich, Herr«54 beantwortet werden. Durch diesen performativen Akt, der von allen Anwesenden gemeinsam ausgeführt werden sollte, wurden sowohl die Verschwundenen als auch die Angehörigen sowie alle Anwesenden Teil ein- und derselben vorgestellten Gemeinschaft, die über die Anwesenden hinauswies. Gleichzeitig bekundeten die nicht unmittelbar von der Repression betroffenen Teilnehmer*innen der Messe, dass sie die Menschenrechtsverletzungen auch als ihr Problem begriffen, wenn sie mitsprachen und die Verschwundenen als ›unsere Verschwundenen‹ bezeichneten.55 Auf diese Weise wurde die kollektive Verantwortung von Katholiken für den Kampf gegen Menschenrechtsverbrechen artikuliert. Die jeweiligen Fürbitten bestanden aus kurzen, in religiöser Semantik formulierten Sätzen und adressierten, mit Bezug auf biblische Inhalte, Themen wie Befreiung aus ungerechten Verhältnissen 52 Ebd., »ORAR POR LA PAZ Y LA JUSTICIA DEL MUNDO«. Die Großschreibung des Originals soll im Bericht als Hervorhebung dienen und wurde für die deutsche Übersetzung zugunsten des Leseflusses hier und in ähnlichen Fällen den üblichen Konventionen angepasst. 53 In ähnlicher Weise rekurrierte Novak bei anderer Gelegenheit auf die Autorität des Papstes, indem er einen Brief vorlas, der die Unterstützung des Vatikans für die Menschenrechtsarbeit zum Ausdruck gebracht haben soll. »Monseñor Novak leyó una carta llegada del vaticano, en respuesta de una misiva del Obispado de Quilmes, donde la Santa Sede apoya las actuaciones por los familiares de los desaparecidos que la misma realiza.« (»Monseñor Novak las einen aus dem Vatikan eingetroffenen Brief, in Antwort auf ein Schreiben des Bistums Quilmes, in dem der Heilige Stuhl die Handlungen zugunsten der Angehörigen der Verschwundenen unterstützt, welche die Diözese realisiert.«) , DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2454. 54 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2441, »Por nuestros familiares desaparecidos, te rogamos, Señor.«. 55 Anhand der Quellen kann nicht nachvollzogen werden, ob tatsächlich alle Anwesenden diese Worte sprachen. Es ist denkbar, dass es auch Teilnehmer*innen gab, die diese Fürbitte nicht mitsprachen, weil sie mit ihrem Inhalt nicht einverstanden waren.
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(Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei), Nächstenliebe und Gerechtigkeit (ungerechte Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz, Gott als Richter über die Taten eines jeden Einzelnen). Durch die gemeinsame Antwort aller Anwesenden wurden die ohne explizite Bezüge formulierten Fürbitten zu Fürbitten für die Verschwundenen. In dem Lied- und Textblatt, das in oben genannter Messe an die Anwesenden verteilt worden war, finden sich darüber hinaus keine expliziten Referenzen, aber es lassen sich Elemente ausmachen, die sich auf die Situation der desaparecidos oder ihrer Angehörigen beziehen lassen. Viele dieser Elemente stellen keine Besonderheit der liturgischen Praxis dar und bedurften einer starken Interpretation, um Bezüge zur Menschenrechtsthematik herzustellen, während andere deutlich stärker dazu beitrugen, der Messe einen eigenen Charakter zu verleihen, auch wenn es nicht explizit um Verschwundene ging. Beispielsweise rief die gesamte Gemeinde zum Ende der Messe in einem Gebet oder Lied Maria an. Der Text richtete sich zwar mit der persönlichen Anrede an jeden einzelnen der in der Messe versammelten Gläubigen, aber er lässt sich in besonderer Weise auf den Kampf der Madres de Plaza de Mayo und der Angehörigen der Verschwundenen für die Menschenrechte beziehen: »Während Du durchs Leben schreitest bist Du niemals allein, / mit Dir auf dem Weg geht die Heilige Maria, / KOMM GEH MIT UNS, HEILIGE MARIA KOMM (Wiederholung) / Auch wenn einige Dir sagen, dass sich nichts ändern kann, kämpfe für eine neue Welt, kämpfe für die Wahrheit. / Auch wenn die Menschen ohne sich zu kennen durch die Welt gehen, verweigere niemals dem, der in Deiner Nähe ist, Deine Hand. / Auch wenn Deine Schritte sinnlos scheinen, schaffst Du im Gehen den Weg, andere werden Dir folgen.«56
Vor dem Hintergrund, dass die Angehörigen der Verschwundenen oftmals soziale Ausgrenzung erlebten, entfalteten diese Zeilen eine besondere inkludierende Botschaft. Ende 1979 hatte sich die Menschenrechtsbewegung zwar schon formiert, hatte aber – trotz ihrer zunehmenden Sichtbarkeit – nur wenig öffentliche Bedeutung erlangt. Die gerade in der Formierungsphase der Bewegung immer wieder gemachte Erfahrung, mit dem Einsatz für die Verschwundenen eine bis dato in dieser Form unbekannte soziale Bewegung zu schaffen und somit einen ungewissen Weg zu beschreiten, wird in der letzten Zeile aufgegriffen. Zugleich wird die Erfahrung der sozialen Isolation adressiert und die Hoffnung vermittelt, dass diese mit der Zeit überwunden werden kann. Damit spricht der 56 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2441, »Mientras recorres la vida tú nunca solo estás, / contigo por el camino Santa María va. / VEN CON NOSOTROS A CAMINAR; SANTA MARÍA VEN (Bis) / Aunque te digan algunos que nada puede cambiar, lucha por un mundo nuevo, lucha por la verdad. / Si por el mundo los hombres sin conocerse van, / no niegues nunca tu mano al que contigo está. / Aunque parezcan tus pasos inútil caminar, tú vas haciendo camino, otros te seguirán.«.
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Text auch die emotionale Erfahrungsebene der Angehörigen der Verschwundenen an, zu der der Verlust der bekannten Weltdeutungsschemata nach dem Verschwinden eines Angehörigen sowie die Brüche in der sozialen Lebenswelt zählen. Dazu gehören die oftmals abweisenden Reaktionen des persönlichen Umfelds und relevanter gesellschaftlicher Akteure auf das Ereignis einer illegalen Verschleppung. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt, machten die Angehörigen der Verschwundenen auch mit Vertretern der katholischen Kirche sowie mit der Institution als solcher immer wieder derartig negative Erfahrungen.57 Gerade deshalb war die hier vorgenommene Inklusion so wichtig. Durch den gemeinsam vollzogenen performativen Akt waren es nicht nur die institutionell Verantwortlichen der katholischen Kirche, die das Anliegen und die Sorgen der Angehörigen als legitim anerkannten und es sich zu eigen machten, sondern auch alle Teilnehmenden, die im Gottesdienst eine konkrete Präsenzgemeinschaft bildeten. Obwohl im oben zitierten Text keine Gleichsetzung der Mütter der Verschwundenen mit Maria vorgenommen wurde, so wurde doch eine besondere Nähe hergestellt, die sowohl das Anliegen der Madres legitimierte als auch einen spirituellen Beistand versprach. Neben der für die Angehörigen der Verschwundenen und die Menschenrechtsbewegung prägenden Erfahrung, auf Widerstände zu stoßen und diese zu überwinden, adressiert der Text zentrale Themen der Bewegung: Den Kampf für sozialen Wandel und für Wahrheit sowie für Solidarität untereinander. Insbesondere der Bezug auf das semantische Feld des Kampfs verweist auf die politische Dimension des Gesagten, da dieser Kampf nach außen, auf die Gesellschaft bezogen war. Der Anspruch auf Wahrheit wurde von den Menschenrechtsaktivist*innen nicht nur postuliert, sondern das Wissen um die systematischen Menschenrechtsverletzungen sollte auch allgemein als Wahrheit anerkannt werden. Die Semantik des Kampfs verweist zudem implizit auf die gegenläufigen Kräfte, die die Etablierung dieses Wissensbestands als wahr zu verhindern versuchten. Dazu gehörte unter anderem die gezielte Propaganda der Militärjunta. Anhand der hier analysierten Elemente der Messe wird deutlich, dass der politische Protest auch dann in das religiöse Ritual integriert werden konnte, wenn er nicht primär in einer Semantik des Protests artikuliert wurde, sondern gewissermaßen eines Interpretationsschlüssels bedurfte, der durch weitere Elemente des religiösen Rituals oder dessen Kontext zur Verfügung gestellt wurde. Dies gilt auch für den Bezug zu den desaparecidos. Es war, wie bereits ausgeführt, nicht zwingend nötig, eine explizite Referenz zu artikulieren, sofern den Anwesenden ein solcher Interpretationsschlüssel zur Verfügung stand.
57 Siehe insbesondere Kapitel 5 und 9.
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Ein weiteres Beispiel für einen kollektiven performativen Akt, in dem die Menschenrechtsfrage Teil eines religiösen Rituals wurde, ist der ökumenische Gottesdienst in der Gemeinde Santa Cruz am 24. Oktober 1980.58 Dieser Gottesdienst war eindeutig den desaparecidos gewidmet und stellte während des Ritualgeschehens Bezüge zu den desaparecidos und den Erfahrungen der Angehörigen der Verschwundenen her. Ähnlich wie im Fall der bereits analysierten Fürbitten in der Messe unter Leitung von Bischof Novak, wurden während dieser religiösen Zeremonie Gebete in Form einer Litanei gesprochen, auf die die Anwesenden kollektiv antworteten. In den kurzen Textteilen der Litanei wurden etliche wichtige Aspekte thematisiert, die sowohl persönliche als auch politische Dimensionen aufwiesen. So baten die Gottesdienstteilnehmer*innen um göttlichen Beistand für die Verschwundenen, die Schmerz und Ungewissheit erlitten haben, oder riefen Gott darum an, dass die Autoritäten des Landes eine konkrete Antwort auf die flehentlichen Bitten der aufgrund der Abwesenheit ihrer Liebsten verängstigten Familien geben mögen. Zudem beteten sie dafür, dass alle Menschen für den Triumph von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit eintreten mögen.59 Auch in diesem Zusammenhang wurden die Verschwundenen demnach als Teil einer essentiell christlichen Gemeinschaft vorgestellt.60 Während dieser religiöse Akt allgemein den Verschwundenen gewidmet wurde, war die Messe in der Gemeinde Santa Maria del Pueblo in Buenos Aires am 14. Mai 1982 ganz konkret für eine Gruppe junger Menschen abgehalten worden, die zu diesem Zeitpunkt auf den Tag genau sechs Jahre zuvor verschleppt worden war und bis heute als verschwunden gilt.61 In der Einleitung nannte der zur Messe verteilte Text die Namen der Betroffenen und artikulierte klar und deutlich die Verantwortlichkeit des Militärs für das Verschwinden dieser Menschen. Die auf dem Textblatt abgedruckten biblischen Texte bezogen sich thematisch auf Gottes Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit (Jesaja 59, 58 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16535; Die Einladung zu dieser Messe befindet sich in folgendem Bestand: DIPBA, DS Varios, Legajo 16889. 59 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16535. 60 Da es sich um einen ökumenischen Gottesdienst handelte, spielten konfessionelle Zugehörigkeiten keine Rolle. Ein Hinweis auf die große Bedeutung katholischer Akteur*innen und des Katholizismus ist neben dem Versammlungsort, der katholischen Kirche Santa Cruz, die namentliche Nennung des Bischofs Novak, der für die Lesung des Evangeliums zuständig war, und des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel im Polizeibericht, während Akteur*innen anderer Konfessionen nicht genannt wurden. In Anbetracht der hohen Zahl von Katholik*innen in Argentinien ist es zudem wahrscheinlich, dass viele der 500 Teilnehmenden sich selbst als Katholik*innen verstanden. Aufgrund der verschiedenen Hinweise auf die starke Präsenz katholischer Akteur*innen wurde diese ökumenische Messe in die Analyse einbezogen. 61 Messe aus Anlass des Jahrestags der Verhaftung und des Verschwindens von María Esther Lorusse und anderen, darunter die Tochter von Emilio Mignone. CELS, Documentos origenes Derechos Humanos 1976/1986.
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14–19), Nächstenliebe (Johannes, Erster Brief, 5, 20–21) und auf die Notwendigkeit einer demutsvollen Haltung bei der Ausübung von Macht – oder allgemeiner – verantwortungsvoller Tätigkeiten für Andere (Markus 10, 41–45). In den Fürbitten wurden die Vornamen der desaparecidos genannt und es wurde dafür gebetet, dass »der Herr ihnen das Wiedersehen mit den Unterdrückten, den Armen und den Bescheidenen gewähre, die sie lieben und für die sie litten, arbeiteten und kämpften.«62 Ungewöhnlich an dieser Passage ist, dass die Verschwundenen hier nicht als Opfer ohne Bezug zu ihrer sozialen und politischen Identität dargestellt werden, sondern im Gegenteil deutlich gemacht wird, dass sie sich sozial engagierten und für ihre Ideale kämpften. Eine weitere Besonderheit im Text dieser Messe lässt sich im Abschlussgebet finden. Hier werden nicht nur die direkten Verwandten angesprochen, sondern auch die Freunde: »Herr, führe alsbald die Stunde des Rechts herbei, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, der Freiheit der Unterdrückten, der Versöhnung und des Wiedersehens. Gib uns die Kraft, um für die Ideale unserer Kinder, Brüder und Freunde zu arbeiten und um so wie sie zu sein, Diener Aller. Vater, Dein Wille geschehe.«63
Dies ist insofern ungewöhnlich, da die argentinische Menschenrechtsbewegung sich in erster Linie entlang von Verwandtschaftsbeziehungen konstituiert hatte und es in der kollektiven Erinnerung meist keinen Platz für jene gab, die eine Wahlverwandtschaft zu den desaparecidos hatten und heute noch haben.64 Hier jedoch wurden sie explizit einbezogen und es wurde deutlich gemacht, dass das Verschwindenlassen sie ebenso betraf wie die direkten Angehörigen. Zudem wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Verschwundenen Teil eines sozialen Netzes waren. Diese sozialen Beziehungen waren jedoch nicht rein privater Natur, sondern hatten auch eine politische Dimension. Neben dem Einschreiben der desaparecidos in die Gemeinschaft der Gläubigen, wurden die Verschwundenen dementsprechend als Vorbild für die Anwesenden dargestellt und eine Traditionslinie ihres Kampfs für sozialen Wandel begründet. Dieser setzte sich auch im Kampf der Angehörigen und Freunde um die Ermittlung des Verbleibs der desaparecidos und der juristischen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen fort. Hier lässt sich ansatzweise die Konstruktion einer Kontinuität feststellen, 62 CELS, Documentos origenes Derechos Humanos 1976/1986, Textblatt mit der Überschrift: 1976 – Viernes 14 de mayo – 1982, »[…] que el señor les otorgue el reencuentro con los oprimidos, los pobres y los humildes, a quien aman y por quienes [sic] sufrieron, trabajaron y lucharon.«. 63 Ebd., »Señor, acelera la hora del derecho, la verdad y la justicia; de la libertad de los oprimidos, de la reconciliación y del reencuentro. Danos fuerza para trabajar por los ideales que animaron a nuestros hijos, hermanos, amigos y para ser como ellos, servidores de todos. Padre, que se haga tu voluntad.«. 64 Vgl. Sosa, Cecilia, Queering Acts of Mourning in the Aftermath of Argentina’s Dictatorship. The Performances of Blood, Woodbridge 2014.
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wie Catoggio sie für die Figur des Märtyrers herausgearbeitet hat.65 Auch wenn die Opfer in diesem Zusammenhang nicht als Märtyrer bezeichnet werden, ist diese Assoziation zumindest möglich, wenn davon die Rede ist, dass sie für die Armen und Unterdrückten litten. Worin ihr Leiden bestand, wird nicht explizit formuliert. Eine mögliche Deutung wäre, die Repression als Leid zu deuten, so dass in der Figur des ›Erleidens für andere‹ die Figur Jesu evoziert wird und eine Nähe der Verschwundenen zu ihm hergestellt wird, die auch in anderen Kontexten immer wieder beobachtet werden konnte.66 Symbolisch gesehen stellen die Nennung der Namen und die Verweise auf die soziale und politische Eingebundenheit der desaparecidos eine Inklusion in die Gesellschaft dar, aus der sie durch die Repression und Ächtung als ›Subversive‹ ausgeschlossen wurden. Mit dem Herstellen von Nähe zu zentralen Figuren der katholischen Vorstellungswelt wurde dem Handeln der desaparecidos eine besondere Legitimität zugeschrieben, ähnlich wie es geschah, wenn die Mütter der Verschwundenen den Platz Marias einnahmen oder in ihre Nähe gerückt wurden. Diese Einschreibung ging oftmals von den Müttern selbst aus, was erneut zeigt, dass die Messen, in denen das Verschwinden der Kinder thematisiert wurde, Ergebnis eines Aushandlungsprozesses mit den Vertretern der Amtskirche war, der auch Möglichkeiten der Partizipation schaffen konnte. So trug eine der Madres während einer Messe in Berazategui am 24. November 1980 einen von ihr selbst verfassten Text vor, in dem sie davon sprach, dass die Mütter den steilen und steinigen Kreuzweg gehen. Stellvertretend für die anwesenden Mütter formulierte sie, sie suchten »wie neue Marias das wahre Schicksal unserer verschwundenen Kinder«.67 Die Bedeutung des Einschreibens der desaparecidos und ihrer Angehörigen in eine religiös geprägte Vorstellungswelt liegt sowohl in der individuellen als auch der politischen Dimension dieser Einschreibung. Individuell konnte sie dazu beitragen, den durch das Verschwinden eines nahestehenden Menschen ausgelösten Sinn- und Orientierungsverlust abzumildern, indem zur Bewältigung dieser Erfahrung, die mit bekannten Weltdeutungsmustern kaum zu begreifen war, ein sinnstiftendes Narrativ angeboten wurde.68 Gesellschaftlich gesehen bedeutete das Einschreiben ein symbolisches Postulat der Zugehörigkeit der Verschwundenen und ihrer Angehörigen in die Gemeinschaft der Katholiken und darüber hinaus auch in die vorgestellte Gemeinschaft der Nation, sofern der Prämisse gefolgt wird, dass die Vorstellung, die argentinische Nation sei in ihrem 65 Vgl. Catoggio 2016. 66 Siehe Kapitel 5. 67 Misa en Berazategui, in: Boletín Madres 4 (Januar 1981), »Como nuevas Marías, buscamos el veraz destino / de nuestros hijos desaparecidos«. 68 Vgl. Feierstein 2016; Amigo, Roberto, »Letanías en la catedral. Iconografía cristiana y política en Argentina. Cristo obrero, cristo guerillero, cristo desaparecido«, Studi Latinoamericani, Jg. 1 (2005), S. 184–227.
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Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
innersten Wesen katholisch, zu diesem historischen Zeitpunkt allgemein als unhinterfragte Wahrheit galt.69 Der Anspruch, nicht nur Teil der religiösen, sondern auch der nationalen Gemeinschaft zu sein, wird ganz besonders deutlich daran, dass die Madres de Plaza de Mayo auch an den Wallfahrten zum Nationalheiligtum in Luján teilnahmen.
6.5
Öffentliche Sichtbarkeit des politisch-religiösen Protests
Wichtig im Zusammenhang mit den Messen und anderen religiösen Praktiken des Protests ist die Frage nach dem Herstellen von Öffentlichkeit. Die während der inkludierenden Messen transportierten Inhalte waren in jedem Fall für die Teilöffentlichkeit der Anwesenden, einer unterschiedlich großen Zahl von Teilnehmer*innen, die von einer eher kleinen Gruppe bis zu mehreren Hundert Menschen reichen konnte, zugänglich.70 Beispiele mit zahlenmäßig starker Partizipation deuten darauf hin, dass bei diesen Messen nicht exklusiv die Mütter der Verschwundenen anwesend waren. Dafür spricht auch, dass die Madres de Plaza de Mayo in den Polizeiberichten oftmals als Teilgruppe der Anwesenden benannt und beziffert wurden.71 69 In einem Fall wurde die Verbindung zur Vorstellung der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft besonders deutlich, als am Ende der Messe in der Gemeinde Nuestra Señora de Luján am 14. Januar 1982 die Nationalhymne gesungen und skandiert wurde: »se va a acabar la dictadura militar« (DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 720). Während der Predigt zitierte der Gemeindepfarrer, den die Polizeiakten als Mitglied der zu diesem Zeitpunkt de facto nicht mehr existierenden Priestergruppe MSTM führten, einen Text des Nobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel. Dieser Text thematisierte die Repression und sprach von der Hoffnung eines baldigen Endes der Diktaturen in Lateinamerika. Da die Messe für das Gedenken eines Arbeiters gehalten wurde, der – wie es scheint – Opfer der Repression geworden war, aber aus den Akten kein Zusammenhang zu den Verschwundenen im Allgemeinen hervorgeht, gehört diese Begebenheit systematisch nicht zu den Messen für die Verschwundenen, lässt sich aber in den weiteren Kontext des Protests in religiösen Ritualen einordnen. 70 An einer Messe am 8. Juli 1979 nahmen 300 Personen teil (DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14418), am 9. September 1979 ebenfalls 300 Personen (DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14393), am 27. Juli 1980 etwa 110 Teilnehmer*innen (DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16045) und am 20. April 1980 haben circa 500 Gläubige an einem Gottesdienst teilgenommen DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2454. Insgesamt ist die Zahl der Fundstellen nicht groß genug, um eine generalisierende Aussage über die Teilnehmerzahlen zu treffen. 71 Ein extremes Beispiel ist die Messe vom 20. Oktober 1979 in der Kathedrale von Quilmes für die desaparecidos und die Gefangenen des PEN. Es waren circa 200 Personen anwesend, davon sollen laut Polizeibericht drei Frauen von der Organisation Madres de Plaza de Mayo gewesen sein, die – so der Bericht – eigens für diese Messe angereist waren. DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2441. Wenn die Quellen die Madres und die Gesamtteilnehmerzahl beziffern, ist zu bedenken, dass damit nichts über die Zugehörigkeit der anderen Anwesenden ausgesagt ist, bei denen es sich auch um Väter, Großeltern, Geschwister oder Freunde von
Öffentliche Sichtbarkeit des politisch-religiösen Protests
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Dementsprechend konnten die während der Messe artikulierten Protestanliegen und die performativ-symbolische Inklusion der Verschwundenen und ihrer Angehörigen auch von Außenstehenden wahrgenommen und verstanden werden, sofern diese den jeweiligen Gottesdienst besuchten. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Protestveranstaltungen, die im öffentlichen Raum stattfanden, denn anders als bei Protesten im öffentlichen Raum war der im Ritual artikulierte Protest nur denjenigen zugänglich, die sich aktiv dafür entschieden hatten, an einer Messe teilzunehmen. Das bedeutet nicht, dass jede*r Teilnehmer*in im Vorhinein immer wusste, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Messe handeln würde. Deshalb war es gut möglich, dass manche Besucher*innen während des Gottesdienstes mit Themen konfrontiert wurden, denen sie sich andernfalls nicht aktiv zugewandt hätten.72 Insofern und weil es prinzipiell jedem frei stand, eine Messe zu besuchen, lässt sich hier, bezogen auf die Präsenzgemeinschaft, von einer gewissen Form der Teilöffentlichkeit sprechen. Diese hatte jedoch, durch die grundlegend notwendige, aktive Entscheidung zur Teilnahme und die prinzipielle Binnenorientierung auf die Anwesenden, einen grundsätzlich anderen Charakter als Praxisformen, die im öffentlichen Raum als ein nach außen gerichteter Kommunikationsakt angelegt waren. Es lassen sich allerdings auch Belege dafür finden, dass eine Messe bereits im Vorfeld als Messe für die desaparecidos angekündigt und somit das Wissen um den besonderen Charakter dieser Gottesdienste öffentlich verfügbar wurde. Dies konnte auf ganz unterschiedlichen Wegen erfolgen. Eine Möglichkeit war die mündliche Bekanntmachung in anderen Gottesdiensten, wie beispielsweise im Fall einer Messe in der Kirche San José am 27. Juli 1980 von der Polizei beobachtet und notiert wurde. In diesem Bericht hielt die Polizei auch fest, dass eine Messe für die Verschwundenen regelmäßig alle zwei Monate am 4. Sonntag im Monat stattfand.73 Durch diese Institutionalisierung brauchten die einmal Eingeweihten nicht jedes Mal neu informiert zu werden. Trotzdem wurde die Praxis der Ankündigung nicht aufgegeben, wie sich an dem hier untersuchten Beispiel erkennen lässt. Die Reichweite dieser Ankündigungen blieb dabei jedoch auf die Anwesenden und ihre persönlichen Netzwerke beschränkt. Anders dagegen verhielt es sich bei Ankündigungen über die Presse, die in Form eines redakVerschwundenen gehandelt haben kann. Bei einer großen Teilnehmerzahl von mehreren Hundert Menschen steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass auch Außenstehende partizipierten, die weder eine enge Beziehung zu den desaparecidos hatten, noch in der Menschenrechtsbewegung aktiv waren. 72 Für die beobachtenden Polizisten stand fest, dass während der Messe für die Verschwundenen am 10. April 1983 in Mercedes unter den 200 Teilnehmer*innen auch Gläubige anwesend waren, die rein gewohnheitsmäßig den Sonntagsgottesdienst besuchten. DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 20241. 73 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16045.
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tionellen Beitrags erfolgten. Auf diesem Weg konnten potentiell wesentlich mehr Menschen erreicht werden. Die Leser*innen erfuhren über die Presse nicht nur von der Messe selbst, sondern wurden auch auf das Thema der Verschwundenen aufmerksam gemacht. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang, dass die öffentliche Ankündigung einer Messe für die Verschwundenen eine legitimierende Wirkung hatte, da sie als offizielle Praxis der Kirche gelesen werden konnte. So wurde in der Lokalzeitung El Sol aus Quilmes vom 6. Juli 1979 angekündigt: »Der Bischof Novak wird eine Messe für Verschwundene halten«74. Der Artikel berichtete, dass die lokale Comisión de Familiares de Desaparecidos etliche Anstrengungen unternommen hatte, um den Aufenthaltsort ihrer verschwundenen Angehörigen zu erfahren und dass am folgenden Sonntag um 15 Uhr Bischof Novak eine Messe für die desaparecidos halten werde. In anderen Fällen ist eine Ankündigung per Handzettel belegt.75 So lud beispielsweise die Comisión Diocesana de Justicia y Paz der Diözese Quilmes, die sich in besonderer Weise in der Menschenrechtsbewegung engagierte, zur Messe am 9. September 1979 in der Kirche San Juan Bautista in Florencio Varela ein, indem Flugblätter auf der Straße verteilt wurden.76 Auch hier handelt es sich um eine öffentliche Ankündigung, die aber, anders als die Ankündigung über die Presse, mit größeren Risiken verbunden war, da sich die Verteiler der Flugblätter öffentlich exponieren mussten. Deutlich reduziert war der Adressatenkreis, wenn die Bekanntmachung der Messe durch eine persönlich überreichte Einladung erfolgte, wie im Fall eines ökumenischen Gottesdienstes am 24. Oktober 1980 in der Kirche Santa Cruz in Buenos Aires. Die auf einen relativ kleinen Zettel gedruckte Einladung war zwar nicht persönlich adressiert, aber da der Text sich an »Sie und die Ihren« richtet, wird deutlich, dass Personen aus dem näheren Umfeld angesprochen wurden. Vermutlich wurde diese kleine Einladungskarte persönlich überreicht und nicht wie ein Flugblatt auf der Straße verteilt. Für eine gezielte Einladungspolitik in diesem Fall spricht auch, dass die Messe kurz nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Adolfo Pérez Esquivel stattfand. Er zählte zu den etwa 500 Besucher*innen dieses Gottesdienstes. Da die Menschenrechtsbewegung durch die Verleihung des Friedensnobelpreises internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren hatte, stellte dieser Gottesdienst ein ganz besonderes,
74 El Sol, 6. Juli 1979, El Obispo Novak oficiará una misa por desaparecidos, Kopie in den Akten der DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14418. 75 In diesem Polizeibericht wurde festgehalten, dass die Messe mündlich und nicht wie sonst per Flugblatt angekündigt worden war, was ein Hinweis auf die Regelmäßigkeit dieser Praxis ist. DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16045. 76 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14393.
Öffentliche Sichtbarkeit des politisch-religiösen Protests
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gemeinschaftsstiftendes Ritual für die Menschenrechtsbewegung dar.77 Die Gottesdienste selbst wurden nicht nur zur Ankündigung weiterer Messen für die Verschwundenen genutzt, sondern boten Raum für Artikulation und Kommunikation, die nicht unmittelbar Teil des religiösen Ritus waren. Neben Aufrufen zu anderen religiösen oder säkularen Veranstaltungen78 wurden Informationen und Hinweise bezüglich der Repressionspraxis in Umlauf gebracht, wenn beispielsweise Kopien eines Zeitungsartikels über das Verschwindenlassen aus einer spanischen Zeitung verteilt wurden79 oder Zettel die Runde machten, auf denen dazu geraten wurde, sich an einem bestimmten Tag von der Plaza de Mayo in Buenos Aires fern zu halten.80 Im Anschluss an den Gottesdienst konnten darüber hinaus Flugblätter oder kleine Aufkleber mit Protestbotschaften weitergegeben werden. Auch bestand die Möglichkeit, eine Unterschriftensammlung durchzuführen.81 In einem Fall wurde während einer Aktionswoche für die Verschwundenen im Mai 1981 ein Gottesdienst abgehalten sowie im selben Zeitraum eine Anzeige mit Forderungen an die Militärjunta abgedruckt. Diese Anzeige bezog sich zwar nicht auf die religiöse Praxis, konnte aber aufgrund der zeitlichen Nähe in Zusammenhang mit dem Gottesdienst gebracht werden.82 Zudem konnten Aktivisten der Menschenrechtsbewegung vor, während oder nach dem Gottesdienst wichtige Absprachen über Organisationsfragen treffen. Die anfangs dargelegte Praxis, nach Rosenkranzgebeten im Atrium der Kirche zu verweilen, um sich dort zu besprechen, lässt sich auch im Anschluss an Gottesdienste feststellen.83 Anhand der unterschiedlichen Formen der Kommunikation rund um die Messen für die Verschwundenen wird deutlich, dass nicht nur das Ritualge77 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16535; La Prensa, 14. November 1980, Demonstración al Premio Nobel de la Paz, zitiert nach Noticiero APDH 17 (November 1980). 78 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 16045. 79 DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 2441. 80 Mutmaßlich handelte es sich um Warnungen vor Einsätzen der Polizei oder des Geheimdienstes, möglicherweise befürchtete man auch Verhaftungen oder die Verschleppung der Aktivist*innen. Im hier zitierten Fall wurden nach der Messe kleine Zettel verteilt, auf denen stand: »día lunes debían abstenerse de concurrir a Plaza de Mayo« (»am Montag sollten Sie von Zusammenkünften auf der Plaza de Mayo absehen«). DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14393. 81 DIPBA, Mesa DS, Viarios, Legajo 14434. 82 In der Zeitung La Capital wurde zudem eine solicitada mit folgendem Text veröffentlicht: »24 al 31 de mayo [1981] – semana internacional del desaparecido – Al comité militar: reiteramos nuestro angustioso y legitimo reclamo a las autoridades responsables para que se nos informe des destino de nuestros seres queridos, detenidos – desaparecidos de Mar del Plata« (24. bis 31. Mai [1981] – Internationale Woche des Verschwundenen – An das Militärkomitee: »Wir wiederholen unseren angstvollen und legitimen Protest gegenüber den verantwortlichen Autoritäten, damit wir informiert werden über das Schicksal unserer geliebten, verhafteten Angehörigen, verschwunden aus Mar del Plata«), DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 17542. 83 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 20241.
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schehen an sich bedeutsam war, sondern auch die über diese religiöse Praxis hinausgehende Kommunikation. Auch wenn die Reichweite relativ begrenzt war, ermöglichten die Messen prinzipiell Kommunikation über die Repression und die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte, die stellenweise über den engen Kreis der Menschenrechtsaktivist*innen und das eigentliche Ritualgeschehen im Gottesdienst hinausweisen konnte. Wie bereits festgestellt, wies der Gottesdienst eine prinzipielle Binnenorientierung auf und richtete sich nicht in erster Linie an Außenstehende. Diese Binnenorientierung konnte jedoch aufgebrochen werden, wie anhand der hier untersuchten Messen deutlich wird, so dass der Gottesdienst zum Resonanzraum für politische Botschaften werden konnte.84 In vielen der hier untersuchten Fälle war zudem die Integration der desaparecidos und ihrer Angehörigen in die religiöse Vorstellungswelt und Praxis wesentlich, die sich zunächst an diese Gruppe richtete, aber auch Ausdruck symbolischer Zugehörigkeit gegenüber Dritten war. Diese Integration in religiöse Vorstellungswelten und Praktiken beinhaltete unter der Militärdiktatur immer auch eine politische Dimension, da sie sich gegen den politischen wie sozialen Ausschluss und die Entrechtung dieser Menschen wandte. So wurde die Willkürherrschaft des Militärs aus religiöser Perspektive zugleich als Verletzung rechtsstaatlicher, menschengemachter Verfahren und Prinzipien sowie als Verletzung der gottgewollten Ordnung verstanden.
6.6
Konflikte um die Legitimität religiös-politischen Protests und Grenzen der institutionellen Handlungsspielräume
Religiöse Gebets- und Fastenaktionen fanden, ebenso wie die Messen, in kirchlichen Gebäuden statt, hatten aber einen prinzipiell nach außen, an die Öffentlichkeit gerichteten Charakter. Belege dafür gibt es vor allem aus der Phase der beginnenden politischen Öffnung der frühen 1980er-Jahre. Eine besonders gut dokumentierte Gebets- und Fastenaktion fand Ende 1981 zeitgleich in den Diözesen Neuquén und Quilmes statt.85 Begonnen hatten die Menschenrechts84 Die grundsätzliche Binnenorientierung bedeutet nicht, dass Gottesdienste überhaupt keine nach außen gerichteten Kommunikationsanteile haben, nur sind sie für das Ritualgeschehen nicht konstitutiv. 85 Einige Zeit nach der Fastenaktion brachte die Gruppe aus Neuquén eine Broschüre heraus, in der neben Erklärungen zu den Gründen für die Fastenaktion auch die täglichen Verlautbarungen während der Aktionszeit abgedruckt wurden. Asamblea Permanente por los Derechos Humanos (Delegación Neuquén) /Comisión de Familiares de Detenidos y Desaparecidos del Neuquén, por Razones Políticas (Hg): Exigimos JUSTICIA porque queremos la PAZ, Neuquén 1982 [im Folgenden zitiert als APDH/FAMILIARES (Neuquén) 1982]. Zudem berichtete die überregionale Presse: La Nación, 15. Dezember 1981, Ayunan madres [sic] de Plaza de Mayo; La Nación, 16. Dezember 1981, Ayuna en Quilmes un grupo de madres; La
Konflikte um die Legitimität religiös-politischen Protests
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gruppen in der Diözese Neuquén ihre Protestaktion am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, an dem parallel eine Demonstration für die Einhaltung der Menschenrechte in Neuquén stattfand.86 Am 11. Dezember schlossen sich die Madres de Plaza de Mayo in der Kathedrale von Quilmes an.87 In beiden Diözesen nahmen auch Priester an der Fastenaktion teil. Rúben Capitanio stand an der Spitze der Gruppe in Neuquén, die von Bischof Nevares unterstützt wurde. In Quilmes nahm Priester Antonio Puigjané teil, der, laut Angaben der Madres de Plaza de Mayo, von Bischof Novak explizit dazu autorisiert worden war. Während des tagelangen gemeinsamen Fastens spielte die religiöse Praxis des Gebets und des Gottesdienstes eine wichtige Rolle sowohl für die Gruppe als auch für Außenstehende, die nicht selbst fasteten, da sie auf diese Weise auch an der Protestaktion teilnehmen konnten. Beispielsweise luden die Aktivist*innen in Neuquén jeden Abend um 22 Uhr zum gemeinsamen Gebet ein und es wurden regelmäßig Messen gehalten.88 Zudem machten die Organisator*innen wiederholt ihre Anliegen durch Presseerklärungen (comunicados) bekannt, in denen sie auch über den Gesundheitszustand der Fastenden Auskunft gaben. Durch die Berichterstattung der regionalen wie überregionalen Presse war die Aktion öffentlich bekannt. Im Ausland wurde sie ebenfalls zur Kenntnis genommen, wie die schriftlich eingegangenen Solidaritätsbekundungen zeigen. Sie stammten in etlichen Fällen von Akteur*innen der internationalen Menschenrechts- und Solidaritätsbewegungen, die teilweise ein christliches Selbstverständnis hatten oder als religiöse Akteur*innen Teil der Bewegung waren.89 Es finden sich aber auch Solidaritätsadressen etlicher Akteur*innen, die auf lokaler oder nationalstaatlicher Ebene aktiv waren. Eine solche Gebets- und Fastenaktion in sakralen Räumen und mit Beteiligung eines Priesters durchzuführen, scheint für die Zeitgenoss*innen wie auch die Organisator*innen nicht selbstverständlich und selbsterklärend gewesen zu sein. So verwandte die Gruppe aus Neuquén in ihrer nach der Aktion publizierten Broschüre einige Mühe darauf, die Gründe für eine Fastenaktion in der Kirche und die Teilnahme eines Priesters darzulegen und zu legitimieren. Dabei stellten sie die Kirche als Institution dar, die gewissermaßen von Anbeginn ihrer Existenz die »umfassende Verteidigung des Menschen«90 – und damit der Menschen-
86 87 88 89 90
Nación, 19. Dezember 1981, Jornadas de ayuno en Neuquén y Quilmes; La Nación, 22. Dezember 1981, Finaliza el ayuno de protesta en Quilmes. Río Negro, 11. Dezember 1981, Reunión en Neuquén por los derechos humanos. Nuestra Actividad – Ayuno y oración, in: Boletín Madres 9 (März 1982), S. 12. Am 10. Dezember 1981 begann nachmittags auch die Marcha de la Resistencia. Siehe hierzu Kapitel 5. APDH/FAMILIARES (Neuquén) 1982, S. 5. Eine lange Liste von Unterstützungsschreiben findet sich in der Broschüre zur Aktion in Neuquén. Ebd., S. 29–31. Ebd., S. 7, »La Iglesia ha asumido desde siempre la defensa integral del hombre.« (»Die Kirche hat seit jeher die umfassende Verteidigung des Menschen übernommen.«).
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Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
rechte – zu ihrer Sache gemacht hat, so dass eine solche Fastenaktion als Wesen des institutionellen Handelns erschien. Die Vorstellung einer Tradition ab aeterno und damit einer essentiell christlichen Praxis zeigt sich auch in der Aussage, dass Christus selbst das Fasten und das Gebet praktiziert habe. Die Fastengruppe aus Neuquén beschrieb ihre eigenen Haltungen und Handlungen als im Christentum wurzelnd. Diesem Selbstverständnis entsprechend stellten sie einen transzendentalen Bezug zur ihrem eigenen Wirken in der Menschenrechtsbewegung her, wenn sie beteten, Gott möge ihnen die Kraft geben, dass sie »niemals den Kampf für die fundamentalen Rechte aller Menschen aufgeben«91. Mit dem Einschreiben in religiöse Praktiken, Traditionen und Vorstellungswelten drückten die lokalen Menschenrechtsgruppen, die sich, ebenso wie die Gruppen in Buenos Aires, entlang von Verwandtschaftsbeziehungen und politischen Orientierungen organisiert hatten, eine starke Zugehörigkeit zum Katholizismus aus, obwohl für ihre kollektive Identität als Akteur der Menschenrechtsbewegung Religion laut Selbstbeschreibung keine konstitutive Rolle spielte. Diese Zugehörigkeit erstreckte sich auch auf die Institution Kirche. Anders als in vielen anderen Diözesen des Landes unterstützten die Priester und der Bischof der Diözese Neuquén die Menschenrechtsbewegung. Ihre klare Haltung dürfte dazu beigetragen haben, dass eine derart starke Identifikation seitens der Angehörigen der Verschwundenen und der Menschenrechtsaktivist*innen stattfand, so dass an ihrer engen Verbindung zum Bischof von Neuquén und seiner Diözese kein Zweifel blieb. Die Dankbarkeit für die Unterstützung seitens des Bistums und des Bischofs drückten die Akteur*innen der lokalen Menschenrechtsbewegung in der Broschüre über die Fastenaktion aus: »Monseñor de Nevares ist einer der Männer, die am meisten für die Menschenrechte in diesem Land getan haben und immer noch tun.«92 Hinter der Fokussierung auf den Bischof an der Spitze der Diözese traten die anderen an der Menschenrechtsarbeit beteiligten Akteur*innen, wie die Priester oder Ordensfrauen, in der Wahrnehmung weit in den Hintergrund, auch wenn sie, wie beispielsweise der Priester Rubén Capitanio, sehr eng mit den Menschenrechtsaktivist*innen zusammenarbeiteten. Bezogen auf die Identifikation der Menschenrechtler*innen mit dem Christentum ist die Formulierung interessant, dass die Kirche von Neuquén – symbolisiert in der Darstellung durch die Kathedrale – ihren Forderungen Widerhall gab, ihnen Schutz bot und ihre
91 APDH/FAMILIARES (Neuquén) 1982, S. 6, »Quisimos también orar, para pedirle a Dios que nos diera la fuerza necesaria para no dejar nunca de luchar por los derechos fundamentales de todos los hombres.«. 92 Ebd., S. 12, »Monseñor de Nevares, es uno de los hombres que más ha hecho y hace por la defensa de los derechos del hombre en nuestro país.«.
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Hoffnung nährte und – wie sie sagten – »unseren Kampf christlich machte«.93 Diese Ausdrucksweise kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der Kampf nicht als originär christlich gesehen wurde, ebenso wenig wie die meisten der Menschenrechtsorganisationen sich als christliche Organisationen verstanden, dass aber in der gemeinsamen Menschenrechtsarbeit eine starke religiöse Identifikation geschaffen wurde. Vor allem die emotionale Dimension spielte eine Rolle. Dabei wurde in der Selbstbeschreibung zugleich Wert darauf gelegt, dass die offiziellen Vertreter des Bistums keinesfalls bloß spirituellen Beistand leisteten, sondern dass es immer auch um einen politischen Kampf ging, in dem der legitimierende Einschluss seitens der Institution Kirche wichtiges symbolisches Kapital lieferte: »Die väterliche Seelsorge des Bischofs und die christliche Brüderlichkeit sorgten nicht nur dafür, dass wir uns begleitet fühlten in unserem Schmerz, sondern auch, dass wir bestärkt wurden in unseren Anstrengungen in der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Kathedrale war für uns niemals ein [bloßer, B.R.] Zufluchtsort. Sie war immer ein Zeichen der Legitimität unseres Kampfes und der Stärke unseres Engagements.«94
Anhand der untersuchten Publikation wird deutlich, dass die Menschenrechtsaktivist*innen das Handeln der ihnen nahestehenden Vertreter der Amtskirche nicht als persönliche Entscheidung verstanden, sondern als Erfüllung einer aus dem religiösen Amt erwachsenen Pflicht, die jene im Namen der Institution Kirche ausübten. Bezogen auf die Teilkirche der Diözese Neuquén mag diese Aussage zutreffend sein, doch bezogen auf die Kirche in Argentinien insgesamt drückte sie in erster Linie einen normativen Anspruch aus und keine Beschreibung der herrschenden Realität. Anders als für die Gruppe in Neuquén war es für die Gruppe der Madres in Buenos Aires, zu denen auch Madres aus dem Großraum Buenos Aires und somit der Diözese Quilmes gehörten, schwer, institutionelle Unterstützer und einen Ort für eine Gebets- und Fastenaktion zu finden. Geplant hatten die Madres ihre Fastenaktion in Abstimmung mit der Gruppe in Neuquén und der in Buenos 93 Ebd., S. 12, »Desde el primer momento la Catedral de Neuquén fue el recinto donde se escuchó nuestro dolor y recibió nuestra plegaria. Desde el primer momento sus paredes brindaron eco a nuestro reclamo y nos cobijaron fortaleciendo nuestra esperanza y haciendo cristiana nuestra lucha.« (»Vom ersten Moment an war die Kathedrale von Neuquén der Ort, an dem man unseren Schmerz gehört hat und unsere Gebete empfangen hat. Vom ersten Moment an boten ihre Wände ein Echo unserer Forderungen und schützten uns, stärkten unsere Hoffnung und machten unseren Kampf christlich.«). 94 APDH/FAMILIARES (Neuquén) 1982, S. 12, »La paternidad pastoral del obispo y la fraternidad cristina de sus sacerdotes, desde siempre nos hicieron sentir no sólo acompañados en nuestro dolor, sino también animados en nuestro esfuerzo por buscar la Verdad y lograr la Justicia. Jamás la Catedral fue para nosotros un refugio. Siempre fue un signo de la legitimidad de nuestra lucha y la fortaleza de nuestro compromiso.«.
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Aires ansässigen, christlichen Menschenrechtsgruppe Servicio Paz y Justicia (SERPAJ). Ursprünglich sollte die Gruppe aus Buenos Aires die Fastenaktion in den Räumen des SERPAJ durchführen. Nachdem der SERPAJ seine Teilnahme aufgrund von Meinungsverschiedenheiten95 mit der Gruppe aus Neuquén kurzfristig abgesagt hatte, stand das Lokal in Buenos Aires nicht mehr zur Verfügung. Bei ihrer Suche nach einem alternativen Versammlungsort fragten die Madres unter anderem bei verschiedenen religiösen Institutionen an, erhielten aber nur Absagen, wie sie enttäuscht festhielten: »Nachdem alle Anfragen bei verschiedenen Kirchen und Institutionen fruchtlos waren, entschieden wir – einmal mehr – allein weiter zu machen.«96 Letztlich beschlossen sie, in der Kathedrale von Quilmes zu fasten. Am Abend des 11. Dezember 1981 fanden sie sich dort ein, um für das lebendige Erscheinen ihrer verschwundenen Kinder zu demonstrieren. Ebenso wie in Neuquén war bei der Aktion in Quilmes die politische Dimension des religiös eingebetteten Protests offenkundig und für Dritte ohne Probleme wahrnehmbar, da die Presse nicht nur über die Protestaktion an sich, sondern auch über die dort verkündeten Motive und Ziele berichtete. In der konkreten Praxis spielte für die Gruppe selbst die religiöse Dimension eine wichtige Rolle, da sie den Tag im gemeinsamen Gebet verbrachten.97 Darüber hinaus stellte auch in diesem Fall das Einschreiben des Problems der desaparecidos und ihrer Angehörigen in religiöse Praktiken und Vorstellungen einen Akt der Integration dar, der wesentlich von den Aktivist*innen selbst ausging. Diese Eigenmächtigkeit wurde seitens der Institution Kirche auf lokaler Ebene jedoch nicht uneingeschränkt positiv gesehen. Laut einer Erklärung des Bistums Quilmes, die Tage später veröffentlicht wurde, hatten die Madres de Plaza de Mayo das Einnehmen der Kathedrale zum Zweck des politisch-religiösen Protests mit niemandem abgestimmt.98 Warum sie nicht versucht hatten, das Einverständnis des für die Kathedrale zuständigen Priesters einzuholen, geht aus den Quellen nicht hervor. Die Wahl der Kathedrale von Quilmes als Ort für die Fastenaktion mag damit zusammenhängen, dass der Bischof der Diözese die Menschenrechtsbewegung unterstützte und die Madres es deshalb für wahrscheinlich hielten, dass ihr Vorgehen gebilligt würde.99 Möglicherweise hielten sie deshalb ein Ersuchen um offizielle Autorisierung für 95 96 97 98 99
Über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheiten geben die Quellen keine Auskunft. MADRES, B7.6, Erklärung der Madres zur Fastenaktion in Quilmes [Dezember 1981]. La Nación, 15. Dezember 1981, Ayunan madres [sic] de Plaza de Mayo. La Nación, 16. Dezember 1981, Ayuna en Quilmes un grupo de madres. Im Dezember 1980 wurde in Quilmes eine Gebetsnacht (vigilia de oración) abgehalten, zu der ein Textheft herausgegeben wurde, das auch etliche Predigten des Bischofs Novak aus den Messen für die Verschwundenen enthielt. Es belegt eindrucksvoll die konstante Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsbewegung. Vigilia de oración con los Familiares de DETENIDOS-DESAPARECIDOS, 25–26/10/1980, Diócesis de Quilmes, Archivo CELS, otras organizaciones 13.
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überflüssig. Tatsächlich wurde die Gruppe der fastenden Madres de Plaza de Mayo in der Kathedrale von Quilmes zunächst geduldet, wenn auch nicht völlig unwidersprochen, denn der in der Kathedrale amtierende Pfarrer Isidoro Psenda machte während der Sonntagsmesse deutlich, dass die Fastenaktion gegen die institutionelle Ordnung verstieß. Er wies die anwesenden Gläubigen auf die gleichzeitig anwesende Gruppe der fastenden Madres de Plaza de Mayo hin und betonte, dass »diese Demonstration nicht autorisiert wurde, dennoch habe man erlaubt, dass sie die Kathedrale nutzen.«100 Kurz darauf wurde die Ablehnung des Vorgehens durch die Verantwortlichen der Diözese ganz offiziell, als diese eine Mitteilung in der Angelegenheit veröffentlichten. Daraus ging hervor, dass die Missachtung der institutionellen Autorität Unmut hervorrief und dass eine offizielle Autorisierung nicht stattgefunden hatte. Zugleich wurde unmissverständlich deutlich gemacht, dass das Anliegen der Madres respektiert und geteilt würde. Dennoch, so hieß es, könne dieser Verstoß gegen die institutionelle Ordnung nicht gutgeheißen werden.101 Im Konflikt um die Nutzung der Kathedrale als Ort des Protests für die Menschenrechte waren somit nicht nur die Madres de Plaza de Mayo und der zuständige Pfarrer involviert, sondern, mit dem Bischof, auch die oberste Leitungsebene der Diözese. Die Perspektive des Bischofs lässt sich nur anhand der zitierten Stellungnahme nachvollziehen, so dass es schwierig ist, festzustellen, ob es Unterschiede zwischen den jeweiligen Positionen des Priesters Isidoro Psenda und des Bischofs Jorge Novak gab. Jedoch gibt es Hinweise darauf, dass ihre Positionen nicht übereinstimmten. Aufschluss über den Konflikt geben die Verlautbarungen und Aussagen der Madres de Plaza de Mayo gegenüber der Presse. Nach 10 Tagen, am 22. Dezember 1981, beendeten sie ihre Gebets- und Fastenaktion. Aus ihrer Perspektive führte vor allem die mangelnde Unterstützung der argentinischen Kirchenhierarchie und die »konstante Aggression«102 des Priesters Isidoro Psenda sowie des Gemeinderates zur Entscheidung, die Aktion zu beenden. Angesichts der Tatsache, dass Bischof Novak grundsätzlich gute Beziehungen zu den Madres de Plaza de Mayo hatte, scheint es vor allem der amtierende Priester der Kathedrale gewesen zu sein, der sich vehement gegen die 100 La Nación, 15. Dezember 1981, Ayunan madres [sic] de Plaza de Mayo, »[…] puntualizando que esa manifestación no había sido autorizada, pese a lo cual se les permitió que ocuparan el templo.«. 101 La Nación, 16. Dezember 1981, Ayuna en Quilmes un grupo de madres. 102 Die Tageszeitung La Nación zitiert Folgendes aus der Erklärung der Madres, mit dem sie unter anderem das Ende der Protestaktion begründeten. Der Erklärung zufolge wurde die Entscheidung getroffen wegen »la constante agresión del párroco de la catedral, padre Isidoro Psenda, y su consejo pastoral que nos amenaza con imprevisibles consecuencias« (»der konstanten Aggression des Priesters der Kathedrale, Isidoro Psenda, und seines Pastoralrats, der uns mit unvorhersehbaren Konsequenzen bedroht«), La Nación, 22. Dezember 1981, Finaliza el ayuno de protesta en Quilmes.
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Aktion stellte. Darauf deutet auch hin, dass Bischof Novak nicht explizit von den Madres kritisiert wurde. Allerdings waren sie von der Haltung des Bistums – und damit implizit auch von der des Bischofs – enttäuscht, weil das Bistum »dem Überschreiten des rechtlichen Rahmens mehr Bedeutung beimisst als der Schwere und der Dringlichkeit unseres Dramas.«103 Die Enttäuschung spricht auch aus der Darstellung der Aktion in der Zeitschrift der Madres. Dort bekundeten sie, dass sie eine andere Haltung der Kirche erwartet hatten, selbst wenn sie – wie sie einräumten – die Kathedrale ohne »ausdrückliche Autorisierung«104 für ihre Aktion genutzt hatten. Diese Erwartung speiste sich unter anderem aus ihrer Selbstverortung, da sie sich, wie an anderen Stellen auch, im Konflikt um die Kathedrale in Quilmes als Christinnen identifizierten.105 So schrieben sie in ihrer Erklärung zur Beendigung der Gebetsund Fastenaktion über die ihnen entgegengebrachten negativen Reaktionen: »Als Christinnen fühlen wir uns zutiefst enttäuscht, wenn wir die Verletzung der Prinzipien des Evangeliums sehen, uns schmerzt es festzustellen, wie weder Laien noch Priester christliche Barmherzigkeit praktizieren angesichts unseres unverstellten Schmerzes und so beabsichtigen, unser freiwilliges und friedliches Opfer zu zerstören.«106
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass auch Lai*innen als relevante Akteure angesprochen werden. Leider kann über deren Haltung gegenüber den Madres de Plaza de Mayo nur wenig ausgesagt werden, da ihre Positionierungen nur sehr punktuell in den Quellen vorkommen, wie in der obigen Darstellung, und es sich zudem um eine sehr heterogene Gruppe mit einem breiten Spektrum 103 Die Madres de Plaza de Mayo formulierten: »La Iglesia de Quilmes, con profunda desilusión de nuestra parte, ha dado mas importancia a una transgresión legal que a la hondura y urgencia de nuestro drama.« La Nación, 22. Dezember 1981, Finaliza el ayuno de protesta en Quilmes. 104 Boletín Madres 9 (März 1982), S. 12, »[…] si bien es cierto que nos instalamos en la catedral de Quilmes sin autorización expresa, también es cierto que esperábamos de la Iglesia una actitud acorde a su investidura.« (»[…] auch wenn es zutrifft, dass wir uns in der Kathedrale ohne explizite Autorisierung niederließen, so ist es ebenso zutreffend, dass wir von der Kirche eine Haltung im Einklang mit der Würde der Institution erwartet hatten.«). 105 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Enttäuschung sich nicht nur auf die Diözese Quilmes bezog, sondern auch auf den Episkopat, an den die Madres de Plaza de Mayo sich während der Fastenaktion mit einer Erklärung gewandt hatten. »El 5to. día de ayuno y oración se difundió un segundo comunicado destinado a los obispos argentinos rogándoles que reclamasen ante el gobierno militar que informe dónde se encuentran sus hijos.« (»Am 5. Tag des ayuno y oración verbreitete man eine zweites, an die argentinischen Bischöfe gerichtetes Kommuniqué mit der Bitte, von der Militärregierung zu fordern, dass sie darüber informieren soll, wo sich ihre Kinder befinden.«), Boletín Madres 9 (März 1982), S. 12. Zu den Erwartungshaltungen und dem Verhältnis zum Episkopat siehe Teil 1 dieser Arbeit. 106 MADRES, B7.6, »Como cristianas, nos sentimos profundamente defraudadas comprobando la violación de los principios del Evangelio, constatando con dolor que tanto laicos como sacerdotes no practican los predicamentos de misericordia cristiana ante nuestro indisimulado dolor, pretendiendo así quebrar nuestro voluntario y pacífico sacrificio.«.
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an Einstellungen handelte. Aus Quellen und Zeitzeugenberichten der Madres de Plaza de Mayo lassen sich zumindest einige Reaktionsweisen erkennen, selbst wenn dieses Material es nicht erlaubt, zu bestimmen, wie weit verbreitet die jeweilige Reaktionsweise war. Vor allem in den ersten Jahren der Diktatur spielte das durch die Repression geschaffene Klima der Angst eine Rolle. So erlebten die Madres bei ihren religiös-politischen Aktionen, dass Menschen Interesse an ihrem Protest oder Gesten der Solidarität zeigten, sich aber aus Angst schnell von der eigentlichen Aktion oder der Gruppe der Madres zurückzogen.107 An anderer Stelle wird über eine solidarische Unterstützung der Gebets- und Fastenaktion berichtet.108 Dennoch gab es immer wieder auch ablehnende bis feindselige Reaktionen von Lai*innen, die dagegen waren, dass sich der Protest der Madres mit religiösen Praktiken verband. Mit ihrer Sicht auf den Konflikt um die Gebets- und Fastenaktion in der Kathedrale von Quilmes machten die Madres auf den Handlungsspielraum der Funktionsträger der Amtskirche aufmerksam, den jene in den Augen der Madres dafür hätten nutzen können und müssen, die Gebets- und Fastenaktion zu unterstützen und umfassend zu legitimieren. Auch wenn, wie bereits dargelegt, das Anliegen der Madres in der Stellungnahme des Bistums nicht delegitimiert wurde, sondern eine grundsätzliche Übereinstimmung postuliert wurde, so stellt die Zurückweisung, die mit dem dezidierten Hinweis auf die mangelnde Autorisierung einhergeht, zumindest eine teilweise Delegitimierung der Protestaktion dar. Der feindseligen Haltung des Priesters Isidoro Psenda zum Trotz konnten die Madres 10 Tage lang in der Kathedrale fasten. Diese Tatsache weist darauf hin, dass in diesem Fall nicht der Priester allein über die Duldung der Madres entschieden hatte, sondern auch der Bischof einen Anteil daran hatte. Auch Nora 107 Einige Menschen brachten den Fastenden Wasser, wie Nora Cortiñas erinnert, hatten aber Angst, ihre Solidarität zu bekunden. »Sin justicia no hay democracia completa« [Interview mit Nora Cortiñas], in: Puentes 20 (März 2007), S. 77. 108 In Neuquén äußern die Fastenden gegenüber der Presse ihre Dankbarkeit für die vielfach erfahrene Solidarität. Río Negro, 13. Dezember 1981, Prosigue el ayuno en la catedral de Neuquén. Auch die Fastenden in Quilmes betonten gegenüber der Presse die Solidarität der Bevölkerung. Río Negro, 16. Dezember 1981, En la catedral de Quilmes. Diese Darstellung widerspricht scheinbar den zuvor zitierten Erinnerungen von Nora Cortiñas, die über zögerliche Gesten der Unterstützung sprach. Bei der Bewertung beider Quellen sollten unbedingt der Entstehungszusammenhang und die Art des konstruierten Narrativs, auch im Hinblick auf die Rezipienten, berücksichtigt werden. Im Zusammenhang mit der laufenden Fastenaktion hatte die Betonung des Zuspruchs aus der Bevölkerung eine legitimierende und schützende Funktion zugleich, während das im Interview erzeugte Narrativ unter anderem die Geschichte der Widrigkeiten in der Menschenrechtsarbeit betont. Aufgrund dieser unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Bedeutung der Solidarität während der Fastenaktion überbetont und andersherum die Erinnerungskonstruktion die Zögerlichkeit in den Vordergrund gestellt wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte es beide Reaktionsweisen gegeben, doch lässt sich nicht ermitteln, welche letztlich überwog.
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Cortiñas, die an der Fastenaktion in Quilmes beteiligt war, berichtete im Zeitzeugeninterview, dass Novak interveniert hatte, damit die Madres in der Kathedrale bleiben konnten.109 Wie Nora Cortiñas schildert, beschimpfte der Priester Isidoro Psenda die fastende Gruppe während der Messe von der Kanzel aus und versuchte, ihre Aktion zu sabotieren.110 Er machte seine Ablehnung mehr als deutlich, so dass insgesamt der Eindruck entstand, ihm wäre es Recht gewesen, die Madres der Kathedrale zu verweisen und die Aktion zu unterbinden. Da es nicht dazu kam, liegt die Vermutung nahe, dass der Bischof eine andere Position einnahm und diese aufgrund seiner hierarchisch höhergestellten Position auch durchsetzen konnte. Der Handlungsspielraum des Priesters war also durch das Agieren des Bischofs – oder anders formuliert: den konkret genutzten Handlungsspielraum des Bischofs – beschränkt. Diese Feststellung trifft auch auf eine Fastenaktion in Merlo zu, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Dort hatte eine kleine Gruppe, bestehend aus fünf Müttern von Verschwundenen, gegen 17 Uhr in der Kirche Nuestra Señora de Pompeya begonnen zu fasten, mit der Absicht, das Fasten 48 Stunden aufrecht zu erhalten.111 Autorisiert worden war diese Gruppe vom Gemeindepfarrer, der sie jedoch darauf hingewiesen hatte, dass die Aktion im Rahmen der kirchlichen Regularien ablaufen müsse.112 Der Priester wurde von der Polizei als »progressiv«113 klassifiziert, ebenso wie der Bischof von Morón, Oscar Laguna. Obwohl der Pfarrer der Gruppe erlaubt hatte, die Kirche für ihre Gebets- und Fastenaktion zu nutzen, brach sie diese bereits am selben Abend ab, weil der Weihbischof Galán des Bistums Morón persönlich vorstellig wurde, um sein Nichteinverständnis kundzutun. Er teilte den Madres mit, er sehe ihre Anwesenheit mit Missfallen und forderte sie dazu auf, das Gotteshaus zu verlassen.114 An dieser Stelle sind die Polizeiakten nicht besonders präzise, so dass es auf den ersten Blick scheint, als handelte es sich um die persönliche Position des Weihbischofs Galán. Da ein Weihbischof laut kanonischem Recht den Bischof vertritt, ist es relativ unwahrscheinlich, dass er eigenmächtig ohne Wissen und Einverständnis des Bischofs handelte, auch wenn dies nicht völlig ausgeschlossen ist. Vorausgesetzt, dass er gemäß der institutionellen Ordnung als Vertreter der Diözese Morón handelte, wird hier deutlich, dass es ohne einen Rückhalt oder zumindest eine Duldung durch die Leitungsebene der Diözese kaum möglich war, öffentliche Protestaktionen durchzuführen. 109 »Sin justicia no hay democracia completa« [Interview mit Nora Cortinas], in: Puentes 20, März 2007, S. 76. 110 Ebd., S. 77. 111 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 18741. 112 Auf welche Regularien er sich bezog, geht aus der Polizeiakte nicht hervor. 113 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 18741. 114 Ebd.
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Sowohl dieser Fall als auch die Fälle der Diözesen Neuquén und Quilmes zeigen, wie wichtig die Haltung des jeweiligen Bischofs war. Während es in Neuquén eine Übereinstimmung zwischen dem Bischof und dem an der Gebetsund Fastenaktion beteiligten Priester sowie dem amtierenden Priester der Kathedrale gab, scheinen in Quilmes die Positionen des Bischofs und des amtierenden Priesters der Kathedrale nicht kongruent gewesen zu sein. Hier wird deutlich, dass die grundsätzlich positive Einstellung des Bischofs zur Menschenrechtsbewegung – trotz seiner Ablehnung des eigenmächtigen Handelns der Madres der Plaza de Mayo – eine Duldung der Gruppe bewirkte, obwohl der Priester vor Ort eine ablehnende Haltung einnahm. In Morón hingegen mussten die Madres ihre Aktion abbrechen, da die obersten Autoritäten der Diözese nicht mit dieser Form des politisch-religiösen Protests einverstanden waren. Anhand dieser unterschiedlichen Konstellationen in den drei hier untersuchten Bistümern lässt sich erkennen, inwiefern Bischöfe ihre Handlungsspielräume ganz unterschiedlich nutzten konnten, um politisch-religiösen Protest für die Einhaltung der Menschenrechte entweder zu ermöglichen oder zu verhindern.
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Wallfahrten zum Nationalheiligtum Luján
Die Teilnahme der Madres de Plaza de Mayo an religiösen Akten im öffentlichen Raum, wie Wallfahrten und Prozessionen, hing, anders als die Fastenaktionen in den Kirchen, nicht von der Zustimmung der kirchlichen Amtsträger ab. Wallfahrten und Prozessionen konnten – so wie die bereits analysierten Messen – von den Madres auch gegen den Willen von Priestern und Bischöfen angeeignet werden.115 Besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Partizipation an den Massenwallfahrten zum Nationalheiligtum Luján, da hier auf symbolischer Ebene die Integration in die religiöse wie politische Gemeinschaft verhandelt wurde. Seit den 1880er-Jahren hatte die 70 Kilometer von Buenos Aires gelegene Basilika sich nicht nur als Ort der religiösen, sondern auch der politischen Artikulation etabliert und erfreute sich als Pilgerstätte großer Popularität. Immer wieder versuchten die unterschiedlichsten politischen Ak-
115 Beispielsweise beobachtete die Polizei in der Osterwoche 1982 in La Plata beim Via Crucis circa 2.500 Teilnehmer*innen, davon etwa 20 Madres: »El acto tuvo características religiosas pero de todo modo se advirtió la presencia de unas 20 Madres de Plaza de Mayo con sus característicos pañuelos blancos en la cabeza.« (»Der Akt hatte religiöse Charakteristika, es wurde aber jedenfalls die Anwesenheit von etwa 20 Madres de Plaza de Mayo mit ihren charakteristischen weißen Tüchern auf dem Kopf festgestellt.«), DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 308.
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teur*innen sich durch ihre Präsenz in Luján zu legitimieren und ihre Bedeutung für das Gemeinwohl der Nation herauszustellen.116 Bei der Massenwallfahrt 1977, organisiert von der Erzdiözese Buenos Aires, nahmen die Madres de Plaza de Mayo erstmals als erkennbare Gruppe teil. Wie bereits dargelegt, benutzten sie in diesem Kontext zum ersten Mal die Kopftücher, die bald darauf zu ihrem Erkennungszeichen und zum Symbol für die Verteidigung der Menschenrechte wurden. Durch das Tragen der Kopftücher in der Menschenmenge konstituierten sich die Madres als Gruppe und eigneten sich das religiöse Ritual an, so wie sie es auch mit den Messen taten, an denen sie teilnahmen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Pilgermärschen und den Messen bestand darin, dass die Pilgermärsche im öffentlichen Raum stattfanden, ebenso wie die Messe, die zum Abschluss der Wallfahrt gehalten wurde. Hinzu kommt, dass es Massenveranstaltungen waren, die hunderttausende Pilger am bedeutendsten Heiligtum Argentiniens zusammenbrachten.117 Insofern handelte es sich sowohl bezogen auf die symbolische Dimension der Kultstätte als auch auf den immensen Zulauf um ein herausragendes Ereignis. Gerade unter den Bedingungen der Diktatur wurden Wallfahrten und Prozessionen zu einer der wenigen Möglichkeiten, sich kollektiv im öffentlichen Raum zu artikulieren. Dabei schienen die religiösen Akte einen gewissen Schutz vor polizeilicher Repression geboten zu haben, der jedoch nicht als absolut gesetzt werden darf. So wurde beispielsweise ein Schweigemarsch im Anschluss an eine Messe von der Polizei unterbunden.118 Dieser stellte zwar eine religiöse Praktik dar, kann jedoch als Innovation gegenüber den traditionellen religiösen Ausdrucksformen, wie Karfreitagsprozessionen oder Wallfahrten, bezeichnet werden. Die traditionellen religiösen Praktiken hingegen wurden, soweit sich dies anhand des vorliegenden Quellenmaterials beurteilen lässt, nicht von der Polizei abgebrochen, selbst wenn sie zur Artikulation von Protest genutzt wurden. Wie es scheint, wurde gerade bei den traditionellen Praktiken, die allgemein bekannt waren, die Grenze zwischen dem religiösen und dem polizeilichen Zuständigkeitsbereich selbst von der Polizei strikt gewahrt, so dass letztlich die traditionellen religiösen Kollektivrituale mehr Möglichkeiten der Artikulation und insgesamt größeren Schutz boten. Welche Bedeutung dabei die jährliche Massenwallfahrt nach Luján hatte, macht unter anderem der Aufwand deutlich, den die Polizei betrieb, um die Veranstaltung möglichst umfassend zu überwachen. Überliefert sind Akten, in denen bereits im Vorfeld Überlegungen über den Ablauf und mögliche »Zwi116 Di Stefano, Roberto/Diego Mauro: »Our Lady of Luján: National Identity and Mass Mobilization in Argentina«, in: Di Stefano, Roberto /Francisco Javier Ramón Solans (Hg.), Marian Devotions, Political Mobilization, and Nationalism in Europe and America, Cham 2016, S. 279–312. 117 Vgl. Lida 2016, S. 16f. 118 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14418.
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schenfälle«119 angestellt wurden. Auch die für die Organisation der Wallfahrt nach Luján verantwortlichen Priester müssen sich bewusst gewesen sein, dass diese Veranstaltung eine gute Gelegenheit darstellte, Protest öffentlich zu machen. Deshalb legten sie fest, dass während der Wallfahrt nur Kreuze, argentinische Flaggen und das Bild der Heiligen Jungfrau mitgeführt werden durften.120 Trotz dieser Auflagen traten die Madres de Plaza de Mayo nicht nur als deutlich erkennbare Gruppe auf, sondern führten auch große Transparente mit sich, die dank der schwarz-roten Schrift auch von weitem gut zu lesen waren, wie die verdeckten Ermittler der Polizei berichteten.121 Die Madres verteilten zudem Flugblätter an die Pilger*innen und kamen nach Abschluss der Wallfahrt auf dem Platz rund um das dort befindliche Monument zu einer Demonstration zusammen. Diese unterschiedlichen Formen, sich die Wallfahrt anzueignen, beobachteten die polizeilichen Ermittler genau. Besondere Sorge bereitete ihnen, dass es den Madres gelingen könnte, den Eindruck zu erwecken, es handele sich um eine Veranstaltung für die Verschwundenen, wenn die Mütter während der Wallfahrt Bilder von sich mit der Basilika von Luján im Hintergrund in Umlauf brachten. Diese Vermutung war nicht unbegründet, denn tatsächlich finden sich in der Zeitschrift der Madres immer wieder Berichte über die Wallfahrten nach Luján, die mit Bildern illustriert wurden auf denen die Madres vor der berühmten Basilika zu sehen sind. Über die Teilnahme der Madres an der Wallfahrt 1980 berichtete auch die überregionale Tageszeitung Clarín. Dort hieß es, dass sich etwa hundert Madres de Plaza de Mayo unter den Pilgern befanden. Mit sich trugen sie ein Transparent mit der Aufschrift: »Wo sind unsere VerhaftetenVerschwundenen?«122 Auch die Polizei hielt in ihren Akten fest, dass »Zeitungen der Hauptstadt«123 über die Madres berichtet hatten. Durch eine Presseberichterstattung konnte sich die Reichweite der Protestaktion erhöhen, so dass nicht nur die Anwesenden von ihr Kenntnis nahmen. Ein zentraler Aspekt war, neben der Artikulation von Protest, auch die Forderung nach Repräsentation und Inklusion durch die Institution Kirche. Die Madres de Plaza de Mayo nahmen während der Pilgermesse deutlich sichtbar die ersten Reihen ein, aber eine Integration ihres Anliegens erfolgte seitens der verantwortlichen Priester auch in diesem Kontext nicht. Nach der Wallfahrt 1978 konfrontierten die Madres de Plaza de Mayo Kardinal Aramburu, der die zentrale Messe gehalten hatte, mit ihrer Enttäuschung darüber, dass ihre Präsenz in Luján von ihm vollständig ignoriert worden war. Auch bei dieser Gelegenheit identifizierten sie sich selbst mit dem Christentum und betonten zudem, dass 119 120 121 122 123
DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 570. DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 570. Ebd. Ausschnitt aus Clarín [undatiert] abgedruckt in: Boletín Madres 3 (November 1980). DIPBA, Mesa DE, E. Religiosas, Legajo 570.
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ihre verschwundenen Kinder ebenfalls christlich geprägt waren. Direkt an Aramburu adressiert schrieben sie: »Sie sahen uns in Luján während der Messe, in der Nähe des Altars. Sie kennen zweifellos unsere angsterfüllten Bitten, Sie mögen öffentlich für unsere Kinder bitten, von denen viele in den vergangenen Jahren an dieser Wallfahrt teilgenommen haben. Die versammelten jungen Menschen haben es sicher in ihrem Herzen getan. Aber Sie, sie enttäuschend, weigerten sich, auch nur ein Wort zu sagen oder ein Gebet zu sprechen. Nicht ein Wort ihrer langen Predigt bezog sich auf dieses gewaltige Problem, das tragischste des Landes.«124
Ihre scharfe Kritik an seiner Haltung erstreckte sich ebenso auf die Institution Kirche. Insgesamt zeigt der Brief, wie stark sich die Madres de Plaza de Mayo mit dem Katholizismus identifizierten und welche Erwartungen an die Kirche sie daraus ableiteten. Die Institution sollte als wichtiger Akteur, der auch auf dem politischen Feld Gehör finden konnte, ihre Handlungsspielräume nutzen, um die staatlich verübte Gewalt zu stoppen. Zugleich forderten die Madres an dieser Kultstätte von nationaler Bedeutung, in die vorgestellte Gemeinschaft der ›katholischen Nation‹ integriert zu werden. Indem sie deutlich erkennbar als Madres de Plaza de Mayo teilnahmen, vollzogen sie in diesem Ritual eine Aneignung der religiösen Praxis, auch wenn von Seiten der Institution Kirche keine Legitimierung oder Inklusion erfolgte. Die Konflikte zwischen den Menschenrechtsaktivist*innen und der Institution Kirche sowie die unterschiedlichen Haltungen, die Funktionsträger der Amtskirche einnehmen konnten, zeigen sich ebenfalls ganz deutlich an einer Begebenheit im Rahmen der Wallfahrt 1980. Die von den Madres de Plaza de Mayo in der Basilika von Luján als Gabe dargebrachten Kopftücher wurden dort vom zuständigen Priester Carli weggeschmissen. Um die Tragweite der damit verbundenen Aussage zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst Überlegungen zur Bedeutung dieser Gabe durch die Madres anzustellen. Da keine Quellen der Madres zugänglich sind, in denen sie selbst die Bedeutung ihres Handelns erklären würden, kann die Bedeutung nur anhand der üblichen Praktiken im Hinblick auf Votivgaben erschlossen werden. In der Regel werden bei Wallfahrten Objekte zu katholischen Kultstätten gebracht, um für das Erfüllen einer Bitte mit einem sichtbaren Zeichen Gott für die Hilfe in Not zu danken. Oftmals geht mit der Bitte ein Gelübde einher, zu dessen Erfüllung – nach Eintreten des 124 MADRES, B4.323, Brief an Aramburu, 2. Oktober 1978, »Usted nos vio en Luján, próximas al altar, durante la Misa concelebrada. Sin duda alguna usted escuchó también nuestro pedido angustioso para que rogara públicamente por nuestros hijos, muchos de los cuales participaron en años anteriores de la misma peregrinación. Los jóvenes reunidos lo habrán hecho seguramente en su corazón. Pero usted, defraudándolos, se negó a decir una palabra y a pedir una oración. Ni una sola expresión de su larga homilía se refiere a este tremendo problema, el más trágico que vive el país.«.
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Erwünschten – in der Wallfahrt die Darbringung eines Objekts in Form einer Votivgabe gehört. Seltener wird die Gabe als Manifestation einer Bitte dargebracht. Im Fall der Kopftücher als Votivgabe könnten sich beiderlei Praktiken verbunden haben, auch wenn die Perspektive des Kopftuchs als Dank zunächst widersinnig erscheint, da die verschwundenen Kinder schließlich nicht wiederaufgetaucht waren. Bei Betrachtung dieser Darbringung im Rahmen religiöser Vorstellungen und vor dem Hintergrund bekannter Praktiken, lässt sich erkennen, dass mit dem Kopftuch, das ursprünglich eine Stoffwindel war, möglicherweise Dankbarkeit dafür ausgerückt wurde, Mutter zu sein und ein Kind als ›Geschenk Gottes‹ empfangen zu haben. Diese Praktik für ein Kind zu danken ist im Katholizismus traditionell verankert. Oftmals wird dazu ein Gegenstand gewählt, der ein Kind symbolisiert. Aus Italien stammt der Brauch, eine kleine, in Windeln gewickelte Kinderfigur aus Wachs darzubringen. Bei diesem so genannten Fatschenkind (von lateinisch fascia: Binde) handelt es sich um eine Darstellung Jesu in Kindergestalt. Mit der Dankbarkeit für das eigene Kind ist im Falle der Mütter der Verschwundenen untrennbar ihr Protest verbunden, da ihre Kinder von Militär- und Sicherheitskräften verschleppt wurden und seitdem verschwunden waren. Damit wurde aus religiöser Perspektive gewaltsam in die gottgewollte Ordnung eingegriffen und den Madres das von Gott gegebene Geschenk genommen. Neben dem Dank und dem darin implizit ausgedrückten Protest gegen Willkür und Ungerechtigkeit kann die Darbringung der Kopftücher der Madres de Plaza de Mayo auch als Bitte für das Wiedererscheinen der desaparecidos und um Beistand im Kampf für die Menschenrechte verstanden werden. Über die Bedeutungsdimensionen der religiösen Praktik hinaus, nahmen die Madres durch die Platzierung ihrer Kopftücher im argentinischen Nationalheiligtum auch hier symbolisch ihren Platz in der vorgestellten Gemeinschaft der ›katholischen Nation‹ ein. Indem der für die Kultstätte verantwortliche Priester Carli die Kopftücher wegschmiss, delegitimierte er die Handlung der Madres. Wie Mignone schreibt, tat er dies mit der Begründung, dass an diesem Ort keine Politik betrieben werden solle.125 Aus der Perspektive des Priesters Carli bedeutete die Darbringung der Kopftücher eine missbräuchliche Instrumentalisierung einer religiösen Praxis, die nicht mit einem kirchlichen Selbstverständnis vereinbar ist, das vorgibt, Distanz zum Politischen zu wahren. Auf diese Weise negierte er die religiöse Dimension dieser Votivgabe und wies die von den Madres performativ erzeugten Aussagen zurück. Ein gänzlich anderes Kirchenverständnis zeigte der Priester Capitanio, der auf die Begebenheit mit einem langen, offenen Brief reagierte, den die Madres in ihrer Zeitschrift abdruckten. Die Reaktion des Priesters Carli deutete er als 125 Vgl. Mignone 2006, S. 166.
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Eigenmächtige Aneignungen, institutionelle Grenzen
Weigerung, dem Evangelium treu zu sein und bezog sich auf die Worte des Papstes Johannes Paul II. und die unterschiedlichen Dokumente des argentinischen Episkopats zur Legitimation seiner eigenen Position. Das Kirchenverständnis, das Capitanio präsentierte, stellte den Kampf für die Menschenrechte und die Unterstützung der Aktivist*innen als eine Aufgabe dar, die vom Lehramt der Kirche nicht nur legitimiert, sondern geradezu geboten war. Für die Mütter der Verschwundenen gab es laut der Deutung Capitanios sowohl in der Institution als auch in der nationalen Gemeinschaft einen symbolischen Platz, anders als für die Täter. Deshalb forderte er Carli auf, konsequenterweise auch die militärischen Abzeichen zu entfernen, die in Luján dargebracht worden waren, da das Militär mit »unrechten, illegalen und unmoralischen Mitteln«126 gegen die Guerilla kämpfte. Anhand dieses Falls zeigen sich gewissermaßen in nuce zwei sehr unterschiedliche Umgangsweisen der Amtsträger, die als solche immer auch die Institution Kirche vertreten, mit der Menschenrechtsbewegung. Während der eine Priester jegliche Verbindung von politischem Protest gegen Menschenrechtsverletzungen und religiösen Praktiken ablehnte, aber zugleich militärische Abzeichen nicht als politisch ansah, machte für den anderen gerade die Verbindung der Menschenrechte mit der religiösen Praxis die Essenz des Religiösen aus. Hier zeigt sich erneut, dass Religion nicht per se als konflikt- oder friedensfördernd interpretiert werden kann. Auch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft determiniert nicht das individuelle Handeln, sondern es kommt immer auch auf die konkrete Auslegung religiöser Vorstellungen und das Nutzen individueller Handlungsspielräume an, die es selbst innerhalb einer hierarchisch strukturierten Institution wie der katholischen Kirche gibt.127
126 A las madres… a los que sufren … a nuestro pueblo … a dios … a todos!! Pido perdón!! [sic], in: Boletín Madres 4 (Januar 1981); ebenfalls (Brief als maschinengeschriebener Text): Archivo CELS, otras organizaciones 16. 127 Damit ist nicht gemeint, dass diese Handlungsspielräume keinerlei Grenzen hätten und individuelles Handeln völlig voluntaristisch und unabhängig von institutionellen Rahmenbedingungen und anderen Akteuren innerhalb der Institution erfolgen kann.
7.
Strukturelle Freiräume: Die Diözese als Ort der Zuflucht und des Protests
In der bisherigen Forschung zur Kirche in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur spielen die einzelnen Diözesen kaum eine Rolle, wenn es darum geht, nach Handlungsspielräumen innerhalb der Institution Kirche zu fragen, die für Menschenrechtsarbeit nutzbar gemacht werden konnten. Diese weitgehende Nichtbeachtung der mittleren Ebene der Institution Kirche ist nicht zuletzt einer weit verbreiteten zentralistischen Perspektive geschuldet, die eine Konzentration auf die Bischofskonferenz als Akteur mit sich bringt.1 Dem argentinischen Episkopat wurde von etlichen Wissenschaftler*innen eine große Handlungsmacht in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes zugeschrieben, die aber – so die vielfach vorgebrachte Kritik – nicht zur Verteidigung der Menschenrechte genutzt wurde, wie es in anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall war.2 Dieser Kritik liegt ein moralischer Anspruch an die Institution Kirche zugrunde, an dem ihr Agieren gemessen wird. Im Zuge einer moralischen Beurteilung der katholischen Kirche in Argentinien hat diese Kritik, angesichts 1 Auch die stärkere Wahrnehmung der innerkirchlichen Heterogenität in der Forschung hat daran nur ansatzweise etwas geändert, da vorwiegend Akteursgruppen oder Einzelfälle untersucht wurden und der Blick sich nicht auf die bestehenden kirchlichen Strukturen richtete. Siehe zum Paradigmenwechsel der Forschung die Einleitung dieser Arbeit. 2 Levine geht fälschlicherweise davon aus, dass die Vicaría in Chile ein Organismus auf nationaler Ebene gewesen sei. Vgl. Levine 2015, S. 68. Zanatta erwähnt in seiner Darstellung zwar, dass die Vicaría de la Solidaridad unter dem Erzbischof von Santiago eingerichtet wurde, zieht daraus aber keine weiteren Schlüsse. Ebenso wenig berücksichtigt er den Umstand, dass auf der Ebene des argentinischen Episkopats über die Einrichtung einer der Vicaría vergleichbaren Struktur diskutiert wurde. Der Vorstoß dazu soll von Bischof Novak gemacht worden sein, das Ansinnen wurde in der Bischofskonferenz allerdings negativ beschieden. Zanatta 2015, S. 268. Laut Obregón gelang es den angesichts der Menschenrechtslage besorgten Bischöfen nicht, dass die Bischofskonferenz Hilfe für die Opfer die Militärdiktatur in einem institutionellen Rahmen einrichtete. Dies hatte unter anderem Novak vorgeschlagen. Die argentinische Bischofskonferenz weigerte sich – vor allem ihre konservativen Mitglieder – eine der Vicaría vergleichbare Einrichtung zu schaffen. Obregón 2005, S. 137. Dem Nuntius gefiele die Idee nicht, es könnte so etwas wie die Vicaría geben, die die radikalen Sektoren des Katholizismus beherbergen könnte, welche im Kontakt mit den Montoneros standen. Zanatta 2015, S. 268.
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der ambiguen offiziellen Positionierungen der Bischofskonferenz, der starken Legitimierung der Militärmachthaber und dem Ausbleiben praktischer Maßnahmen auf Ebene des Episkopats zur Unterstützung der Menschenrechtsbewegung, fraglos ihre Berechtigung. Historisch gesehen ist dieses oft verbreitete Narrativ jedoch mit einer gewissen Ungenauigkeit behaftet, vor allem, wenn die chilenische Kirche und die in Chile eingerichtete kirchliche Institution der Vicaría de la Solidaridad zum Vergleich herangezogen werden, da es sich bei der Vicaría nicht um eine episkopale Einrichtung handelte. Vielmehr wurde sie vom Erzbischof Raúl Silva Henríquez ins Leben gerufen und gehörte strukturell zur Erzdiözese Santiago de Chile.3 Sie setzte die Arbeit des ökumenischen Friedenskomitees fort, das seit dem Putsch 1973 bestand.4 Auf Druck des Militärregimes löste sich im Dezember 1975 das Friedenskomitee auf, Silva Henríquez gründete jedoch sofort am 1. Januar 1976 die Vicaría de la Solidaridad, so dass die Kontinuität der Menschenrechtsarbeit gewährleistet war. Von da an fand die kirchliche Menschenrechtsarbeit innerhalb dieser Einrichtung der Erzdiözese von Santiago de Chile statt.5 Viele der chilenischen Bischöfe teilten die Ansicht, dass die Kirche gegenüber den Menschenrechtsverletzungen nicht unbeteiligt 3 Vgl. Lowden 1996; Klaiber 1997, S. 96. 4 Das Friedenskomitee (Comité de Cooperación para la Paz en Chile, COPACHI) wurde bereits im Oktober 1973 auf Initiative des aus Deutschland stammenden lutherischen Probstes Helmut Frenz und des katholischen Bischofs Ariztía mit der Unterstützung des Kardinals Silva Henríquez als ökumenischer Zusammenschluss zur Unterstützung der Opfer der Repression gegründet. Neben der lutherischen und der katholischen Kirche waren Vertreter der baptistischen, methodistischen, pfingstkirchlichen, der griechisch-orthodoxen und der jüdischen Glaubensgemeinschaften beteiligt. Die anfängliche Arbeit des Friedenskomitees konzentrierte sich auf die juristische Verteidigung in Fällen politisch motivierter Verhaftungen und Kündigungen sowie auf die Unterstützung bei der Suche nach politischem Asyl. Aufgrund der steigenden Zahl von Fällen, in denen Menschen spurlos verschwunden waren, wurde das Einreichen von Anträgen auf die Vorführung der Gefangenen zur Überprüfung der Zulässigkeit und Dauer der Haft bei Gericht (habeas corpus) zu einer zentralen Praxis des Friedenskomitees. Die Justiz, von der das Regime behauptete, sie sei unabhängig, wies die Anträge trotz ihrer sorgfältigen und detaillierten Ausarbeitung als ungültig zurück. Als weitere wichtige Aufgabe kristallisierte sich im Zusammenhang mit der juristischen Arbeit die Dokumentation und öffentliche Bekanntmachung von Menschenrechtsverletzungen heraus. Neben den juristischen Tätigkeiten entwickelte das Friedenskomitee ein breites Spektrum an sozialen Aktivitäten. Es gründete medizinische Zentren, unter anderem zur Versorgung von Menschen, die unter den Folgen von Haft und Folter litten, unterstützte auf Subsistenz ausgerichtete Selbsthilfeorganisationen, Organisationen von Arbeitslosen in den Armenvierteln und gründete Kinderspeisungszentren (comedores infantiles). So versuchte das Komitee den Auswirkungen des neoliberalen Kurswechsels in der Wirtschaftspolitik auf die marginalisierten Bevölkerungsteile zu begegnen und auch ihre sozialen Menschenrechte zu verteidigen. Vgl. Lowden 1996, S. 32ff. 5 Am 1. Januar 1976 wurde auf Vorschlag des Kardinals die Vicaría de la Solidaridad als Institution der katholischen Kirche gegründet, deren leitender Vikar Cristián Precht dem Kardinal direkt unterstand. Vgl. Aranda, Gilberto Cristian: Vicaría de la solidaridad. Una experiencia sin fronteras, Santiago, Chile 2004, S. 95.
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bleiben könne, und unterstützten die Initiative.6 Durch die zusätzliche Legitimierung der Bischöfe wurde jeder Angriff auf die Arbeit der Vicaría somit gleichbedeutend mit einem Angriff auf die katholische Kirche. Die Vicaría de la Solidaridad etablierte sich als wichtigste Säule der »moralischen Opposition«7 in Chile. In Argentinien hingegen war weder die Bereitschaft vorhanden, in einer zentralen Diözese Argentiniens eine ähnliche Einrichtung ins Leben zu rufen, noch gab es im Episkopat eine klare Mehrheit für die Legitimierung einer solchen offiziellen kirchlichen Menschenrechtsorganisation. Dies zeigte sich, als die Bischöfe Novak und Nevares in der Bischofskonferenz die chilenische Vicaría de la Solidaridad als Vorbild für eine potentielle Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte innerhalb der Strukturen der argentinischen Kirche präsentierten. Ihr Vorschlag, eine Art ›argentinische Vicaría de la Solidaridad‹ zu gründen, wurde von der Bischofskonferenz mehrheitlich abgelehnt.8 Ebenso
6 In einigen chilenischen Diözesen wurden Büros des Friedenskomitees eingerichtet. Ihre Existenz hing davon ab, ob der Bischof der Diözese sein Einverständnis gab. Vgl. Lowden 1996, S. 38. 7 Den Begriff der ›moralischen Opposition‹ prägte Lowden in Abgrenzung zu einer primär politisch verstandenen Opposition. Die unterschiedlichen Abteilungen der Vicaría führten die Aufgaben des Friedenskomitees fort. Neben der juristischen Abteilung hatte die Vicaría Abteilungen für die Rechte von Arbeitern und Bauern sowie eine Abteilung für soziale Aufgaben gegründet, die zum Ziel hatten, die Selbstorganisation der marginalisierten Bewohner der Armenviertel zu unterstützen. Hinzu kam eine eigene Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Vgl. Lowden 1996, S. 86; Aranda 2004, S. 105. 8 In einer Liste über die vorgeschlagenen Themen für die Asamblea Plenaria oder die Comisión Permanente der CEA ist unter dem Eintrag Nummer 1174 im Juni 1977 der Vorschlag von Nevares zur Gründung einer Art Vicaría festgehalten: »Construir un organismo que trate de solventar los asuntos de detenidos y secuestrados. Sería a modo de la VICARIA DE LA SOLIDARIDAD que creó el Card. de Santiago de Chile«. (»Einen Organismus schaffen, der versucht, die Angelegenheiten der Verschwundenen und Verschleppten zu lösen. Er wäre nach der Art der VICARÍA DE LA SOLIDARIDAD, die der Kardinal von Santiago de Chile schuf.«) Einen ähnlichen Vorschlag formulierte Novak im Juli 1977 (Eintrag 1185 der Liste): »Organizar un servicio de solidaridad a favor de las muchas personas DESAPARECIDAS O MALTRATADAS. Sólo el Episcopado como Colegio puede hacer hoy este servicio y es un deber que no podemos soslayar.« (»Eine Einrichtung der Solidarität schaffen zugunsten der vielen VERSCHWUNDENEN ODER MISSHANDELTEN Personen. Allein der Episkopat als Kollegium kann heute diesen Dienst leisten und es ist eine Pflicht, der wir nicht ausweichen können.«), BAG, CEA, Asamblea Plenaria. Es gelang den über die Menschenrechtslage besorgten Bischöfen jedoch nicht, dass die Bischofskonferenz Hilfe für die Opfer der Militärdiktatur in einem institutionellen Rahmen einrichtete. Vgl. Obregón 2005, S. 137. Zanatta schreibt, dass der Nuntius dagegen war, dass es eine der Vicaría vergleichbare Einrichtung in Argentinien geben könnte, da er fürchtete, sie könnte dem radikalen Sektor des Katholizismus Raum geben, der Kontakt zur Guerilla-Gruppe Montoneros hatte. Zanatta 2015, S. 268. Die Einrichtung einer ›argentinischen Vicaría‹ war auch Forderung der Menschenrechtsgruppe Familiares de detenidos y desaparecidos por razones políticas. BAN, Derechos humanos (1), Familiares de detenidos y desaparecidos por razones políticas an die Bischofskonferenz, 3. April 1979.
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wenig wollte die Bischofskonferenz der Menschenrechtsorganisation MEDH beitreten.9 Nach Ansicht von Smith waren die Arbeit des Friedenskomitees und später der Vicaría für die Verteidigung der Menschenrechte in Chile von wesentlich größerer Bedeutung als die Verlautbarungen der Bischofskonferenz, denen er insgesamt wenig Einfluss auf die Politik des Regimes zuschreibt.10 In der Forschung wird dem chilenischen Episkopat bescheinigt, nicht sofort nach dem Putsch eine klare Haltung gegenüber der Gewaltherrschaft des Militärs eingenommen zu haben. So hatten sich die chilenischen Bischöfe zwar kurz nach dem Putsch gegen das Blutvergießen ausgesprochen, aber in den ersten drei Jahren der Militärdiktatur unter Pinochet eher vorsichtig Stellung genommen und eine direkte Konfrontation mit dem Regime vermieden.11 Auch in Chile musste sich die Haltung zu den Menschenrechtsverbrechen erst in Deutungs- und Aushandlungsprozessen herausbilden, da es keine Erfahrungen mit der Thematik oder gar Handlungsschemata gab, auf die zurückgegriffen werden konnte.12 Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht theoretisch die Möglichkeit gegeben hätte, eine zur nationalen Bischofskonferenz gehörende Organisationseinheit zu schaffen, die sich der Menschenrechtsarbeit widmet. Ebenso wenig soll die Bedeutung einer dezidierten Legitimierung von Menschenrechtsarbeit seitens der jeweiligen nationalen Bischofskonferenzen negiert werden. Vielmehr geht es darum, einen genaueren Blick auf die innerkirchlichen Strukturen, vor allem hinsichtlich der Handlungsspielräume im Umgang mit staatlicher Repression zu werfen, denn bei Betrachtung der bisherigen Forschungsbefunde in Bezug auf die Organisationsstrukturen der katholischen Kirche deutet die empirisch feststell-
9 Conferencia Episcopal Argentina (Hg.): Resoluciones, Buenos Aires 1999, S. 758, »TRIGESIMOCTAVA ASAMBLEA PLENARIA SAN MIGUEL, 13 AL 18 DE NOVIEMBRE DE 1978: […] Habiendo el Episcopado Argentino recibido invitación a que se integrase en el ›Movimiento Ecuménico para los Derechos Humanos‹, la Asamblea resuelve no aceptar la invitación.« (38. ASAMBELA PLENARIA SAN MIGUEL, 13 bis 18 November 1978: »[…] Der argentinische Episkopat hat die Einladung erhalten, sich dem ›Movimiento Ecuménico para los Derechos Humanos‹ anzuschließen, die Vollversammlung beschließt, die Einladung nicht anzunehmen.«). 10 Vgl. Smith, Brian H.: »Old Allies, New Enemies: The Catholic Church as Opposition to Military Rule in Chile 1973–1979«, in: Valenzuela, Julio S./Arturo Valenzuela (Hg.), Military Rule in Chile. Dictatorship and Oppositions, Baltimore 1986, S. 270–303, hier S. 293. 11 Unter den Bischöfen herrschte 1975 die Meinung vor, der Putsch sei notwendig gewesen. Fleet und Smith ermittelten, dass 24 der 27 von ihnen befragten Bischöfe im September 1973 keine Alternative zum Putsch gesehen hatten. Erst ab 1976 artikulierte die Bischofskonferenz deutliche Kritik an der repressiven Herrschaftsausübung des Regimes und legitimierte so die Verteidigung der Menschenrechte. Vgl. Fleet, Michael/Brian H. Smith: The Catholic Church and democracy in Chile and Peru, Notre Dame 1997, S. 59, S. 63 und S. 210. 12 Vgl. Wilde 2015, S. 178.
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bare Praxis darauf hin, dass die Diözesen innerhalb der Institution Kirche in besonderer Weise die Möglichkeit zur Etablierung widerständiger Praxis boten. Johnston und Figa weisen in ihrer Untersuchung der oppositionellen Rolle der katholischen Kirche in unterschiedlichen historischen Kontexten auf die größeren Handlungsspielräume kirchlicher Akteure der untergeordneten Ebenen hin, lassen dabei jedoch die Meso-Ebene der Diözese außer Acht und verkennen damit die inhärente Organisationslogik der katholischen Kirche, in der die Diözesen eine gewichtige Rolle einnehmen. So postulieren Johnston und Figa auf der Basis des Ressourcen-Mobilisierungsansatzes der Bewegungsforschung – ähnlich wie Smith dies aus einer historisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive für Chile tut –, dass regimekritische Verlautbarungen einer Bischofskonferenz nur sekundären Einfluss auf die Entwicklung der Opposition haben. Bedeutender ist ihrer Ansicht nach die Möglichkeit, für das oppositionelle Potential der Kirche Ressourcen bereitzustellen. Diese verorten die Wissenschaftler insbesondere auf den unteren Hierarchieebenen. Die Akteure dieser Hierarchiestufe, wie Priester und Ordensleute, haben nach Johnston und Figa aufgrund der Distanz zum Episkopat einen relativ großen Handlungsspielraum, da sie sich der direkten Kontrolle ›von oben‹ entziehen können.13 So wie Johnston und Figa ihre Annahmen formuliert haben, wird vor allem auf die Distanz von Bischofskonferenz und niederem Klerus sowie Ordensleuten abstellt, ohne jedoch die Diözesen in die Analyse einzubeziehen. Die Beobachtung einer solchen Distanz ist an sich nicht falsch, lässt jedoch unberücksichtigt, dass die Bischofskonferenz als Zusammenschluss aller Bischöfe eines Territoriums – in der Regel eines Nationalstaats – für die Organisation der katholischen Kirche in diesem Territorium eine nachrangige Rolle spielt, auch wenn sie für das Herausbilden von kirchlichen Positionierungen auf nationalstaatlicher Ebene zentral ist. Bedeutender für die konkrete Praxis und die Handlungsspielräume ist die Beziehung der religiösen Akteure der unteren Hierarchiestufen mit ihren Vorgesetzten, das heißt bei Diözesanpriestern mit dem Bischof oder bei Ordensleuten mit dem Provinzial. Auch wenn die Ebene der Bistümer unterbelichtet bleibt und Johnston und Figa ihre Überlegungen nicht weiter ausgearbeitet haben, so liefern sie dennoch einen wichtigen theoretischen Hinweis auf die Bedeutung innerkirchlicher Handlungsspielräume. Ähnlich wie Johnston und Figa argumentiert Levine, wenn er von der ›Zivilgesellschaft in der Kirche‹ spricht, die seiner Ansicht nach wesentlicher Träger der Menschenrechtsarbeit war. Die relevanten Akteure und Institutionen sieht er
13 Vgl. Johnston, Hank/Jozef Figa: »The Church and Political Opposition: Comparative Perspectives on Mobilization against Authoritarian Regimes«, Journal for the Scientific Study of Religion, Jg. 27, H. 1 (1988), 32–47, hier S. 44.
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als »autonome Elemente«14 in der Kirche, ohne jedoch darzulegen, worin sich deren Autonomie gründen soll. Levine verortet die ›Zivilgesellschaft in der Kirche‹ in Universitäten, Forschungszentren, Ordensgemeinschaften und anderen Gruppen sowie in katholischen Publikationen. Insgesamt scheint mir seine Analyse unscharf zu sein, da sie die Autonomie bestimmter Akteur*innen und Akteursgruppen innerhalb der Institution postuliert, statt systematisch danach zu fragen, aus welchen normativen Bedingungen, institutionellen Ordnungsvorstellungen und Handlungsschemata im Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure mit jeweils unterschiedlich definierten Kompetenzbereichen Handlungsspielräume zur Verteidigung der Menschenrechte entstehen und genutzt werden können. Unter den von Levine genannten Akteur*innen befinden sich Personen mit sehr unterschiedlichen Positionen und Kompetenzen innerhalb des institutionellen Gefüges der Kirche, wie Gemeindepriester, Ordensleute, Theolog*innen oder Lai*innen, mit einem Amt oder ohne besondere Aufgabe innerhalb der Institution. Anders als Levine annimmt, sind sie je nach Position institutionell nicht autonom und stellen somit keine ›autonomen Elemente‹ dar. So brauchen beispielsweise Theologen an katholischen Universitäten das nihil obstat, um unterrichten zu können, und Ordensleute unterstehen dem oder der Ordensoberen, so dass sie keinesfalls völlig unabhängig agieren können, auch wenn teils sehr weitreichende Handlungsspielräume existieren.15 Kurioserweise spricht Levine weder Bischöfe noch Bistümer als relevante Akteure an, obwohl einige von ihnen sowohl in Argentinien als auch in anderen lateinamerikanischen Ländern eine wichtige Rolle für die Menschenrechtsbewegung spielten und innerhalb der Organisationsstruktur der katholischen Kirche einen relativ hohen Grad an Autonomie aufweisen. Von einer gänzlich anderen Warte aus thematisiert der Kirchenrechtler Urs Brosi die Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Organisationsstruktur der Kirche. Er richtet seinen Blick vor allem auf die interne Organisationslogik und die aus ihr resultierenden Probleme für die Leitung der Institution. Ähnlich wie Johnston und Figa weist er darauf hin, dass es bei der Größe und geringen Organisationstiefe der katholischen Kirche schwierig ist, direkte Führung über große Distanzen hinweg auszuüben, so dass die jeweils untergeordnete Ebene notwendigerweise größere Handlungsspielräume haben müsse. Dementsprechend konstatiert er, dass die jeweiligen Organisationseinheiten im Rahmen der institutionellen Vorgaben »eine gewisse Autonomie«16 genießen. Für Brosi ist diese ein Resultat der relativ großen Distanzen innerhalb der katholischen Kirche als global agierende Großinstitution mit einer wenig ausdifferenzierten, nur drei 14 Levine 2015, S. 68. 15 Vgl. Schnoor 2016. 16 Vgl. Brosi, Urs: Recht, Strukturen, Freiräume. Kirchenrecht, Zürich 2013, S. 106.
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Ebenen umfassenden Organisationsstruktur. Auf der höchsten Hierarchieebene steht die Gesamtkirche unter Leitung des Papstes, auf mittlerer Ebene die Teilkirche beziehungsweise Ortskirche, in der Regel eine Diözese unter Leitung eines Diözesanbischofs, und auf unterer Ebene steht die Pfarrei unter der Leitung eines Pfarrers. Auch wenn es dazwischen weitere Organisationseinheiten gibt, wie Bischofskonferenzen oder Kirchenprovinzen, so haben sie laut Brosi aufgrund ihrer eingeschränkten Kompetenzen eine deutlich geringere Bedeutung.17 Die Relevanz der drei Organisationsebenen der katholischen Kirche wird unter anderem daran ersichtlich, dass die jeweiligen Leiter – Papst, Diözesanbischof und Pfarrer – ihre Leitungsfunktion in eigener Verantwortung wahrnehmen, nicht als Stellvertreter. Der Pfarrer steht jedoch unter der Autorität des Diözesanbischofs. Auf Basis der vorangegangenen Überlegungen soll die Diözese hier als sinnstiftende Organisationseinheit im Mittelpunkt stehen, da die Diözesen innerhalb der katholischen Kirche sowohl institutionell-normativ als auch historisch eine relevante Größe darstellen, die in der bisherigen Forschung nicht eingehend untersucht wurde. Die Handlungsspielräume, die ein Bischof wahrnehmen kann, sowie die Handlungsspielräume, die sich aus der grundsätzlichen Konstellation zwischen Bischof und Priestern sowie den Lai*innen für die unterschiedlichen kirchlichen Akteure ergeben, werden ebenso untersucht wie die Begrenzung von Handlungsmöglichkeiten. Wesentlich ist dabei die Betrachtung der konkreten Praxis, die aus konstruktivistischer Perspektive niemals eine buchstabengetreue Umsetzung normativer Vorgaben sein kann, sondern vielmehr in Aneignungs- und Aushandlungsprozessen und in Auseinandersetzung mit ebenjenen normativen Ordnungsvorstellungen und institutionellen Normen entsteht. Besondere Dynamik bekam die Ausgestaltung der innerkirchlichen Praxis im Untersuchungszeitraum durch die vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestoßenen Reformen.18 Auch die Handlungsweisen 17 So können die Bischofskonferenzen nur in Angelegenheiten, in denen das allgemeine Recht oder eine Anordnung des Apostolischen Stuhls dies bestimmt, allgemeine Dekrete und Ausführungsdekrete für ihr nationales Gebiet erlassen. In anderen Angelegenheiten können sie nur koordinieren, weshalb Brosi feststellt, dass eine Bischofskonferenz nur dann Wirksamkeit entfalten kann, wenn unter den Mitgliedern eine gemeinsame Position gefunden werden kann. Vgl. Brosi 2013, S. 111ff. 18 Vor Inkrafttreten des CIC 1983 war die Diözese im CIC 1917 rein personal über das Amt des Bischofs definiert. Die Vorstellung vom ›Volk Gottes‹, insbesondere in der Pastoralkonstitution Lumen Gentium, führte dazu, sowohl das ›Volk Gottes‹ als auch das Presbyterium zum konstitutiven Bestandteil in der Neufassung des kanonischen Rechts im CIC 1983 werden zu lassen. Im hier untersuchten Zeitraum war das CIC 1917 in Kraft, die feststellbare Praxis befand sich jedoch bereits im Wandel. In der Diözese Neuquén wurden konziliare Neuerungsimpulse schnell aufgegriffen und umgesetzt, wie beispielsweise in der Einrichtung eines Presbyteriums, das immer wieder allein oder gemeinsam mit dem Bischof öffentlich in Erscheinung trat und politisch Stellung bezog. Die gesammelten Stellungnahmen sind ver-
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und -möglichkeiten von Lai*innen werden – soweit die Überlieferungssituation dies zulässt – in die Analyse einbezogen. Für Argentinien wird in der Forschung gewissermaßen en passant immer wieder der außergewöhnliche Beitrag einiger Bischöfe wie Hesayne, Novak oder Nevares zur Menschenrechtsbewegung erwähnt. Damit wird indirekt auf die Meso-Ebene der Diözesen verwiesen – obgleich die zentralistische und hierarchisch orientierte Perspektive mit dem Fokus auf die Person des Bischofs auch in diesem Kontext festgestellt werden kann.19 Die von diözesanen Teilkirchen geleistete und unterstützte lokale Menschenrechtsarbeit wurde bisher nur in kleineren Beiträgen untersucht, die unter anderem das Anliegen verfolgen, das lokale Menschenrechtsengagement sichtbar zu machen und zu belegen, dass es innerhalb der argentinischen Kirche nicht nur Unterstützung für die Militärmachthaber gab, sondern dass ebenso die Menschenrechte verteidigt wurden. So schreibt Azconegui, dass die vorwiegend eingenommene Perspektive in der Forschung – sowohl zu sozialen Bewegungen als auch zur katholischen Kirche und zum Katholizismus in Argentinien – verhindert habe, die »Rolle des Katholizismus als mobilisierende Kraft und seine Rolle in der Rekonfiguration der sozialen Beziehungen und den Räumen der Soziabilität in einem autoritären Kontext zu untersuchen.«20 Ein Bemängeln dieses Forschungsdefizits ist prinzipiell nicht falsch, weist aber zwei Schwierigkeiten auf. Zum einen besteht die Gefahr, die Bedeutung des Katholizismus für die Menschenrechtsarbeit aufgrund der eigenen Perspektive und Schwerpunktsetzung im Forschungsfeld stärker zu bewerten, als es bezogen auf den historischen Gesamtkontext angemessen wäre. Zum anderen erweckt die Rede von ›dem Katholizismus‹ den Eindruck, dass die »mobilisierende Kraft«, von der Azconegui spricht, ihm in einem essentialistischen Sinne inhärent sei und es somit ein Wesen des Katholizismus geben könnte, das die Verteidigung der Menschenrechte natürlicherweise einschließen würde. Eine solche Annahme stellt meines Erachtens eher eine kirchenpolitische Positionierung als eine wissenschaftliche Analyse dar. Deswegen soll hier, im Gegensatz zu tendenziell essentialisierenden Annahmen über Kirche und Katholizismus, eine anti-essentialistische Perspektive eingenommen werden, aus öffentlicht. Vgl. Nevares, Jaime: La verdad nos hará libres, (hg. v. Centro Nueva Tierra), Buenos Aires 1990, S. 106 [im Folgenden zitiert als Nevares 1990]. 19 So beispielsweise bei Bouvard, die sogar den Priester Capitanio aus Neuquén namentlich erwähnt: »Monsignor Novak of Neuquin [sic; Novak war Bischof von Quilmes, die patagonische Diözese Neuquén wurde von Bischof Nevares geleitet, B.R.], Father Rubén Capitanio, and many of the lower clergy were devoted and brave supporters of the mothers.« Bouvard, Marguerite Guzman: Revolutionizing motherhood. The mothers of the Plaza de Mayo, Lanham 1994, S. 53. 20 Azconegui 2012, S. 258, »[…] las perspectivas adoptadas han obturado la posibilidad de examinar el rol del catolicismo como una fuerza movilizadora y su papel en la reconfiguración de los lazos sociales y de los espacios de sociabilidad en un contexto autoritario.«.
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der deutlich wird, dass religiöse Diskurse und Institutionen sowohl gewaltsame Militärherrschaft legitimieren als auch Menschenrechtsverbrechen delegitimieren können. So gesehen handelt es sich beim Menschenrechtsengagement einer Diözese nicht um eine zwingend notwendige, sondern um eine mögliche Positionierung im breiten Spektrum von Handlungsformen, die auf dem Kontinuum zwischen den Polen der absoluten Identifikation mit den Militärmachthabern und der umfassenden Beteiligung an der Menschenrechtsbewegung liegen können. Vielmehr gehört die Deutung der religiös begründeten und kirchlichinstitutionell unterstützten Praxis der Menschenrechtsarbeit als religiös fundierter Handlungsimperativ zu den handlungsleitenden Weltdeutungsschemata der historischen Akteure. Im Verlauf dieses Kapitels wird schwerpunktmäßig die Praxis im Umgang mit Repression und Verschwindenlassen in der Diözese Neuquén im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Institution Kirche beleuchtet. Wo es für ein differenziertes Bild sinnvoll scheint und anhand der verfügbaren Quellen möglich ist, werden punktuell Hinweise aus der Diözese Quilmes in die Überlegungen mit einbezogen. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus dem reichhaltigen Quellenkorpus aus der Diözese Neuquén, der hinsichtlich seines Umfangs und seiner Vielfalt ein besonderer historiographischer Glücksfall ist. Er beinhaltet neben Presseberichten, Materialien der lokalen Menschenrechtsbewegung und der Diözese Neuquén auch eine Vielzahl von Briefen an den Bischof Jaime de Nevares, die von Klerikern und Lai*innen aus der Provinz Neuquén sowie anderen Teilen Argentiniens stammen. Die Untersuchung dieses Materials soll unter anderem zeigen, welche Möglichkeiten zum Umgang mit den innerkirchlichen Konflikten und Spannungen während der Militärdiktatur im Rahmen einer Diözese bestanden und welche Handlungsspielräume dazu genutzt oder geschaffen wurden. Die in diesem Kapitel vertretene These besagt, dass der temporäre oder dauerhafte Wechsel von der Ursprungsdiözese in eine andere Diözese eine wichtige Praxis sowohl für Kleriker als auch für Lai*innen darstellte, da ein solcher Wechsel ihnen erlaubte, Anschluss an katholische Gemeinschaften und Praktiken zu finden, mit denen sie sich identifizieren konnten. Mit dieser Praxis setzten sich Geistliche und andere Akteur*innen über normative Vorgaben und normierende Ordnungsvorstellungen der Institution Kirche hinweg, innerhalb derer Zugehörigkeit territorial organisiert ist. Darüber hinaus entstanden – ganz ohne physische Ortswechsel – imaginäre Zugehörigkeitsgemeinschaften auf Distanz. Diese ermöglichten eine Identifikation mit einem weit entfernten lokalen Bistum und dessen Vertretern, so dass eine durch Konflikte am Heimatort brüchig gewordene Zugehörigkeit zur Institution Kirche im Geiste in eine andere Diözese verlagert wurde. Da in allen genannten Fällen der Verlagerung von Zugehörigkeit in eine Wahldiözese im Prozess der Verlagerung zugleich eine
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qualitative Neubestimmung des Verhältnisses zur gesamten Institution Kirche erfolgt, soll das Phänomen hier als Transposition von Zugehörigkeit bezeichnet werden. Der Begriff Transposition wird definiert als eine Verlagerung und qualitative Veränderung der kirchlichen Zugehörigkeit, weg von der ursprünglichen Heimatdiözese hin zu einer Wahldiözese. Dieser Prozess hatte dabei Auswirkungen auf die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche insgesamt, da mittels der Konstruktion der selbst gewählten Diözese als ›wahre, authentische Kirche‹ eine Identifikation mit der gesamten Institution Kirche möglich wurde. In diesem Prozess konnten die in der Heimatdiözese bestehenden Konflikte mit lokalen Vertretern der Institution und ihrer konkreten Praxis überschrieben oder sogar ausgeblendet werden. Somit wurde in der eigenmächtigen Hinwendung zu einer Teilkirche die eigene Vorstellung von ›der Kirche‹ insgesamt modifiziert und eine neue Position gegenüber der Institution Kirche eingenommen. Dadurch wurde ein produktiver Umgang mit Konflikten auch dann möglich, wenn diese Konflikte nicht aufgelöst werden konnten. Ergebnis einer solchen Transposition war für die jeweiligen Akteur*innen, dass ihre in Frage gestellte Zugehörigkeit – sei es aufgrund mangelnder Repräsentation durch die kirchliche Leitungsebene, fehlender Integration in religiöse Praktiken oder von Konflikten vor Ort – reaffirmiert wurde. Diese Transposition konnte dauerhaft sein, wenn Lai*innen, Priester und Seminaristen in die selbst gewählte Diözese zogen beziehungsweise im Falle von Priestern, Ordensleuten und Seminaristen offiziell und gemäß kirchenrechtlicher Bestimmungen Mitglied der Diözese wurden, oder temporär, wenn die jeweiligen Akteur*innen kurzzeitig beziehungsweise vorübergehende Ortswechsel vornahmen. So fuhren beispielsweise Angehörige von desaparecidos nach Quilmes, um in der dortigen Diözese an Messen für die Verschwundenen teilzunehmen, obwohl sie einer anderen Diözese angehörten.21 Als weitere Form kommt die imaginierte Transposition von Zugehörigkeit hinzu, mit der Katholik*innen auch an weit entfernten Orten emotionale Zugehörigkeit zu einer Diözese (zum Beispiel Neuquén oder anderen affinen Bistümern) ausbilden konnten, selbst wenn die Gläubigen diese nicht einmal vorübergehend für die Teilnahme an einem Gottesdienst aufsuchen konnten.22 Die hier benannten unterschiedlichen Formen der Transposition von Zugehörigkeit, seien es temporäre oder dauerhafte Ortswechsel oder eine imaginäre 21 Beispielsweise fand am 12. August 1979 in Quilmes eine Messe unter der Leitung von Bischof Novak statt, an der Angehörige von Verschwundenen teilnahmen. Wie der Polizeibericht festhielt, nahmen circa 500 Personen teil, darunter viele »platenses« (aus La Plata), DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14418. Funes stellt dar, wie eine der Madres de Plaza de Mayo aus La Plata unter anderem zu den Messen in Quilmes fährt und an den Pilgerfahrten nach Luján teilnimmt. Vgl. Funes 2008. 22 Siehe hierzu Kapitel 8.
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Vergemeinschaftung auf Distanz, machen insgesamt die Bedeutung der Diözese als ordnungs- und sinnstiftende Einheit innerhalb des institutionellen Gesamtgefüges der katholischen Kirche deutlich. Zugleich verweisen die beobachteten Ortswechsel auf die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb eines Bistums, da ein vorgenommener Ortswechsel durch die Differenz der institutionellen Praxis zwischen der Ursprungsdiözese und der selbst gewählten, neuen Heimatdiözese begründet ist. Mit einem solchen Wechsel lassen sich Handlungsspielräume erweitern, auch kann die Zugehörigkeit zur Institution reaffirmiert werden, weil Spannungen und Konflikte in der Ursprungsdiözese in solchen Fällen ausgewichen wird, so dass die Handlungsoptionen der jeweiligen Akteur*innen nicht mehr durch diese geprägt waren. Gleichzeitig trugen vor allem die dauerhaften Ortswechsel von Priestern, Seminaristen und Lai*innen zur Profilbildung der Wahldiözese bei und verschoben das Gesamtgefüge der katholischen Kirche in Argentinien. Um zu verstehen, wie die Diözese Neuquén zu einem Kristallisationspunkt für engagierte Katholik*innen und Repressionsopfer wurde, soll hier kurz die von Akteur*innen der Diözese initiierte und getragene Menschenrechtsarbeit skizziert werden. Sie stellt einen Teilbereich der umfangreichen sozialen und politischen Aktivitäten der Diözese dar, die sich auch für die Belange von Arbeiter*innen, Indigenen, Migrant*innen und ökonomisch wie sozial marginalisierten Menschen einsetzte und dazu eigene diözesane Strukturen schuf, wie beispielsweise die Pastoral Social oder die Pastoral de Migraciones, die sich in ihren Anfängen vorwiegend mit den Problemen von Migrant*innen aus Chile befasste.23 Bereits 1969, während der Militärdiktatur unter General Onganía, wurde die Diözese Neuquén überregional durch die klare Unterstützung der streikenden Arbeiter des Staudammgroßprojektes El Chocón bekannt.24 Zudem traten der Bischof Jaime de Nevares und die Priester in Neuquén in der Spätphase der bis 1973 dauernden Militärdiktatur, die durch Aufstände wie den Cordobazo, Guerilla-Aktivitäten, politische Morde und staatliche Repression geprägt war, in Erscheinung. Die Geistlichen prangerten gemeinsam durch Stellungnahmen und Briefe die sozialen und politischen Missstände an. So verfassten sie beispielsweise zu Ostern 1971 eine öffentliche Stellungnahme zur Situation der politischen Gefangenen, die willkürlich und ohne rechtsstaatliches
23 Vgl. Muñoz Villagrán, Jorge: »Don Jaime y los chilenos de Neuquén«, in: Ders. (Hg.), Pedagogía Política en Don Jaime de Nevares. La dimensión política de su vida, Neuquén 2012, S. 135–184; Nicoletti, María Andrea: »El obispo De Nevares y la Pastoral de Migraciones: La defensa de los derechos humanos en los migrantes chilenos (1973–1990)«, Revista de Estudios Trasandinos, Jg. 7 (2002), S. 181–204. 24 Vgl. Chaneton, Juan: Dios y el diablo en la tierra del viento. Cristianos y marxistas en las huelgas de El Chocón, Buenos Aires 2005.
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Verfahren inhaftiert waren.25 Bereits in diesem Zusammenhang formulieren die religiösen Akteur*innen der Diözese ihren Protest in der Semantik der Menschenrechte und verknüpften ihn mit dem dominanten Gewaltdiskurs der Zeit, indem sie unter Berufung auf das Dokument von Medellín den Legitimationsdiskurs, es handele sich um die notwendige Bekämpfung ›subversiver Aktivitäten‹, zurückwiesen und zugleich die Notwendigkeit eines fundamentalen sozialen und politischen Wandels bekräftigten. Somit fand schon vor dem Putsch 1976 eine Verknüpfung des Diskurses um sozialen Wandel, um die Legitimität von Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele, einschließlich staatlicher Repression, und um die Wahrung der Menschenrechte im Sinne positiv verbriefter Rechte statt. Auch im Zusammenhang mit der Razzia im Internat Mama Margarita, der Verhaftung des Padre Mateos und fünf Lehrer*innen der Schule wurde die Wahrung der Menschenrechte gefordert.26 Für die Zeit vor 1976 wird angesichts dieser hier schlaglichtartig vorgestellten Aktivitäten und Positionierungen der Diözese Neuquén deutlich, dass die Haltung zur Menschenrechtsfrage sich nicht erst in Reaktion auf die systematisch verübten Menschenrechtsverbrechen nach dem Militärputsch 1976 herausbilden musste, wie es das in der Forschung weit verbreitete Narrativ zur argentinischen Menschenrechtsbewegung postuliert. In vielen Darstellungen wird die Formierung der Menschenrechtsbewegung vor allem als Reaktion auf die massive Repression nach dem Putsch dargelegt, ohne die vorherigen Entwicklungen einzubeziehen.27 Auf diese Weise wird ausgeblendet, dass nicht nur in Neuquén bereits vor dem Putsch Organisationsstrukturen und Deutungsangebote entstanden waren, auf die nach dem Putsch im März 1976 zurückgegriffen werden konnte. So existierten die in Buenos Aires ansässigen Menschenrechtsorganisationen SERPAJ und APDH bereits zum Zeitpunkt des Militärputsches, was darauf hindeutet, dass der Menschenrechtsdiskurs auch in diesen Kontexten eine Referenz darstellte und nicht erst ab Ende 1976 in Argentinien ›verfügbar‹ wurde, wie Mercedes Barros schreibt.28 Zudem gehörte Bischof Jaime de Nevares zu den Mitbegründern der APDH in Buenos Aires und war seitdem Ehrenpräsident dieser Menschenrechtsorganisation.
25 La Justicia, camino para la paz [Mensaje del Obispo y Sacerdotes de Neuquén con ocasión de la Pascua 1971] in: Nevares 1990, S. 95–96. 26 Ante el allanamiento del hogar escuela »Mama Margarita« [Comunicado del Obispos de Neuquén y su presbiterio, 1. Dezember 1975], in: Nevares 1990, S. 104–107. 27 Vgl. dazu kritisch Barros 2011, S. 222f. 28 Durch transnationale Verbindungen, wie beispielsweise der regional vernetzten Organisation SERPAJ, waren Informationen über die Repression in Chile und damit auch die Semantik der Menschenrechte verfügbar.
Die Menschenrechtsbewegung in Neuquén
7.1
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Die Menschenrechtsbewegung in Neuquén
In Neuquén fand die Menschenrechtsarbeit unter Beteiligung religiöser Akteur*innen und in den Räumlichkeiten der Kirche statt. Die lokale APDH gründete sich auf Initiative des Bischofs Nevares und kam jeden Dienstag im Versammlungsraum neben der Kathedrale zusammen.29 Aus der Perspektive des Ressourcen-Mobilisierungsansatzes stellte die Ortskirche Neuquén als Institution neben wichtigen materiellen Ressourcen auch die notwendigen Deutungsangebote für eine kollektive Organisierung und Mobilisierung bereit.30 Während der Militärdiktatur arbeitete die lokale Menschenrechtsbewegung formal getrennt: in den Gruppen APDH, Familiares de detenidos-desaparecidos por razones políticas und der Gruppe Madres de Plaza de Mayo Neuquén y Alto Valle, die sich als lokaler Ableger der Gruppe der Madres de Plaza de Mayo verstand. De facto erfolgte die Menschenrechtsarbeit in den bereits erwähnten Versammlungen am Dienstagabend, so dass die Trennung für lange Zeit nicht inhaltlich begründet war, sondern diese die symbolische Wirksamkeit erhöhen sollte, da mehrere Gruppen die Protestschreiben unterzeichneten. An den Treffen nahmen auch der Bischof und Priester der Diözese teil. Neben ihrer konkreten Mitarbeit in der Menschenrechtsbewegung nutzten sie religiöse Praktiken wie Messen, Prozessionen und Wallfahrten, um die Forderung nach dem Wiedererscheinen der Verschwundenen und der Einhaltung der Menschenrechte zu artikulieren.31 Zum einen wurde das politische Anliegen in traditionelle religiöse Rituale integriert, zum anderen wurden neue politisch-religiöse Artikulationsformen kreiert. Dazu gehörten die Marcha de la Fe (sinngemäß: Marsch des Glaubens), die erstmals Weihnachten 1977 veranstaltet wurde und ab da jährlich stattfand, die am Muttertag von Priestern der Diözese organisierten Marchas por la Vida (in
29 Nicoletti, María Andrea: »›Con un oído en el evangelio y otro en el pueblo‹ – Don Jaime pastor de la Iglesia de Neuquén«, in: Muñoz Villagrán, Jorge (Hg.), Pedagogía Política en Don Jaime de Nevares. La dimensión política de su vida, Neuquén 2012, S. 187–208; Später wurde die Organisation Comisión de Familiares de Detenidos y Desaparecidos por Razones Políticas (Comisión de Familiares) gegründet, um durch zwei unterzeichnende Organisationen den öffentlichen Protestnoten mehr Gewicht zu verleihen. De facto arbeiteten die Mitglieder beider Menschenrechtsgruppen in einer Gruppe zusammen. Die Organisation Madres de Plaza de Mayo – filial Alto Valle y Neuquén ging erst ab 1982 eigene Wege. Vgl. Azconegui 2012, S. 1f. 30 Vgl. zu den lokalen Menschenrechtsgruppen und ihrer Entstehung Azconegui, María Cecilia: »Desobediencia debida. La defensa de los derechos humanos en el Alto Valle y Neuquén, 1976–1983«, in: Kotler, Rubén (Hg.), En el país del sí me acuerdo. Los orígenes nacionales y transnacionales del movimiento de derechos humanos en Argentina: De la dictadura a la transición, Buenos Aires 2014, S. 47–78. 31 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14432.
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etwa: Märsche für das Leben) oder die Fastenaktion 1980.32 Sie waren ebenso als Kommunikationsakt im öffentlichen Raum angelegt wie die traditionellen Kreuzwegprozessionen zu Ostern, die neben religiösen Inhalten auch politische Themen aufgriffen.33 In von Priestern und Bischof gemeinsam verfassten Stellungnahmen und Protestschreiben wurden die Menschenrechtsverbrechen ebenfalls öffentlich angeklagt. Diese Schreiben spielten eine wichtige Rolle für die Delegitimierung der Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur und boten einen Deutungsrahmen für eine widerständige Haltung, da sie die Einhaltung der Menschenrechte als wesentliches Prinzip und zentrale Forderung des Christentums deuteten.34 Insbesondere in den ersten Jahren waren die öffentlichen Positionierungen wichtig im Kampf um die Anerkennung des Phänomens der Verschwundenen. Sie wurden nicht nur in der Provinz Neuquén, sondern auch darüber hinaus rezipiert. Vor Ort integrierten die Priester die politischen Botschaften in Gottesdienste, die manchmal auch Teil einer größeren Protestaktion sein konnten.35 Einen besonderen Stellenwert hatten die sonntäglichen 8-UhrMessen des Bischofs, sowohl aufgrund der starken symbolischen Wirkung einer vom Bischof gehaltenen Messe als auch aufgrund ihrer Reichweite. Durch RadioÜbertragung gelangten die im religiösen Kontext artikulierten politischen Botschaften auch ins Hinterland der Provinz Neuquén.36 32 Vgl. Mombello 2003; Río Negro, 20. Dezember 1980; Se realizará hoy la ›Marcha de la Fe‹; Río Negro, 21. Dezember 1981, Alrededor de 600 personas realizaron la peregrinación; Río Negro, 5. Oktober 1982, El gobierno no autorizó la concentración – Anuncian la realización de la »marcha por la vida«. 33 Siehe dazu Kapitel 6. 34 »Falta de respeto al hombre y sus derechos« [Nevares und Presbyterium an General Sexton, 24. Juni 1976], in: Nevares 1990, S. 113–114. 35 Zum Beispiel wurde nach einer Demonstration für die desaparecidos und für die Wiederherstellung des Rechtsstaats im Zentrum von Neuquén eine Messe für die desparecidos gefeiert. Río Negro, 18. Oktober 1981, Frente al monumento a la Madre, en Neuquén, habrá hoy una concentración; Río Negro, 22. März 1983, Misa por la justicia y por la paz en un barrio de Neuquén. 36 Immer wieder schrieben Menschen, dass sie die 8-Uhr-Messe per Radio hörten. »La misa de los domingos a las 8 horas siempre es oída por nosotros. Su mensaje al pueblo de la provincia es voz de Dios que clama justicia para los necesitados; el desgobierno lo crean los que están para gobernar, sublime su mensaje! […] De nuevo le digo, que los domingos no perdemos la misa de las 8 por Ud y felicitación por el mensaje al pueblo, que Ud. le ha dirigido. No se [unleserlich] Monseñor por decir la verdad siempre, es lo que el Cruzificado quiere.« (»Die 8Uhr-Sonntagsmesse wird immer von uns gehört. Ihre Botschaft an das Volk der Provinz ist die Stimme Gottes, die nach Gerechtigkeit verlangt, für die Notleidenden; die Unordnung schaffen die, die eigentlich für das Regieren verantwortlich sind, außergewöhnlich gelungen Ihre Botschaft! […] Erneut sage ich Ihnen, dass wir niemals sonntags die 8-Uhr-Messe verpassen und Glückwunsch für die Botschaft ans Volk, die sie an es gerichtet haben. Ich weiß nicht [unleserlich], Monseñor, dafür, immer die Wahrheit zu sagen, es ist das, was der Gekreuzigte will.«), BAN, Briefe, Familie Rodríguez García an Jaime de Nevares 13. Februar 1978.
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Für die politische Sozialisation und Organisation spielten einige Gemeinden innerhalb des Bistums eine bedeutende Rolle. Besonders die Gemeinde Buquet Roldán unter der Leitung des Priesters Héctor Galbiatti wurde zu einem wichtigen Zentrum, in dem viele Menschen zusammenkamen. Die dauerhafte Arbeit in der Gemeinde war nur durch die Unterstützung des Bischofs möglich, was sich beim Vergleich mit Konstellationen in anderen Diözesen, in denen es Konflikte um die Ausgestaltung der Gemeindearbeit vor Ort gab, deutlich erkennen lässt. So geriet der Priester Rubén Capitanio in La Plata in Konflikt mit dem Erzbischof Plaza, weil er unter anderem Messen für die desaparecidos hielt und Opfer der Diktatur zusammenbrachte. Aufgrund der Konflikte konnte Capitanio diese Praxis jedoch nicht lange aufrechterhalten. Dies zeigt zum einen, dass ein Bischof qua Amt an vielen Stellen Handlungsspielräume stark begrenzen konnte, und zum anderen, dass es selbst bei einer ablehnenden Haltung des Bischofs prinzipiell möglich war, eigenmächtig Messen für die Opfer der Diktatur zu halten. Es war dem einzelnen Priester jedoch kaum möglich, ohne Unterstützung des Bischofs ein dauerhaftes Engagement für die Menschenrechte zu etablieren. Die Handlungsspielräume des einzelnen Priesters waren daher nicht immer vollständig von der Haltung des Bischofs abhängig, konnten aber massiv begrenzt werden. Hier kommt meines Erachtens die relative Autonomie der jeweiligen Akteure der drei Ebenen – Papst, Bischof, Priester – innerhalb der Institution zum Tragen, die im Falle eines Diözesanpriesters am stärksten durch die Weisungsbefugnis seines Bischofs eingeschränkt ist. Umgekehrt ist es wichtig festzuhalten, dass das Profil der Diözese in der Interaktion des Bischofs mit Priestern, Seminaristen und Lai*innen seiner Diözese entstand und der Bischof nicht als autonom handelndes Subjekt verstanden werden sollte. Durch seine strukturell machtvolle Position konnte er eine gewisse Linie für die pastorale Arbeit in der Diözese vorgeben, doch konnte er keinesfalls allein die vielfältige Arbeit zugunsten marginalisierter sozialer Gruppen und für die Menschenrechte leisten. Dazu bedurfte er der Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern der lokalen Teilkirche und engagierten Menschen, die nicht zur katholischen Kirche gehörten. Nicht zuletzt stärkten diese Akteur*innen sowohl seine Position innerhalb der Diözese als auch über die Grenzen der Diözese hinaus, da er sie in seiner Rolle als Bischof nach außen repräsentierte. Jaime de Nevares erhielt als Vertreter seiner Diözese und ihrer Menschenrechtsarbeit einige Aufmerksamkeit im nationalstaalichen Rahmen. Er sah sich immer wieder Anfeindungen und Kritik ausgesetzt und wurde vom Geheimdienst als ›subversiver‹ Bischof überwacht.37 Zu seinen Kritikern zählte unter anderem eine Gruppe Bischöfe aus dem Norden Argentiniens, die sich an Nevares wandten,
37 DIPBA, Mesa DS, Varios, Legajo 14432.
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weil sie sein Engagement in der Menschenrechtsbewegung in Frage stellten.38 Wie schwierig seine Position innerhalb des Bischofskollegiums war, wird auch an den offiziellen Positionierungen der Bischofskonferenz deutlich, bei denen es ihm und anderen engagierten Bischöfen zwar gelang, das Thema Menschenrechte einzubringen, es aber aufgrund der internen Konflikte meist nicht in der gewünschten und für erforderlich gehaltenen Vehemenz artikuliert wurde.39 Das Thema Menschenrechte spielt für die Akteur*innen der Diözese Neuquén bis heute eine wichtige Rolle. Nach der Diktatur wurde Bischof Nevares Mitglied der Wahrheitskommission Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP), die der damals frisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín nach seinem Amtsantritt 1983 ins Leben rief. Ziel war es, das Verschwinden tausender Menschen aufzuklären. Nachdem die Kommission ein Jahr lang Augenzeugenberichte aufgenommen und Daten gesammelt hatte, brachte sie einen Abschlussbericht mit dem Titel »Nie wieder!« heraus. In der Debatte um die juristische Verantwortung der Täter plädierten die Akteur*innen der Diözese immer wieder für eine konsequente Strafverfolgung der Menschenrechtsverbrechen und beteiligten sich an den Prozessen gegen die Täter.40 Das starke Engagement der Diözese seit den späten 1960er-Jahren, insbesondere während der letzten Militärdiktatur, beeinflusste die politische Landschaft der Provinz Neuquén, 1200 Kilometer von Buenos Aires entfernt, maßgeblich und trug im kollektiven Imaginären zum Bild der ›Hauptstadt der Menschenrechte‹ bei. Mombello arbeitet heraus, wie diese erstmals 1983 öffentlich gebrauchte Titulierung von der Menschenrechtsbewegung und anderen Organisationen in Neuquén seitdem immer wieder als identitäres Element in politischen Konflikten mit staatlichen Autoritäten in Anschlag gebracht wurde.41 In der bisherigen Forschung wird Neuquén als Ort besonders intensiver und dynamischer sozialer Protestbewegungen beschrieben, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschichte der Provinz prägten.42 In diesem Zusammenhang wird die enge Verbindung zwischen den religiösen Akteur*innen der Diözese und den sozialen Bewegungen erwähnt, wobei dem Beitrag zur Menschenrechtsbewegung während der Militärdiktatur besondere Relevanz beigemessen wird. Für diesen Zeitraum konstatieren einige Autor*innen die Existenz 38 Archiv Pastoral de Migraciones (Neunqén), Reunión Episcopal del N.O.A. an Kardinal Primatesta, 7. Februar 1978 [= Kopie aus dem BAN, Carpeta Obispos Argentinos]. 39 Siehe hierzu Teil 1 dieser Arbeit. 40 Beispielweise sagte der Priester Rubén Capitanio im Prozess gegen den Polizeikaplan Christian von Wernich aus, der während der Diktatur an Folterungen beteiligt war. Glüsing, Jens: Fromme Folterknechte, in: Der Spiegel, H. 41 (2007), S. 162. 41 Vgl. Mombello 2003a, S. 209ff. 42 Aiziczon spricht von Neuquén als einem »Feld des Protests«. Vgl. Aiziczon, Fernando: »Neuquén como campo de protesta«, in: Favaro, Orietta (Hg.), Sujetos Sociales y políticas. Historia reciente de la Norpatagonia argentina, Buenos Aires 2005, S. 128–150.
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spezifischer Bedingungen in Neuquén, so dass im Verhältnis zu anderen Orten in Argentinien eine gewisse Sicherheit für politisch Verfolgte angenommen wird, die Neuquén zu einem Ort des ›internen Exils‹ werden ließen. Es handelt sich dabei jedoch nur um kurze Erwähnungen des Phänomens, weitere Ausführungen oder Untersuchungen liegen dazu nicht vor.43 Anhand der in der vorliegenden Arbeit analysierten Briefe lässt sich bestätigen, dass Neuquén zum Zufluchtsort sowohl für Repressionsopfer als auch für religiöse Akteur*innen werden konnte, die aufgrund ihrer (kirchen-)politischen Haltung Konflikte in ihrer Heimatdiözese hatten. Allerdings scheint mir die Bezeichnung des ›internen Exils‹ irreführend zu sein, da ein Wechsel in die Diözese Neuquén keineswegs die Sicherheit bieten konnte, die der Begriff ›Exil‹ nahelegt, der das Verlassen des Heimatlands aufgrund politischer Verfolgung meint, mit dem sich Betroffene aus der Einflusssphäre der Militärmachthaber entfernen und so vor Repression in Sicherheit bringen konnten.44 In der Literatur wird die Provinz Neuquén als geographischer Raum beschrieben, der nicht in derselben Intensität von Repression betroffen war wie beispielsweise der Großraum Buenos Aires, in dem aber dieselben repressiven Praktiken vorherrschten wie im Rest Argentiniens, so dass es laut Scatizza zwar einen quantitativen, aber keinen qualitativen Unterschied in der Ausübung von Repression vor Ort gab. Obwohl die Militärs Neuquén als Gebiet ›niederer subversiver Intensität‹ klassifizierten, finden sich dort, nach Scatizza, exakt dieselben Elemente der systematischen Repression wie in den urbanen Zentren des Landes.45 Diese relativ abstrakte Formulierung bedeutet für die militärisch definierte Subzone 5.2, bestehend aus Neuquén und fast dem gesamten Territorium Río Negros, konkret wenigstens 30 dokumentierte Fälle von desparecidos, mehr als 120 Fälle von Verschleppung und Folter und etliche, nicht systematisch erfasste Fälle von Repression in Form von Attentaten, willkürlichen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen oder geheimdienstlicher Überwachung vermeintlich ›subversiver‹ Aktivitäten.46 Auch Akteur*innen der Diözese Neuquén waren von der Repres43 Vgl. Aiziczon, Fernando: Zanón. Una experiencia de lucha obrera, Buenos Aires 2009, S. 69; Mombello, Laura: »Neuquén es memoria y memoria es Neuquén«, in: Revista de Historia (2002), S. 113–123, hier S. 119. 44 Auch dieser Schutz kann nicht als absolut gesehen werden, da durch Geheimdienstkooperationen wie den Plan Condor auch außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen transnational gewaltsame Verschleppungen durch die untereinander kooperierenden Militärdiktaturen organisiert wurden. Vgl. Dinges, John: The Condor Years. How Pinochet and his Allies Brought Terrorism to Three Continents, New York 2004. 45 Vgl. Scatizza, Pablo: »Un Comahue no tan frío: La Norpatagonia argentina en el proyecto represivo de la dictadura militar (1975–1983)«, Izquierdas, H. 23 (2015), S. 66–80. 46 Die Provinz Neuquén hatte laut dem Zensus von 1970 154.143 Einwohner, im Zensus von 1980 wurden 243.850 Einwohner gezählt. https://www.estadisticaneuquen.gob.ar/#/censos_anteri ores (abgerufen am 24. 10. 2017).
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sion betroffen, die hier ebenso wie im Rest des Landes bereits vor dem Putsch 1976 einsetzte. Im Dezember 1975 wurden nach der Durchsuchung des Internats Mama Margarita der dort tätige Priester Antonio Mateos sowie fünf Lehrer*innen verhaftet, denen man vorwarf, ›subversiv‹ zu sein.47 In Neuquén war die Repression direkt nach dem Putsch 1976 am stärksten, die meisten desaparecidos wurden bei einem Militäreinsatz im Juni 1976 verschleppt.48 Zwischen 1976 und 1978 gab es in der Hauptstadt der Provinz zwei geheime Folterstätten.49 Für die Zeit der Militärdiktatur führt die Zeitschrift Comunidad der Diözese Neuquén im Jahre 1985 rückblickend etliche Fälle von Repression auf. Dazu zählten die Verhaftung von Jugendlichen, welche die Biblia Latinoamericana (Lateinamerikanische Bibel) bei sich trugen (1977), Schüsse auf das Gemeindebüro an der Kathedrale (1981), Einsatz von Tränengas während einer von Menschenrechtsaktivisten abgehaltenen Messe am Muttertag (1982) sowie ein Bombenattentat, durch das die Kapelle im Viertel El Progresso zerstört wurde (1983). Außerdem waren die Mitglieder der Diözese immer wieder Opfer geheimdienstlicher Überwachung, inklusive Ton- und Bildaufzeichnung von religiösen Ritualen, insbesondere solchen mit politischen Bedeutungsgehalten, sowie willkürlicher Schikane und Einschüchterungsversuche.50 Insofern ist die Annahme, dass Menschenrechtsarbeit unter dem Dach der katholischen Kirche per se einen umfassenden Schutz bietet, wie sie oftmals in die gängigen Narrative eingewoben ist, problematisch.51 Ein klares Eintreten für die Menschenrechte von Seiten der Kirche, nicht-öffentliche Interventionen sowie öffentliche Proteste konnten in bestimmten Fällen Wirkung zeigen, aber keineswegs immer.52 Auch der Bischof Jaime de Nevares – dem vielfach eine große Handlungsmacht zugeschrieben wird – konnte nicht verhindern, dass Menschen innerhalb seines Jurisdiktionsbereiches verhaftet, verschleppt und 47 48 49 50 51
Vgl. Azconegui 2011. Vgl. Azconegui 2014, S. 3. Vgl. Labrune, Noemí: Buscados. Represores del Alto Valle y Neuquén, Buenos Aires 1988. Comunidad (August 1985). Dies gilt insbesondere, wenn man sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigt, dass für den Bischof von La Rioja, Enrique Angelleli, selbst sein Bischofsamt keinen Schutz bot und er durch einen fingierten Autounfall ermordet wurde. Catoggio ist ebenfalls der Ansicht, dass es keinen prinzipiellen institutionellen Schutz gegeben hat. Vgl. Catoggio 2013a, S. 143. 52 So ist beispielsweise Marta I. B. de Bravo, Ehefrau von APDH-Mitbegründer Alfredo Bravo, der Ansicht, dass Nevares eine entscheidende Rolle dafür gespielt hat, dass Bravo wieder auftauchte und nicht mehr zu den desaparecidos zählte: »Después de haber conversado con Alfredo en La Plata, donde se encuentra detenido a disposición del Poder Ejecutivo estamos seguros, que su influencia y prestigio, fueron factores decisivos en su aparición.« (»Nachdem ich mit Alfredo in La Plata gesprochen habe, wo er der Exekutivgewalt (Poder Ejecutivo) unterstellt ist, sind wir sicher, dass Ihr Einfluss und Ihr Prestige entscheidende Faktoren für sein Erscheinen waren.«), BAN, Derechos humanos 6, Marta I. B. de Bravo an Jaime de Nevares, 1. Oktober 1977.
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gefoltert wurden. Deshalb ist hier deutlich hervorzuheben, dass auch die Menschenrechtsarbeit innerhalb der kirchlichen Strukturen mit einem persönlichen Risiko für die jeweiligen Akteur*innen verbunden war. Bei Betrachtung der Fälle, die von den Akteur*innen selbst als Repression gegen die Ortskirche Neuquén benannt werden, wird deutlich, dass es sich um vergleichsweise weniger schwere Fälle der Repression handelte und kein institutionell gebundener Akteur zu den desaparecidos zählt. Möglicherweise kam hier eine gewisse Schutzwirkung durch die institutionelle Anbindung an die katholische Kirche und das lokale Menschenrechtsengagement zum Tragen.53 Nevares protestierte bei verschiedenen Gelegenheiten mit Briefen an den jeweils amtierenden General gegen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Dabei scheute er sich nicht, klare Worte zu benutzen, die ihm Konflikte mit dem Militär vor Ort einbrachten.54 In den Auseinandersetzungen ging es neben der Anklage der Verfolgung von Angehörigen der katholischen Kirche auch darum, dass Militärpersonal kirchliche Inhalte zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machte, beispielsweise Verhaftete danach fragte, ob sie die Lateinamerikanische Bibel oder das Dokument von Puebla bei sich trügen.55 Aus der Perspektive Nevares’ maßte das Militär sich dabei an, über Glaubensinhalte zu urteilen. Nevares beanspruchte durch seine Zurückweisung dieses Vorgehens die alleinige Autorität auf dem religiösen Feld. Zudem artikulierten der Bischof und das
53 Eine weitere Hypothese ist, dass Nevares, unter anderem durch seine soziale Herkunft aus einer gut situierten Familie aus Buenos Aires, gute Beziehungen zu einigen Angehörigen des Militärs hatte und über diese Kontakte Hilfe leisten oder vor Repression schützen konnte. Belegt ist zumindest eine sehr gute Beziehung zum Teniente General Laplane, der im Jahr 1975 Oberbefehlshaber der Streitkräfte war, bis er am 27. August 1975 von Videla abgelöst wurde. Er dankt Nevares auf eine Art und Weise für den Beistand in schweren Zeiten [vermutlich seine Absetzung], die eine große emotionale Nähe und Vertrautheit ausdrückt. Auch wenn er selbst nicht mehr im Dienst des Militärs stand, konnte er möglicherweise Kontakte zu aktiven, ranghohen Militärs vermitteln. BAN, Alberto N. Laplane an Jaime de Nevares, 29. September 1975. Nevares schreibt über sich selbst: »Soy de familia de militares por parte de padre y de madre.« (»Ich bin aus einer Militärfamilie, sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits.«), Sospechas y calumnias [Jaime de Nevares an Coronel Julio E. González, 28. November 1973], in: Nevares 1990. 54 Beispielsweise lässt sich anhand eines Briefwechsels mit dem General Sexton erkennen, dass die Beziehungen zwischen Nevares und dem General keinesfalls gut waren. Auch der General antwortet in einem unzweifelhaft deutlichen Sprachduktus. Nevares beklagte, dass von Seiten des Militärs sowohl er als auch seine Priester als Marxisten diffamiert würden. Vgl. »Falta de respeto al hombre y sus derechos« [Nevares und Presbyerium an General Sexton, 24. Juni 1976], in: Nevares 1990, S. 113–114; Operativo en Cutral Co [Jaime de Nevares an General Sexton, 25. Januar 1977, General Sexton an Jaime de Nevares, 28. Januar 1977], in: Nevares 1990, S. 115–116; Otra carta [Nevares und Presbyterium an Sexton, 27. Juni 1977], in: Nevares 1990, S. 118–119. 55 Más atropellos [Jaime de Nevares an Gouverneur General Trimarco, 22. Juni 1981], in: Nevares 1990, S. 122–124.
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Presbyterium von Neuquén mit gemeinsamen Erklärungen ihren Protest gegen Repression und Menschenrechtsverletzungen.56 Es ist insgesamt schwer zu bemessen, welchen Anteil religiöse Akteur*innen daran hatten, dass die Repression vor Ort quantitativ vergleichsweise weniger stark war, da in der bisherigen Forschung eine aussagekräftige Vergleichsbasis fehlt. Die oben zitierte Aussage bezüglich der quantitativ geringeren Repression vergleicht Neuquén mit Orten gänzlich anderer militärlogischer Klassifikation und lässt das Agieren der lokalen Diözesen als Erklärungsfaktor außen vor. Die Provinz Neuquén galt dem Militär als »Zone der Erholung, des Zusammentreffens, der Ausbildung, der Aufnahme und des Durchgangs von Subversiven«57, da es vor dem Putsch keine Guerilla-Aktivitäten gab. Deshalb bestand aus militärischer Perspektive deutlich weniger Handlungsbedarf als in anderen Zonen, die als relevante Kampfgebiete des ›schmutzigen Krieges‹ ausgemacht waren. Meines Erachtens ist die Tatsache, dass dieses Territorium nicht im Fokus des Repressionsapparates stand, ein zentraler Faktor für die spezifischen Bedingungen in Neuquén. Dieser Umstand trug dazu bei, dass viele Menschen nicht nur subjektiv ein Gefühl größerer Sicherheit verspürten, sondern auch mit größerer Wahrscheinlichkeit in Neuquén vor Repression sicher waren – im Gegensatz im zum für die Militärmachthaber strategisch besonders relevanten Großraum Buenos Aires. Wie bereits erwähnt, handelte es sich nicht um absolute Sicherheit, sondern nur relativ gesehen um größere Sicherheit als an anderen Orten innerhalb des argentinischen Nationalstaats, die nicht gleichgesetzt werden darf mit dem Exil in Ländern, in denen die persönliche Sicherheit der Geflüchteten durch den aufnehmenden Staat gewährleistet war. Für das spezifische Phänomen des Ortswechsels von Kirchenmitgliedern spielte die politische Dimension insofern eine Rolle, als dass sich oftmals politische und religiöse Motive für einen Wechsel in eine andere Diözese miteinander verbanden. Ergänzt wird die Untersuchung der dauerhaften Wechsel von Priestern, Seminaristen und Lai*innen in die Diözese Neuquén im Zeitraum der Militärdiktatur durch einige Fälle aus den Jahren vor dem Putsch 1976. Die festgestellten Verlagerungen des Lebensmittelpunkts in das Bistum zeigen, wie hoch die Ausstrahlung einer einzelnen Diözese sein konnte, sofern sie ein spezifisches Profil ausgebildet hatte, das mit dem Selbstverständnis der jeweiligen Akteur*innen korrespondierte. Im Falle der Diözese Neuquén waren es die umfangreiche pastorale Arbeit für marginalisierte Bevölkerungsgruppen und die offensive Verteidigung der Menschenrechte unter der Militärdiktatur. Dieser besonderen Profilbildung lag ein kirchliches Selbstverständnis zu Grunde, das sich in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils durch unterschiedlich 56 Vgl. Nevares 1990. 57 Zitiert nach Azconegui 2014, S. 3.
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progressive Strömungen innerhalb der Institution Kirche herausgebildet hatte. Dazu gehörte, neben den konziliaren Neuerungen, wie beispielsweise die Definition der Lai*innen als ›Volk Gottes‹ und Teil der Kirche, vor allem die Befreiungstheologie mit der ›Option für die Armen‹. Dabei handelte es sich um die weniger radikale argentinische Variante einer Theologie des Volkes. Darüber hinaus sind auch die Einflüsse der Priesterbewegung Movimiento de Sacerdotes para el tercer mundo bedeutsam, die in Neuquén relativ stark vertreten war.58 Meines Erachtens entstand daraus nicht unbedingt eine klar definierte und kohärente Identitätskonstruktion, vielmehr handelte es sich um weitgehend kompatible Versatzstücke einer Orientierung, die etwas unscharf, aber nicht unpassend, als progressiv bezeichnet wird. Zumeist waren die fragmentarischen Identitätsmarker stark genug, dass die Akteur*innen sich wechselseitig als Teil eines Kollektivs wahrnehmen und ein Gefühl von Zugehörigkeit entwickeln konnten, auch wenn sie sich nicht unbedingt auf exakt dieselben theologischen Konzepte beriefen oder sie gleich interpretierten.
7.2
Der Wechsel von Lai*innen in die Diözese
In Neuquén fanden die genannten innerkirchlichen Entwicklungen starken Widerhall und äußerten sich unter anderem in den oben kurz dargelegten sozialen wie politischen Aktivitäten des Bistums. Welche Bedeutung die Diözese Neuquén innerhalb des progressiven Sektors gewann, lässt sich auch daran ablesen, dass sogar Lai*innen gezielt in diese Diözese wechselten. Es handelt sich, ebenso wie bei den Wechseln von Priestern und Seminaristen, nicht um ein Massenphänomen, ist aber durch seine Qualität von Bedeutung, da der Umzug in die weit von den urbanen Zentren des Landes entfernte und durch landschaftliche Kargheit geprägte Provinz Neuquén eine weitreichende Lebensentscheidung bedeutete. Im Falle der Lai*innen, die aus kirchenrechtlicher Perspektive zwar einer Territorialpfarrei und der Diözese am Wohnort angehören, aber ihren Wohnort unabhängig bestimmen können, ist hier ebenfalls von einem Wechsel der Diözese die Rede, da auch in diesen Fällen die Diözese ein zentraler Bezugspunkt oder ein bedeutendes Motiv für die Entscheidung zu einem dauerhaften Ortswechsel war. Mit ihrem Zuzug in die Diözese trugen die verschiedenen Akteur*innen wiederum zu einer stärkeren Profilbildung der Diözese bei, vor 58 Etwa 10 Prozent des gesamten Klerus in Argentinien gehörten der Priesterbewegung an. In Neuquén waren es 57,14 Prozent. Vgl. José Pablo Martín: Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo. Un debate argentino, Buenos Aires 1992. Einen Überblick über die unterschiedlichen Theologien der Befreiung (im Plural) liefert Kruip, Gerhard: »›Die Befreiung und die Förderung der Armen‹ (EG 187). Zum lateinamerikanischen Hintergrund von Papst Franziskus«, Kirche und Gesellschaft, H. 408 (2014), S. 1–16.
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Strukturelle Freiräume: Die Diözese als Ort der Zuflucht und des Protests
allem, indem sie sich innerhalb der kirchlichen Strukturen engagierten oder sogar an der Schaffung neuer diözesaner Organisationseinheiten beteiligt waren. Daran wird erneut deutlich, dass der Charakter einer Diözese nicht allein durch den Bischof geprägt wurde – auch wenn dieser eine strukturell machtvolle Position einnahm und große Gestaltungsspielräume hatte – sondern im Zusammenspiel mit anderen Akteur*innen wie Priestern, Seminaristen und Lai*innen. Diese trugen dazu bei, die Position des Bischofs zu stärken, sowohl im Verhältnis zu anderen Bischöfen und deren Diözesen als auch im Innenverhältnis. Denn nicht alle Akteur*innen in der Diözese, seien es Bischöfe, Priester, Ordensleute oder Lai*innen, konnten sich mit der Ausbildung eines progressiven Profils identifizieren, auch wenn durch die Konzentration auf die dominante Ausrichtung des Bistums – sei es in den Erinnerungskonstruktionen der Akteur*innen oder durch die Forschung – dieser Eindruck entstehen kann. Azconegui weist darauf hin, dass es gerade in der Hauptstadt Neuquén mit ihren bedeutenden Stützpunkten von Militär und Polizei enge soziale Kontakte zur Zivilbevölkerung gab, die zu einem positiven Image der Sicherheitskräfte führten, das im Widerspruch zur kritischen Perspektive der tonangebenden diözesanen Akteur*innen stand.59 Dementsprechend finden sich in der Diözese Neuquén – wie in anderen Diözesen sowie der argentinischen Kirche insgesamt – heterogene Positionen, jedoch lag die Mehrheit bei jenen, die eine progressive Ausrichtung favorisierten und sich für die Menschenrechte engagierten.60 Die Fälle von Lai*innen, die in die Diözese Neuquén wechselten, sind deutlich schwerer nachzuvollziehen als die Fälle von Priestern und Seminaristen, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie – anders als Priester oder Ordensleute – grundsätzlich keinerlei Absprache mit einem Bischof benötigten, um den Wohnort zu wechseln. Es war daher nicht zwingend notwendig, im Vorfeld mit dem Bischof über einen Umzug in die Diözese zu korrespondieren, so dass insgesamt weniger Schriftverkehr von Lai*innen im Hinblick auf den Wechsel zu 59 Vgl. Azconegui 2014, S. 5ff. 60 Aufgrund der Quellenlage ist es jedoch nicht möglich, diese innere Heterogenität der Diözese Neuquén hier detailliert zu untersuchen. Azconegui 2012, S. 270 weist am Rande ebenfalls auf die Heterogenität in der Diözese Neuquén hin. Während des Forschungsaufenthalts im Februar 2010 merkte der Priester Rubén Capitanio in einer informellen Unterhaltung an, dass der Bischof Jaime de Nevares Briefe, die sich kritisch oder negativ zu den Aktivitäten seiner Diözese äußerten, gleich in den Papierkorb befördert habe. Tatsächlich finden sich unter den verfügbaren Briefen nur sehr wenige Briefe derartigen Inhalts. Ein Priester der Diözese, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte im informellen Gespräch, er habe sich, während Jaime de Nevares Bischof war, gewissermaßen in der Opposition befunden, wollte darüber aber nicht in einem Interview sprechen. Diese schlaglichtartigen Hinweise sollen hier nur angeführt werden, um deutlich zu machen, wie sowohl Überlieferungssituation als auch Machtkonstellationen innerhalb der Diözese dazu beigetragen haben, ein stark homogenes Bild von der Diözese zu zeichnen, mit dem die existierenden Differenzen weitgehend verdeckt wurden.
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erwarten ist. Hinzu kommt, dass die religiös-institutionelle Zugehörigkeit für Lai*innen ein Motiv für den Umzug war, das sich mit anderen Motiven verbinden konnte. Insbesondere werden in den Briefen ökonomische Gründe erwähnt, die einen Wechsel nach Neuquén thematisieren. Aber auch bei starken ökonomischen oder beruflichen Motiven war die Beziehung zur Diözese nicht irrelevant, da sich die jeweiligen Akteur*innen mit ihrem Wunsch nach einem Ortswechsel und der Suche nach Unterstützung – oft über Mittelsleute – an den Bischof wandten.61 Unter den Briefen an den Bischof von Lai*innen, die über ihre schwierige ökonomische oder berufliche Lage berichteten und einen Umzug nach Neuquén erwogen, ist nur selten ein direkter Bezug zur politischen Situation erkennbar, wie beispielsweise im Fall von José Luis Jara. Seine ökonomischen Probleme hingen unmittelbar mit den Maßnahmen der Militärregierung zusammen, da er als ›entbehrlich‹ (prescindible) aus dem Dienst bei der argentinischen Eisenbahn entlassen worden war. Unter dem Vorwand der ›Entbehrlichkeit‹ (prescindibilidad) entließ die öffentliche Verwaltung ohne Grund große Gruppen von Bediensteten und verstieß damit gegen die argentinische Verfassung, die eine Kontinuität der Beschäftigung im öffentlichen Dienst garantierte. Die Entlassungen richteten sich gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle.62 Jaras Wunsch, mit seiner Familie nach Neuquén zu ziehen, wurde von einem befreundeten Palottiner in einem Brief an Nevares vorgebracht.63 Dieser schrieb, er wolle sich zunächst bei Nevares dafür bedanken, dass man sich an ihn mit dem größten Vertrauen wenden könne. Er bat Nevares darum, den Kontakt zu einer christlichen Familie in Neuquén herzustellen, die Jara und seiner Frau bei einem Neuanfang dort helfen könne, und fügt an, dass er sie der christlichen Gemeinschaft in Neuquén anvertrauen möchte. Auch in diesem Kontext spielte die Vorstellung, derselben Gemeinschaft anzugehören, eine wichtige Rolle. Auch wenn hier keine klare Abgrenzung von anderen religiösen und institutionellen Praktiken erfolgte, so ist doch bereits an der Art und Weise, wie der Autor des Briefs an Nevares herantrat, zu erkennen, dass eine solche Bitte keineswegs selbstverständlich an jeden Bischof hätte gerichtet werden können. Im Konvolut der Briefe an Nevares finden sich zudem Schriftstücke, in denen es um den Zuzug von Lai*innen geht, ohne dass Motive benannt wurden oder gar von politischen Gründen die Rede war. Es handelte sich dabei, ähnlich wie bei dem zuletzt dargestellten Brief, um Referenzschreiben, die von einer mit Nevares bekannten Person für die Hilfesuchenden ausgestellt wurden. In der Regel wurden die Personen kurz vorgestellt und es wurde angekündigt, diese würden 61 BAN, Briefe, Ramón Sánchez an Jaime de Nevares, 20. März 1978. 62 Vgl. Etchichury, Horacio Javier: »Prescindibilidad y estabilidad del empleo público ante la Corte Suprema de Justicia de la Nación (1976–1983): Derechos sociales bajo la dictadura«, Pilquén – Sección Ciencias Sociales, Jg. 19, H. 3 (2016), S. 20–32. 63 BAN, Briefe, Padre Efraín Sueldo Luque an Jaime de Nevares, 17. Februar 1977.
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ihr Anliegen dem Bischof persönlich mitteilen. Teilweise geht aus den Schreiben hervor, dass die betreffenden Personen diese Briefe sogar persönlich an den Bischof überbrachten.64 Vor dem Hintergrund der starken Überwachungen und der Repression liegt es nahe, dass es die beteiligten Akteur*innen nicht für ratsam hielten, ihre Anliegen und Motive schriftlich niederzulegen. Immer wieder finden sich Stellen, die zeigen, dass es die Briefschreiber*innen für gefährlich hielten, den Postweg zu benutzen oder sich zu deutlich zu äußern. Eine solche Vermeidung geschah entweder ganz explizit, wenn darum gebeten wurde, die Antwort nur über dieselben Bekannten weiterzuleiten, die auch den Brief überbrachten, oder indirekt, wenn gesagt wurde, das Anliegen werde mündlich vorgebracht.65 Bereits vor dem Putsch am 24. März 1976 kamen derartige Briefe aus Chile beim Bischof Nevares an, da nach dem chilenischen Militärputsch am 11. September 1973 etliche chilenische Lai*innen nach Neuquén ins Exil gegangen waren, teilweise mit Unterstützung von kirchlichen Würdenträgern, wie dem Bischof von Temuco, Bernardino Piñera.66 Auch aus Argentinien kamen bereits vor dem Militärputsch am 24. März 1976 Menschen in die Diözese Neuquén, weil sie sich an ihrem Heimatort bedroht fühlten. So wollte der Autor eines Briefs an Nevares von Buenos Aires nach Neuquén ziehen, weil einer seiner Freunde ermordet und sein Cousin verhaftet worden waren, so dass er sich selbst auch in Gefahr sah.67 Andere Briefe drücken Dank für Nevares’ Hilfe beim Wechsel in die Provinz aus und liefern Indizien dafür, dass diese Wechsel nicht aus freien Stücken erfolgten. So schrieb eine Frau im Namen ihrer Familie, dass sie Nevares als »schützenden Vater«68 empfand, der ihnen bei ihrem Weggang aus der Stadt beistand. Sie zeigte ihren Dank und ihre Verbundenheit, indem sie Nevares schrieb, er habe ein »christliches Herz, das weder locker lässt noch Ungerech64 Die Autorin kündigt an, dass die Überbringerin des Briefs ihm ihr Anliegen erläutern wird. BAN, Derechos humanos 3, Carruly Juvenal an Jaime de Nevares, 29. März [1977 oder 1978]. 65 So beispielsweise in diesem Fall: »[…] me permito presentarle al portador de ésta, al Sr. Omar Bassa, quién le expondría sus inquietudes. Se trata de un joven matrimonio chileno muy apreciado por nosotros y merecedores de cualquier ayuda.« (»[…] ich erlaube mir, Ihnen den Überbringer dieses Briefs, Herrn Omar Bassa, vorzustellen, der Ihnen seine Besorgnisse und Anliegen darlegen wird. Es handelt sich um ein von uns sehr geschätztes junges chilenisches Ehepaar, das jegliche Hilfe verdient.«), BAN, Briefe, Lola Kouslar [Nachname undeutlich] an Jaime de Nevares 11. April 1977. Oder: »Te envío estas líneas con estos amigos que son de suma confianza, y si contestas te pido que lo hagas por medio de ellos mismos porque aquí las cosas están bastante feas […].«(»Ich schicke dir diese Zeilen mit diesen Freunden, die mein vollstes Vertrauen genießen, und wenn du antwortest, bitte ich dich, dass du es durch eben diese Freunde tust, denn hier sind die Dinge ziemlich hässlich […].«), BAN, Briefe, Jorge Agosti an Jaime de Nevares, 9. August 1976. 66 BAN, Briefe, Bernardino Piñera an Jaime de Nevares, 21. März 1975. 67 BAN, Briefe, Luis Fernando [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 12. April 1975. 68 BAN, Briefe, Dorita [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 5. September 1977.
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tigkeiten zulässt«,69 und kündigte einen baldigen Besuch bei ihm an. Die näheren Umstände des Weggangs aus der Stadt sind nicht überliefert. Jedoch weist der Bezug auf die Erfahrung von Ungerechtigkeit, die Tatsache, dass die Autorin nicht glaubte, an dem Ort zu bleiben, an den sie auf ihrem Weg gelangt ist, und dass weder sie noch ihr Mann Arbeit finden können, darauf hin, dass ihr Umzug politische Hintergründe hatte. Auch der Fall eines Paares, das in die Provinz ging und dort an einer kleinen Landschule tätig wurde, könnte politische Hintergründe haben, da es sich bei dem neuen Wohnort um einen abgelegenen Teil der Provinz handelte und das Paar, wie den Ausführungen zu entnehmen ist, dort nicht zielgerichtet ankam, sondern eher zufällig, nach einer längeren, ungewissen Reise.70 Von ihnen selbst wurde ihre Ansiedlung an diesem Ort in ein Narrativ göttlicher Vorsehung eingeschrieben: »Unser Herr wollte, dass wir ihn in diesem Dörfchen in Neuquén kennenlernen und dass er uns in einem schwierigen Moment Stärke, Beruhigung und Hilfe gab; was uns zu sagen bleibt, ist danke für die geleistete Hilfe, danke dafür, sich uns in einer so herzlichen Weise angeboten zu haben, wir denken immer daran, dass wir hier sind dank Ihnen.«71
Durch die Verknüpfung der Hilfe des Bischofs Nevares mit der Vorstellung, es handelte sich um göttliche Vorsehung, wurde implizit auch hier die Vorstellung von einer Kirche transportiert, die in der Not hilft. In einigen Fällen ist nur ein punktueller Hinweis auf einen Wechsel in die Diözese überliefert. So fragte beispielsweise ein Freund bei Nevares per Telegramm an, wann genau er sich in der Diözese befinden werde, da er ihm Freunde schicken wolle, die an einer »Adoption«72 interessiert seien. Dies ist eine – relativ offensichtliche – Chiffre für Menschen, die Hilfe und Zuflucht in der Diözese Neuquén suchten. Leider ist über das Telegramm hinaus nichts zu dem Fall überliefert. Die Art und Weise, auch hier den Kontakt zum Bischof über Mittelsleute herzustellen, weist auf die Bedeutung von persönlichen Kontakten und Netzwerken hin, die gerade unter den Bedingungen der Repression wesentlich dafür waren, das für eine möglicherweise riskante Hilfe notwendige Vertrauensverhältnis zu schaffen. Dazu wurden auch gezielt Informationen eingeholt, insbesondere im Falle von Ordensleuten und Priestern. Dies ist innerhalb der Kirche bei Personalfragen nicht unüblich, wurde aber auch informell praktiziert. So schrieb der Priester Rubén Capitanio an den Bischof Jaime de Nevares, dass Ordensschwestern von der Kongregation Hijas de la Cruz mit der Umsetzung des Konzils im Orden unzufrieden waren und nach einer neuen Wirkungsstätte 69 70 71 72
BAN, Briefe, Dorita [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 5. September 1977. BAN, Briefe, Jorge [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 6. Mai 1980. Ebd. BAN, Briefe, José [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 20. Dezember [1977].
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suchten. Er selbst kenne die betreffenden Ordensfrauen jedoch nicht, nur einige Schwestern aus ihrem Orden in La Plata, und er wisse nicht, ob sie bedroht seien. Er werde versuchen, etwas über sie in Erfahrung zu bringen, und dann dem Bischof berichten.73 Ein anderer Akteur, mutmaßlich ein Priester oder für die Kirche arbeitender Laie, berichtete in einem Brief an den Bischof Nevares, dass er von dem Bischof Raspanti eine »negative Antwort«74 erhalten habe, da dieser Berichte über ihn eingeholt habe, die nicht zu seinen Gunsten ausgefallen seien. In dem Brief wird nicht benannt, welche Anfrage der Verfasser an den Bischof gestellt hatte, es macht aber den Eindruck, dass es sich um einen Diözesenwechsel handelte, da er als nächstes ein Gespräch mit dem Bischof Novak führte. Dieser habe ihn freundlich empfangen und ihn beim Genuss des traditionellen Mate-Tees, der gemeinsam aus einem Gefäß mit demselben Trinkrohr getrunken wird, etwa 20 Minuten angehört und eingeladen, das Gespräch in der folgenden Woche fortzusetzen. Der Absender des Briefs scheint nicht viel Hoffnung auf eine positive Antwort gehabt zu haben, zeigte sich aber zufrieden darüber, dass Novak ihn angehört und keine Ausflüchte vorgebracht hatte.75 Die Tatsache, dass er aufgrund dieses Umstands dem geschilderten Gespräch etwas Positives abzugewinnen vermochte, macht deutlich, wie schwer sich die Suche nach einer neuen Diözese gestalten konnte und wie wenig selbstverständlich eine offene Haltung oder gar eine Aufnahme in eine Wahldiözese waren. Verschiedentlich wird in den Briefen bezüglich eines Umzugs in die Diözese eine Identifikation mit der Ortskirche Neuquén ausgedrückt, die im Kontrast zu den Bedingungen am Heimatort und den dortigen Möglichkeiten steht, die eigenen Vorstellungen von Kirche und Christentum zu leben. So heißt es in einem Brief an Nevares über einen Freund, der im Februar 1977 an der agrotechnischen Schule des Salesianerordens in Ferrer (Buenos Aires) arbeitete und nach Neuquén gehen wollte: »So Gott will, mögen all seine Wünsche in Ihrer Diözese zu dienen wahr werden und dass er für die Kirche lebt, die das Königreich verkündet, was in dieser Schule nicht gegeben ist, prima facie et postera facie.«76
Er habe ihm außerdem gesagt, dass er »sich wünsche, für einen Bischof zu arbeiten, der mit dem Volk lebt«.77 Mit diesen Worten werden Versatzstücke eines Selbst- und Kirchenverständnisses artikuliert, das die Akteur*innen als 73 74 75 76
BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 20. September 1977. BAN, Briefe, Juan José Lucara an Jaime de Nevares, 26. Dezember 1976. Ebd. BAN, Briefe, [Name unleserlich] an Jaime de Nevares, 9. Februar 1977, »Dios quiera que todos todos sus deseo de servir en su diócesis se vayan concretando y viva para la Iglesia que anuncie el Reino, lo que no se da en esta Escuela, prima facie et postera facie.«. 77 BAN, [Name unleserlich] an Jaime de Nevares, 24. Januar 1977.
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geteilt empfanden und das somit die Grundlage der Verlagerung von Zugehörigkeit in die Diözese Neuquén bildete. Auch Liliana Rubilar und Jorge Muñoz entwickelten ein so starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Diözese Neuquén, dass sie im August 1979 nach Neuquén übersiedelten. Beide stammten aus Chile und waren nach dem Putsch des chilenischen Militärs unter General Augusto Pinochet nach Argentinien geflohen, wo sie zunächst in Buenos Aires lebten.78 Zunächst ging Jorge Muñoz allein nach Argentinien ins Exil, da aber das Migrationsregime keine Möglichkeit vorsah, den Status als politischer Flüchtling zu erlangen, lebte er als Einwanderer ohne besonderen Status in Argentinien, ebenso wie seine Frau Liliana, die ihm einige Monate später folgte. Mit der Geburt ihres ersten Kindes in Buenos Aires eröffnete sich ihnen die Möglichkeit, einen dauerhaften Aufenthaltstitel zu bekommen.
78 Ihr Fall kann anhand der Quellen aus dem Bistum Neuquén nur sehr rudimentär nachvollzogen werden, weshalb hier ausnahmsweise auf ein halb-strukturiertes biographisches Interview mit Jorge Muñoz zurückgegriffen wird (Privatarchiv B.R.). Da es in diesem Kontext vor allem um die subjektiv bedeutsamen Motive und Gefühle der Zugehörigkeit geht, scheint es mir sinnvoll zu sein, das Interview als Quelle heranzuziehen. Ohne seine biographische Erzählung über den von ihm zurückgelegten Weg von Chile über Buenos Aires nach Neuquén ließen sich weder die für ihn subjektiv relevanten Motive oder die emotionale Bindung an die Diözese Neuquén erfassen noch der Prozess des Wechsels nachvollziehen, denn die einzige schriftliche Quelle erwähnt nur, dass Muñoz und seine Frau zu einer Gruppe gehörten, die nach Neuquén kommen wollte. BAN, Briefe, Francisco de P. Oliva SJ an Jaime de Nevares, 20. März 1978). Ungeachtet dessen bleibt das biographische Interview generell eine in besonderem Maße problematische Quelle, da die Rekonstruktion Jahrzehnte nach den eigentlichen Ereignissen erfolgt ist und notwendigerweise von späteren individuellen Erfahrungen und kollektiven Erinnerungsdiskursen überformt wurde. Zudem fand in diesem Fall die mündliche Erinnerungskonstruktion in Interaktion mit der Interviewerin [B.R.] statt und folgt möglicherweise eigenen Zielen und Logiken, insbesondere scheint der Wunsch stark zu sein, ein kohärentes und positives Narrativ sowohl über die eigene Biographie als auch die Bedeutung der Diözese Neuquén, als deren Teil der Interviewte sich fühlt, zu produzieren. So scheint es mir nicht vollständig plausibel oder wahrscheinlich, den Wechsel in die Diözese im August 1979 als ›Flucht‹ in ein ›internes Exil‹ zu deuten. Zum einen aus den bereits diskutierten problematischen Annahmen bezüglich eines inneren Exils sowie der relativen langen Vorbereitungszeit, die nicht für eine Flucht spricht, und zum anderen vor dem Hintergrund des Wandels der Repressionspraxis im Verlauf der Diktatur, da nach den besonders gewaltsamen Verfolgungen der ersten Jahre die Menschenrechtsverletzungen abnahmen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass es 1979 durchaus noch Repression gab, so dass eine Bedrohung auch im Jahr 1979 nicht ausgeschlossen ist, aber es scheint mir doch bemerkenswert, dass die subjektiv empfundene Bedrohung nicht bereits vorher zu einem Ortswechsel geführt hatte. Insofern sehe ich diese spezifische Erinnerungskonstruktion mit einer gewissen Skepsis. Sie gibt, wie bereits erwähnt, meines Erachtens jedoch Auskunft über die Identifizierung mit der Diözese. Das Interview zeigt zudem die Dauerhaftigkeit dieser Identifikation, da die starke emotionale Bindung auch zum Zeitpunkt des Interviews (2010) immer wieder artikuliert wurde. Zum grundsätzlichen Problem der Unzuverlässigkeit der Oral History generell siehe Portelli, Alessandro, »What makes Oral History different«, in: Perks, Robert/Alistair Thomson (Hg.), The Oral History Reader, London 1998, S. 32–42.
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Beide waren in Chile in kirchlichen Gruppen auf Gemeindeebene aktiv und suchten auch in Argentinien wieder Anschluss an eine katholische Gruppe, die ihren Glaubensvorstellungen entsprach. Die Gemeinde am Ort war eine Kirche des Militärklerus, weshalb sie sich nach einem ersten Besuch fernhielten. Nach längerem Suchen fand das Paar eine Gemeinde, in der sich eine Gruppe junger Menschen zusammengeschlossen hatte, um im Armenviertel zu arbeiten.79 Nach dem Putsch 1976 wurden Mitglieder dieser Gruppe beobachtet und verfolgt, drei von ihnen wurden verschleppt und verschwanden für immer. Trotz der schwierigen Bedingungen versuchte die Gruppe, sich weiterhin samstäglich zu treffen und tarnte ihre Zusammenkünfte mit dem Priester Mario Leonfanti, bei denen die aktuelle politische Lage anhand der Lektüre des Evangeliums analysiert und kommentiert wurde, als Geburtstagsfeiern, Picknicks oder Fußballspiele. Da die Gruppe in Buenos Aires nicht die Möglichkeit sah, sich ihrem Glaubens- und Kirchenverständnis gemäß zu entfalten, gab es Pläne, in die Diözese La Rioja umzusiedeln, die sich aber zerschlugen, als am 18. Juli 1976 der Priester Carlos de Dios Murias OFM ermordet wurde, der ihre Gruppe gegründet und mit ihnen den Wechsel vorbereitet hatte, und dann am 4. August 1976 ebenso der Bischof der Diözese, Enrique Angelelli. Da der Priester Mario Leonfanti Bischof Nevares kannte, schlug er die Diözese Neuquén als Alternative vor und stellte den ersten Kontakt her. Der Umzug der Gruppe, zu der sechs Erwachsene und mehrere Kinder gehörten, wurde längere Zeit vorbereitet. Die Gruppe wirtschaftete gemeinsam, um Geld für den Kauf eines Grundstücks und den Bau eines Hauses in Neuquén anzusparen. Der Umzug erfolgte in Etappen, das heißt, erst kamen zwei alleinstehende Personen nach Neuquén, dann das Ehepaar Jorge und Liliana mit ihren zwei Kindern und danach das zweite Paar, ebenfalls mit Kindern. Jorge Muñoz wurde noch vor seinem Umzug nach Neuquén 1979 von Bischof Nevares zum Repräsentanten der Migrantenorganisation Pastoral de Migraciones ernannt, an deren Aufbau er und seine Frau Liliana Rubilar maßgeblich beteiligt waren. Zentrale Aufgabe der Pastoral de Migraciones war die Unterstützung chilenischer Migrant*innen, von denen viele aus politischen Gründen nach Argentinien gekommen waren, jedoch aufgrund der Gesetzeslage keinen Status als Flüchtlinge erhielten. Die Arbeit zugunsten von Exil-Chilen*innen hatte in Neuquén zu diesem Zeitpunkt bereits eine gewisse Tradition, auch wenn sie noch nicht in einer etablierten diözesanen Struktur erfolgte. Die Pastoral de Migraciones arbeitete im Fall der politischen Flüchtlinge mit dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zusammen und be79 Diese Suche nach einer affinen Gemeinde stellt ebenfalls eine Transposition dar, die jedoch primär auf Gemeindeebene erfolgte. Es wäre interessant, zu untersuchen, wie stark die Praxis des temporären Wechsels in affine Pfarrgemeinden in der katholischen Kirche verbreitet ist. Bisher gibt es dazu jedoch keine Forschung, was sicher auch damit zusammenhängt, dass diese Alltagspraxis schwer nachzuvollziehen ist.
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treute Migranten im Allgemeinen. Neben Jorge Muñoz und Liliana Rubilar arbeiteten weitere Lai*innen und einige der Priester des Bistums in der Pastoral de Migraciones. Zu den Aufgaben der Migrantenorganisation gehörten Unterstützung in sozialen und administrativen Belangen, soziale Betreuung, Schulung von Mitarbeiter*innen sowie nach der Diktatur das Engagement auf dem Gebiet der Migrationspolitik.80 Mit dem Wechsel in die Diözese Neuquén veränderten Lai*innen zum einen ihr Verhältnis zur Institution Kirche, indem sie jetzt sowohl emotional als auch formal zur Diözese Neuquén gehörten, und trugen zum anderen dazu bei, dass sich die Institution selbst wandelte, indem die Akteur*innen sich vor Ort engagierten. So wurden ihre Glaubens- und Kirchenvorstellungen Teil einer institutionellen Praxis, die den spezifischen Charakter der Diözese Neuquén konstituierte. Nicht immer konnten diejenigen, die geplant hatten, in die Diözese Neuquén zu kommen, ihre Pläne umsetzen. So lässt sich anhand einiger Briefe nachvollziehen, dass der Laie Remo Berardo, dessen Bruder 1976 verschleppt worden war und seitdem als verschwunden galt, mit Nevares darüber korrespondierte, nach Neuquén zu ziehen.81 Im Januar 1977 sprach Berardo über die Idee, nach Neuquén zu gehen, eine Idee, die er, wie dem Brief zu entnehmen ist, schon länger hegte. So schrieb er, dass sein Angebot, in der Diözese Neuquén tätig zu werden, noch immer Bestand habe, »mit demselben Enthusiasmus und demselben Glauben, um dem Volk Gottes am besten helfen zu können.«82 Aus diesen Worten spricht implizit die Annahme, dass sein Agieren vor Ort nicht seinen Glaubensund Kirchenvorstellungen entsprach, wohingegen er meinte, in der Diözese Neuquén seine Glaubensvorstellungen umfassend realisieren zu können. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefs lebte Berardo in Buenos Aires und arbeitete in der Menschenrechtsbewegung mit. Er hatte Kontakte zu anderen Angehörigen von desaparecidos sowie zur Menschenrechtsgruppe MEDH und sagte als Zeuge bei der Untersuchung von Amnesty International 1976 aus. In seinem Brief vom 7. März 1977 schrieb er erneut über die Umzugspläne nach Neuquén, benannte sie aber nicht mehr konkret. Er bat Nevares um ein Treffen im Rahmen seiner nächsten Reise nach Buenos Aires, um »über die Möglichkeiten der Realisierung des Projekts zu sprechen, das Sie bereits kennen.«83 Die Tatsache, dass Berardos
80 Vgl. Muñoz Villagrán 2012; Nicoletti 2002. 81 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Remo Berardo an Jaime de Nevares, 7. November 1976. 82 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Remo Berardo an Jaime de Nevares, Januar 1977, »En cuanto a mi ofrecimiento a una vida pastoral en su Diócesis se mantiene en pié con el mismo entusiasmo y fe para mayor ayuda al Pueblo de Dios.«. 83 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Remo Berardo an Jaime de Nevares, 7. März 1977.
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Bruder zu den desaparecidos zählte, umschrieb er mit »el problema de Amado«84. Seine vorsichtige Art und Weise, sich zu äußern, macht die Angst Berardos deutlich. Sie war definitiv begründet, denn es handelt sich um seinen letzten Brief an den Bischof. Ein Telegramm informierte Nevares schließlich über das gewaltsame Verschwinden von Remo Berardo am 8. Dezember 1977.85 Er wurde bei derselben Militäroperation verschleppt, wie die acht Mitglieder der Gründungsgruppe der Madres de Plaza de Mayo aus der Kirche Santa Cruz in Buenos Aires, die ebenfalls am 8. Dezember 1977 verschwanden.86
7.3
Der Wechsel von Priestern in die Diözese
Besser nachvollziehbar als der Wechsel von Laien sind, anhand von Korrespondenzen, einige Fälle von Priestern, die in die Diözese kamen, obwohl eine Einsicht der Personalakten des Bistums nicht möglich war. Der Wechsel von Priestern oder Ordensleuten in die Diözese Neuquén lässt sich schon für die Zeit vor dem Putsch 1976 feststellen. Da die Diözese erst 1961 gegründet worden war, stehen vor allem die frühen Neuzugänge im Kontext des institutionellen Aufbaus der Diözese.87 Etliche der ersten Priester stammten aus dem Ausland, vor allem aus Italien oder Spanien. Nachdem sich das spezifische Profil der Diözese in den 1960er-Jahren herausgebildet hatte und überregional bekannt war, kann davon ausgegangen werden, dass ein gezielter Wechsel in die Diözese in der Regel im Zusammenhang mit der progressiven postkonziliaren Ausrichtung des Bistums stand. So kam beispielsweise Juan Franciso Flynn 1975 nach Neuquén und wurde dort von Jaime de Nevares am 27. März 1976 zum Priester geweiht, nachdem er zuvor dem Orden der Salesianer angehört hatte. Obwohl die Hintergründe nicht überliefert sind, lässt sich anhand eines Briefs von Flynn selbst eine starke emotionale Bindung an seine neue Wahldiözese erkennen.88 Nachdem er die Nachricht erhalten hatte, nach Neuquén gehen zu können, schrieb er – offensichtlich auch im Namen einer oder mehrerer anderer Personen –: »[…] mit 84 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Remo Berardo an Jaime de Nevares, 7. März 1977. 85 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Telegramm von Luicia [sic] Berardo an Jaime de Nevares, 10. Dezember 1977. 86 Vgl. Viñoles, Diana: »Itinerario existencial de Alice Domon (Francia 1937-Argentina 1977) junto a otras vidas solidarias«, Criterio, H. 2355 (2009), S. 617–618. 87 Der Neuzugang von Priestern sorgt auch für ein größeres Prestige der Diözese innerhalb der Kirchenstrukturen. Mit dem gezielten Anwerben von Priestern konnte ein Bischof zudem seiner Diözese mehr Profil verleihen. 88 In einem Brief wird erwähnt, dass zwei Salesianer den Orden verlassen möchten, weil sie dort nicht so für die Armen arbeiten können, wie sie es möchten. Einer der beiden Salesianer ist mutmaßlich Flynn. BAN, Briefe, Rubén Oyarzo an Jaime de Nevares, 8. Juni 1975.
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großer Freude sehen wir den Moment kommen, in diese Gefilde zu gehen und uns in den Dienst dieser Diözese zu stellen, die wir jetzt schon als ganz die unsere empfinden.«89 Mit seinen Worten drückte er das eigene Gefühl der Zugehörigkeit zur Diözese Neuquén aus und bezog sich implizit auf die Partikularität dieser Diözese.90 Das Beispiel zeigt, dass das Gefühl von Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle im Prozess des Diözesenwechsels spielte und dem Akt des institutionell-formalisierten Übertritts (kirchenrechtlich: Umkardination) von einem Inkardinationsverband wie einer Diözese oder einem Orden in einen anderen vorgängig sein konnte beziehungsweise im Prozess des Wechsels ausgebildet wurde.91 Dies lässt sich auch für andere Fälle beobachten. Besonders gut nachvollziehbar ist dieser Prozess der Ausbildung eines Zugehörigkeitsgefühls im Fall von Rubén Capitanio aus La Plata, da dieser einen ausführlichen Briefwechsel mit dem Bischof unterhielt, auch nachdem er bereits in der Diözese Neuquén tätig war.92 Der Kontakt zu Bischof Nevares bestand bereits, als Capitanio Seminarist in der Erzdiözese La Plata war, und kam über einen Insassen aus dem Gefängnis Olmos zu Stande, der sich an Nevares gewandt hatte und den Capitanio vor Ort betreute. Aus den Briefen Capitanios geht hervor, dass er Nevares zum Paten seiner Priesterweihe wählte, die am 5. Juli 1975 vom Erzbischof Plaza in der Kathedrale von La Plata vollzogen wurde. Damit war Capitanio als Priester in der Erzdiözese La Plata inkardiniert, das heißt, er gehörte gemäß dem Kirchenrecht der katholischen Kirche dem Klerus dieser Diözese an. Jeder Kleriker muss in einem Inkardinationsverband eingegliedert sein, entweder einem Orden oder einer Diözese. Ein Verlassen des Heimatverbands muss gut begründet werden, da er, wie der Kirchenrechtler Mörsdorf formuliert, »die Ordnung durchbricht.«93 Gemäß den normativen Ordnungsvorstellungen der katholischen Kirche sollen
89 BAN, Briefe, Juan Francisco Flynn an Jaime de Nevares, 8. August 1975, »Con mucha alegría ya vemos llegar el momento de ir para aquellos pagos y ponemos al servicio de esa diócesis que sentimos ya muy nuestra.«. 90 Der Verweis ist eher schwach, aber dennoch bedeutsam, wenn man bedenkt, dass er auch vom Dienst in der Kirche beziehungsweise für die Kirche im Allgemeinen hätte sprechen können. 91 Für wertvolle Hinweise bezüglich kirchenrechtlicher Fragen in diesem Zusammenhang bin ich Ulrich Rhode SJ zu großem Dank verpflichtet. 92 Ein weiterer Seminarist, der aus La Plata nach Neuquén kam, war José Maria D’Orfeo. Er wurde 1980 in Neuquén zum Priester geweiht. Río Negro, 3. April 1980, Actos religiosos en la zona. 93 »Die Ausgliederung aus dem Heimatverband darf, weil sie die Ordnung durchbricht, nur beim Vorliegen gerechter Gründe bewilligt werden (c. 116).«, Mörsdorf, Klaus (Hg.): Lehrbuch des Kirchenrechts aufgrund des Codex Iuris Canonici, München 1964. Dies Lehrbuch wurde herangezogen, da es noch den Stand des CIC 1917 kommentiert. Erst mit dem CIC 1983 wurden die postkonziliaren Neuerungen im kanonischen Recht kodifiziert.
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Priester immer in einem Inkardinationsverband inkardiniert sein.94 Die Modalitäten des Verlassens eines Inkardinationsverbands, auch als ›geistlicher Heimatverband‹ bezeichnet, hingen von vielen Faktoren ab: dem Status des Priesters (bezogen auf seine Weihegrade), der Art des exkardinierenden Verbands (Diözese oder Orden), dem Grund des Verlassens (freiwillig oder verordnet), dem angestrebten neuen kirchenrechtlichen Status nach der Exkardination (Priester oder Laie) und – sofern der Priester nicht in den Laienstand versetzt wurde – der Art des aufnehmenden Inkardinationsverbands (Orden oder Diözese). Bereits diese stark vereinfachte, schematische Darstellung macht deutlich, wie komplex sich ein kirchenrechtlich korrekt vollzogener Übertritt von einer Diözese in die andere gestalten konnte. Für die hier untersuchten Fälle ist meines Erachtens vor allem bedeutsam, dass es notwendig war, den Wechsel sowohl mit dem entlassenden Bischof oder Provinzial als auch mit dem aufnehmenden Bischof abzustimmen. Bedeutender als die nach Jahren erfolgte Inkardination in die Diözese Neuquén, durch die Capitanio dann auch kirchenrechtlich vollumfänglich zur Diözese gehörte, waren das bereits lange zuvor stark ausgeprägte Gefühl der Zugehörigkeit und die Verlagerung seines Priesterdienstes in die Diözese Neuquén.95 Schon zum Zeitpunkt seiner Priesterweihe hatte Capitanio eine starke affektive Bindung zu Bischof Jaime de Nevares entwickelt und bestimmte ihn zu seinem Weihepaten. Bezüglich seiner Herkunfts-Erzdiözese La Plata und dem Erzbischof Plaza äußerte Capitanio jedoch keine auch nur annähernd so starken positiven Emotionen wie in Bezug auf Bischof Nevares und dessen Diözese Neuquén. So schrieb er letzterem zur Begründung der Wahl seiner Weihpaten: »Monseñor Jaime F. De Nevares: Der mir die wahre Kirche Christi zeigte; er zeigte mir die wahre Dimension des Evangeliums und des Priestertums. Er lehrte mich, die Kirche zu lieben. Er war Licht für mich in einem Moment der Dunkelheit. […] Danke!
94 Allerdings diskutierten Kirchenrechtler in Bezug auf den im fraglichen Zeitraum gültigen CIC 1917 darüber, wie die Modalitäten von Wechseln gültig zu gestalten seien und ob es nicht in einigen Fällen dazu kommen könnte, dass Priester nicht inkardiniert werden konnten. Vgl. Mörsdorf 1964. 95 Diese war durch eine Absprache zwischen dem Erzbischof Plaza und dem Bischof Nevares kirchenrechtlich abgesichert. Am 2. Januar 1979 kam ein Brief von Plaza, in dem er das Exeat bis zum 31. Dezember 1979 gibt, d. h. zu diesem Zeitpunkt war Rubén Capitanio noch Priester der Erzdiözese von Neuquén; Nevares bat Aramburu in seiner Funktion als Erzbischof von Buenos Aires darum, dass Rubén Capitanio im Jurisdiktionsbereich der Erzdiözese Buenos Aires residieren und als Priester tätig sein durfte, um seine Arbeit als Leiter der Ausbildungsstätte der Diözese Neuquén dort ausüben zu können. BAN, Briefe, Erzbischof Plaza an Jaime de Nevares, 2. Januar 1979; BAN, Briefe, Jaime de Nevares an Kardinal Aramburu, 22. März 1979.
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Monseñor, Danke, für mich das Ebenbild, die Stimme, die Gegenwart Christi im Erscheinungsbild der Kirche gewesen zu sein.«96
Bereits hier zeigt sich die qualitative Veränderung in der Beziehung zur gesamten Institution Kirche, die mit der Hinwendung zu einer als affin empfundenen Diözese einhergeht und wesentliches Element einer Transposition ist, wenn Capitanio davon spricht, Nevares habe ihn gelehrt, die Kirche zu lieben. Das Gefühl von Verbundenheit mit der Person des Bischofs und dem, was er als solcher verkörpert, nicht zuletzt seine Diözese, wurden auf die gesamte Institution Kirche übertragen. In diesem Beispiel und ähnlichen Fällen ging die qualitative Veränderung zur Gesamtinstitution mit der Vorstellung einher, die Teilkirche der Wahl stelle die ›wahre, authentische‹ Kirche dar. So auch bei Capitanio, wenn er schrieb, dass Nevares für ihn die »Gegenwart Christi«97 in der Kirche verkörpere und ihm die wahre Dimension des Evangeliums und des Priestertums gezeigt habe. Die Teilkirche mit ihrem spezifischen Profil wird somit normativ überhöht und als Idealbild auf die gesamte Institution projiziert, wobei teilweise die bestehenden Konflikte und Widersprüche zur vorherrschenden Praxis der Institution ausgeblendet werden. Eine Transposition ermöglicht es letztlich, dass die jeweiligen Akteur*innen nicht nur eine Zugehörigkeit zu ihrem Wahlbistum empfanden, sondern auch ihre Zugehörigkeit zur Institution Kirche insgesamt positiv besetzt und reaffirmiert wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass existierende Konflikte von den Akteur*innen vollständig ignoriert wurden. Sie konnten im Gegenteil diese Konflikte, je nach Fall, mehr oder weniger klar benennen, ebenso wie die Tatsache, dass durch diese Konflikte das Gefühl der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche angegriffen und in Frage gestellt wurde. Noch vor der Weihe begann Capitanio Nevares zu duzen, was abermals die große Nähe zwischen ihm und dem Bischof Nevares zeigt.98 Zu diesem Zeitpunkt äußerte Capitanio sein Zugehörigkeitsgefühl zur Diözese Neuquén jedoch noch 96 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares 23. Mai 1975, »Mons. Jaime F. de Nevares: quien me mostró la verdadera Iglesia de Cristo; me mostró la verdadera dimensión del evangelio y del sacerdocio. Me enseñó a amar la Iglesia. Fue luz en un momento de oscuridad para mi.« […] »Gracias! Monseñor, gracias por haber sido para mi, la imagen, la voz, la presencia de Xto en la imagen de la Iglesia.«. 97 Ebd. 98 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 6. Juli 1975, »Mi querido hermano y obispo! Hoy recibí tu carta. Gracias, sinceramente, gracias! Para mi ordenación he resuelto hacerme un regalo: tratar a mi amigo y hermano obispo, fraternalmente como trato a mis hermanos, a mis grandes amigos, por esto lo de tu carta.« (»Mein lieber Bruder und Bischof! Heute erhielt ich deinen Brief. Danke, aufrichtig, danke! Zu meiner Ordination habe ich beschlossen, mir ein Geschenk zu machen: meinen Freund und Bruder Bischof brüderlich anzusprechen, so wie ich meine Brüder anspreche, meine großen Freunde, deswegen das dein Brief.«).
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nicht explizit und sprach beispielsweise im März 1976 gegenüber Nevares von »deiner Kirche von Neuquén«.99 Ein Jahr später, nachdem Capitanio aufgrund von Konflikten vor Ort und Repression gegen ihn und seinen Vater – von denen noch die Rede sein wird – La Plata verlassen hatte und nach Neuquén gegangen war, wurde Neuquén sowohl emotional als auch institutionell-formal zu seiner Diözese. Somit wurde eine dauerhafte Transposition vollzogen, mit der die bereits zuvor erkennbare emotionale Bindung an die Wahldiözese und ihren Bischof vertieft und auf institutioneller Ebene in die formale Zugehörigkeit zur Teilkirche von Neuquén überführt wurde. Nun gab Erzbischof Plaza Capitanio die offizielle Erlaubnis zur Ausübung seines Dienstes in Neuquén. Dennoch blieb Capitanio weiterhin in der Erzdiözese La Plata inkardiniert, bis er schließlich Jahre später kirchenrechtlich vollumfänglich in die Diözese Neuquén wechselte. Capitanio selbst drückte diese Veränderung mit großer Emphase in einem Brief an Nevares so aus: »Wenn ich ›unsere Diözese‹ schreibe … werde ich von Freude erfüllt!! [sic] Ich versichere dir, mit dem Herzen in der Hand, dass ich mich glücklich fühle, konkretes Mitglied der Kirche von Neuquén zu sein. Seit Jahren fühle ich mich glücklich, dein Freund und Bruder zu sein!!! [sic] Heute fühle ich mich glücklich, dein Priester und Mitarbeiter zu sein.«100
In Capitanios Fall beruhte die emotionale Identifikation mit der Diözese Neuquén nicht nur auf geteilten Vorstellungen über das Selbstverständnis und die Praxis der Kirche, sondern auch auf der Erfahrung von Solidarität angesichts von Konflikten in der Herkunftsdiözese und politischer Verfolgung. Capitanio engagierte sich bereits als Seminarist politisch und wurde durch seine Rolle im Gefängnisaufstand von Olmos bekannt, als er auf Wunsch der Gefangenen zeitweise die Leitung des Gefängnisses übernahm, woraufhin die Insassen im Gegenzug den Aufstand beendeten.101 In seinen Briefen an Nevares wird zum einen immer wieder die politische Gewalt und die zunehmende Repression staatlicher und parastaatlicher Akteur*innen thematisiert, zum anderen wird auf ein progressives Katholizismusverständnis und dessen Vertreter Bezug genommen, die sich untereinander vernetzten und sich als Teil einer Gemeinschaft sahen. Oftmals kam beides zusammen, da die spezifische kirchlich-theologische Ausrichtung dieser Akteur*innen von Militär und Sicherheitskräften als ›sub99 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 6. März 1976, »tu Iglesia neuquina«. 100 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 1. März 1977, »Al poner ›nuestra diócesis‹ … me lleno de alegría!! Te aseguro, con el corazón en la mano, que me siento feliz de ser miembro concreto de la Iglesia neuquina. Me siento feliz desde hace años de ser tu amigo y tu hermano!!! Hoy me siento feliz de ser tu presbítero y colaborador.«. 101 La Nación, 12. Juni 1973, Sublevóse toda la población penal de la cárcel de Olmos; La Nación, 13. Juni 1973, Superóse el motín en la cárcel de Olmos; La Opinión Cultural, 24. Juni 1973, Rubén Capitaneo [sic], Una cárcel sin prisioneros.
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versiv‹ eingestuft wurde, so dass sie Opfer der politischen Verfolgung wurden oder werden konnten.102 Auch Rubén Capitanio berichtet im Oktober 1975 von Drohungen gegen seine Person und einer drohenden Verhaftung seines Vaters aufgrund von laut Capitanio falschen, unhaltbaren Anschuldigungen.103 Sein Vater sollte nach seinen Erwägungen und auf Anraten eines Anwalts La Plata verlassen und nach Neuquén gehen, um sich in Sicherheit zu bringen, was er aber letztlich nicht tat. Er wurde drei Tage lang inhaftiert und kam dank anwaltlichem Beistand wieder frei. Capitanio deutete das Vorgehen gegen seinen Vater – hier formal noch im rechtsstaatlichen Rahmen – als eine auch an ihn gerichtete Drohung. Die Bedrohungslage verschärfte sich nach dem Militärputsch im März 1976 drastisch. In der Gemeinde von Rubén Capitanio waren am 5. April 1976 Adela Barraza und Gustavo Naser aus der Missionsgruppe Paimún, die Capitanio bis Ende 1975 geleitet hatte, vom Militär verhaftet worden. Beide wurden ohne Angabe von Gründen an einen zunächst unbekannten Ort verschleppt. Von den Augenzeug*innen des Geschehens wurde über die Verhöre, die noch in den jeweiligen Wohnungen der Verschleppten stattgefunden hatten, berichtet, dass auch ein weiterer Laie, Nestor Busso, vom Militär gesucht wurde. Deshalb machte dieser sich laut Capitanio noch am selben Tag mit Frau und Kindern auf den Weg ins Landesinnere Argentiniens. Das Ziel der Flucht nennt Capitanio wohlweislich nicht. Letztlich wurde Busso noch im selben Jahr gefangen genommen, gelangte aber nach der Freilassung unter anderem mit der Hilfe von Nevares nach Brasilien ins Exil, wo er Unterstützung in der Diözese Vitoria fand.104 Wie Busso Nevares nach seiner Ankunft in Vitoria schrieb, wurde er aufgrund der Klassifizierung als ›Drittweltler‹ (›tercermundista‹) verschleppt und in den Verhören über seine kirchlichen Aktivitäten und über die Bischöfe und Priester, mit denen er Kontakt hatte, befragt.105 Im gleichen Brief schrieb Capitanio, dass in La Plata und City Bell wieder sechs Tote gefunden worden waren und dass in seinem Umfeld etliche Menschen große Angst um ihn hätten. Auch er selbst bekannte, große Angst zu haben. Er wolle aber die ihm anvertrauten Gläubigen gerade in dieser Lage nicht im Stich lassen, insbesondere weil von Seiten der Erzdiözese La Plata nicht auf die Verschleppung dieser besonders engagierten Katholiken reagiert worden war. In seinem Brief sprach Capitanio davon, dass die Regierung zu den Geschehnissen schweigt. Bezogen auf die Institution Kirche ergänzte er: »Hier – ich sage es dir mit großem 102 Vgl. Morello 2013. 103 BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 4. Oktober 1975. 104 Seine Frau Olga Busso hatte sich anlässlich der Verschleppung ihres Mannes an Jaime de Nevares gewandt. BAN, Briefe, Olga Busso an Jaime de Nevares, 1. September 1976; BAN, Derechos humanos 5, Jaime de Nevares an den Bischof von Vitoria, 26. Januar 1977. 105 BAN, Briefe, Néstor Busso an Jaime de Nevares, 2. Dezember 1976.
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Schmerz – schweigt auch die Kirche und engagiert sich nicht einmal inoffiziell.«106 Aus seiner Wortwahl spricht die klare Diskrepanz zwischen der Kirche ›hier‹ in La Plata, der er offiziell angehörte, und der Art und Weise, wie seiner Ansicht nach die kirchliche Praxis sein sollte, sowie die daraus resultierende Enttäuschung. Diese rührte auch daher, dass Erzbischof Plaza sich keine Zeit für die Mutter der vom Militär verschleppten Adela Barraza nahm, obwohl sie als Sekretärin des theologischen Instituts der Erzdiözese La Plata eine enge Bindung zur Institution Kirche hatte. Plaza ließ ihr lediglich mitteilen, er sei beschäftigt. Über die Verschleppten schrieb Capitanio, dass sie keinerlei Gruppierung angehört hatten außer der Missionsgruppe und ihm nur ihr »ernsthaftes Engagement ganz im Geiste des Evangeliums«107 bekannt sei.108 Über weite Strecken reflektierte und definierte Capitanio in seinem Brief an Nevares seine eigene Rolle als Priester angesichts dieser Situation, in der er die von der Repression Betroffenen und ihre Angehörigen durch die ausbleibende Unterstützung in der Diözese als besonders hilfebedürftig sah: »Traurigerweise wandern sie wie eine Herde ohne Hirten … Ich werde tun, was ich kann, die Herde ist zerstreut in Schmerz und Angst, ich kann nicht an mich denken, ich kann sie nicht verlassen. Heute muss ich mehr denn je fest zu ihnen stehen, am Fuße des Kreuzes; das Antlitz – so weit meine Widerstandsfähigkeit reicht – Christi sein, dem es ganz ähnlich erging und schlimmer. Kann ich da an mich denken? Habe ich das Recht, ›mein‹ Problem zu lösen, von der Bildfläche zu verschwinden und jene zurückzulassen, die so viel dazu beigetragen haben, aus mir einen Priester werden zu lassen, versunken in der Angst, der Einsamkeit [sic], der Verwirrung und der Verlassenheit? Ich kann es nicht, und welch ein Glück, es nicht zu können!! [sic]«109
Wie in anderen Kontexten ebenfalls beobachtet werden konnte, wurde die Repressionserfahrung in ein religiöses Narrativ eingewoben und als Martyrium in 106 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 6. April 1976, »Aquí – con gran dolor te digo – la Iglesia también calla y no se compromete ni siquiera extra-oficialmente.«. 107 Ebd., »sólo una [sic] serio compromiso bien evangélico«. 108 Interessant an dieser Präsentation der Verschleppten als ›unschuldige Opfer‹ ist, dass das Denken in den Kategorien von Schuld und Unschuld der Logik des Junta-Diskurses entspricht, die die Schuld für die Repression vermeintlich ›subversiven Elementen‹ zuschreibt. Hier scheinen religiöse Weltdeutungsmuster, die sich Kategorien wie Schuld und Unschuld bedienen, einflussreicher zu sein als säkulare Vorstellungen über unveräußerliche Menschenrechte jedes Individuums, die auch die politischen Rechte umfassen. 109 BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 6. April 1976; »Desgraciadamente andan como rebaño sin pastor… Yo haré lo que pueda, el rebaño está disperso con miedo y dolor, ni puedo pensar en mi, ni puedo abandonarlos. Hoy más que nunca debo estar junto a ellos firme, al pie de la cruz; siendo el rostro – en la medida que me da el cuero – del Cristo que también las pasó muy parecidas y peor. Podría yo pensar en mí? Tengo derecho de solucionar ›mi‹ problema, borrándome del mapa y dejando a aquellos que tanto contribuyeron para formarme sacerdote, sumidos en la angustia, la soledad, la confusión y el abandono? No puedo y que suerte no poder esto!! [sic].«.
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der Nachfolge Christi gedeutet. Die Art und Weise, wie Capitanio seine eigene Rolle darstellte, erweckt den Eindruck, dass er sich mit dem Brief an Nevares auch seiner selbst vergewissern wollte und nicht zuletzt versuchte, sich Mut zuzusprechen. Deutlich wird aus Capitanios Zeilen, dass im April 1976 eine Flucht aus La Plata zwar theoretisch denkbar war, aber im Widerspruch zu seinem Selbstund Kirchenverständnis stand. Besondere Bedeutung hatten in diesem Moment seine Bestrebungen, die Betroffenen aufzufangen, indem er sie in die religiöse Gemeinschaft und ihre Praktiken integrierte. Damit sorgte Capitanio auch für eine Integration in die Institution, denn er bat Nevares in seiner Funktion als Bischof, den Eltern der Verschleppten einen Brief zu schreiben, mit der Begründung, dass vor Ort der Hirte fehle.110 Somit ermöglichte er ihnen ebenfalls eine imaginäre Transposition ihrer kirchlichen Zugehörigkeit. Adela Barrazas Mutter antwortete Nevares auf seinen Brief, um, wie sie schrieb, ihre große Dankbarkeit, die ihrer alten Mutter sowie ihrer anderen Kinder kundzutun. Ihre überschwängliche Reaktion hing damit zusammen, dass Nevares überhaupt schrieb, denn es war keine Selbstverständlichkeit, persönliche Post von einem Bischof zu erhalten, und auch die Art und Weise, in der er sich äußerte, war zum damaligen Zeitpunkt ungewöhnlich. Obwohl Barrazas Mutter selbst keine explizite Äußerung bezüglich ihrer Zugehörigkeit machte, zeigt ihr Brief, wie bereits durch den einmaligen Kontakt mit dem Bischof Nevares eine emotionale Nähe entstanden war, die eine latente Form im Prozess der Ausbildung einer emotionalen, imaginären Zugehörigkeit darstellt. Im Fall ihrer Tochter war der Wunsch, zur Diözese Neuquén zu gehören, manifest. Diese wollte nach ihrer Freilassung nach Neuquén gehen, um dort bei Padre Mateos in der Nähe der Anden zu leben und zu arbeiten.111 Zudem brachte Capitanio als Priester und legitimer Verwalter der Heilsgüter die Betroffenen noch am Tag der Verschleppungen spät abends zu einer Hausmesse zusammen, die laut Capitanio allen sehr guttat. Diese Anmerkung und die oben zitierte Bemerkung zur Rolle der Lai*innen im Prozess der Priesterausbildung sind ein Hinweis darauf, dass die Positionierung und das Rollenverständnis des Priesters sich auch in der Interaktion mit den Lai*innen ausbildeten, jedenfalls sofern eine prinzipielle Bereitschaft des Priesters dazu vorhanden war. Zudem spielte im Falle Capitanios die Beziehung zum Bischof von Neuquén und seiner Diözese eine entscheidende Rolle. So versicherte Capitanio Nevares in einem Brief über die Verschleppungen vom 6. April 1976: »Und Du erhalte die große Umarmung dieses Bruders und Sohnes, der voll der Dankbarkeit nichts 110 Die Korrespondenz zwischen dem Bischof Nevares und Angehörigen von Repressionsopfern wird im folgenden Kapitel ausführlich behandelt. 111 BAN, Derechos humanos 4, María Adela Rocha de Barraza an Jaime de Nevares, 23. April 1976.
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weiter tut, als ein wenig das zu leben, was ihr [in Neuquén, B.R.] uns im Überfluss gezeigt habt.«112 Capitanio spricht an dieser Stelle durch die Anrede im Plural ganz klar nicht nur den Bischof, sondern auch die in der Diözese Neuquén beheimateten Akteur*innen an, was darauf verweist, dass auch die Haltungen der Priester in der Diözese wesentlich für ihr spezifisches Profil waren und ebenfalls über die Grenzen der Diözese hinaus Wirkung zeigten. Sechs Tage nach diesem Brief konnte Capitanio mehr über das Schicksal der Verschleppten berichten: Gustavo Naser wurde, so die Deutung Capitanios, mangels Beweisen und weil er nicht politisch aktiv war, freigelassen. Im Falle von Adela Barraza wurde ihre baldige Freilassung erwartet.113 Über Kontakte zur Marine hatte Barrazas Mutter in Erfahrung gebracht, dass keine Anschuldigungen gegen ihre Tochter vorlagen, sie aber zur Ermittlung von Vorbelastungen oder Vorstrafen der Exekutivgewalt (Poder Ejecutivo Nacional) unterstellt sei. Adela Barraza konnte von ihren Angehörigen im Gefängnis besucht werden und berichtete ihnen von den Verhören. Capitanio schrieb, dass während der Verhöre nach drei Priestern gefragt wurde, die, wie Capitanio sich ausdrückt, »auf der Liste«114 des Militärs standen. Einer von ihnen sei er selbst, des Weiteren fragte man die Gefangene nach dem Priester Bianchini, der während des Aufstands mit Capitanio in der Gefängnisseelsorge in Olmos tätig war, und dem Priester Segovia.115 Capitanio hatte von ihm nahestehenden Personen erfahren, dass sein Name bei mindestens drei verschiedenen Militäreinsätzen genannt worden war, und schloss daraus, dass das Militär ihn besonders im Visier hatte. Die Zeitzeug*innen hatten bei den Militäroperationen den Eindruck gewonnen, dass mit der Erwähnung von Capitanios Namen eine Drohung einherging, so als wollte man ihm mitteilen, dass es jederzeit auch ihn treffen könne. Von einer Gruppe, mit der Capitanio im Gefängnis zusammengearbeitet hatte, waren zu diesem Zeitpunkt nur er und ein weiteres Mitglied nicht verhaftet worden. In der Formulierung, er habe die Intuition, bald an der Reihe zu sein, drückte er das Empfinden einer immer größer werdenden Gefahr sehr deutlich aus. Diese entbehrte angesichts der Verschleppungen in seinem unmittelbaren Umfeld und Ereignissen wie der Verschleppung der (Ex-)Jesuiten Orlando Yorio und Francisco Jálics am 23. Mai 1976 oder der brutalen Ermordung der fünf Pallottiner am 4. Juli 1976 in Buenos Aires ganz sicher nicht der Grundlage, auch wenn es 112 BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 6. April 1976, »Y vos recibí el abrazo de este hermano e hijo que lleno de gratitud no hace más que vivir un poquito lo que ustedes nos han mostrado en abundancia.«. 113 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 12. April 1976. 114 Ebd. 115 Segovia wurde 1975 Opfer eines Bombenattentats auf sein Wohnhaus. Er schrieb Nevares, um sich für dessen Solidaritätsbekundung zu bedanken. BAN, Hugo Segovia an Jaime de Nevares, 7. Oktober 1975.
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unmöglich ist, zu bestimmen, wie stark die konkrete Gefährdung war. Ende Juli 1976 berichtete Capitanio dann an Nevares, dass von der besagten Gruppe, mit der er im Gefängnis zusammengearbeitet hatte, mittlerweile alle verhaftet worden seien, und stellte fest: »Jetzt bleibe nur noch ich.«116 Im selben Zeitraum hatten sich auch die Konflikte innerhalb der Diözese zugespitzt, so dass Capitanio sich Ende Juni 1976 an Erzbischof Plaza wandte, um einerseits seine Sicht der Dinge darzulegen und über Lösungen zu verhandeln und andererseits das Vorgehen des Erzbischofs in den fraglichen Konfliktfällen zu kritisieren. Laut Capitanios Darstellung war ihm seit der Aufnahme seines Dienstes als stellvertretender Pfarrer in der Gemeinde Maria Auxiliadora in Berisso bewusst, dass einige Priester in dieser Gegend nicht mit seiner Ernennung einverstanden waren; er berichtete von Gerüchten über einen Protestbrief an den Erzbischof. Vor allem mit den Mitgliedern von zwei konservativ orientierten Lai*innengruppen gab es Konflikte, da sie in Capitanio einen Gegner ihrer Gruppierungen sahen. Allerdings wurde der Konflikt nicht offen zwischen dem Priester Capitanio und den betreffenden Lai*innen ausgetragen, sondern Capitanio erfuhr erst durch Solidaritätsadressen an ihn, dass es eine regelrechte Kampagne gegen ihn gab. Angebote zum Gespräch nahmen die Lai*innen aus diesen Gruppen laut Capitanio nicht an. Was aus der Perspektive Capitanios besonders schwer wog, war, dass auch Priester Gerüchte und Schmähkritiken gegen ihn verbreitet hatten. Endgültig aus dem inneren Gleichgewicht brachte ihn dann, so schrieb er, ein Verbot des Erzbischofs, die Messe in der Gemeinde Victoria zu lesen, welches ihm mündlich durch den Gemeindepfarrer von Maria Auxiliadora überbracht wurde. Capitanio war in seinem Schreiben an den Erzbischof sichtlich darum bemüht, sich zu erklären und mögliche Vorwürfe im Hinblick auf sein Verhalten zu entkräften. Einer der Punkte bezog sich auf sein Verhältnis zur Missionsgruppe Paimún, aus der – wie oben geschildert – zwei Mitglieder verhaftet worden waren. Die Art und Weise seiner Darstellung legt nahe, dass er davon ausging oder er davon gehört hatte, dass man ihm eine Überschreitung seiner Kompetenzen vorwarf. Er sprach davon, dass er die Missionsgruppe lediglich besucht habe, da er bis Ende 1975 ihr Leiter gewesen war, und er sich niemals mit den dortigen Akteur*innen als Mitglied der Gruppe getroffen habe, weder um Angelegenheiten dieser Gruppe zu besprechen noch als ihr Berater fungiert habe. Inwiefern seine Kritiker darüber informiert waren, dass Capitanio dieser Gruppe und anderen Lai*innen aus der Gemeinde La Victoria beistand, weil sie Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden waren, geht aus den Quellen nicht hervor. Deutlich wird aber in jedem Fall, dass seine enge Beziehung zu diesen Menschen einigen Priestern und Lai*innen ein Dorn im Auge war. Dies hatte 116 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 24. Juni 1976, »Ahora quedo solo yo.«.
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sicher nicht allein etwas damit zu tun, dass die Laiinnen und Laien, die eine enge Beziehung zu Capitanio hatten, territorial anderen Gemeinden angehörten und er deshalb aus der Institutionslogik heraus nicht für sie zuständig war und es auch nicht sein durfte. Meines Erachtens lag ein weiterer zentraler Grund für die Konflikte im Kirchen- und Selbstverständnis des Priesters Capitanio und der daraus resultierenden Praxis, zu der unter anderem Messen mit Fürbitten für die Verschwundenen gehörten. Capitanio selbst schrieb weder gegenüber Plaza noch gegenüber Nevares etwas über die konkreten Gerüchte und Vorwürfe gegen ihn. Ein Brief eines Menschen aus Capitanios Umfeld, der Kontakt zu der Gefangenen Adela Barraza aus der Gruppe Paimún hatte, erhellt, worin die Anschuldigungen im Einzelnen bestanden. Am 5. April 1977, ein Jahr nach der Verhaftung von Adela Barraza, schrieb die betreffende Person, dass Adela noch immer in Haft sei, obwohl es im Innenministerium hieß, dass es eine baldige Lösung geben werde. Auch in La Plata ergehe es den Menschen nicht besonders gut, da in der Gemeinde La Victoria nach dem Weggang des Priesters Bengochea, der aufgrund von Konflikten in der Erzdiözese La Plata in die Diözese Viedma gegangen war, eine Gruppe von Leuten Opfer von Gerüchten und Verleumdungen geworden sei: »Man hat uns abgestempelt, wie im Fall von Rubén [Capitanio, B.R.], als DrittweltAktivisten (tercermundistas), Kommunisten etc., etc. Das bedeutet, dass wir beunruhigt sind, denn in diesen Zeiten, in diesem Land, kann eine solche Anschuldigung dem Leben einer Person oder ihrer Freiheit ein Ende bereiten.«117
Der Weggang des Priesters Bengochea wird von der Verfasserin des Briefs als Teil einer vom Erzbistum La Plata verfolgten Strategie zum Entfernen unliebsamer Priester gedeutet, zu denen Bengochea, Capitanio und der Salesianer Barbeno zählten. Auch die Verfolgung des Laien Nestor Busso wird in diesen Zusammenhang gestellt. Er hatte die Zeitschrift SEDIPLA (Servicio de Información para Latinoamérica) mitbegründet, die sich als Teil progressiver Strömungen innerhalb der katholischen Kirche verstand. Er selbst ging, wie bereits erwähnt, mit Hilfe des Bischofs Nevares ins Exil nach Brasilien.118 Sein jüngerer Bruder Bernardo Busso trat nach seinem Weggang ins Priesterseminar von Neuquén ein 117 BAN, Briefe, [Name unleserlich] an Jaime de Nevares, 5. April 1977, »Por aquí en la Plata no crea que estamos mucho mejor. A raiz de los cambios que se produjeron en la parroquia de la Victoria con la Ida de Bengochea, un núcleo de personas, en el cual me incluyo, es victima de la calumnia y de los chismes. Se nos ha puesto rótulo, al igual que en el caso de Rubén, de tercermundistas, comunistas, etc., etc. Esto significa que no tengamos tranquilidad pues en los momentos que vive el país una acusación así puede terminar con la vida de una persona o con su libertad.«. 118 Nevares stellte verschiedentlich Empfehlungsschreiben für Exilanten an Bischöfe im Ausland aus. Siehe beispielsweise BAN, Derechos humanos 8, 11. Juli 1977, Jaime de Nevares an Kardinal Paulo Evaristo Arns.
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und wurde dort Priester. Laut der Verfasserin des Briefs hatte sich das Profil der Gemeinde La Victoria nach dem Weggang von Bengochea und Capitanio radikal gewandelt, da alle bisherigen Aktivitäten eingestellt wurden, darunter die Produktion der Zeitschrift SEDIPLA. Außerdem wurden die bestehenden Gruppen aufgelöst. Die Verfasserin war der Ansicht, dass dies auf einem klaren Plan des Erzbischofs beruhen musste, denn er und die Weihbischöfe hätten von allen Vorgängen Kenntnis, und der neue Gemeindepfarrer sei ein Mann, der strikt den Anweisungen von oben Folge leiste. Sie schreibe dies alles an Jaime de Nevares, weil sie sicher gehen wolle, dass er wisse, was in der Gemeinde vorgehe, und dass im Falle einer Verhaftung oder Verschleppung ihrer Person klar sei, dass die dargestellte Verleumdungskampagne die Ursache sein werde. Auch an Bischof Hesayne habe sie in diesem Sinne berichtet. Ihre Ausführungen zeigen die Konflikte auf lokaler Ebene, die dazu führten, dass die Zugehörigkeit zur Erzdiözese La Plata in Frage gestellt wurde. Aufgrund dieser Konflikte verlagerte sich auch in diesem Fall die Zugehörigkeit: »Hier haben wir einen Erzbischof, aber keine Hirten, und Sie sind wahrhaftig mein Hirte.«119 Für den Priester Capitanio waren die Konflikte im Laufe des Jahres 1976 so belastend geworden, dass er gegenüber dem Erzbischof nicht nur davon sprach, in eine andere Gemeinde versetzt werden zu wollen, sondern auch den Wechsel in eine andere Diözese in Erwägung zog und den Erzbischof bat, einen solchen Wechsel zu autorisieren. Am 8. Juli 1976 berichtete er Nevares ausführlich über die Reaktionen des Erzbischofs Plaza. Dieser habe ihn mit immenser Freundlichkeit zum Gespräch empfangen und erklärt, er habe ihm zu keinem Zeitpunkt das Halten der Messe verboten, sondern ihn lediglich darum gebeten, sie nicht zu halten. Es sei der Überbringer der Bitte gewesen, der aus ihr ein Verbot gemacht habe. Er selbst habe Capitanio nichts vorzuwerfen, wenn Capitanio Grund für einen Tadel geben sollte, solle er unbesorgt sein, er, Plaza, werde ihn dann schon einbestellen und ihn so zurechtweisen, wie er es verdiene. Zudem habe er Capitanio immer verteidigt und werde dies auch weiterhin tun. So wie Capitanio die Reaktion des Erzbischofs schilderte, präsentierte dieser sich als außerhalb des Konflikts und grundsätzlich auf der Seite Capitanios stehend. Capitanio bezweifelte dies und schätzte Erzbischof Plaza gegenüber Nevares so ein, dass dieser sich mit allen gut stellen wolle und deshalb keine Position beziehe, so dass er auch nichts unternehmen werde, um die Angelegenheit mit den anderen beteiligten Priestern zu klären. Im Hinblick auf den konkreten Wirkungskreis Capitanios war Plaza der Ansicht, dass er sich von den am Konflikt beteiligten Lai*innen nicht vorschreiben lasse, wie er als Bischof zu handeln habe, und Capitanio deswegen zunächst noch in der Gemeinde in Be119 BAN, Briefe [Name unleserlich] an Jaime de Nevares, 5. April 1977, »Aquí tenemos arzobispo, pero no pastor y Ud es realmente mi Pastor.«.
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risso bleiben solle, bis Plaza ihn zu einem geeigneten Zeitpunkt versetzen werde. Hier wird sichtbar, wie wenig Handlungsspielraum dem Priester Capitanio blieb, denn sein Ansinnen, in eine andere Diözese zu wechseln, wurde nicht einmal erörtert, obwohl er mit genau diesem Anliegen im Vorfeld an den Erzbischof herangetreten war und ausführlich seinen Leidensdruck artikuliert hatte. Stattdessen entschied der Erzbischof, ihn zunächst nicht zu versetzen, obwohl beide übereingekommen waren, dass ein Verlassen der Gemeinde Maria Auxiliadora in Berisso eine sinnvolle Lösung des Problems hätte sein können.120 Im folgenden Brief vom 30. Juli 1976 wird anhand der existenziellen Fragen, mit denen Capitanio sich beschäftigte, greifbar, wie stark er mit seiner Verhaftung und Ermordung rechnete. Er äußerte Gedanken über das Priesterdasein, das für ihn bedeutete, sein Leben zu geben, und darüber, dass die Art und Weise, »die göttliche Bestimmung zu leben«121, eigentlich nebensächlich sei: »[…] sei es in der Zelle eines Gefängnisses, in einem Keller vegetierend, von Ort zu Ort reisend oder auf einem Bürgersteig verblutend«122. Der genaue Ablauf der unmittelbar folgenden Ereignisse ist nicht zweifelsfrei rekonstruierbar, laut Capitanio selbst warnte Plaza ihn wenig später, Anfang August 1976, höchstpersönlich telefonisch vor einer Verhaftung und sagte ihm, er solle in der fraglichen Nacht nicht in La Plata schlafen. Daraufhin versteckte er sich einige Tage bei Freunden und besuchte dann seinen Priesterfreund Bengochea in Viedma, mit dem er in La Plata zusammengearbeitet hatte. Dort schlug Capitanio nach eigenen Angaben das Angebot des Bischofs Hesayne, in der Diözese zu bleiben, aus, weil er der Ansicht war, dass Hesayne mit der Aufnahme Bengocheas genug auf sich genommen hatte, und reiste in die benachbarte Diözese Neuquén weiter.123 Folgt man der Darstellung Capitanios, hat Plaza, der als traditionalistischer Bischof gilt, ihm trotz seiner grundsätzlich entgegengesetzten Haltung in politischen wie kircheninternen Fragen geholfen.124 Es handelt sich um eine jener Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen und Strömungen innerhalb der Kirche, auf die Catoggio mit ihrer Forschung aufmerksam macht und mit der sie das weit verbreitete Narrativ einer strikt zwiegespaltenen Institution in eine ›Kirche der Kollaboration‹ und eine ›Kirche des Volkes‹ in Frage stellt. Auch wenn es solche Schutzbemühungen und Hilfen in Einzelfällen gegeben hat, so wurde von den historischen Protagonisten dennoch deutlich zwischen der ›eigenen‹ vorgestellten Gemeinschaft innerhalb der Kirche, der man sich zugehörig fühlte und die als einzig ›authentische Kirche‹ verstanden 120 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 7. Juli 1976. 121 BAN, Briefe, Rubén Capitanio an Jaime de Nevares, 30. Juli 1976. 122 Ebd., »[…] en la celda de una cárcel, pudriéndome en un sótano, viajando de un lado al otro, o desangrándome boqueando en una vereda […]«. 123 Interview mit Rubén Capitanio, 12. April 2010. 124 Vgl. Obregón 2005, S. 40f.
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wurde, und denjenigen, die nicht Teil dieser vorgestellten Zugehörigkeitsgemeinschaft waren, unterschieden. Meines Erachtens sollte die Wahrnehmung der historischen Akteur*innen ernst genommen werden, weil sie auf die Enttäuschungen und Konflikte mit anderen Vertretern der Amtskirche rückverweist, die oftmals strukturell machtvolle und einflussreiche Positionen innehatten. Denn wären die Anliegen der von politischer Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen betroffenen Lai*innen und Priester durch hohe Würdenträger der Kirche in die institutionelle Praxis aufgenommen und integriert worden, hätte es keinen Anlass für Verlagerungen von Zugehörigkeit in dem hier ausgemachten Maße gegeben. Stattdessen lässt sich feststellen, dass die am Fall des Priesters Rubén Capitanio dargelegte dauerhafte Transposition eine Strategie im Umgang sowohl mit der Repression an sich als auch mit innerkirchlichen Konflikten sein konnte. Wesentliches Element ist dabei die Verlagerung des Zugehörigkeitsgefühls hin zu einer als affin empfundenen Diözese, die im Falle der dauerhaften Transposition letztlich zu einem formalen Wechsel der Diözese führte. Auch im Falle des Jesuiten Orlando Yorio führten Konflikte um die Ausgestaltung seiner Priesterrolle mit seinem Ordensoberen Jorge Mario Bergoglio und anderen Jesuiten der Ordensprovinz zu der Erwägung, den Jesuitenorden zu verlassen und als Diözesanpriester in eine Diözese zu gehen. Soweit sich der Fall anhand der spärlichen und einander teilweise widersprechenden Quellen und Zeitzeugenaussagen rekonstruieren lässt, war Yorio mit seinen Mitbrüdern Jálics und Dourron Anfang der 1970er-Jahre, also noch deutlich vor dem Putsch 1976, in das Armenviertel Bajo Flores in Buenos Aires gezogen und arbeitete dort gemeinsam mit Katechetinnen im Sinne der ›Option für die Armen‹.125 Zentral 125 Die verfügbaren Quellen sind die Kopie eines 27 Seiten langen Briefs von Yorio an Padre Moura, in dem er 1977 versuchte, seinen Fall zu klären. Dazu legte Yorio ihn aus seiner Perspektive ausführlich dar und stellte die für ihn offen gebliebenen Fragen in Bezug auf seinen Ausschluss aus dem Orden, der bei ihm Unverständnis und Enttäuschungen ausgelöst hatte. Biblioteca Académica del CEIL-CONICET, Orlando Yorio: Carta al RP Moura del 24 de noviembre de 1977. Im Bistumsarchiv Neuquén ist ein Brief überliefert, mit dem Yorio auf das Angebot Nevares’ vom Oktober 1976 reagierte, ihn in Neuquén zu inkardinieren. BAN, Briefe, Orlando Yorio an Jaime de Nevares, 7. November 1976; Ebenfalls im Bistumsarchiv Neuquén befindet sich ein Brief einer Person namens Isabel [o. Nachname], die mit Yorio und Jálics zusammen im Armenviertel gearbeitet hatte, BAN, Briefe, Isabel [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 10. August 1976; sowie ein Brief eines Priesters, der in Kontakt mit Yorio und Jálics stand, BAN, Mario [o. Nachname, mutmaßlich Leonfanti] an Jaime de Nevares, 27. Oktober 1976; Rubín, Sergio/Ambrogetti, Francesca (Hg): El jesuita. Conversaciones con el cardenal Jorge Bergoglio SJ, Barcelona 2010; Spadaro, Antonio SJ (Hg.): Das Interview mit Papst Franziskus. Freiburg im Breisgau 2013. In diesem Interview äußerte sich Bergoglio in der Retrospektive selbstkritisch zu seinem Führungsstil als Provinzial der Jesuiten; dort antwortete er auf die Frage: »Denken Sie, dass Ihre Führungserfahrung aus der Vergangenheit Ihnen bei Ihrer aktuellen Leitung der Gesamtkirche dienen kann?« […] mit: »Um die Wahrheit zu sagen: In meiner Erfahrung als Oberer in der Gesellschaft habe ich mich nicht immer so korrekt verhalten, dass ich die notwendigen Kon-
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für das Projekt war, sich ganz den Armen zu widmen und ihre Lebensbedingungen zu teilen. Yorio und seine Mitbrüder erhoben ihre Lebens- und Arbeitsweise zu einem programmatischen Experiment, das – so legen es die Quellen und Zeitzeugen nahe, ohne dass der konkrete Konflikt im Einzelnen nachvollzogen werden kann – von anderen Jesuiten in der argentinischen Jesuitenprovinz sehr kritisch gesehen wurde. Der Konflikt spitzte sich so weit zu, dass Yorio – je nach Darstellung – den Orden freiwillig verließ beziehungsweise auf Befehl von oben verlassen musste. Die Interpretation der Ereignisse und vor allem der Zusammenhänge bezüglich der Eskalation des Konflikts sind stark umstritten. Dazu zählen Yorios Austritt aus dem Orden, die Verschleppung am 23. Mai 1976 zusammen mit Jálics, die Tatsache, dass Yorio und Jálics anschließend fünf Monate lang verschwunden waren, wie auch die Freilassung der beiden am 23. Oktober 1976.126 Insbesondere die Rolle des damaligen Jesuitenprovinzials Bergoglio geriet in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit, als dieser im März 2013 zum Papst gewählt wurde.127 Die Darstellungen könnten entgegengesetzter nicht sein. Während Mignone, der 1986 erstmals über den Fall schrieb, und Verbitsky der Ansicht sind, dass Bergoglio die beiden Jesuiten ausgeliefert habe, meinen andere, wie Nello Scavo, dass Bergoglio – ganz im Gegenteil – durch seine Kontakte für ihre Freilassung
sultationen durchführte. Und das war keineswegs gut. Mein Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel. Es war eine schwere Zeit für die Gesellschaft Jesu: Eine ganze Jesuitengeneration war ausgefallen. Deshalb wurde ich schon in sehr jungen Jahren zum Provinzial ernannt. Ich war erst 36 Jahre alt – eine Verrücktheit! Ich musste mich mit sehr schwierigen Situationen auseinandersetzen und traf meine Entscheidungen auf sehr schroffe und persönliche Weise. Ja, aber etwas muss ich doch noch hinzufügen: Wenn ich einer Person eine Sache anvertraue, habe ich totales Vertrauen zu dieser Person. Sie muss wirklich einen sehr schweren Fehler begehen, damit ich sie aufgebe. Dessen ungeachtet sind die Menschen des Autoritarismus überdrüssig. Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. Ich habe eine Zeit einer großen inneren Krise durchgemacht, als ich in Cordova [sic] lebte. Nun bin ich sicher nicht wie die selige Imelda gewesen, aber ich bin nie einer von den ›Rechten‹ gewesen. Es war meine autoritäre Art, die Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte.«. 126 Emilio Mignone spricht von einem massiven Einsatz von Polizei und Militär mit um die hundert Personen, teils uniformiert und teils in Zivilkleidung, in Villa Evita, bei dem die beiden Jesuiten verhaftet und verschleppt wurden, nur wenige Häuserblocks von dem Ort entfernt, an dem auch seine Tochter am 14. Mai 1976 illegal verhaftet worden war. Mignone sah einen Zusammenhang zwischen den beiden Razzien. BAN, Cartas de familiares de detenidos-desparecidos, Emilio Mignone an Jaime de Nevares, 10. Juni 1976. 127 Mignone schrieb erstmals 1986 über den Fall, Verbitsky publizierte 2005 dazu. Vgl. Verbitsky, Horacio: El silencio. De Paulo VI a Bergoglio – las relaciones secretas de la Iglesia con la ESMA, Buenos Aires 2005.
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gesorgt und auch etlichen anderen politisch Verfolgten geholfen habe.128 Bis heute ist anhand der vorliegenden Quellen keine abschließende Beurteilung, sondern höchstens eine näherungsweise Rekonstruktion möglich. Viele potentiell aussagekräftige Quellen, wie beispielsweise die Korrespondenz des Provinzials Bergoglio mit dem Generaloberen der Jesuiten in Rom, Arrupe, oder andere relevante Bestände des Jesuitenordens in Argentinien sind bis heute nicht zugänglich. Es ist davon auszugehen, dass sich in diesen Akten wesentliche Informationen zu dem Ablauf des Ausscheidens von Yorio aus dem Orden finden ließen und somit eine solidere Grundlage zur Beurteilung der Vorgänge und der Rolle Bergoglios gegeben wäre.129 Solange kein neues Material hinzukommt, müssen aus wissenschaftlicher Perspektive viele Fragen, die dieser Fall aufwirft, offen bleiben, da die vorhandenen Quellen und Zeitzeug*innenaussagen zu viele Ungereimtheiten beinhalten. Trotz allem wäre eine ausführliche Darstellung unter Einbeziehung aller verfügbaren Quellen lohnend, da die Quellen bislang nicht im Zusammenhang ausgewertet wurden und die aktuell existierenden Darstellungen entweder die These der Kollaboration Bergoglios oder die These seiner Rolle als Retter zu belegen versuchen und dementsprechend Widersprüche ausblenden, die nicht in die jeweilige Argumentation passen. Ein solches Vorhaben würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Untersuchung weit überschreiten. Mein Eindruck ist, dass der Fall deutlich komplexer liegt, als es die widerstreitenden Narrative über die Schuld beziehungsweise Unschuld Bergoglios suggerieren. Aus dem vorliegenden Material geht zumindest zweifelsfrei hervor, dass es vor der Verschleppung der beiden Jesuiten Yorio und Jálics einen manifesten Konflikt innerhalb des Jesuitenordens um Selbstverständnis und Praxis gab, der an anderen Orten Argentiniens beobachteten Konflikten innerhalb der Kirche äh-
128 Vgl. Verbitsky 2005; Scavo 2014. Im Sinne einer Entlastung Bergoglios argumentiert auch Deckers Vgl. Deckers, Daniel: Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens – eine Biographie, München 2014. 129 Die Annahme, dass etliche nicht zugängliche Schriftstücke zu diesem Fall existieren müssen, leitet sich aus den Kommunikations- und Verwaltungsgepflogenheiten der Jesuiten ab, sowie aus den Erwähnungen etlicher Schriftstücke in den Ausführungen Yorios. Er nennt in seinem Brief an Padre Moura unter anderem die folgenden Dokumente (die sich in jesuitischen Archiven befinden müssten, aber nicht zugänglich sind): Bericht von Yorio an den Generaloberen Arrupe, Berichte von Jálics, das Ersuchen um legitime absens an den Generaloberen Arrupe, das Ersuchen um die dimisorias an den Generaloberen Arrupe, Brief des Generaloberen Arrupe an Bergoglio (der laut Yorio ihm und Jálics vorgelesen wurde), Brief Arrupes an den Provinzial Bergoglio, in dem er Informationen anfordert über die Gemeinschaft, der sie angehörten (bezeichnet als ›»comunidad orante«), Berichte über Yorio (unter anderem von Jálics), Brief des Provinzials Bergoglio an Bischof Raspanti. Biblioteca Académica del CEIL-CONICET, Orlando Yorio: Carta al RP Moura del 24 de noviembre de 1977.
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nelte. Auch Bergoglio selbst sprach diesen Konflikt an.130 Während die Jesuiten Yorio, Jálics und Dourron eine radikale ›Hinwendung zu den Armen‹ praktizieren wollten, ging anderen Akteuren innerhalb der argentinischen Ordensprovinz diese progressive Orientierung zu weit – sei es, weil sie mit der grundsätzlichen Ausrichtung ihrer Arbeit nicht einverstanden waren und eine zu große Nähe zu radikalen politischen Gruppierungen und Guerilla-Organisationen sahen, oder weil sie um die Sicherheit der Jesuiten angesichts der zunehmenden politischen Gewalt in den frühen 1970er-Jahren fürchteten. Unabhängig davon, von wem der Wunsch nach dem Verlassen des Ordens ursprünglich kam – den Jesuitenpatres selbst oder dem Provinzial – ist das Verlassen des Ordens meines Erachtens durch den massiven Konflikt um die Praxis der Jesuiten Yorio, Jálics und Dourron begründet.131 Zu den erwähnten Ungereimtheiten im Fall Yorio gehört, dass sich die Suche nach einer aufnehmenden Diözese im Zeitraum vor der Verschleppung schwierig gestaltete und er zunächst aus dem Orden ausgeschlossen wurde, ohne in eine Diözese inkardiniert zu werden. Dies sollte gemäß den Ordnungsvorstellungen der Institution eigentlich nicht passieren. Vielmehr sollte der Übertritt in einen anderen Inkardinationsverband wie eine Diözese oder einen Orden in Abstimmung mit dem entlassenden Bischof oder Ordensprovinzial und dem aufnehmenden Bischof erfolgen, so dass der betreffende Priester nicht ohne Inkardination und damit ohne institutionelle Zugehörigkeit bleibt.132 Wie ein solcher Prozess kooperativ und zur Zufriedenheit aller Beteiligten gestaltet werden konnte, zeigt der Fall von Juan Francisco Flynn, der 1975 aus dem Salesianerorden in die Diözese Neuquén wechselte. Flynn selbst äußerte sich gegenüber Nevares dazu folgendermaßen: »Gott sei Dank wurden die Dinge gut gemacht und wir fühlen uns noch immer genauso Teil der salesianischen Familie.«133 Flynns Wortwahl zeigt, dass neben der neu gewonnenen Zugehörigkeit zur Diözese Neuquén die emotionale Verbindung zum Salesianerorden weiterhin 130 Vgl. Rubín/Ambrogetti 2010. 131 Mignone gibt Hinweise darauf, dass es in der argentinischen Jesuitenprovinz unter Bergoglio Konflikte um die Ausrichtung des Ordens gab. Im Dezember 1979 veröffentlichte ein Jesuit einen Artikel über die Menschenrechte, der am 5. Februar 1977 auch in La Opinión abgedruckt wurde. Der Jesuit musste Argentinien aufgrund politischer Verfolgung verlassen (Pellegrini, Vicente: »Los derechos humanos en el Presente contexto Socio-Político de Argentina«, CIAS 259 (1976). Mignone kommentierte dies (leicht ironisch) folgendermaßen: »La revista del CIAS no volvió a reincidir por mucho tiempo. Por otra parte la prevalencia del P. Jorge Bergoglio y su grupo dentro de la Compañía de Jesús fue disminuyendo la vitalidad del centro.« (»Die Zeitschrift des CIAS wurde lange Zeit nicht rückfällig. Außerdem sorgte die Vorherrschaft des Padre Jorge Bergoglio und seiner Gruppe dafür, dass die Vitalität des Zentrums abnahm.«), Mignone 2006 [1986], S. 197f. 132 Vgl. Mörsdorf 1964, S. 250f. 133 BAN, Briefe, Juan Fracisco Flynn an Jaime de Nevares, 8. August 1975, »Gracias a dios las cosas se hicieron bien y nos sentimos parte de la familia salesiana igualmente.«.
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bestand. Diese Tatsache deutet meines Erachtens darauf hin, dass es im Zusammenhang mit seinem Wechsel keine – oder zumindest keine schwerwiegenden – Konflikte gab, die eine kooperative Vorgehensweise verhindert hätten. Eine ähnlich positive Verbindung zu seinem ehemaligen Orden gab es für Yorio nicht. Er war bis zu seinem Tod im Jahr 2000 davon überzeugt, dass sein Provinzial ihn verraten und ans Militär ausgeliefert hatte. Auch Jálics war lange Zeit davon überzeugt, Bergoglio sei für seine Verschleppung und die seiner Mitbrüder verantwortlich, wie er in zwei kurz aufeinander folgenden Stellungnahmen nach der Papstwahl im März 2013 verlauten ließ. Er sei jedoch zu dem Schluss gekommen, dass Bergoglio ihn nicht an das Militär ausgeliefert habe, und konstatierte in seiner zweiten Erklärung, es sei falsch gewesen, dies zu behaupten.134 Auch wenn Jálics heute nicht mehr der Ansicht ist, er sei verraten worden, weist seine damalige Deutung, die er mit Yorio teilte, auf ein schwieriges Verhältnis zu seinem ehemaligen Provinzial Bergoglio hin. In Bezug auf die Zugehörigkeit zum Jesuitenorden und das Verhältnis der betroffenen Jesuiten zum Provinzial scheint mir die Frage, wie es dazu kam, dass die Suche nach einem aufnahmewilligen Bischof vor der Verschleppung im Mai 1976 erfolglos verlief, relevant zu sein. Sofern die Ausführungen von Yorio zutreffen, gab es in seinem Fall keine Unterstützung für eine Inkardination in die Diözese von Morón.135 Darauf deutet auch die Dauer der Suche nach einer aufnehmenden Diözese hin, die sich laut Yorios Darstellung über mehrere Monate erstreckte.136 Denn wie die
134 Erklärung von Pater Franz Jálics SJ, 15. März 2013, online: https://www.jesuiten.org/aktuelle s/details/article/erklarung-von-pater-franz-jalics-sj.html (abgerufen am 10. Januar 2016); Ergänzende Erklärung von Pater Franz Jálics SJ, 20 März 2013, online: https://www.jesuiten .org/aktuelles/details/article/erganzende-erklarung-von-pater-franz-jalics-sj.html (abgerufen am 10. Januar 2016). 135 Yorios Schilderungen zufolge erhielt der Bischof von Morón negative Berichte über ihn, die dazu führten, dass der Bischof Yorios Aufnahme ablehnte. Auch Bergoglio soll sich negativ geäußert haben. 136 Biblioteca Académica del CEIL-CONICET, Orlando Yorio: Carta al RP Moura del 24 de noviembre de 1977. Laut Yorio begannen ab Ende Februar, Anfang März 1976 die Gespräche mit dem Bischof Raspanti. Über befreundete Priester wurden nach der Absage Raspantis laut Yorio informelle Anfragen an Aramburu und Colino gestellt, die ebenfalls negativ beschieden wurden. In seinem Brief stellt Yorio die Suche nach einem Bischof wie folgt dar: Der Vikar der Diözese des Bischofs Raspanti und andere Priester berichteten Yorio, dass Raspanti in einer Versammlung des Presbyteriums einen Brief des Provinzials verlesen habe, in dem es Anschuldigungen gegen die beiden gegeben habe, die so schwerwiegend waren, dass sie ausgereicht hätten, dass sie das Priesteramt nicht weiter ausüben dürften. Der genaue Inhalt der Anschuldigungen jedoch sei ein Geheimnis. Yorio sprach daraufhin mit Bergoglio, der alles abstritt. Er sagte, sein Bericht an Raspanti sei eindeutig zugunsten von Yorio und Jálics formuliert worden. Raspanti sei betagt und würde manchmal die Dinge durcheinanderbringen. Raspanti sprach erneut mit Bergoglio und laut dem, was er Padre Dourron über dieses Gespräch berichtete, habe Bergoglio alle Anschuldigungen wiederholt. Yorio sprach wiederum mit Bergoglio und er sagte, dass die Priester aus Raspantis Diözese
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anderen dargestellten Fälle belegen, konnte ein solcher Wechsel bei Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten ohne Probleme erfolgen, so dass es nicht zu einem Vertrauensverlust und einem Zerwürfnis solchen Ausmaßes kommen musste, auch wenn das Verhältnis zum entlassenden Provinzial oder Bischof – wie im Fall von Capitanio – durch eine deutliche Distanz geprägt war. Mangels valider Quellen muss auch die Frage offen bleiben, warum trotz Suche über einen längeren Zeitraum keine Diözese gefunden wurde, so dass lediglich festgehalten werden kann, dass der Konflikt so schwerwiegend war, dass ein kooperativ gestalteter Wechsel bis zum Zeitpunkt der Verschleppung im Mai 1976 nicht möglich war.137 Die Lage nach der Freilassung Yorios am 23. Oktober 1976 stellt sich dagegen ganz anders dar. Durch Briefe an Nevares ist belegt, dass sich der Provinzial Bergoglio binnen weniger Tage um die Inkardination Yorios in die neu gegründete Diözese Quilmes unter der Leitung von Bischof Novak bemühte.138 In diesem Zeitraum hatte Bischof Nevares Yorio über gemeinsame Freunde die Inkardination in Neuquén angeboten, zu der es jedoch nicht kam, weil bereits der Prozess der Aufnahme in die Diözese Quilmes angestoßen worden war. Anhand der bereits erwähnten, dünnen Quellenbasis, lässt sich die Frage, ob die subgegen die Aufnahme von Yorio und Jálics seien. Luis Durron wurde von Raspanti in die Diözese aufgenommen, Yorio und Jálics hingegen wurden abgelehnt. 137 Denkbar ist, dass auch andere Akteur*innen intervenierten und eine Inkardination in die Diözese Morón bei Bischof Raspanti verhinderten. Laut Zeitzeugen soll es Bergoglio selbst gewesen sein, der die Inkardination in Morón verhinderte. Verbitskys Darstellungen sind insofern problematisch, als er – ohne andere Argumente überhaupt zu erörtern – die These belegen möchte, dass Bergoglio die Jesuiten ausgeliefert hat. 138 Bereits am 27. Oktober 1976, vier Tage nach der Freilassung von Yorio und Jálics, schrieb der Priester Mario [o. Nachname, möglicherweise handelt es sich um Mario Leonfanti, der auch Kontakt zu der Gruppe Laien hatte, die 1977/1978 nach Neuquén übersiedelte] an Jaime de Nevares und teilte ihm mit, dass die beiden Priester mit ihrem Provinzial gesprochen hätten und Bergoglio sich um eine Inkardination bei Novak bemühe. Der Brief Yorios an Jaime de Nevares stammt vom 7. November 1976. BAN, Yorio an Jaime de Nevares, 7. November 1976. Der Brief Yorios an den Bischof Nevares wurde durch einen Boten überbracht, weil Yorio das Schriftstück nicht per Post verschicken wollte. Nevares hatte den Kontakt zu Yorio über einen Freund hergestellt und ihm und Jálics einen Wechsel in die Diözese Neuquén angeboten. Er hatte Yorio sogar eine handschriftliche Bescheinigung ausgestellt, in der er bestätigte, dass Yorio Priester der katholischen Kirche in der Diözese Neuquén sei und dort alle priesterlichen Befugnisse habe. Da sein Ex-Provinzial Bergoglio, wie Yorio formulierte, bereits Verhandlungen mit dem Bischof bezüglich der Aufnahme in die Diözese Quilmes begonnen hatte, bevor der Kontakt über die Freunde von Nevares hergestellt war, sandte Yorio diese Bestätigung zurück, jedoch nicht, ohne seinen tief empfundenen Dank für die Hilfe Nevares’ auszudrücken. In Bezug auf den potentiellen Wechsel nach Neuquén schrieb Yorio, dass er angesichts der bereits vom Provinzial Bergoglio unternommenen Schritte bevorzuge, aus Gründen der Besonnenheit (oder Vorsicht) und Zweckmäßigkeit nach Quilmes zu gehen, während er dafür plädierte, dass Jálics in Neuquén inkardiniert werde. In jedem Fall werde er dem Rat Nevares’ folgen und in den nächsten Tagen, sobald er die erforderlichen Papiere habe, nach Europa aufbrechen.
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jektive Wahrnehmung von Yorio und Jálics nach ihrer Freilassung im Oktober 1976 begründet war oder ob es sich um eine Fehleinschätzung handelte, nicht beantworten. Ungeachtet dessen zeigt der von Yorio im Jahr darauf verfasste Brief, in dem er seinen Fall auf 27 Seiten ausführlich darlegte und nach Erklärungen suchte, dass der jahrelange Konflikt innerhalb der Jesuitenprovinz das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Provinzial Bergoglio für lange Zeit beschädigt hatte. Durch den lange währenden und schwerwiegenden Konflikt wurde sowohl Yorios emotionale wie auch letztlich seine institutionelle Zugehörigkeit zum Jesuitenorden in Frage gestellt. Das Angebot von Nevares, Yorio in Neuquén aufzunehmen, trug hingegen aus der Perspektive Yorios dazu bei, die eigene Bindung an die Institution Kirche zu stärken: »Ihre Geste bestätigt und stärkt mein Herz in meiner Option der Liebe für die Kirche.«139 Obwohl hier kein expliziter Ausdruck von Zugehörigkeit vorliegt, lässt sich dennoch feststellen, dass durch den Briefkontakt mit Nevares und dessen Angebot des Diözesenwechsels nach Neuquén eine Verbindung geschaffen wurde, die sich positiv auf das Verhältnis zur gesamten katholischen Kirche auswirkte.
7.4
Die Seminaristen und das Priesterseminar von Neuquén
Neben den Priestern, die nach Neuquén kamen, lassen sich auch Fälle einiger Seminaristen nachvollziehen, die aus anderen Diözesen nach Neuquén wechselten oder gezielt in das Priesterseminar von Neuquén eintraten. Insbesondere bei den Seminaristen aus La Plata spielte der Kontakt zu Rubén Capitanio, noch aus seiner Zeit als Priester der Erzdiözese, eine wichtige Rolle.140 Nach seiner Ankunft in Neuquén baute Capitanio die Ausbildungsstätte für die Seminaristen von Neuquén in Buenos Aires auf. Dazu wurde Anfang 1977 ein Haus in der Nähe der Theologischen Fakultät der Universidad Católica de Buenos Aires angemietet, in dem die Seminaristen mit Capitanio als Rektor in einer Hausgemeinschaft lebten.141 Kardinal Aramburu, Erzbischof von Buenos Aires, erteilte Capitanio 139 BAN, Briefe, Orlando Yorio an Jaime de Nevares, 7. November 1976, »Su gesto me ratifica y fortalece mi corazón en mi opción de amor a la Iglesia.«. 140 Beispielsweise im Fall des bereits erwähnten Bernardo Busso. BAN, Briefe, [o. Name] an Jaime de Nevares, 25. Dezember 1977. 141 BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 18. Januar 1977. Im selben Brief schreibt er, dass er gemeinsam mit den Angehörigen der Verhafteten aus der Missionsgruppe Paimún in La Plata Weihnachten gefeiert habe und Adela noch immer in Gefangenschaft sei: »Adela no salió. Pasamos las fiestas todos juntos, acompañando a la mamá y a los hermanos, junta a la flía [sic] de Miguel y de Agustín, los Busso, etc. mis padres, etc. … parecía un ›comité de golpeados por el Golpe‹ […].« (»Adela ist nicht rausgekommen. Wir haben die Feiertage alle gemeinsam verbracht, die Mutter und die Geschwister begleitend, zusammen mit der Fam. von Miguel und Agustín, den Bussos usw. meinen Eltern, usw. … es wirkte wie ein ›Komitee
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die notwendigen kanonischen Befugnisse, das Priesteramt in seinem Jurisdiktionsgebiet auszuüben.142 Die Seminaristen studierten an der theologischen Fakultät der Universidad Católica, angesiedelt im Seminar der Erzdiözese Buenos Aires in Villa Devoto. Zentral für das Selbstverständnis der Ausbildungsstätte von Neuquén waren die Orientierung am Ideal einer einfachen Lebensweise, die sich auf das materiell Notwendigste beschränken sollte, und das Schaffen einer brüderlichen und solidarischen Gemeinschaft, in der eine »authentische Beziehung zu Gott«143 entstehen sollte. Die prinzipielle Ausrichtung der neuen Ausbildungsstätte für den Klerus von Neuquén griff die Erneuerungsimpulse des Konzils ebenso wie die befreiungstheologischen Ansätze der ›Option für die Armen‹ auf. Unterstützt wurde dieses Bemühen um eine reformierte Ausbildung des Klerus von führenden argentinischen Theologen wie Lucio Gera und Carmelo Giaquinta, die gute Beziehungen zur Ausbildungsstätte von Neuquén unterhielten.144 In den Briefen Capitanios ist, ebenso wie in den Briefen der Seminaristen, immer wieder die Rede von fundamentalen Unterschieden zwischen anderen Priesterseminaren und dem Ausbildungshaus von Neuquén. Diese Unterschiede waren es, die etliche Seminaristen dazu bewogen, ihre Priesterausbildung in der Diözese Neuquén zu absolvieren.145 So schrieb Capitanio über einen jungen Mann, der seine Berufung zum Priester entdeckt hatte, dass er keine »ernsthaften und positiven Möglichkeiten«146 sah, seine Ausbildung im Seminar von La Plata zu durchlaufen. Er sei von der Gemeinschaft im Seminar von Neuquén beeindruckt gewesen, besonders von der ärmlichen Lebensweise und allem, was er über das Bistum Neuquén erfahren habe. Im Falle des Seminaristen Magín Páez aus der Diözese Rosario bot das Seminar des Bistums Neuquén die Möglichkeit, die Ausbildung zu beenden und Priester zu werden. Schon 1975 lernte Páez Capitanio kennen, der ihn und einen weiteren Seminaristen nach Neuquén mitnahm, nachdem er von ihnen erfahren hatte, dass es mit ihren Beziehungen zum Bischof Bolatti nicht zum Besten stand. Capitanio erzählte den beiden Seminaristen aus Rosario von der großen Be-
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der vom Putsch geschlagenen‹« [Anm. B.R.: im Spanischen geht schlagen (golpear) auf denselben etymologischen Ursprung zurück wie Putsch oder Staatsstreich (golpe de estado), so dass sich ein Wortspiel ergibt.]. Privatarchiv David Lugones, Dokument: Casa de formación sacerdotal de la Diócesis de Neuquén [undatiert, vermutlich 1977]. Am 9. Juni 1977 bezog Capitanio sich in einem Brief auf dieses Dokument. BAN, Briefe Capitanio an Jaime de Nevares, 9. Juni 1977. Privatarchiv David Lugones, Dokument: Casa de formación sacerdotal de la Diócesis de Neuquén [undatiert, vermutlich 1977]. BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 5. Juni 1977. Capitanio berichtet an Jaime de Nevares, dass Giaquinta bei einem Besuch ein starkes Lob für die Ausbildung der Priester von Neuquén aussprach. Zur engen Beziehung mit Giaquinta auch BAN, Capitanio an Jaime de Nevares, 14. April 1977. BAN, Briefe, Agustín [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 28. August [o. Jahr]. BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 15. Juni 1977.
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deutung, die Nevares für seine eigene Berufung zum Priester hatte. In der Ankündigung seines Besuchs bei Nevares schrieb Capitanio, dass er glaube, es würde den Seminaristen sehr guttun, mit Nevares zu sprechen, da ihre Beziehung zum Bischof Bolatti belastet sei. Sie bräuchten, so Capitanio, das »Zeugnis eines Bischofs, das ihnen die Liebe zur Kirche und den Enthusiasmus für die Kirche zurückgibt«147. Mit seinen Worten brachte Capitanio hier die aufgrund der Konflikte in Frage gestellte Zugehörigkeit zum Ausdruck. Zugleich weist er auf die Schaffung neuer Kontakte und Bindungen als Möglichkeit hin, die Krise der Zugehörigkeit produktiv zu lösen, und legt durch seine Vermittlung einen wichtigen Grundstein für die Transposition der Zugehörigkeit. Im Fall von Páez wurde daraus eine dauerhafte Transposition, als dieser 1977 von Nevares in Neuquén zum Priester geweiht wurde. Páez’ Differenzen mit dem Bischof Bolatti hatten im Laufe des Jahres 1977 dazu geführt, dass Bolatti sich weigerte, ihn zu weihen. Capitanio bot ihm deshalb an, in das Seminar von Neuquén zu wechseln.148 Das Entstehen eines Zugehörigkeitsgefühls lässt sich unter anderem auch an den Vorstellungen der Seminaristen über das Priesteramt und den ›authentischen‹ Charakter von Kirche und Christentum erkennen. Beispielsweise schrieb einer der zukünftigen Seminaristen vor seiner Aufnahme ins Seminar: »Als Priester möchte ich an der Seite der Armen arbeiten, mit ihnen ›Haus und Brot teilen‹ […] und ich glaube, am stärksten zieht mich an diesem Weg an, mein Leben der Erleuchtung der Menschen auf dem Weg, den wir gehen müssen, zu widmen, und die Werte erstrahlen zu lassen, die authentisch christlich und authentisch menschlich sind […].«149 147 BAN, Briefe, Capitanio an Jaime de Nevares, 1. Juli 1975. Capitanio schrieb: »Quise que ellos también bebieran donde yo un día, ›sediento‹, calmé mi sed y pude seguir camino. El hermano Bola-ti [sic], los tiene medio mal y creo que necesitan el testimonio de un obispo que les devuelva el cariño y el entusiasmo por la Iglesia.« (»Ich wollte, dass auch sie dort trinken, wo ich einst, ›durstig‹, meinen Durst stillte und weitergehen konnte. Der Bruder Bola-ti [Anm. B.R.: gemeint ist mit diesem Wortspiel der Bischof Bolatti; der Ausdruck bola wird umgangssprachlich in unterschiedlichen Kontexten verwandt und kann nur an sich denken (ir a su bola) oder orientierungslos sein (arg. Spanisch: como bola sin manija) bedeuten] lässt es ihnen halbwegs schlecht ergehen und ich glaube, dass sie das Zeugnis eines Bischofs brauchen, das ihnen die Liebe zur Kirche und den Enthusiasmus für die Kirche zurückgibt.«); Einer dieser Seminaristen war Magín Páez, der aufgrund von Konflikten mit Bolatti nicht in Rosario zum Priester geweiht wurde, so dass er in die Diözese Neuquén wechselte und dort im August 1977 Priester wurde. 148 BAN, Mariel Páez de Borghi an Jaime de Nevares, 20. Oktober 1977; BAN, Capitanio an Jaime de Nevares, 12. April 1977; BAN, Capitanio an Jaime de Nevares, 26. 8. 1977. 149 BAN, Eduardo [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 23. Juli 1977. »[…] como cura me gustaría trabajar al lado de los pobres ›compartiendo con ellos techo y pan‹ (como dice la canción) y pienso que lo que más me atrae este camino es dedicar mi vida a iluminar a la gente del camino que debemos recorrer y esclarecer los valores que son auténticamente cristianos y auténticamente humanos, todo ello a la luz de la Palabra de Dios.«.
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Strukturelle Freiräume: Die Diözese als Ort der Zuflucht und des Protests
Aussagen wie diese weisen darauf hin, dass es eine klare – wenn auch nicht immer elaborierte – Vorstellung von der Partikularität der eigenen Diözese gab, die sich in besonderer Weise der Arbeit mit marginalisierten sozialen Gruppen verschrieben hatte. Ein anderer Seminarist brachte dieses Selbstverständnis so zum Ausdruck, dass er keine Antwort des Bischofs akzeptiere, damit dieser mehr Zeit für wichtigere Aufgaben habe. Diesen Verzicht nehme er auf sich zugunsten einer größeren Priorität für die »Seligen unserer Zeit: die Armen, die Verfolgten, die Gefangenen… [sic].«150 Die Äußerungen zeigen, dass es für das Selbstverständnis der Seminaristen wesentlich war, Teil einer innerkirchlichen Erneuerungsbewegung zu sein und den Wandel in der argentinischen Kirche zu befördern.151 Die Schaffung des Priesterseminars für die Diözese Neuquén stellte eine wichtige Strategie dar, das Profil der Diözese zu schärfen, da sie eine Ausbildung gemäß den Glaubens- und Kirchenvorstellungen dieser Teilkirche ermöglichte. Sie erfolgte in Kooperation mit wichtigen Akteuren der innerkirchlichen Erneuerung in Argentinien, wie den genannten Theologen Gera und Giaquinta und anderen, affinen Projekten und Bistümern, wie dem Bistum Goya oder Río Negro. Da andere Bistümer aus der Provinz ebenfalls ihre Ausbildungsstätten in Buenos Aires angesiedelt hatten und das Leitungspersonal ebenso wie die Seminaristen untereinander Kontakte knüpften, wurden die Seminare zu Vernetzungsagenturen der Provinzdiözesen. Ihre Vernetzung erfolgte sowohl in der argentinischen Hauptstadt als auch durch überregionale Treffen.152 Andere Akteur*innen teilten ebenfalls die Perspektive, dass dieses diözesane Priesterseminar zum Wandel der katholischen Kirche in Argentinien beitrug und beitragen sollte. Nachdem das Seminar etwa zwei Jahre bestand, sollte es von Buenos Aires nach Neuquén verlagert werden, dabei sollte dort ein eigenes Gebäude errichtet werden. Dazu wurde eine Unterstützung bei Adveniat beantragt, die großzügig bewilligt wurde. Die veranschlagten 490.000 D-Mark Baukosten 150 BAN, Carlos [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 30. März 1977, »No acepto respuesta; es parte de mi renuncia para darle prioridad a los bienaventurados de este tiempo: pobres, perseguidos, encarcelados… [sic]«. 151 Des Weiteren formulierte er (ebd.): »Es realmente una oportunidad preciosa que nos regala Tata Dios, como tantas otras cosas maravillosas que nos dió y seguirá dando para que la casa crezca y pueda brindar a la diócesis un verdadero servicio: el de formar verdaderos pastores, humildes servidores de las comunidades, enunciadores y vividores valientes del Evangelio de Jesús, pastores como la Iglesia hoy quiere y necesita con urgencia evangélica.« (»Es ist wahrhaft eine kostbare Gelegenheit, die uns Väterchen Gott schenkt, so wie viele andere wundervolle Dinge, die er uns gab und die er uns weiterhin gibt, damit das Haus wächst und der Diözese einen wahrhaften Dienst erweisen kann: jenen, wahrhafte Hirten auszubilden, bescheidene Diener der Gemeinschaften, Verkünder und Verkörperer des Evangeliums Jesu, Hirten, wie sie die Kirche heute mit der Dringlichkeit des Evangeliums will und braucht.«). 152 BAN, Capitanio an Jaime de Nevares, 25. April 1977; BAN, Capitanio an Jaime de Nevares, 8. September 1977.
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wurden mit 300.000 D-Mark bezuschusst. Eines der Argumente für die Unterstützung des Projekts war, dass es dazu beitrage, den »theol. Machtblock Bs. As. [Buenos Aires, B.R.] zu dezentralisieren.«153 Wie aus dem Antrag hervorgeht, soll der Nuntius angeregt und befürwortet haben, das Seminar nach Neuquén zu verlegen und zu vergrößern. Im Gespräch mit den Verantwortlichen der Theologischen Fakultät und einigen nicht genannten Bischöfen wurde der Plan dann entwickelt. Im April 1980 nahm das neue Seminar in Neuquén seinen Betrieb auf.154 Auch in diesem Zusammenhang schufen in unterschiedlichen Kontexten beheimatete Akteur*innen durch ihre translokale Interaktion und Koordination neue Handlungsspielräume. Sie erweiterten diese in erster Linie für die lokale Teilkirche, waren aber auch für die gesamte Institution Kirche innerhalb des argentinischen Nationalstaats relevant, weil die Akteur*innen dieser Teilkirche und damit auch ihre Erneuerungsbestrebungen gestärkt wurden. Insgesamt wurde so eine Verschiebung in der Gesamtkonstellation der Kirche in Argentinien befördert.
153 ADVENIAT, Projektakten Argentinien, Antrag Arg/Neuquén 79/40. 154 Río Negro, 14. April 1980, Fue inaugurado en Neuquén el seminario diocesano.
8.
Enttäuschte Erwartungen, neue Allianzen: Konstruktion von Zugehörigkeit auf Distanz
Neben der temporären und dauerhaften Transposition lässt sich als weiteres Phänomen eine Verlagerung der Zugehörigkeit innerhalb der Institution Kirche feststellen, die im Bereich der Imagination lag. Sie war deshalb jedoch nicht weniger wirkungsvoll, da mit dem Ausbilden eines Zugehörigkeitsgefühls zur Diözese Neuquén auch über große Distanzen hinweg eine Vergemeinschaftung entstand, obwohl die Heimatdiözese nicht einmal zur Teilnahme an religiösen Praktiken in der Wahldiözese verlassen werden konnte. Zeugnis dieses Zugehörigkeitsgefühls liefern die vielen Briefe an den Bischof Nevares, die neben Repression und Menschenrechtsverletzungen auch das Verhältnis der jeweiligen Verfasser*innen zur Institution Kirche, zu ihrer Heimatdiözese sowie zur Diözese Neuquén thematisierten.1 Die Diözese Neuquén und ihr Bischof wurden manchmal sogar als die ›eigentliche‹ Diözese der Gläubigen verstanden, da jene dort eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Glaubens- und Kirchenvorstellungen und der institutionellen Praxis sahen. Wie im Fall der dauerhaften und temporären Transposition ermöglichte auch die imaginäre Transposition eine qualitative Veränderung im Verhältnis zur Institution Kirche. Aufgrund der Überlieferungssituation liegt der Fokus dieses Kapitels auf Briefwechseln mit dem Bischof von Neuquén. Da er als Amtsträger der katholischen Kirche und als Repräsentant der Diözese angeschrieben wurde, sollten die Briefe an seine Person auch als Anfragen und Auseinandersetzungen mit der Institution Kirche begriffen werden und nicht allein als an seine Person gerichtet. Insofern beziehen sich die Verfasser*innen mit den Briefen an den Bischof und den darin geäußerten Selbst- und Weltdeutungen auch auf die von ihm vertretene Teilkirche Neuquén sowie auf die Institution als Ganze. 1 Erstmals analysiert wurde eine Auswahl der Briefe der Angehörigen von Verschwundenen an den Bischof Nevares in: Rupflin, Barbara: »Somos ovejas de su rebaño« – El papel de la diócesis de Neuquén para las víctimas de la dictadura militar argentina (1976–1983), in: Archives de sciences sociales des religions, 170, (April-Juni 2015), S. 61–77. Für das vorliegende Kapitel wurden weitere Briefe hinzugezogen und grundlegende Gedanken des Artikels weiterentwickelt.
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Enttäuschte Erwartungen, neue Allianzen
Analysiert werden hier Briefe von Lai*innen, Priestern und Ordensleuten, die sich zur Menschenrechtsproblematik äußerten, selbst politisch verfolgt wurden oder Angehörige von desaparecidos waren. Letztere Gruppe ist unter den Verfasser*innen besonders zahlreich vertreten. In ihren Briefen an Bischof Nevares schildern sie, neben den verfügbaren Informationen über die illegale Verschleppung des jeweiligen Angehörigen und den persönlichen Angaben zu dieser Person, auch ihre eigene Lage und die von ihnen unternommenen Schritte auf der Suche nach den verschwundenen Angehörigen.
8.1
Die Situation der Angehörigen der Verschwundenen
Aus den Schilderungen in den Briefen geht die Verzweiflung und soziale Isolation der Angehörigen hervor, für die es sehr schwer war, das Phänomen der desaparecidos als wahr und existent zu artikulieren und Unterstützung zu erhalten, denn im offiziellen Diskurs der Militärjunta wurde, insbesondere in den ersten Jahren nach dem Putsch, das Phänomen der desaparecidos kategorisch negiert. Erst im Mai 1977 begann die Junta peu à peu einzugestehen, dass es Verschwundene gab, leugnete aber weiterhin, für das Verschwindenlassen und für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein.2 Für viele relevante Akteur*innen der Zeit existierten die Verschwundenen genauso wenig wie für die Militärjunta oder die – zumindest theoretisch funktionierende – staatliche Justiz. So schrieb die Ehefrau eines Verschwundenen über ihre Erfahrungen: »Es waren so viele Personen, mit denen ich gesprochen habe, und so viele, die mich ignoriert haben, so als sei das Problem des Verschwindens meines Mannes eine Erfindung meiner Phantasie, dass mich manchmal die Verzweiflung befiel und ich mich fragte, ob es denn möglich sei, dass niemand mich anhört.«3
Mit diesem Eindruck war sie nicht allein, vielmehr handelte es sich um eine von allen Angehörigen von Verschwundenen in ganz ähnlicher Weise gemachte Erfahrung. Davon zeugen die vielfach wiederkehrenden Schilderungen all jener Institutionen und Personen, die aufgesucht wurden, um Informationen über den 2 Auf einer Auslandsreise zu den Verschwundenen befragt, erkannte General Videla erstmals an, dass es überhaupt Verschwundene gab. Siehe hierzu Kapitel 3. Im näheren Umfeld der Angehörigen war die Angst vor Repression verbreitet, so dass Zeugen der illegalen Verhaftungen nicht bereit waren, namentlich auszusagen. BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Maria Elena Barigelletti de Miani an Jaime de Nevares, 2. November 1977. 3 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Olga Malle de Gallo an Jaime de Nevares, 15. April 1977, »Han sido tantas las personas con las que he hablado y tantas las que me han ignorado como si el problema de la desaparición de mi esposo fuera un invento de mi imaginación, que a veces la desesperación me asaltaba y me preguntaba si sería posible que nadie me escuchara.«.
Die Situation der Angehörigen der Verschwundenen
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Aufenthaltsort und das Schicksal der Verschwundenen und Unterstützung bei der Suche sowie der Artikulation des Problems zu erhalten. Besonders belastend für die Angehörigen war dabei die Ungewissheit, die Tatsache, dass gesichertes und autorisiertes Wissen über das Schicksal der Verschwundenen ebenso wenig verfügbar war wie eine konsistente Erklärung der Geschehnisse oder ein rechtsstaatliches Verfahren. Während der Militärdiktatur erbrachte keiner der tausendfach bei den Gerichten eingereichten Habeas-Corpus-Anträge zur Feststellung des Haftgrunds und des Aufenthaltsorts ein positives Ergebnis. Den psychologischen Effekt, den diese massive Ungewissheit und rechtliche Schutzlosigkeit auslöste, bezeichnete die Mutter eines Verschwundenen als Folter, was zeigt, wie sehr auch die Angehörigen sich selbst als Opfer der Repression verstanden: »Es sind bald 20 Monate, dass er verhaftet wurde, und wir haben keine Nachricht über seinen Aufenthaltsort, ich habe neun Habeas Corpus angefertigt, ich habe alle möglichen Verfahren angestrengt, um ihn ausfindig zu machen, sie hatten alle ein negatives Ergebnis. […] Für die Angehörigen Monate über Monate in Ungewissheit zu verbringen, ohne etwas über das verschwundene Kind zu wissen, bedeutet eine unerträgliche Folter.«4
Die bis zum Zeitpunkt der illegalen Verhaftung gültige Weltdeutung hatte mit dem Verschwinden eines Angehörigen einen nicht mehr ohne weiteres zu schließenden Riss bekommen, der, wie Feierstein darlegt, eine erschütternde und zutiefst beängstigende Ungewissheit für die Angehörigen bedeutete.5 Das, was bis dato als ›normal‹ und gültig erachtet wurde, galt nicht mehr. Weder konnte durch rechtsstaatliche Verfahren der Aufenthaltsort ermittelt werden, noch gab es Gewissheit über das Schicksal der Verschwundenen. Mit zunehmender Information und fortschreitender Zeit wurde der Verdacht stärker, dass die verschwundenen Menschen gefoltert und ermordet worden waren, konnte aber nur ganz selten wirklich bestätigt werden, so dass die Angehörigen weiter mit Ungewissheit zu kämpfen hatten.6 In der Spätphase der Diktatur wurde von 4 BAN, cartas de detenidos-desaparecidos, Berta Z. de Brawerman, 25. März 1978, »Van para 20 meses que fue detenido y no tenemos ninguna noticia sobre su paradero, he hecho 9 Habeas Corpus, he realizado todos los trámites correspondientes para localizarlo: que han dado resultato negativo. Alfredo Oscar es nuestro único hijo. Para los familiares, pasar meses y meses en la insertidumbre [sic], sin saber nada del hijo desaparecido, resulta una tortura intolerable.«. 5 Vgl. Feierstein 2016, S. 102. 6 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Ilda N. Chacón de Nusbaum an Jaime de Nevares, 21. Oktober 1977, »Cada día acepto más la idea que la mataron, pero por Dios que me lo digan, sino la buscaré siempre. Ella era lo mas hermoso que me habrá dado Dios, por que ahora esto?« (»Jeden Tag akzeptiere ich mehr und mehr die Idee, dass sie sie getötet haben, aber dass sie mir es sagen, um Gottes Willen, denn wenn nicht, werde ich sie für immer suchen. Sie war das Schönste, was Gott mir gegeben hat, warum jetzt das?«).
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Enttäuschte Erwartungen, neue Allianzen
der Junta der Tod der desaparecidos als Tatsache dargestellt, die Verantwortung für Verschleppung, Folter und Ermordung bestritten die Militärmachthaber jedoch weiterhin. Die Toten blieben – und bleiben oft bis zum heutigen Tag – verschwunden, es gab und gibt keine Möglichkeit sie zu begraben oder zu betrauern, wie es in der christlichen und jüdischen Kultur üblich ist. Die Tatsache des Verschwindens konnte zunächst nicht in existierende Narrative integriert werden und führte zu einem emotional wie kognitiv prekären Zustand der Unsicherheit und Angst, die sich mit dem Schmerz des Verlusts, aber auch der Hoffnung auf das lebendige Erscheinen der verschwundenen Angehörigen mischte. Die Hoffnung wurde in der Suche wachgehalten, aber immer wieder zutiefst enttäuscht, wenn ein weiterer Versuch gescheitert war, etwas in Erfahrung zu bringen oder eine Legitimierung des eigenen Anliegens zu erwirken. Auch wenn die Reaktionen auf die Suche der Angehörigen seitens der angefragten Institutionen und Personen nicht völlig gleichförmig war, so überwog doch die Erfahrung von Desinteresse, Ablehnung oder gar Feindseligkeit, so dass Gefühle der Schutzlosigkeit, Verlassenheit und der Ohnmacht noch verstärkt wurden. Die Mutter eines desaparecido schrieb beispielsweise: »[…] ich fühle mich absolut schutzlos; es scheint, als sei ich allein auf dieser Welt, ohne Hilfe, mit Irreführungen, mit Versprechungen, die sich nicht erfüllen.«7 Und der Vater eines Verschwundenen berichtete, dass seine ganze Familie von der rechtlichen Schutzlosigkeit und dem Fehlen gesicherten Wissens über den verschwundenen Angehörigen betroffen war: »Trotz all der juristischen und außerjuristischen Anstrengungen vor richterlichen Autoritäten, staatlichen, kirchlichen, Einsatzkommandos, berufsständischen Vertretungen und anderen Organisationen haben wir bis zum heutigen Datum nicht den geringsten Hinweis über seinen Aufenthaltsort. Es ist nicht notwendig, dass ich Ihnen das Gefühl der Ohnmacht, der Schutzlosigkeit, der Ungewissheit und der Verzweiflung angesichts dieses Zustands ›sin jure‹ darlege, der zerstört, was er vorgibt zu schützen: die Familie.«8 7 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Gloria Fernande de Nolasco an Jaime de Nevares, 30. März 1978, »[…] me siento completamente desamparada; parece que estoy sola en este mundo, sin ayuda, con engaños, con promesas que no se cumplen.«. 8 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, José Rogelio Machado an Jaime de Nevares, 16. April 1977, »A pesar de todas las diligencias legales y extralegales ante autoridades judiciales, gubernamentales, eclesiásticas, Comando conjunto, asociaciones profesionales y otros organismos, no tenemos hasta la fecha el menor indicio sobre sus paraderos. No es necesario que le describa la sensación de impotencia, de desamparo, de incertidumbre, desesperación ante este estado ›sin jure‹ que destruye lo que dice defender: la familia.« Ein anderes Beispiel ist der Brief der Mutter eines Verschwundenen: »A cabo de tanto tiempo, de recurrir a personas e instituciones me encuentro hoy desolada. Viendo que nada puedo hacer, sintiéndome impotente ante esta desgracia, observando cómo el núcleo familiar se disgrega ante tremenda incertidumbre […]« (»Nach so langer Zeit, nachdem ich mich an so viele Personen und Institutionen gewandt habe, bin ich heute verzweifelt. Ich sehe, dass ich nichts tun kann,
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Der Verfasser dieses Briefs kritisiert mit seinen Worten die Dysfunktionalität des Staats, der seine Schutzfunktionen nicht erfüllt hat. Allerdings formuliert der Schreiber seine Kritik hier noch aus der Perspektive, die eher einen Fehler im System nahelegt, als eine systematische und gewaltsame Repression durch Akteur*innen des Militärregimes. Die Erkenntnis der Systematik der Menschenrechtsverletzungen und die Täterschaft der staatlichen Sicherheitskräfte musste in der Zeit nach dem Putsch erst mühsam erarbeitet werden. Ein mehr oder weniger diffuses Wissen darum, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte, lässt sich in den Briefen der Angehörigen aber durchaus erkennen. Mit der Zeit und dem zunehmenden Informationsstand über die Repression sowie der Organisierung der Angehörigen wurde dies zur immer deutlicheren Gewissheit. Die Diözese Neuquén trug zur Erkenntnis der Systematik der Menschenrechtsverletzungen ebenso bei wie die Menschenrechtsorganisationen auf lokaler Ebene und in Buenos Aires. Mit der minutiösen Dokumentation der Fälle leisteten die Menschenrechtsorganisationen, vor allem die Asamblea Permanente por los Derechos Humanos (APDH) in Buenos Aires, einen wesentlichen Beitrag zur Sammlung und Legitimierung des Wissens über die systematische Repression und konnten es später anderen wichtigen Akteuren wie der Interamerikanischen Menschenrechtsorganisation zur Verfügung stellen.9 Durch die Mitarbeit in der Menschenrechtsorganisation in Buenos Aires hatten Akteur*innen aus der Diözese Neuquén früh einen umfassenden Kenntnisstand bezüglich der Menschenrechtsverbrechen, konnten ihre Systematik artikulieren und so anderen Betroffenen dieses Wissen zugänglich machen. Ein Brief des Menschenrechtsaktivisten Emilio Mignone an den Bischof Nevares zeigt, dass spätestens etwa drei Monate nach dem Putsch diese Erkenntnis klar formuliert wurde: »Wie Sie sehr richtig gesagt haben, haben wir nicht mehr einen Einzelfall vor uns, sondern ein System, das keine Rücksicht auf die elementaren Menschenrechte nimmt.«10 Zugleich macht dieses Zitat deutlich, dass auch in diesem Kontext das Phänomen der Repression und des Verschwindenlassens in der Semantik der Menschenrechte artikuliert wurde.11 Der Bischof Nevares gab die Informationen über desaparecidos, die ihn per Brief in Neuquén erreichten, an die APDH in Buenos Aires weiter und forderte die betroffenen Angehörigen auf, ich fühle mich ohnmächtig angesichts dieses Unheils, ich beobachte wie die Familie sich auflöst angesichts dieser fürchterlichen Ungewissheit.«), BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Catalina C. de Marin an Jaime de Nevares, [o. Datum, vermutlich 1977]. 9 Siehe dazu Kapitel 3. 10 BAN, cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Emilio Fermín Mignone an Jaime de Nevares, 10. Juni 1976, »Como usted bien dice, nos encontramos no ya frente a un caso aislado sino con un sistema que no tiene en cuenta los derechos humanos más elementales.«. 11 Siehe dazu auch Kapitel 2.
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sich auch selbst an die APDH zu wenden und Habeas-Corpus-Anträge an die zuständigen Gerichte zu stellen.12 Beigefügt war den Antwortschreiben ein Fragebogen, der bei der APDH in Buenos Aires abgegeben werden sollte oder von Nevares weitergeleitet wurde.13 Mit seinen Antworten bestätigte er den Angehörigen zudem, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte, sondern es eine große Zahl ähnlicher Fälle gab.14 Eine große kognitive Inkongruenz – und damit eine besondere Schwierigkeit im Hinblick auf die Schaffung einer kohärenten Deutung – entstand dadurch, dass die vorhandenen Informationssplitter über die Beteiligung von Polizei und Militär an den illegalen Verhaftungen nicht mit der oftmals bei der Suche erhaltenen Antwort übereinstimmten, weder die Polizei noch das Militär wisse etwas über die Verhaftung oder den Verbleib der Verschwundenen. Die Eltern eines Verschwundenen artikulierten dementsprechend ihre Vermutungen über die Zusammenhänge der Ereignisse und die bruchstückhaften Informationen im Konjunktiv als Versuch einer Deutung: »[…] unser Sohn, Antonio Hernán Muñoz, 24 Jahre alt, […] wurde von uniformiertem Personal des Militärs und der Polizei am 28. September dieses Jahres in der Nähe der Plaza Italia verhaftet, wie verschiedene Quellen übereinstimmend berichten. Einen Monat nach diesem Ereignis haben wir nicht die geringste Nachricht über seinen Aufenthaltsort, seinen Gesundheitszustand, ob er lebendig ist oder tot, obwohl wir eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen haben, die wir weiter unten aufzählen und die alle ein negatives Ergebnis hatten. Es ist, als ob die juristischen Wege zunichte gemacht worden sind durch Fahrlässigkeit und Unverständnis, so als ob die offiziellen Institutionen und ihre Beamten sich einen Maulkorb angelegt hätten und einen diabolischen Plan zur Desinformation ausführten, um uns einer Ungewissheit auszusetzen, die unsere Moral untergräbt und darauf abzielt, uns zu beschwichtigen.«15 12 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Jaime de Nevares an María C. Pereyra de Cordero, 7. Februar 1977; BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Angela Paolini de Boitano an Jaime de Nevares, 30. April 1977; BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Jaime de Nevares an Félix Cañueto, 6. September 1977. 13 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Angel Abad an Jaime de Nevares, 14. November 1977. 14 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desparecidos, Jaime de Nevares an Leonarda A. de Gerván, 18. August 1977. 15 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Julio Ánibal Muñoz und Angela de Mocciola Muñoz an Jaime de Nevares, 29. Oktober 1976, »[…] nuestro hijo, Antonio Hernán Muñoz, de 24 años de edad, estudiante en la facultad de derecho y Ciencias Sociales de la Universidad de Buenos Aires y que trabajaba con nosotros, fue detenidos por personal uniformado Militar y de la Policía Federal, el día 28 de Septiembre de corriente año, en las cercanías de la Plaza Italia, según coinciden fuentes diversas. A un mes de ocurrido este hecho, no tenemos de él la mas mínima noticia de su paradero, estado de salud, o si está vivo o muerto, no obstante montar una larga serie de diligencias que mas abajo enumeramos y con resultado negativo en todas ellas. Es como si los caminos legales, hubieran sido allanados por la desidia y la incomprensión, como si las instituciones oficiales y sus funcionarios, se
Die Rolle der Diözese Neuquén für die Angehörigen
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Auch in diesem Brief wurde das Problem des Nicht-Wissens über die existenzielle Frage von Leben und Tod artikuliert, die in vielen Briefen genauso oder ganz ähnlich benannt wird: ›si está vivo o muerto‹ (›ob er lebendig ist oder tot‹). Was im Brief dieser Eltern noch als Vermutung bezüglich der Täterschaft von Militär und Polizei und der Strategie der Leugnung des Wissens oder gar der Verantwortung formuliert wurde, benannte die Mutter eines Verschwundenen viel deutlicher als Leugnung des Wissens um die Repressionsmaßnahmen, beziehungsweise die Weigerung, dieses Wissen preiszugeben. Sie schrieb bezüglich ihres Sohns, der einen Monat zuvor verhaftet worden und seitdem verschwunden war: »Ich habe Ministerien, Kommissariate, Krankenhäuser aufgesucht, ich weiß nicht, ob er lebendig ist oder tot, die staatlichen Behörden, das Militär, die Bundespolizei leugnen, seinen Aufenthaltsort zu kennen, obwohl das Motiv seiner Verhaftung durch eine Patrouille (Explosion im Zentrum) in einigen lokalen Zeitungen veröffentlicht wurde.«16
Der Verdacht, dass Polizei und Militär für das Verschwindenlassen verantwortlich waren, bestand also schon im Jahr des Putschs, es dauerte allerdings noch lange, bis er als kollektive Erkenntnis öffentlich formuliert wurde. Die Auseinandersetzung innerhalb der Menschenrechtsbewegung um die Frage, inwiefern die Täterschaft der Militärdiktatur klarer benannt und kritisiert werden sollte, führte 1979 zur Gründung der Menschenrechtsorganisation CELS, die eine anklagende Haltung gegenüber der Militärjunta favorisierte. In der Zwischenzeit wurde auf die Täterschaft der staatlichen Sicherheitskräfte im Konjunktiv verwiesen.
8.2
Die Rolle der Diözese Neuquén für die Angehörigen
Auch die Priester und der Bischof der Diözese Neuquén präsentierten die Verantwortung von Polizei und Militär als eine mögliche Deutung, jedoch nicht als Gewissheit. So schrieben sie 1977 in einem öffentlichen Brief an den General Sexton, dass sie über das Verschwinden von Menschen und die kürzlichen Verhaftungen in der Provinz Neuquén besorgt seien. Sollte das Verschwinden die
hubiesen amordazado y llevaran a cabo un diabólico plan de desinformación, para convocarnos a una incertidumbre que mina nuestra moral y tiende a apaciguarnos.«. 16 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Sara A. Trice de Hlavnicka an Jaime de Nevares, [o. Datum, vermutlich Dezember 1976]), »He recorrido ministerios, comisarías, hospitales, no se si está vivo o muerto, las dependencias gubernamentales, el ejército, la policía federal niegan el conocimiento de su paradero, pese a que el motivo que produjo su detención por un patrullero (estallido de un petardo en zona céntrica) fue publicado en algunos diarios locales.«.
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Enttäuschte Erwartungen, neue Allianzen
Folge einer Verhaftung durch »legale Kräfte«17 sein, so überschreite die teils schon länger als ein Jahr währende Unkenntnis über den Aufenthaltsort der betreffenden Personen jegliche legitime Sicherheitsmaßnahme. Sollte das Verschwinden hingegen Folge einer Entführung sein, so sei die mangelnde Aufklärung eines solch schweren Verbrechens besorgniserregend.18 Auch wenn die Benennung der Täterschaft als eine denkbare aber nicht erwiesene Möglichkeit erfolgte – was in diesem Fall auch strategisch begründet sein konnte – wurde auf die Verantwortung der Militärmachthaber im Zusammenhang mit dem Phänomen der desaparecidos hingewiesen und das Funktionieren des Rechtsstaats eingefordert. In anderen Dokumenten beriefen sich die Priester und der Bischof der Diözese explizit auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die Idee der Menschenrechte, die sie als wesentliche Grundlage des Christentums verstanden. Sie lieferten so den betroffenen Angehörigen einen Deutungsrahmen und trugen dazu bei, die zunächst kaum artikulierbare individuelle Erfahrung als kollektives Phänomen zu benennen und öffentlich anzuklagen. Dies war umso bedeutsamer in Anbetracht der Tatsache, dass das Sprechen der Angehörigen in der ersten Phase nach dem Putsch in der Regel nicht als wahr anerkannt wurde und gewissermaßen außerhalb der Grenzen des Sagbaren lag. So wurden die Madres de Plaza de Mayo, die seit April 1977 jeden Donnerstag ihre Protestrunden auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungspalast in Buenos Aires drehten, als verrückt bezeichnet.19 Zudem proklamierte die Militärjunta, katholische Werte zu vertreten. Von der Institution Kirche, auf nationalstaatlicher Ebene repräsentiert durch den Episkopat, wurden die Angehörigen weder aktiv vor politischer Verfolgung geschützt noch in dem Maße repräsentiert oder in religiöse Praktiken integriert, wie sie es forderten. Insgesamt hatten die Angehörigen der Verschwundenen in der stark eingeschränkten Öffentlichkeit unter der Militärdiktatur wie auch in der Institution Kirche eine marginalisierte Position. Deshalb war die Legitimierung ihrer Anliegen durch die Diözese Neuquén von besonderer Bedeutung, sowohl für die einzelnen Angehörigen als auch für die Menschenrechtsbewegung. Die Menschenrechte wurden von den Akteure*innen des Bistums Neuquén als essentieller Bestandteil des Christentums definiert und in die institutionelle Praxis der lokalen Teilkirche integriert. Auch ohne an der konkreten Praxis vor 17 Otra carta [Nevares und Presbyterium an General Sexton, 27. Juli 1977], in: Nevares 1990, S. 118–119. 18 Ebd. 19 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Carmen Lorefice de Aggio an Jaime de Nevares, 23. Oktober 1977, »Nos llaman las locas de la Plaza, porque todos los jueves aunque llueva a cantaros damos la vuelta alrededor de Plaza de Mayo, en silencio.« (»Sie nennen uns die Verrückten des Platzes, weil wir jeden Donnerstag, auch wenn es in Strömen regnet, die Runde um die Plaza de Mayo drehen, schweigend.«).
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Ort teilzuhaben, konnten Menschen, die nicht oder nicht vollständig mit der katholischen Kirche am Heimatort oder den offiziellen Positionen des Episkopats übereinstimmten, durch den Kontakt mit Vertretern dieser Diözese ein Zugehörigkeitsgefühl zum Bistum Neuquén entwickeln, obwohl sie kirchenrechtlich einer anderen Diözese angehörten. Auch wenn es Konflikte gab, die die Zugehörigkeit aufgrund mangelnder Repräsentation und Inklusion in die institutionelle Praxis der Kirche in Frage stellten, konnte sich durch die emotionale Nähe zur Diözese Neuquén auch das Verhältnis zur katholischen Kirche positiv verändern, so dass eine neuerliche Identifikation mit der gesamten Institution stattfand. Wie bei den dauerhaften oder tatsächlichen Ortswechseln fand also eine Transposition bezogen auf die Kirchenzugehörigkeit statt, jedoch ohne dass der Heimatort verlassen wurde. Es handelt sich deshalb um eine imaginäre Transposition. In diesem Prozess der Verlagerung und qualitativen Veränderung der institutionellen Zugehörigkeit entstand eine vorgestellte Gemeinschaft auf Distanz. Sie bildete einen Gegenentwurf zur offiziellen Position des Episkopats und der von der Junta verbreiteten exkludierenden Vorstellung einer ›katholischen Nation‹, die sich gegen vermeintlich ›subversive Kräfte‹ verteidigen musste. Der Marginalisierung wurde so der Anspruch entgegengesetzt, ebenfalls Teil der vorgestellten nationalen und gleichzeitig katholischen Gemeinschaft zu sein. Die mit der Gemeinschaftskonstruktion einhergehenden Vorstellungen von Katholizismus und Kirche waren Teil des Kampfs um die legitime Autorität auf dem religiösen Feld sowie um die Deutungsmacht darüber, was christlich und katholisch sein sollte. Die Idee einer christlichen Gemeinschaft, organisiert in der Institution Kirche, zu deren essentiellen Werten die Verteidigung der Menschenrechte gehörte, forderte den National-Katholizismus der Militärjunta heraus, ebenso wie diejenigen argentinischen Bischöfe, die ihn offen oder stillschweigend unterstützten. Die vielen Briefe, die Bischof Nevares aus weiten Teilen Argentiniens erreichten, sind Zeugnis für die Ausstrahlung der Diözese Neuquén über die Grenzen ihres Jurisdiktionsbereichs hinaus.20 Obwohl in den ersten besonders repressiven Jahren der Militärdiktatur das Wissen über die Haltung der Akteur*innen der Diözese Neuquén nicht frei zirkulieren konnte und noch nicht so bekannt war wie in der Spätphase der Diktatur, erfuhren die Menschen sowohl 20 Siehe beispielsweise BAN, Briefe, Comunidad Cristiana de San Cayetano an Jaime de Nevares, 21. August 1977, »La comunidad Cristiana de San Caetano le hace llegar su total apoyo por tan valientes declaraciones referente a la Violación de los Derechos Humanos, rogando a Dios nuestro Señor, para que se unan otras voces del Episcopado para la verdadera prédica del Evangelio.« (»Die christliche Gemeinschaft von San Caetano sendet Ihnen ihre vollste Unterstützung für die so mutigen Äußerungen bezüglich der Verletzung der Menschenrechte, Gott unseren Herrn bittend, dass sich andere Stimmen des Episkopats anschießen mögen in der wahrhaften Verkündung des Evangeliums.«).
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durch Presseartikel als auch durch persönliche Netzwerke vom Engagement der Diözese. Im repressiven Klima der Diktatur, in dem Angst vor Repression und Isolation durch Misstrauen zum Instrument sozialer Kontrolle wurde, war es besonders wichtig, Vertrauen zu schaffen, um Vergemeinschaftung zu ermöglichen. Eine der Mütter sprach dies an, indem sie darauf hinwies, dass sie im Wissen um das Engagement des Bischofs für die Bedürftigen und die Schutzlosen schreibe, um ihm über das Verschwinden ihres Sohns zu berichten. »Wenn ich an eine andere Person schreiben würde, hätte ich Zweifel, weil ich denken würde, dass sie an mir zweifeln würden [sic], aber bei Ihnen bin ich mir sicher, dass Sie meinen Worten Glauben schenken.«21 Ihre Worte zeigen erneut die prekäre und schwierige Lage, keine Anerkennung und Legitimierung des eigenen Erlebens und des bruchstückhaften Wissens um das Verschwindenlassen erfahren zu haben. Deswegen spielte es eine wesentliche Rolle, dass das Wissen um die Positionierungen der Diözese Neuquén zumindest fragmentiert und punktuell auch außerhalb der Diözese verfügbar war. Die Angehörigen der desaparecidos oder der politischen Gefangenen konnten so mit dem Bischof Nevares in Kontakt treten und von ihm eine persönliche, in der Regel handschriftliche, Antwort erhalten.22 Da Nevares als Bischof eine strukturell bedeutende Rolle und eine 21 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Celia O. de Hernández an Jaime de Nevares, 4. Mai 1977, »Monseñor conociendo sus tareas por los necesitados y desamparados escribo a Ud. para hacerle conocer mi problema. […] Quizás si le escribiera a otra persona tendría duda, ya que pensaría que dudarían [sic] de mi pero de Ud. estoy segura que cree en mis palabras.« 22 Diese Mutter eines Verschwundenen hatte aus der Zeitung von der Haltung Nevares’ in der Menschenrechtsfrage erfahren: »[…] yo soy una de las tantas madres que sufren la agonía de no saber la suerte que ha corrido uno de sus hijos. Por eso recuerdo a Ud. Ya que en los diarios, algunos, he leído palabras suyas, pidiendo se respeten los Derechos Humanos.« (»[…] ich bin eine der unzähligen Mütter, die unter der Agonie leiden, nicht zu wissen, welches Schicksal eines ihrer Kinder erlitten hat. Deswegen erinnere ich mich an Sie. Denn in den Zeitungen, in einigen, habe ich Ihre Worte gelesen, um den Respekt für die Menschenrechte bittend.«), BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Jorgelina de Irigoyen Miguens an Jaime de Nevares, 1. Juni 1977. Andere Angehörige berichten, dass sie über ihr soziales Netzwerk von der Möglichkeit erfuhren, sich an Jaime de Nevares zu wenden: »En medio de mi desesperación personas amigas me sugirieron su nombre como una esperanza, se que su bondad y sentido de justicia le hacen contemplar estos terribles problemas […]« (»Inmitten meiner Verzweiflung legten mir befreundete Personen Ihren Namen nahe wie eine Hoffnung, ich weiß, dass Ihre Güte und Ihr Gerechtigkeitssinn Sie diese schrecklichen Probleme bedenken lassen.«), BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Sara A. Trice de Hlavnicka an Jaime de Nevares, [o. Datum, vermutlich Dezember 1976]; BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Armado Paciaroni an Jaime de Nevares, 13. September 1976. Laut dem langjährigen Sekretär des Bischofs beantworte Nevares die Briefe handschriftlich. Irgendwann waren es so viele Briefe, dass er begann, einen Standardbrief mit Informationen für die Angehörigen aufzusetzen, der dann vervielfältigt wurde. Nevares ergänzte diesen aber zusätzlich handschriftlich. San Sebastián, 1997, S. 234–235. Einen handschriftlichen Brief zu erhalten schätzten die Angehörigen in hohem Maße, da dieser Form der Kommunikation eine besondere Nähe zugeschrieben wurde. »Le agradezco con todo mi
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besonders legitimierte Sprecherposition einnahm, hatte seine Antwort einen hohen symbolischen Wert. Er bot die so sehr benötigte Anerkennung und Bestätigung der eigenen Erfahrungen. Zudem lieferte er in seiner Funktion als Bischof, und damit als Repräsentant der Kirche, eine Autorisierung bestimmter Haltungen als christlich, darunter insbesondere die Verteidigung der Menschenrechte.23 Der Enthusiasmus und die Dankbarkeit in Reaktion auf einen Antwortbrief des Bischofs zeigen, wie in der Interaktion eine emotionale Nähe entstand, die eine – mal mehr, mal weniger explizit artikulierte – Verschiebung in der Zugehörigkeit zur Kirche bewirkte. Sie konnte über die unmittelbaren Empfänger*innen des Briefes hinausreichen, denn ein Brief des Bischofs wurde auch dem sozialen Umfeld zugänglich gemacht: »[…] allen die zu uns nach Hause kommen, um uns Mut zu machen, geben wir Ihren Brief zu lesen und sie teilen mit uns die Freude, ihn empfangen zu haben.«24 Auf einer ganz basalen Ebene zeigt corazón su tan pronta respuesta. Me ha llenado de esperanzas. Indudablemente una carta manuscrita tiene una calidez que no puede encontrarse en una mimeografiada.« (»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre so schnelle Antwort. Sie hat mich mit Hoffnung erfüllt. Unzweifelhaft hat ein handschriftlicher Brief eine Wärme, die man in einem maschinengeschriebenen nicht finden kann.«), BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Jorgelina de Irigoyen Miguens an Jaime de Nevares, 12. April 1977. Ähnlich äußerte sich der Vater eines Verschwundenen: »Me siento en la obligación moral de escribir estas líneas de agradecimiento por el apoyo que he recibido junto con toda la familia de parte suya. Palabras de aliento escritos por Ud. mismo, que reflejan su interes por los problemas que atravesamos muchas familias argentinas« (»Ich fühle mich moralisch verpflichtet, diese Zeilen des Dankes zu schreiben angesichts der Unterstützung, die ich mit meiner ganzen Familie von Ihnen erfahren habe. Worte der Ermutigung von Ihnen selbst geschrieben, die Ihr Interesse an den Problemen zeigen, die viele von uns argentinischen Familien haben.«), BAN, cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Hugo Thompson an Jaime de Nevares, 15. November 1977. 23 BAN, Briefe, [o. Vorname] Ortega an Jaime de Nevares, 30. November 1977, »Para mucha gente que conozco, católica o no, su voz y su conducta son un referente profundo, tal vez el más profundo que tenemos aquellos argentinos que buscamos en el Evangelio un modo de vida. Personalmente quiero decirle que en circunstancias de temor o de confusión me tranquiliza saber que Ud. existía [sic]. Es decir que, más allá de sentirme representado, su voz me daba paz. De alguna manera, necesitaba que un obispo reafirmara mis opiniones y me dijera que no me había equivocado en ciertas opciones que siempre creí eran cristianas.« (»Für viele Leute, die ich kenne, katholisch oder nicht, sind Ihre Stimme und Ihre Haltung eine profunde Referenz, vielleicht die profundeste, die wir Argentinier haben, die im Evangelium eine Art zu leben suchen. Persönlich möchte ich Ihnen sagen, dass es mich in Umständen der Angst oder der Verwirrung beruhigte, zu wissen, dass es Sie gibt. Das heißt, über das Gefühl repräsentiert zu werden hinaus, gab mir Ihre Stimme Frieden. Auf eine Gewisse Art und Weise brauchte ich es, dass ein Bischof meine Meinungen bestätigte und mir sagte, dass ich mich nicht geirrt habe in bestimmten Optionen, von denen ich immer geglaubt habe, sie seien christlich.«). 24 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Fernando Musso an Jaime de Nevares, 19. April 1977, »[…] a todos los que llegan a casa a estimularnos hacemos leer su carta y comparten con nosotros la alegría de haberla recibido.«.
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sich das Entstehen emotionaler Nähe bereits im Wandel der Anrede, die nach einem anfänglichen ›Euer Hochwürden‹ schon im folgenden Brief zu einem ›Lieber Vater‹ oder ›unser lieber Bischof‹ werden konnte. So schrieben zwei Mütter von desaparecidos aus Corrientes im Norden Argentiniens in Reaktion auf den Brief des Bischofs: »Es ist uns eine Freude, das Eintreffen Ihres aufmerksamen und herzlichen Briefs zu bestätigen. Ebenfalls eine Freude ist uns die Anrede ›lieber‹ Bischof, so wie Sie es mit uns machen, was wir schätzen und wofür wir dankbar sind, und wir stellen fest, dass wir, Gott sei Dank, in Ihnen eine menschliche Güte gefunden haben, die unser Drama versteht und bereit ist, uns zu helfen.«25
Die entstandene emotionale Nähe zeigt eine Verschiebung in der Zugehörigkeit an, sagt aber explizit nichts über das Verhältnis zur Heimatdiözese aus. Die unterschiedlich starken und unterschiedlich expliziten Ausdrucksformen von emotionaler Nähe können als Indikator dafür verstanden werden, dass ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Diözese Neuquén und damit die Transposition in unterschiedlichen Graden stattfinden konnte und auch in unterschiedlicher Intensität artikuliert wurde.26 Insgesamt ist für das Verständnis der Transposition von Zugehörigkeit bedeutsam, auch die nicht explizit artikulierten Aussagen der Briefe zu untersuchen, da diese impliziten Hinweise auf die Erfahrung der Exklusion und Ablehnung durch Funktionsträger der Amtskirche enthielten. Nur in seltenen Fällen sprachen die Verfasser*innen der Briefe explizit über negative Erfahrungen mit kirchlichen Würdenträgern. Daher werden die Briefe, die von den positiven Reaktionen und Wirkungen der Antworten des Bischofs von Neuquén sprechen, erst in ihrer ganzen Dimension verständlich, wenn man berücksichtigt, dass es sich um eine außergewöhnliche Beziehung handelte, die zwischen dem Bischof und den von Repression betroffenen Lai*innen etabliert wurde. Die große Emotionalität in den Reaktionen auf einen Brief des Bischofs belegt dies. Beispielsweise traf aus der nahe Buenos Aires gelegenen Diözese Lomas de Zamora folgender Brief ein:
25 BAN, Derechos Humanos, Vicente Ayala und Ma. E. Arrazzoni de Ayala an Jaime de Nevares, 19. September 1977, »Nos es muy grato acusar recibo de su muy atenta y afectuosa carta. También nos [es] muy grato el tratamiento de ›querido‹ Monseñor, como usted lo hace con nosotros, que valoramos, agradecemos y nos damos cuenta que gracias a Dios hemos encontrado en Ud., una calidad humana como para comprender nuestro drama, y estar dispuesto a ayudarnos.«. 26 Sicherlich kann eine Korrelation zwischen der Emphase des Ausdrucks und der Stärke des Zugehörigkeitsgefühls angenommen werden, diese jedoch sollte nicht als statisch verstanden werden, da zugleich von individuellen Varianzen in der Expressivität der Verfasser*innen ausgegangen werden muss.
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»Mit unermesslicher Freude haben wir Ihren allerherzlichsten Brief erhalten. Er war Balsam für unsere Herzen und es hat unseren Lebensmut gestärkt, zu wissen, dass wir in jenen Breitengraden einen Bruder haben, der uns seine Unterstützung bietet in diesen schweren Momenten, die wir durchleben, und die wir so sehr brauchen. Ihre Worte und der Ansporn derselben, weiter zu kämpfen, immer mit dem Glauben in Christus, ist uns stets gegenwärtig […]. Unser sehr geliebter und geschätzter Bruder in Christus unserem Herrn: Monseñor J. Francisco de Nevares, empfange unsere Dankbarkeit für alles, was Sie für uns tun, besonders Ihre Gebete.«27
Es ist anzunehmen, dass der Schreiber des Briefs und seine Familie vor Ort keine solche Unterstützung hatten finden können, denn sonst wäre es für sie weder besonders dringlich gewesen, sie an anderer Stelle zu suchen, noch hätten sie den Brief und die Unterstützung Nevares’ als außergewöhnlich empfunden. Auch die psychische Stabilisierungswirkung, die diesem einen Brief des Bischofs zugeschrieben wurde, weist darauf hin. Während hier die Diskrepanz zwischen anderen Vertretern der katholischen Kirche und dem Bischof Nevares nur implizit präsent ist, wurde sie von einigen, wenn auch wenigen, anderen Opfern der Militärdiktatur ganz deutlich ausgesprochen, so wie beispielsweise von dem Bruder eines desaparecido, der die diplomatische Zurückhaltung der Amtsträger kritisierte. Seinen Aussagen zufolge begriffen die betreffenden Priester und Bischöfe die Hilfe für die Angehörigen der Verschwundenen als ›Subversion‹ und perpetuierten dadurch den Diskurs der Junta.28 Der Dank und die Freude über eine Antwort von Nevares mischten sich teilweise mit normativen Vorstellungen über die politische Rolle der Kirche unter der Militärdiktatur und Erwartungen an die institutionelle Praxis der katholischen Kirche im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen. Oftmals äußerten sich diese Ansichten in Abgrenzung zu den von der Diözese Neuquén und ihrem Bischof vertretenen Positionen und ihrem Engagement. Bereits die Tatsache, dass sich die Angehörigen der desaparecidos oder der politischen Gefangenen an 27 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Fernando Musso an Jaime de Nevares, 19. 04. 1977, »Con inmensa alegría hemos recibido su cordialísima carta. Cayó como el bálsamo en nuestros corazones y nos levantó el ánimo saber que en esas latitudes tenemos un hermano que nos brinda su apoyo en estos momentos difíciles que estamos pasando y que tanto lo necesitamos. Sus palabras y el estímulo de las mismas a seguir luchando poniendo siempre nuestra fe en Cristo Nuestro Señor las tenemos siempre presentes […]. Nuestro muy querido y estimado hermano en Cristo Nuestro Señor: Monseñor J. Francisco de Nevares, reciba el reconocimiento y la gratitud por todo lo que esta haciendo por nosotros en especial sus oraciones.«. 28 BAN, Briefe, Remo Berardo an Jaime de Nevares, 15. April 1977, »También no faltaron sacerdotes y Obispos que guardaron respetuosa diplomacia […], ya que trabajar unidos a los familiares de los desaparecidos es subversión, y todo esto a costa del dolor de los perseguidos.« (»Es mangelte auch nicht an Priestern und Bischöfen, die eine respektvolle Diplomatie wahrten […], da mit den Angehörigen der Verschwundenen zu arbeiten Subversion ist und das alles auf Kosten des Schmerzes der Verfolgten.«).
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den Bischof Nevares als Vertreter der Institution Kirche wandten, macht deutlich, dass die katholische Kirche und ihre Repräsentanten generell als bedeutende Akteure in der Menschenrechtsfrage wahrgenommen wurden. Davon zeugen auch die Hinweise auf Kontakte und Korrespondenzen mit anderen kirchlichen Würdenträgern.29 In den Aufzählungen der unternommenen Schritte finden sich immer wieder auch Anfragen an Bischöfe oder den Nuntius, oftmals mit dem Vermerk ›resultado negativo‹30, manchmal aber auch mit Hinweisen auf eine Antwort oder dem kurzen Vermerk, keine Antwort erhalten zu haben. Auch wenn die Briefe an Nevares insgesamt belegen, dass die Erfahrungen mit der katholischen Kirche generell nicht positiv waren, soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige wenige Hinweise auf freundliche Reaktionen und Hilfsangebote von Funktionsträgern der katholischen Kirche im Konvolut der Briefe aus dem Bistumsarchiv Neuquén überliefert wurden.31 Insgesamt gab es eine starke Erwartungshaltung gegenüber der Institution Kirche, da ihr eine große Handlungsmacht zugeschrieben wurde. Immer wieder adressierten die Opfer der Repression die katholische Kirche als einzigen Akteur, der angesichts der Zerstörung der traditionellen politischen Artikulationskanäle und des Rechtsstaats noch helfen könne. In den Augen der Betroffenen wurde die Kirche so zur ›einzigen Hoffnung‹ in einer als ausweglos empfundenen Situation. Die Handlungsmacht der Kirche wurde unter anderem in der großen Bedeutung des Katholizismus in Argentinien und dem Versuch der Junta, sich christlich zu legitimieren, gesehen. So verwies die Mutter einer Verschwundenen auf die Autorität der Bischöfe für das politische Feld, die aus der Legitimierungsstrategie der Junta resultierte: »Ich schreibe Ihnen, der Sie Hirte der Kirche sind, damit Sie meine Tochter verteidigen, denn weder die Polizei, noch die Richter, noch die Streitkräfte, noch die Zeitungen, noch die Zeitschriften, nehmen sich meines Falles an. Ich wende mich an die Kirche, weil sie meine letzte Hoffnung ist. Außerdem ist sie die am stärksten autorisierte Institution, um den derzeitigen Autoritäten, die sich als inbrünstige Christen bezeichnen, deutlich zu machen, dass das, was sie tun, eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit ist.«32
29 Vgl. Ruz 2016. 30 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Leonarda Aniceta Alderete de Gerván an Jaime de Nevares, 2. November 1977. ›Resultado negativo‹ war eine Anmerkung, die oftmals zu allen angefragten Personen und Institutionen hinzugefügt wurde. Meines Erachtens bedeutete sie nicht zwangsläufig eine ablehnende Haltung der jeweiligen kirchlichen Autoritäten, sondern wahrscheinlich eher, dass auch sie keine Informationen zum Aufenthaltsort der Verschwundenen geben konnten. 31 Beispielsweise wurden Mütter von Verschwundenen vom Bischof Marengo in der Diözese Azul empfangen, siehe BAN, Derechos humanos (4), Dina G. de Grutzby an Jaime de Nevares, 29. Juni 1977. 32 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Elvira R. Vda. de Zingaretti an Jaime de Nevares, 2. Mai 1977, »Le escribo a Ud., que es pastor de la Iglesia, para que defienda a mi
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In den Briefen finden sich immer wieder Versatzstücke, die die Angehörigen und die direkten Opfer der Repression als Katholiken ausweisen. Die Betroffenen schrieben sich so in die Gemeinschaft der Gläubigen ein und legitimierten in besonderer Weise ihren Anspruch gegenüber der Kirche, Gehör und aktive Hilfe zu finden. Stellenweise finden sich auch Vorstellungen über das Verhältnis der staatlichen Repression zum christlichen Glauben, wenn es beispielsweise heißt, dass das Vorgehen der Militärmachthaber unchristlich sei. Damit wurde die Legitimität der Repression in Zweifel gezogen. Die Semantik der Menschenrechte wurde ebenfalls bemüht, häufiger jedoch als auf die Menschenrechte rekurrierten die Verfasser*innen auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.33 So beriefen sich etliche Briefschreiber *innen auf die argentinische Verfassung und sprachen davon, ein Recht auf das Wissen über den Aufenthaltsort und das Schicksal der verschwundenen Person zu haben.34 Damit verbunden war auch die Vorstellung legitimer Verfahren. Davon ausgehend wurde nicht die Freilassung des Angehörigen gefordert, sondern im Falle einer Verhaftung lediglich, dass er einem rechtstaatlich abgesicherten – und damit in den Augen der Angehörigen des Verschwundenen legitimen – Verfahren unterzogen werden sollte.35
8.3
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Auch wenn die Idee, ein Rechtssubjekt zu sein und einklagbare, garantierte Rechte zu haben, nicht unbedingt in der Semantik der Menschenrechte artikuliert wurde, war sie unter den Angehörigen präsent. Da die Verteidigung der Menschenrechte, oft auch als Menschenwürde bezeichnet, von etlichen Briefeschreiber*innen als wesentlicher Bestandteil des katholischen Glaubens begriffen wurde, fiel aus dieser Perspektive der Institution Kirche die Aufgabe zu, jene hija, ya que ni la policía, ni los jueces, ni las Fuerzas Armadas, ni los diarios, ni las revistas, se molestan en atender mi causa. Acudo a la Iglesia, porque es mi última esperanza. Además porque es la Institución más autorizada para hacerle entender a las actuales autoridades, que se reconocen como fervorosos cristianos, que lo que hacen es tremenda injusticia.«. 33 BAN, Briefe, Daniel J. Cascallar an Jaime de Nevares, 9. November 1977. 34 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, María Corina Geobatista de Depino und Virginia del Carmen Catanesi de Barbero an Jaime de Nevares, 18. Januar 1978. 35 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Armado Paciaroni, 13. September 1976, »[…] no solicitamos su libertad (si es que está detenido), ya que no conocemos las causas que pudiera imputársele, pero como padres y Argentinos, con una Constitución maravillosa ›vigente‹, estimamos tener derechos de conocer el destino de nuestro hijo […].« (»[…] wir fordern nicht seine Freiheit (sollte er gefangen sein), da wir die Vorwürfe nicht kennen, die möglicherweise gegen ihn erhoben werden könnten, aber als Eltern und Argentinier, mit einer wunderbaren, ›in Kraft befindlichen‹ Verfassung, meinen wir, das Recht zu haben, den Aufenthaltsort unseres Kindes zu kennen […]«).
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Rechte zu verteidigen, weil es keinen funktionierenden Rechtsstaat gab. Indem der Kirche die Aufgabe zugeschrieben wurde, für die Einhaltung von Rechten zu sorgen, übertrug man ihr in der Vorstellung implizit eine staatliche Funktion. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Einschreiben in die Gemeinschaft der Gläubigen auch eine staatsbürgerliche Dimension, da – zumindest in der vorherrschenden Deutung der Zeit – nationalstaatliche Zugehörigkeit und Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Katholiken zusammenfielen. Auch wenn der Nexus von den Verfasser*innen nicht explizit artikuliert wurde, barg das katholische Zugehörigkeitspostulat in den Briefen der Angehörigen einen impliziten Anspruch auf Zugehörigkeit zur Nation und auf die Garantie der Rechte, die mit dem Status als argentinische*r Bürger*in – als legitime*r Angehörige*r der ›katholischen Nation‹ – verknüpft waren.36 In den Vorstellungen über die Rolle der Kirche wurde die Verteidigung der Menschenrechte verschiedentlich als moralischer Handlungsimperativ gesehen. Die Erwartungen an die Institution erfüllten sich jedoch nicht, obwohl das Dokument der Bischofskonferenz vom Mai 1977 oftmals positiv bewertet wurde und Hoffnungen bei den Angehörigen der Verschwundenen weckte. Viele waren allerdings der Ansicht, dass die Kirche damit ihren Handlungsspielraum bei weitem nicht ausgeschöpft hatte. Die Betroffenen äußerten offen Kritik, da eine kontinuierliche, eindeutige Positionierung und eine konsequente Praxis in Sachen Menschenrechte fehlte. Der folgende Brief der Mutter eines Verschwundenen beinhaltet sowohl normative Vorstellungen über die Kirche, ihre Relevanz in der argentinischen Gesellschaft, Kritik am Agieren der Institution und einzelner Bischöfe sowie religiöse Begründungsfiguren für den Einsatz zugunsten der desaparecidos. Sie schrieb im November 1977: »Es sind mittlerweile sechs Monate seit der Bischofskonferenz vergangen, die uns, die wir in dieser permanenten Folter leben, zum damaligen Zeitpunkt eine Hoffnung gegeben hat. Aber die Situation hat sich nicht verändert, und außer dieser Verlautbarung erhebt sich keine Stimme gegen diese Verletzung der Würde des Menschen. Die individuelle Antwort der Bischöfe war, dass sie nichts tun können. Aber die Kirche, als Institution, hat angemessene Organe mit der Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, aufgrund dessen, was sie in der argentinischen Gemeinschaft darstellt. Dies ist umso notwendiger, da es sich darum handelt, den Menschen als Kind Gottes zu verteidigen, weil es ihre Verantwortung in der Welt ist, Zeugnis von der Wahrheit zu geben. Es 36 So formulierte der Vater eines Verschwundenen: »Dios nos tiene que ayudar la Iglesia los representantes, porque todos somos cristianos y Argentinos, derecho a la vida y que nos digan donde está y que es lo que ha hecho, lo que hace es injusto y no humano.« (»Gott muss uns helfen, die Kirche die Vertreter, denn wir sind christlich und Argentinier, Recht auf Leben und dass sie uns sagen, wo er ist und was er getan hat, was er macht ist ungerecht und nicht menschlich.« [Anmerkung B.R.: Der Satzbau weist im Original einige Mängel auf, die weitgehend übernommen wurden, um die Originalaussage nicht über Gebühr zu interpretieren.]), BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos. Julián Levi Vital, [o. Datum].
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existiert eine schmerzliche Realität: die Verschwundenen erscheinen nicht wieder. Angesichts einer Tatsache, die so sehr dem christlichen Geist widerspricht, verwandelt sich jedes Schweigen, auch wenn es auf gesunden Absichten beruht, in Komplizenschaft.«37
Die Verfasserin spricht hier ihre Enttäuschungen über das Agieren der Institution sehr deutlich aus und artikuliert damit eine Erfahrung, die sie mit vielen Angehörigen der desaparecidos und der Repressionsopfer teilte. In anderen Briefen wurde ebenfalls die Enttäuschung mit den Worten ausgedrückt, von der Kirche verlassen oder allein gelassen worden zu sein.38 Diese Erfahrung der Nicht-Repräsentation, Exklusion und Marginalisierung durch Priester und Bischöfe wurde von den Verfasser*innen der Briefe an Bischof Nevares immer wieder in Gegensatz zu dessen Agieren gebracht. So schrieben die Eltern eines desaparecido: »Danke dafür, sich uns angeschlossen zu haben, dafür, uns Hoffnung gegeben zu haben und Vertrauen in Gott Vater und ihre Gebete versichert zu haben. Wir brauchten Sie und Sie kamen wie der Gute Hirte, uns zu weiden, just als wir uns fragten, wenn Gott ein Vater ist, warum fühlen wir uns dann so allein? Warum trösten und stärken uns seine Erwählten nicht mit ihrem Zeugnis und ihrem Wort?«39 37 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Susane V. Arario de Maratea an Jaime de Nevares, 17. November 1977, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, »Ya han pasado seis meses de la Conferencia Episcopal Argentina, que en su momento nos diera una esperanza a los que vivimos en esta permanente tortura. Pero la situación no ha cambiado, y salvo aquel pronunciamiento, ninguna voz se alza contra este atropello a la dignidad humana. La respuesta individual de los Obispos ha sido que no pueden hacer nada. Pero la Iglesia, como Institución, cuenta con organismos adecuados y con la posibilidad de hacerse oír, por lo que ella significa dentro de la comunidad argentina. Esto se hace más necesario cuando se trata de defender al hombre como hijo de Dios, como es su responsabilidad, por la misión que tiene en el mundo de dar testimonio de la verdad. Existe una dolorosa realidad: los desaparecidos no aparecen. Frente a un hecho tan contrario al espíritu cristiano, cualquier silencio, aún movido por sanos propósitos, se convierte en complicidad.«. 38 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Irma R. Sanja de Quiroga an Jaime de Nevares, 1. November 1978, »El pueblo de Dios que peregrina cargado de condenas no les interesa?«. 39 BAN, Briefe, [o. Name] an Jaime de Nevares, 12. Februar 1978, »Gracias por haberse unido a nosotros, por habernos infundido esperanza y confianza en Tata Dios y asegurado sus oraciones. Estábamos necesitándolo y Ud. llegó como el Buen Pastor a apacentarnos, justo cuando nos preguntábamos, si Dios es Padre, ¿porqué nos sentimos tan solos? ¿Porqué sus elegidos no nos consuelan y fortalecen con su testimonio y su palabra?«; Aus der Retrospektive beschrieb eine von der Repression betroffene Familie ihr Verhältnis zur Teilkirche Neuquén und zu anderen Vertretern der Institution folgendermaßen: »Don Jaime, alabamos a Dios por esa Iglesia del Neuquén presidido por usted, acompañado por el presbiterio, que nos permitió que nos encontráramos, todos los familiares de los detenidos-desaparecidos, en total desolación, ya que nos hemos sentido marginados y hasta repudiados por la gran mayoría de la Jerarquía Eclesiástica y el silencio hosco de muchos presbíteros.« (»Don Jaime, wir loben Gott für diese Kirche von Neuquén der Ihr vorsteht, begleitet vom Presbyterium, das uns erlaubte, dass wir uns treffen, alle Angehörigen der Verhafteten-Verschwundenen, in
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Das Spannungsmoment zwischen den bisherigen Erfahrungen und der Schaffung von Zugehörigkeit zur Diözese Neuquén war zentral für die Transposition, weil sie neben der Vergemeinschaftung auf Distanz auch eine Veränderung im Verhältnis zur Kirche bedeutete. Das zunächst vorherrschende Gefühl der Verlassenheit wurde abgelöst durch eine emotionale und spirituelle Nähe, aus der ein Gefühl von Zugehörigkeit erwachsen konnte, das sich auf den Bischof und damit auch auf die Diözese erstreckte, die dieser repräsentierte.40 Insgesamt lag die Wirkung der Reaktionen des Bischof Nevares schwerpunktmäßig auf einer emotionalen Ebene, denn den Wunsch nach Informatiovölliger Trostlosigkeit, da wir uns ausgestoßen und sogar verstoßen fühlten durch die große Mehrheit der kirchlichen Hierarchie und dem mürrischen Schweigen vieler Priester.«), BAN, Derechos humanos, saludos y agradecimientos, Familie Avalos an Jaime de Nevares, 20. Oktober 1986. 40 BAN, Briefe, Claudio [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 23. Dezember 1976, »Dios es tan bueno, que no satisfecho con las bendiciones que derrama día a día sobre mi casa, viene ahora a permitirnos cobijarnos en un pedazote del corazón de nuestro Pastor. Te aseguro que nos da una mezcla de gozo y consuelo, sabernos apreciado por vos, que más nos acercamos a El cuando más te arrimas a nosotros.« (»Gott ist so gut, dass er uns Zufriedenheit schenkt mit den Segnungen, die er Tag für Tag über unser Heim ausschüttet, jetzt kommt er, uns zu erlauben, Zuflucht zu suchen in einem Stückchen des Herzens unseres Pastors. Ich versichere dir, dass es uns eine Mischung aus Freude und Trost beschert, uns von dir geschätzt zu wissen, dass wir uns Ihm umso mehr nähern, je mehr wir uns dir nähern.«); BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecido, Paz Cionfrini de Hallgarten an Jaime de Nevares, 23. August 1977, »Acuso recibo de sus notas de fecha 11 de agosto ppdo. como así de su sensible carta, que es para mi, apoyo y participación generosa de su Excelencia en mi doloroso caso. Doy gracias a Ud. como así a las personas que a su lado o bajo su dirección, trabajan con tanto amor, sacrificio y compromiso, para que esta hora amarga pase, y podamos alguna vez vivir la realidad de familias tranquilas y una sociedad con los derechos que le pertenecen, a pesar de todas las circunstancias. […] Al mismo tiempo y por sobre todo, quiero agradecer, como solo lo puede hacer el corazón y el sentimiento de una madre que vive muriendo cada día, pero que encuentra, como en su Excelencia, la palabra autorizada, el apoyo y la mano tendida. […] Hago llegar a su dignísima persona mi saludo, mi agradecimiento como cristiana y miembro de una Iglesia valiente en éste momento, en su aniversario apostólico, admirando su gran y sacrificada obra, social y humana, rogando a Dios lo ilumine en todo su quehacer y puedan muchos religiosos, con su autorizada voz, unirse a su camino, de verdadero seguidor de cristo, tan necesario en época así cruel.« (»Ich bestätige den Empfang Ihres Schreibens vom 11. August ebenso wie Ihres einfühlsamen Briefs, der für mich Unterstützung und großmütige Anteilnahme Ihrer Exzellenz an meinen schmerzlichen Fall ist. Ich danke Ihnen und den Personen, die an Ihrer Seite oder unter Ihrer Leitung, die mit so viel Liebe, Hingabe und Engagement arbeiten, auf dass diese bittere Stunde vergehen möge und wir eines Tages die Realität sorgloser Familien in einer Gesellschaft mit den ihr zugehörigen Rechten leben können, trotz all der Umstände. […] Gleichzeitig und vor allem möchte ich mich bedanken, so wie es nur das Herz und das Gefühl einer Mutter kann, die täglich sterbend lebt, aber die in Ihnen, Eure Exzellenz, das autorisierte Wort, Unterstützung und eine ausgestreckte Hand findet. […] Ich sende Ihrer ehrwürdigsten Person meinen Gruß, meinen Dank als Christin und als Mitglied einer mutigen Kirche in diesem Augenblick, Ihrem apostolischen Jubiläum, Ihr großes und selbstloses Werk bewundernd, sozial und menschlich, sich Ihrem Weg anschließend, eines wahren Nachfolgers Christi, so nötig in einer so grausamen Zeit.«).
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nen über den verschwundenen Angehörigen konnte er nicht erfüllen. Auch er, so formulierte Nevares, stoße bei Nachforschungen auf denselben »Hermetismus«41 wie die Angehörigen. Dennoch ermutigte er sie, zu insistieren, um vielleicht irgendwo doch noch etwas zu erreichen und versicherte, in jeder Messe für die Opfer zu beten.42 Manche der Angehörigen reagierten auf diesen Hinweis der begrenzten Handlungsmöglichkeiten des Bischofs und machten deutlich, dass sie schon im Vorfeld davon ausgegangen waren, dass er nur wenige Möglichkeiten habe, aber dass seine »so schnelle und christliche«43 Antwort ungeheuer bedeutsam für sie war. Sie stellte eine Möglichkeit dar, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, zu deren zentralen Glaubensinhalten die Verteidigung der Menschenrechte gehörte.44 Das Zugehörigkeitsgefühl zur Diözese Neuquén konnte unterschiedlich ausgeprägt sein und die bestehenden Konflikte teilweise oder ganz überlagern, ausblenden oder zumindest abschwächen. So sprach beispielsweise der Absender des folgenden Briefs von einem wiedergewonnenen Vertrauen, einem erneuerten Glauben an die Vertreter der Institution: »Ich versichere Ihnen, Vater, dass Ihr Brief mir etwas von dem verlorenen Glauben wiedergegeben hat, nicht den Glauben an meine Religion, sondern an jene, die sie predigen, wegen der Haltung eines bestimmten Sektors von Priestern, die, wenn man sich an sie wandte, keinerlei Interesse für unsere Probleme zeigten, und uns nicht ein Wort der Ermutigung anboten, sondern das völlige Gegenteil. Ich wiederhole, dass ich dank Ihres Briefs, und ebenso aufgrund des Briefs, den Sie persönlich an eine Nachbarin schickten, in dem sie sich ernsthaft für Ihre Kinder interessieren, wieder glaube, dass es sehr wohl Priester gibt, die antworten und dem Volk helfen, das ungerechterweise bestraft wurde, mit vielen seiner besten Kinder, die ihrer Freiheit und sogar ihres Lebens beraubt wurden. Es bleibt mir nicht mehr, als eine Bitte hinzuzufügen, wenn ihre vielen Verpflichtungen es erlauben, und Sie es für zulässig befinden, mir würde es gefallen, ein paar Zeilen von Ihnen zu erhalten, denn wie ich zuvor kundgetan habe, tun
41 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Jaime de Nevares an Pedro Enrique Bertola, 24. September 1976. 42 Ebd. 43 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Delia Esther Harriague de Trattini an Jaime de Nevares, 24. Oktober 1977, »No imagina Ud. lo importante que fue para nosotros a nivel espiritual su tan rápida y cristiana respuesta, no vaya a creer Ud. que no sabía de antemano al escribirle que sus posibilidades para ayudarnos eran pocas, pero un poco entre todos, con las manos elevadas al señor, en un ruego constante podemos lograr ser escuchados y atendidos.« (» Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig für uns auf spiritueller Ebene Ihre so schnelle und christliche Antwort war, Sie werden sicher nicht glauben, dass ich nicht im Voraus, als ich Ihnen schrieb, wusste, dass Ihre Möglichkeiten uns zu helfen, gering waren, aber ein bisschen, mit vereinten Kräften, mit den Händen zum Herrn erhoben, in einem konstanten Bitten, können wir es schaffen, gehört und erhört zu werden.«). 44 Ebd.
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Sie es in einer Art und Weise, die in uns diese Hoffnung erneuert, die so viele Male schwindet.«45
An diesem Beispiel ist deutlich zu erkennen, wie sich die Verschiebung in der Selbstpositionierung gegenüber der Institution Kirche aus der Diskrepanz und Spannung zwischen den bisherigen Exklusionserfahrungen und der Erfahrung der Inklusion durch den Bischof von Neuquén entwickelte. Erst mit dem Kontakt zum Bischof Nevares konnte der Konflikt so weit entschärft werden, dass ein Vertrauen, ein ›Glaube‹ an die Vertreter der Institution wieder möglich wurde. Wenn man das katholische Glaubensbekenntnis ernst nimmt, in dem unter anderem der Glaube an ›die heilige katholische Kirche‹ als Kernelement der katholischen Glaubensinhalte postuliert wird, dann handelte es sich hier um einen für gläubige Menschen wesentlichen Punkt. Schließlich war für gläubige Katholiken das Verlassen der Institution Kirche nicht oder nur sehr schwer denkbar, so dass es für sie keine beziehungsweise keine einfache Exit-Option bei schwerwiegenden Konflikten mit Repräsentanten der Amtskirche oder der Institution als Ganzer gab. Mit derartig gravierenden Konflikten bezüglich der Inklusion in die Praktiken der Institution wurde zugleich ein wesentlicher Glaubensbestandteil – wenn auch nicht unbedingt der religiöse Glaube an sich – problematisch, denn an eine Institution zu glauben, die angesichts der schweren Krise der Repressionserfahrung weder pragmatischen noch spirituellen Beistand leistete, war für viele Gläubige fragwürdig geworden oder überhaupt nicht mehr möglich. In Einzelfällen hegten die Betroffenen sogar den Verdacht, dass Priester und Bischöfe an der Repression beteiligt waren, ein Verdacht, der durchaus begründet sein konnte, wie beispielsweise der Fall des nachweislich an Folter beteiligten Priesters Von Wernich zeigt.46 Erst die Erfahrung, dass in der Diözese Neuquén ein anderes Kirchenverständnis und eine gänzlich andere Praxis vorherrschten und die betroffenen 45 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Luisa Graciela de Palacio Lois an Jaime de Nevares 19. Juni 1977, »Le aseguro a Vd. padre, que su carta me devolvió algo de la fe perdida, no en la fe de mi religión, sino en aquellos que la predican, por la toma de partido, de cierto sector de sacerdotes, que cuando se acudía a ellos no demostraban interés alguno por nuestros problemas, y no nos brindaban ni una palabra de aliento sino todo lo contrario. Repito que fue gracias a su carta, como así también a la enviada en forma personal a una Sra. vecina del barrio, en la que usted se interesa hondamente por sus hijos, que volví a creer, de que sí hay sacerdotes que responden y ayudan al pueblo, que tan injustamente ha sido castigado con muchos de sus mejores hijos, privándolos de su libertad y hasta de su vida. Solo me cabe agregarle un pedido, cuando sus muchas obligaciones se lo permitan, y Vd. considere pertinente, me gustaría poder recibir unas líneas suyas, pues como anteriormente le he manifestado, lo hace en forma tal que renueva en nosotros esa esperanza que muchas veces flaquea.«. 46 BAN, Briefe, [o. Name] an Jaime de Nevares, 18. Oktober 1977. Vgl. Brienza, Hernán: Maldito tú eres. El caso Von Wernich. Iglesia y represión ilegal, Buenos Aires 2003.
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Lai*innen zumindest in ihrer Vorstellung an dieser Praxis teilhaben konnten, ermöglichte eine Neupositionierung und somit eine Reaffirmation einer problematisch gewordenen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Die Diözese wurde dabei als Ausdruck eines als essentiell gedachten, ›wahrhaften‹ Glaubens, vorgestellt, so dass implizit denjenigen Akteuren der katholischen Kirche, die ein gänzlich anderes Kirchenverständnis zur Grundlage ihres Handeln machten, bescheinigt wurde, nicht dem Wesenskern des Christentums zu entsprechen.47 Die Mutter eines Verschwundenen formulierte diesbezüglich, sie habe schon immer mit »Gott und dieser gerechten Kirche und dieser weisen Lehre« in Verbindung gestanden, die »viele proklamieren, aber nicht praktizieren.« Auf diese Weise artikuliert sie ihren eigenen Konflikt in Bezug auf die Zugehörigkeit zur Kirche. In Abgrenzung zu den vor ihr kritisierten Akteuren sah sie in Nevares »ein wahrhaftes Kind Gottes«, und hoffte darauf, dass ihre Stimme durch ihn »bis zur Kirche« reiche.48 Letztere Formulierung markiert eine relative Distanz zur Kirche, weil ihr Anliegen, wie sie darlegt, bisher nicht von der Institution aufgegriffen worden war. Ähnliche Formulierungen, die Vorstellungen von Authentizität oder Wahrhaftigkeit für die Ausprägung der kirchlich-institutionellen Praxis in Neuquén ausdrücken, finden sich immer wieder.49 So schrieb ein junger Mann, dass er räumlich zwar weit entfernt sei, aber fühle, dass die Prinzipien, die in der Diözese Neuquén vertreten wurden »wahrhaftig jene sind, die Jesus gelehrt
47 BAN, Briefe, Carlos [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 28. Januar 1977. 48 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Celia García de Bautista an Jaime de Nevares, 6. Juni 1977, »Yo me dirijo a Ud porque respeto y comparto sus opiniones, porque siempre he estado ligada a Dios y a esta iglesia justa y esta doctrina sabia que muchos proclaman pero no practican. Y es por eso que necesito ahora su voz de aliento, que alguien me escuche cuando digo que es cierto que mi esposo era inocente […]. Quiero que mi voz llegue hasta la iglesia a través de Ud. Que siempre he seguido sus opiniones y creo que son las de un verdadero hijo de Dios que trata de ser justo y bueno en este mundo que a mi me ha tocado vivir, aún no puedo habitarme a la crueldad ni quiero habitarme tampoco. Pero necesito su voz y su ayuda padre.« (»Ich wende mich an Sie, weil ich Ihre Ansichten respektiere und teile, weil ich immer mit Gott und dieser gerechten Kirche und dieser weisen Doktrin verbunden war, die viele verkünden, aber nicht praktizieren. Und es ist deswegen, dass ich jetzt Ihre Stimme der Ermutigung brauche, dass jemand mich hört, wenn ich sage, dass es wahr ist, dass mein Mann unschuldig war […]. Ich möchte, dass meine Stimme durch Sie bis zur Kirche vordringt. Ich bin immer Ihren Ansichten gefolgt und ich glaube, dass es die eines wahrhaften Gotteskindes sind, das versucht gerecht und gut zu sein in dieser Welt, in der ich leben muss, noch kann ich mich nicht an die Grausamkeit gewöhnen und möchte mich auch nicht an sie gewöhnen. Aber ich brauche Ihre Stimme und Ihre Hilfe, Vater.«). 49 BAN, Briefe, Zara Páez de Bissutti an Jaime de Nevares, 7. September 1977, »Ud, Jaime, que es un verdadero pastor, y los sacerdotes de su diócesis como toda la comunidad de Neuquén, nos han hecho sentir una Iglesia nueva, verdadera, auténtica tal como nosotros la deseamos.« (»Sie, Jaime, der Sie ein wahrhafter Hirte sind, und die Priester Ihrer Diözese so wie die gesamte Gemeinschaft von Neuquén, haben uns eine neue Kirche spüren lassen, wahrhaft, authentisch, so wie wir sie uns wünschen.«).
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hat«.50 Mit solchen und ähnlichen Äußerungen, die sich auf eine ursprüngliche Authentizität ›des Christlichen‹ beriefen, wurde die eine unhinterfragbare Letztbegründung für Selbstpositionierungen geliefert, für deren Legitimität eine Verankerung in religiösen, transzendentalen Vorstellungen zentral war. An einigen Beispielen lässt sich erkennen, dass die Teilkirche Neuquén mit der Kirche als solcher in eins gesetzt wurde: »Sehr verehrter Monseñor: Ich begrüße vorbehaltlos Ihre mutige Haltung, mit anderen herausragenden Persönlichkeiten die Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte [gemeint ist die APDH, B.R.] zu bilden, um die so sehr gebeutelten und verhöhnten ›Menschenrechte‹ zu verteidigen. Es war an der Zeit, dass die Zivilgesellschaft und die Kirche öffentlich ihre Verteidigung verkünden. Die ehrenwerten Leute und die christlichen Familien empfingen mit jubelnder Hoffnung die schwierigen Anstrengungen, die sie unternehmen.«51
Hierbei handelt es sich meines Erachtens nicht um eine Verwechslung, sondern um Ausdruck einer Transposition, da die Artikulation von Zugehörigkeit zu einer Teilkirche, die die eigenen Werte und Forderungen vertrat, in die normative Vorstellung über das Wesen der Kirche überführt wurde. In der Vorstellung konnte die Teilkirche dabei für die Institution als Ganze stehen.52 Der Anspruch, so wie in der Diözese Neuquén müsse die gesamte Institution Kirche sein, konnte in der Vorstellung der Akteur*innen im Extremfall zu der Vorstellung werden, dass es sich um ›die Kirche‹ in ganz Argentinien handele. Auf diese Weise konnten Konflikte, Widersprüche und gegenläufige Tendenzen ausgeblendet werden. Teilweise lässt sich aber auch ein klares Bewusstsein für die innerkirchliche Heterogenität erkennen. So schrieben Eltern von desaparecidos einen
50 BAN, Briefe, [o. Name] an Jaime de Nevares, 15. März 1977, »Por mi parte siempre pido al Señor que no decaiga su [ánimo] de lucha, porque aunque estoy muy lejos presiento que su principios son los reales que Jesús enseño […].« (»Ich für meinen Teil bete immer zum Herrn, dass Ihr Kampfeswille nicht nachlassen möge, weil ich – obwohl ich weit weg bin –, fühle, dass Ihre Prinzipien die wirklichen sind, die Jesus lehrte.«). 51 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, José Rogelio Machado an Jaime de Nevares, 16. April 1977, »Muy digno monseñor: Aplaudo sin reservas su valiente actitud al integrar con otras destacadas personalidades la ›Asociación por los derechos humanos‹ para defender los tan vapuleados y escarnecidos ›derechos humanos‹. Era hora que la civilidad y la Iglesia hicieran pública proclamación de su defensa. La gente de bien y los hogares cristianos dignos recibimos con alborozada esperanza la difícil gestión que están empeñados.«. 52 BAN, Briefe, Eduardo A. Mariset an Jaime de Nevares, 30. Oktober 1977, »Hace días Mons. que quería saludarlo y felicitarlos en nombre de muchos amigos, por las aclaraciones que hizo al Sr. Ministro del Interior con tal valentía que valen como denuncias publicas en nombre de la Iglesia y de sus hijos.« (»Seit Tagen, Monseñor, möchte ich Sie grüßen und Ihnen im Namen vieler Freunde gratulieren zu den Erklärungen, die Sie gegenüber dem Innenminister mit einem solchen Mut gemacht haben, dass sie einer öffentlichen Anklage im Namen der Kirche und ihrer Kinder gleichkommen.«).
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Begleitbrief zu einem an Militär, Polizei und alle Bischöfe versandten Protestschreiben: »Diese Zeilen sollen nicht kalt sein wie das beigefügte Schreiben, weil wir Ihre Bestrebungen und Ihre Besorgnisse eines Hirten kennen und weil wir Schafe Ihrer Herde sind, aber angesichts einer so großen Ungerechtigkeit leben wir in diesen Stunden um Glaube und Kraft bittend. […] Wir glauben nicht, dass die Schreiben Erfolg haben werden – der Habeas Corpus hatte ihn nicht – aber wir vertrauen auf die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes und darauf, dass von nun an Sie, Monseñor uns begleiten werden, mit Ihren Gebeten und Ihrem liebenden Verständnis.«53
Es war den Unterzeichnenden ein wichtiges Anliegen, Nevares über ihre emotionale Nähe zu seiner Person und seiner Diözese in Kenntnis zu setzen. Ex negativo bedeutet dies, dass es den Verfasser*innen in den Beziehungen zu anderen Repräsentanten der katholischen Kirche an gegenseitigem Verständnis und Vertrauen mangelte und sie sich nicht mit ihnen identifizieren konnten. Indem sie sich gegenüber Nevares als »Schafe seiner Herde«54 bezeichneten, drückten sie ein besonders starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Diözese Neuquén aus. Derart expressive Artikulationen von Zugehörigkeit lassen sich auch bei anderen Briefeschreiber*innen finden, so wenn eine Absenderin schrieb, Nevares sei der Bischof, den sie am meisten liebe im ganzen Land und ergänzt: »Ich bin in der Diözese von [Bischof] Menéndez, aber mein Bischof sind Sie.«55 Ebenfalls der Diözese Neuquén zugehörig fühlte sich ein junger Mann aus der Provinz Santa Fé, der seine Übereinstimmung mit der Diözese darlegte und schrieb, dass Nevares »seine Leute außerhalb seiner Diözese«56 habe und er sich, wie viele
53 BAN, Cartas de familiares de detenidos-desaparecidos, Enriqueta A. R. de Maroni und Juan José Maroni an Jaime de Nevares, 22. April 1977, »Estas líneas no quieren ser frías como la nota agregada porque conocemos sus afanes e inquietudes de pastor y porque somos ovejas de su rebaño pero ante tan grande injusticia, vivimos en estos momentos pidiendo fe y fortaleza. […] No creemos que las notas tengan éxito –el Habeas Corpus no lo tuvo– pero sí confiamos en la justicia y en la misericordia de Dios y en que, a partir de ahora Monseñor, nos acompañará Ud. Monseñor, con sus oraciones y con su amorosa comprensión.«. 54 Ebd. 55 BAN, Briefe, Alba [o. Nachname] an Jaime de Nevares, 18. April 1978, »Estoy en la diócesis de Menéndez pero mi obispo es Usted.«. 56 BAN, Briefe, Lorenzo Horacio Alvarez an Jaime de Nevares, 31. März 1977, »Es por eso que al leer su documento sobre los principios pastorales de la diócesis, Monseñor de Nevares, motivó en mí, desde estos mis lejanos pagos a escribirle con toda humildad y con el mayor respecto posible que Usted me merece, para su conocimiento, que tiene su gente [Unterstreichung im Original] fuera de su Diócesis. Me encuentro, al igual que muchos jóvenes, totalmente identificado con su causa, que es la causa de Cristo nuestro Señor.« (»Es ist deshalb, dass beim Lesen des Dokuments über die pastoralen Prinzipien Ihrer Diözese bei mir der Wunsch entstand, aus meiner weit entfernten Heimat Ihnen in aller Bescheidenheit und mit dem allergrößten Respekt, den Sie in meinen Augen verdienen, Ihnen zur Kenntnis zu bringen, dass Sie außerhalb Ihrer Diözese Ihre Leute haben [Unterstreichung im Original].
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andere junge Menschen mit seiner Sache identifiziere, die »die Sache Christi, unseres Herrn«57 sei. Auch hier findet sich erneut der Bezug auf die Vorstellung eines ursprünglichen und wahrhaften Christentums, wenn die Kirchenpraxis, die die Gläubigen selbst für legitim hielten, als göttlich gewollte und von Jesus selbst vertretene Praxis ausgewiesen wurde. Die Gesamtheit derartiger Postulate über das jeweilige Kirchenverständnis der Briefeschreiber*innen stellt dabei keine kohärente theologische Deutung oder eine eng vernetzte Gemeinschaft dar, auch wenn es etliche lose bis sehr enge Kontakte und Netzwerke gegeben hat. Das einende Element war für diese Akteur*innen die Vorstellung von Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit geteilten Glaubensinhalten. Um dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln war es nicht entscheidend, ob konkrete Kirchenund Glaubensvorstellungen im Einzelnen kongruent waren, es reichte vollkommen aus, dass sie als kompatibel mit den eigenen Deutungsmustern empfunden wurden. Für etliche Akteur*innen, die sich zur Diözese Neuquén hingezogen fühlten, war die Verteidigung der Menschenrechte zentral. Darüber hinaus galt die Praxis der Diözese vielen als exemplarische Umsetzung der konziliaren Neuerungen sowie der theologischen Impulse des CELAM, insbesondere der ›Option für die Armen‹. Deshalb wurde die Diözese Neuquén zum Fluchtpunkt für Menschen, deren Zugehörigkeit durch Konflikte mit der Kirche vor Ort, mangelnde Repräsentation oder die Verweigerung der Inklusion in institutionelle Praktiken und religiöse Rituale, Risse bekommen hatte oder sogar gänzlich in Frage gestellt wurde. Auch wenn die Gläubigen nicht konkret an der Praxis der Diözese Neuquén teilhaben konnten, blieb ihnen die Möglichkeit, sich auch über hunderte von Kilometern Entfernung hinweg als Teil dieser Gemeinschaft zu sehen und zumindest per Brief Beziehungen zu ihrer Wahldiözese aufzubauen. Die Akteur*innen veränderten damit ihre Position innerhalb und zur Kirche und gleichzeitig die Institution selbst.
Ich identifiziere mich, genau wie viele junge Menschen, ganz und gar mit Ihren Idealen, die die Ideale Christi, unseres Herrn, sind.«). 57 BAN, Briefe, Lorenzo Horacio Alvarez an Jaime de Nevares, 31. März 1977.
9.
Fazit
Die Analyse der Konflikte in der katholischen Kirche Argentiniens um die Haltung zur gewaltsamen Repression der Militärmachthaber und insbesondere zum Verschwindenlassen zeigt, dass die Opfer der Repression und die Menschenrechtsaktivist*innen in der Regel weder durch den Episkopat repräsentiert noch in institutionell legitimierte Praktiken inkludiert wurden. Damit stützten die kirchlichen Würdenträger mehrheitlich den Diskurs der Junta, der die Verschwundenen und ihre Angehörigen als ›Subversive‹ klassifizierte und so zum ›Anderen‹ der ›katholischen Nation‹ erklärte. Dieser Befund der Distanz zwischen Amtskirche und Menschenrechtsbewegung ist zunächst die komplementäre Bestätigung der in der Forschung konstatierten Nähe der Amtskirche zur Militärjunta, jedenfalls soweit die innere Heterogenität der katholischen Kirche in der hier für einen Moment eingenommenen synthetischen Perspektive außen vor gelassen wird. Darüber hinaus zeigt der Fokus auf die Auseinandersetzungen um Menschenrechte weitere zentrale Aspekte der Rolle der katholischen Kirche in Diktaturen und in ihrem Umgang mit Menschenrechtsverletzungen. Zunächst lässt sich feststellen, dass der Episkopat als Vollversammlung der Bischöfe auf Ebene des Nationalstaats eine zentrale Rolle einnahm, wenn es um die offizielle Haltung der Amtskirche ging, da er mit dem Anspruch auftrat, die Kirche zu repräsentieren. Seine Interventionen waren gerade vor dem Hintergrund der großen Bedeutung des Katholizismus in der argentinischen Gesellschaft und der Behauptung der Militärjunta, im Namen christlich-abendländischer Werte zu handeln, wirkmächtig im Hinblick auf die Legitimierung oder Delegitimierung sowohl der Repression als auch der Menschenrechtsarbeit. Diese Tatsache erklärt die massiven Konflikte um die offiziellen Positionierungen der Bischofskonferenz, die sowohl in der Genese als auch in der Rezeption der Bischofsdokumente der Jahre 1976 und 1977 herausgearbeitet wurden. Aber die Haltung der Amtskirche ging nicht allein im autoritativen Sprechen der Bischofskonferenz auf, sondern wurde auch in anderen Zusammenhängen und in Auseinandersetzung mit anderen religiösen wie politischen Akteur*innen verhandelt. Mit der systematischen Perspektive auf Konflikte um den Ort der
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Fazit
Menschenrechte in Kirche und Katholizismus konnten weitere Schauplätze ausgemacht werden, sowohl lokal als auch über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus. Die Debatte um den Friedensnobelpreis für den katholischen Laien Adolfo Pérez Esquivel zeigt, dass die Idee der Menschenrechte in Argentinien auch außerhalb des Episkopats mit einiger Skepsis beurteilt, wenn nicht gar abgelehnt wurde. Einen positiven Bezug und damit eine Legitimation der Menschenrechtsbewegung, für die Pérez Esquivel stand, wiesen lediglich die progressiv orientierten katholischen Medien sowie die jesuitische Zeitschrift des CIAS auf. Sogar die liberal-katholische Zeitschrift Criterio delegitimierte die Menschenrechtsarbeit. Criterio ordnete die Menschenrechte der Sphäre des Politischen zu und lehnte deshalb ein katholisches Engagement für die Menschenrechte ab.1 Insgesamt wurde in den Auseinandersetzungen um den Preisträger und die Legitimität des Preises an ihn über den Ort der Menschenrechte im argentinischen Katholizismus verhandelt. Pérez Esquivel verortete sich selbst als Katholik und stellte sein Engagement als christliche Glaubenspraxis dar, hatte aber im Verhältnis zur Amtskirche eine marginale Position. Die Amtskirche distanzierte sich explizit von seiner Organisation, die nicht Teil der Organisationsstrukturen der Kirche war, und vermied es, ihm zu gratulieren. Nur sieben von rund 70 Bischöfen beglückwünschten Pérez Esquivel zum Friedensnobelpreis. Auch anhand der untersuchten katholischen Zeitschriften lässt sich erkennen, dass Menschenrechte von einem Großteil der tonangebenden Katholik*innen nicht als wesentlicher Bestandteil einer legitimen katholischen Praxis verstanden wurden. Insofern ist eine gewisse Entsprechung zwischen den Mehrheitsverhältnissen im Episkopat und der überwiegenden Haltung der katholischen Öffentlichkeit festzustellen, in der es jedoch auch gegenläufige Stimmen gab, die sich der Position Pérez Esquivels verbunden fühlten. Das Überschreiten der nationalstaatlichen Grenzen war eine Strategie, um auch den Artikulationsraum in Argentinien selbst zu erweitern und dem Thema Menschenrechte in der öffentlichen Auseinandersetzung in Argentinien mehr Gewicht zu verleihen. So konnte anhand der Untersuchung des historischen Zeitraums zwischen der Untersuchung der Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH) und der Veröffentlichung ihres Berichts herausgearbeitet werden, wie von offizieller Seite der Kirche eine distanzierte Haltung zur CIDH eingenommen und kein Beitrag zur Systematisierung und Kodifizierung der Wissensbestände geleistet wurde, während andere katholische Akteur*innen unterschiedlicher Hierarchiestufen Informationen über die Repression akkumulierten, organisierten und national wie transnational in Umlauf brachten. Im Rückgriff auf die außerhalb Argentiniens etablierten Wissensbestände, an deren 1 Dies belegt die in der Forschung zu Menschenrechten festgestellte Bedeutung, die der Klassifizierung der Menschenrechte als ›apolitisch‹ für ihre weit verbreitete Akzeptanz zukam.
Fazit
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Schaffung sie aktiv beteiligt waren, legitimierten sie dann wiederum ihre eigenen Positionen. Zudem ließ sich nachvollziehen, wie die Bischöfe Nevares oder Hesayne ihren im selben Zeitraum stattfindenden Besuch bei Papst Johannes Paul II. nutzten, um ihn über die Menschenrechtslage in Argentinien zu informieren und zum Einschreiten zu bewegen. Tatsächlich äußerte sich Johannes Paul II. daraufhin erstmals konkret zur argentinischen Situation. Durch seine Intervention, die unter anderem die argentinischen Bischöfe zum Einstehen für die Menschenrechte anhielt, wurde die Idee einer ›katholischen Nation Argentinien‹ delegitimiert, die Menschenrechtsengagement als nicht-katholisch und nicht-argentinisch ausschloss. Auch wenn die genannten Bischöfe sicher nicht allein daran beteiligt waren, dem Papst die Dringlichkeit seiner Intervention deutlich zu machen, so wird an ihrem Beispiel ersichtlich, dass sie die Handlungsspielräume nutzten, die sich prinzipiell aus ihrer Bischofsrolle ergaben. In diesem Kontext kam die relativ geringe Organisationstiefe der katholischen Kirche zum Tragen, in der lediglich drei Ebenen definiert sind: Papst, Bischof und Priester. Da jeder Bischof alle fünf Jahre den Papst aufsucht, ergab sich für etliche argentinische Bischöfe 1979 die Möglichkeit, in direkten Kontakt mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche zu treten. Auch in diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der relativen Autonomie des Bischofsamtes und damit der Ebene der Diözese deutlich, wenn es um ein Agieren zugunsten der Menschenrechte innerhalb der Institution Kirche geht. Zugleich wird ersichtlich, dass die katholische Kirche nicht allein als vertikal und hierarchisch strukturierte Organisation verstanden werden darf, in der von der Spitze her die Positionierungen und die Praxis der Institution festgelegt und durchgesetzt werden können, sondern dass auch die lokalen Akteur*innen relativ große Handlungsspielräume haben. Das zeigt sich daran, dass die Mehrheit der argentinischen Bischöfe in der Bischofskonferenz weder öffentlich für die Menschenrechte einstand noch eine Menschenrechtspraxis in ihren Diözesen ermöglichte, obwohl die Menschenrechte Teil des kirchlichen Lehramts waren und Papst Johannes Paul II. die argentinischen Bischöfe 1979 explizit dazu aufgefordert hatte, sich für ihre Einhaltung einzusetzen. Somit hatte auch der Papst keinen uneingeschränkten Einfluss auf den argentinischen Episkopat. Zugleich übte das Oberhaupt der katholischen Kirche sein Amt in Beziehung zu den Bischöfen aus. Wie anhand der Interventionen der Bischöfe Hesayne und Nevares bei ihrem Papstbesuch herausgearbeitet wurde, konnten einzelne Bischöfe jenseits der Bischofskonferenz durch ihren unmittelbaren Kontakt mit dem Papst in einem gewissen Rahmen Handlungsspielräume nutzen, wobei allerdings der Papst selbst in einer strukturell entschieden machtvolleren Position agierte und einen wesentlichen Anteil daran hatte, die Impulse der Bischöfe aufzugreifen. Für die Frage nach dem Agieren von Amtsinhabern der katholischen Kirche unter der Diktatur ist festzuhalten, dass es prinzipiell vielfältige
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Fazit
Handlungsspielräume zur Verteidigung der Menschenrechte gab, die im argentinischen Fall jedoch nur vereinzelt genutzt wurden. Aus der Gruppe der argentinischen Bischöfe standen nur wenige dezidiert und öffentlich für Menschenrechte ein. Außerhalb der Ebene des Episkopats fand Arbeit zugunsten der Menschenrechte entweder auf diözesaner Ebene statt oder war in Gruppen und Organisationen angesiedelt, von denen einige ein christliches Selbstverständnis hatten, wie der SERPAJ, oder eine starke Identifikation mit dem Katholizismus aufwiesen, wie die Madres de Plaza de Mayo, die jedoch nicht in die Organisationsstrukturen der katholischen Kirche eingebunden waren. Sie arbeiteten mit einigen katholischen Priestern, Ordensleuten und Bischöfen zusammen. Insgesamt war die Anbindung der Menschenrechtsbewegung an die Amtskirche nur punktuell gegeben. Da es jedoch viele Katholiken unter den Menschenrechtsaktivist*innen gab, bedeutete der nur sehr geringe Grad an Aufnahme ihrer Probleme und Forderungen in die offiziellen Positionierungen und die kaum vorhandene Praxis des religiös-politischen Protests für sie einen schwerwiegenden Ausschluss aus der Kirche. Denn nicht nur die Amtsträger, sondern auch die einfachen Mitglieder sind Teil der Kirche. Mit der prinzipiellen Mitgliedschaft zur Kirche geht in der Regel ein Zugehörigkeitsgefühl einher, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Während der Militärdiktatur wurde jedoch aufgrund starker Konflikte um die Menschenrechtsfrage dieses Gefühl der Zugehörigkeit zur Kirche insgesamt oder zu einer bestimmten Diözese für die betroffenen Akteur*innen teilweise problematisch. Die Erfahrung der Marginalisierung und Exklusion aus kirchlichen Praktiken führte bei vielen Angehörigen der Verschwundenen zu einer tiefen Enttäuschung und erschütterte ihr Verhältnis zur Kirche, der sie sich eigentlich zugehörig fühlten. Anhand der Untersuchung der Konflikte und der strittigen Fragen wird deutlich, dass es neben dem Etablieren der Repressionserfahrungen als wahr und gültig und der Legitimierung der Menschenrechtsarbeit durch den Episkopat oder einzelne Würdenträger der Kirche immer wieder auch um die Frage der konkreten Praxis ging. Die Forderungen der Menschenrechtsaktivist*innen nach Inklusion und Repräsentation bezogen sich nicht allein auf die offiziellen Dokumente des Episkopats, auch wenn diese oftmals im Fokus der Auseinandersetzungen standen, sondern sie forderten immer wieder eine inkludierende institutionelle Praxis ein, die jedoch nur in wenigen Fällen etabliert wurde. Wenn es eine solche Praxis zugunsten der Menschenrechte gab, war sie auf der Ebene der Diözese angesiedelt. Zu den wesentlichen Dimensionen einer solchen Praxis gehörten die Unterstützung der Menschenrechtsbewegung und ihre Einbindung in kirchliche Organisationsstrukturen sowie das Einbeziehen der Repressionserfahrung und des politischen Protests in religiöse Rituale. Jedoch wiesen weder die zentralen und traditionell einflussreichen (Erz-)Diözesen noch der Episkopat eine derartige Praxis auf, vielmehr waren es in erster Linie Provinzbistümer, in
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denen Menschenrechtsarbeit geleistet wurde, so wie Goya, Quilmes oder Neuquén, die im Gesamtkontext der katholischen Kirche in Argentinien eine Ausnahme darstellten. Die Analyse ihrer Rolle im Gefüge der Institution Kirche, vor allem anhand des umfangreichen Materials aus der Diözese Neuquén, hat die These bestätigt, dass Diözesen innerhalb der Organisationsstrukturen der katholischen Kirche strukturell ein zentraler Ort für das Etablieren von Menschenrechtsarbeit sein können.2 Die herausragende Stellung der Diözese ergibt sich aus der Organisationsstruktur der katholischen Kirche, in der die Bistümer und die sie leitenden Bischöfe einen relativ hohen Grad an Autonomie aufweisen. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wuchs ihre Bedeutung noch durch die Idee der Subsidiarität an, die mit der Vorstellung einherging, dass jede Diözese zugleich die ganze Kirche repräsentiert. Der dadurch vorhandene Handlungsspielraum machte es prinzipiell möglich, dass innerhalb einiger Diözesen im Zusammenspiel von Lai*innen, Priestern, Seminaristen, Ordensleuten und dem Bischof ein umfassendes Engagement für die Menschenrechte etabliert werden konnte. So wurden einzelne Diözesen im Kontext der argentinischen Militärdiktatur zu sinn- und ordnungsstiftenden Einheiten, die über die eigentlichen Jurisdiktionsgrenzen der jeweiligen Diözese hinaus Wirkung entfalteten. Innerhalb der heterogenen und von Konfliktlinien durchzogenen katholischen Kirche in Argentinien konnten sie zum Bezugspunkt für jene katholischen Akteur*innen – seien es Lai*innen, Seminaristen oder Priester – werden, die in ihrer Heimatdiözese schwerwiegende Konflikte erlebten und die sich deshalb nicht mehr fraglos ihrer bisherigen Diözese zugehörig fühlen konnten. Eine Form des Umgangs mit diesen Konflikten stellte die Transposition dar, die eine Verlagerung des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Wahldiözese bei gleichzeitiger Re-Positionierung im Verhältnis zur Kirche insgesamt bedeutete, so dass das in Frage gestellte Gefühl der Zugehörigkeit zur Heimatdiözese in eine positiv besetzte Beziehung zur Wahldiözese und zur Kirche insgesamt überführt wurde. In diesem Prozess war die Eigenmächtigkeit der Akteur*innen bedeutsam, die sich mit ihrer Hinwendung zur Wahldiözese über die normativen Ordnungsvorstellungen der Kirche hinwegsetzten und die prinzipiell territorial organisierte Zugehörigkeit für sich neu definierten. Dabei handelte es sich nicht allein um eine rein voluntaristische, subjektive Verlagerung der Zugehörigkeit, sondern es ging ganz zentral um das Etablieren einer Beziehung zur Wahldiözese. 2 Unter Einbeziehung des chilenischen Falls, in dem die außerordentlich einflussreiche Vicaría de la Solidaridad in die Organisationsstrukturen des Erzbistums von Santiago de Chile eingebunden war, wäre hypothetisch zu überlegen, ob Diözesen im Verhältnis zur Bischofskonferenz nicht sogar eine bedeutendere Rolle für die Haltung und das Agieren in der Menschenrechtsfrage einnehmen. Hierzu könnte eine Untersuchung weiterer Fälle kirchlichen Handelns im Kontext von Militärdiktaturen aufschlussreich sein.
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Fazit
Die Anerkennung und Inklusion der Erfahrungen der Repression und die Legitimierung des Einsatzes für die Menschenrechte durch eine Diözese und ihren Bischof waren deshalb wesentlich dafür, dass sich diese Menschen weiter als Teil der Gemeinschaft der Gläubigen und der Institution Kirche fühlen konnten, deren Mitglieder sie waren. Sie erfuhren durch den Bischof als Autorität der Institution Kirche die für sie angesichts ihrer Lage außerordentlich bedeutsame Anerkennung und Integration. Mit dieser Legitimierung wurde die Zuschreibung der Militärjunta und weiter Teile der Amtskirche, das ›Andere‹ der ›katholischen Nation Argentinien‹ zu sein, ihres Geltungsanspruchs eindeutig enthoben. Deshalb sollte das von den historischen Akteur*innen artikulierte Gefühl der Zugehörigkeit nicht nur als individuelle, subjektive Empfindung verstanden werden, sondern auch als Ergebnis eines Vergemeinschaftungsprozesses, für den die Legitimierung durch Amtsautoritäten von besonderer Bedeutung war. Ex negativo verweist das Phänomen der Transposition auf das konfliktreiche und hochgradig problematische Verhältnis der Angehörigen der Verschwundenen zur Amtskirche in Argentinien. Zugleich wird deutlich, dass die Dimension der Praxis mindestens ebenso bedeutsam ist wie die der offiziellen Verlautbarungen, wenn es darum geht, die Rolle der katholischen Kirche während der argentinischen Militärdiktatur zu beurteilen. Der genaue Blick auf die Amtsträger der katholischen Kirche macht die Heterogenität innerhalb der Institution deutlich und lässt gleichzeitig die Rede von ›der Kirche‹ oder ›der Amtskirche‹ problematisch werden, da mit einer solchen Verallgemeinerung die Heterogenität auf den unterschiedlichen Ebenen, innerhalb des Episkopats und von Diözese zu Diözese sowie innerhalb einzelner Diözesen, wieder verdeckt wird. Dieses Problem lässt sich jedoch nicht vollständig auflösen, sofern allgemeine Aussagen über die katholische Kirche in Argentinien in der Zeit der Militärdiktatur getroffen werden sollen. Deshalb ist es notwendig, bei dem Blick auf die Gesamtheit der katholischen Kirche in Argentinien zu berücksichtigen, dass immer dann, wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit von der Haltung und dem Agieren der Amtskirche gesprochen wird, eine dominante Mehrheit oder eine deutlich überwiegende Tendenz unter den Funktionsträgern der Institution gemeint ist. In dieser waren durchaus auch gegenläufige Positionen enthalten, die, je nach Kontext und vorhandenen Wissensbeständen, unterschiedlich gut aus einer Außenperspektive wahrgenommen werden konnten. Auf der Ebene des Episkopats drückte sich die Heterogenität in den ambivalenten, teils widersprüchlichen Artikulationen zu Menschenrechtsverletzungen aus. Die oftmals in der Forschung konstatierte Dominanz der traditionalistischen und konservativen Bischöfe im Episkopat ist deshalb nicht so zu verstehen, dass sie ihre Vorstellungen uneingeschränkt durchsetzen konnten. Vielmehr stießen sie auf Widerstände im Aushandlungsprozess auf den Voll-
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versammlungen der Bischöfe, die letztlich zur Aufnahme von Positionen zugunsten der Einhaltung der Menschenrechte in die offiziellen Versuche der Bedeutungsfixierung durch autoritative Texte des Episkopats führten, wie in den Dokumenten vom Mai 1976 und vom Mai 1977. Deshalb konnten die dort enthaltenen Positionierungen zugunsten der Menschenrechte von den Zeitgenoss*innen herausgelesen werden und wurden insbesondere von jenen besonders stark rezipiert und aufgegriffen, die sich mit ihnen identifizieren konnten. Der kritische Gehalt dieser Dokumente wurde im historischen Augenblick von der Mehrheit der Akteur*innen wahrgenommen, was in bisherigen Forschungsarbeiten nicht berücksichtigt wurde, da diese eine Bewertung allein aus der Retrospektive vornehmen. Am deutlichsten zeigt sich der zeitgenössische Blick und die Wirkung der bischöflichen Worte 1977, als Videla in einem Interview in Venezuela in Bezug auf das bischöfliche Dokument vom Mai 1977 erstmals anerkannte, dass es in Argentinien Verschwundene gab, eine Tatsache, die bis zu diesem Zeitpunkt seitens der Militärmachthaber vollständig geleugnet worden war. Das bischöfliche Dokument stellte in diesem historischen Moment einen Baustein im Übergang zur öffentlichen Artikulation des Phänomens des Verschwindenlassens dar, war aber sicher nicht allein ausschlaggebend dafür, dass im argentinischen Herbst 1977 eine neue Qualität im Sprechen über die Repression und die Menschenrechtsverletzungen erreicht wurde. Ganz wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatten die Menschenrechtsaktivist*innen in Argentinien und Akteur*innen jenseits der nationalstaatlichen Grenzen, die im Zusammenspiel das Problem artikulierten. Wenn man davon ausgeht, dass selbst die ambiguen Dokumente der Bischöfe einen Beitrag zur Artikulation der Menschenrechtsproblematik lieferten und von den historischen Akteur*innen in diesem Sinne verstanden wurden, wird erneut deutlich, welch große Relevanz die Artikulationsmöglichkeiten der katholischen Kirche im Kontext der Diktatur hatten. Die Wirkung der bischöflichen Dokumente ergab sich ganz zentral aus der ihnen eigenen Ambiguität. Einerseits ermöglichte es der Verzicht auf inhaltliche Kohärenz in den bischöflichen Verlautbarungen, dass das Thema Menschenrechte dort einen Platz fand. In einem ersten Moment waren die beiden ausführlich in Genese, Inhalt und Rezeption untersuchten Dokumente vom Mai 1976 und vom Mai 1977 also auch ein Vehikel, die Problematik der Repression zu artikulieren und als ungerecht zu deuten. Andererseits war es aber ebendiese Ambiguität, die eine größere Wirkung der bischöflichen Positionierungen verhinderte, da sie letztlich keine vollständige Übernahme und Autorisierung der subjektiven Erfahrungen der Menschenrechtsaktivist*innen darstellten und gleichzeitig Elemente enthielten, die dem Legitimationsdiskurs der Militärjunta entsprachen. Insgesamt konnte anhand der genauen Untersuchung der Genese der Dokumente, ihres Inhalts und ihrer Rezeption, festgestellt werden, dass es sich keinesfalls um Dokumente handelte, die notwendigerweise in dieser Form
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entstehen mussten, oder es sich um erwartbare Texte gehandelt hätte. Vielmehr waren sie das Produkt von Aushandlungsprozessen, in denen um das Selbstverständnis der Amtskirche und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten gerungen wurde. Obwohl in der bisherigen Forschung immer wieder die Dominanz der traditionalistischen und konservativen Bischöfe im Episkopat hervorgehoben wurde, bedienten sich die Dokumente der Sprache der Menschenrechte, die zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht als allgemeines Deutungsmuster für die illegal verübte Gewalt staatlicher Sicherheitskräfte etabliert war und auch in der argentinischen Kirche bis dato kein gebrauchtes Deutungsmuster war, wenn es um das Benennen politischer Gewalt ging.3 Die Analyse der internen Abläufe ergab, dass die Thematik bereits während der Beratungen der Bischofskonferenz im Mai 1976 eingebracht wurde und auch im folgenden Jahr wieder Gegenstand der bischöflichen Debatten war. In diesen Momenten der episkopalen Plenarsitzungen nutzten jene Bischöfe, die sich gegen die Repression und die Menschenrechtsverbrechen aussprachen, ihren Handlungsspielraum, um das Thema virulent werden zu lassen. Eindeutig lässt sich anhand der Aufzeichnungen der beiden Bischöfe Devoto und Nevares belegen, dass die Bischofskonferenz einen guten Kenntnisstand über die Repression hatte und die Frage, inwiefern ihr Agieren wahrgenommen werden würde und welche Konsequenzen es haben könnte, Gegenstand der Reflexionen war. Zugleich wurden die Erwartungshaltungen gegenüber dem Episkopat sowie die grundsätzliche Frage nach dem Selbstverständnis der Kirche verhandelt. In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass auch die Dokumente, die vom Episkopat als offizielle Stimme der Kirche in Argentinien verbreitet wurden, in Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Akteur*innen des politischen und religiösen Felds entstanden. Es spielte deshalb eine Rolle, wie sich andere Akteur*innen positionierten, insbesondere wenn sie sich selbst christlich oder dezidiert katholisch legitimierten und damit den Anspruch erhoben, von der Amtskirche vertreten und in das offizielle Sprechen eingeschlossen zu werden. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die 3 Im Verlauf der Untersuchung wurden Hinweise darauf gefunden, dass das klassische Narrativ über das allmähliche Entstehen und Etablieren des Menschenrechtsdiskurses im Zuge des Entstehens einer Menschenrechtsbewegung in Argentinien nach dem Putsch am 24. März 1976 präzisiert werden könnte, wenn genauer untersucht würde, wann und wo genau schon in den frühen siebziger Jahren oder davor von Menschenrechten die Rede war. So sprachen beispielsweise die Priester und der Bischof von Neuquén 1971 in einem Dokument gegen die politische Repression der Diktatur unter Onganía bereits von Menschenrechten. Ein weiterer Hinweis liegt in der konkreten Entstehungsgeschichte etlicher Organisationen der Menschenrechtsbewegung, von denen einige bereits vor dem Putsch existierten, wie der SERPAJ, der seit 1974 aktiv war, oder die APDH, die Ende 1975 gegründet wurde. In diesem Zusammenhang könnte es ebenfalls lohnend sein, gleichzeitig die Vorstellungen über Rechtsstaatlichkeit und das Verhältnis zur Idee der Menschenrechte zu untersuchen, um die Frage beantworten zu können, inwiefern die Menschenrechte anschlussfähig an existierende Vorstellungen waren.
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Aufnahme der Menschenrechtsthematik in die Bischofsdokumente aus den Jahren 1976 und 1977 als Reaktion auf die Repression gegen Amtsträger der katholischen Kirche einerseits und andererseits als Reaktion auf die Erwartungen der Angehörigen der Verschwundenen und der Menschenrechtsaktivist*innen deuten. Sie fanden in den Interventionen der engagierten Bischöfe wie beispielsweise Hesayne oder Nevares Repräsentation in den Verhandlungen auf den Plenarsitzungen des Episkopats. Da es diesen Bischöfen gelang, die Thematik in den Dokumenten des Episkopats zu verankern, gab es zumindest eine momentane und partielle Inklusion. Im historischen Moment der Veröffentlichung der Texte spielte sie eine bedeutende Rolle, da sie als Legitimation der Menschenrechtsbewegung gelesen werden konnte und sich Hoffnungen auf weitere Interventionen der Amtskirche an diese Verlautbarungen knüpften. Insgesamt zeigt der Blick auf die Aushandlungsprozesse rund um die Bischofsdokumente in den Jahren 1976 und 1977, dass es trotz der Dominanz der konservativen und traditionalistischen Bischöfe im Episkopat gelang, die Menschenrechtsverletzungen in den Bischofsdokumenten zu artikulieren, und dass die Kritik von den Zeitgenoss*innen unabhängig von ihrem Deutungshorizont auch als solche verstanden wurde. Da es sich jedoch um ambigue Konsensfassaden handelte, die die Widersprüche und Risse in der Einmütigkeitsfiktion kaum verdecken konnten, nahmen die Zeitgenoss*innen auch diese Verwerfungen wahr. Vor allem die Menschenrechtsaktivist*innen, gerade wenn sie selbst sich dem Katholizismus verbunden fühlten, mahnten immer wieder die Integration ihrer Erfahrungen und Forderungen sowie eine unzweideutige Positionierung des Episkopats in der Menschenrechtsfrage an. Obwohl die bischöflichen Dokumente vom Mai 1976 und vom Mai 1977 zunächst positiv rezipiert worden waren, beklagten insbesondere Menschenrechtsaktivist*innen sehr bald ihre Wirkungslosigkeit, die sie primär auf die Uneindeutigkeit der Äußerungen zurückführten. Deshalb forderten sie immer wieder klare und eindeutige Stellungnahmen des Episkopats. Die Annahme, dass eine deutlichere und entschiedenere Haltung der Amtskirche in Argentinien nicht ohne Wirkung auf das Gewaltgeschehen geblieben wäre, ist sicher richtig. Es stellt sich jedoch die Frage, ob explizitere Dokumente des Episkopats für sich ausreichend gewesen wären, oder allgemeiner formuliert, ob episkopale Dokumente hinreichend dafür sein können, dass die Kirche innerhalb eines Nationalstaats zu einem zentralen Akteur in der Verteidigung der Menschenrechte wird. Blickt man auf Basis der vorhandenen Literatur auf die chilenische Kirche im selben Zeitraum, so wird deutlich, dass wenn von der katholischen Kirche als Akteur der Menschenrechtsbewegung die Rede ist, die Bedeutung der erzbischöflichen Einrichtung Vicaría de la Solidaridad im Erzbistum Santiago de Chile hervorgehoben wird. Interessant könnte für weitergehende Forschung eine vergleichende Perspektive auf die Kirche in lateinamerikanischen Ländern in der
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Phase der Militärdiktaturen der 1970er- und 1980er-Jahre sein, die sowohl die Äußerungen der jeweiligen Bischofskonferenzen als auch die Menschenrechtspraxis untersucht. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse für Argentinien und mit dem Seitenblick auf den chilenischen Fall lässt sich die Hypothese formulieren, dass die Menschenrechtspraxis auch in anderen Ländern wesentlich auf der Ebene der Diözesen geleistet wurde. In Argentinien waren es einzelne Diözesen, in denen aufgrund des prinzipiellen Handlungsspielraums eines Bischofs eine Eindeutigkeit hergestellt werden konnte, die wegen der Vielzahl unterschiedlicher Haltungen innerhalb des Bischofskollegiums nicht erreicht wurde, auch wenn sie normativ als Ziel und als Selbstbeschreibung immer wieder evoziert wurde. Auf der Ebene der Diözese konnte sowohl die Menschenrechtsbewegung durch materielle Ressourcen und Deutungsangebote unterstützt werden als auch eine religiöse Praxis etabliert werden, die individuelle Repressionserfahrungen kollektivierte und in religiöse Deutungsmuster einschrieb. Die erschütternde Erfahrung der Repression und der sozialen Isolation wurde so abgemildert und in sinnstiftende Narrative überführt. Zugleich erfolgte, sofern die Narrative durch Amtsträger der Kirche legitimiert wurden, im jeweiligen Kontext eine Anerkennung des Leids und des Kampfs für die Menschenrechte seitens der lokalen Teilkirche, die in anderen Zusammenhängen verweigert wurde. Auch wenn der Bischof aufgrund seiner strukturell machtvollen Stellung eine zentrale Rolle einnahm, wenn es darum ging, die grundlegende Linie der diözesanen Arbeit zu definieren, so war auch er auf die Zusammenarbeit mit Priestern, Ordensleuten und Lai*innen angewiesen, um eine umfassende Menschenrechtspraxis zu etablieren. Damit schuf und erweiterte er auch für sie die Handlungsspielräume. Im gegenteiligen Fall, wenn ein Bischof die Arbeit zugunsten der Menschenrechte und eine inkludierende religiöse Praxis nicht unterstützte, konnten dennoch gewisse Handlungsspielräume genutzt werden. Dies wird beispielsweise anhand der Messen für die Verschwundenen oder religiöspolitischer Fastenaktionen deutlich, die ohne Autorisierung eines Bischofs stattfanden. Im Hinblick auf eigenmächtiges Handeln, das auch gegen die Vertreter der Institution vollzogen werden konnte, war das Auftreten der Madres de Plaza de Mayo besonders eindrucksvoll. Sie eigneten sich religiöse Rituale symbolisch-performativ an, indem sie in ihren charakteristischen Kopftüchern beispielsweise an Messen teilnahmen, auch wenn der zelebrierende Bischof oder Erzbischof das Thema der Verschwundenen nicht offiziell in das Ritualgeschehen aufnahm. Auf diese Weise machten sie ihren Anspruch auf Zugehörigkeit zur Kirche deutlich und wurden selbst in ihrer Symbolgestalt, die sich aus der Nutzung der Kopftücher ergab, Teil des religiösen Rituals, so dass sie ihren Anspruch auch ohne Legitimierung eines kirchlichen Würdenträgers zumindest partiell einlösten. Letztlich aber war die Anerkennung durch die Amtskirche und
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ihre Vertreter zentral – sie wurde in den Aushandlungsprozessen um religiöse Rituale ebenso vehement eingefordert wie in den Konflikten um die Positionierung des Episkopats. Die Bedeutung einer Praxis, die auf geteilten Vorstellungen über die Aufgabe der Kirche und die Haltung in der Menschenrechtsfrage beruhte, wird besonders an den Konflikten deutlich, die so schwerwiegend waren, dass für Priester und Ordensleute und sogar für Lai*innen ein Verbleib in der Heimatdiözese nicht mehr möglich war. Die dauerhaften Ortswechsel waren dabei der stärkste Ausdruck einer Verlagerung der Zugehörigkeit in eine Wahldiözese, da mit dem Wechsel das Gefühl der Zugehörigkeit in Übereinstimmung mit der nominalen Zugehörigkeit zur aufnehmenden Diözese gebracht wurde. Im Falle eines temporären Wechsels, wie er beispielsweise in der Diözese Quilmes beobachtet werden konnte, in die viele der Madres de Plaza de Mayo und Angehörige von Verschwundenen kamen, um an Messen für die desaparecidos teilzunehmen, wurde ebenfalls ein Gefühl der Zugehörigkeit ausgebildet. Jedoch verblieben die Akteur*innen in ihrer Heimatdiözese. Gleiches gilt für jene, die weder den Wohnort wechselten noch an religiösen Praktiken außerhalb des Jurisdiktionsbereichs ihrer Heimatdiözese teilnahmen. Sie bildeten ein auf imaginärer Ebene liegendes Zugehörigkeitsgefühl aus, das ebenso wirkmächtig war, da es eine Form der Vergemeinschaftung auf Distanz bedeutete, die wie in den anderen Fällen auch eine erneute positive Identifikation mit der gesamten Kirche ermöglichte. Die Konflikte etlicher katholischer Akteur*innen mit der Amtskirche in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen konnten teilweise durch die Transposition der Zugehörigkeit bearbeitet und bis zu einem gewissen Grad auf der Ebene der Diözese aufgelöst oder zumindest von positiven Identifikationsmöglichkeiten mit der Institution Kirche überlagert werden. Insgesamt blieb der Grundkonflikt zwischen Menschenrechtsaktivist*innen und Amtskirche jedoch bestehen und trat in den letzten Jahren der Diktatur immer deutlicher zu Tage. Im Zuge der politischen Öffnung seit den frühen 1980er-Jahren brachten die Menschenrechtsaktivist*innen ihren Dissens mit der Amtskirche an die Öffentlichkeit. Im Zusammenhang mit der Bischofskonferenz im Mai 1981, auf der die Kirche eine Neubestimmung ihres Selbstverständnisses und ihres Verhältnisses zur Demokratie vornahm, spielten die Auseinandersetzungen zwischen dem Episkopat und den Menschenrechtsaktivist*innen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Tagungsgebäudes eine gewichtige Rolle. Während die Madres de Plaza de Mayo und andere Menschenrechtsaktivist*innen lautstark insistierten, zur Vollversammlung der Bischöfe zugelassen zu werden, berieten die Bischöfe intensiv, wie sie sich zu dieser Forderung verhalten sollten. Die internen Debatten lassen erkennen, dass die Bischöfe auch in diesem historischen Moment ihre eigene Rolle reflektierten. Die Mehrheit unter ihnen wollte die Menschenrechtsakti-
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vist*innen nicht zur Vollversammlung vorlassen. Stattdessen wurden sie von einer kleinen Delegation von Bischöfen in einem Nebenraum empfangen. Auf diese Weise erzeugte die Bischofskonferenz eine symbolisch-performative Aussage über das Verhältnis zu den Menschenrechtsorganisationen, denen sie keinen Platz im Zentrum der katholischen Kirche einräumte, sondern lediglich an ihren Rändern. Trotz der marginalen Position, auf die die Menschenrechtsaktivist*innen verwiesen worden waren, handelte es sich um ein historisches Novum, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein offizielles Zusammentreffen mit dem Episkopat stattgefunden. Daran wird ersichtlich, dass sich die Menschenrechtsaktivist*innen zu diesem Zeitpunkt bereits eine große Relevanz als politischer Akteur erarbeitet hatten. Insgesamt reagierte die Amtskirche auf die immer vehementer öffentlich vorgetragenen, schwerwiegenden Vorwürfe der Komplizenschaft mit der Militärdiktatur und der mangelnden Verteidigung der Menschenrechte mit dem Versuch, sich selbst als langjährige Verteidigerin der Menschenrechte zu präsentieren. Es fand aber weder eine deutliche Abkehr von der Militärjunta statt noch ließ sich eine selbstkritische Haltung feststellen. Vielmehr bestand die Repositionierung der katholischen Kirche in einer Verschiebung des Schwerpunkts ihrer offiziellen Äußerungen. Diese Verschiebung erfolgte dadurch, dass bereits vorhandene Elemente der offiziellen Dokumente aus der Zeit der Diktatur, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte aussprachen, in den Vordergrund gerückt wurden, während gleichzeitig gegenläufige Äußerungen ausgespart blieben. Eine schonungslose Aufarbeitung der eigenen Rolle blieb auch nach dem Ende der Diktatur aus und wurde bis heute nicht geleistet. Ein wesentlicher Schritt für die argentinische Kirche in Richtung Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und insbesondere ihrer Rolle während der Militärdiktatur, sofern sie diese ernsthaft anstreben sollte, wäre eine uneingeschränkte und vollständige Öffnung der kirchlichen Archive, sowohl für die Angehörigen der Verschwundenen und die Menschenrechtsaktivist*innen als auch für unabhängige Forschung. So gesehen wäre es den Verantwortlichen der heutigen argentinischen Kirche möglich, ihre Handlungsspielräume in diesem Sinne zu nutzen. Wie anhand der Untersuchung der Konflikte um die Menschenrechte innerhalb der katholischen Kirche und mit dem Fokus auf institutionelle Praktiken deutlich wurde, konnten innerhalb der Organisationsstrukturen der prinzipiell vertikal strukturierten Institution Kirche an unterschiedlichsten Stellen zur Verarbeitung und Artikulation der Repressionserfahrung und zur Verteidigung der Menschenrechte geschaffen und genutzt werden. Dies geschah oftmals gegen die Mehrheit der Amtsträger, eigenmächtig, und im Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen, die teils ein hohes persönliches Risiko trugen. Deshalb lässt sich in Bezug auf die gesellschaftlich relevante Frage nach der Verantwortung der katholischen Kirche feststellen, dass es prinzipiell vielfältige Handlungsspielräume zur Wahrung der Menschenrechte geben konnte
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oder Handlungsspielräume durch die Akteur*innen geschaffen wurden. Im argentinischen Fall jedoch wurden sie nur punktuell und von einer Minderheit der Mitglieder der katholischen Kirche mit klaren Äußerungen zugunsten der Menschenrechte und einer inkludierenden Praxis gegenüber den Opfern der Repression gefüllt.
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11. Abkürzungsverzeichnis
APDH BAG BAN CCD CEA CELAM CELS CIAS CIDH CONADEP COPACHI DIPBA MADRES MEDH MSTM OFM PEN PRN SERPAJ SJ
Asamblea Permanente por los Derechos Humanos Bistumsarchiv Goya Bistumsarchiv Neuquén Centros Clandestinos de Detención Conferencia Episcopal Argentina Consejo Episcopal Latinoamericano Centro de Estudios Legales y Sociales Centro de Investigación y Acción Social Comisión Interamericana de Derechos Humanos Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas Comité de Cooperación para la Paz en Chile Dirección de Inteligencia de la Policía de la Provincia de Buenos Aires Archiv der Madres de Plaza de Mayo – línea fundadora Movimiento Ecuménico por los Derechos Humanos Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo Ordo Fratrum Minorum Poder Ejecutivo Nacional Proceso de Reorganización Nacional Servicio Paz y Justicia Societas Jesu
12. Orts- und Sachregister
Actualidad Pastoral 46, 113, 134, 136, 145f., 153, 158 Agencia Informativa Católica Argentina 54, 57f., 75, 83, 104–108, 114f., 127, 129, 141–144, 153, 155–158, 169, 176, 180f., 187, 191f., 199f., 206, 209 Aggiornamento 27 Amnesty International 101, 117, 151, 291 Argentinische Bischofskonferenz, siehe Conferencia Episcopal Argentina Asamblea Permanente por los Derechos Humanos 36, 44, 66, 69, 109, 136, 157, 170f., 247–251, 274f., 280, 321f., 338, 348 Bischofsdokument 15, 55–57, 60f., 63, 67, 72f., 75, 77f., 80, 82–84, 86–97, 107, 115, 130, 184f., 199, 206, 209, 211, 341, 349 Bischofskonferenz 12, 15, 28, 32, 34, 36, 39, 44, 46f., 54–59, 63, 65–72, 76, 78–84, 88f., 91–93, 97f., 103–107, 116, 119f., 122–128, 130, 141, 143, 146, 148, 154, 157, 159, 161–164, 166–176, 178–194, 198f., 205f., 208, 211, 263–267, 269, 278, 332, 341, 343, 345, 348, 350–352 Bistumsarchiv Goya 44, 64, 66–68, 71, 82f., 173, 175, 178, 182, 186, 265 Bistumsarchiv Neuquén 44, 66f., 69–71, 81f., 94–96, 109–111, 171–175, 178, 182, 186, 265, 276, 278, 280f., 285–289, 291– 306, 308, 310–314, 318–340 Boletín del CIAS 46, 153 Buenos Aires 12f., 16–18, 20–23, 29f., 32– 36, 43–45, 51–54, 83, 99f., 108, 118, 121,
128, 144, 158–162, 185, 190–192, 194, 211, 215, 218, 227, 229–231, 241, 246f., 250–252, 257f., 266, 270, 273–275, 278– 283, 286, 288–292, 294, 300, 305f., 311f., 314f., 321f., 324, 328, 336 Cabildo 36, 46, 90–92, 108, 145, 147, 149– 151, 158 Casa Nazareth 218 Centro de Estudios Legales y Sociales 19, 44, 106, 111, 113, 120, 130f., 241f., 252, 262, 323 Centro de Investigación y Acción Social 46, 136, 146, 152, 154–158, 187, 308, 342 Centros Clandestinos de Detención, siehe Folterzentren Chile 12f., 19, 21, 25, 30f., 34, 36–38, 43, 55, 113–115, 183, 208, 230, 263–267, 273f., 286, 289f., 345, 349f. Clarín 45, 106, 108, 112f., 121, 259 Comisión Argentina de Justicia y Paz 141, 144 Comisión de Familiares de Detenidos y Desaparecidos 221, 248, 275 Comisión Ejecutiva 55, 82, 169, 205, 210 Comisión Interamericana de Derechos Humanos 47, 53, 99–101, 103–110, 114, 118, 120f., 123f., 127f., 130f., 136, 161, 342 Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas 52, 161, 202, 278 Comisión Permanente 55, 80, 114f., 174, 265 Comisión por La Memoria 219f.
376 Comité de Cooperación para la Paz en Chile 264 Conferencia Episcopal Argentina 14, 18, 20, 43, 51, 54f., 57–60, 62, 64, 68–70, 82– 88, 93, 97, 103, 107, 113–120, 129f., 139, 141, 166, 168f., 177, 180–182, 185, 187, 189, 191f., 198f., 205, 209–211, 263, 265f., 333 Consejo Episcopal Latinoamericano 22, 27f., 126f., 137f., 164–166, 340 Criterio 46, 58f., 65, 72f., 91, 93, 105, 113, 145, 147–149, 158, 208, 292, 342 detenidos-desaparecidos, siehe Verschwundene Diözese 22, 36, 40, 42–44, 47f., 54, 64–67, 74, 93f., 109, 144, 157, 183, 218, 225, 231, 235, 237f., 246, 248–257, 263, 265, 267, 269–275, 277–280, 282–305, 308–314, 317, 321, 323–326, 328–330, 334–340, 343–346, 350f. Dirección de Inteligencia de la Policía de la Provincia de Buenos Aires 45f., 110, 180, 216, 218–221, 224f., 227, 232–234, 237–239, 241, 244–247, 256–259, 272, 275, 277 Documento Final 65, 193, 200, 202–206, 208 Episkopat 12–14, 19, 21f., 26, 28, 31–33, 35, 44, 46, 55–57, 59, 61, 63–67, 71, 76, 78, 80–82, 84, 86, 89–97, 105, 108, 110, 112, 118f., 122, 124f., 128f., 139–143, 156– 158, 170, 174, 176, 178, 180, 182, 186, 190, 192, 198–200, 254, 262–267, 324f., 341– 344, 346–349, 351f. Falange de la Fe 149 Folter 18, 51, 53, 59, 62, 80, 83, 86, 88–91, 96, 105f., 116, 122, 125–127, 129, 161, 164, 183, 209f., 237, 264, 279, 319f., 332, 336 Folterzentren 19, 52f., 100, 161, 204, 280 Friedensnobelpreis 33, 47, 133–139, 141f., 144–149, 151–153, 155–158, 246, 342
Orts- und Sachregister
Gente 152, 313, 327, 338f. Gottesdienst 47, 155, 158, 174, 182f., 208, 215, 217, 221–249, 252, 256–260, 272, 275–277, 280, 301–303, 335, 350f. Goya 43, 215, 314, 345 Guerilla 28, 30–32, 61f., 84, 91, 118f., 128, 150f., 160, 181, 185, 262, 265, 273, 282, 308 Heimatdiözese 40, 48, 175, 272f., 279, 317, 328, 345, 351 Iglesia y comunidad nacional 36, 159, 162, 184f., 189 Iglesia y Derechos Humanos 18, 192, 210f. Integralismus 23–25, 108 Interamerikanische Menschenrechtskommission, siehe Comisión Interamericana de Derechos Humanos Jesuiten
11, 13, 46, 112, 300, 305–311
katholische Kirche 11f., 14, 18f., 22f., 25– 27, 29f., 32, 35–41, 43f., 46f., 54f., 57f., 90, 102–106, 111f., 114, 119–124, 133, 136, 138, 140–144, 147, 149, 151–155, 157f., 163f., 166, 169, 178f., 183, 191, 193f., 197–199, 201, 210f., 215, 217, 227, 238, 240f., 262–270, 272f., 277, 280f., 290, 293, 295, 302, 310f., 314, 317, 325, 329f., 336f., 339, 341, 343–347, 349, 352f. Katholizismus 12f., 23f., 29f., 33–36, 38f., 46f., 49, 74, 80, 110, 113f., 126, 131, 133f., 137, 145, 149–151, 168, 197, 203, 206, 209, 224, 228, 241, 250, 260f., 263, 265, 270, 325, 330f., 341f., 344, 349 La Nación 12, 23, 33, 36, 45, 53, 68, 77, 93, 108, 113, 120, 130, 133–136, 138f., 142, 149, 192–198, 200f., 204–207, 232, 248f., 252–254, 285, 296 La Opinión 45, 58, 76–78, 92f., 96f., 99, 104, 108, 133, 135, 140, 142–145, 152, 154, 183, 205, 208, 296, 308
Orts- und Sachregister
La Plata 20, 35, 37, 45, 82, 158, 218–220, 223, 231, 257, 272, 277, 280, 288, 293f., 296–299, 302–304, 311f. La Prensa 21, 36, 45, 83, 99f., 112f., 157, 160, 169–172, 178, 180, 186–190, 204– 206, 247 La Razón 45, 57, 77, 91 Lateinamerikanische Bischofskonferenz, siehe Consejo Episcopal Latinoamericano Liga Argentina de Victimas del Terrorismo 152 Llamado a una mayor reconciliación 114, 120 Luján 17, 194, 221, 223, 229, 244, 257–260, 262, 272 Madres de Plaza de Mayo 19, 34, 36, 39f., 44, 47, 78, 95, 100, 103, 110f., 113f., 120– 127, 129–131, 136, 158–160, 162–183, 186–191, 193–201, 204, 210, 218–220, 223f., 227–234, 237, 239f., 243f., 248f., 251–262, 272, 275, 292, 324, 326, 344, 350f. Malvinas/Falkland-Krieg 160, 162, 190f. Mama Margarita 274, 280 Marcha de la Fe 275f. Medellín 22, 27f., 146, 274 Menschenrechte 12f., 15–18, 20, 22, 26f., 31, 33, 35–39, 41, 45–47, 49, 53f., 56f., 59f., 64f., 68–74, 77–81, 84, 86–88, 90– 97, 99–103, 105–113, 115–121, 126–129, 133f., 136–140, 142–144, 147, 150, 152, 156, 160–164, 166f., 169f., 174–176, 181, 184, 190–193, 201–204, 210f., 215, 217, 221, 227, 229, 232, 234–236, 239, 241f., 248–250, 253, 257f., 261–266, 268, 270, 273–278, 280, 282, 284, 286, 297–299, 302, 308, 321, 324–328, 330–332, 334f., 338, 340–350, 352f. Menschenrechtsaktivismus 13f., 16, 19, 30, 32–34, 39–41, 44, 47, 69, 92, 94, 97f., 102f., 109, 114, 119, 128, 158, 170–172, 174–176, 178, 181, 189, 191, 193, 196, 203, 216–218, 221–223, 228, 231, 235,
377 240, 247–252, 260, 262, 302, 341, 344, 347, 349, 351f. Menschenrechtsbewegung 11, 13f., 16f., 20, 33, 36f., 39, 44, 47, 69, 73f., 93, 99, 103, 108–110, 113f., 119, 121, 123f., 129– 131, 133, 135, 139f., 144, 147, 153, 158– 162, 168, 170f., 176–178, 181, 186, 188, 191, 193, 202–204, 208, 210, 215f., 224, 227, 231, 239f., 242, 245–247, 250, 252, 257, 262, 264, 268, 270f., 274f., 278, 291, 323f., 341f., 344, 348–350 Militärdiktatur 11–20, 24–26, 29, 31–34, 36f., 43, 53, 80, 97, 103, 110, 117, 130, 133, 159, 179, 196, 211, 215–217, 231, 248, 263, 265f., 271, 273, 275f., 278–280, 282, 319, 323–325, 329, 344–346, 350, 352 Militarisierung 22, 24 Militärjunta 16–18, 21, 29, 32f., 37, 46, 51, 54f., 62, 67, 71, 76–78, 80–87, 90–94, 96f., 99f., 102–109, 113f., 116–124, 127f., 130, 134, 138f., 142, 150, 160–165, 169, 171, 174, 179, 181, 187, 189f., 192f., 195, 197, 200, 202–209, 216, 232, 240, 247, 264, 270f., 279, 282, 298, 311, 318, 320, 323–325, 329–331, 341, 346f., 352 Militärputsch 17, 24f., 29, 31, 33f., 36, 45, 47, 51, 53f., 57, 59, 62f., 66, 68, 70–73, 78, 116, 124, 135, 168, 190, 194, 202, 231, 264, 266, 274, 280, 282, 286, 289f., 292, 297, 305, 312, 318, 321, 323f., 348 Morón 74, 256f., 309f. Movimiento de Sacerdotes para el Tercer 30, 81, 244 Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo 17, 29f., 151, 283 Movimiento Ecuménico por los Derechos Humanos 37, 171, 266, 291 Neuquén 36, 43–45, 66, 93f., 109, 160, 171f., 207–209, 215f., 218, 248–252, 255, 257, 269–276, 278–297, 299f., 302, 304f., 308, 310–315, 317, 321, 323–326, 328f., 333–340, 345, 348 Nobelpreisträger 13, 19, 33, 47, 133–158, 161, 205f., 241, 244, 246, 342
378 Osservatore Romano
Orts- und Sachregister
113, 143f.
Pacem in Terris 27 País y bien común 57 Pan y Trabajo 46, 58, 140, 145, 147, 150f., 153, 158, 208f. Papst 11, 19, 23, 99, 101–103, 109–116, 119, 122, 126, 137, 139, 152, 154, 165f., 174, 196–198, 200f., 230, 238, 269, 277, 306, 343 Pastoral de Migraciones 44, 171, 273, 278, 290f. Poder Ejecutivo Nacional 34, 135, 145, 185, 244, 300 Prozession 47, 215–217, 257f., 275 Puebla 22, 28, 126f., 137f., 164, 166, 281 Quilmes 36, 157f., 160, 225, 232, 237f., 244, 246, 248f., 251–257, 270–272, 310, 345, 351 Repression 14–16, 18, 20, 24, 29, 31–35, 38–41, 44f., 47, 51–55, 57, 59, 61–66, 69– 71, 73, 75, 79–82, 86–91, 95–97, 102f., 109, 117f., 123, 131, 133, 135, 142, 160f., 163, 165–167, 173, 183, 185, 188, 190f., 195, 197, 203, 205, 208, 211, 224, 235, 237f., 243f., 248, 255, 258, 264, 266, 271, 273f., 279–282, 286f., 289, 296, 298, 305, 317–319, 321, 326, 328, 330f., 333, 336, 341f., 346–350, 353 Rosenkranzgebet 218–221, 225, 247 Santa Cruz 157, 218, 241, 246, 292 San Vicente de Paul 221 Servicio Paz y Justicia 33, 37, 44, 63, 72–75, 113f., 133, 135f., 139–143, 145, 148, 151, 154, 157, 162, 252, 274, 344, 348 Solicitada 45, 113f., 159, 193, 196, 198f., 201, 247
Strafverfolgung 202f., 205f., 208–210, 278 tercermundistas 30, 91, 221, 297, 302 Terrorismus 146, 184f., 188, 202 Todesflüge 83 Transition 112, 159f., 162 Transposition 41–43, 48, 272, 290, 295f., 299, 305, 313, 317, 325, 328, 334, 338, 345f., 351 Tucumán 94, 100 Verschwindenlassen 11, 40, 43, 51–53, 62, 83, 90, 96, 102f., 105, 112, 122, 161, 183, 209, 229, 235, 237, 242, 247, 271, 318, 321, 323, 326, 341, 347 Verschwundene 11f., 17, 19, 33–36, 44f., 47, 51f., 54, 59, 66, 75, 78f., 81–83, 85, 87–90, 94–97, 100, 102f., 106f., 109–115, 117f., 120–126, 128–131, 135, 137, 143, 152, 157, 162–176, 178–195, 197–204, 209f., 215–219, 221–248, 250, 252, 256, 259–262, 264f., 272, 275–277, 280f., 291f., 302, 306, 317–324, 326–339, 341, 344, 346f., 349–352 Vicaría de la Solidaridad 263–266, 345, 349 Wahldiözese 175, 271–273, 288, 292, 296, 317, 340, 345, 351 Wallfahrt 215, 217, 223, 229, 244, 257–261, 275 Zugehörigkeit 19, 30, 40–43, 47f., 85, 127, 131, 135, 137–140, 142f., 147, 149, 153, 168, 171, 175, 182, 217, 228, 241, 243f., 248, 250, 262, 271–273, 283, 285, 289, 293–296, 299, 303, 305, 308f., 311, 313, 317, 325, 327f., 331f., 334, 337–340, 344– 346, 350f. Zweites Vatikanisches Konzil 22, 26f., 67, 92, 112, 191, 269, 282, 345
13. Personenregister
Aguirre, Antonio María 64, 157 Alemán, Miguel Ángel 169–171 Angelelli, Enrique Ángel 18, 66, 103, 290 Antokoletz, Maria Adela de 176, 197f. Aramburu, Juan Carlos 54, 111f., 193–196, 199–201, 231, 259f., 294, 309, 311 Bengochea, Juan 302–304 Berardo, Remo Carlos 96, 291f., 329 Bergoglio, Jorge Mario 11, 18f., 43, 283, 305–311 Bignone, Reynaldo 190, 202, 207 Bolatti, Guillermo 108, 312f. Bonafini, Hebe de 176, 197f. Bonamín, Victorio Manuel 92f., 108 Capitanio, Rubén 249f., 261f., 270, 277f., 284, 287f., 293–305, 310–314 Carter, Jimmy 37, 100f., 117 Casaretto, Alcides Jorge 157 Conrero, Blas Victorio 94 Dematti de Alaye, Adelina 219f. Devoto, Alberto 44, 56, 63–71, 76, 82f., 92, 172–175, 177f., 182, 184, 186, 312, 348 Di Stéfano, Ítalo Severino 67, 154–157, 172, 176 Galán, Carlos Walter 176, 256 Galbiatti, Héctor 277 Gera, Lucio 312, 314 Giaquinta, Carmelo Juan 177f., 312, 314
Hesayne, Miguel Esteban 66, 92, 111, 157, 166, 170f., 205–207, 209, 270, 303f., 343, 349 Iriarte, Juan José Jálics, Francisco Kemerer, Jorge
64, 66f., 82, 92, 157 300, 305–311 64, 81
Laguna, Justo Oscar 67, 82, 154f., 157, 184, 186, 205, 256 Laise, Juan Rodolfo 108 Leonfanti, Mario 290, 305, 310 López, Jorge Manuel 20, 64, 67, 84 Nevares, Jaime de 36, 44, 56, 63–71, 76, 81f., 84, 88, 92, 94–96, 109–111, 157, 170–178, 182, 186, 249f., 265, 270f., 273– 278, 280–282, 284–306, 308, 310–314, 317–331, 333–340, 343, 348f. Novak, Jorge 36, 157, 166, 170f., 184–186, 205, 225, 232f., 237f., 241, 246, 249, 252– 254, 256, 263, 265, 270, 272, 288, 310 Onganía, Juan Carlos
17, 29, 273, 348
Papst Johannes Paul I. 100 Papst Johannes Paul II. 28, 47, 101f., 111– 115, 125, 137, 151–153, 156, 165f., 193, 196f., 200, 237, 262, 343 Papst Johannes XXIII. 27 Perón, Juan Domingo 23, 29f.
380
Personenregister
Pinochet, Augusto 13, 266, 279, 289 Primatesta, Raúl Francisco 54, 58, 64–67, 76f., 80, 82, 93, 95, 104–108, 120–127, 130f., 162, 164, 167, 171, 189, 278 Psenda, Isidoro 232, 253, 255f. Puigjané, Antonio 249 Quarracino, Antonio
64, 66f., 193
Sansierra, Ildefonso Maria
92f., 108
Scilingo, Adolfo
83
Videla, Jorge Rafael 33, 77f., 80, 93, 96f., 99, 104, 127f., 130, 206f., 281, 318, 347 Von Wernich, Christian 18, 336 Yorio, Orlando
300, 305–311
Zaspe, Vicente Faustino 18, 64, 66f., 74f., 77f., 81, 84, 154, 157, 172, 176, 191f.