Theater in Argentinien 9783964564092

Mit monographischen Artikeln über die wichtigsten AutorInnen wird die Entwicklung des argentinischen Theaters in der 2.

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German Pages 296 Year 2002

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einführung
Annäherung an das argentinische Theater des 20. Jahrhunderts
Die Entwicklung des Theatersystems in Argentinien und Lateinamerika im 20. Jahrhundert
Die dreißiger und vierziger Jahre
Roberto Arlt (1900-1942)
Samuel Eichelbaum (1894-1967)
Bernardo Canal Feijóo
Aurelio Ferretti
Die fünfziger Jahre
Carlos Gorostiza (*1920)
Osvaldo Dragún
Agustín Cuzzani (1924-1987)
Juan Carlos Ghiano (1920-1990)
Julio Cortázar (1914-1983)
Alberto Rodríguez Muñoz (*1915)
Andrés Lizarraga (1919-1982)
Die sechziger Jahre
Ricardo Halac (*1935)
Roberto Cossa (*1934)
Germán Rozenmacher (1936-1971)
Sergio De Cecco (1931-1986)
Griselda Gambaro (*1928)
Eduardo Pavlovsky (*1933)
Oscar Viale (1932-1994)
Juan Carlos Gené (*1928)
Carlos Somigliana (1932-1987)
Die siebziger Jahre
Diana Raznovich (*1945)
Ricardo Monti (*1944)
Jorge Goldenberg (*1941)
Susana Torres Molina (*1956)
Patricio Esteve (1933-1995)
Die achtziger Jahre
Mauricio Kartún (*1946)
Eduardo Rovner (*1942)
Hebe Serebrisky (1928-1985)
Ricardo Bartis (*1949)
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Theater in Argentinien
 9783964564092

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Theater in Argentinien Karl Kohut, Osvaldo Pellettieri (Hrsg.)

THEATER IN LATEINAMERIKA Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 10

Theater in Argentinien

Herausgegeben von Karl Kohut und Osvaldo Pellettieri in Zusammenarbeit mit Sonja M. Steckbauer

Vervuert • Frankfurt am Main 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Katholischen Universität Eichstätt und der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika

Bibliograflsche Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliograflsche Daten sind im Internet Uber http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abbildung: Dama y caballero en el fondo del mar von Matilde Grant, Argentinien ISBN 3-89354-320-1 Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhalt

Vorbemerkung Einführung Karl Kohut Annäherung an das argentinische Theater des 20. Jahrhunderts Osvaldo Pellettieri Die Entwicklung des Theatersystems in Argentinien und Lateinamerika im 20. Jahrhundert Die dreißiger und vierziger Jahre Heidrun Adler Roberto Arlt Liliana B. López Samuel Eichelbaum Amalia Iniesta Cámara Bernardo Canal Feijóo Ana Cecilia Prenz Aurelio Ferretti Die fünfziger Jahre Marina F. Sikora Carlos Gorostiza Ana Ruth Giustachini Osvaldo Dragún Klaus Pörtl Agustín Cuzzani Susana M. Cazap Juan Carlos Ghiano Halima Tahan Julio Cortázar Gabriela Andrea Scartascini Alberto Rodríguez Muñoz Susana Freire Andrés Lizarraga

Die sechziger Jahre Maria Esther Bedin Ricardo Halac Martina López Casanova und Mónica Garbarini Roberto Gossa Jorge Hacker Germán Rozenmacher Ana Laura Lusnich Sergio De Cecco Kati Röttger Griselda Gambaro Alfonso de Toro Eduardo Pavlovsky Laura Mogliani Oscar Viale Cristina Massa Juan Carlos Gern Alicia Aisemberg Carlos Somigliarla Die siebziger Jahre Kati Röttger Diana Raznovich Heidrun Adler Ricardo Monti Verónica Médico Jorge Goldenberg Cecilia Hopkins Susana Tones Molina Martín Rodríguez Patricio Esteve Die achtziger Jahre Lidia Martínez Landa Mauricio Kartún Mirta Arlt Eduardo Rovner Beatriz Trastoy Hebe Serebrisky Adriana Scheinin Ricardo Bartis

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Vorbemerkung Das argentmische Theater des 20. Jahrhunderts ist in Deutschland kaum bekannt. Nur wenige Stücke sind übersetzt und aufgeführt worden. Das Gleiche gilt für den lateinamerikanischen Subkontinent allgemein. Während die Verleger den lateinamerikanischen Roman seit den sechziger Jahren zunehmend in ihre Programme aufgenommen haben (wenngleich nicht im gleichen Ausmaß wie die Werke des angelsächsischen und französischen Kulturkreises), haben die Bühnen das lateinamerikanische Theater weitgehend ignoriert. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Die von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika in Stuttgart herausgegebene Reihe "Moderne Dramatik Lateinamerikas" hat es sich zum Ziel gesetzt, den Theatermachern und dem Publikum dieses Theater nahezubringen. Bereits 1993 ist die von Hedda Kage und Halima Tahan herausgegebe Anthologie Theaterstücke aus Argentinien erschienen. Das vorliegende Buch ist als wissenschaftlicher Begleitband konzipiert. Die Anthologie ist zwangsläufig auf wenige Stücke begrenzt. Was jedoch für die Anthologie notwendig und unumgänglich war, ist es für den Begleitband nicht. So erklärt sich die Konzeption dieses Bandes, die sich nicht auf die Autoren und Stücke der Anthologie beschränkt, sondern die wichtigsten Autoren der Jahre zwischen 1930 und 1990 in kurzen monographischen Artikeln vorstellt, wobei den Autoren der Anthologie mehr Raum zugestanden wird als den anderen. Trotz dieser Erweiterimg handelt es sich immer noch um eine Auswahl aus einer weitaus größeren Zahl.1 Während die Bedeutung der aufgenommenen Autoren kaum diskutiert werden dürfte, kann man vermuten, dass Kenner des argentinischen Theaters den einen oder anderen Autor bzw. Autorin als zu Unrecht ausgeschlossen ansehen werden. Die Autoren werden in nach Jahrzehnten geordneten Gruppen zusammengefasst, wobei die Zuordnung nach dem Zeitraum erfolgt, in dem die Autoren auf der Bühne erschienen oder aber ihre größte Wirksamkeit entfalteten. Dieses Ordnungskriterium ist sicher nicht unproblematisch, da die meisten unter ihnen über mehrere Jahrzehnte auf den Bühnen von Buenos Aires präsent waren oder immer noch sind; das zeitliche Schema hilft jedoch, die Entwicklung des argentinischen Theaters zu verfolgen. 1

Das Wörterbuch der argentinischen Theaterautoren zwischen 1950 und 1990 von Perla Zayas de Lima enthält rund 400 Namen.

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Der Band ist in Zusammenarbeit deutscher Hispanisten, Mitgliedern der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika und Mitgliedern des von Osvaldo Pellettieri geleiteten Grupo de Estudios de Teatro Argentino (Studiengruppe des Argentinischen Theaters) der Universität von Buenos Aires entstanden. Die spanischen Beiträge wurden - soweit nicht anders angegeben - von Sonja Steckbauer ins Deutsche übersetzt. Dies gilt auch für die Zitate aus den behandelten Stücken, mit Ausnahme der in dem Band Theaterstücke aus Argentinien enthaltenen Stücke, bei denen die dortige Ubersetzimg übernommen wurde. Die Seitenangaben beziehen sich auf die zitierten argentinischen Ausgaben, mit Ausnahme wiederum der Stücke des Bandes Theaterstücke aus Argentinien. Trotz aller unumgänglicher Begrenzungen legen die Herausgeber mit diesem Band ein Autorenlexikon des argentinischen Theaters der Jahre zwischen 1930 und 1990 vor, wie es dies im deutschen Sprachraum bisher nicht gibt. Sie hoffen, dass es dazu anregen möge, den Reichtum und die Vielfalt dieses Theaters kennenzulernen. Eichstätt, im Oktober 2001

Karl Kohut

Annäherang an das argentinische Theater des 20. Jahrhunderts Karl Kohut Das argentinische Theater des 20. Jahrhunderts ist uns fremd und vertraut zugleich. Es steht in der Tradition des westlichen Theaters und nimmt im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Neuerungen auf, die in Europa, Nordamerika und anderen Ländern das Theater verändert haben. Zugleich bewahrt es jedoch eigene Traditionen und entwickelt sie weiter. Eigenes und Fremdes mischen sich und verleihen dem argentinischen Theater einen eigenen, unverwechselbaren Charakter. Hinzu kommen die individuellen Tönungen der Autoren. Die Zahl der produktiven Autoren von Rang ist erstaunlich hoch und dürfte nur von wenigen Ländern erreicht werden. Allerdings ist dieses sehr dichte und vielfältige Theaterleben weitgehend auf die Hauptstadt Buenos Aires beschränkt; die Bühnen der Provinzhauptstädte bleiben demgegenüber (manchmal durchaus zu Unrecht) im Schatten. Die Auswahl der Stoffe ist ein weiterer Grund für den besonderen Charakter des argentinischen Theaters. Die Autoren greifen gern auf bestimmte Ereignisse der nationalen Geschichte zurück, die im kollektiven Bewusstsein einen besonderen Stellenwert besitzen, und beziehen sich durchweg auf die jeweils aktuelle politische Situation. Viele unter den überaus zahlreichen Stücken des argentinischen Theaters haben einen hohen ästhetischen Rang und können vom deutschen Publikum als solche rezipiert werden, so wie es die Werke von Tschechow, O'Neill und vielen anderen rezipiert hat. Dennoch kann die Kenntnis zumindest einiger Grunddaten der argentinischen Geschichte, Politik und Kultur das Verständnis des argentinischen Theaters vertiefen. Dies ist das Ziel der vorliegenden Einführimg.1 Die Anfänge des modernen argentinischen Theaters am Ende des 19. Jahrhunderts Das argentinische Theater weist eine Reihe von Sonderformen auf, von denen manche ihre Wurzeln in der spanischen Tradition haben, andere

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In dieser Einleitung stütze ich mich auf meine Artikel 1990/1991,1993 und 1995, die ich für den vorliegenden Band überarbeitet und aktualisiert habe.

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wiederum nationalen Ursprungs sind. Als erstes ist der saínete zu nennen, der der so genannten "kleinen Gattung" (género chicó) des spanischen Theaters entstammt. Es handelt sich ursprünglich um einen kurzen komödiantischen Einschub, der im Goldenen Zeitalter nach dem zweiten Akt gespielt wurde. Charakteristisch waren dabei Gesangs- und Tanzeinlagen. In späterer Zeit verselbständigte sich der saínete, behielt jedoch seine Charakteristika bei. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Form sehr populär und ging von da aus in das argentinische Theater ein, wo sie bis in die Gegenwart lebendig geblieben ist.2 Die Tradition des saínete verband sich mit der Pantomime, die einen festen Platz im Zirkus des 19. Jahrhunderts hatte. Inhaltlich ist die Entwicklung der Pantomime als Vorstufe zum Theater mit der Figur des gaucho verbunden. Dies bedarf einer genaueren Erklärimg. Der gaucho ist das argentinische Gegenstück zum nordamerikanischen cowboy; im Unterschied zu diesem ist seine Figur jedoch in hohem Maße literarisch geprägt und aus der Folklore in die nationale Literatur eingegangen. Im 20. Jahrhundert wurde der ursprünglich verachtete gaucho zum Symbol der nationalen Identität. Dieser Vorgang ist wesentlich mit der Rezeptionsgeschichte des 1872 erschienenen Versepos Martín Fierro von José Hernández verbunden. Das Werk wurde bei seinem Erscheinen vom Bildungsbürgertum ignoriert, stieg jedoch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Nationalepos auf. Dieser Prozess wurde durch die Entwicklung der Figur auf dem Theater wesentlich verstärkt. Bereits 1873, ein Jahr nach Erscheinen des Martín Fierro, brachte Francisco Felipe Fernández in seinem Stück Solané einen gaucho auf die Bühne. Der Autor war einer der wichtigsten Dramatiker seiner Zeit und hatte sich das Ziel gesetzt, das Theater Argentiniens stärker auf nationale Themen auszurichten. Der Durchbruch kam allerdings erst mit der Figur des Juan Moreira. Eduardo Gutiérrez veröffentlichte 1879 und 1880 Episoden aus dem Leben dieses gaucho in der Zeitung La Patria Argentina. Die Zirkustruppe der Gebrüder Carlo verarbeitete den Stoff zu einer Pantomime. In dieser Truppe kam der Familie Podestà eine zentrale Rolle zu, deren neun Kinder theatralisch sehr begabt waren. Zur treibenden Kraft wurde bald der vierte Sohn, José J. Podestà, der zu den legendären Figuren der Frühgeschichte des argentinischen Theaters gehört. Das Ensemble der Podestà spielte 1884 Juan Moreira als Pantomime, ging dann damit auf eine Tournee durch mehrere Länder Lateinamerikas und kehrte 1886 nach Argentinien zurück, wo es das Stück 2

Zur Entwicklung des argentinischen saínete aus den spanischen Wurzeln s. die kritische Sicht von Pellettieri: El saínete español y el saínete criollo: géneros diversos. In: id. 1990,27-36 sowie Posadas/Speroni/Vignolo 1980/1986.

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in kleinen Städten der Provinz Buenos Aires aufführte. Nach einigen Vorstellungen fügte die Truppe Dialoge ein und verließ damit die reine Pantomime. Noch im gleichen Jahr 1886 wurde Juan Moreira in Chivilcoy, einer Kleinstadt in der Provinz von Buenos Aires, als Sprechdrama aufgeführt. Die Truppe entwickelte das Stück weiter und spielte es 1890 in Buenos Aires, wo es einen triumphalen Erfolg feierte. Die Bedeutung des Juan Moreira liegt in dem Zusammentreffen mehrerer Elemente. Thematisch etablierte es den gaucho auf der argentinischen Bühne; formal verschmolzen in seiner Entwicklung die bis dahin getrennten Formen des Volkstheaters mit dem sainete und der Zirkuspantomime zu einer Einheit; schließlich vereinte der Erfolg des Stücks die beiden bis dahin getrennten Publikumsschichten der Hauptstadt, nämlich die Anhänger des Volkstheaters und das europäisch orientierte Bildungsbürgertum. Neben dem nationalen Typ des gaucho wurde die Welt der Einwanderer zum zweiten wichtigen Themenbereich des Theaters, und auch hier verschmolzen thematische und formale Elemente zu einer neuen Einheit. Historische Grundlage war die massive Einwanderimg in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts, deren Folgen vor allem in Buenos Aires spürbar waren. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1890 und 1905 von 500.000 auf eine Million. Die Stadt, die zuvor von ihren Einwohnern selbstironisch "das große Dorf" genannt wurde, entwickelte sich zu einer modernen Metropole. 1914 war etwa ein Drittel der Bevölkerung des Landes nicht in Argentinien geboren, etwa vier Fünftel waren Immigranten oder Kinder von Immigranten, die nach 1850 eingewandert waren, die überwiegende Mehrheit aus Italien und Spanien (Wilhelmy/Borsdorf 1984/1985, II: 200). Die Einwanderer wurden der bevorzugte Stoff der Autoren der "kleinen Gattung", deren wichtigste Form der sainete war, der nun zunehmend "argentinisiert" wurde. Die Verlagerung auf ein neues soziales Milieu war zugleich die Ursache dafür, dass sich in die an sich komische Form zunehmend tragische Elemente mischten. Die Welt der Einwanderer war von latenter Tragik erfüllt, insofern als ihr Versuch, sich in der fremden Welt zurechtzufinden, stets von Scheitern bedroht war. Diese Fremdheit ist aber zugleich auch Quelle der Komik, da das Streben nach Anpassung ständig zu Missverständnissen und grotesken Situationen führt. Der aus Uruguay stammende Carlos Mauricio Pacheco (1881-1924) mischte das Lachen des sainete mit einer genauen Beobachtung der Welt der Einwanderer und wurde damit zum Vorläufer des so genannten grotesco criollo, das zu einer der wichtigsten Formen des argentinischen Theaters werden sollte. Hinzu kam als neues, wesentliches Element der Tango. Der Tanz war Ende des 19. Jahrhunderts in den bonarenser Hafenkneipen entstanden.

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1902 tanzte Pablo Podestá aus der bereits erwähnten Theater-Dynastie in dem Stück Fumadas von Enrique Buttaro zum ersten Mal einen Tango auf der Bühne (Posadas/Speroni/Vignolo 1980/1986, 158). Der Tango ist jedoch wesentlich mehr als nur ein Tanz. Zentrale Bedeutung für seine bis heute andauernde Wirkimg ist der Text. Einige der größten Dichter des Landes haben für den Tango geschrieben. Diese Texte bilden in ihrer Gesamtheit ein genaues poetisches Bild des kollektiven Bewusstseins der porteños genannten Bewohner von Buenos Aires. Charakteristisch ist die soziale Klage und Anklage (häufig aus der Perspektive der Immigranten) verbunden mit einer genauen Beobachtung der Realität, einem oftmals nihilistischen Weltbild, und dies alles getaucht in eine Melancholie, die viel vom Weltschmerz an sich hat. Zugleich ist der Tango aber auch eine Liebeserklärimg an die Stadt. Das mag paradox erscheinen, aber die Hassliebe zu ihrer Stadt charakterisiert das Bewusstsein der Bewohner von Buenos Aires, wie zahlreiche Gedichte und Romane bezeugen.® Als dritter wichtiger Themenbereich dieser Periode ist die Sozialkritik zu nennen, die vor allem in den Stücken des aus Uruguay stammenden Florencio Sánchez (1875-1910) zum Ausdruck kommt. In Barranca abajo von 1905, das als sein reifstes Werk gilt, schildert er die Leidensgeschichte eines alteingesessenen Argentiniers, die mit unerbittlicher Folgerichtigkeit zu dessen Selbstmord führt. Seine costumbrismo4 genannte Form der kritischen Darstellung der Gesellschaft, die wesentlich vom französischen Naturalismus beeinflusst ist, breitete sich in den folgenden Jahren über ganz Lateinamerika aus. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erreichte das argentinische Theater einen ersten Höhepunkt, so dass man rückblickend von einem "goldenen Zeitalter" spricht.5 Zahlreiche junge Autoren debütierten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und gaben dem Theater neue Impulse.

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Die Literatur zum Tango ist fast unübersehbar. Zur Einführung s. Reichardt 1981 und Rössner 2000. Der Ausdruck stammt ursprünglich aus der spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts und bezeichnet eine gesellschaftsbezogene Tendenz innerhalb der Romantik. Man kann den costumbrismo deshalb auch als eine romantische Vorform des Realismus sehen. So Castagnino 1968,102; zum Theater am Beginn des 20. Jahrhunderts s. weiterhin Ordaz 1980/1986, III, 169-192; zu Florencio Sánchez s. Bosch 1969 [1929], 103-116 und Castagnino 1968,109-112.

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Die Entwicklung des grotesco mollo (1910-1930) Die folgende Periode wird durch die Blüte des so genannten grotesco criollo charakterisiert. Das Wort criollo stammt aus der Kolonialzeit und bezeichnete den in Amerika geborenen Spanier. Im Argentinien der hier besprochenen Zeit meinte das Wort einen Argentinier, dessen Familie seit mehreren Generationen im Land lebte (im Gegensatz zum gringo, dem Eingewanderten oder auch nur Fremden). Der Begriff des Grotesken ist eine eigenständige argentinische Prägung, die mit dem uns geläufigen Begriff nur wenig zu tun hat. Er taucht zum ersten Mal 1923 im Untertitel des Stücks Mateo auf und meint die bereits mehrfach angesprochene Vermischimg von komischen und tragischen Elementen. Diese Neuprägung des Begriffs ist wesentlich auf den Einfluss des zeitgenössischen italienischen Theaters zurückzuführen. Der Dramatiker Luigi Charelli hatte sein Stück La maschera ed il volto von 1916 als Groteske bezeichnet, und Luigi Pirandello entwickelte den Begriff konzeptuell weiter (s. bes. Neglia 1970). Drei Autoren beherrschten in diesem Zeitraum die Bühnen des Landes: Armando Discépolo (1887-1971), Francisco Defilippis Novoa (18901930) und Samuel Eichelbaum (1894-1967).6 Discépolo brachte 1910 sein erstes Stück auf die Bühne und schrieb bis 1934 für das Theater. In seiner umfangreichen Produktion kommt den Stücken des grotesco criollo besondere Bedeutung zu. Ein besonderes Merkmal dieser Stücke ist die Sprachkomik, die durch die Verballhornimg des Spanischen in der Sprache der Einwanderer erzielt wird. Es gelingt ihm meisterhaft, die Herkunft der handelnden Personen in der Sprache sichtbar zu machen, der Bedeutung der italienischen Immigration entsprechend am häufigsten in der Vermischung des Italienischen und des Spanischen. In dem Stück Babilonia. Una hora entre criados von 1925 thematisiert er diese Problematik bereits im Titel. Die Personen des Stücks sind in der Mehrzahl Einwanderer: Italiener und Spanier aus verschiedenen Provinzen, dazu ein Franzose und ein Deutscher, die alle einen eigenen Ideolekt sprechen. Francisco Defilippis Novoa begann 1912 seine Theaterlaufbahn in der Provinzstadt Rosario mit Stücken sozialen Inhalts. Sein christlich gepräg-

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Castagnino (1968,139-142) zählt die drei Autoren zu den wichtigsten Erneuerern der argentinischen Bühne dieser Jahre. Zu Discépolo s. Ordaz 1980/1986, III: 409-432 und Pellettieri 1990,37-112; zu Defilippis Novoa s. Ordaz 1980/1986, III: 385-408; zu Eichelbaum ibid., 505-528 sowie den Artikel von Liliana B. López in diesem Band (61-71). Siehe dazu auch Pellettieri 2002, Kap. 8 (El grotesco criollo) und 9 (Precursores de la modernización).

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tes Theater war im Thema realistisch und im Ton romantisch. Wiederholt griff er auf Stoffe der Bibel zurück, was besonders in seinen Mariengestalten sichtbar wird. Mitte der zwanziger Jahre begann er, das Theater der europäischen Avantgarde, vor allem Pirandello und den deutschen Expressionismus, zu rezipieren. Er suchte neue Wege abseits der traditionellen Genera von Komödie und Tragödie. Seine Stücke tragen Bezeichnungen wie "irreales Drama" (drama irreal) oder "szenische Phantasie" (fantasía escénica). Die dramatische Produktion von Samuel Eichelbaum schließlich verbindet das Theater Discépolos und Defilippis Novoas mit dem der folgenden Periode. Seine Bühnenlaufbahn begann 1919 und endete fast fünfzig Jahre später, ein Jahr vor seinem Tod. Zwischen 1920 und 1951 brachte er mit Ausnahme der Jahre 1936-1939 Jahr für Jahr mehrere Stücke auf die Bühne. Eichelbaum entstammte einer jüdischen Familie, die am Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland eingewandert war. In seinen Stücken wird die soziale Analyse der Welt der (vor allem jüdischen) Einwanderer zu einer Darstellung existentieller Konflikte vertieft. Ausgehend von der Psychoanalyse Freuds thematisiert er die Identitätssuche des modernen Menschen, die über das Theater hinaus in der gesamten modernen argentinischen Literatur eine zentrale Rolle spielt. Die Suche nach neuen dramatischen Formen (1930-1960) Das Jahr 1930 markiert einen Einschnitt in der argentinischen Geschichte. General Uriburu stürzte in einem Militärputsch den greisen Präsidenten Irigoyen und beendete damit eine jahrzehntelange demokratische Entwicklung, die auf die innenpolitischen Wirren und Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts gefolgt war. Es begann eine Periode von Militärdiktaturen mit kurzen demokratischen Intervallen, die im Grunde erst 1983 mit dem Ende der Militärdiktatur des so genannten proceso zu Ende ging.7 Der politischen und sozialen Krise entsprach eine Krise des Theaters, das noch keine Mittel gefunden hatte, auf die veränderten sozialen Bedingungen zu reagieren. Der grotesco criollo war erschöpft, und aufmerksame Beobachter beklagten um 1930 die zunehmende Kommerzialisierung des

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Der Ausdruck geht auf das Programm der Militärdikatatur zwischen 1976 und 1983 zurück, dem die Putschisten den hochtrabenden Titel Proceso de Reorganisation National (Prozess der nationalen Erneuerung) gaben. S. dazu Avellaneda 1983 und 1986 sowie Nolte/Werz 19%.

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Theaters.® Die Krise weckte jedoch Gegenkräfte, die sich in mehreren Initiativen manifestierten, die das Theaterleben des Landes nachhaltig veränderten. Den Anfang machte das Teatro del Pueblo (Theater des Volkes), das Leonidas Barletta 1930 gründete und das 1931 seinen Betrieb aufnahm. Dieses musste zunächst ohne festes Haus arbeiten und fand erst später in der Straße Corrientes, in der sich in Buenos Aires das Theaterleben konzentriert, eine eigene Bühne. Die Initiative war auf dem Boden der so genannten Gruppe Boedo gewachsen. In der Straße Boedo lag das Verlagshaus von Antonio Zamora, in dem sich seit 1924 eine Gruppe linksgerichteter und sozial engagierter Autoren traf. Als Reaktion auf die Gruppe Boedo bildete sich die Gruppe Florida, so benannt nach einer Straße in einem damals eleganten Viertel. Der Gruppe Florida - ihr Status als Gruppe ist allerdings umstritten - gehörte unter anderem Jorge Luis Borges an. Aus dem Teatro del Pueblo entstand wenige Jahre darauf die Bewegung des Teatro Independiente (Unabhängiges Theater), das die Neuerungen des zeitgenössischen Theaters in Europa und Nordamerika aufnahm. 1935 gründeten einige Autoren (unter ihnen Discépolo und Eichelbaum) und Schauspieler den Núcleo de Escritores y Actores (NEA, Gruppe der Schriftsteller und Schauspieler), der sich das Ziel setzte, das internationale zeitgenössische Theater in Argentinien bekannt zu machen. Allerdings löste sich die Gruppe nach kurzer Zeit wieder auf. Ein längerfristiger Erfolg war der Comedia Nacional Argentina beschieden, die im gleichen Jahr 1935 mit ähnlichen Zielen gegründet worden war. 1943 kündigte die Stadtverwaltung von Buenos Aires den drei wichtigsten Ensembles des Teatro Independiente, die in städtischen Sälen spielten, und gründete das Teatro Municipal de la Ciudad de Buenos Aires in der Straße Corrientes. Später wurde das Gebäude abgerissen und an gleicher Stelle ein neues Haus erbaut, das den Namen Teatro Municipal General San Martin erhielt. Es ist seither das wichtigste Sprechtheater der Stadt mit zwei Bühnen und mehreren Vortrags- und Ausstellungsräumen (s. dazu Ordaz 1980/1986, IV: 197f.). Der bedeutendste Autor des Teatro del Pueblo ist Roberto Arlt (19001942), der bereits mehrere Romane publiziert hatte, bevor er sich dem Theater zuwandte.' Wie sein Romanwerk kann man auch sein Theater als Ordaz 1980/1986, IV, 193. Zum Theater der Periode 1930-1960 mit Canal Feijóo als zentraler Figur s. ibid., 193-216; weiterhin Castagnino 1968,145-192; Pellettieri 1990, 113-121 sowie die Artikel dieses Bandes im Kapitel "30er und 40er Jahre". ' Die Bedeutung Arlts als Theaterautor ist umstritten. Castagnino (1968,139 u. 144f.) zählt ihn zwar mit Defilippis Novoa, Discépolo und Eichelbaum zu den Erneuerern der argentinischen Bühne, fasst aber sein Werk nur summarisch zusammen. 8

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eine sozialkritische Studie der unteren Schichten der bonarenser Gesellschaft bezeichnen. Unter dem Einfluss Pirandellos und des Expressionismus wird die Sozialkritik durch existentielle Themen überlagert, die sich in den Antithesen Normalität und Wahn, Gesicht und Maske, Individuum und Gesellschaft fassen lassen. Formal reicht die Bandbreite seiner Stücke von der Farce (Saverio el cruel, 1936) über einen - von heute her gesehen - magischen Realismus (300 Millones, 1932 und La isla desierta, 1942) bis zur Tragödie (La fiesta del hierro, 1940). Bernardo Canal Feijóo (1897-1982) schließlich gehört als Theoretiker und Praktiker zu den zentralen Gestalten des argentinischen Theaters zwischen 1930 und 1960. Mit seinen Essays hat er die theoretische Diskussion dieser Jahre entscheidend beeinflusst.10 Sein dramatisches Werk ist schmal und umfasst nur drei Stücke. In historischen Stoffen sucht er nach den Wurzeln der nationalen Identität. Darüber wird später noch mehr zu sagen sein. Das argentinische Theater zwischen 1960 und 1990 Die politische und soziale Krise Argentiniens, die 1930 mit dem Sturz Irigoyens begonnen hatte, verschärfte sich mit dem Sturz Peróns 1955 dramatisch. Mehrere Putsche folgten in kurzen Abständen. 1973 kehrte der greise Perón nach Argentinien zurück, starb aber bereits 1976. Seine Witwe Isabel führte die Regierung fort, wurde aber noch im gleichen Jahr gestürzt. Es folgte die blutigste der argentinischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die bereits erwähnte Diktatur des Proceso de Reorganisation Nacional, die 1983 nach dem Scheitern des Abenteuers des Falkland-Krieges und einer desaströsen Wirtschaftspolitik abtreten musste. Seither ist Argentinien wieder eine Demokratie, ohne dass die Wunden der Vergangenheit bis jetzt verheilt wären." Die Theaterautoren reagierten mit einem zunehmenden politischen Engagement, das während der verschiedenen Militärdiktaturen zu einem latenten und oftmals offen ausbrechenden Konflikt mit der Zensur führte.

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Pellettieri (1990,123-127) beschränkt sich auf einen intertextuellen Vergleich von Saverio el cruel mit Enrico IV von Pirandello. S. dazu den Artikel von Heidrun Adler in diesem Band (49-60). Zu nennen sind: Por un teatro auténtico (Für ein authentisches Theater) und La expresión popular dramática (Der volkstümliche dramatische Ausdruck), beide von 1943, Tragedia y tragedia americana (Tragödie und amerikanische Tragödie, 1952) und Una teoría teatral argentina (Eine argentinische Theorie des Theaters, 1956). Der Sammelband Nolte/Werz (19%) gibt einen guten Überblick über die Entwicklung Argentiniens in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

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Die großen Theater des Zentrums wichen dem Konflikt aus und gestalteten ihre Spielpläne mit kommerziellen Stücken oder solchen des klassischen Repertoires. Das avantgardistische und politische Theater hingegen verlagerte sich zunehmend auf kleinere, oftmals improvisiert zu Theatern lungestalteten Sälen des "Off-Corrientes", so genannt in Analogie zum "Off-Broadway" (s. Mauricio 1978 u. Manzanal 1986). Trotz dieser unverkennbaren Politisierung zeichnete sich das argentinische Theater dieser Jahre durch eine erstaunliche Vielfalt aus. Dies ist einer neuen Generation von Autoren zu verdanken, die etwa zwischen 1950 und 1960 zu schreiben begann und das Theater bis in die neunziger Jahre hinein bestimmen sollte.12 In dieser Zeit werden verschiedene Tendenzen wirksam, die sich überkreuzen und überlagern. Von besonderer Bedeutung war 1963 die Gründung des Instituto Di Telia, dessen Centro de Experimentación Audiovisual für das Theater der so genannten Neoavantgarde zentrale Bedeutung haben sollte. Zu nennen ist weiterhin die Weiterentwicklung des Realismus, den Pellettieri "reflexiven Realismus" nennt und der sich vom "naiven" Realismus dadurch unterscheidet, dass sich die Autoren der Distanz zwischen der Realität und ihrer Abbildung bewusst sind, bewusst vor allem ihrer konzeptuellen Umgestaltung. "Diese Variante des Realismus steht in der Mitte zwischen der reinen Wahrnehmung und dem reinen Konzept", schreibt Pellettieri (1990,131). Hinzu kommt die Erneuerung des grotesco criollo, das manchmal auch neogrotesco genannt wird. Eine große Bedeutung hat das Theater des Absurden, und Armando (1985, 19f.) fügt als weitere Richtung das Theater der Grausamkeit in der Nachfolge Artauds an. Dabei leben die einheimischen Traditionen des saínete und des Tangos fort und überlagern sich mit den genannten Richtungen.13 In den neunziger Jahren deuten sich neue Tendenzen an, die der Postmoderne zugerechnet werden, so in den Werken Montis und Bartis' sowie einer erheblichen Zahl junger Autoren. Die politische Situation zwang die Autoren zu einer Allegorisierung ihrer Themen. In der Folge will ich deshalb auf zwei Komplexe besonders eingehen, die das Theater der Jahre zwischen 1960 und 1990 in hohem Maße bestimmt haben: die Auseinandersetzimg mit der Geschichte und 12

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Die wichtigsten Autoren dieser Jahre werden in diesem Band mit ihrem Werk vorgestellt. Zur Entwicklung des Theaters in diesen Jahren s. Pellettieri 1990,1994 und zahlreiche weitere Publikationen. Ein unentbehrliches Hilfsmittel ist das Autorenlexikon von Zayas de Lima (1991). Genaueres zu diesen Richtungen und ihrer Periodisierung ist dem folgenden Essay von Osvaldo Pellettieri zu entnehmen.

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die Reaktion auf die politische Situation. Beide Komplexe sind in den meisten Fällen eng miteinander verbunden. Theater und Geschichte Die Autoren greifen mit Vorliebe auf bestimmte Epochen zurück, wobei das Ende der Kolonialzeit und die Diktatur von Rosas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Rolle spielen. Nur erwähnen möchte ich die erstaunliche Zahl von Dramen, die auf Stoffe und Mythen der griechischen Antike zurückgreifen und sie für die argentinische Gegenwart umformen. Es wäre dies Gegenstand eines eigenen Artikels. Aus der Kolonialzeit möchte ich die Figur des Tüpac Amaru vom Ende des 18. Jahrhunderts herausgreifen, da sie um 1960 von drei Autoren dramatisiert wurde. Dies hat eine lange Vorgeschichte, die bis auf die Anfänge der argentinischen Unabhängigkeit zurückgeht. In diesen Jahren diente der Rückgriff auf die indianische Vergangenheit wie in anderen Ländern des Subkontinents dazu, sich ideologisch vom Mutterland Spanien abzugrenzen. Ein literarisches Zeugnis ist ein Stück über Tüpac Amaru von 1821, das Luis Ambrosio Morante zugeschrieben wird (Ordaz 1980/1986,212). Die erste der drei modernen Bearbeitungen stammt von Osvaldo Dragün und kam 1957 auf die Bühne. Der Autor reduziert das historische Geschehen auf einige wenige Linien. Die Rebellion des Tüpac Amaru wird von dem cacique Sahuaraura für das Versprechen verraten, der neue Inca zu werden. Tüpac Amaru siegt in der ersten Schlacht, unterliegt dann aber einer Koalition von Spaniern, criollos und Indianern. Er wird gefangengenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieses Handlungsschema wird allerdings durch politische und philosophische Elemente angereichert. Das Stück deutet die Geschichte dahingehend um, dass Spanien nur deshalb seine Herrschaft aufrechterhalten kann, weil criollos und Indianer sich ihrer gemeinsamen Interessen nicht bewusst sind, und letztere zusätzlich untereinander uneins sind. Erst der Tod Tüpac Amarus vereint die Indianer. Auf der philosophischen Ebene werden Tüpac Amaru und seine Frau Micaela zu existentialistischen Helden im Sinne Sartres, die die Freiheit wählen, obwohl sie sich bewusst sind, dass dies den Tod für sie bedeutet. Allerdings geht Dragün über die Philosophie Sartres hinaus, indem er dem Tod des Helden zusätzlich eine religiöse Dimension verleiht. Tüpac Amaru opfert sich wie Christus für sein Volk. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass sich der Himmel bei der Hinrichtung des Helden verdunkelt, so dass es scheint, dass die Nacht mitten am Tag hereingebrochen sei.

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In seinem Drama Tungasuka von 1968 weitet Bernardo Canal Feijóo den Stoff im Gegensatz zu Dragún zu einem historischen Tableau aus, in dem die komplexe historische Situation präzise herausgearbeitet wird. In der christlichen Deutung des Helden allerdings trifft sich Canal Feijóo mit Dragún. Sein Túpac Amara stirbt als Erlöser der Indianer, aber darüber hinaus auch ganz Amerikas. Im Túpac-Amaru (1973) von David Viñas schließlich wird der Held vom christlichen Erlöser zum Revolutionär der 60er Jahre, der allerdings immer noch christliche Züge trägt. Der Autor erreicht dies durch einige wenige Änderungen in der Darstellung des historischen Konflikts. Viñas betont die Ausbeutung der Indianer durch die Spanier. Túpac Amara wird von einem durch und durch christianisierten Indianer zum Revolutionär, der aber im Inneren christlich bleibt, da er nicht hassen kann. Politisch gesehen ist dies eine Schwäche, die schließlich zu seinem Untergang führt. Im Vergleich zu den beiden anderen Bearbeitungen des Stoffes ist das Stück Viñas' das am stärksten politische, das von einem Engagement im Sinne der Theorie Sartres getragen wird. Allerdings vermeidet der Autor die Fehler der engagierten Literatur und verzichtet darauf, die Personen zum Sprachrohr seiner Gesinnung zu machen; es gelingt ihm vielmehr, seine politischen Ideen überzeugend in dramatische Handlung umzusetzen. Alle drei Autoren aktualisieren den Stoff: Dragún interpretiert die Geschichte im Sinn der Philosophie des französischen Existentialismus neu, Canal Feijóo stellt sie in den Kontext der Frage nach einer amerikanischen Identität, und Viñas macht aus Túpac Amara einen Revolutionär der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Diktatur von Juan Manuel Rosas (1835-1852) ist bis heute ein Trauma des kollektiven Bewusstseins der Argentinier geblieben. Besonders lebendig wurde die Erinnerung in der Zeit der verschiedenen Diktaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Beispiele will ich die Stücke La malasangre (Böses Blut) von Griselda Gambaro und Una pasión sudamericana (Eine südamerikanische Passion) von Ricardo Monti kurz vorstellen. Gambaro schrieb ihr Stück 1981, in der Zeit der letzten Militärdiktatur, und brachte es im August 1982 zur Aufführung, zu einer Zeit also, in der das Ende der Diktatur bereits absehbar war. Die Handlung spielt um 1840 auf einer Hacienda. Die Personen sind der Vater, seine Tochter Dolores, der bucklige Hauslehrer Rafael, der Diener Fermín und der junge Juan Pedro, den der Vater als Ehemann für seine Tochter ausgesucht hat. Der Vater regiert das Haus tyrannisch und wird dabei von dem servilen Fermín unterstützt. Natürlich steht Juan Pedro auf seiner Seite. Dolores lehnt

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sich gegen die Tyrannei des Vaters auf und zieht den buckligen Hauslehrer dem reichen Juan Pedro vor. Die beiden planen die Flucht, die jedoch misslingt, da die Mutter sie verrät. Rafael wird ermordet, aber Dolores kehrt nicht in die Ordnung des Vaters zurück, sondern schreit ihm am Schluss des Stückes ihren Willen zur Freiheit entgegen. Das historische Ambiente des Stücks ist eine dünn verschleierte Allegorie der politischen Gegenwart. Das Stück von Ricardo Monti ist in dieser Hinsicht komplexer. Una pasión sudamericana wurde am 9. November 1989 uraufgeführt und markiert zusammen mit anderen Stücken den Übergang zum Theater der neunziger Jahre. Im Mittelpunkt steht einer der großen Skandale in den Jahren der Diktatur Rosas', und zwar die Liebesgeschichte der aus gutbürgerlichem Hause stammenden Camila O'Gorman und ihrem Hauslehrer, dem Geistlichen Ladislao Gutiérrez. Es gelingt den beiden zu fliehen. Sie werden jedoch von der Geheimpolizei des Diktators aufgespürt und, wie es heißt, auf Drängen der Bourgeoisie hingerichtet. Die tragische Geschichte gehört zu den Mythen der argentinischen Kultur. Monti begnügt sich jedoch nicht mit einer politischen Neuinterpretation des Mythos, sondern bereichert ihn mit neuen Elementen. Das wichtigste davon ist die Einführung eines Chors, der die Handlung burlesk kommentiert. Das Verfahren lässt sich auf das von Bachtin entwickelte Konzept der Karnevalisierung zurückführen. Ein weiteres Verfahren, das sich auf Bachtin zurückführen lässt, ist die so genannte Intertextualität, von der Monti extensiven Gebrauch macht. Das Stück ist voller Anspielungen auf andere literarische Werke, unter denen der Göttlichen Komödie Dantes besondere Bedeutung zukommt. Der Weg sollte aus der Hölle zum Paradies führen, oder im Sinne des mittelalterlichen Sinns von Komödie zu einem guten Ende. Statt dessen endet das Stück jedoch in der Tragödie. Mit dieser Interpretation ist der Reichtum des Stücks jedoch allenfalls angedeutet, mit dem Monti endgültig zu einem der wichtigsten argentinischen Autoren am Ende des 20. Jahrhunderts wurde. Inhaltlich weist das Stück über den unmittelbaren politischen Kontext hinaus und markiert damit den Übergang in die Zeit der Nachdiktatur. Formal lässt sich das Stück in die Ästhetik der Postmoderne einordnen, die in den neunziger Jahren auch auf dem argentinischen Theater wirksam wurde. Theater und Politik An den zuvor besprochenen Stücken von Gambaro und Monti wurde die Allegorie als zentrales Mittel des politischen Theaters in der Zeit der Diktatur eingeführt. Historische Stoffe waren aber nur eine unter zahlreichen Möglichkeiten, die Gegenwart auf der Bühne so verschleiert dar-

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zustellen, dass die Zensur nicht eingriff, obwohl man sich über die reale Täuschung nicht allzu große Illusionen machen sollte. Das Publikum jedenfalls war darauf eingeübt, die Bezüge zur Gegenwart zu entziffern, aber die Zensoren waren es vermutlich nicht minder. Fast alle Autoren, die in dieser Zeit Stücke auf die Bühne brachten (und das waren viele), schrieben implizit politisches Theater. Merkwürdigerweise verfolgte das Regime vor allem die Romanautoren, von denen die meisten ins Exil gingen oder schwiegen, während die Theaterautoren in aller Regel im Land blieben. Wie im Roman kann man auch im politischen Theater dieser drei Jahrzehnte drei Phasen unterscheiden. Die Stücke der ersten Phase reagieren auf die vorausgegangenen Diktaturen und das peronistische Zwischenspiel von 1973 bis 1976. Hierher gehören Stücke wie El campo (Das Lager, 1968) und Explicación para extranjeros (Erläuterung für Fremde, 1973) von Griselda Gambaro oder El avión negro (Das schwarze Flugzeug, 1970) von einer Gruppe von Autoren, der Roberto Cossa, Germán Rozenmacher, Carlos Somigliana und Ricardo Talesnik angehörten. Die Stücke der zweiten Phase wurden in der Zeit der letzten Diktatur geschrieben und/ oder aufgeführt. Hierher gehören u.a. Telarañas (Spinngewebe, EA 1977) von Eduardo Pavlovsky, La malasangre (1981/1982) von Griselda Gambaro sowie Stücke von Ricardo Monti, Osvaldo Dragún und Ricardo Halac. Die dritte Phase folgt auf das Ende der Diktatur und greift die politischen Themen der Vergangenheit im Rückblick auf. Der Ubergang zum Theater der 90er Jahre, in dem neue inhaltliche und formale Richtungen in den Vordergrund treten, ist fließend. In der zweiten, zentralen Phase spielt das Teatro Abierto (Offenes Theater) eine besondere Rolle. Es handelt sich um eine literarisch-politische Bewegung, die politisches Theater in kleinen Sälen des so genannten "Off-Corrientes" zur Aufführung brachte. Die erste Spielzeit von 1981 war zugleich die theatralisch wichtigste. Es folgten 1982 und 1983 weitere Spielzeiten, bis das Teatro Abierto durch das Ende der Diktatur die politische Grundlage verlor. Für das Teatro Abierto schrieben die besten Autoren dieser Jahre, unter ihnen Roberto Cossa, Griselda Gambaro, Carlos Gorostiza, Ricardo Monti, Eduardo Pavlovsky, Juan Carlos Gené und Carlos Somigliana. Insgesamt wurden in den drei Spielzeiten rund 100 Stücke aufgeführt. Sicher waren darunter auch viele Texte, die den Tag nicht überlebt haben. Insgesamt bedeutet das Teatro Abierto jedoch eine bewundernswerte Solidarisierung von Autoren, Schauspielern und Publikum angesichts der diktatorialen Repression und ihren Gräueln, die bis heute die argentinische Öffentlichkeit beschäftigen. Wenn ich zuvor schrieb, dass das Regime dieses Theater tolerierte, so gilt dies sicher nur mit Einschränkungen. So brannte das Teatro del Pica-

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dero, in dem das Teatro Abierto in der ersten Spielzeit residierte, am 6. August 1981 ab. Die Ursache des Brandes wurde nie geklärt, und man darf vermuten, dass es sich um einen Versuch handelte, die Beteiligten einzuschüchtern, was allerdings nicht gelang. Der Falkland-Krieg von 1982 lenkte die Aufmerksamkeit auf andere Dinge und führte zu einer nicht zu unterschätzenden Solidarisierung der Bevölkerung Argentiniens mit dem Regime, das sich trotzdem nur noch wenige Monate halten konnte.14 Ausblick Etwa um 1990 beginnt eine neue Phase des argentinischen Theaters, in der wiederum inhaltliche und formale Elemente miteinander verschmelzen. Die Ansätze zeigen sich bereits in den 80er Jahren. Obwohl zahlreiche Autoren der vorausgegangenen Phase weiter produzieren, ist der Geist dieser Jahre ein anderer. Das Private kommt wieder stärker zur Geltung wie im Theater von Eduardo Rovner, oder aber Probleme der weiblichen Identität wie bei Diana Raznovich oder Torres Molina. Formal könnte man es vorläufig mit dem Konzept der Postmoderne in Verbindimg bringen, wie bereits an Una pasión sudamericana von Ricardo Monti angedeutet wurde. Auch das Werk von Mauricio Kartún kann in diesem Kontext gesehen werden. Postales argentinas (1989) markiert vielleicht noch deutlicher den Übergang. Das neue Theater dieser Jahre müsste Gegenstand eines eigenen Bandes sein.15 Diese Ein- und Hinführimg könnte leicht den Eindruck erwecken, dass das argentinische Theater ein sehr lokales Produkt sei, zum Verzehr im Lande bestimmt, und dass zu seinem Verständnis ein größeres Vorwissen erforderlich sei, als man von einem normalen Zuschauer erwarten 14 15

Zum argentinischen Theater in der Zeit der Diktatur, und insbesondere zum Teatro Abierto s. Arancibia/Mirkin 1992 und Graham-Jones 2000. Die wichtigsten Autoren der siebziger und achtziger Jahre werden in den beiden letzten Kapiteln dieses Bandes vorgestellt. Zur Situation des argentinischen Theaters in der Zeit des Übergangs (in der Politik wie auf der Bühne) der achtziger Jahre s. das Sonderheft Contemporary Argentine Theatre (1991) der Latin American Theatre Review sowie Pellettieri 1994. Die aktuelle Entwicklung des argentinischen Theaters (und darüber hinaus ganz Lateinamerikas) lässt sich hervorragend in der von der Theaterkritikerin und -autorin Halima Tahan herausgegebenen Zeitschrift Teatro cd Sur verfolgen, die zunächst Teatro del Sur hieß. Herausgreifen will ich die Nr. 1 vom Juni 1994 mit drei Artikeln zur Situation des argentinischen Theaters, sowie die Nr. 13 vom Dezember 1999 mit dem Dossier "Perspectivas sobre el teatro argentino". Zu nennen sind weiterhin die von Osvaldo Pellettieri jährlich Anfang August organisierten Kongresse des Grupo de Estudios de Teatro Argentino (GETEA), deren Vorträge in Kongressakten publiziert werden.

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darf. Aber das argentinische Theater ist in seinen besten Werken lokal und universell, so wie die Stücke von Tschechow russisch sind und universell zugleich, oder besser noch: sie sind universell, gerade weil sie das besondere Argentinische zum Gegenstand ihrer Stücke machen. Obwohl einige Autoren und Stücke ins Deutsche übersetzt und gelegentlich auch aufgeführt worden sind, ist das argentinische Theater noch zu entdecken.

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Die Entwicklung des Theatersystems in Argentinien und Lateinamerika im 20. Jahrhundert Osvaldo Pellettieri I.

Die Gesellschaft der lateinamerikanischen Metropolen öffnete sich in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Von der Architektur bis zum Roman setzte in den Künsten ein Prozess der Modernisierung ein, der wesentlich von den Ideen der europäischen Avantgarde beeinflusst war. Dieser Prozess ist jedoch nicht als eine passive Rezeption europäischer Modelle zu verstehen, sondern als ein produktiver Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen. Das Theater bildet dabei keine Ausnahme. Das lateinamerikanische Theatersystem,1 das in der Vergangenheit eigenständige Modelle entwickelt hatte, öffnete sich den neuen Bewegungen. Der "externe Stimulus" (s. Golluscio de Montoya 1984) regte die Eigenbewegung unseres Theatersystems an. Dieses integrierte die gesellschaftliche Modernisierung,2 was u.a. zu der sogenannten kollektiven Schöpfung (creación colectiva) führte, bei der das Theaterensemble nicht den vorgegebenen Text eines Autors aufführt, sondern gemeinschaftlich einen Text erarbeitet. Die kollektive Schöpfung nimmt die europäische Avantgarde auf und verwandelt sie in einem anderen kulturellen und sozialen Kontext zu etwas Neuem. In Lateinamerika gab und gibt es von den Anfängen des Theaters an drei Theatersysteme: Das Bildungs-, das Volks- und das indianische Thea-

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Die Bezeichnung Theatersystem (span. "sistema teatral") übernehmen wir von Tynjanov 1970,89-101 und unterscheiden dieses System, das zur Produktion neuer Texte geführt hat, von anderen Texten, die sich durch Unbeweglichkeit charakterisieren. S. Guill6n 1971; Villegas 1984,5-40; de Toro 1986; Altamirano/Sarlo 1983,15-32. Unsere Arbeitsmethode basiert auf der Studie der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Texten in Lateinamerika, ausgehend von Tynjanov 1968, welcher drei Etappen der literarischen Produktion unterscheidet: Zuerst die Konfrontation des automatisierten, konstruktiven Prinzips mit einem neuen, gegensätzlichen Prinzip; dann die Suche des neuen Prinzips nach einer Ausbreitung und weiteren Anwendungen; und zuletzt die Automatisierung des konstruktiven Prinzips und das Erscheinen eines neuen. Weiterhin weisen wir hin auf die Konkretisierung von Textmodellen und auf die Werke, die Jauß (1970,195-199) als "epochebildende Momente" bezeichnet.

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ter.3 Da die beiden letzteren wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet sind, soll in diesem Artikel ausschließlich das Bildungstheater behandelt werden, wobei jedoch die beiden anderen Systeme einbezogen werden sollen. Das Theatersystem der Jahre 1925-1980 lässt sich in zwei Mikrosysteme unterteilen: 1925-1960 und 1960-1980." II. Um die Modernisierung der 20er Jahre zu verstehen, ist es notwendig, zuerst kurz die Ausgangssituation zu beschreiben. Besonders in den großen Städten - Buenos Aires, Mexiko-Stadt, Santiago de Chile, Havanna existierte ein lebendiges Bildungstheater mit Autoren, Schauspielern, Publikum und Kritik, das über die notwendige Infrastruktur mit Theatersälen verfügte. Angeregt durch den europäischen Naturalismus kam es um die Jahrhundertwende zu einer besonderen Form des Realismus. Dieser Vorgang korrespondierte mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen: der Aufstieg des Bürgertums, die europäische Immigration und die Herausbildung einer intellektuellen Elite, die von der politischen Macht relativ unabhängig war. So entstand ein neues Publikum, das vom Theater ein realistisches oder auch idealisiertes Bild der Realität erwartete. Die liberal und positivistisch eingestellten Theaterkritiker wiederum wollten das Theater als soziale Praxis einführen, ohne dieses Ziel jedoch jemals zu erreichen, da ihr Erwartungshorizont mit den Konventionen der Gattung übereinstimmte. Einer der wichtigsten Vertreter dieses neuen Realismus war der uruguayische Dramatiker Florencio Sánchez, der das argentinische Theater zu Beginn des 20. Jahrhunderts in hohem Maße beeinflusst hat. Seine Nachwirkung lässt sich bis in die 40er Jahre hinein erkennen, wie z.B. in El puente (Die Brücke) von Carlos Gorostiza oder bei volkstümlichen Autoren wie Armando Discépolo. 3

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Für das Theater gilt, was Ana Pizarro (1985,19) für die Literatur sagt: "Was wir lateinamerikanische Literatur nennen, ist in Wirklichkeit ein Gemisch von mindestens zwei oder drei unterschiedlichen Literatursystemen, welche aus meist sehr unterschiedlichen kulturellen Systemen entstanden sind." Für diese zeitliche Einteilung bezeichnen wir als "Theatersystem", was Fernando de Toro als "Supersystem" bezeichnet, d.h. ein "umfassendes System". Das Konzept "System" ist sehr weitreichend, da es eine Gruppe von Ländern, ein Land oder eine Region umfassen kann. Das Konzept "Subsystem" ist für uns, was Fernando de Toro als "Makrosystem" bezeichnet, d.h. "interne Unterteilungen" innerhalb des Systems, Einschnitte, Veränderungen in den verschiedenen Niveaus der Texte, in ihrer Verbreitung und Rezeption. Das "Mikrosystem" hingegen beinhaltet für uns Besonderheiten verschiedener dramatischer und theatraler Texte innerhalb des Subsystems.

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Im kanonischen Modell dieses Theaters, Barranca abajo (Unten am Hang, 1905), treffen der sentimental geprägte Realismus der Jahrhundertwende und der artistisch geprägte Naturalismus europäischer Herkunft aufeinander. Auf der Handlungsebene oder der Tiefenstruktur5 kämpft das Individuum um seine soziale Ehre. Die Gesellschaft zwingt den Menschen zu diesem Verhalten und ist zugleich sein schärfster Gegner. Auf der Ebene der Intrige oder der Oberflächenstruktur versucht ein Individuum, seine eigene Realität und die seiner Umgebung zu verändern; es scheitert aber, da es dazu weder die Kraft hat noch die Möglichkeiten findet, und wird schließlich von der Gesellschaft zerstört. Das realistische und gesellschaftskritische Ideendrama vom Beginn des 20. Jahrhunderts kommerzialisierte sich zu Beginn der 20er Jahre immer mehr und vermischte sich in Argentinien wie auch in anderen Ländern mit volkstümlichen Theaterformen. III. Ab Mitte der 20er Jahre ist eine Bewegung der Modernisierung zu beobachten, die das realistisch-costumbristische Theater ablöst. Wir bevorzugen den Ausdruck "Modernisierung" gegenüber "Avantgarde", weil die ersten Autoren dieser Richtung die Institution des Theaters nicht in Frage stellten, sondern es im Gegenteil konsolidierten. Zu nennen sind in Argentinien der bereits erwähnte Armando Discépolo, dann Samuel Eichelbaum und Francisco Defilippis Novoa; in Mexiko Celestino Gorostiza, Xavier Villaurrutia und Rodolfo Usigli; in Puerto Rico Emilio Beiaval; in Chile Armando Mook und in Kolumbien Luis Osorio. Sie alle strebten ein neues Bildimgstheater an. Ihre Vorbilder waren Pirandello, Strindberg, Lenormand, O'Neill sowie die Dramatiker des Expressionismus. Sie beschäftigten sich mit der Desintegration des europäischen Positivismus bei Henri Bergson, der die Intuition als einzige Möglichkeit des Wissens ansah, mit dem Vitalismus und Nihilismus Friedrich Nietzsches; besondere Bedeutung gewann die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die zur Ausbildung eines Theaters des Unbewussten führte.

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Wir behandeln in diesem Beitrag Produktion, Verbreitung und Rezeption der dramatischen Werke, wie auch ihre textuelle Struktur, die verschiedenen Handlungsebenen, den verbalen und den semantischen Aspekt. Besonders wichtig erscheint uns die Sicht Villegas1 (1982, 25ff.), der die dramatische Handlung als eine Abstraktion und nicht als eine konkrete Handlung ansieht (vgl. auch Gouhier 1962,62ff.). Pavis bezeichnet die Handlung zutreffend als "ein veränderndes und dynamisches Element [...], welches es erlaubt, logisch und zeitlich von einer Situation zu einer anderen zu gelangen" (1983,5ff.).

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Folgende Stücke sollen herausgegriffen werden: In Argentinien María la Tonta (Die dumme Maria, 1927) von Francisco Defilippis Novoa; En tu vida estoy yo (Ich bin in deinem Leben, 1934) von Samuel Eichelbaum; Trescientos millones (300 Millonen, 1932) und Saverio el cruel (Saverio der Grausame, 1936) von Roberto Arlt; in Mexiko El ausente (Der Abwesende, 1937) von Xavier Villaurrutia. Während die Autoren bis dahin die europäischen Modelle mit den einheimischen Traditionen zu verbinden suchten, richteten sich die Autoren in den Jahren zwischen 1925 und 1960 allein an den europäischen und nordamerikanischen Vorbildern aus. So vertiefte beispielsweise Roberto Arlt in den 30er Jahren die semantische Ader Pirandellos. Trotz seiner Kreativität war er davon überzeugt, dass sein Theater mehr mit dem europäischen als mit dem argentinischen Theater verbunden war. Allerdings blieben er und die anderen hier genannten Autoren den einheimischen Traditionen stärker verbunden als ihnen selbst bewusst war. Neben diesen Traditionen und dem an europäischen und nordamerikanischen Modellen orientierten Bildungstheater muss als dritte Komponente dieser Phase das experimentelle und unabhängige Theater genannt werden, 6 das sich an den Universitäten ausbildete und in manchen Ländern Distanz zum etablierten Theater hielt. 1928 entstand in Mexiko das von Villaurrutia, Novo und Gorostiza gegründete Teatro Experimental Ulises, 1930 in Argentinien das von Leónidas Barletta gegründete Teatro del Pueblo (Theater des Volkes). Dieses nichtkommerzielle Theater breitete sich schnell in ganz Lateinamerika aus und gewann in Uruguay (Teatro del Pueblo, 1937) und Chile (Teatro Experimental der Katholischen Universität, 1941) besondere Bedeutung. Die neuen Theatergruppen hatten das Teatro del Pueblo von Buenos Aires als Vorbild. Da sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, kann man sie als Bewegung bezeichnen. Sie distanzierten sich vom traditionellen Theater, was in manchen Fällen bis zur völligen Ablehnung gehen konnte. Klassische und moderne Autoren des Auslands, die im eigenen Land unbekannt waren, wurden aufgeführt. Etwa ab den 40er Jahren übernahm man neue Schauspieltechniken, gab dem Regisseur größere Macht und wertete den Bühnenbildner auf. Bei den Trägern dieser Bewegung kann man eine unbewusste Tendenz zur Selbstaufopferung beobachten, um damit ihren zukünftigen Erfolg zu ermöglichen (vgl. Poggioli 1964,35-48).

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Rojo (1972,49) bezeichnet es als Theater der Phantasie. Dauster (1973,21) bezeichnet seine Autoren als experimentell, Arrom (1963,19) als avantgardistisch.

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Diese Bewegung wurde von einer didaktischen Konzeption getragen, die eine Konstante des lateinamerikanischen Theaters aufnahm und intensivierte. Das Volk sollte mittels des Theaters erzogen werden. Diesem Zweck dienten auch Theaterzeitschriften, Ausstellungen, Vorträge und Aufführungen lokaler Autoren.7 Zusammenfassend lässt sich das Theatermodell der ersten Phase der Jahre 1925-1960 wie folgt charakterisieren: Die Tiefenstruktur wird durch kurze Sequenzen charakterisiert. Das Objekt der Wünsche ist nichts Konkretes, wie etwa soziale Ehre, Geld oder Liebe, sondern ist wie in den oben angeführten Beispielen eine "symbolische Abstraktion": In María la Tonta ist es die Liebe zur Menschheit; in Saverio el cruel und Trescientos millones das Scheitern eines Traums, in El ausente die Negation der äußeren Welt. Die Bevorzugung kurzer Sequenzen führt auf der Handlungsebene zu Veränderungen des aristotelischen Modells von Anfang, Mitte und Ende der Handlung. Diese wird in kleine Abschnitte zerlegt. Die Vorgeschichte wird nur verkürzt gezeigt, und der Zusammenhang zwischen den einzelnen Sequenzen ist in den meisten Fällen nicht mehr klar erkennbar. Auf der Ebene der Personen kann man zwei Arten von Aktoren unterscheiden, die sich in Haupt- und Rahmenhandlung abwechseln: Leidende - Betrügende; symbolische Personen - Typen; realistische - phantastische Personen. Vor allem im Text von Eichelbaum wird damit ein Effekt der Gleichzeitigkeit erreicht. Die subjektive Zeit im Sinne Bergsons soll damit in der Theaterhandlung sichtbar gemacht werden. Das traditionelle Beiseitesprechen wird zu inneren Monologen, die den Seelenzustand der Personen erkennen lassen. Die äußere Handlung ist meistens sehr reduziert: Im Mittelpunkt von María la Tonta und den Stücken von Arlt stehen Protagonisten, die selbst nicht handeln und die dann, wenn sie es doch einmal tun, kaum an der Entwicklung der Intrige teilhaben.

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Noch interessanter als die Zeugnisse von Barletta (1960) und die Darstellungen von Theaterwissenschaftlern wie Marial (1955) erscheinen uns die Aufzeichnungen der Regisseurin Mané Bernardo, die zu jener Zeit am Teatro de la Cortina (Theater des Vorhangs) arbeitete: "Ich arbeitete zehn Jahre lang am Teatro de la Cortina, in dieser Zeit führten wir ungefähr 250 Stücke auf. Die Stücke waren nicht von argentinischen Autoren, weil es uns wichtiger war, dem Repertoire, dem Regisseur und dem Bühnenbildner Vorrang zu geben. Das nationale Repertoire war zu jener Zeit sehr klein, es wurden nur saínetes geschrieben. Der Regisseur war der Hauptdarsteller, manchmal gab es auch keinen Regisseur. Die Dekoration bestand aus bemalten Stoffen, die man auslieh. Andererseits hatten wir Schauspieler in der Gruppe wie Saulo Benavente, die ihre neuen Ideen verwirklichen wollten" (Bernardo 1983,59).

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Das Drama ist subjektiv und bekennend geworden. Es ist die Semantik des subjektiven Expressionismus, "die Dramatisierung der Isolation und der Verletzlichkeit, der Schrei des in einer sinnlosen Welt verirrten Individuums" (Williams 1982,163). Kann man die erste Phase des Makrosystems als Eintritt des lateinamerikanischen Theaters in die Welt bezeichnen, so gilt die zweite Phase (1925-1960) als Wiederentdeckung der lateinamerikanischen Traditionen. Aus dieser Phase sollen folgende Stücke stellvertretend hervorgehoben werden: in Mexiko El gesticulador (Der Gestikulierende, 1937) von Rodolfo Usigli, El color de nuestra piel (Die Farbe unserer Haut, 1952) von Celestino Gorostiza und Susana y los jóvenes (Susana und die Jugendlichen, 1954) von Jorge Ibargiiengoitia; in Argentinien El puente (Die Brücke, 1949) von Carlos Gorostiza, und in Nicaragua Chinfonía burguesa (Kleinbürgerlicher Dudelsack, 1957) von José Coronel Urtecho und Joaquín Pasos. In El gesticulador wird die politische Rede als Mittel zu einer Satire lateinamerikanischer Mythen benützt. Der Autor kehrt scheinbar zum Realismus der Jahrhundertwende zurück, unterminiert ihn jedoch durch die Funktionen der Modernisierung. El puente8 greift Themen und Personen aus dem Bereich der sozialen Verantwortimg wieder auf. Wie im Fall von El gesticulador erinnert auch in diesem Stück der Realismus an die Zeit der Jahrhundertwende, der aber bereits den Einfluss von Arthur Miller und Tennessee Williams erkennen lässt, die im folgenden Jahrzehnt das lateinamerikanische Theater prägen sollten. In beiden Stücken spürt man negativ die Abwehr des kommerziellen Theaters und der modernisierenden Ästhetik und positiv die Rückkehr zu lateinamerikanischen Traditionen, um auf diesem Weg das Volk als Publikum zu gewinnen. Je mehr man sich den 50er Jahren nähert, desto bedeutsamer werden die ästhetischen Veränderungen, und desto reifer wird das unabhängige Theater Argentiniens, Uruguays, Cubas und Chiles. Mitte der 50er Jahre kündigen sich dann die grundlegenden Veränderungen der dritten Phase an. Wieder geht es um den Realismus, der nunmehr durch eine Aufnahme des Volkstheaters sowie die Aneignung des Theaters von Bertolt Brecht erneuert wird. Beispiele für diese Tendenzen sind Auto da Compadecida (Drama der mitleidigen Frau, 1955) des Brasilianers Ariano Vilar Suassuna sowie drei kurze Stücke der Mexikanerin Elena Garro: Un hogar sólido (Ein festes

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Wir betrachten diesen Text sowohl als Verbindung des argentinischen Theaters der Jahrhundertwende mit dem entstehenden unabhängigen Theater wie auch als Brücke zwischen der Mittel- und der Arbeiterklasse, die in den 40er Jahren in Argentinien aufeinander trafen. Vgl. Pellettieri 1981 und 1989a.

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Heim, 1957), Andarse por las ramas (Durch Äste spazieren, 1958) und La señora en su balcon (Die Dame auf ihrem Balkon, 1960). Diese Stücke wurden im Teatro Universitario Mexicano aufgeführt; großen Einfluss hatte dabei die Gruppe von Lyrikern des Grupo Poesía en Voz Alta (Gruppe Poesie mit lauter Stimme), zu deren Mitgliedern auch Octavio Paz zählte. Garro arbeitet mit den Versatzstücken des Realismus der Jahrhundertwende, dessen Grenzen sie jedoch erkennt. Sie schafft ein Theater, das dem Phantastischen nahe ist und literarische und theatralische Sequenzen mischt. Ihre Stücke werden von der Gleichzeitigkeit bestimmt. Sie überschreitet den realen Raum, indem sie die imaginäre Welt der Protagonisten darstellt. In der Spontaneität ihres Handelns wird "ihre Fähigkeit für Kreativität und Spiel [sichtbar] sowie die Leichtigkeit, mit der sie die Trivialität der alltäglichen Dinge übergehen, indem sie magische Kräfte und unendlich viele verschiedene Sinne erhalten" (Ostergaard 1982). In ihrem scheinbar sinnlosen Handeln kündigt sich eine Form des Absurden an. Der Humor der Personen ist Ausdruck der Polemik der Autorin gegen die kleinbürgerliche Gesellschaft. Eine Variante dieser Auseinandersetzung mit dem Realismus der Jahrhundertwende findet man bei einer Reihe von Autoren, die gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse protestieren. Diese Autoren verzichten auf melodramatische Effekte und die vorgegebenen Muster des Costumbrismus und folgen verschiedenen philosophischen und literarischen Modellen: so dem Existentialismus in Caín adolescente (Der junge Kain, 1955) des Venezolaners Román Chalbaud; dem Brecht'schen Modell in Historias para ser contadas (Geschichten zum Erzählen, 1957) des Argentiniers Osvaldo Dragún; dem Expressionismus in Los soles truncos (Die zerbrochenen Sonnen, 1958) des Puertoricaners René Marqués oder dem Volkstheater in En la diestra de Dios Padre (An der Rechten Gottes des Vaters, 1960) des Kolumbianers Enrique Buenaventura. IV. Etwa in den 60er Jahren entstand in Lateinamerika ein neues Theatersystem, in dem sich ein reflexiver Realismus, die europäische Moderne und die kollektive Schöpfung mischten. Verschiedene politische und intellektuelle Faktoren bereiteten den Wandel vor: der Triumph der kubanischen Revolution, der Aufstieg des Mittelstands, die Entwicklung zur Konsumgesellschaft, die Gegenkultur der Jugend, der sogenannte Boom des lateinamerikanischen Romans, und in Städten wie Buenos Aires die zunehmende Professionalisierung von Regisseuren und Schauspielern, das Entstehen von neuen Theatergruppen wie das Instituto Di Telia, die die Neo-Avant-

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garde begründeten, und schließlich das Entstehen neuer Institutionen, die eine Vermittlerrolle spielten9. Wir werden in der Folge die beiden grundlegenden Modelle des Mikrosystems der 60er Jahre in ihrer ersten Phase analysieren - den reflexiven Realismus und die Neo-Avantgarde - sowie die kollektive Kreation beschreiben. Mit Soledad para cuatro (Einsamkeit für vier, 1961) des Argentiniers Ricardo Halac erschien der erste Text des reflexiven Realismus.10 Die Richtung entstand im argentinischen Theater im Kontext des unabhängigen Theaters, das sich zu dieser Zeit bereits im Niedergang befand. Wir haben bereits mehrfach hervorgehoben, dass der Realismus eine Konstante des lateinamerikanischen Theatersystems darstellt. Der reflexive Realismus folgte dem Modell von Arthur Miller und Tennessee Williams. In der Bühnenpraxis und in der Ausbildung der Schauspieler spielte das Modell Stanislavskis eine entscheidende Rolle. Dramentext und Bühnenpraxis wirkten zusammen, um die Stücke Halacs und die seiner Nachfolger adäquat zu produzieren. Während der naive Realismus vorgibt, das Dargestellte mit dem ästhetischen Bild zu verbinden, will der reflexive Realismus im Sinne Millers ein Gleichgewicht von "sozialer Kausalität und individueller Verantwortung" erreichen. Der reflexive Realismus will die reine Wahrnehmung mit der reinen Vorstellung verknüpfen. Die Autoren dieser Richtung wollen die "Realität" nicht wahrheitsgetreu auf die Bühne bringen; sie sind vielmehr davon überzeugt, dass der Autor das Objekt schafft. Sie sind sich des sozialen Engagements des Theaters bewusst und "markieren" deshalb das Bild. Sie glauben nicht, dass das Theater "von sich aus" eine eigene Bedeutung hat, sondern dass es die Realität ordnen müsse. Todorov (1975) hat dies die "Wahrscheinlichkeit der gemeinsamen Meinimg" genannt. Die Irrtümer und Mythen des lateinamerikanischen Mittelstands der großen Städte (in den La Plata-Ländern war zu diesem Zeitpunkt die politische und wirtschaftliche Krise bereits unübersehbar) werden in individuellen Beispielen sichtbar, die Melodramatik ist völlig verschwunden. Damit erreichen diese Stücke, dass der Zuschauer sich täuschen lässt und die

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Vgl. Franco 1977. Wir stimmen Bürger (1974,80) zu, wenn er in Teoria de la vanguardia (1987,115f.) meint, dass die Neo-Avantgarde der 50er und 60er Jahre von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, da sie versuchte, ein Projekt wiederzubeleben, das schon einmal in der Geschichte gescheitert war: Die Avantgarde hatte nicht nur die Institution Kunst nicht zerstört, sondern war von ihr aufgesaugt worden. Wir haben dieses Thema u.a. in Pellettieri 1985a, 1985b, 1986,1987 und 1990a behandelt

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Darstellung mit dem Leben identifiziert. Auf der Ebene der Intrige treffen wir den Antihelden. Philippe Hamon (1977) bezeichnet ihn als "Referenzperson", die sich dadurch auszeichnet, dass sie dem Zuschauer ein starkes Gefühl der Realität vermittelt: In der Entwicklung der Intrige nimmt die szenische Bewegung ab, die Krise erscheint bereits zu Beginn des Stücks, und ein abgeschlossenes Ende fehlt. Unterstützend kommt eine strikte Kausalität und eine realistische Außenszene hinzu. Auf der Ebene der Handlung findet das Subjekt des reflexiven Realismus aus seiner Unfähigkeit zu handeln heraus und begibt sich auf die Suche nach seiner Identität. Dieses Ziel ist ihm von der Gesellschaf t gesetzt worden, die paradoxerweise zugleich sein größter Gegner ist. Die Ideologie der Autoren gründet sich auf diesem Widerspruch. Auf der Ebene der Intrige vertreten diese Stücke eine bittere realistische These, wobei sie von der "mittelmäßigen Person" ausgehen, der nie etwas geschieht. Diese Person bezieht sich unmittelbar auf die politischen und sozialen Verhältnisse am Ende der 50er und dem Beginn der 60er Jahre, wie auch auf die in diesen Jahren herrschende Zensur. Offensichtlich synthetisiert sich in der "mittelmäßigen Person" eine Gesellschaft, die vor allem die Jugend täuscht, indem sie sie motiviert, "jemand sein zu wollen", "zu kämpfen" und sie gleichzeitig in ihrem Individualismus erstarren lässt. Aber auch in den Jahren des reflexiven Realismus erscheinen noch Stücke, die dem Realismus der Jahrhundertwende verhaftet sind, wie Las ranas (Die Frösche, 1961) des Uruguayers Mauricio Rosencof und Los albañiles (Die Maurer, 1969) des Mexikaners Vicente Lefiero. Das Stück Leñeros basiert auf dem gleichnamigen Roman von 1964, der deutlich vom Objektivismus des nouveau roman beeinflusst ist und mit der Ambiguität von Realität und Fiktion spielt. Die Neo-Avantgarde kann auch als das lateinamerikanische Absurde bezeichnet werden. Die Polemik u m die Modernisierung in der Mitte der 20er Jahre lebte in gemäßigter Form wieder auf, insofern als die vorangegangene lateinamerikanische Produktion radikal abgelehnt wurde. 11 Der Versuch des völligen Neubeginns ist jedoch gescheitert. Es handelt sich um ein Theater des Übergangs, das eng mit dem der Jahrhundertwende und seinen ideologischen Einschränkungen verbunden bleibt. 12 In diesen Stücken wird das Chaos des Universums zur Metapher für die Ungleich11

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Eine der hervorragendsten Autorinnen dieser Tendenz, Griselda Gambaro (1970), negiert die Bedeutung des "nicht avantgardistischen" Theaters, wenn sie behauptet, dass das konventionelle Theater uns in Wasserfällen von Wörtern ertränke, die aber nur Wiederholungen seien. Vgl. Pellettieri 1983,1985b, 1988,1989b, 1990c, 1990d, 1990e.

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heiten einer Gesellschaft in der Krise. Hierher gehören etwa El cepillo de dientes (Die Zahnbürste, 1966) von Jorge Diaz (Chile), El desatino (Der Unsinn, 1965) von Griselda Gambaro (Argentinien), La ttoche de los asesinos (Die Nacht der Mörder, 1966) von José Triana (Kuba), Flores de Papel (Papierblumen, 1970) von Egon Wolff (Chile) wie auch die Stücke von Virgilio Pinera (Kuba). Die verschiedenen Modelle des lateinamerikanischen Absurden verbindet eine Reihe gemeinsamer Merkmale. Sie geben der Wahrnehmung den Vorzug über die Reflexion. Wie die Moderne der 20er Jahre scheuen sie nicht den Konflikt mit dem Publikum, indem sie die eigene Gesetzmäßigkeit des Theaters betonen. Die Diskontinuität der Handlung und des Dialogs wird zum konstruktiven Prinzip. Ambiguität bestimmt die Intrige. Die Struktur ist kreisförmig, ein- und dasselbe Motiv wird wiederholt und lässt so die fehlende Motivation der Personen stärker hervortreten. Die Handlung schreitet nicht fort, und es fehlt eine explizite Kausalität. Auf der Ebene der Tiefenstruktur oder der Handlung sind die Personen nicht in der Lage, die ihnen gestellten Prüfungen zu bestehen. Die Personen sind extrem verletzlich, sie entwickeln sich nicht und können die Realität weder verstehen noch sie verändern. Neben dem reflexiven Realismus und der Neo-Avantgarde ist für das Theater der 60er Jahre schließlich die kollektive Schöpfung zu nennen.13 Diese ist allerdings nicht völlig neu, insofern als sie Elemente aus den Anfängen des lateinamerikanischen Theaters aufnimmt. Man findet sie etwa bei Rabinal Achi, der sie am Beispiel der Tänze der Quiché-Indianer in Guatemala aufzeigt, oder beim güegüense, einer Mischung von Komödie und Tanz, die ihren Ursprung in Nicaragua im 16. Jahrhundert hat und sich später mit Elementen des europäischen Theaters mischte. Neben diesen einheimischen Traditionen sind aber auch europäische Vorbilder wirksam geworden. So die Theatergruppen der Russischen Revolution, das Living Theatre (1947, Julian Beck und Judith Malina), das Open Theatre (1963, Joe Chaikin), das polnische Theaterlaboratorium (1959, Jerzy Grotowski) und das dänische Odin Teatret (1964, Eugenio Barba). Die erste systematische Erprobimg der kollektiven Schöpfung erfolgte im Teatro Experimental von Cali, das Enrique Buenaventura in den Jahren 1963-64 leitete. Von diesem Zeitpunkt an entstanden in ganz Lateinamerika ähnliche Gruppen. Die kollektive Schöpfimg stellt den Schauspieler in das Zentrum des Theaterschaffens und setzt damit die klassische Rolle des Autors und des Werkes außer Kraft. 13

Vgl. Buenaventura 1983; García 1983; Garzón Céspedes 1978; Luzuriaga 1986; Risk 1987.

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Das Aufkommen der kollektiven Schöpfung ist aus der sozialen Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaft zu verstehen, die in diesen Jahren von Diktaturen und der zunehmenden Marginalisierung eines großen Teils der Bevölkerung geprägt war. Die Themen der Stücke konfrontieren diese Marginalisierung mit den angestrebten Zielen des politischen Kampfes. Diese Thematisierimg führt zu einem neuen Typ des Publikums. Das Theater wird von seinen Machern als soziale Praxis angesehen, die zur politischen Bewusstseinsbildung des Zuschauers führen soll. Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, die bereits in den europäischen Vorbildern zu erkennen sind: die Tendenz zur direkten politischen Propaganda, die auf Erwin Piscator zurückgeht, und die auf Brecht basierende Tendenz, die politische Situation mit einer reflexiven Distanz zu überwinden. Ausgehend vom Teatro de Escatnbray in Kuba beginnt Ende der 60er Jahre eine zweite Phase der kollektiven Schöpfimg. Die Kubanische Revolution setzte diese mit dem neuen lateinamerikanischen Theater gleich. Damit wird die kollektive Schöpfung gleichsam kanonisiert und als Ästhetik der Revolution in ganz Lateinamerika verbreitet. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei die Publikationen der beiden Encuentros de Teatristas (Theatertreffen) in Havanna von 1981 und 1987. Die Oberflächenstruktur des "neuen lateinamerikanischen Theaters" besteht aus einer Geschichte, die aus der Perspektive des Autors erzählt wird und die gleichsam die "soziale Wahrheit" darstellt. Sie ist in kurze Szenen gegliedert, die durch epische Elemente unterbrochen werden: Chöre und Musik werden als Kommentare der Handlung eingesetzt. In der Tiefenstruktur steht das Volk als kollektives Subjekt der ungerechten Gesellschaft gegenüber. Die Stücke haben ein offenes Ende, und ihre Entwicklung hängt von dem jeweiligen Publikum ab. Die zweite Phase des Mikrosystems der 60er Jahre beginnt gegen Ende des Jahrzehnts und dauert bis 1981, dem Jahr der Entstehung des argentinischen Teatro Abierto (Offenes Theater). In dieser Periode verstärkt sich die politische Krise, was in den neuen Diktaturen - in den 60er Jahren Ongania in Argentiniern, und in den 70er Jahren Pacheco Areco in Uruguay und Pinochet in Chile - und ihrem Gegenpol, der Stadtguerrilla, sichtbar wird. Das Theater dieser Periode wird zur sozialen Praxis. Es ist dies einer der wenigen historischen Momente, in denen das lateinamerikanische Theater diese Bezeichnung verdient. Im Theater dieser Periode können wir verschiedene Textualitäten unterscheiden, die alle den reflexiven Realismus als Ausgangspunkt haben.

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1. Ein Hyperrealismus, wie man ihn findet in A qué jugamos (Was spielen wir, 1968) von Carlos Gorostiza und Se acabó la diversión (Die Unterhaltung ist zu Ende, 1968) von Juan Carlos Gené (beide Argentinien) und Círculo vicioso (Teufelskreis, 1974) von José Agustín (Mexiko). Die Personen vermögen es nicht, ihre wahren Gefühle zu zeigen und scheitern in Folge davon beim Versuch, sich mit den anderen zu treffen. Der Hyperrealismus dieser Stücke lässt es zu, sie mit Texten wie Wer hat Angst vor Virginia Woolf? (1962) von Edward Albee in Verbindung zu bringen. Parallel dazu findet man in diesen Stücken eine ausgeprägte Psychologisierung, die Erinnerungen und Phantasien der Personen miteinander verbindet. Diese Tendenz wird besonders für die aktuelle Theaterszene bedeutsam. 2. Neben dem Hyperrealismus folgen zahlreiche Stücke der La PlataRegion einer Variante des Realismus, wie er paradigmatisch in La fioca (Lustlos,141967) von Ricardo Talesnik und El avión negro (Das schwarze Flugzeug, 1970) der bereits erwähnten Autorengruppe mit Roberto Cossa, Ricardo Talesnik, Germán Rozenmacher und Carlos Somigliana zum Ausdruck kommt. Die Bedeutung des zuletzt genannten Stücks liegt darin, dass es die Problematik des Peronismus in Argentinien mit Stilmitteln anspricht und dabei die Elemente des saínete, des grotesco criollo, des Absurden und des Expressionismus verarbeitet, obwohl es sich um ein durchaus realistisches Stück handelt. Diese Richtung wird von verschiedenen Autoren in den ersten Jahren der letzten Diktatur (1976-1983) fortgesetzt, so z.B. von Ricardo Halac mit Segundo tiempo (Zweite Halbzeit, 1976) und Roberto Cossa mit La nona (Die Oma, 1977). Ähnliches geschieht in Chile nach dem Putsch von 1973 mit Stücken wie Lo crudo, lo cocido y lo podrido (Das Rohe, das Gekochte und das Verdorbene, 1978) von Marco Antonio de la Parra und Baño a baño (Bad zu Bad, 1978), einer Gemeinschaftsproduktion von Jorge Vega, Jorge Prado und Guillermo de la Parra. 3. Der Realismus erscheint bei Griselda Gambaro mit Dar la vuelta (Umkehren, 1972). In den folgenden Jahren (bis Sucede lo que pasa, Was auch passiert, 1975) befindet sich die Autorin in einer Übergangsphase, in der sie sich von einer undeutlichen zu einer durchsichtigen Textualität hin entwickelt. In den Stücken dieser Phase erkennt man auf der Tiefenstruktur noch das Gefallen an der Farce wie auch eine Vorliebe für gewalttätige Bilder. In Stücken wie Dar la vuelta wird die dramatische Spannung weniger durch die äußere Handlung als durch die Vertiefung ein und derselben 14

"Fiaca" ist ein Wort der argentinischen Umgangssprache und entspricht etwa unserem "null Bock". Wie bei uns war es auch in Argentinien Ausdruck des Lebensgefühls einer Generation, dem das Stück Talesniks paradigmatischen Ausdruck verlieh. (Anm. d. Ü.)

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Situation erreicht, was durch schwarzen Humor und ein bewusst inszeniertes Verwirrspiel noch betont wird. Gleichzeitig erscheint in den Stücken dieser Periode ein Bekenntnis zur sozialen Solidarität. Die dritte Phase des Theatersystems der 60er Jahre wird durch Aspekte charakterisiert, die auch in der Gegenwart zu finden sind. Eine gewisse Erschöpfung ist unübersehbar, und das alte System erstarrt zur Routine. Diesen negativen Aspekten stehen positiv ein neues konstruktives Prinzip und ein neues ästhetisches Bewusstsein gegenüber. Die Erschöpfung wird vor allem im Auftreten der Parodie sichtbar. Nach Tynjanov (1968) vereint diese zwei Elemente: sie nährt sich vom Verfall eines alten Systems und kündet gleichzeitig ein neues an. Das Paradigma dieser Textualität ist in Argentinien Los compadritos (Die Kumpel, 1985) von Roberto Cossa. Das Stück ist eine Parodie par excellence; es überschreitet die Grenzen des sainete criollo und parodiert somit dessen Ideologie und die Konzeption seiner Personen. Als weiterer Aspekt dieser Phase ist ein barocker Zug zu nennen. Uns geht es hier weniger um den ästhetischen Wert dieser Stücke als darum, inwiefern sie für die Entwicklung eines neuen Theatersystems wichtig sind. Texte wie Yepeto (1987) von Roberto Cossa und Morgan (1989) von Griselda Gambaro beweisen, dass sich die Modernität im Theater von Buenos Aires erschöpft hat. In diesem Kontext muss daran erinnert werden, dass die Modernität in den 30er und den 60er Jahren zwei bedeutende Momente erlebt hat, die durch eine Reihe von Elementen charakterisiert werden: eine begrenzte Utopie, Kosmopolitismus, Originalität, didaktische Tendenzen, Abkehr von der Metaphysik und die Reflexion über die Vergangenheit. Diese Elemente sind in Yepeto und Morgan nicht zu finden. Morgan ist eine durchsichtige Reflexion über das vorausgehende Theater der Autorin, das Texten wie El campo (Das Lager, 1968) nichts Neues hinzuzufügt. Yepeto wiederum konkretisiert einen poetischen Realismus im Sinne des romantischen Subjektivismus. Vor allem Yepeto ist für einen Großteil des Publikums von Buenos Aires zugänglich und wichtig zugleich; aber es ist offensichtlich, dass diese Stücke ästhetisch anspruchslos sind. Die Krise des argentinischen Theaters dieser Phase hat es verhindert, dass der Übergang zur Demokratie eine angemessene Resonanz im Theater gefunden hat. So findet man nichts über die Rolle des Staates und seiner Institutionen in der Gesellschaft, das demokratische Zusammenleben verschiedener Ideologien, den wirtschaftlichen Abstieg der Mittelklasse, das Fehlen eines neuen politischen Projekts bei den meisten politischen Parteien und die Definition eines kulturellen Profils.

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V. Das argentinische Theater der 90er Jahre wird durch eine Reihe neuer Elemente charakterisiert. Ausgehend von dem Bewusstsein, dass die Modernität Lateinamerikas im globalen Kontext marginal ist, wird diese parodiert und infrage gestellt. Besonders im Theater des Clowns wird die Modernität der 60er Jahre zur Zielscheibe des Spotts. Dem Ernst des testimonialen Theaters, das zum reflexiven Realismus und zur Neo-Avantgarde geführt hatte, stellen diese Stücke das Spiel und das Lachen gegenüber. Dies kann mittels eines Clowns erfolgen, wie im Fall von La Banda de la Risa (Die Lach-Bande), oder durch einen Gag, der aus dem nordamerikanischen Kono der 50er-Jahre übernommen wurde wie bei Los Melli (Die Familie Melli). Auch der Regisseur kann in Frage gestellt werden, so wie es im Teatro Malo (Böses Theater) geschieht, einer von Vivi Tellas geleiteten Gruppe, die mit parodischen Texten arbeitet, die ästhetisch allerdings weniger anspruchsvoll sind. In diesem Kontext ist es von Interesse, die Entwicklung von Autoren zu verfolgen, von denen bereits in den 70er und 80er Jahren Werke aufgeführt wurden: Mauricio Kartún, Jorge Huertas, Eduardo Rovner, Horacio del Prado, Bernardo Carey. Bei diesen Autoren wird die Suche nach der Identität zum Thema, so wie es bereits bei den Autoren der 60er Jahre der Fall gewesen war. Sie gehen jedoch weiter und realisieren dieses Thema in einer neuen ästhetischen Form . Zwei repräsentative Beispiele sind El Partener (Der Partner, 1988) von Mauricio Kartún und Y el mundo vendrá (Und die Welt wird kommen, 1989) von Eduardo Rovner. Beide Autoren versuchen, den tragikomischen saínete neu zu semantisieren, wobei der Ästhetik des Hässlichen große Bedeutung zukommt. Die am Rande der Gesellschaft stehenden Personen dieser Stücke werden im happy end gleichsam mit der Gesellschaft versöhnt. Die Resemantisierung der Parodie hat sich in letzter Zeit auf große Teile des lateinamerikanischen Theaters ausgebreitet. Beispiele sind in Brasilien A geragäo Trianón (Die Generation Trianón, 1989) der Grupo Tapa (vgl. Goes 1989), in Chile La negra Ester (Die schwarze Esther), das auf Versen des Volkssängers Roberto Parra basiert und von Andrés Pérez inszeniert wurde (vgl. Piña 1989), in Mexiko der Grupo Cultural Cero mit Sketchen und Stücken wie La Carpa Zero (Die Jahrmarktsbude Null, 1979), En la tierra del nopal (Im Kaktusland, 1984) oder Como burro sin mecate (Wie ein Esel ohne Schnur, 1987).15

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Vgl. Frischmann 1978 und 1985.

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Das neue Theater wird sicher auch aus dem Theater des Widerstands hervorgehen. Dieses stellte sich gegen die offizielle Kultur und ihren Versuch, in den 30er und 60er Jahren die marginale Modernität Lateinamerikas zu neutralisieren. Ausgehend vom Bewusstsein des Scheiterns dieser Erfahrung soll ein neues Modell geschaffen werden, das jedoch nicht mit dem bestehenden Theater bricht, sondern es vielmehr weiterentwickelt. In der Folge wollen wir einige Beispiele aufzeigen, was wir als Modell des zukünftigen lateinamerikanischen Theaters betrachten. Postales argentinas (Argentinische Postkarten) ist ein Science-fiction Saínete des Regisseurs Ricardo Bartis. Das Stück war am Festival de Cádiz 1988 vertreten und wurde im Jahr darauf in Buenos Aires aufgeführt. Das Stück synthetisiert die argentinische Kultur in der Erzählung eines Mythos. Ausgehend von der Science-fiction wird die Semantik des Tango als reine Projektion des nationalen argentinischen Diskurses interpretiert. Bemerkenswert ist die dramatische Struktur des Stücks, das von einer Pluralität von Stimmen getragen wird; Drama und Erzählung gehen ineinander über, und die verschiedenen Textebenen werden durch Collage und Schnitt miteinander verbunden. Auch Una pasión sudamericana (Eine südamerikanische Passion) von Ricardo Monti, dem bedeutendsten argentinischen Theaterschriftsteller der letzten 20 Jahre, verdichtet die argentinische Geschichte zu einem Mythos, der expressionistisch und archetypisch zugleich ist. Das Stück wurde 1989 unter Leitung des Autors uraufgeführt Innerhalb dieser archetypischen Poetik, die mittels des Mythos die dunklen Seiten der Gesellschaft darstellt, ist eine Reihe von zukunftsgerichteten Stücken und Theatergruppen zu erwähnen: in Chile Pachamama von Omar Saavedra (s. Hurtado 1989); in Peru die von Carlos Cueva geleitete Gruppe La Otra Orilla (Das andere Ufer) mit Agamenón (1989); in Brasilien das von Antunes Filho inszenierte Stück Paraíso, Zona Norte (Paradies, Zone Nord), das auf den Werken Os sete Gatinhos (Die sieben Kätzchen) und Afalecida (Die Verstorbene) von Nelson Rodrigues basiert (s. Milaré 1989; Filho 1989). Parallel zu diesen neuen Entwicklungen auf dem Theater lassen sich Veränderungen bei den lateinamerikanischen Intellektuellen beobachten. Die Kritik und die universitäre Forschung erhalten zunehmend größeren Einfluß auf das Theaterschaffen. Bis dahin stand die Reflexion über das Theater eindeutig hinter der Praxis zurück. Die Theorie wurde wenig geschätzt, da man sie als unnütz für die Praxis ansah, was eine fast völlige Unkenntnis der Dialektik von Theatertheorie und -praxis erkennen lässt. Schließlich muss auf verschiedene Veränderungen im politischen und sozialen Bereich hingewiesen werden, die zu einem Wandel in der Produk-

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tion wie auch der Rezeption des Theaters geführt haben. So ist in Paraguay nach dem Ende der Diktatur ein vielversprechendes Theaterfestival entstanden. Auch in Chile dürfte die Redemokratisierung das Theater verändern. Wir vermuten, dass das lateinamerikanische Theater an der Schwelle zur "eigentlichen Modernität" steht. Zwar wird auch jetzt der Gegensatz von Zentrum und Peripherie nicht völlig überwunden, insofern zentrale Konzepte der Postmoderne aus den Ländern des Zentrums übernommen werden. Im Gegensatz zur marginalen Modernität der 30er und 60er Jahre entwickelt die gereifte Modernität Lateinamerikas jedoch ein eigenes Programm und eine eigene Ästhetik, die auf ihrer hybriden Kultur basiert, in der kein Diskurs die anderen hegemonisiert. Für Argentinien insbesondere ist das Bewusstsein wichtig, dass jedes Projekt scheitern muss, das die Vergangenheit des Landes vergisst. Deutsch von Karl Kohut

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Die dreißiger und vierziger Jahre

Roberto Arlt (1900-1942) Heidrun Adler Ich glaube, die widerwärtige Servilität und unaussprechliche Grausamkeit der Menschen dieses Jahrhunderts wird nie überwunden werden. Ich glaube, uns ist die schreckliche Aufgabe zugedacht, den Untergang des Mitleids mitzuerleben, und wir haben keine andere Wahl, als vor Kummer zu schreiben, um nicht auf die Straße zu gehen und Bomben zu werfen. Roberto Arlt, in La Opinión Cultural Buenos Aires, 10. Juni 1929

In weniger als zwanzig Jahren literarischer Arbeit beeinflusst Roberto Arlt Prosa und Theater seines Landes in entscheidender Weise. Er stammt aus einer Einwandererfamilie, ist Journalist und schreibt bis 1933 sechs Romane, die von der besonderen psychischen Situation der Menschen der unteren Mittelklasse Zeugnis geben, von ihrer tiefen Unzufriedenheit mit der argentinischen Gesellschaft und der Rolle, die sie darin spielen. In Arlts Werk zeigt sich das Elend der Argentinier in den Jahren der Depression, ihr Misstrauen der korrupten Regierung gegenüber, ihre Ausweglosigkeit. César Fernández Moreno nennt Arlt den ersten argentinischen Autor, der den "metaphysischen Untergrund" der Großstadt beschreibt (1976, 207). Nach 1931, nachdem Leonidas Barletta im Teatro del Pueblo ein Kapitel aus seinem Roman Los siete locos aufgeführt hat, schreibt Arlt fast nur noch für das Theater. Er wird der Autor des Teatro Independiente schlechthin. Zwischen 1932 und 1942 werden sechs Stücke von ihm aufgeführt. Sie gehören zur Avantgarde des internationalen Theaters seiner Zeit und bringen in diesen zehn Jahren dem Theater Argentiniens "den Zutritt zum modernen Theater der Welt".1 Wie in seiner Prosa orientiert sich Arlt auch in seinen Theaterstücken am europäischen Expressionismus.2 Er bricht radikaler als alle Autoren seiner Generation mit dem vorherrschenden naturalistischen Illusionismus und löst sich von allen regionalistischen Strömungen, die für die vorangegangene Generation charakteristisch waren. Seine Tochter Mirta Arlt schreibt, das Theater ihres Vaters habe das zeitgenössische Theater Argen1

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Bianco Amores de Pagella 1965; s.a. Castagnino 1970; Dauster 1993, 100-108; Earl/Gullón 1977; Etchenique 1962; Ghiano 1973; Rela 1980. Siehe dazu die Untersuchungen von Lindstrom 1977.

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tiniens überholt und sei zum Vorläufer des späteren absurden und expressionistischen Theaters geworden. 3 Sein erster direkt für das Theater geschriebener Text, Prueba de amor (Liebesbeweis, 1932, aber erst 1947 aufgeführt), ist das einzige Stück Arfts, dessen Handlung auf traditionelle Weise abläuft. Es ist ein Einakter, dessen intellektuelles Spiel mit scharfem Dialog sehr an den Mexikaner Xavier Villaurrutia erinnert. In dem Stück verbrennt Guinter sein ganzes Geld, um Frida, die sich ihm nicht hingeben will, zu beweisen, wie sehr er sie liebt. Als sie ihm nachgibt, gesteht er, das Geld sei falsch gewesen. Er habe seinerseits nur ihre Liebe zu ihm prüfen wollen. Empört verlässt sie ihn. Die psychische Entwicklung Fridas entspricht den bekannten Mustern, nicht aber die Guinters, der schon die für Arlts Gestalten charakteristische Ambivalenz zeigt. In den folgenden Stücken geht es nicht mehr um konkrete Themen wie Liebe, bürgerliche Ehre, Geld, sondern um die Auseinandersetzung zwischen Sein und Schein, um die Vergeblichkeit der Träume in einer dem Individuum feindlichen Welt. Die Stücke enden meist mit Selbstmord, Mord oder irgendeiner Form von Opfertod. Arlts erstes Theaterstück in drei Akten, Dreihundert Millionen, wird am 17. Juni 1933 im Teatro del Pueblo uraufgeführt. Es erzählt die Geschichte eines Dienstmädchens, das im Tagtraum dreihundert Millionen Pesos erhält, sich ein anderes Leben erträumt und am Ende Selbstmord begeht. Ein Aschenputtel-Thema, zu dem ihn der Selbstmord eines aus Spanien eingewanderten Dienstmädchens inspiriert hat, den Arlt 1927 für die Zeitung Critica recherchierte.4 Das Stück hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Stücken anderer argentinischer Autoren seiner Zeit. Die Fabel erscheint zerstückelt, in kurzen Bildern, die nicht dem aristotelischen Muster Anfang-Mitte-Ende folgen, sondern einer elliptischen Form. Der Sekundärtext wird literarisiert und dramatisiert. Lichteffekte, stark stilisierte Gestalten, Geräusche als Bedeutungsträger zeigen die Nähe zum europäischen Expressionismus. Arlt lässt die Handlung auf zwei Ebenen ablaufen, der realen und der erträumten. Die reale Welt ist das schäbige Dienstbotenzimmer; Geräusche der Strasse, Musik und Schritte im Haus betonen das Ausgeschlossensein der Protagonistin. Die erträumte Welt wird von einer Gruppe seltsamer Gestalten repräsentiert; es sind alberne Figuren

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M. Arlt in R. Arlt 1968,34. Ein Vergleich mit dem Brasilianer Nelson Rodriguez bietet sich an. Er fand die Themen seiner tragedias cariocas ebenfalls in den Polizeiberichten, in denen er als Journalist recherchierte. Beide Autoren hatten das Glück, mit hervorragenden Regisseuren arbeiten zu können, beide sind entscheidend an der Entwicklung des expressionistischen Theaters in ihren Ländern beteiligt.

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aus der Welt der Comics und Groschenromane. Eine Klingel und die harsche Stimme der Hausherrin rufen das Mädchen aus ihren Träumereien in die Realität zurück und markieren so immer wieder einen violenten Bruch des Handlungsablaufs auf der Traumebene. Den Weg in den Traum zeigt das Mondlicht an, das ins Zimmer fällt. Mit seinen Bühnenanweisungen erzeugt Arlt eine für seine Stücke charakteristische Ambivalenz. Er spricht von einem billigen Traum, von kindischen Gespenstern, von einem grotesken Tod. Die Konversation zwischen Protagonistin und Traumfiguren wird von den Codices des populären Melodramas bestimmt. Alle positiven Elemente, wie die Hoffnung auf Liebe und Wohlstand, alle Wertvorstellungen, die auf den dramatischen Höhepunkt der Traumhandlung - der geliebte Mann ist tot, das Kind von Zigeunern geraubt - und den realen Selbstmord des Mädchens hinführen, werden durch ihren Klischeecharakter entwertet. Allein die negativen Elemente, das reale Elend, die alberne Talmiwelt des Traums, sind eindeutig und unveränderlich. Nach der Gegenüberstellung beider Ebenen gleitet die Realität immer weiter ab in die Phantasie. Und in diesem Abgleiten entwickelt sich die dramatische Handlung, der die traditionelle hypotaktische Struktur fehlt. Alles ist fließend zwischen beiden Ebenen. Der Mechanismus, der ihre Interdependenz, Überlagerung, Gleichzeitigkeit und Gegenüberstellungen steuert, ist der jeweiligen Situation immanent, er stellt keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen her. 5 Die Protagonistin ist sich der Illusion durchaus bewusst: "Die einzige, die hier träumt, bin ich!"6 sagt sie bestimmt. Die Figuren mokieren sich über ihre Armut, stellen sich ihr nur widerwillig zur Verfügung. Daraus entsteht Komik. Andererseits ist die Protagonistin in ihrem vergeblichen Versuch, sich aus ihrer erbärmlichen Welt herauszuträumen, tragisch, denn ihre Träume von Freiheit sind lächerlich, sind vorgefertigte Albernheiten. 7 An seinem bekanntesten Stück, Saverio el cruel (Der grausame Saverio, 1936), hat Arlt zwei Jahre gearbeitet. Vorangegangen war ein 1934 in Gaceta de Buenos Aires publizierter Text, Escenas de un grotesco,8 ein Stück in zwei Bildern: Der Direktor einer Irrenanstalt erklärt, es würden so viele Verrückte frei herumlaufen, dass niemand mit Sicherheit sagen könne, ob er einen Irren oder einen Normalen vor sich habe. Zwei Insassen hören dies und halten ihn für vollkommen verrückt. Vernunft und Wahnsinn 5 6 7 8

Siehe dazu die ausführliche Analyse der Stücke Dreihundert Millionen und Saverio el cruel von Giordano (1982,185-225). Zitiert wird nach Kage/Tahan 1993,36. Siehe dazu Giordano 1981. Siehe dazu die Untersuchung von Troiano 1985.

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sind also relative Begriffe. Im zweiten Bild führen die Insassen ein Theaterstück auf, das einer von ihnen geschrieben hat. Die Rollen werden jeweils von den Patienten übernommen, deren Krankheitsbild ihnen am nächsten kommen. Dahinter steht die in der Psychotherapie der Zeit populäre Auffassung, der psychisch kranke Patient könne geheilt werden, wenn er seine Wahnvorstellungen (unter ärztlicher Kontrolle!) ausleben dürfe. In Saverio el cruel nimmt Arlt das Thema und seine Ausführung wieder auf. Hier ist es eine Gruppe wohlhabender junger Leute, die im Scherz eine psychisch Kranke heilen will. Man überredet den Schmalzverkäufer Saverio, bei der "therapeutischen Übung" behilflich zu sein. Susana gibt vor, sich für eine Königin zu halten, der man den Thron gestohlen hat. Saverio soll den Usurpator spielen, der im Spiel hingerichtet wird, um Susana von ihrem Wahn zu befreien. Das Stück bewegt sich auf drei Ebenen: Als reale Handlung der gelangweilten jungen Leute zum Zeitvertreib; als fingierte Handlung der jungen Leute vor Saverio als Zuschauer; und schließlich als Theater im Theater, als Farce mit Saverio als Protagonisten. Und wie in Dreihundert Millionen verschwimmen die Grenzen zwischen diesen Ebenen. Saverio stellt den Prototyp des um seine Hoffnungen betrogenen Kleinbürgers dar. Er sieht in seiner Rolle eine Chance, "jemand zu sein". Je mehr er sich in sie hineindenkt, um so mehr nimmt sie von ihm Besitz und versetzt ihn in eine absurde Welt des Scheins. Am Anfang des 2. Akts heißt es: Saverio verharrt einen Augenblick in der Haltung eines Träumenden.9 Am Ende desselben Akts brechen alle Schranken zwischen Realität und Traum nieder. Unter der Maske des Usurpators entwickelt Saverio reale Grausamkeit. Saverio: "Köpfe sollen rollen wie Orangen!" (65) Innerhalb der Konstruktion des psychotherapeutischen Spiels bedient sich Arlt verschiedener Elemente des Karnevals, wie der Tradition, einen einfachen Mann für die Dauer des Festes zum König zu machen, - zu heidnischen Zeiten wurde er am Ende des Festes geopfert.10 Saverio wandelt sich vom bescheidenen, unterwürfigen Schmalzverkäufer zum blutrünstigen Henker. Ein solcher Persönlichkeitswechsel ist nur im Karneval erlaubt, außerhalb desselben wird dies als Wahnsinn bezeichnet. Die jungen Leute spielen, maskiert und kostümiert, jeder nach seinen eigenen Vorstellungen. Sie glauben, Susana spiele die entthronte Macht, Saverio den "König" für einen Tag. Seine "Hinrichtung" werde wie im Karneval die Dinge wieder zurechtrücken, Susana "heilen" und dem Spaß mit großem Gelächter ein Ende bereiten. Aber für Susana ist die Farce Realität. Sie ist ' 10

Zit. nach Arlt 1968,58. Siehe dazu Sillato de Gómez 1989.

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tatsächlich krank. Erinnern wir uns an die Aussage von Escenario de un grotesco, dass niemand mit Gewissheit sagen kann, wer gesund und wer krank ist. Für Arlt scheint die ganze Welt ein Irrenhaus zu sein, wo jeder seine individuelle Form des Wahnsinns lebt. Die geisteskranke Susana kann nicht dulden, dass Saverio aus dem Spiel aussteigt, als er erfährt, dass alles eine für ihn inszenierte Farce ist. Sie tötet ihn. Inthronisierung und Absetzung des Karnevalkönigs werden bis zur letzten Konsequenz, bis zum Opfer, durchgeführt. Die Welt des Scheins überlagert die Welt des Seins, die Komödie wird zur Tragödie. Formal geht Arlt mit diesem Stück den Weg weiter, den er mit Dreihundert Millionen begonnen hatte. Er stellt realistische Situationen vor: die Bibliothek in Susanas Haus, die gelangweilten jungen Leute, das ärmliche Zimmer von Saverio als Gegenstück. Mit Lichteffekten, technischen Elementen wie Lautsprechern, Geräuschen und Masken wird eine Verschiebung der Handlungsebenen erzeugt, werden Realität und Illusion gegeneinander gesetzt. Die außerordentlich gekünstelte Ausdrucksweise der Farce und die lakonisch klare Sprache der Realität begleiten diesen Wechsel. Wie die Träume des Dienstmädchens in Dreihundert Millionen werden Saverios Visionen durch Arlts Bühnenanweisungen entwertet. Saverio trägt die Uniform eines mittelamerikanischen Operettengenerals, sein Auftreten ist albern und ohne Würde. Saverios "große Chance" ist eine Karikatur. Die Realität der kleinen Leute steht hier nicht im Kontrast zur Illusion, sie wirkt eher ironisch, streicht den Charakter der Farce heraus. In diesem Stück geht Arlt weit über die Sozialkritik von Dreihundert Millionen hinaus. Nicht der Klassengegensatz, die Frivolität der Privilegierten versus Armut und Mittelmässigkeit des kleinen Mannes, stehen hier im Vordergrund, vielmehr das Phänomen, dass der kleine Mann, wenn er die Macht erlangt, seine Klasse verrät, dass er zum Despoten wird (Luzuriaga 1978, 98). Saverio: "Das Pack bewundert die grausamen Männer."(37) Dauster erklärt Saverio el cruel zu einem Schlüsselwerk des lateinamerikanischen Theaters.11 Im komplizierten Spiel mit den Gegensätzen Vernunft/Wahnsinn, Individuum/ Gesellschaft, Gesicht/Maske, Realität/Traum vereint es die gegensätzlichen Ausdrucksweisen von Tragödie und Farce, die wir in allen seinen Stücken finden. Und da Arlt seine Texte in Barlettas Teatro del Pueblo ohne jede Konzession an den herkömmlichen Geschmack des Publikums inszenieren kann, gelingt es ihm, ein 11

Wirklichkeit und die groteske Sozialkritik seiner Stücke unterscheide ihn von Pirandello (Dauster 1993,103). Siehe auch Pelletieri 1969,61; 1990,123-127; M. Arlt, 1958; Larra 1962.

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System der Zeichen von äußerster Literalität zu entwickeln, wie sie keiner seiner Zeitgenossen erreicht. Arft entwirft eine neue,"radikale Version der Theaterillusion" (Dauster 1993,101). Elfabricante defantasmas (Der Hersteller von Fantasmen, 1936) ist das einzige im kommerziellen Theater aufgeführte Stück und wird dort ein Reinfall: Der Theaterautor, Pedro, tötet seine Frau, doch bald verfolgen ihn seine Gewissensbisse in Form von Traumgestalten. Sie drängen ihn, den Mord aufzuschreiben und zu inszenieren. Phantasie, Visionen und Schuldgefühle steigern sich zu einem psychotischen Delirium, das in einem vollkommen expressionistischen Bühnenbild endet, in dem ein Geiger ohne Ton spielt und drei schwarz gekleidete Greisinnen Pedro in den Tod treiben. Er stürzt sich aus dem Fenster. Spätestens bei diesem Stück bietet es sich an, Pirandello als Arlts Lehrmeister zu nennen. 1923 war dessen Stück Sechs Personen suchen einen Autor in Buenos Aires gezeigt worden und hatte eine Welle von Imitationen ausgelöst. Um zu verhindern, dass die Kritik sein Stück als Pirandello-Verschnitt verreiße, schreibt Arlt vor der Premiere 1936, die Lektüre von Flauberts Die Versuchung des Heiligen Antonius und Thais von Anatole France habe ihn zu dem Text inspiriert.12 Dennoch ist Arlt der argentinische Autor, der Themen und Technik Pirandellos zu herausragenden Werken verarbeitet hat.13 In El fabricante de fantasmas zeigt der Protagonist sein reales Leben in seinem Stück, Los jueces ciegos. Das erinnert unmittelbar an Pirandellos Ciascuno a suo modo, wo die Kunst eine reale Szene nachspielt. Pedro schreibt sein Stück mit Hilfe der ihn heimsuchenden Gestalten. Diese Proben-Technik, bei der das Publikum der Entstehimg des Textes beiwohnt, stammt von Pirandello, ebenso der Kunstgriff, das Stück im Stück zu kommentieren. Wie in den vorangegangenen Stücken sind auch in El fabricante de fantasmas die Grenzen zwischen Illusion und Realität fließend und, anders als Pirandello, bringt Arlt auch hier eine groteske Welt auf die Bühne, die die Ängste der argentinischen Gegenwart widerspiegelt. Deutlich ist Pirandellos Einfluss auch in Dreihundert Millionen zu erkennen. Die Traumgestalten sind ebenfalls unabhängige Figuren, auf die ihr "Schöpfer", in diesem Fall das Mädchen, keinen unmittelbaren Einfluss hat, und sie zeigen absolut menschliche Eigenschaften. Sie beklagen sich, diskutieren über den Sinn des Lebens, sind eitel und missgünstig. Auch die Proben-Technik Pirandellos wird angewandt: Das Mädchen erträumt sich einen Mann, der sie umwirbt. Dieser hat, obwohl ihre Traumfigur, die u 13

R. Arlt in: El Mundo, 7. Oktober 1936. Siehe dazu die Untersuchung von Troiano 1974,37-44.

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Freiheit, seinen Part selbst zu gestalten. Er gefällt dem Mädchen nicht, man diskutiert darüber, probt, vertauscht die Rollen. Um ihren Willen durchzusetzen, trumpft das Mädchen aber nicht, wie zu erwarten wäre, damit auf, dass er ihr gehorchen müsse, weil sie ihn träume. Nein, sie zwingt ihn, weil sie reich ist. "Ich habe dreihundert Millionen."(35) Die Verwirrung ist jetzt vollkommen: Der Traum ist Realität. Pirandello fixiert die Sphären, Phantasie und Realität, und lässt im Verlauf seiner Stücke die Grenzen zwischen beiden undeutlich werden. Arlt verwischt absichtlich die Unterschiede. In diesem Stück kommt auch das bei Pirandello fehlende soziale Engagement Arlts deutlich hervor. Das Mädchen weiß, dass es nur mit viel Geld seine Träume erfüllen kann. "Wenn ich reich wäre, würde mir das nicht passieren."(25) Das Geld befähigt die Dienerin, ihre Traumfiguren zu Dienern zu machen. Also erträumt sie sich das Mittel zur Flucht aus dem Elend (vgl. Giordano 1968, 74). Saverio el cruel wird von der Kritik mit Pirandellos Heinrich IV. verglichen. Erminio S. Neglia nennt als Anhaltspunkte die Schocktherapie; die Situation der Betrüger, die selbst betrogen werden; die Geisteskranken, die ihre Rivalen töten und sich in den realen oder fiktiven Wahnsinn zurückziehen. Er sieht bei Arlt allerdings andere Ziele, denn Arlt dramatisiere "die Kraft der Wünsche und Ideale zur Flucht aus einem frustrierten Leben" (Neglia 1970), während Pirandello die Tragödie des Menschen evoziert, den der Wahnsinn aus der Bahn geworfen hat.14 Ein schwaches Stück ist África, das im Anschluss an eine Reise des Autors nach Marokko entstanden ist. Ein Mann ist lahm und impotent durch Prügel, die er als Kind erleiden musste. Er wird gesund, nachdem man dem für sein Elend Verantwortlichen einen Fuss amputiert. Das Stück ist mit Freudschen Anspielungen überladen. Ein rein expressionistisches Stück ist La isla desierta (Die verlassene Insel, 1937)15. Das einzige Bühnenbild zeigt einen modernen Büroraum mit Reihen gleicher Schreibtische, über Schreibmaschinen gebeugte Angestellte; sie kommunizieren in einer leeren, funktionalisierten Sprache. Es ist 14

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Pellettieri (1989,61; 1990,123-127) kommt bei einem intertextuellen Vergleich beider Werke zu dem Ergebnis, Arlt habe sich von Heinrich IV. durchaus inspieren lassen, "mehr aber nicht." M. Arlt (1958) meint, es handle sich mehr um "Zusammenflüsse" als um Einflüsse, und Larra (1962) schreibt, Pirandello kreiere einen Konflikt, indem er von einer Abstraktion ausgehe. Arlt dagegen gehe von der Handlung aus, vom bereits bestehenden Konflikt, den er bis an die Grenzen einer Abstraktion führe. Und auch die brutale Konfrontation von Traum und Wirklichkeit und die groteske Sozialkritik seiner Stücke unterscheide ihn von Pirandello. Siehe die Untersuchung von Foster 1986.

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das erste Stück Arlts, in dem es nicht um einen individuellen Konflikt, sondern um Gruppen geht. Die Angestellten werden von den Geräuschen des Hafens und dem Blick aus den Fenstern abgelenkt, einer bricht aus der Routine aus, und es entsteht Chaos. Am Ende werden alle entlassen, und die Büroräume gegen die Außenwelt abgeschottet. Die Realität zerstört die Phantasie. Emphatische Symbole wie Schreibmaschinen, das Fenster, Schiffe, ein tätowierter Mulatte, exotische Rhythmen setzen die Kontraste der beiden Situationen: vor der "Rebellion" und danach. Es gibt keine natürliche oder realistische Handlung, keine Charakterentwicklung, vielmehr einen schematischen, metaphorischen Ablauf. Arlts Spiel mit Realität und Phantasie gipfelt in dem stark ritualisierten Stück Lafiestadel hierro (Das Fest des Eisens, 1940). Die Welt ist hier ein metaphorisches Irrenhaus, wo nahezu alle von irgendeiner Form des Wahnsinns befallen sind. Keine der Figuren kann als "normal" angesehen werden, alle haben negative Züge. Der Protagonist hält sich für den römischen Imperator. Arlt zeigt an seiner Geschichte, wie aus ruhigen Bürgern eine blutrünstige Meute wird. "Das Stück ist eine Ansammlung von Hass und Rachsucht, die sich wie Gift in alle Bereiche der Gesellschaft ausbreiten."16 Als Arlt 1942 starb, arbeitete er an dem Stück El desierto entra en la ciudad (Die Wüste kommt in die Stadt). Es ist wie eine Debatte strukturiert, zugleich komisch und nahezu absurd, mit klaren Anklängen an Camus' Caligula, obwohl auch hier Theater im Theater gespielt wird und die Rationalität in den Wahnsinn führt. Verkehrsregelungen verhindern, dass die Heiligen Drei Könige auf ihren Kamelen die Stadt betreten können, Einwanderungsgesetze verbieten, dass sie ihre Sklaven ins Land bringen, und man spricht Esperanto. In Teilen wirkt das Stück noch wie ein Entwurf. Die charakteristische Auseinandersetzung zwischen Realität und Phantasie fehlt völlig, alles entwickelt sich aus der Spannung zwischen Logik und Unordnung, die sich nur andeutungsweise in der Polarisierung Wahnsinn-Vernunft darstellt. Troiano weist hier auf eine enge Beziehung zu Cervantes hin.17

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Luzuriaga 1978,105; siehe auch Troiano 1979,44. "Der Argentinier nimmt Elemente von Cervantes [...], und es gelingt ihm, sie in seine einzigartige, bizarre literarische Welt einzubringen, die voller Gewalt und unerwarteter Ereignisse ist. Arlt ist sich, wie Cervantes, vollkommen des verzaubernden Reizes von Schimären bewusst, die die Grenzen der prosaischen Realität überschreiten. In Arlts Werk bedeutet das Eintauchen in die Phantasie jedoch, dass sich die Figur verwundbar einer Unzahl von Gefahren aussetzt, die schließlich zu Gewalt und Tod führen." (Troiano 1978,22)

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In Arlts Theaterstücken ist das Leben schwer, die Realität relativ und die Flucht in die Phantasie gefährlich. Die Texte kristallisieren sich um eine Figur, die kaum handelt, und wenn sie es tut, hat dies wenig Einfluss auf die Entwicklung der Fabel. Geistige Impotenz und die Unfähigkeit, eine echte Liebesbeziehung zu finden, sind Konstanten. Neu für seine Zeit ist das ständige Spiel mit Traum und Wachsein, Wahnsinn und Vernunft, Realität und Fiktion. Arlts Protagonisten sind Träumer. Mirta Arlt schreibt 1963 an Raul Castagnino: "Das Träumen ist stets der erste Akt existentieller Bestätigung, sowohl in den Romanen wie in den Theaterstücken meines Vaters; ich träume, also bin ich." Aber der Traum sei im Werk ihres Vaters "ein makabrer Scherz der Götter", der den Menschen nicht befreit, sondern ihn versklavt, um "die Konfrontation mit der Realität um so schrecklicher zu machen [...]; wer nichts Gutes träumen kann, träumt Scheußlichkeiten: Gott oder der Teufel flüstern ihnen die Träume ein."18

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M. Arlt an Raúl Castagnino am 14.4.1963; zit. nach Rela (1980,67).

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Samuel Eichelbaum (1894-1967) Liliane B. López Das lange Leben von Samuel Eichelbaum hat ihn zu einem der wenigen bedeutenden argentinischen Dramaturgen gemacht, die mehrere Phasen des argentinischen Theaters des 20. Jahrhunderts durchwandert haben. Das Kernstück seiner Produktion liegt in der Phase der 30er und 40er Jahre, aber er war schon in den 20ern ein erfolgreicher Autor und schrieb auch nach den 50ern weiter. Er begann in Zusammenarbeit mit Pedro A. Pico für das Theater zu schreiben, und in diesen Anfängen pflegte er eine literarische Untergattung, die er danach nicht mehr wiederaufnehmen sollte: den saínete. So begann er 1919 für die Compañía Muiño-Alippi mit En la quietud del pueblo (In der Ruhe des Dorfes), ein Jahr später folgte Un romance turco (Eine türkische Romanze), dann Doctor, La Juan Figueroa und La cascara de nuez (Die Nussschale), alles einaktige saínetes} Diese Produktionen fielen mit dem Höhepunkt des saínete zusammen: Gemäß der von Osvaldo Pellettieri (1994,22) vorgenommenen Unterteilung zeigt das "prämoderne Mikrosystem" zwei Richtungen, zum einen die gebildete und vorherrschende Linie (das Theater nach Florencio Sánchez) und zum anderen die volkstümliche und rückständige Linie (saínete und grotesco criollo). Auch wenn die angesprochenen saínetes zur zweiten gehören, so nähert sich Eichelbaum ab dem Zeitpunkt der Uraufführung von La mala sed (Der schlechte Durst, 1920) durch die Compañía Pagano Ducasse im Teatro Apolo doch mehr und mehr der ersten Richtung, welche ein modernes Theater nach europäischem Muster zu produzieren versuchte. Diese Tatsache verschaffte Eichelbaum ab La mala sed den Ruf, ein vom Ausland beeinflusster Autor zu sein, und die Kritiker bemühten sich vor allem um die Aufdeckung seiner Intertexte, wie er selbst mit gewisser Ironie feststellte: Als - im Jahr 1920 - La mala sed uraufgeführt wurde, wiesen mehrere Kritiker auf den Einfluss des Theaters Ibsens auf dieses Drama hin. Kurze Zeit später, nach den Aufführungen von Un hogar, bemerkten die Spezialisten in ihren Kommentaren,

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Eichelbaum schrieb auch Romane (Un monstruo en libertad. Tormenta de Dios und El viajero inmóvil; Premio Jóckey Club 1933) sowie literaturkritische Arbeiten über Florencio Sánchez und Ernesto Herrera (1936). 1940 und 1957 erhielt er den Premio Nacional de Teatro. Außerdem war er als Journalist für Caras y Caretas, La Nota und Noticias Gráficas tätig.

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Liliane B. López dass dieses Werk Reminiszenzen von Tschechov habe, eine Beobachtung, die sie in der folgenden Spielzeit auf La hermana terca ausweiten sollten. Jahre später, bei der Uraufführung von Cuando tengas un hijo, hieß es, dass dieses Werk von Lenormand beeinflusst sei und dass Señorita in der darauffolgenden Spielzeit die bereits erkannten Einflüsse Ibsens bestätige, ebenso, wie En tu vida estoy yo, welches zwei Jahre später auf die Bühne kam, ein Beweis war für den Einfluss des Autors von El tiempo es un sueño, welche wiederum, bei der Uraufführung von El gato y su selva, Peyret-Chappuis zugerechnet wurden, um schließlich - bei der Interpretation von Dos brasas - bei O'Neill anzugelangen.

Dieses ausführliche Zitat fasst Hunderte von Artikeln über die dramaturgischen "Quellen" von Eichelbaum zusammen, eine Rezeption, die uns, wenn wir sie mit der heutigen zeitlichen Distanz analysieren, wenn nicht ungerecht, so doch zu parziell erscheint. In den letzten Jahrzehnten wurden ihm weniger Studien gewidmet, so dass diese Sicht nicht aus neuer methodologischer Perspektive erneuert werden konnte. Die aktuelle Neuanalyse seiner Dramaturgie weist hingegen auf die Verbindung zu metaphysischen und psychoanalytischen Konflikten hin.2 Seine Wurzeln sind in ganz Argentinien und nicht nur in Buenos Aires zu finden, weil die Spannungen zwischen den Bewohnern der Provinz und der Hauptstadt wiederholt aus der Sicht der ersteren entstehen. Wenn in La mala sed der Konflikt der Sexualität unter einem für Sánchez3 typischen naturalistischen Determinismus dargestellt wird - der veraltetste Aspekt des Stücks - so zeichnet sich bereits eine weitere Konstante Eichelbaums ab: die Problematik des Weiblichen, dargestellt durch die Stimme der Frau. Wiederholt wird bestätigt, dass die Frau bisher keine Präsenz im argentinischen Theater gezeigt hat. Dennoch, im Theater von Eichelbaum kommen die Frauen nicht nur häufig vor, sondern sie sind auch Handlungssubjekte oder Trägerinnen von Stimmen, die ihre Situation beschreiben, die wiederum in Vorurteile und soziale und familiäre Vorschriften verwickelt ist und die vom Autor aufgedeckt wird; oft sind sie Opfer ihrer eigenen Vorurteile und unerbittlich mit sich selbst. In La mala sed besteht das Familiendrama in der sexuellen Hemmungslosigkeit von Don Guillermo, welche sein Sohn Atilio erbt, aber die wahre Katastrophe entwickelt sich erst, als die Tochter Esther gesteht: "Ich bin verloren, Mama. Ich habe gesündigt." (192) und weiter zugibt, dass sie selbst die Hauptverantwortliche für diese Tatsache ist. Was bei den Männern noch mit Nach-

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Seine Konstanz erlaubt es, eine originelle Poetik mit deutlich argentinischen Wurzeln zu erkennen. Florencio Sánchez (1875-1910), uruguayisch-argentinischer Theaterautor, dessen Werk sozialkritisch geprägt ist.

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sieht toleriert wurde, wird bei der Frau den Selbstmord des Vaters und die zornige und grausame Reaktion der Mutter bewirken: Du sprichst umsonst, es wird dir nicht gelingen, dich zu entlasten. Du konntest nicht ehrlich sein, du konntest deine Ehre nicht bewahren. Du ziehst uns alle mit in deine Schande. Du hast nicht nur das geopfert, was dir nicht gehörte: unseren Stolz. Du hast alles verloren. (194)

Alle Personen in diesem sowie in anderen Werken Eichelbaums sind "vernunftgebunden". Die "verbindende" Person ist für Sánchez ebenso typisch wie das Aufeinandertreffen mehrerer Protagonisten. Aber was dieses Theater interessant - und in einigen Aspekten innovativ - macht, ist gerade die Auswahl der Sichtweise und die Fokussierung in Richtung des Weiblichen: Dies beginnt beim Leiden von Elsa, der betrogenen Frau Atilios, und endet in der Beichte und gleichzeitigen Übernahme von Verantwortung von Esther. In Un hogar (Ein Zuhause)4 ist es eine Frau aus der Provinz, die als Gast in dem Haus, das Dofta Carmen und ihre sechs Kinder bewohnen - man kann es nicht als "Zuhause" bezeichnen - die gewöhnliche Ordnung verändert. Die fünf Brüder, typische porteños5, verlieben sich in sie, und die Schwester wird einen schwerwiegenden psychologischen Konflikt aufdecken. Dieses Werk, welches täuschend mit "Komödie in drei Akten" untertitelt ist, stellt ebenso wie das vorherige ein Beispiel des bürgerlichen Dramas dar. Weit entfernt von der Sittenkomödie sind seine Personen Individuen, welche sich in nicht typifizierbaren Familienstrukturen bewegen: Als Beispiel nehme man den despektiven Umgang mit der Mutter, auch durch den "Intellektuellen" der Familie, den Poeten Ignacio: José León: Wir sind so einfach... Aber du, der du Mama Verse widmest - du siehst, ich bin informiert - und der du in ihnen so viele Dinge sagst, die ich nicht verstehe, wenigstens du müsstest sie mit etwas ernsthafteren Dingen beschäftigen als mit Zigaretten. (20)

Die Haltung gegenüber der Schwester geht in der Missachtung und der Angst vor den Frauen noch einen Schritt weiter (einer Angst, die auf dem Glauben basiert, dass alle Frauen, die sich einem Mann nähern, diesen für die Ehe einfangen wollen) und macht es notwendig, dass die Mutter ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung klarstellen muss: 4

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Im November 1922 im Teatro Smart von der Compañía Pagano-Ducasse uraufgeführt. porteño: wörtlich Hafenbewohner, geläufig für Bewohner von Buenos Aires. (Anm. d. Ü.)

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Liliane B. López D. Carmen: Schließlich und endlich, auch wenn ihr sie so behandelt, sie ist keine Bedienstete. Auch sie ist ein Mensch, obwohl sie als Frau zur Welt kam. (36)

Es verbindet sie nur das Dach, unter dem sie wohnen, und ihr Groll macht sie einander gleich. Als Martita, die Frau aus der Provinz, sie verlässt und in ihr Dorf zurückgeht, sind die Reaktionen unterschiedlich, und der Selbstmord von Ignacio stellt das Schlussbild des Werkes dar. Ein anderer Aspekt, der in den Werken von Eichelbaum besonders hervorsticht und der mit der Perspektivbildung in Verbindimg steht, ist das hohe Maß an Literarisierung des zugrundeliegenden dramatischen Sprechers: Die vorherrschende Perspektive in den Bühnenanweisungen konstruiert die Person von außen als Zeichen ihres psychologischen Inneren und ihrer sozialen Zugehörigkeit. Martita ist Trägerin der sozialen Klasse der "Provinzfrau": (Es wäre schwierig, Martita zu beschreiben. Vielleicht ist es leichter, sie zu individualisieren, indem man ihre Merkmale generalisiert. Äußerlich ist sie eine einfache Provinzlerin, mit dem einzigen Unterschied, dass sie blond ist und blaue, reine Augen hat. Ansonsten ist sie wie alle anderen. Ihre Bekleidung ist von höchst diskutierbarer Eleganz, ihr Gesicht ist ungeschickt geschminkt. Aber gerade diese Unbeholfenheit, diese Uneleganz scheinen sie noch schöner zu machen.) (40)

Dieser Diskurs wird auch durch die Suche nach einem poetischen Stil charakterisiert, vor allem in der Beschreibimg des - ländlichen, städtischen, innerlichen - Raums, in welchem das Licht in der Schaffung von Klimaten eine wesentliche Rolle spielt. Die Beleuchtung als Zeichen des Schauspiels hat eine grundlegende ikonische und symbolische Bedeutung für die Fokussierung der Personen und Situationen. Eines der Stücke, in dem die Leuchtkraft des Himmels im offenen Raum auf dem Land thematisiert wird, ist Soledad es tu nombre (Einsamkeit ist dein Name).6 Im Vergleich zu dem vorher erwähnten Stück ist hier die Handlung umgedreht: Das Handlungssubjekt auf der Tiefenstruktur ist eine Frau, die aus der Stadt flieht, um auf dem Land ein Refugium zu finden. Wir haben die Kennzeichen der Literarisierung des dramatischen Sprechers bereits erwähnt, hier stehen sie in Verbindung mit dem Licht Der Bahnhof des Dorfes wird von einer Kerosinlampe beleuchtet, "deren Licht an Schmerz erinnert" (9), und die somit mit der äußeren Umgebung im Kontrast steht:

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1932 im Teatro Odeón von der Compañía Paulina Singermann uraufgeführt. Im Ensemble befanden sich berühmte Schauspieler wie Paulina Singermann in der Rolle der Alicia, Carlos Perelli, José de Angelis, Homero Cárpena und Milagros de la Vega.

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Der Vollmond beleuchtet alles mit einem transparenten und weißen Licht, das an Magie erinnert und der Atmosphäre die Realität nimmt, während durch das trübe Licht der Kerosinlampen ein Klima der Über-Realität geschaffen wird. [...] (9)

Von Alicia heißt es, dass"[...] ihr Gesicht gemäß den letzten Vorschriften der weiblichen Toilette in den Großstädten zurechtgemacht ist" (9), und sie steht somit in einem deutlichen Kontrast zu Martita, der Provinzlerin aus Un hogar. Die Opposition Stadt-/Landbewohner wird wiederum thematisiert: Gregoria, die Cousine vom Land, drückt ihre Angst vor den Bewohnern von Buenos Aires mit folgenden Worten aus: Die portenos sind sehr stolz und eingebildet. Sie lachen über alles, machen sich über alles lustig. Man muss sich wie sie kleiden, glauben, an was sie glauben, damit sie einen nicht verhöhnen. (34)

Nachdem Alicia ausgeschlossen wird, da sie einen dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit zugibt, es handelt sich um den Zeitpunkt, da sie Waise wurde, -"[...] ich hatte nur mehr zwei Möglichkeiten: die Freundinnen oder ein armes Leben [...] und entschied mich für das Kabarett" (40) - beginnt eine Kreuzfahrt durch verschiedene Situationen. Als Geliebte eines verheirateten Mannes, wird sie an einen seiner Freunde "weitergereicht", Ortiz Irving, einen von seiner Frau wegen seiner Leidenschaft für das Schreiben verlassenen Romanautor. Als dieser merkt, dass er ohne seine Frau nicht leben kann, werden in einem ausführlichen Gespräch mit Alicia mit großer argumentativer Rhetorik verschiedene Konzeptionen der Liebe dargelegt, in denen die Problematik des verlassenen Mannes vorherrscht: O. Irving: Die Gefühle, die uns zu der Frau rufen, die uns verlassen hat, sind sehr widersprüchlich. Ich weiß nicht einmal, ob es Gefühle sind. Eher kleine Mächte des Unterbewusstseins, unter denen etwas wie die Erinnerung an unser zweideutiges Benehmen vorherrscht. [...] Auch die Angst vor unserer Desintegration fordert sie zurück. Die geflüchtete Frau nimmt Elemente unseres spirituellen und animalischen Lebens mit sich. (78)

Diese Dialoge, welche für die Diskurse der Zeit charakteristische Thesen enthalten - siehe die Darstellung der Krise des Subjekts in der argentinischen vanguardia (Masiello 1983; Sarlo 1988) -, halten die dramatische Struktur dieses Stücks und die anderer Werke zusammen, wie es auch im Extremfall des Divorcio nupcial (Hochzeits-Scheidung)7 geschieht. Das Oxymoron des Titels ist darauf zurückzuführen, dass der Protagonist Eusebio in fort7

1941 von der Compania Luis Arata im Teatro Paris uraufgeführt, mit Luis Arata in der Rolle des Eusebio Perlaza.

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geschrittener Hochzeitsnacht in gebieterischem Ton von seiner Braut Kinder fordert und damit das Glück des Paares zerstört: Du musst sie mir geben, nicht wahr? Denn wenn du sie mir nicht geben würdest, Bianca, auch wenn ich dich noch so sehr liebte, auch wenn mein Herz durch den Schmerz brechen würde, ich müsste dich verlassen. (254)

Ihre Liebe stirbt in der Hochzeitsnacht. Es wird nichts mehr helfen, dass Eusebio seine Einstellung gegenüber dem Weiblichen ändert, die Vernunft hat die Liebe getötet: Bianca: Ich habe das Gefühl, dass du über eine tote Nachtigall sprichst. (265) Eusebio: Es ist etwas zwischen uns gestorben. Du hast immer häufiger Recht. [...] Die Stunde der Wahrheit ist traurig, so wie die des Lobes für die Araber. (266)

Die zeitgenössische Kritik betrachtete es als eines der schwächsten Werke Eichelbaums, so z.B. Carlos Orlando in einer Rezension für Conducta (Nr. 17, Juni-August 1941): Das im Paris uraufgeführte Werk ist von den vier in letzter Zeit von Eichelbaum gespielten Werke das schwächste. Wir wissen nicht, ob Arata es besser interpretieren hätte können. Wahrscheinlich nicht. Und wir wissen auch nicht, ob es anders gespielt besser geworden wäre. [...] Anschließend beginnen die Diskussionen. Die unnützen Details. Die Konzessionen an das Publikum. Das oberflächliche Vergießen von Tränen und andere Dinge von geringer Bedeutung. Und schließlich, der grundlegende Widerspruch des Protagonisten.

Positiv empfand die Kritik hingegen die Sprache seiner Stücke: "Eichelbaum lässt in seinen Werken die Personen so reden, wie wir es in Argentinien auch wirklich tun", vor allem verwendet er den voseo8 gegenüber den künstlichen Formen anderer Autoren seiner und auch späterer Zeit. In einer so weiten Textualität interessieren uns die sprachlichen Besonderheiten auch in Bezug auf die Behandlung des Raumes: Wie bereits angedeutet, werden die äußeren wie auch die inneren Räume minuziös beschrieben, mit einer bewussten Suche nach dem poetischen Wort. Analog zu dem Bemühen, die Zeit durch diskursive Pausen spürbar werden zu lassen, führt Eichelbaum den leeren Raum ein. Wiederholt weist der Autor mittels der konnotativen Funktion seiner Sprache auf die Notwendigkeit hin, dass die Szene leer bleibt. In einigen Fällen erlaubt er, dass Geräusche 8

voseo: in Argentinien und angrenzenden Ländern verwandte Verbform; so wird z.B. "tü tienes" durch "vos ten&s" ersetzt. (Anm. d. Ü.)

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von außerhalb der Szene zu hören sind. Ein konkreter Fall, der die Komplexität in der Behandlung des Raums zeigt, ist Vergüenza de querer (Scham zu lieben)9 mit drei gleichzeitigen Schauplätzen in den ersten beiden Akten. Die Handlungen laufen abwechselnd ab, jedoch bei gleichzeitiger Anwesenheit der Schauspieler in jedem Zimmer (und einem zentralen Vorzimmer, das in die verschiedenen Schlafzimmer führt). Hier wird die Protagonistin Goya als Frau charakterisiert, die zu wenig feminin ist: Ihre physische und moralische Kraft scheint für eine Frau unpassend zu sein, und alle anderen Personen, ihre Brüder und später ihr Ehemann, sind ihr unterworfen. Sie heiratet ohne Liebe, und als diese später in ihr wächst, gerät sie in Konflikt mit der Freiheit, welche fiktional auf eine Art gelöst wird, die zur damaligen Zeit schwer akzeptierbar war. Dieses Werk, das sich für Momente an die costumbristische Komödie annähert - durch tragikomische Personen wie ihre Schwester Flora oder durch wiedererkennbare Situationen (wie die "Rentenfamilie", in der niemand arbeitet) -, behandelt ebenfalls manche der bereits dargelegten Themen: die Gegenüberstellung der Stadt- und Landbewohner oder die faulen Menschen, bevorzugte Zielscheibe von Goya: Glauben Sie ja nicht, dass dies ein Drama der Armut ist. Nein. Auf gar keinen Fall! Dieses ist ein Drama des Unbewussten, ein Drama der zerstörten Moral. Ich habe immer geglaubt, dass man um zu arbeiten nicht zuerst eine freie Stelle, wie alle sagen, sondern eine Arbeitsmoral, den Sinn für Arbeit haben muss. (101)

Ein weiteres Thema, das sich mit dem zentralen Konflikt überschneidet, ist das der Problematik des Künstlers, wie z.B. Ignacio in Un hogar, Oitiz Irving in Soledad es tu nombre, Juan Antonio in Pájaro de barro; in Vergüenza de querer erscheinen zwei Maler, Juan Manuel und Digiácomo, der Bruder und der Ehemann von Goya. Die Problematik des glücklosen Künstlers, der gegen das Unverständnis der Familie und der Kritik kämpft, ist ein weiteres Isotop im Theater von Eichelbaum. Im bereits erwähnten Pájaro de barro (Schlammvogel)10 wiederholen sich zwei Ideologeme: die Kunst (in diesem Fall Tonskulpturen) und die Sexualität, die bereits in den ersten Werken, wie La mala sed mit "Schlamm" und "Lehm" verglichen werden. Die Protagonistin ist Feiisa, nach eigener Definition eine chinitan, die sich anfangs passiv verhält. Nachdem sie von einem Bildhauer verführt wird und ein Kind von ihm zur Welt bringt, widersetzt sie sich jedoch seiner Anerkennung und ' 1941 von einer von Enrique Gustavino geleiteten Schauspielertruppe im Teatro Smart uraufgeführt. 10 1940 im Teatro Astral von der Schauspielergruppe von Eva Franco uraufgeführt. 11 chinita: in Argentinien ein Mädchen bescheidener Herkunft, meist vom Land. (Anm. d. Ü.)

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erlangt ungeahnte Kraft. Eine ähnliche Problematik wird in Las aguas del mundo (Die Wasser der Welt)12 aufgeworfen. Laureano ist in eine junge Frau verliebt, die von einem anderen Mann verführt wurde. Diese verweigert ihren Sohn seinem biologischen Vater, und als Laureano zurückkommt, bittet sie ihn zu sagen, dass es sein Kind sei. Dieser akzeptiert zwar das Kind, aber nicht die Mutter, was eine Konfrontation aller Personen mit sich bringt. Angesichts des Todes der Mutter geht er mit seinem Adoptivsohn weg. In beiden Werken wird das Melodram von vernunftbezogenen Personen durchschritten, aber nicht überschritten: Diese Dorfbewohner, die zwar einerseits ihre sprachliche Besonderheit beibehalten, aber andererseits dunkle philosophische, ethische und psychologische Konflikte austragen, wurden von der Kritik seiner Zeit für nicht wahrscheinlich gehalten. En tu vida estoy yo (Ich bin in deinem Leben, 1934), welches das Scharnier zwischen den beiden Textualitäten bildet, wurde hingegen positiv aufgenommen. Es wurde im Teatro Comedia in Buenos Aires von der Schauspielergruppe von Eva Franco mit ihr als Marta uraufgeführt. Das psychische Drama ist mittels neuer Verfahren, wie der Darstellung der intimsten Gedanken der Personen, ins Extreme geführt. Dieses im argentinischen Theater eher unübliche Vorgehen brachte die Kritiker dazu, den Autor mit ausländischen Schriftstellern wie Eugene O'Neill (Extraño interludio, El Gran Dios Bronm), Unamuno, Lenormand und anderen zu vergleichen.14 Was die Kritik nicht erkannte, ist, dass diese Methode hier eine andere Funktion verfolgt, da die These im Dienst einer anderen Problematik steht: die Freiheit, der freie Wille in den Liebesbeziehungen und seine Beschränkung durch eine Komponente, die wir als "irrational" bezeichnen könnten. Die vemunftbezogenen Personen weichen vor einer Macht zurück, die sie mittels des Intellekts nicht dominieren können: Die Liebe wirkt wie ein mächtiger Magnet, gegen die Zeit und die Widerstände der sozialen Ordnimg. Das Melodrama wird zwar durch die formalen Mittel des avantgardistischen Theaters gerechtfertigt, ohne dass die Mischung jedoch überzeugen könnte. Die Kritik war ratlos.

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1957 im Teatro Nacional Cervantes uraufgeführt. Man betrachte als Beispiel die Kritik an Pájaro de barro in Conducta (Nr. 12, Juni-Juli 1940): "Das naive junge Mädchen wird zu schnell reif - von einem Tag zum anderen sagt sie Dinge, welche nur in einem wesentlich gereifteren Leben verstanden werden können. [...] Diese zwei falschen Charakteristika spalten fast völlig die Wahrhaftigkeit des Werkes." Man vergleiche die Juiríos críticos de la prensa der zitierten Ausgabe.

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Betrachten wir abschließend zwei für die Textualität Eichelbaums fundamentale Werke: Un guapo del 900 (Ein Geck des 20. Jahrhunderts)15 und Un tal Servando Gómez (Ein gewisser Servando Gómez)16. Ersteres erhielt den größeren Zuspruch und ist bis heute bekannt, da es zweimal verfilmt wurde. Eichelbaums Erfolg basiert vor allem auf der Darstellung des Protagonisten Ecuménico López, der mehr durch seine Wesenszüge und durch Handlungen als auf der Diskursebene Charakteristika des modernen Helden vereint und seinem Herren, dem typischen Parlamentarier, absolut treu ist und daher ohne zu zögern den Geliebten der Ehefrau von Don Alonso tötet, als dessen Ehre aufs Spiel gesetzt wird. Er erträgt die Folgen, ohne ihm die Wahrheit zu eröffnen und beschließt sogar, den Mord zu gestehen, nachdem er freigelassen wird. Die ihn umgebenden Personen, wie seine Mutter Natividad oder die künftigen Schönlinge des Viertels und sein Bruder, schaffen ein in der argentinischen Literatur häufig betretenes Universum: den städtischen criollismo, wie wir ihn auch bei Jorge Luis Borges und anderen Autoren finden (vgl. Sarlo/Altamirano 1983). Der Mythos des Gecks "mit Messer" wird in diesem Theaterstück hervorragend dargestellt.17 Servando Gómez, der Protagonist des zweiten oben erwähnten Stücks, "ein gewisser", d.h. ein Mann aus der Masse, ist dennoch ungewöhnlich. Auch hier wird der zentrale Konflikt melodramatisch zugespitzt. Das Stück wird von starken Charakteren wie dem von Servando getragen. Wenn wir dieses Werk mit den vorigen vergleichen, so stellen wir fest, dass der Autor mehr auf den diskursiven Aspekt geachtet hat: Ein Satz reicht aus, um einen Gedanken, ein Konzept oder eine Definition zu resümieren, wie die Liebe Servandos zu Feiisa: "Sie waren immer ein stiller Trinkspruch." (17) Die Distanz zwischen diesen und seinen ersten Werken ist groß; dem Autor gelingt nun eine Synthese des Konflikts, die Kohärenz der Person mit dem Diskurs und ein müheloser Umgang mit der Theatralik. Er verfolgt weiterhin dieselben Themen, aber er behandelt sie nun anders: Der Künstler ist nun ein Vorstadt-Gitarrist, der über "Erfolg" nachdenkt; die immer präsente Frau handelt mehr und spricht weniger. So nähert er sich effektiver und bühnenwirksamer dem Menschen, mit derselben Tiefe in der Darstellung 15

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1940 im Teatro Marconi mit Francisco Petrone in der Rolle von Ecuménico López uraufgeführt. 1942 im Teatro Smart von der Schauspielertruppe von Luis Arata uraufgeführt. Die Antwort Ecuménicos angesichts der Drohung Don Alejos zeigt den thematischen Kern: "Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch zurückhalten kann, dir eine Kugel zu geben!", worauf ersterer antwortet: "Ich bevorzuge das Messer als Waffe. Es ist männlicher. Es zwingt mich dazu, nahe zu kämpfen. Feuerwaffen töten aus der Ferne. Das ist nichts für Sie, Don Alejo, oder?" (47)

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der Konflikte und Fragen, die sich ihm in der notwendigen Kommunikation mit dem Nächsten stellen, und erweitert damit seine Rezeption. Wir haben zunächst Eichelbaum dem prämodernen Theater zugeordnet. Durch seine Suche nach einer größeren Bühnenwirksamkeit und neuen Ansätzen gehört er jedoch in das moderne Theater, das 1930 beginnt, womit er einer der grundlegenden Autoren ist, die die erste Etappe der Moderne in unserem Theater geprägt haben. Der Umstand, dass er keine Nachfolger fand, schmälert nicht seinen Versuch, das Theater für Wege zu öffnen, die profunde, komplexe Probleme thematisieren, mittels einer Dramaturgie, die sich bemühte, diese Wege gangbar zu machen. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater (Auswahl) Eichelbaum, Samuel. 1920. La mala sed. Dt. Der schlechte Durst. In: La Escena, Nr. 126. - . 1922. Un hogar. Dt. Ein Zuhause. In: Bambolinos, Nr. 236. —. 1932. Soledad es tu nombre. Dt. Einsamkeit ist dein Name. Buenos Aires: Gleizer. —. 1934. En tu vida estoy yo. Dt. Ich bin in deinem Leben. Buenos Aires: Gleizer. —. 1940. Un guapo del 900. Dt. Ein Geck des 20. Jahrhunderts. Buenos Aires: Col. Thespis. —. 1942a. Divorcio nupcial. Dt. Hochzeits-Scheidung. Buenos Aires: Conducta. —. 1942b. Vergüenza de querer. Dt. Scham zu lieben. Buenos Aires: Conducta. —. 1942c. Un tal Servando Gómez. Dt. Ein gewisser Servando Gómez. Buenos Aires: Conducta. —. 1952. Pájaro de barro. Dt. Schlammvogel. Buenos Aires: Sudamericana. —. 1959. Las aguas del mundo. Dt. Die Wasser der Welt. Buenos Aires: Carro de Tespis. Studien Altamirano, Carlos; Beatriz Sarlo (Hg.). 1983. Ensayos argentinos. Buenos Aires: CEAL. Cruz, Jorge. 1962. Samuel Eichelbaum. Buenos Aires: Ediciones Culturales Argentinas. Guardia, Alfredo de la. 1938. Raíz y espíritu del teatro de Eichelbaum. In: Nosotros (Buenos Aires) III, segunda época. Masiello, Francine. 1983. Lenguaje e ideología. Buenos Aires: Hachette. Ordaz, Luis. 1946. El teatro en el Río de la Plata. Buenos Aires: Alpe. Pellettieri, Osvaldo. 1994. Teatro argentino contemporáneo. Buenos Aires: Galerna. Sarlo, Beatriz. 1988. Una modernidad periférica. Buenos Aires: Nueva Visión.

Bernardo Canal Feijóo (1897-1982) Amalia Iniesta Cámara Bernardo Canal Feijóo, Dramatiker, Poet und Essayist, kam 1897 in Santiago del Estero zur Welt und starb 1982 in Buenos Aires. Er hat folkloristische, historisch-juristische und soziokulturelle Essays geschrieben: Mythen, Zeremonien, folkloristische Legenden, Darstellungen anonymer Dramaturgen und Künstler sowie oraler Tradition des argentinischen Nordwestens. Seine Absicht war es, die nationale Kultur und Identität festzuhalten. Hier interessiert uns Canal Feijóo als Dramatiker, und damit seine Texte: Pasión y muerte de Silverio Lequizamón (Leidenschaft und Tod des Silverio Lequizamón, 1937), Los casos de Juan (Die Fälle von Juan, 1962), Tungasuka (1983), Los cuentos de Don Andrónico (Die Erzählungen von Don Andrónico, 1968) und ein nicht publiziertes Werk mit dem Titel "Coronado de gloria" (Mit Ruhm gekrönt, 1983). Sein dramatisches Werk steht mit seinen Essays in Verbindung: Los casos de Juan wurde bereits in Burla, credo y culpa en la creación anónima popular publiziert. Es geht um Soziologie, Ethnologie und Psychologie in der Folklore. Die Themen der Kurzgeschichten fanden sich bereits in Ensayo sobre la expresión popular artística en Santiago del Estero und in Los problemas del pueblo y de la estructura en el norte argentino. Silverio Lequizamón steht mit juristischen und Tungasuku mit historischen Texten in Verbindung. Die Werke behandeln den argentinischen Nordwesten und das Vizekönigreich Peru. Los casos de Juan Das Stück wurde 1954 im Teatro Popular Independiente Fray Mocho in Buenos Aires uraufgeführt. Seine Erstausgabe datiert aus dem Jahre 1940 und enthält eine Einleitung mit dem Titel "Notas sobre la fábula"; 1951 wird es als erstes Kapitel des bereits erwähnten Essays wieder aufgelegt.1 In der Ausgabe von 1967 finden wir ein Vorwort in Versform, welches in der vorherigen Ausgabe nicht enthalten war.

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Bereits im Ensayo sobre la expresión artística en Santiago del Estero (1937) bemerkt man das Interesse Canal Feijóos an kreolischen Fabeln. Vgl. Vidal de Battini 1980.

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Das Werk ist in vier Teile (jornadas) und 18 Fälle (casos) unterteilt. Erstere heißen Astucia (Hinterlist), Picardía (Schlauheit), Viveza (Scharfsinn) und Muerte (Tod). Eine jornada entspricht dem Akt im traditionellen Theater und ein caso der Szene. Das Volk nennt die Ereignisse casos, und so werden die Begebenheiten theatralisch dargestellt, anstatt sie zu erzählen. Canal Feijóo hat verschiedene Versionen von Legenden und Erzählungen vom Zyklus des Zorro (Fuchses) gesammelt und dramatisiert. Dafür war es auch notwendig, Tiere als Protagonisten auf die Bühne zu bringen.2 Die Motive, die ausgewählt wurden, um die Konflikte im argentinischen Norden darzustellen, gehören dem universellen Repertoire an, wie: Hunger, sexuelle Begierde, Durst, Überlebensdrang, Wunsch nach Freiheit, Spott über Unwissenheit, kreolische Schlauheit, Rache, der Wunsch weiterzuleben.3 Im Vorwort wird nicht angegeben, wer spricht; es ist nicht der Autor, sondern eine Stimme, die zwischen den Personen auf der Bühne und den Zuschauern vermittelt, Hinweise zur Schrift und Struktur des Textes gibt und die ausgewählte Poetik und den oralen Charakter sowie den Aufbau des Werkes erklärt. In seinem Konzept ist ein anarchistischer Geist, eine Verspottung der Autorität und der Hierarchien zu erkennen. Das Thema ist das der Familie und deren drei Hauptpersonen, welche sind: der Tigre (Tiger), der Zorro (Fuchs) und Juan. Der Tiger ist die stärkste Persönlichkeit, der Fuchs, schwach und hinterlistig, versucht Vorteile zu nützen, und Juan schließlich ist eine Mischung der Schelmen aus den spanischen und lateinamerikanischen pikaresken Romanen. Im ersten Teil triumphiert im Zweikampf mit dem Tiger immer der Fuchs aufgrund seiner Hinterlist und lässt den Tiger verspottet und wütend zurück; im zweiten Teil trifft der Fuchs auf andere Tiere. Das Prinzip ist die Macht des Willens, übertrieben dargestellt in der Gestalt des Fuchses. Im dritten Teil wird die Feindschaft zwischen Juan und dem Tiger sowie schließlich der Triumph des Fuchses dargestellt. Der vierte schließt mit dem Tod des Fuchses. Der Text endet mit einem Epilog, in dessen wiederum vermittelnden Diskurs der Zuschauer von der Ebene der Fiktion zu der der sozialen

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Vgl. den Ensayo sobre la expresión artística en Santiago del Estero, in dem Canal Feijóo auf die Vorliebe der Gemeinschaften für die Erzählungen über Tiere hinweist und Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen dem argentinischen und dem europäischen Jahreszyklus analysiert. Vgl. Burla, credo y culpa en la creación anónima (1952, 25), worin der Autor darstellt, dass die mythischen Erzählungen, die Legenden und Tierfabeln einem Genre mit weniger formeller Strenge angehören, das er als Volks-Genre bezeichnet, welches zum typischen Instrument des philosophischen Ausdrucks des Volkes geworden sei.

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Realität im Theaterraum geführt und somit zum Nachdenken angeregt wird. Manche Teile sind in Prosa geschrieben, in anderen wechseln Prosa und Vers; manche enthalten Ausdrücke aus der indianischen Sprache des Gebietes, dem Quechua. Der Autor bedient sich dieser dramatisierten Erzählungen, um die sozialen Konflikte der Region darzustellen: Indianer und criollos rebellieren gegen die Weißen, und sie identifizieren die Eigenschaften der Tiere, wie Hinterlist, Macht und Wut, mit den sozialen Agenten. Los cuentos de Don Andrönico Dieses Werk ist 1983 posthum erschienen. Aufgrund seines oralen Ursprungs und seines Inhalts ist es dem folkloristischen Bereich zuzuordnen. Es besteht aus einer Reihe kleiner Erzählungen, welche auf Legenden und Mythen des argentinischen Nordwestens basieren und die zeitlich nach den sozialen und kulturellen Veränderungen dieser Region liegen. Gesammelt hat sie ein Lehrer aus Santiago del Estero. Der Autor hat die dramatische Form gewählt, um dieses mündliche Material zu transkribieren, und er lässt dabei Don Andrönico als Erzähler fungieren. Der Untertitel "Glösas teatrales" (Theatralische Glossen) weist bereits auf die dramatische und dialogische Struktur hin. Don Andrönico ist ein Lehrer, der durch seine Funktion als Erzähler das Bindeglied zwischen den Personen und dem Leser oder Zuschauer darstellt. Der Text ist in 13 Erzählsequenzen untergliedert, wobei die Strukturierung nach Bildern typisch für das epische Theater ist. Jede Sequenz stellt für sich allein eine Einheit dar, wobei jedoch die einzelnen Sequenzen durch das Motiv oder die Personen zu einer Gesamtheit verbunden werden. Volkslieder weisen auf die örtlichen Kneipen hin, die Person des Onkel Felipe ist ein Bindeglied. In den Erzählungen gibt es weder eine Lösung des Konflikts noch eine am Ende aufgelöste zentrale Handlung. Themen sind: Verspätung der regionalen Entwicklung, Landflucht, fehlende Intervention der Grundbesitzer, der Landlehrer und die Rolle der katholischen Religion angesichts sozialer Wandlungen. Der Erzähler übernimmt die Einleitung in den dramatischen Diskurs, unterbricht den Dialog, um Kommentare abzugeben, interpretiert die dramatische Handlung, informiert über das Geschehene oder handelt als Double des Autors; er verbindet die Sequenzen, kündigt Auf- und Abtritt der Personen an und gibt externe Hinweise bezüglich des sozio-ökonomischen und kulturellen Umfelds der Region. Das Ambiente wird durch regionale Musik mittels ihrer Instrumente und folkloristischer Tänze gestaltet. Die Darstellungsform ist wie in Los

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casos de Juan und in Pasión y muerte de Silverio Lequizamón episch und provoziert damit ein Brecht'sches Erstaunen im Zuschauer. Pasión y muerte de Silverio Lequizamón Die Erstausgabe von 1937 ist verschollen. Das Werk wird zum ersten Mal 1944 im Teatro Municipal von Buenos Aires aufgeführt,4 dann wieder 1983 bei der Wiedereröffnung des Teatro Municipal General San Martin.5 Es gibt vier Ausgaben des Dramas, wobei der Autor in jeder dieser Ausgaben die Interpretationsmöglichkeiten erweitert, um ihre Besonderheiten genauer darzustellen und die Leseniveaus zu vertiefen. Canal Feijóo selbst klassifizierte das Werk als "Film" und als sprechende Erzählung. Der zweiten Ausgabe fügt er den Untertitel "Mito popular heroico" (Heroischer Volksmythos) hinzu und weist darauf hin, dass der Protagonist ohne soziales Bewusstsein handle, als er sein Land verteidigt, dass es aber gerade diese Tat sei, die ihn zu einem Volkshelden mache, zu einem Mythos in der Interpretation der Situation der criollos. Die dritte und vierte Ausgabe haben einen neuen Untertitel, "Misterio popular" (Volksmysterium), welcher zu einer Vertiefung der mystischen Version oder zu einem religiösen Volksmythos führt. Die Musik umfasst alle Richtungen von der Musik der Ureinwohner bis zur Chor-Symphonie. Das Drama ist episch und mythisch zugleich. Wiederum wird eine soziologische Sicht des Helden gezeigt, eine Synthese der Gefühle einer Gemeinschaft, womit dieser Text Canal Feijóos der lateinamerikanischen epischen Tendenz entspricht. Das Hauptziel dieses Textes ist es aufzuzeigen, wie im Bewusstsein der ersten kreolischen Generation der Geist der Freiheit entstand, der zur Mai-Revolution führte. Der mythische Aspekt des Werkes wird mittels der Verwandlung der Hauptperson in einen sozialen Helden veranschaulicht. Der tödliche Konflikt zwischen dem spanischen Hidalgo und dem criollo ersterer nimmt dem anderen sein von ihm bewohntes und bearbeitetes Land weg - wird von einem individuellen Interessenkampf zu einem der größten amerikanischen Konflikte des 18. Jahrhunderts. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass der dramatische und historisch-juristische Diskurs auf einer gründlichen Dokumentation basiert. Das Werk gliedert sich in sechs Teile und 23 Szenen, die räumlichen und zeitlichen Veränderungen entsprechen. Die zahlreichen szenischen 4

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Aufführung durch Santiago Gómez Cou, geleitet von Orestes Caviglia, im Programm als "Drama popular heroico" mit einem Prolog, 4 Akten und 7 Szenen angekündigt. Aufführung durch Pachi Armas, geleitet von J. Ma. Paolantonio, adaptiert von Luis Ordaz und J. Ma. Paolantonio.

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Wechsel lassen das Werk wie ein filmisches Drehbuch erscheinen. Wiederum handelt es sich um episches Theater (vgl. Brecht 1983), welches das Sozialsystem des Lesers unter einer neuen Perspektive in Frage stellt und somit eine kritische Sicht und eine Änderung der Einstellung erlaubt. Der dramatische Konflikt spielt sich auf zwei Ebenen ab, der individuellen und der kollektiven, und die Lösung führt zur dritten, der sozialen. Der Konflikt des Silverio entsteht zwischen dem Bild, das die Dorfbewohner von ihm als Verteidiger seiner Rechte haben, und ihm selbst. Er löst ihn, indem er die persönliche Rolle zurückdrängt und die soziale Rolle annimmt, und wird so zum Führer. Auf der sozialen Ebene kommt es zu einem Kampf zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Auf den Festen, die als Brauchtumsbilder dargestellt werden, treffen criollos, Mulatten und Schwarze mit Regierungsbeamten zusammen. Dieses Drama bringt den individuellen Konflikt der Hauptperson mit dem sozialen und politischen Entwurf der dargestellten Zeit in Verbindung. Obwohl die Handlung am Ende des 18. Jahrhunderts in Santiago del Estero anzusiedeln ist, ist das Landproblem auch in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts noch gegenwärtig (vgl. Rivera 1983,29.). Auffallend ist die Beziehimg zwischen dem Protagonisten und dem anonymen Volk, die stärker ist als die zu anderen Personen. Dies entspricht der Brecht'schen Ethik, gemäß derer Helden dargestellt werden, die aus tiefgreifenden gesellschaftlichen Bewegungen hervorgegangen sind. Die Kritik hat dieses Werk als letztes im Zyklus des Gaucho-Theaters bezeichnet, obwohl es nicht als solches konzipiert war (vgl. Castagnino 1983,34; Rodriguez de Anca 1983,32-41). Das Volk schafft den Mythos, mittels dessen es fähig ist, seine Forderungen, Wünsche und Hoffnungen auszudrücken, und es kann somit sein eigenes Schicksal in diesen Mythos hineinlegen. Der Körper des Protagonisten verschwindet in der Nacht vor seiner Exekution, da der Mythos nicht stirbt, bis sich sein historisches Schicksal verwirklicht. Die Aufgabe Silverio Leguizamöns in seiner Zeit besteht darin, die Rebellion einer sozialen Klasse anzuführen, welche sich ihrer sozialen Situation bewusst wird und versucht, diese zu ändern. Somit entsteht ein nationales historisches Bewusstsein in der Dramatik (vgl. Ghiano 1983,15-19). Tungasuka

1968 als "amerikanische Tragödie" herausgegeben, wurde das Werk erstmals 1983 im Teatro Municipal General San Martin uraufgeführt. Es ist in mehrere Akte, diese wiederum in Szenen unterteilt mit einem intermedio (Zwischenspiel), und folgt so der epischen Tendenz; der Schauplatz ist Cusco. Zeitlich ist das Stück während der Rebellion von Tüpac Amaru am

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Ende des 18. Jahrhunderts angesiedelt, von der Verschwörung der plateros bis zur Zerstückelung des Inka, es umfaßt also etwa zwei Jahre. Die genaue historische Situierung - das 18. Jahrhundert im Vizekönigreich Peru -, macht das Werk zu einem Heldenepos im Rahmen der amerikanischen Unabhängigkeit. Der Zuschauer oder Leser weiß, dass der Kazike Tungasuka kein legendärer, sondern ein historischer Held ist, und dass der dramatische Text an die geschichtlichen Ereignisse angelehnt ist, was in den Archiven der lateinamerikanischen Geschichte überprüft werden kann. Der dramatische Konflikt spielt sich auf sozialer Ebene ab und nicht auf religiöser, wie in der griechischen Tragödie. Er ist politisch und führt zu einer Konfrontation zwischen Politik und Kirche. Der Protagonist handelt nicht aus individuellen Motiven, sondern wird durch sein historisches Erbe geleitet. Im Unterschied zum Helden in der griechischen Klassik, der ein individuelles Schicksal zu meistern hat, findet man in Tüpac einen sozialen Helden, sozusagen eine Synthese der Freiheitsbestrebungen des amerikanischen Volkes. Als solcher beschließt er, ein ungerechtes historisches Schicksal zu ändern. Somit erhält sein Tod und der seiner Familie eine andere Bedeutung als die einer Bestrafung und der Wiederherstellung der Ordnung, da seine Rebellion als exemplarisch für andere Unabhängigkeitsbewegungen zu verstehen ist. Die Lösung ist nicht auf göttlicher Ebene zu finden, sondern eindeutig in einem menschlichen politisch-sozialen System. [Für Canal Feijöo] entsteht Tragödie in dem Moment, in dem sich das gemeinsame Kulturgut vom Altar ab- und der Welt zuwendet, in dem sich Zuwendung in Gegenposition verwandelt, in dem nicht mehr Gott sondern die Menschen das angerufene Subjekt sind (Canal Feijöo 1952,16).

Wir haben das dramatische Werk von Bernardo Canal Feijöo betrachtet, das vor allem folkloristisch und historisch ist. Der folkloristische Charakter basiert vor allem auf der Verwendung der regionalen Musik (Tänze, Lieder, Instrumente), im Gebrauch der indianischen Sprache Quechua und im kulturellen Erbe, der Quelle von Legenden und Volksglauben, das er ebenso beschreibt wie die Bräuche des criollo und des gaucho. Canal Feijöo führt die soziokulturellen Konflikte dieses spanischkreolischen Gebietes von einem nationalen Gesichtspunkt zum dramatischen Konflikt. Ihn interessiert die Darstellung der Geschichte, der Geographie und der Probleme, die die Bevölkerung zu bewältigen hat. All das wird auch in seinen Essays ausgeführt, die sein dramatisches Werk fortführen und ergänzen. Sein Interesse beginnt mit Forschungen über regionale Probleme und wird dann in seinen dramatischen Werken in einen

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umfassenden kulturellen Kontext gestellt. Canal Feijöo formt narrative Texte zu dramatischen Dialogen um. In der Behandlung von Geschichte stimmt er insofern mit Brecht überein, als der Zuschauer oder Leser feststellen kann, dass in der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt der Mensch das Kunstwerk seines individuellen und sozialen Lebens ist. Dies versucht Canal Feijöo zu beweisen, indem er in seinem Theater Personen aus folkloristischen Legenden sowie juristischen und historischen Texten aus dem Nordwesten Argentiniens auf die Bühne bringt, einem Gebiet, aus dem er selbst stammt. Nach Brecht können wir sein Theater als ein Theater des Volkes definieren: Wenn wir von Völkern sprechen, beziehen wir uns auf das Volk, dass nicht nur an der Evolution teilhat, sondern sie übernimmt, sie bestimmt, sie beeinflusst. Wir denken an ein Volk, das Geschichte macht, das die Welt und sich selbst verändert (Brecht 1983). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Brecht, Bertolt. 1967. Schriften zum Theater I, II und IH. In: id. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. —. 1983. Escritos sobre teatro I, II y III. Buenos Aires: Nueva Visión, 3 Bde. Canal Feijóo, Bernardo. 1937. Ensayo sobre la expresión popular artística en Santiago del Estero. Buenos Aires: Compañía Impresora Argentina. —. 1937. Pasión y muerte de Silverio Lequizamón (mito popular heroico). Buenos Aires: Compañía Impresora Argentina; Buenos Adres: Elan 1944; Buenos Aires: CEDAL1967. —. 1938. Mitos perdidos. Buenos Aires: Compañía Impresora Argentina. —. 1943. La expresión popular dramática. Tucumán: Facultad de Filosofía y Letras (Cuadernos de Historia, 2). —. 1944. Proposiciones en torno del problema de una cultura nacional argentina. Buenos Aires: Institución Cultural Español. —. 1945. Los problemas del pueblo y de la estructura en el norte argentino. Catamarca: Comisión de Extensión Cultural del Instituto del Profesora do Secundario de Catamarca. —. 1948. De laestructura mediterránea argentina. Buenos Aires: Ed. del autor. —. 1952. Burla, credo y culpa en la creación anónima. Buenos Aires: Nova. —. 1967. Los casos de Juan. El ciclo popular de la picardía criolla. Buenos Aires: Compañía Impresora Argentina 1954; Buenos Aires: CEDAL. —. 1956. Una teoría teatral argentina. Buenos Aires: Fray Mocho. —. 1968. Tungasuka (tragedia americana en tres jornadas). Buenos Aires: Argentores. —. 1969. La leyenda anónima argentina. Buenos Aires: Paidós. Viñas, David. 1974. Dorrego, Maniobras, Túpac Amaru. Buenos Aires: Cepe. Studien Castagnino, Raúl H. 1968. Literatura dramática argentina. Buenos Aires: Pleamar. —. 1983. Dos siglos de teatro argentino. In: Teatro (Buenos Aires, Teatro Gral. San Martín) a. 4,12,5-99 y Reportaje a Paolantio, 34. Falcón, Mercedes. 1992. El teatro de Canal Feijóo. Buenos Aires: El Caldero. Ghiano, Juan Carlos. 1983. El pensamiento de un argentino entrañable. In: Teatro (Buenos Aires, Teatro Gral. San Martín) a. 4,12,15-19. Lagmanovich, David. 1957. Sobre el español en Santiago del Estero. In: Cuadernos de Humanitas (Tucumán) 8, III, 55-70. Ordaz, Luis. 1971. Teatro: desde la generación intermedia a la actual. Buenos Aires: Capítulo, CEAL.

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—. 1992. La dramática trascendente de Canal Feijóo. In: Aproximación a la trayectoria de la dramática argentina. Ottawa: Girol Books, cap. XIII, 57-61. Pagella, Ángela B. A. de. 1980. Leyendas y mitos americanos en el teatro argentino. In: Latín American Theatre Review 13/2. Pavis, Patrice. 1980. Diccionario del teatro: dramaturgia, estética, semiología. Buenos Aires: Paidós. Poppa, Tito Libio. 1961. Diccionario teatral del Río de la Plata. Buenos Aires: Argentares, Carro de Tespis. Rivera, Jorge B. 1983. El drama de la posesión de la tierra. In: Teatro (Buenos Aires, Teatro Gral. San Martín) a. 4,12,29-33. Rodríguez de Anca, Antonio. 1983. La epopeya de un perseguido. In: Teatro (Buenos Aires, Teatro Gral. San Martín) a. 4,12,32-41. Toro, Fernando de. 1987. Brecht en el teatro hispanoamericano contemporáneo. Buenos Aires: Galerna. Vidal de Battini, Berta E. 1980. Cuentos y leyendas populares de la Argentina. Buenos Aires: Ediciones Culturales, vols. I y II. Villegas, Juan. 1982. Interpretación y análisis del texto dramático. Ottawa: Girol Books.

Aurelio Ferretti (1907-1962) Ana Cecilia Prenz Die Theateraktivität Aurelio Ferrettis entsteht und entwickelt sich innerhalb der in Argentinien unter dem Namen Teatro Independiente (Unabhängiges Theater) bekannten Bewegung. Diese entsteht von den 30er bis zu den 60er Jahren als Reaktion auf ein hauptsächlich kommerzielles Theater und charakterisiert sich vor allem durch ihr starkes soziales und kulturelles Engagement. Die Veränderungen, die das unabhängige Theater in den verschiedenen Richtungen des Theaters mit sich bringt, sind enorm. Vor allem in der Untergattung der Farce stellt das Werk von Aurelio Ferretti einen bedeutenden Beitrag zur Produktion dieser Bewegung dar. Aurelio Ferretti konzentriert sein gesamtes theatralisches Schaffen auf diese Untergattung. In seinem Werk sind die typischen Elemente der Farce zu erkennen, wobei in einigen der scherzhafte Aspekt, in anderen die soziale Satire mit didaktischen Zielen und in wieder anderen eine kritische Reflexion über das Schicksal des Menschen in der modernen Gesellschaft überwiegt. Für Ferretti bedeutet die Farce [...] die Unterbrechung des geistigen und spirituellen Gravitätsgesetzes, welche die Personen von vielen Zwängen befreit. Die Farce entmenschlicht die Personen nicht. Sie zieht sie moralisch aus und löst sie aus der formellen Realität, nimmt dabei aber als Ausgangspunkt den Menschen mit beiden Beinen auf der Erde. Die Irrealität beginnt ihren Flug ausgehend von der Realität, so wie die Verzeichnung aus einer exakten Zeichnung entsteht (zit. in Castagnino 1963).

Als erstes Werk von Aurelio Ferretti wurde 1946 im Teatro Libre Tinglado La Multitud (Die Menschenmenge) aufgeführt. Aus der zahlreichen Produktion Ferrettis sollen vor allem folgende Werke Erwähnung finden: Farsa del héroe y el villano (Farce des Helden und des Bauern, 1946), Fidela (1946), Las bodas del diablo (Die Hochzeit des Teufels, 1947), Bonome (1949), Bertón y Bertina (1950), El café de Euterpe (1951), Farsa de farsas (Die Farce der Farcen, 1954), La pasión de Justo Pómez (Die Leidenschaft des Justo Pómez, 1954), Farsa del cajero que fue hasta la esquina (Farce über den Kassierer, der bis zur Ecke ging, 1958) und !Pum... en el ojo! (Bäng... ins Auge!, 1961). Eine der meistbeachteten Farcen Ferrettis ist Fidela -farsa de fantoches liberados (Fidela - Farce der befreiten Marionetten). Er erhielt dafür 1946

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den Premio ARGENTORES (Sociedad General de Autores de la Argentina) und 1961 den Premio Nacional de la Comedia. In Fidela geht Ferretti auf eine metatheatrale Ebene, indem er in einer vom Puppenspieler geführten Marionettenkomödie eine andere Komödie entstehen und sich entwickeln läßt. Fidela ist die treueste Frau der Welt, ist sie doch ihrem Ehemann ebenso treu wie ihrem Geliebten, und sie versinnbildlicht somit das ewige Ehe-Dreieck. Aber als die Personen - die Frau, ihr Ehemann und ihr Geliebter - aus ihrem Marionettenzustand befreit werden, drehen sie das Spiel um und zeigen die andere Seite der Komödie. Durch die Menschwerdung der Personen, die diese grotesk werden lässt, werden Themen wie Liebe, Freiheit und die Scheinheiligkeit der sozialen Konventionen neu entworfen. Das Paradoxe geht einher mit der Logik, und das Erhabene mit dem Lächerlichen. Das Absurde erstellt die Regeln (keine heiligen, aber doch Regeln), und so entsteht auf diesem Weg aus dieser besonderen Situation eine Farce, die unbarmherzig mit den feierlichsten Konzepten spielt.

Ferretti behandelt in mehreren Werken das Thema der Gerechtigkeit, und in Farsa del cajero cjue fue hasta la esquina - eine juridische Farce, wie sie der Autor selbst bezeichnet - erreicht diese Problematik ihren Höhepunkt. 1 Mittels einer scharfsinnigen, satirischen Sprache kritisiert der Autor das Justizsystem und zeigt gleichzeitig damit ein Bild der städtischen Mittelklasse von Buenos Aires. Inhaltlich geht es um die Person des Catulo Perez, Kassierer bei der Handelsfirma Bonassola GmbH. Das Werk besteht aus drei kurzen Akten: In den ersten beiden wird der Inhalt dargestellt, während im letzten der Richter als Person aus dem Publikum interveniert und als Sprachrohr des Autors die Moral zum Ausdruck bringt. Die Handlung spielt in der luxuriösen Rechtsanwalts-Kanzlei des Dr. Folio, dessen Aufgabe darin besteht, Gauner aus ihren Schwierigkeiten zu befreien, wenn sie seine Hilfe benötigen. Der Kassierer Catulo hat Geld aus dem Tresor seiner Firma entwendet und es bei Pferderennen verloren. Damit Catulo nicht im Gefängnis endet, schlägt ihm der Rechtsanwalt ein "geniales Rechts-Spiel" vor, dank dessen alle mit heiler Haut davonkommen würden und aus dem vor allem der Anwalt eine stattliche Geldsumme einschieben würde. Mit folgenden Worten erklärt der Anwalt die Position, in der sich ehrenwerte Männer gegenüber der Justiz befinden:

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Diese Posse hat 1956 als zwei bedeutende Auszeichnungen den Premio Nacional und den Premio G. Laferrere erhalten.

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Ehrenwerte Männer sind nie in einer guten Situation bei juridischen Angelegenheiten, und manchmal geht es ihnen so schlecht, dass man wirklich Lust hat, sie untergehen zu lassen. Der Gauner jedoch geht auf eine ganz andere Art und Weise vor. Abgesehen davon, dass er für den Rechtsanwalt einen fixen und permanenten Kunden darstellt - nicht wie Sie, entschuldigen Sie meine Direktheit, ein Zugvogel - stellt er die Richter vor Zweifel und Wege, die sich immer noch im Bereich der Legalität befinden. In einem Wort, er spricht diesselbe Sprache wie sie und dies wiederum ermöglicht zwischen Gaunern, Anwälten und Staatsanwälten ein Zusammenleben, das bis zu einem gewissen Grad als harmonisch bezeichnet werden kann! (Ferretti 1957)

In seinen letzten Farcen hat Ferretti den burlesken Ton sowie die ironische und heitere Sprache aufgegeben, um tiefergehender und nachdenklicher das Schicksal des Menschen in der Gesellschaft zu behandeln. Dies ist der Fall in La pasión de Justo Pómez, La cama y el sofá (Das Bett und das Sofa), El café de Euterpe, !Pum... en el ojo! Während er die letzten beiden als Farce bezeichnet, werden die ersten drei als "soziale Komödie", als "Komödie" und als "Drama von Dramen" charakterisiert. In dieser seiner letzten Schaffensperiode führt der Autor neue szenische Techniken ein, wie den inneren Monolog und die Anwesenheit eines Erzählers, der die Handlung eröffnet, schließt und kommentiert. Weiterhin benutzt er Hilfsmittel, wie das des Theaters im Theater, und stellt verschiedene Niveaus der Realität ineinander eingeblendet dar. Der Kritiker Raúl Castagnino sieht in den drei Werken La pasión de fusto Pómez, \Pum... en el ojo! und El café de Euterpe [...] denselben Gang zum irreperablen Verlust jener Attribute, die den Menschen dazu befähigen, frei seine Persönlichkeit und sein Schicksal zu verwirklichen, um Individuum zu bleiben und nicht der Herde anzugehören (Castagnino 1963). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Ferretti, Aurelio. 1957. Farsa del cajero que fue hasta la esquina. Buenos Aires: Ministerio de Educación y Justicia, Dirección General de Cultura. —. 1963. Teatro de Aurelio Ferretti. Buenos Aires: Quetzal. Studien Ara, G. 1982. La farsa en Ferreti y Cuzzani. In: Boletín del Instituto de Teatro de la Facultad de Filosofía y Letras de la UBA (Buenos Aires) 3. Artesi, C. J. 1986. Una nueva forma para la farsa: Fidela de Aurelio Ferretti. In: Latin American Theatre Review 20/1,49-56. Castagnino, Raúl. 1963. Teatro de Aurelio Ferretti. Buenos Aires: Quetzal. Ordaz, Luis. 1992. Aproximación a la trayectoria de la dramática argentina. Ottawa: Girol Books.

Die fünfziger Jahre

Carlos Gorostiza (*1920) Marina F. Sikora Carlos Gorostiza hat ein umfangreiches Werk geschaffen. Es beginnt 1949 mit der Aufführung von El puente (Die Brücke), welches zu einem Gründungstext des argentinischen Theaters geworden ist: [Dieses Stück] hat große Bedeutung für die Entwicklung unseres Theaters: Es stellt einerseits die Verbindung zum argentinischen Theater am Ende des vergangenen Jahrhunderts dar und ist andererseits Vorläufer für ein Theater, das in den 60er Jahren mit dem reflexiven Realismus entsteht und das noch im aktuellen Panorama unseres Theaters dominiert (Pellettieri 1994, 53).

Pellettieri sieht drei Perioden im Schaffen von Gorostiza: In der ersten Phase befindet sich der Autor noch auf der Suche. Werke aus dieser Zeit sind El puente (1949) und El pan de la locura (Das Brot des Wahns, 1958). Die zweite Phase ist der Moderne des argentinischen Theaters zuzuordnen; er folgt nun dem von Halac, Cossa und Somigliana gebahnten Weg des reflexiven Realismus. Als Titel seien Vivir aquí (Hier zu leben, 1964) und Los prójimos (Die Nächsten, 1966) genannt. In der dritten Phase schließlich folgt er der weiteren Entwicklung des reflexiven Realismus. Hier sind die bedeutendsten Werke Los hermanos queridos (Die lieben Brüder, 1978), El acompañamiento (Die Begleitung, 1981), Hay que apagar el fuego (Man muss das Feuer auslöschen, 1982), Matar el tiempo (Die Zeit totschlagen, 1983), Papi (1983), El frac rojo (Der rote Frack, 1988) und Aeroplanos (Flugzeuge, 1990) (Pellettieri 1994,53f.). Auf dieser Klassifizierung basierend werden wir auf El pan de la locura, Los prójimos und Hay que apagar el fuego näher eingehen, um jede der drei Phasen zu charakterisieren. Der Weg zur Moderne: El pan de la locura Das Stück wurde am 18. Juli 1958 vom Ensemble der Comedia Nacional im Teatro Nacional Cervantes uraufgeführt. Die Handlung spielt, wie in der Bühnenanweisung angegeben, an der Straßenecke vor einer Bäckerei in einem Vorort von Buenos Aires. In der Tiefenstruktur bemühen sich Juana und Antonio, die Wahrheit im Leben und in letzter Instanz auch ihre eigene Identität zu finden. Ihr Handeln wird von ihrer Sicht der Welt geleitet, die im Gegensatz zur von

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der Angst vor Verpflichtungen bestimmten sozialen Moral steht. Mateo weist mit Hilfe von Bibelzitaten den zu folgenden Weg. Bereits hier kündigt sich der reflexive Realismus in einer allerdings noch naiven, sehr lehrhaften Sicht an: Das Subjekt folgt dem von Helfern gewiesenen Weg und stellt sich auf der Suche nach der eigenen Wahrheit dem sozialen Umfeld entgegen. Das Handeln der Personen wird von einer expliziten Kausalität bestimmt, und es wird weitgehend das aristotelische Modell von Anfang, Mitte und Ende eingehalten. Am Anfang steht das persönliche Treffen, das hauptsächlich dazu dient, die Wahrheit der Personen, die als Archetypen der verschiedenen Gesellschaftsschichten handeln, deutlich darzulegen. Wenn im zweiten Akt Antonio und der Patron über das Problem des vielleicht vergifteten Mehls diskutieren, so geht es um kollektive und nicht um individuelle Konflikte. Beim Zusammentreffen von Juana und Antonio erkennt sie seine Gründe - als Repräsentant seiner Klasse -, um sich nicht seiner Welt gegenüberstellen zu müssen. Dasselbe geschieht, als Antonio am Ende beschließt zu gehen und ihr erklärt, dass jeder seinen eigenen Weg gehen müsse, um sich frei zu fühlen. Das Stück ist insofern noch dem finisekulären Realismus verhaftet, als die starke Präsenz der vermittelnden Personen den didaktischen Charakter des Stückes betont. Ihre Funktion teilt sich gleichermaßen auf Mateo, Juana und Antonio auf. Mateo ist ein besonders interessanter Fall, da es sich um eine Person mit symbolischen Charakteristika handelt, die sich als Träger der absoluten Wahrheit versteht. Als er auftritt, um in der Bäckerei zu helfen, steht er von Anfang an im Kontrast zu den anderen Personen, da seine Kleidung im Unterschied zu der der anderen den sanitären Regeln entspricht, und er sich explizit an die Befehle seiner Vorgesetzten hält. Schon seine ersten Worte sind sehr aufschlussreich, da er daraufhinweist, dass jedes Ding eine Bedeutung habe, die man mittels der Lektüre der großen Männer, Christus, Abraham und Mohammed, erkennen könne. Er ist der erste, der darauf hinweist, dass das Mehl in einem schlechten Zustand ist, und er erzählt den Fall vom "verrückten Brot" in Frankreich. Mateo weckt das schlafende Bewusstsein der Bewohner dieser Straße, vor allem das Antonios, der bis dahin nicht bereit gewesen war zu sehen, was gegen das allgemeine Interesse war. Damit handelt er gegen die Interessen des Inhabers der Bäckerei, der ihn entlassen will, dies jedoch nicht tun kann, da alle Angestellten den Jungen verteidigen. Juana konfrontiert Antonio mit seinen eigenen Ängsten und macht dabei sein soziales Rollenverhalten sichtbar.

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Natürlich. Den Mund halten. Und sich anstrengen, um über jeden Blödsinn zu lachen. Das Wichtige ist, zufrieden zu sein. Vergessen. Dieser Welt entfliehen. Und sich eine eigene kleine Welt zu schaffen, egoistisch und dumm, aber sicher und ruhig!

Die fortschreitende Auflösung der melodramatischen Kunstgriffe, wie das unmögliche Paar und die fruchtlose Begegnung führt zu einer Modernisierung des von Florencio Sánchez vorgegebenen Modells. Allerdings verschwinden sie nicht völlig, da man eine Fortsetzung der Beziehimg zwischen Juana und Antonio in den verborgenen Andeutungen erkennen kann; ohne dass diese sich konkretisieren, lassen sie doch eine Möglichkeit für die Zukunft offen, wenn jeder das Problem der persönlichen Freiheit für sich selbst gelöst hat. Andererseits führt uns das aufopfernde und entbehrungsreiche Leben Juanas neben ihrem Ehemann, der sich nicht für sie interessiert, zum fruchtlosen Zusammenleben, wenn auch in abgeschwächter Form. Der Unterschied ist durch die Verteilung der Schuld gegeben, die jeder in seiner Lebenssituation hat. Dadurch gelingt es Gorostiza, den Determinismus im Sinne von Florencio Sánchez hinter sich zu lassen; in seinem Theater sind sich die Personen immer "der Verantwortung des menschlichen Wesens für sich selbst und für die anderen sowie der Denunziation derer, die diese Verantwortung nicht haben", bewusst (Ordaz 1991,13). Die Konstruktion der Personen, die im finisekulären Realismus von Florencio Sánchez noch durch eine starke Trennung in positive und negative Charaktere gekennzeichnet war, relativiert sich hier, wobei jedoch Anzeichen der Antinomie bestehen bleiben. Aus diesem Grund hat der Chef beim Erklären seiner Handlungen, die nicht mit den Idealen von Gleichheit und Gerechtigkeit übereinstimmen, auch die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und zu erklären, dass er derjenige ist, dessen Risiko und Verlust beim Schließen des Geschäftes am größten ist. Seine Verteidigung verliert jedoch an Glaubwürdigkeit, weil seine positiven Handlungen nur das Resultat des Druckes von Antonio und der anderen Personen sind. Die Gerechtigkeit steht am Ende auf der Seite der Unterdrückten, die schließlich ein soziales und moralisches Bewusstsein erlangt haben. Die Verwendung einer symbolischen Person wie Mateo, von dessen Vermittlerrolle wir bereits gesprochen haben, erinnert an die Konstruktion eines "Ideen-Theaters", was in diesem Fall einmal mehr den didaktischen Charakter des Stückes betont. Zum sprachlichen Aspekt ist zu erwähnen, dass die referentiellen, expressiven oder emotionalen Funktionen der Sprache hervorstechen. Die erste, referentielle Ebene bedeutet, dass der Autor auf dem Publikum der Mittelklasse bekannte Verhaltensmuster verweist: die soziale Moral, die

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dazu führt, eine bestehende Ordnung nicht in Frage zu stellen, sich nicht einzumischen, was im Verlaufe des Textes immer wieder bewiesen wird. Die Hinweise auf den historischen Kontext sind vage, obwohl der Zweite Weltkrieg erwähnt wird, der vor Jahren zu Ende ging und in Folge dessen Leute wie Badoglio oder José ins Land kamen, um eine neue Lebensform zu suchen. Die emotionale Funktion beruht vor allem auf den Begegnungen von Juana und Antonio, die, wie bereits oben erwähnt, die melodramatischen Teile des Textes darstellen. Der soziale Codex wird in den Gesprächen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern sichtbar. Die Macht der Stimme geht im Verlauf der Handlung vom Arbeitgeber auf die Arbeiter über. So ist zu Beginn des Stückes die vorherrschende Stimme die des Chefs, auch wenn er selbst nicht anwesend ist. Die Arbeiter handeln unterwürfig gemäß seinem Mandat, das wiederholt zitiert wird, ohne zu wagen, es in Frage zu stellen; ihr Wortführer ist Antonio. Bei der ersten Begegnung mit Juana ist diese noch eindeutig in der schwächeren Position. Mit dem Kommen von Mateo beginnt sich die Situation umzukehren, und bei der nächsten Begegnung von Antonio und Juana zwingt ihn ihre Stimme, sich seiner Angst bewusst zu werden. Im zweiten Akt schließlich wird die Aussage des Chefs durch Antonio entkräftet, der sich ins Gespräch einschaltet und ihn ausdrücklich bittet, den Verkauf von Brot einzustellen. Der Höhepunkt des Machtwechsels wird in dem Moment erreicht, in dem alle Angestellten sich ihm entgegenstellen, als er Mateo entlassen will, und der Chef dies anerkennen muss: "Tatsache ist, dass nicht mehr ich in meinem Haus befehle. Es sind die anderen, die nun befehlen." Schließlich schaltet sich die Stimme von Antonio ein, dessen Rolle sich insofern umgekehrt hat, als er zum Träger der Wahrheiten, die dieses Stück verteidigen will, geworden ist. Darin wird sichtbar, dass der einzige Ausweg darin besteht, allem gegen das persönliche Bewusstsein Gerichtete gegenüberzutreten, auch dann, wenn es nicht den persönlichen Interessen entspricht, und so die Idee der Verantwortung des Individuums gegenüber dem sozialen Diktat zu stärken. Dies wird mittels der Fokussierung auf Antonio erreicht, dessen Wandel und Entwicklung die Möglichkeit einer Erlösung aufzeigen. Der Wandel zum reflexiven Realismus: Los prójimos Das Stück wurde am 3. Juni 1966 im Centro de Artes y Ciencias von der Theatergruppe Grupo de Teatro Buenos Aires unter der Regie von Gorostiza selbst uraufgeführt. Es ist ein vollendetes Beispiel des Wandels in der

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Textualität des Autors, der bereits Vivir aquí (1964) an den von Ricardo Halac mit Soledad para cuatro (Einsamkeit für vier, 1961) vorgegebenen reflexiven Realismus angepasst hatte. Auf der Handlungsebene begegnen wir einem kollektiven Subjekt, das aus den Personen Hugo, Lita, Tito, Rosa und Felipe besteht. Dieses versucht, sich der Verantwortung zu entziehen, einer Frau auf der Straße zu helfen, die sich in Gefahr befindet und deren Hilferufe während des Großteils des Werkes zu hören sind. Der Ort könnte ein Balkon sein, auf den alle gehen um zu schauen, und der diese Flucht vor der Verantwortung symbolisiert. Angesprochen ist die Gesellschaft, die jede Einmischung verbietet. Dieser Gesellschaft gegenüber steht die Nachbarin, die vergeblich versucht, ihr Bewusstsein zu wecken. Das Verhalten des kollektiven Subjekts wird durch die Moral der Mittelklasse gestützt, die das Subjekt beruhigt mit dem Argument, dass es nicht angebracht ist zu helfen, da das Opfer immer verdächtig sei. Im Unterschied zum vorangegangenen Modell bietet dieses Schema keine abgeschlossene Lösung, es zeigt kein "ideales" Handeln, sondern stellt die soziale Funktion in Frage, indem es eine falsche Handlungsweise aufzeigt. Bei diesem Modell kündigt sich bereits eine größere Beteiligung des Zuschauers an. Andererseits unterscheidet sich der Autor hier von den übrigen reflexiven Realisten, die generell ein Subjekt darstellen, das seine Identität sucht, und eine Gesellschaft, die es diese nicht finden lässt. In Los prójimos ist der Weg genau entgegengesetzt, da das Subjekt flieht, um sich nicht der Realität stellen zu müssen. Die Handlung folgt wieder dem aristotelischen Modell von Anfang, Mitte und Ende mit einer absolut expliziten Kausalität. Die persönliche Begegnung, die als konstruktives Prinzip funktioniert, dient dazu, die kleinen Konflikte der Mittelklasse aufzuzeigen. Lita und Hugo stellen ihre Frustrationen dar, bei denen es um die Gleichgültigkeit des Ehemannes gegenüber den alltäglichen Problemen der Frau im Haus geht oder um seinen Ärger, da seine Frau versucht, mit den Nachbarn in Beziehung zu treten. Andererseits zeigen die Begegnungen zwischen Felipe und Tito die Spannungen auf, die zwischen Arbeitgebern und Angestellten entstehen, da Tito als Chef einer kleinen Werkstatt Felipe hart kritisiert, weil er sich der Vorteile der Graphiker-Gewerkschaft bedient. Diese Begegnungen, die man im Allgemeinen zu vermeiden sucht, führen jedoch nicht zu einem Bruch der Beziehungen, da alle angesichts der von außen drohenden Gefahr in Gestalt einer um Hilfe rufenden Frau zu einer unausgesprochenen Übereinkunft kommen. Die Präsenz einer Verbindungsperson ist geringer als im vorangegangenen Modell, da sie einzig und allein in der Intervention der Nachbarin

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besteht, die von allen misstrauisch betrachtet wird, als sie auf Solidarität und Hilfeleistung besteht. Ihre Rede bleibt ergebnislos angesichts der Angst der anderen vor einem Eingreifen, die sie dazu bringt, untätig zu bleiben und alles von einem sicheren Ort aus zu beobachten. Die Konstruktion der Personen ist weitgehend referentiell, es ist nicht möglich, zwischen positiven und negativen Charakteren zu unterscheiden, da jeder einzelne die Widersprüche der Mittelklasse in sich vereint, welche sich in der Passivität angesichts des Leidens anderer widerspiegeln. In Bezug auf den verbalen Aspekt ist die referentielle Funktion viel entwickelter, da die Anspielungen auf den sozialen Kontext stärker sind als in El pan de la locura. Wir haben die Anspielungen auf die Gewerkschaften bereits erwähnt, dazu kommen aus dem Mund von Tito Aussagen über den chaotischen Zustand des Landes oder die Notwendigkeit einer autoritären Regierung. Auf der sozialen Ebene macht das Stück die inneren Widersprüche der argentinischen Mittelklasse sichtbar, deren Aussagen und Handlungen nicht miteinander übereinstimmen. So sagt zum Beispiel Lita zu Tito im zweiten Akt: An dem Tag, an dem wir etwas weniger an uns selbst und etwas mehr an die anderen denken, werden die Dinge anders sein.

Aber dieselbe Person besteht darauf, dass ihr Mann nichts tut und nicht einmal hinschaut, als die Frau auf der Straße schreit und auf den Boden geworfen wird. Andererseits ist der Text voll von Vorurteilen wie der Aussage, dass eine Frau, die schlecht behandelt wird, sicherlich etwas getan habe, wofür sie dies verdiene. Für die Personen ist alles verdächtig, was nicht innerhalb der geschlossenen Welt stattfindet, in der sie leben: die vier Wände der Wohnung, innerhalb derer die Handlung verläuft. Aus diesem Grund spinnt man Geschichten über die anderen Bewohner des Gebäudes, allen voran "die Nachbarin", die anscheinend von einem Mann ausgehalten wird, obwohl niemand Beweise für dieses Gerücht hat. Diese Tatsache produziert auf der Dialogebene ein Machtsystem, in dem die Meinungen der Mehrheit der Personen gleichwertig sind und den von außen Kommenden unterwerfen. Als die Nachbarin sich mit der Frau auf der Straße solidarisiert, wird sie von den Gastgebern und den Gästen, die nicht verstehen, warum sie sich in diese Sache einmischt, entmachtet. Als man schließlich entdeckt, dass ein Mord geschehen ist und sie sich ihrer Schuld bewusst werden, beruhigen sie sich gegenseitig mit Argumenten, die ihre

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Handlungslosigkeit rechtfertigen; und sie versuchen, das Thema gegen Ende des Stückes mit einer Reihe bedeutungsvoller Pausen zu umgehen. Es wird also die Untätigkeit der Mittelklasse aufgezeigt, ihre auf der Stumpfheit ihrer Mitglieder beruhende Unfähigkeit, den sozialen Kontext zu ändern. Abgesehen von der erwähnten Vermittlerperson der Nachbarin gibt es für den Zuschauer keine Hinweise, welchem Weg er folgen soll, er wird vielmehr aufgefordert, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen aus einem Beispiel, das darstellt, wie er nicht handeln soll. Im Unterschied zum vorangegangenen Modell konzentriert sich dieses auf Personen, die sich nicht entwickeln, sondern gleich bleiben. Es handelt sich um Antihelden, die beim Zuschauer mitleidige, aber begrenzte Identifizierung hervorrufen. Der Gegensatz von "individueller Verantwortung" und "sozialer Kausalität" wird nicht aufgelöst. Der metaphorische Zusammenstoß mit der Realität: Hay que apagar el fuego Die gegenseitige Beeinflussimg von Realisten und Absurdisten führt gegen Ende der 60er Jahre zur Weiterentwicklung des argentinischen Theatersystems, und es entsteht eine neue Phase des reflexiven Realismus, in dem die realistische These mittels neuer Verfahren erreicht wird. Carlos Gorostiza spiegelt diese Veränderungen in der dritten Phase seiner Textualität wider, Hay que apagar el friego ist ein gutes Beispiel dafür. Das Stück wurde 1982 im Zuge des Teatro Abierto 1982 im Theater Margarita Xirgu unter Leitung von Héctor Tealdi uraufgeführt. Auf der Handlungsebene begegnen wir wiederum einer Person, Cayetano, die sich durch Ignoranz der Wahrheit charakterisiert; er wird von der Gesellschaft dazu gedrängt, die Augen vor der Evidenz der Tatsachen zu verschließen. Pascual folgt ihm, während seine Frau Libertad seine Gegenspielerin ist, die sich weigert, ihre Schuld zu verbergen. Bereits auf dieser Ebene ist zu beobachten, dass die Metaphorik offensichtlicher ist als in den vorangegangenen Modellen, da die Handlungsweise von Cayetano auch das Handeln der argentinischen Mittelklasse symbolisieren kann, die die Augen vor den Ungerechtigkeiten der Diktatur verschlossen hat. Andererseits ist der Name Libertad (Freiheit) bedeutungsvoll, wenn wir diese Art der Lektüre wählen. Auf der Ebene der Handlung finden wir wiederum das aristotelische Modell von Anfang, Mitte und Ende vor, jedoch ist die Kausalität nicht mehr explizit, und man muss die Motivationen von Cayetano und ihre symbolische Funktion zunächst ergründen, um seine Vorgehensweise zu verstehen.

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Das konstruktive Prinzip der persönlichen Begegnung ist von der Parodie gekennzeichnet. Cayetano will sich der Wahrheit nicht stellen, sondern fliehen, als er nach Hause kommt und seine Frau mit seinem Freund in einer äußerst kompromittierenden Situation vorfindet. Als Libertad darauf besteht, ihre Schuld zu gestehen, weigert er sich, ihr zuzuhören, so als ob sie nicht existieren würde, und er schließt sich in seine eigene Welt ein. Mittels der Parodie werden zwei bedeutende Institutionen der Mittelklasse in Frage gestellt, nämlich die Ehe und die Freundschaft. Dies wird vor allem durch die Karikatur Cayetanos erreicht, der sich selbst betrügt und manchmal bedrohlich wird, da dieser Selbstbetrug absolut freiwillig ist und ihm erlaubt, die anderen beiden Personen zu beherrschen. Die Konstruktion der Personen überschreitet die realistischen Codices, da die Handlungsweisen, die man in Frage stellen will, übertrieben dargestellt werden: Cayetano will nicht sehen, dass seine Frau ihn betrügt und zieht sich auf seine Tätigkeit als Feuerwehrmann zurück; Pascual bemüht sich, den Schein der Normalität zu wahren; Libertad ist verzweifelt, weil niemand sie anhören will. Der hyperbolische Charakter dieser Darstellungen versucht das Verhalten der Mittelklasse während der Diktatur zu symbolisieren. Die politische Realität wird nicht direkt angesprochen, aber der Zuschauer kennt sie. Hingegen wird die Welt der verarmten Mittelschicht explizit angesprochen, die Szene stellt Armut und Dekadenz dar. Seine Bedeutung erhält das Stück auch durch den Diskurs von Cayetano, der Pascual und Libertad dazu bewegt, die Illusion nicht zu zerstören, die er selbst schaffen will. Die emotionale Bedeutung spricht weder das Sentimentale noch die mitleidige Identifikation an, sondern schafft eine Distanz zwischen der Person und dem Zuschauer. Es entsteht ein gespanntes Klima, in dem der Diskurs Cayetanos, wie bereits erwähnt, manchmal bedrohlich wird, da alle sein Recht als "betrogener Ehemann" kennen, welches selbst Alltäglichem einen Unheil verkündenden Charakter verleiht. Der soziale Codex bezieht sich wiederum auf die Mittelklasse, aber hier kann man die Aussagen der Personen metaphorisch lesen, da sie gleichzeitig die Beziehungen zwischen Macht und Unterdrückung im sozialen Kontext enthüllen. Die Dreiecksbeziehung wird von Cayetano beherrscht. Seine Macht beruht darauf, dass alle drei wissen, dass er weiß, obwohl er es eigentlich gar nicht wissen möchte und die beiden anderen in keinem Moment anklagt. Er erzählt seine Geschichte, verlangt von Pascual Geld, um Lose zu

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kaufen, und interessiert sich nicht für die Angelegenheiten von Libertad. Dabei rechtfertigt er sich mit folgenden Worten: Ich werde sie nie gehen lassen. Dessen kann sie sich sicher sein. Je größer die Gefahr, desto mehr denke ich an sie. [...] Aber man lebt nicht allein auf dieser Welt. Heute für mich, morgen für sie. Bei all den Menschen, die es hier gibt, kann man nicht nur an sich selbst denken. Und man muss etwas riskieren. Wenn nicht, wer löscht dann das Feuer? Jemand muss das Feuer löschen. Nicht wahr, meine Liebe? Jemand muss es löschen.

Das Stück zeigt eine Mittelklase, die vorgibt, die Realität nicht zu kennen, um nicht handeln zu müssen, und die gerade dadurch für Personen bedrohlich wird, die die Realität verändern könnten. Die Fokussierung auf Cayetano zwingt den Zuschauer dazu, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, da es - anders als in der zweiten Phase - keine Vermittlerperson mehr gibt, die die Interpretation vorgeben würde. An ihrer Stelle erlaubt nun ein mehrdeutiger Diskurs mehr als eine Interpretation. Das Theater von Carlos Gorostiza hat im Laufe der Jahre grundlegende Veränderungen durchgemacht, die dazu geführt haben, dass es sich an die verschiedenen Modalitäten des Realismus von den 50er Jahren bis heute angepasst hat. Aber bei allen Veränderungen hat es seine kritische Betrachtimgsweise der argentinischen Gesellschaft beibehalten, die Handlungslosigkeit der Mittelklasse und ihre Vereinsamung, wie auch das politische Engagement, das die Zuschauer anregt, die Realität zu verändern. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater (Auswahl) Gorostìza, Carlos. 1954. El puente. Buenos Aires: Losange (weitere Ausgaben Talia 1963, Sudamericana 1966). —. 1958. El pan de la locura. Buenos Aires: Talia. —. 1966. Los prójimos. Buenos Aires: Sudamericana. —. 1983. Hay que apagar el fuego. Rosario: Paralelo 32. - . 1991-96. Teatro I-III. Buenos Aires: La Flor. Studien Ordaz, Luis. 1991. La etapa en vigencia de la dramática de Carlos Gorostìza. In: Carlos Gorostìza. Teatro I. Buenos Aires: La Flor. Pellettieri, Osvaldo. 1990. Cien años de teatro argentino. Del Moreira a Teatro Abierto. Buenos Aires: Galerna/IITCTL. —. 1994. Novela y teatro de Carlos Gorostìza en la década del 80. In: Teatro argentino contemporáneo (1980-1990). Crisis, transición y cambio. Buenos Aires: Galerna, 53-62.

Osvaldo Dragún (1929-1999) Ana Ruth Giustachini Osvaldo Dragún ist einer der bedeutendsten Dramatiker Argentiniens und zugleich eine zentrale Figur der intellektuellen Welt von Buenos Aires. Sein dramatisches Werk wurde und wird immer von einem ideologischen Engagement getragen, das in allen Texten durchscheint. Die Aufnahme und Verbreitung seines Werkes, seine Bedeutung als Intellektueller sowie seine eigenen Vorstellungen vom Theater wurden in zahlreichen Studien und Zeitschriften dargestellt (u.a. Pellettieri 1994; Dragún 1981; Monleón 1968). In dieser Arbeit sollen die verschiedenen Modelle, in die seine Werke eingeordnet werden können, die Entwicklung seiner Textualität sowie die Konstanten, die sich in seinen Stücken zeigen, analysiert werden. Seine Stücke lassen sich verschiedenen literarischen Modellen zuordnen: 1. Eine Reihe der Werke Dragúns können dem Realismus zugerechnet werden. Es handelt sich dabei um einen Realismus mit sozialer Absicht, der manchmal photographisch sein kann, nicht immer mit rein realistischen Vorgehensweisen arbeitet und daneben auch sehr einfallsreich und melodramatisch ist. Die diesem Modell zuzuordnenden Texte sind unter anderen: Amoretta (1964), El amasijo (Teig, 1968), Y nos dijeron que éramos inmortales (Und sie sagten uns, wir seien unsterblich, 1963), Los de la mesa diez (Die vom Tisch zehn, 1957), El jardín del infierno (Der Garten der Hölle, 1959), Historia de mi esquina (Geschichte meiner Ecke, 1967) und Heroica de Buenos Aires (Heldenlied von Buenos Aires, 1966). Generell kann man sagen, dass in allen diesen Werken eine Einheitlichkeit in Bezug auf die Botschaft oder die realistische These zu finden ist, die absolut klar und eindeutig dargestellt ist und die den Intentionen des Autors entspricht. Seine didaktisch überladene Botschaft besteht darin, die sozialen Bestimmungen aufzuzeigen, mit denen die Personen konfrontiert werden. Eine weitere Übereinstimmung in seinen Texten besteht in einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, da die Jugendlichen weiterhin versuchen, ihre negativen kontextuellen Bedingungen zu verbessern.

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Diese Personen sind die Archetypen der Jugendlichen der 50er Jahre, welche Dragün idealisiert. Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Autoren wie Cossa oder Halac, besteht Dragün auf der Möglichkeit eines Auswegs; eine Tatsache, die ihn in den 60er Jahren von den Autoren des reflexiven Realismus der ersten Phase unterscheidet, bei denen die Suche nach der Identität vorrangig ist (vgl. Pellettieri 1991,131). Diese Suche endet in vielen Fällen mit einem kategorischen und schmerzhaften Scheitern, oder mit einer Instabilität, die nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch - und hier besteht ein weiterer Unterschied bei Dragün - durch die persönliche Verantwortung bestimmt wird. In den erwähnten Texten bleiben Charakteristika des RealismusNaturalismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten, wo die Guten den Schlechten gegenüberstehen und wo eine Verbindungsperson explizit und klar die realistische These vertritt. Ebenso kommen Konstanten des sentimentalen Melodramas vor, wie das unerträgliche Paar, und der Zuschauer wird zu einer mitfühlenden Identifikation geführt. Manchmal wird der theatralische Effekt durch unglückliche Zufälle verstärkt, die auf die Personen zurückfallen und deren Ursache in einer ungerechten Gesellschaft liegt. Die Handlung basiert auf Begegnungen, in denen die Einsamkeit des Menschen in der Gesellschaft aufgedeckt wird. Die Personen gehören zumeist der Mittelklasse an und vertreten deren Ansichten, die mit der herrschenden Ordnung übereinstimmen. Auf diese Art wird über das Leben des Durchschnittsmenschen reflektiert, sei es des Büromenschen, des jungen Mannes der Mittelklasse mit allen seinen Verpflichtungen, der Hausfrau oder der im Armutsviertel in marginalen Verhältnissen lebenden Person. Auf der Tiefenebene finden wir ein Subjekt, dessen Wunsch es ist, einen Partner zu finden, die Gesellschaft zu besiegen, den Fesseln seines sozialen Kontextes zu entkommen, seine Lebensbedingung zu verbessern. Der Adressat ist die Gesellschaft, und der Empfänger das Subjekt selbst. Demgegenüber stehen einige soziale Situationen, wie die unterdrückende Familie, die Vorurteile, die Armut, die Klassenunterschiede, welche das Subjekt mittels seines Willens und seiner Kraft überwinden kann. Die Texte zeigen auf den verschiedenen Ebenen den Menschen in einer ungerechten oder mittelmäßigen Gesellschaft gefangen; sie weisen aber zugleich die Möglichkeit, dieser Gefangenschaft zu entrinnen: durch Bewusstwerdung, Anstrengung, Kampf. Innerhalb dieser weitreichenden Möglichkeiten des Realismus als sozialer These müssen wir verschiedene Varianten und Gruppierungen unterscheiden.

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Werke wie Los de la mesa diez, Historia de mi esquina und El amasijo verbinden Brecht'sche Vorgehensweisen, wie aufzuzeigen, dass eine Person gleichzeitig mehrere Persönlichkeiten verkörpern kann; Kommentare, Vor- und Rückschauen, die die Darsteller als Geschichtsschreibende machen; die Körperlichkeit des Schauspielers, der auf einer leeren Bühne agiert. Dennoch finden sich diese künstlerischen Zusätze nur gelegentlich in den oben genannten Textualitäten und werden nicht zu einem ihrer konstruktiven Prinzipien: Diese bleiben die soziale These, die didaktische Darstellung, die Botschaft, die persönliche Begegnung und einige bereits erwähnte melodramatische Verzierungen. Aber diese Verfahren erzeugen nicht den Effekt der Brecht'schen Distanzierung, da die Stücke auf die mitfühlende Identifikation des Zuschauers mit den Personen setzen, wobei jedoch zu erwähnen ist, dass sie in Historias para ser contadas (Geschichten zum Erzählen) intensiver zu erkennen sind. Y nos dijeron que éramos inmortales ist dem Realismus zuzuordnen, wobei sich hier die realistische These mit der Botschaft verbindet. Diese wiederum besteht darin, die Ungerechtigkeit der sozialen Institutionen, wie den obligatorischen Militärdienst, zu denunzieren und die Unterschiede der sozialen Klassen aufzuzeigen: Während in der oberen Mittelschicht Karriere, Wohlstand, Ehe und Sicherheit die vorherrschenden Themen sind, wird die Unterschicht von Armut und Marginalisierung bestimmt. Die Besonderheit dieses Werkes besteht darin, dass es mit einigen expressionistischen Verfahren arbeitet, wie das Traum-Klima, das als Folge der kurzen Vorgeschichte vor dem Tod des jungen jüdischen Mannes entsteht, das Eintauchen in sein eigenes Inneres von Seiten Jorges sowie die häufig poetische Sprache. Aber die Verbindung zur Realität besteht und zeigt sich, neben anderen bereits erwähnten Aspekten, auch durch das Aufzeigen der sozialen Bestimmung in der Randperson Berto; ein häufiges Thema in dem Werk, welches wir als nächstes beschreiben werden. El jardin del infierno ist ein Text, in dem man alle beschriebenen realistischen Besonderheiten findet und zu dem noch weitere hinzukommen: eine Schwarzweißmalerei der Personen; die sozialmoralistische These, in der soziale Laster und Übel, wie Alkohol, Armut, Inzest, aufgezeigt werden und nicht zuletzt der Verlust der inneren Werte bei Menschen, die in der Großstadt Buenos Aires arbeiten oder besser gesagt ausgebeutet werden. Trotz seiner Nüchternheit lässt El jardin del infierno, der Garten der Hölle, eine Hoffnungstür offen für René, der zur Vermittlerperson wird und versucht, seine kleine Schwester zu retten, bevor sie der Prostitution

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verfällt. Wiederum konzentriert sich die - positive - Perspektive des Autors auf die Jugend und damit verbunden auf die Hoffnung, erfolgreich gegen die Gesellschaft zu kämpfen. Auch in diesem Werk sind Aspekte des Melodramas zu erkennen, wie der Polizeiinspektor, der die Mitglieder seiner eigenen Gesellschaftsschicht in dem Moment verrät, da er sich mit den Mächtigen identifiziert und zu deren Instrument wird. Heroica de Buenos Aires aus dem Jahr 1966 wurde erst 1984 in Buenos Aires uraufgeführt. In diesem Werk finden wir einige Varianten des bisher vorgestellten realistischen Modells. Die Mutter, die Ähnlichkeit mit Mutter Courage aufweist, ist eine eigenartige Person, deren Handeln vom Zufall bestimmt wird und die in der Degradation endet. Man findet auch parodische Elemente, die Gegenüberstellung von "Violetten" und "Orangen" zeigt die komplizierte politische Situation Argentiniens auf: der Kampf zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, den azules und den colorados} Das Unverständnis der Zivilgesellschaft gegenüber den politischen Veränderungen macht es notwendig, diese Thematik auf der Bühne zu behandeln, jedoch nun nicht mehr realistisch, sondern verfremdet. Die Identifizierung mit der Person der Mutter ist ironisch, es entsteht eine gewisse Distanz, dabei ist das Werk auf die Kinder fokalisiert, bei denen die Möglichkeit eines Auswegs aus der Situation besteht. Abschließend kommen wir zu Amoretta, bei dem sich die Vorgehensweisen des sentimentalen Melodramas intensivieren und es fast auf eine Ebene mit dem Radiotheater oder Teletheater stellen. Das Ende ist absolut glücklich und didaktisch, die Botschaft richtet sich an die durchschnittliche Hausfrau, der man sagt, dass es erlaubt ist, einige soziale Normen zu überschreiten und Liebe zu konkretisieren. Manche der oben erwähnten Textualitäten zeigen zwar für den Realismus atypische Verfahren auf, diese sind aber nur zweitrangig, da die dem Realismus zuzuschreibenden Normen immer eingehalten werden. 2. Historias para ser contadas (Geschichten zum Erzählen, 1957) und Historias con cárcel (Geschichten mit Gefängnis, 1972) sind einem Modell zuzuschreiben, in dem die Übernahme der Poetik Brechts vorherrscht. Die Texte enthalten eine Botschaft, die didaktisch vorgetragen wird. Im Vordergrund steht die Kritik an der korrupten Mittelschicht, ihren Vorurteilen und der Unterwerfung des Menschen in einer ungerechten Gesellschaft. 1

azul: blau; Colorados: lila. Kurzbezeichnung für politische Parteien Argentiniens. (Anm. d. Ü.)

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Der Einfluss Brechts zeigt sich in Liedern, Kommentatoren, dem Chor, der Distanzierung des Schauspielers von der Person in einem Diskurs, in dem über die referentielle Funktion informiert wird, der Unterbrechung der Illusion mittels verschiedener theatraler Vorgangsweisen, der Beweglichkeit des Körpers des Schauspielers etc. Mit allen diesen Brecht'schen Kunstgriffen kann jedoch der Effekt der Distanzierung nicht erreicht werden, da die Intentionen des Autors klar und identifizierbar sind. Obwohl sich Dragún an der Oberflächenstruktur an das Modell Brechts hält, kann er seine Botschaft und seine These nicht allein auf den epischen Effekt beschränken. Womit bewiesen ist, dass der Autor der Historias an die Notwendigkeit glaubt, erzieherisch tätig sein zu müssen, und diese Einstellung nicht einmal vor einer Ästhetik der Distanzierung ändert. 3. Deutlich zu erkennen ist die oben erwähnte Botschaft in seinen Werken mit historischem Intertext, wie La peste viene de Melos (Die Pest kommt aus Melos, 1956), mit dem er in das intellektuelle Feld von Buenos Aires eintrat, Túpac Amaru (1957) und eine seiner letzten Produktionen, El delirio (1992). La peste viene de Melos wurde vom Theater Fray Mocho unter der Leitung von Oscar Ferrigno uraufgeführt. Der Autor selbst sagte dazu: Ich glaube, dass meine wirkliche Entdeckung des Theaters im Jahr 1956 stattgefunden hat, als ich eine Darstellung des Volkstheaters Fray Mocho, für mich das bedeutendste Teatro Independiente in Argentinien, gesehen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein erstes Werk geschrieben, La peste viene de Melos. Gemeinsam mit dem Direktor Oscar Ferrigno lasen wir das Werk dem Ensemble vor, und es wurde geprobt. Sie sollten zu jenem Zeitpunkt einen Saal in Buenos Aires erhalten, und man entschied sich dafür, dieses Werk uraufzuführen (Dragún 1981,39).

In diesem Werk wird allegorisch-kritisch mit Geschichte umgegangen, ähnlich wie in Temtstocles en Salamina (1934) von Román Gómez Masía. Ausgehend von einem historisch-politischen Topos des alten Griechenland, reflektiert Dragún metaphorisch über die komplexe Situation der Abhängigkeit, welche in Guatemala mit dem Aufstand von Coronel Castillo Armas und der Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist. Die Kritik der Zeit verstand die Botschaft und räumte Dragún von Anfang an die Rolle des "in der Gegenwart engagierten Autors" ein, sah aber von Anfang an einige Kritikpunkte, wie Schwarzweißmalerei und übertriebene Rhetorik:

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Ana Ruth Giustachini Die Botschaft ist aus dem ganzen Text heraus zu erkennen, aus allen Personen, als nicht in Frage zu stellende Wahrheit und innerer Wert des Werkes. [Das Werk] lässt auf einfache Art die Sympathien des Autors erkennen und teilt [die Personen] in Helden und Verdammte [...] (José Marial. Mundo Argentino, 11.7.1956). Osvaldo Dragün hat seinen Zeitgenossen interessante Sachen zu sagen, und obwohl er diese noch nicht mit der Eloquenz der dramatischen Technik zu sagen vermag, bedeutet dies nicht, dass er nicht in der Lage wäre, seine Botschaft zu vermitteln und eine Identifizierung seiner Zuhörerschaft zu erreichen (YIM. Esto es, 13.8.1956). Wenn man es als Schrei nach Freiheit sieht, ist das Werk Dragüns lobenswert; wenn man es aus einem theatralischen Gesichtspunkt betrachtet, hat es Mängel aufzuweisen, die weder die gute Absicht noch die große Mühe der Truppe von Fray Mocho ausgleichen konnten (F. E. O. El Hogar, 27.8.1956).

Von seinem Eintritt in die intellektuelle Welt an wird Dragün als "engagierter Autor" gesehen, was mit seinen Intentionen übereinstimmt. Tüpac Amarti arbeitet mit dem historischen Intertext, und die Absicht des Stückes liegt darin, die Geschichte zu berichtigen und die Figur des Revolutionärs zu mystifizieren. Tüpac Amaru wird im Verlauf des Werkes - mittels einiger symbolischer Vorgehensweisen, wie Geräusche und Handlungen außerhalb der Bühne, und mittels der Natürlichkeit, die seinen Weg begleitet - mit einem Hauch von Überlegenheit dargestellt. Die weiteren Verfahren konzentrieren sich auf Begegnungen, auf die Intensivierung des Sentimentalen und Melodramatischen und auf das unmögliche Paar: Tüpac Amaru und Micaela. Die Schwarzmalerei, mit der die Spanier und die Indianer dargestellt werden, hat einige Abstufungen aufzuweisen. Am Ende wird die Asche von Tüpac Amaru als Symbol zukünftiger Revolutionen verstreut. Im Gegensatz zu diesen beiden Werken, die historisch und realistisch zugleich sind, ist El delirio (Das Delirium) komplexer. Mit Hilfe verschiedener Techniken werden die Geschichte parodiert, die 500-Jahr-Feiern entmystisiert und eine ironische Antwort auf eine Situation der Dominanz und Abhängigkeit gegeben. Diese Techniken sind nicht mehr dem orthodoxen Realismus zuzuschreiben, sondern der Autor übernimmt andere Poetiken, wie das Absurde oder den Expressionismus, um seine Botschaft zu vermitteln. 4. Schließlich wollen wir einige Texte betrachten, die dem reflexiven Realismus der zweiten und dritten Version zuzuordnen sind. Aufgrund der sozialen und politischen Situation versucht der Autor seine These und seine Botschaft nicht mehr mittels eines "objektiven" und photographischen Realismus auszudrücken, sondern indem er Techniken des Absurden und des Expressionismus anwendet und sogar bis zum circo criollo geht.

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Teatro Abierto '81 stellte ein verbindendes Moment für Autoren verschiedener Poetiken dar, um eine Antwort auf die Diktatur zu geben (vgl. Pellettieri 1994,43-52). Dragún schreibt für das Teatro Abierto '81 Mi obelisco y yo (Mein Obelisk und ich); für das Teatro Abierto '82 Al vencedor (An den Sieger) und Al perdedor (An den Verlierer); und bereits im Jahr 1983 Hoy se comen alflaco(Heute isst man den Dünnen). Im selben Jahr wird AI violador (An den Verführer) uraufgeführt. Mit Ausnahme von Hoy se comen alflacosind alle diese Werke der zweiten Version des reflexiven Realismus zuzuschreiben. In ihnen sind die Vorgehensweisen des Absurden und des Expressionismus' zu finden, ebenso die Parodie der sozialen Rollen, die absurde Außenszene, die implizite Kausalität sowie nicht realistische Besonderheiten im verbalen Aspekt (Parodie in verschiedenen sozialen Diskursen, inkohärente Wiederholung fester Phrasen, seltene referentielle Funktion u.a.). Der Realismus dieser Stücke ist indirekt, verschwommen und metaphorisch. Wir meinen, dass sich die Werke Arriba Corazón (Hoch das Herz, 1987) und Hoy se comen al flaco innerhalb des Kanons des reflexiven Realismus der dritten Version befinden. Der Realismus wird mit einer politischen Botschaft und einer Auseinandersetzung mit utopischen Ideen verbunden, und am Ende scheint ein hoffnungsvoller Ausgang auf. Dies sind Konventionen, die dem Theatersystem der 50er Jahre zuzuschreiben sind, daher bezeichnen wir sie als aus dieser Zeit übrig gebliebene Texte (vgl. Williams 1981, 189ff.). Dennoch mischen sich die Techniken des Realismus mit denen des Jahrhundertendes, wie dem circo criollo (Hoy se comen al flaco) und dem Expressionismus (Arriba Corazón). Dragún behält in seinen verschiedenen Modellen eine Konstante bei, nämlich die Idee und den Versuch, die Gesellschaft mittels des Theaters zu beschreiben und zu ändern, das heißt, das Theater als soziale Praxis zu installieren. In einem ersten Moment, vielleicht bis zu den 80er Jahren, folgt er realistischen Ästhetiken, in einigen Fällen mit Brecht'schen Varianten. Er bleibt seinen politischen Intentionen immer treu, aber ab den Jahren der Diktatur versucht er, sie verschwommener und metaphorischer auszudrücken. Erst 1987 kehrt er zu seiner alten Einstellung eines Theaters als sozialer Praxis zurück und konkretisiert diese in einem Werk wie Arriba Corazón, in dem politische Themen und das Erreichen der Identität durch soziales Engagement zu finden sind. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Biliographie Theater (Auswahl) Dragún, Osvaldo. 1956. La peste viene de Melos. Buenos Aires: Ariadna. —. 1957a. Túpac Amarti. Buenos Aires: Losague. —. 1957b. Historias para ser contadas. Buenos Aires: Talía. Dt. Geschichten zum Erzählen. Übersetzt von Thomas Brasch und Pedro Galarza. In: Theaterstücke aus Argentinien (1993), 59-78. —. 1962. El jardin del infierno. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina. —. 1963. Y nos dijeron que éramos inmortales. Buenos Aires: Los Monteagudos. —. 1966. Heroica de Buenos Aires. In: Primer Acto, Nr. 77. —. 1981. Teatro. Entrevista de Miguel Angel Giella, Peter Roster y Leandro Urbina. Ottawa: Girol Books, 7-71. Studien Monleón, José. 1968. Dragún, él de Las historias. In: Osvaldo Dragún. Un maldito domingo. Y nos dijeron que éramos inmortales. Milagro en el Mercado Viejo. Madrid: Taurus. Pellettieri, Osvaldo. 1991. Cien años de teatro argentino. Buenos Aires: Galerna/IITCTL. — (Hg.). 1994. El teatro argentino de los '50 y los '60 visto por ojos españoles. In: De Lope de Vega a Roberto Cossa. Buenos Aires: Galerna/Facultad de Filosofía y Letras, 61-74. —. 1994. Teatro argentino contemporáneo (1980-1990). Buenos Aires: Galerna. Tschudi, Lilian. 1974. Teatro argentino actual (1960-1972). Buenos Aires: García Cambeiro. Williams, Raymond. 1981. Sociología de la comunicación y del arte. Barcelona: Paidós. Zayas de Lima, Perla. 1983. Relevamiento del Teatro Argentino (1943-1975). Buenos Aires: R. Alonso.

Agustín Cuzzani (1924-1987) Klaus Porti Agustín Cuzzani, von Beruf Rechtsanwalt, ist als Dramatiker aus dem argentinischen Teatro Independiente hervorgegangen, das sich Anfang der 50er Jahre in Argentinien etabliert hat.1 Die Konstanten seines Theaters definiert Cuzzani zum einen mit einem Humor, den er als "ánimo burlón" umschreibt und der sein ganzes Werk durchzieht. Er will vor allem die Mächtigen dieser Welt lächerlich machen. Aus dieser Absicht entstand sein Genre der farsätira. Zum anderen kreist die Thematik seiner Stücke um die Sorge des Erhalts der persönlichen Freiheit des einzelnen sowie um die soziale Gerechtigkeit in einem zutiefst ungerechten und ungleichen Gesellschaftssystem. Nur wenige moderne Dramatiker, meint Cuzzani, haben soziale Probleme mit den Mitteln des Humors behandelt. Er zählt sich neben Majakovskij, Brecht, Dürrenmatt und Fo zu ihnen. Zur Struktur seiner farsátiras führt Cuzzani zwei Komponenten an: Eine übertriebene, meist absurde Situation, in die der Protagonist gestellt ist, wird mit einer realistischen glaubhaften Situation seiner Umwelt konfrontiert. Aus dem Zusammenprall dieser beiden Konstellationen entstehen Humor und Spannimg. Hinzu kommt ein ausgeprägter kabarettistischer Sprachwitz, wobei Cuzzani ausdrücklich auf die comedias von Pedro Muñoz Seca mit seinen kalauerhaften astracanadas hinweist. Schließlich sind Chöre, Simultanszenen, gelegentliche Einschübe von Filmsequenzen sowie zum Teil umfangreiche Personenregister ein charakteristisches Element seines didaktisch inspirierten Theaters.2 In Una libra de carne (Ein Pfund Fleisch, 1954) überträgt Cuzzani das Shakespearemotiv vom unnachgiebigen Kaufmann, der ein Pfund Fleisch von seinem Schuldner verlangt, wenn er nicht fristgerecht zurückzahlen kann, satirisch auf zeitgenössische argentinische Verhältnisse. Das Opfer Elias Beluver ist ein weit unter dem Existenzminimum jämmerlich dahinvegetierender Arbeitnehmer, der von seinen verschiedenen Arbeitgebern rücksichtslos ausgebeutet und von seiner Frau für die finanzielle Misere verantwortlich gemacht wird, bis er einem Kredithai (Tomás Shylock Garcia) zum Opfer fällt, der als Gläubiger unerbittlich so lange überhöhte

1 2

Vgl. Bolet, 1987,89,90; Dragún, 1988, XIV. S. Cuzzani 1988b. 10-12: Miranda 1972.197.

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Rückzahlungen einkassiert, wie es nur geht, um dann vor Gericht das Fleisch seines Schuldners erbarmungslos einzufordern (vgl. Bolet 1987,93). Die farcenhafte Gerichtsverhandlung ist Gegenstand der einaktigen Satire. Der angeklagte Beluver wird in einem Käfig in den Saal gebracht, was den clownhaften Charakter des Stücks unterstreicht.3 Der Schluss hat einen melodramatischen Akzent: Der einzige Mensch (El Hombre) in dem grotesk gezeichneten Personenregister klagt die Gesellschaft an, dass man Beluver einstimmig verurteilt und ihm tatsächlich ein Pfund Fleisch aus seinem Körper herausgeschnitten hat. Im Unterschied zu Shakespeare war aber hier kein Blut mehr im Fleisch des Angeklagten, so dass der Gläubiger mit keinen Sanktionen zu rechnen hat. Man hat das Opfer zeitlebens ausgesaugt, so dass er bildlich gesehen blutleer vor Gericht steht (vgl. Bolet 1987,92). Cuzzani nimmt in dieser Farce die Borniertheit des argentinischen Rechtssystems aufs Korn. Keiner der Funktionsträger einer Gerichtsverhandlung kommt ungeschoren davon: angefangen von den präpotent auftretenden Gerichtsdienern bis zu dem arroganten Richter, von den Geschworenen, die mit den Scheuklappen ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Stellung urteilen (die Volkschullehrerin, der Pharmavertreter, der Makler, der Pensionär, die Hausfrau) und den Argumenten der Not und Verzweiflung des Angeklagten nicht zugänglich sind, bis zum Verteidiger, der sich als Opportunist entpuppt, wenn er mit dem Staatsanwalt am Rande der Verhandlung fraternisiert und die Schuld seines Klienten offen eingesteht. Schließlich wird auch das Publikum lächerlich gemacht, das vor allem in Gestalt eines vorlauten Kindes sensationslüstern auf ein drakonisches Urteil wartet. Der Vorwurf des von Cuzzani aufgespießten Ausbeutungssystems argentinischen Zuschnitts, das sich abhängige Arbeitssklaven wie Beluver hält, um funktionieren zu können, lautet, er, Beluver, sei der molicie verfallen, er sei verweichlicht, das heißt, er arbeite nicht genug für seinen Hungerlohn.4 In El centroforward murió al amanecer (Der Mittelstürmer starb im Morgengrauen, 1955) wird der populäre Mittelstürmer Cacho Garibaldi hingerichtet. Die Rahmenhandlung wird von Vagabundo getragen, einem philo3

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Die gerichtliche Vorführung Beluvers im Käfig bezeichnet Cuzzani als "situaciónespectáculo" (zit. nach Bolet 1987,95). Beluver repräsentiert ähnlich wie Gregor Samsa in Die Verwandlung von Kafka im übertragenen Sinn den Zeitgenossen, der von einem ihn erdrückenden System eingefangen ist (vgl. Bolet 1987,94f.). Das Stück sei nach Bolet nicht nur Kritik an argentinischen Verhältnissen, sondern allgemeingültig: Es prangere die Enthumanisierung des Menschen und die verzerrte Rechtsprechung zugunsten der Mächtigen an (vgl. Bolet 1987,%).

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sophierenden Sprachrohr des Autors, der vor dem Gefängnis auf einer Bank gammelt und ein Heft aus dem Gefängnisfenster zugeworfen bekommt, das die Hintergründe für die Hinrichtung enthüllt. Die Rückblenden werden von Vagabundo inszeniert, wobei er die Zuschauer ausdrücklich als Voyeure der Hinrichtung miteinbezieht (70). Der Multimillionär Lupus hatte Cacho in einer Auktion ersteigert, womit dem tiefverschuldeten Fußballclub aus seiner Finanzkrise geholfen war. Cacho lebt nun in einer comichaft-fiktiven Welt mit einem Darsteller des Hamlet, dem Affenmenschen King Kong, einem zerstreuten Atomphysiker und der Tänzerin Nora, alle von Lupus für seine lebende Kuriositätensammlung erworben, in dessen Palast eingeschlossen. Er erdrosselt Lupus, als er ihn von Nora trennen will, mit der Cacho fliehen wollte. In einer melodramatischen Schlussvision unter dem Galgen verkündet Cacho, dass er nicht stirbt, sondern in vielen Menschen weiterlebt, die so denken wie er, der sich nicht von einer korrupten Welt vereinnahmen ließ.5 Dem Titel "der geschichtsphilosophischen Satire auf die Entdeckimg Amerikas durch Kolumbus" 6 Los indios estaban cabreros liegt eine Redewendung zugrunde, das heißt, die Indios haben sich aufgebäumt, aber, wie die Geschichte zeigt, vergebens. Cuzzani behandelt die Entdeckung Amerikas aus der Perspektive der Indios. Der Beginn der Handlung wird historisch mit 1491 in Mexiko fixiert. Man erfährt, wie brutal die Indios unterdrückt werden: Ihr Diktator Axayaca beherrscht sein Volk mit eiserner Hand. Es sind die bekannten Klischees der spanischen Eroberer, die damit ihre grausamen Erorberungszüge gegen die Indios rechtfertigen wollten, - allerdings erzählt und dramatisiert von einem Argentinier! Der 2. und 3. Akt spielt in Spanien. Der Spanier Manuel hat die drei idealistischen, weltverbessernden Indios Tupa, Teuche und Tonatio, die von Mexiko aus auf einem Floß gegen Osten gerudert und gekentert sind, in einem Netz aufgefischt und bei sich - als seltsame Fische! - zu Hause untergebracht. Sie wollten im Osten dem Sonnengott ihr Leid vom unterdrückten Volk klagen. Die Sache wird für Manuel suspekt, als sich einer der Indios (Teuche) in seine Tochter (Mariceleste) verliebt, die ihm Spanisch beibringt. Sie werden abgeführt und in einer überdimensionalen Sardinenbüchse in Öl konserviert; am Prozesstag wird die Büchse geöffnet; die Indios werden des absurden Vergehens der pescadería für schuldig befunden und von der Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, mit Peitschenhieben nach Granada getrieben, wo sie noch 30 Tage 5 6

Kuehne (1969,208-218) stellt bei diesem Stück die Nähe Cuzzanis zu Pirandello fest. S. Reichardt 1992.35.

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in einem Gefängnis leben dürfen. Dort lernen sie Spanier und Araber kennen, die bereits seit über 300 (!) Jahren wegen ihres Wissens und ihrer Kultur eingesperrt sind. Mariceleste erreicht bei der Königin Isabella, die nach der Wiedereroberung 1492 in Granada weilt, die Freiheit ihres Geliebten Teuche; der Prinz Tupa verhandelt mit der Königin, dass Kolumbus Tonatio als Führer und freien Mann auf seine Entdeckungsreise mitnimmt. Er selbst bleibt zurück und will das Todesurteil gegen sich vollstreckt wissen, weil er als erster Indio durch die Hand der Europäer sterben will, in der Ahnung, dass die Spanier als Eroberer Tod und Vernichtung in seine Heimat tragen werden. Über dem Stück liegt ein Hauch absurder Unwahrscheinlichkeit, wobei die Handlung immer wieder mit überraschender Situationskomik und Wortwitz durchsetzt ist. Groteske Unwirklichkeiten gehören zu Konstanten der Dramaturgie Cuzzanis: so die überdimensionale Sardinenbüchse oder die Tatsache, die Indios als Fische zu deklarieren. Die Königin, ihr Berater Zaldlvar, der Hernando del Pulgar nachempfunden ist, und Kolumbus sind stark karikiert. Königin Isabella ist bis auf eine Dialogstelle stumm: Ihr borniertes, unzugängliches Wesen kommt damit zum Ausdruck. Dogmen der Geschichte werden damit fragwürdig und lächerlich. Eine Form des Machtmissbrauchs an Menschen, die durch den staatlichen Zugriff zu einer hilflosen Minorität innerhalb einer ohnmächtigen Gesellschaft werden, klagt Cuzzani in seiner grotesk verzerrenden Satire Sempronio, el peluquero y los hombrecitos (Sempronio, der Friseur und die Menschen, 1962) an.7 Mit einer Science-fiction-Handlung sensibilisiert Cuzzani das in Lateinamerika allgegenwärtige Trauma von einem übermächtigen Polizeiapparat, der den Menschen brutal in seinen Rechten missachtet. Der im Kreis seiner Familie glückliche Rentner Sempronio verfügt über radioaktive Energie, die sich der Staat zunutze machen will. Sempronio wird verschleppt und zum artefacto erklärt. Allerdings versagt seine Energie, weil sie der Staat nicht zu friedlichen Zwecken nutzen will. Wieder im Kreis seiner Familie, erlangt er seine für die Mitmenschen und ihn selbst übrigens ungefährliche Radioaktivität zurück, weil hier im Unterschied zum Staat die Liebe zum Mitmenschen und die friedliche Nutzung als Energiequelle wirken. Der Vertreter des Staates flieht vor dem Argument "amor", das ihm am Schluss mehrfach entgegengerufen wird. Cuzzani spielt im komödiantisch dargebotenen Science-fiction-Fall Sempronio sicherlich zunächst auf die bestehenden machtpolitischen Missverhältnisse im Argentinien der 50er Jahre an, spricht aber darüber 7

Säenz stellt die Frage, ob das Stück nicht eher eine zeitgenössische Tragödie sei als einefarsätira(Säenz 1975,382-389).

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hinaus die wohl für jeden Lateinamerikaner präsente Problematik der Anmaßimg staatlicher Macht über den einzelnen Menschen an. Cuzzani liebt es, das Absurde der Situation durch überraschende komödiantische Gags herauszustellen wie ein sprechendes Möbelstück aus dem Büro des Altísimo Comisionado oder die Kaskade von Absurditäten am Schluss des 2. Aktes, die wirkungsvoll zur Steigerung der Komik beiträgt. Hier springt der Altísimo Comisionado in voller Montur in eine mit Wasser gefüllte Blechwanne, um sich von einer radioaktiven Verseuchung "reinzuwaschen", weil er mit Sempronios angeblich radioaktiv verseuchten Briefmarken in Berührung kam, die dieser als Brei essen sollte, um für den Staat Radioaktivität zu liefern. Der letzte Schrei des Altísimo Comisionado aus der Blechwanne vor Fallen des Vorhangs ist: "¡¡¡Viva la ciencia dirigida!!!"8 Mit dem als evangelio bezeichneten Stück Para que se cumplan las escrituras (Damit sich die Schriften erfüllen, 1965) haben wir eine Sciencefiction-Konstellation mit mehrfachen Anspielungen auf das Leben Jesu und seiner Jünger vor uns. Drei Studenten (Pedro, Tomás, Kery) einer Technischen Hochschule erfinden eine Zukunftsmaschine (macchina speculatrix), die mittels modernster Datenverarbeitung in der Lage ist, künftige Ereignisse exakt vorauszusagen. So sagt sie mit genauer Zeitangabe den Tod von Manuel voraus, der im Auftrag der Studenten die Maschine bedient. Das Stück setzt mit der Ermordung Manuels und der Zerstörung der Maschine ein: Die Geschichte, wie es dazu kam, wird von den exekutierenden Mördern Luca, Mateo, Marcos und Juan retrospektiv szenisch vorgeführt. Weder die Studenten noch Manuels Freundin Estrella können den Tod Manuels verhindern, da er sich weigerte, die Maschine zu verlassen oder zu zerstören, wie es die Mörder von ihm verlangt hatten. Er konnte lediglich durch eine List erreichen, vor dem angekündigten Termin exekutiert zu werden, indem er einen der drei Studenten dazu brachte, zu verbreiten, er würde alle gefährlichen Prophezeiungen der Maschine sofort in Umlauf bringen. Manuel fühlt sich als Erlöser (282), und die Mörder, die signifikant Namensträger der vier Evangelisten sind, spielen einzeln oder zusammen Rollen verschiedener Charaktere durch (in der Bar, in der Wissenschaftsakademie, als Angler, als Professoren, in einer Zeitungsredaktion, auf der Polizei). Der Student Kery wird von Manuel in die Rolle des Judas gedrängt (304), und es heißt in der Begründung für das Todesurteil, Manuel müsse sterben, weil er Rebell sei, und die Maschine müsse vernichtet werden, weil sie - wie einst Jesus - Ungeheuerlichkeiten verkün8

"Es lebe die gelenkte Wissenschaft", 214. Ich verweise auf meinen Beitrag in Holtus 1987, 415f. Hier wird Sempronio unter dem Kapitel "Willkür, Machtmissbrauch, Minoritäten" diskutiert.

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de wie die Prophezeiung, dass nur die Armen und Friedfertigen ins Himmelreich kämen (281f.). Das Stück ist einerseits Ausdruck der um die Jahrhundertmitte aufkommenden Ängste vor ungeahnten Möglichkeiten einer menschenverachtenden Manipulierung durch die EDV auf Kosten der persönlichen Freiheit des einzelnen. Mit anderen Worten: Der Mensch werde künftig immer mehr ein Sklave der ihn beherrschenden perfekten Technik. Andererseits ist es aber auch eine Abrechnimg mit der materialistischen Ideologie einer heutigen Gesellschaft, die im Prinzip authentisches Christentum als revolutionär fürchtet und gewaltsam unterdrückt (vgl. die in Lateinamerika damals aufkommenden Volkskirchen mit ihren Märtyrerhelden und den prominenten theologischen Vertretern, die sich zum Teil von der offiziellen Kirche abgewandt hatten). Cuzzani versteht es meisterhaft, durch die futuristische Konstellation mit der Ankündigimg des Todes von Manuel, Spannung zu erzeugen. Die Retrospektive läuft in zwei Akten auf offener Bühne mit den erwähnten häufigen Rollenwechseln der Henker Manuels in unterschiedlich langen Szenen ab, wobei die kreuzförmig gestaltete Maschine mit ihrer imposanten, Lichteffekte erzeugenden Kommandozentrale im Mittelpunkt steht. Trotz des durchgehend ernsten Schauspielcharakters setzt Cuzzani bewusst und dramaturgisch wirkungsvoll auch komische Höhepunkte ein wie zum Beispiel am Schluss des 1. Akts das ordinäre Rülpsen von Juan, um den abgewerteten Begriff von "La I i - / / ber...tad" ( 2 6 4 / / 2 6 5 ) besonders verächtlich herauszustellen. Held der grotesken Tragödie Historia de un zurdo contrariado (Geschichte eines verärgerten Linkshänders), die Cuzzani ironisch als "trajodia" bezeichnet, ist der linkshändige Quertreiber Agamenón. Er ist beim Volk populär geworden wegen seiner offenen Auflehnung gegen den regionalen Oligarchen Clorindo Verón. Um ihn in den Augen der Öffentlichkeit unglaubwürdig erscheinen zu lassen, schmieden seine sich in einflussreichen Ämtern befindlichen Gegner ein Komplott gegen ihn. Eine Psychoanalytikerin diagnostiziert bei ihm eine Geisteskrankheit, von der er nach einer Gehirnwäsche bei ihr wieder geheilt sei, weil sich sein steifer rechter Arm plötzlich wieder bewege. Sein Gegner, der Ausbeuter Verón, sei als Säugling von Agamenóns Mutter gestillt worden, was in ihm einen Neidkomplex ausgelöst habe. Als Gipfel der satirischen Diagnose erklärt die Ärztin, Agamenón sei seither homosexuell in seinen Widersacher verliebt gewesen. Allerdings korrigiert am Schluss in einer farcenhaften Fernsehshow Agamenóns Mutter, ihr Sohn sei als tolpatschiger Linkshänder von ihr immer wieder so verprügelt worden, dass er seitdem in Extremsituationen als Reaktion den rechten Arm verkrampfe. Beide Aussagen, die

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der Ärztin wie die der Mutter, lassen am Ende den anfangs umjubelten Helden lächerlich erscheinen und zeigen in der satirischen Kritik, dass die etablierte Gesellschaft mit jedem Systemkritiker fertig wird. In seinen drei Einaktern Deliciosa (Die Köstliche), Complejísima (Die Komplizierte) und Espantosa (Die Schreckliche) bringt Cuzzani drei konträre Frauengestalten in unterschiedlichen Konstellationen ihrer erotischen Beziehungen zu männlichen Partnern satirisch provozierend mit jeweils überraschenden Schlusspointen auf die Bühne. Im Mittelpunkt der zweiaktigen farsátira Disparen sobre el zorro gris (Schießen Sie auf den grauen Fuchs) steht die chaotische Familie des Notars Calisano: Die eine Tochter ist eine Karate kämpfende Feministin (Glyd), die andere minderjährige Tochter beinahe schon ein Strichmädchen (Gloria), der Sohn ein Gammler und Motorradfan, der seine Maschine in der Wohnung deponiert (Hondo), die Frau eine hysterische Alkoholikerin (Magdalena) und Calisano selbst ein Möchtegernpatriarch, der seinen Beruf für unsaubere Geldtransaktionen nutzt. In diese überspitzt satirisch gezeichnete Familiensituation bricht als irreales groteskes Element ein ausgeflippter, durch Zufall von der Entlassung verschonter Verkehrspolizist, der zorro gris,9 herein, der sich berufen fühlt, für totale Ordnung zu sorgen. Er nennt sich einen "porohibicionólogo" (429) und vertritt die Ideologie, zunächst alles zu verbieten, um dann schrittweise einiges nach genauer Prüfung wieder zu erlauben. Mit diesem Konzept will er die "kranke" Familie Calisano heilen und als Paradebeispiel einer gesunden Keimzelle des Staates vorführen. Das gelingt nur während seiner autoritären Präsenz. Sobald er sich wieder aus der Familie entfernt, fällt sie in ihren alten morbiden Zustand zurück. Neben Jugendslang und Argentinismen der Zeit lebt der Dialog von Ambivalenzen, Wortspielen, die zum Teil reinste Kalauer sind und stellenweise die Satire in astracán-Nahe eines P. Muñoz Seca rücken: so die ColaKaskade des zorro gris mit der Bedeutung von col (Schlange, Reih und Glied) bis Coca-Cola (436) oder die auf die gefährliche Austrahlung der Personen gemünzten Assoziationen zu den Farben verde, amarillo, rojo (grün, gelb, rot; 437f.), was auf der anderen Seite die berufsbestimmenden Ampelfarben für einen Verkehrspolizisten sind. Ein Kabinettstück der argentinisch-emotionalen Selbstironie ist die idiotische Suada eines Fernsehreporters, der ständig stereotyp das Wort "realmente" in seinen Bericht einsetzt (442f.). Das wirtschaftlich orientierte kapitalistische Weltbild wird in der farsátira Pitágoras, go home durch eine verkehrte Arithmetik des pythagoräi'

Zorro gris ist in pejorativem Sinn in Buenos Aires der Verkehrspolizist.

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sehen Systems aus den Angeln gehoben. Durch einen falsch gepolten, mittels eines raffinierten Werbespots von allen gekauften sprechenden Rechner hat man im Land das Rechnen verlernt, weshalb die Wirtschaft mit ihrem Währungssystem zusammengebrochen ist. Der Erfinder des Rechners war Pitágoras. Nur ein tauber Buchhalter (Berazategui) kann noch als einziger rechnen und wird dadurch zum mächtigen Diktator, bis auch er durch ein Hörgerät dem falschen Einmaleins des Rechners verfällt und seine Macht verliert. Pitágoras und seine Werbespots singende Prinzessin Alicia finden sich im happy end wieder, indem sie vor dem Stilleben einer muhenden Kuh zwei gegnerische Blöcke zum Nachdenken anstatt zum gegenseitigen Vernichten überreden. Der mehrfache Auftritt der Kuh wirkt surrealistisch bufluelesk, vor allem der groteske Schluss eines simplen futuristischen Märchensujets mit Gesangseinlagen und Buenos Aires als Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Sprachliche Komik wird hier unter anderem durch ein japanisch verballhorntes Spanisch erreicht, in dem Cuzzani r mit 1 vertauscht ("cosa lala", "le tlaigo", "una caleta en lugal de caletilla", etc., 473). Das Stück Lo cortés no quita lo caliente (Höflichkeit schließt Hitzigkeit nicht aus)10, ohne Akt- und Genrebezeichnung, bringt strukturell klassisches Theater im Theater: Schauspieler spielen mit Unterbrechung durch einen Polizisten, der einen systemkritischen Schauspieler verhaften will, ein Stück, in dessen Mittelpunkt der sterbende Hernán Cortés mit seinen traumatischen Visionen steht, in denen er sein an den Indios begangenes Unrecht bei der Eroberung Mexikos bereut. Die bekannten unterschiedlichen, klischeehaften Standpunkte von Eroberern und Eroberten werden von gegeneinander agierenden Chören vorgetragen. Cuzzani hat mit seinen dialogsicheren, bühnenwirksamen, satirisch originellen Stücken voller sprachlicher und toponymer Argentinismen ein durchaus eigenständiges Theater lateinamerikanischer Prägung geschaffen, das man ohne weiteres von der Thematik her als universell bezeichnen kann.

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Verballhornung des spanischen Sprichwortes Lo valiente no quita lo cortés (Höflichkeit ist die Tugend der Starken). Die Anspielung auf den Namen Cortés mit dem spanischen Adjektiv cortés (höflich) konnte nicht ins Deutsche übertragen werden. (Anm. d. Hg.)

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Bibliographie Theater Cuzzani, Agustín. 1988a. Obras completas. Teatro. Introducción de Agustín Cuzzani. Prólogo de Osvaldo Dragún. Comentarios de Pedro Asquini, Onofre Lovero, Carlos Gorostiza. Buenos Aires: Almagesto. Essay Cuzzani, Agustín. 1988b. Del autor al lector. In: Cuzzani 1988a, 9-12. Studien Bolet Rodríguez, Teresa. 1987. Resonancias de Shakespeare y Kafka en Una libra de carne de Agustín Cuzzani. In: Discurso literario (Stillwater, Okla.) 5,1,89-99. Dragún, Osvaldo. 1988. Las fiestas de Agustín Cuzzani. In: Cuzzani 1988a, XIII-XV. Kuehne, Alyce de. 1969. Hamlet y el concepto del "personaje" pirandelliano en una farsa de Agustín Cuzzani. In: Cuadernos americanos (México) 28, 162,1,208-218. Miranda, Wenceslao. 1972. "Sempronio", drama de nuestro tiempo. In: id. Ensayos. Lugo: Celta, 191-209. Pörtl, Klaus. 1987. Lateinamerikanisches Theater in der Auseinandersetzung mit Problemen und Konflikten der Gegenwart. In: Günter Holtus (Hg.). Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters. Tübingen: Narr, 411-424. Reichardt, Dieter (Hg.). 1992. Autorenlexikon Lateinamerika. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sáenz, Gerardo. 1975. Sempronio: Farce-satire or Tragedy of our Time? In: Neophilologus 59,382-389.

Juan Carlos Ghiano (1920-1990) Susana M. Cazap Juan Carlos Ghiano war vor allem als Dramatiker und Erzähler tätig, aber er war auch Universitätsprofessor und Literaturkritiker. Der Kern seiner Arbeit liegt auf dem Gebiet der Literaturkritik, und seine Arbeiten beschäftigten sich vor allem mit argentinischen Autoren und Themen. Er erhielt verschiedene Preise, darunter 1947 den ersten Preis der SADE (Sociedad Argentina de Escritores, Argentinischer Schriftstellerverband) für seinen Kurzgeschichten-Band Extraños huéspedes (Eigenartige Gäste). 1959 erhielt er den Drama-Preis von ARGENTORES (Asociación Argentina de Autores, Argentinischer Autorenverband) und den ersten Preis des Teatro de la Municipalidad de Buenos Aires, beide für sein Werk Narcisa Garay, mujer para llorar (Narcisa Garay, eine Frau zum Weinen), welches am 16. März 1959 im Teatro Carpa Belgrano unter der Leitung von Francisco Silva, Szenographie von Luis Diego Pedreira und mit Musik von Horacio Malvicino uraufgeführt wurde. Dies ist sein wichtigstes dramatisches Werk und das erste, das in Buenos Aires präsentiert wurde. Später führte er in seiner Heimatprovinz Entre Ríos La puerta al río (Die Tür zum Fluss, 1950) und La casa es de los Montoya (Das Haus gehört den Montoya, 1954) auf. Es folgte das Theaterstück La Moreira (Die Moreira), welches am 29. März 1962 im Teatro Presidente Alvear uraufgeführt wurde, mit Tita Merello - für die das Stück geschrieben wurde - in der Hauptrolle unter Leitung von Eduardo Cuitiño, der Szenographie von Saulo Benavente und den Kostümen von Bergara Leuman. Ebenfalls in Entre Ríos wurde Antiyer (Vorgestern) am 12. Dezember 1966 vom Teatro Independiente Nogoyá und der Asociación Cultural Nogoyá unter Leitung von Juan Osvaldo Piorito uraufgeführt. Corazón de tango (Tango-Herz) folgte am 23. April 1968 von GEITUBA im Theater La Recova unter Leitung von Julio Piquer. Weitere Werke Ghianos sind Ceremonias de la soledad (Zeremonien der Einsamkeit, 1968) und Actos del miedo (Taten aus Angst, 1971). Im Gesamtwerk dieses Autors lassen sich zumindest drei Textmodelle unterscheiden. Wir können nicht von Phasen sprechen, da es sich nicht um Texte handelt, die sich in ihrer Beziehimg zueinander entwickeln, sondern jedes Modell arbeitet mit unterschiedlichen Poetiken. Ein erstes Modell (und diese Ordnung ist nicht chronologisch zu sehen) stellt sein Werk La Moreira dar, ein realistisch-kostumbristisches

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Drama, das intertextuell mit jener Art argentinischer Poetik des Fin de siècle arbeitet, die als grundlegende gemeinsame Charakteristika nach Osvaldo Pellettieri (1987,27) eine sentimentale Handlung und eine starke Präsenz des Kostumbristischen hat und somit das "zentrale melodramatische Motiv" verändert. In der Tat handelt La Moreira, um den Tod ihres Geliebten zu rächen, und wird dabei von der nie aufhörenden Liebe zu ihm geleitet. Die Intrige, die sich in dieser Handlung verkörpert, ist zwischen den "Guten" und den "Bösen" polarisiert, die gleichzeitig Personen mit einer starken Bezugsbelastung sind, und ihre dramatische Entwicklung führt uns - mittels ihrer Gewohnheiten, ihrer Handlungen und ihres Diskurses - in den sozialen Kontext des Jahrhundertanfangs. Der Hauptdarsteller stellt ebenfalls ein Bild kostumbristischer Art zur Schau, so wie Florencio Sánchez in seinen Werken der Volksliteratur. Ein zweites Textmodell umfasst die Werke Ceremonias de la soledad und Actos del miedo. Sie sind dem reflexiven Realismus zuzuordnen, einer Tendenz, die in den 60er Jahren entstand, in dem Moment, in dem sich dieses Textsystem in einem Austausch mit den Techniken der Neoavantgarde befand, der anderen in dieser Dekade entstehenden Tendenz. Das Resultat sind Texte, die mit einer Reihe von aus unterschiedlichen Poetiken entstandenen Elementen im Dienste einer Demonstration der realistischen These stehen. Ghiano entwickelt eine Art psychologischen Realismus, der sich mit den menschlichen Handlungsweisen bei existentiellen Problemen, wie Angst und Einsamkeit, beschäftigt. Die Handlung entsteht in diesen Texten durch Techniken des Absurden sowie denen eines Pirandello. Seine Personen halten dem Zuschauer in Schlüsselmomenten eine Maske vor, oft mittels der Technik des Theaters im Theater. Parallel dazu treten Elemente des Absurden auf, was bedeutet, dass die Personen in atypischen Situationen gezeigt werden, in denen sie mit der der Situation entsprechenden Logik handeln, und dass die Handlung bis zum Ende verschoben wird, wo es zu einer tragischen oder unerwarteten Auflösung kommt, die den semantischen Rahmen des Ganzen darstellt. Ein drittes Modell umfasst die Werke Narcisa Garay, mujer para llorar, Antiyer und Corazón de tango, drei Tragikomödien, die aufgrund ihrer gemeinsamen Poetik und den folgenden verbindenden Zeichen eine Trilogie darstellen: Die Protagonisten eines Werkes kommen in sekundärer Funktion in einem anderen Werk vor; alle drei Werke spielen in den 30er Jahren. Es sind intertextuelle Texte, die vom tragikomischen kreolischen sainete den reflexiven (Narcisa Garay, mujer para Uorar), amoralischen (An-

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tiyer) oder selbsttäuschenden (Corazón de tango) Aspekt übernommen haben.1 Von diesen Werken werden wir kurz Narcisa Garay, mujer para llorar analysieren, da wir es für das repräsentativste Modell halten. Im Mittelpunkt steht Narcisa, die handelt, um Liebe zu erhalten, und die von ihrer Einsamkeit geleitet wird. Die anderen Mieter des Gebäudes helfen ihr dabei, die Rollen zu erfüllen, die sie von ihr erwarten, aber in dem Moment, in dem sie diese Erwartungen überschreitet, werden sie zu ihren Gegnern. Das geschieht hauptsächlich mit ihren Nachbarinnen, die in der Art eines Chors der griechischen Tragödie (humoristisch parodiert), intervenieren und die Handlung kommentieren und kritisch beurteilen. Die Handlung wird mit Hilfe des Ansagers Perico vorstrukturiert, welcher jeden Akt eröffnet und schließt, und dabei die Ereignisse ankündigt und zusammenfasst; diese Art der Ansage ist auch für einige populäre Gattungen des Theaters typisch, wie dem saínete. In diesem Fall rahmt der poetische Diskurs des Ansagers das Werk ein und gibt somit dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in die besondere Welt der Fiktion zu begeben. Ghiano arbeitet in diesem Werk intertextuell mit dem tragikomischen reflexiven saínete und produziert eine Stilisierimg, indem er einige Schlüsselelemente dieser Poetik auswählt und in seine eigene Arbeit einfließen lässt. Diese Elemente sind: die Präsenz der reflexiven Person in der Figur des Don Arena (welcher auch Merkmale des gescheiterten Charakters von Sánchez trägt) und die Verwendung von Komik, die durch den Diskurs oder durch Situationen provoziert wird. Ein Beispiel dafür ist die Situation zwischen Antonieta und Justa. Erstere bittet die Letztere, ihr die Großmutter zum Einkaufengehen zu leihen, damit sie sich nicht selbst anstellen müsse, woraufhin diese antwortet: Justa:

Dazu ist die sehr nützlich. Wir verwenden sie hin und wieder, damit sie nicht zu müde wird. Antonieta: Ihr seid immer so gut zu den Euren. Justa: Ich schulde ihr Gerechtigkeit. Pichi, hol' die Oma, man will sie ausleihen! Picho (von drinnen): Ich staube sie ab und dann bringe ich sie gleich! Antonieta: Wie rücksichtslos die Jugend doch ist!

1

Für die Klassifizierung des sainete folgen wir der von Pellettieri (1990) vorgeschlagenen Periodisierung.

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Wir sehen, dass es sich hier um eine Komik handelt, die Lachen erzeugt, aber gleichzeitig das moralische Sein der "ehrlichen" Personen des Stückes ironisiert. Weitere, vom saínete übernommene Elemente sind: der Streit zwischen den Personen des Innenhofes, die Vorgeschichte über die Vergangenheit von Narcisa, Musik und Lieder. Weiterhin finden wir die Topoi der ehelichen Untreue und des Menschen mit einer "Künstlerseele", der niemals arbeitet und von seiner Frau verteidigt wird. Die Personen werden von der textuellen Oberfläche aus dargestellt, ohne in die psychologische Tiefe zu gehen. Die Darstellung der Narcisa ist zwiespältig, da Ghiano die Tragödie mit dem Melodram des saínete parodisch verbindet. In den Schlüsselmomenten, in denen Narcisa (entsprechend den Gesetzen des tragikomischen saínete) ihren Schmerz über den Tod ihres Geliebten vertiefen sollte, wird dieser relativiert durch eine Karikaturisierung der Person durch ihre Redegewandtheit und ihre übertriebene Ausdrucksfähigkeit sowie durch die Randbemerkungen des Autors, die all das noch unterstreichen. Betrachten wir ein Beispiel: Als Narcisa aus dem Zimmer zurückkommt, in dem sie den toten Ocampo zurückgelassen hat, sagt sie: Narcisa (zurückkehrend):

Hier bleibt dieser Mann zurück: bewegungslos, farblos. (In steigendem Tremolo) Stütze meines Lebens, Jasmin meines Frühlings, Lied, das ich nie wieder hören werde! [...] Tot! (Weint und wimmert mit ungebundener Begräbnis-Eloquenz) Tot? Ach! Ach! Ach!

Diese Art des Diskurses widerspricht der späteren Entwicklung der Person und ihrem Ende: Narcisa tötet sich selbst aus Einsamkeit und fehlender Liebe. Ghiano baut die Tragikomödie auf der Protagonistin auf und produziert so eine Veränderung im Vergleich zum reflexiven saínete eines Carlos Mauricio Pacheco, in dessen Los disfrazados (Die Verkleideten, 1906) zum Beispiel das tragikomische Element im Kontrapunkt zwischen der Vertiefung des Schmerzes der zentralen Person und dem Fest, in dem die anderen Personen weiterlebten, lag. Zu diesen Charakteristika des Diskurses kommen weitere hinzu: der Bezug zum unmittelbaren Kontext (er wird in einem Gedicht an Irigoyen2 erwähnt), die Sprache der Frauen auf der Basis der Umgangssprache und die zuvor bereits erwähnten Reflexionen. Das Ergebnis ist ein heterogener,

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Hipólito Irigoyen (1850-1933): argentinischer Politiker, Führer der Radikalen, von 1916 bis 1922 und von 1928 bis 1930 Präsident. (Anm. d. Ü.)

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pluralistischer und intertextueller Diskurs, mit dem der historische sainete charakterisiert wird. Ghiano greift Textmodelle des Fin de Siècle (das erwähnte erste und dritte Textmodell) auf und funktionalisiert sie in einer eigenen aber gleichzeitig der argentinischen Theatertradition entsprechenden Poetik um, und dies in einem Moment, in dem das Theatersystem sehr offen für die Anpassung ausländischer Modelle war, so wie bereits der reflexive Realismus und die Neoavantgarde in den 60er Jahren. Als diese Bewegung bereits fast kanonisiert war, nimmt sie Ghiano wieder auf, wie wir am Beispiel seines zweiten Textmodells sehen konnten. Eine andere Besonderheit des Theaters von Ghiano, die alle drei Modelle aufweisen, ist die Präsenz der Frau als Subjekt der Handlung. Hierin liegt eine weitere Neuerung innerhalb des argentinischen Theatersystems, in dem - abgesehen von Autoren wie Samuel Eichelbaum oder Francisco Defilippis Novoa - die Rolle der Frau immer passiv und sekundär gewesen ist. Autoren wie Ricardo Halac sollten diese Neuerung vertiefen, der in seinen Werken die Konflikte darstellt, die durch die neue soziale Stellung der Frau in diesem soziohistorischen Kontext entstehen. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Ghiano, Juan Carlos. 1959. Narcisa Garay, mujer para llorar. Buenos Aires: Talía. —. 1962. La Moreira. Buenos Aires: Talía. —. 1966. Antiyer. Buenos Aires: Talía. —. 1966. Corazón de tango. Buenos Aires: Talía. —. 1968. Ceremonias de la soledad. Buenos Aires: La Flor. —. 1971. Actos del miedo. Caracas: Monte Ávila. —. 1977. Tres tragicomedias porteñas. Buenos Aires: Goyanarte. Studien Pellettieri, Osvaldo. 1990. Cien años de teatro argentino. Del Moreiro a Teatro Abierto. Buenos Aires: Galerna/IITCTL.

Julio Cortázar (1914-1983) Halima Tahan Spiel innerhalb des Spiels: In Nada a Pehuajó (Nichts mehr nach Calingastaf entwickelt sich das dramatische Spiel mittels eines anderen Spiels, des Schach, dessen Symbologie das Werk prägt. Im abstrakten Raum des Spielbrettes spielt sich ein Kampf ab; im szenischen Raum, dem konfliktiven Ort par excellence, ist die Konfrontation immer konstant. Durch das Zurschaustellen des Spiels wird auch der kreative Akt zum Spiel; der Schaffensakt zeigt sich selbst auf. Das Spiel "Systeme aufeinanderfolgender Metaphern" - wie es Lemaître nennt -, der bevorzugte Ort maximaler ästhetischer Reinheit, verlässt den "Mythos der ästhetischen Kreation", dessen Mysterium - heimliche Wahrheit - Cortázar in seiner gesamten Literatur erforscht. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass für Cortázar die Ausstattung des Mysteriums nicht offensichtlich ist, sondern dass der Schriftsteller der Realität entkommt, indem er sich in den Bereich des Imaginären begibt. Mittels einer Technik von Kommen und Gehen "begeben wir uns weg vom Alltäglichen hin zum Absurden und Übernatürlichen und dann in einem Salto mortale kehren wir wieder in die praktische Welt zurück" (Durand 1965,41). Die Techniken des absurden Theaters und das surrealistische Erbe ermöglichen es, dass sich in einem mephitischen Restaurant in Nada a Pehuajó folgende Akteure treffen: ein Huhn, dass eine Szene macht, weil es nicht gekocht werden will; ein Angestellter, der Hunde als sicherstes Transportmittel betrachtet; ein Richter, der Karotten wiegt; ein mysteriöser Straßenverkäufer, "der aussieht wie Jean Vilar in Les portes de la nuit von Carné" (Cortázar 1984, 54); und eine rätselhafte, weiß gekleidete Person, die von ihrem stillen Ort aus die Bewegungen auf dem Spielbrett zu kontrollieren scheint. In dieser dramatischen Welt herrschen Heterogenität und Mischung vor, Mischung des Menschlichen und Tierischen: Das sprechende Huhn zum Beispiel ist eine paradoxe Mischung und leitet das Beunruhigende und Unheilbringende ein, welche grundlegende Komponenten des Werkes werden sollen. Diese Episode mit ihrem schwarzen Humor greift anderen tödlichen Handlungen vor, die im Laufe des Spiels

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Dt. in Theaterstücke aus Argentinien. Pehuajö ist in der Übersetzung zu Calingasta geworden (Anm. d. Ü.).

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stattfinden werden. Dieses Spiel hält jedem Versuch von Ordnung und Einheit stand, da das Multiple und Simultane die Szene beherrschen. Von diesen Feststellungen ausgehend, kann man dieses Werk auch dem lateinamerikanischen real maravilloso zuordnen, dessen Hauptcharakteristika Allgegenwärtigkeit und Symbiose sind (vgl. Carpentier 1981,81). Der Ort der Handlung ist Lateinamerika, genauergenommen Argentinien, Buenos Aires. Die Veränderungen, die geschehen, entsprechen teilweise der Vorstellung von Amerika als magischem Ort, "ein Raum, in dem alle Metamorphosen möglich sind, ein wirklich phantastischer Ort, skandalös für die europäische Vernunft, wo ein Subjekt gleichzeitig ein anderes und ein Ort gleichzeitig ein anderer ist" (Altamirano/Sarlo 1983,17). Der Raum in Nada a Pehuajö wird disphorisch dargestellt: Im Restaurant kann eine "pestartige Luft" wahrgenommen werden, ein starker Druck. (Diese pestartige Luft erinnert uns an den Schwefelgeruch an satanischen Orten ...). Auch die Beziehungen der Personen zum Raum sind generell negativ: "Es ist sehr unangenehm, dass an diesem Ort die Kellner ständig bewusstlos werden", bestätigt der Architekt in Szene 9, und in Szene 10 versichert der Kellner, "während des Mittagessens passieren hier eigenartige Dinge". In manchen Situationen halten die Kellner Tafeln in die Höhe, auf denen zu lesen ist: "Es ist verboten, von Tisch zu Tisch miteinander zu sprechen" (Szene 16). In Szene 11 erklärt der Kellner, dass sich eine gewisse Suppe, wenn sie nicht sofort verdaut wird, in eine "trockene Masse mit fiebrigem Rand" verwandle und es sehr gefährlich sei, sie zu schlucken: Kellner 1:

Neulich ist das einem Herrn geschehen. [...] Es war grausig. Die grünen Spitzen bohrten sich durch die Kehle. Und das viele Blut! Gina und Franco sehen sich an, heben den Deckel von der Terrine [...]. Als sie fertig sind, lächeln sie sich an und atmen erleichtert auf (205).

Der Raum erscheint deutlich auf einer horizontalen Achse, die Personen bewegen sich selten auf der Ebene im Restaurant, die mit dem Schachbrett übereinstimmt. Die Kellner, die sich viel mehr bewegen, können während der Szenen den Raum auf dem Weg in die Küche verlassen und wieder betreten. Aber keine örtliche Veränderung findet in eine andere Richtung statt - zum Beispiel nach oben oder nach außen -, alles passiert drinnen, in oder auf dem Schachbrett im Restaurant, alles spielt sich auf dem Boden ab, nichts in der Höhe. Die Personen-Figuren, die sich auf dieser Ebene bewegen - in der die Tische die vertikalen Umrisse darstellen, wie in den Bühnenanweisungen erklärt wird -, haben eine doppelte Funktion inne: Sie sind gleichzeitig Figuren, d.h. Instrumente des Spiels, und Spieler. (In

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einer virtuellen szenischen Darstellung würde diese Doppelfunktion durch den Körper des Schauspielers betont werden.) Handlung ist synonym mit Spiel, eine symbolische Aktivität par excellence, die sich mit jeder Bewegung/jedem Zug hervorhebt und konkretisiert. Die Instrumente-Figuren zeigen ihre Präsenz im Raum, während die Handlung der Spieler-Personen der Zeit zuzuordnen ist, denn die Handlung verläuft in der Zeit. Der Mann in Weiß, "der wie ein Zeremonienmeister aussieht", "hebt sein Glas in die Höhe und verschüttet es über die Tischdecke, so als ob er Schach spielen würde"; der in schwarz gekleidete Angestellte "läuft zum Telefon und wiederholt den Stand des Spiels". Sofort nehmen der Oberkellner und die anderen Kellner, die nach dem abrupten Ende der Musik wie eingefroren stehengeblieben waren, "ihre Bewegungen wieder auf und setzen ihre Handlungen fort, in den Momenten, in denen Herr López eintritt...". Wie man sieht, beginnt der Mann in Weiß das Spiel, gibt ihm Bewegung. Dieser Mann drückt sich niemals verbal aus, außer wenn er im letzten Abschnitt des Stückes "Schachmatt" sagt. Dies ist sein einziges Wort. Er ist unbeweglich, alles an ihm ist ruhig, jedoch scheint er durch seine Gestik die Hebel des Spiels zu kontrollieren. Paradoxerweise ist das Spiel selbst viel konkreter als der Spieler-Akteur, der als Spieler "wie abwesend und nicht wahrnehmbar erscheint" (Gutton 1982,156). In Nada a Pehuajó gibt es keine Verschachtelungen von verschiedenen äußeren und inneren Räumen, in denen sich die Handlung entwickelt. Alles passiert in dem geschlossenen und einzigen Raum des Restaurants, dessen räumlich-zeitliche Verankerung - südamerikanisch-zeitgenössisch mittels verschiedener Informationen bestätigt wird: "Meine Frau ist aus Chile zurückgekommen", sagt Herr López in Szene 1. In Szene 6 will der Kunde ein Paket "von Buenos Aires nach Pehuajó" schicken, und der Angestellte, der ihn bedient, bezieht sich auf eine "Landstraße zwischen Buenos Aires und Bahía Blanca". Franco erwähnt Pinochet in Szene 21, indem er den Richter als "Mischung von Elvis Presley und Pinochet" bezeichnet, und verweist damit - ganz allgemein - auf eine spezifische Epoche. Sprachlich sind Charakteristika des argentinischen Spanisch zu erkennen, vor allem in einigen Dialogen der jüngeren Personen wie Franco und Gina, die den voseo verwenden. Bereits der Titel des Stücks verweist auf den Ort Pejuahó, der sich in der Provinz von Buenos Aires befindet. Eine ganze Episode ist dem missglückten Versuch des Klienten gewidmet, sein "persönliches Hab und Gut", inklusive eines einbalsamierten Affen, nach Pehuajó zu schicken.

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Halima Tahan Sie werden sich entscheiden müssen, und die Welt ist wirklich nicht leicht. Nun ja, ich lese Ihnen mal die Liste der Transportmittel vor, und Sie entscheiden. Das Tier kann befördert werden: als Einschreibsendung mit erhöhtem Risiko, per Pfadfinder... denn es findet gerade ein Dauerlauf mit Gepäck zwischen Buenos Aires und Bahia Bianca statt... per Linien-LKW, per Not-LKW, per D-Zug, per Güterzug und per Hundewagen (200).

In dieser Episode, ebenso wie in der des sprechenden Huhns sowie der amerikanischen Touristin - in der die Frage der verbalen Inkommunikation gestellt wird -, erscheint der absurde Zug deutlicher. Man bemerke, dass der schwarz gekleidete Angestellte, der sich ganz seiner Aufgabe, Zahlen auf einer Tafel zu addieren, widmet, gleichzeitig für ein Transportunternehmen arbeitet und - am Ende des Stückes - Scharfrichter ist. Pehuajö ist nicht nur ein geographischer Vorwand, um die - ebenso verhängnisvolle - Macht der Bürokratie und Ordnung in Frage zu stellen, sondern es ist auch Schlüsselort, da er sich außerhalb und weit weg befindet, ein offener Raum im Gegensatz zum hermetischen Inneren des Restaurants. Und so existiert neben dem topischen Raum von Buenos Aires, dem Raum der Handlung, in der alle Veränderungen geschehen, Pehuajö, das zum utopischen Raum des Dramas wird, wohin der Wunsch des Kunden gerichtet ist; sein einziges Ziel ist der Versand dieses Paketes, der sich nie realisiert. Dieser Wunsch wird durch den Angestellten-Richter unterbunden: Hahaha! Aus ist es! Nichts mehr zu machen! [...] Nichts! Ich finde soeben eine Dienstvorschrift, die alle anderen aufhebt! Nach Calingasta wird überhaupt nichts mehr befördert (214).

Der Kunde antwortet verzweifelt: Nichts mehr nach Calingasta! (214).

Der Kunde erklärt, dass dieser Versand eine Frage von Leben und Tod ist und zieht daher den Vergleich mit Blut heran: Sie sind wie Sauerstoff für einen Erstickenden, oder wie Blut... ja, genau, wie Blut für eine lebensrettende Transfusion (Der Richter schrickt zusammen.) Stellen Sie sich jemanden vor, der Blut verliert, der in einem dicken Strahl Blut verliert und der nur noch zu retten ist, wenn man rechtzeitig... (214).

Der Versand wird zu einer lebenswichtigen Handlung, einem Lebensgeschenk, das nicht zu seinem Ziel kommt. Sein Verbot betrifft das Unveräußerlichste des Menschen, sein Recht auf Leben.

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Spiel und Traum verbinden sich, wobei ersteres zum ständigen Begleiter des zweiten wird. In der Szene über das Bewusstsein tritt die Traumaktivität auf, deren Entwicklung die Mechanismen des Traums zum Handeln bringt. Diese Aktivität - die jenseits des eigenen Schlafes handelt hat viel mit einer Skizze des Stückes zu tun. Franco:

Heute ist so ein Tag, da fühlt man sich... [...] zwischen zwei Elementen, weit weg von allem. Oder wie im Theater. Oder als ob man träumt. Nicht ganz so, aber so ähnlich (204).

Das Theater - Spiel oder Kunstwerk - oder der Traum motivieren die Person, in einen besonderen Zustand einzutreten, zu fühlen, dass ein anderer Mensch in ihm existiert: Franco:

Heute ist mir, als bestimme jemand anders über mich (205). [...] Jemand, der nicht für sich selber sprechen kann, verstehst Du, Gina...? Ich wünsche mir ein Messer, mit dem man Stricke durchschneiden kann [...], mit dem Hände gefesselt sind [...]: Er betrachtet seine Hände und streicht sich damit übers Gesicht, als wolle er einen Alptraum wegwischen (207).

Dieser Zustand von Franco nimmt eine Tat vorweg, die einige Szenen später angekündigt wird: die Exekution eines Angeklagten, Carlos Fleta. Der Richter, der sich darauf konzentriert, Karotten zu wiegen, zieht, als er die Nachricht erhält, ein Heftchen heraus, in dem er die Namen der Opfer sucht, bis er zu Fleta kommt. Dann tritt der Verteidiger auf. Der Richter antwortet ihm. Die Kellner heben ein Schild in die Höhe: "Es ist verboten, von Tisch zu Tisch zu sprechen". Der Gerichtsdiener bestätigt: Fleta ist geköpft worden. Entsetzen im Raum. Franco reagiert empört: Franco:

Und das da frisst ruhig weiter seine Möhren! Das wiegt seinen Fraß ab, während acht Straßen weiter eine stählerne Klinge einem armen Teufel den Kopf vom Rumpf trennt. [...] Wie dieses Messer durch ein Stück Butter schneidet (208).

Schließlich ist Fleta in dem ständigen Wechselspiel der Personen der Oberkellner. In der Schlussszene stehen sich beide gegenüber. Der Richter erkennt Fleta, zweifelt, weiß nicht, ob er träumt, lässt einen Schrei los und bricht auf dem Tisch zusammen. Der Mann in Weiß steht auf, mustert zufrieden seinen Tisch, schlägt befriedigt und triumphierend an sein Glas - dasselbe, das er zog, als er "Matt" sagte - er geht, ohne jemanden anzublicken, hinaus (225).

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Eines der zentralen Themen des Stückes ist zweifelsohne der Verfall der Gerechtigkeit. Dabei erscheinen folgende Aspekte und Bilder: Scharfrichter, Exekution, Zensur, Gefängnis, schlechte Luft, Hitze, großer Spieler und Manipulator, Schachfiguren, Blut, Alptraum, Inkommunikation, Jugend, Rebellion, Chile, Pinochet, Buenos Aires, der Süden. Die - nicht verbundenen - Verbindungen führen zu einer dunklen, unheilvollen und tödlichen Epoche für das Land, sein Volk, seine Kultur, sein Theater. Vermutlich wurde das Stück zwischen 1976 und 1983 geschrieben. Uraufgeführt wurde es von Augusto Boal in Österreich im Rahmen des Herbstfestivals in Graz im Jahre 1983. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Cortázar, Julio. 1984. Nada a Pehuajó. In: Quehacer teatral 1. Colombia: Celcit. Dt. Nichts mehr nach Calingasta. Übersetzt von Monika López. In: Theaterstücke aus Argentinien (1993), 193-226. Studien Altamirano, Carlos; Beatriz Sarlo. 1981. Literatura/Sociedad. Buenos Aires: Hachette. Carpentier, Alejo. 1981. La novela latinoamericana en vísperas de un nuevo siglo. México: Siglo XXI. Durand, Manuel. Julio Cortázar y su pequeño mundo Famas. In: La vuelta a Cortázar en nueve ensayos. Buenos Aires. Gutton, Philippe. 1982. El juego de los niños. Barcelona: Hogar del Libro.

Alberto Rodríguez Muñoz (*1915) Gabriela Andrea Scartascini Der Dramatiker, Erzähler, Essayist und Regisseur Alberto Rodríguez Muñoz begann 1937 seine kreative Laufbahn. Er hat seine eigenen Werke uraufgeführt und bezeichnet sich als "Theatermensch, der eine Fabel kreiert und sie selbst dirigiert". La gaviota (Die Möwe) von Tschechov, Un día de octubre (Ein Oktobertag) von Kaiser und Espiritismo en la casa vieja (Spiritismus im alten Haus) von Betti sind einige derAufführungen, die er verwirklicht hat. Er hat die Kurzgeschichtensammlungen Los paraísos (Die Paradiese) und El grifo (Der Greif) sowie den Roman El grito del verano (Der Schrei des Sommers) veröffentlicht. Seine zahlreichen Zeitungsartikel sind ebenso anerkannt wie sein Essay El teatro (Das Theater). Derzeit ist er Vorsitzender des Beirats der Abteilung Theater im argentinischen Schriftstellerverband ARGENTORES (Sociedad General de Autores de la Argentina). Ästhetik und Poetik Dieser Autor, der dem Mikrosystem des gebildeten Theaters angehört, hat vor allem eine ästhetische Linie bewahrt: den Expressionismus, der in Argentinien den Konventionen des europäischen Modells folgt. Der Mensch mit seiner individuellen Verantwortung angesichts einer ihn unterdrückenden Gesellschaft, die seine Ideale bedroht; der Kampf gegen die eigenen Traumbilder, die es ihm nicht erlauben, das Wesentliche zu ergreifen und festzuhalten; das Ersticken angesichts der Mechanisierung und der Bürokratie sowie die Angst vor dem Tod und das Verrinnen der Zeit sind einige der Themen, die in seinen Werken behandelt werden. Seine Personen streben danach, "dass sich ihre Träume vom neuen Menschen mittels eines Zauberwortes verwirklichen und so die Veränderung herbeigeführt wird" (Brugger 1959,45). In seinem Werk lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Die erste lässt sich als universalistisch bezeichnen, in der der subjektive Expressionismus - "die Dramatisierung der Einsamkeit und Verletzlichkeit, der Schrei des verirrten Individuums in einer sinnlosen Welt"1 - die Handlung ' Pellettieri in Foster (1986,231), mit dem er sich auf das unabhängige Theater Argentiniens in seiner ersten Phase bezieht.

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bildet. Beispiele sind: Lo demás es batifondo (Alles andere ist Wirrwarr, 1968), bestehend aus Divertimiento para cuatro ejecutantes y un sarcófago (Unterhaltung für vier Mitwirkende und einen Sarg), Su nombre es Calypso (Sein Name ist Calypso) und El pasillo oscuro (Der dunkle Gang); sowie Las dos caras de la luna (Die zwei Gesichter des Mondes, 1980) und El canto de la vida (Das Lied des Lebens, 1993). Die andere Variante, die sich im Raum um Buenos Aires ansiedelt, beinhaltet Texte wie Melenita de oro (Goldmähnchen), El tango del ángel (Der Tango del Engels), Los tangos de Orfeo (Die Tangos des Orpheus) und Biógrafo (Biograph). Textanalyse An zwei Werken von Rodríguez Muftoz sollen die vorherrschenden Züge seiner Textualität aufgezeigt werden. Melenita de oro In der Tiefenstruktur ist das Wunschobjekt Ernestos - eines Journalisten, der die von den Großunternehmen beherrschten Arbeiter verkörpert - eine "symbolische Abstraktion": die Konkretisierung eines Traumes und die Unmöglichkeit, ihn zu verwirklichen. Er fühlt sich eingeschlossen wie ein expressionistischer Held, der aus Angst nur sich erinnern, warten, kritisieren und sich besiegen lassen kann. Er ist in seiner Existenz durch seine eigenen Ängste bedroht, und Melenita2 versucht, seinen Weg zu ändern: Die Angst hat dich blind, taub und dumm gemacht [...], und du liegst zusammengekauert da wie ein schmutziger Lappen, wie ein Schoßhündchen, das es gewohnt ist, geschlagen zu werden (69).

In der Verwicklung zeigt sich die Last der Subjektivität in Monologen mit Fragen über die Realität, die Routine und die Einsamkeit. Was für ein Schicksalsschlag, aus Buenos Aires zu kommen / Bewohner einer verlogenen Stadt / sich durch die Feuchtigkeit ihrer Bürgersteige durchzuschlagen / und zu sehen, wie die Regierungen aufeinanderfolgen / während die Menschen alt werden [...] (43).

Die niederschmetternde Realität Ernestos wird in einer Frage sichtbar, die ihm Lucho stellt:

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Melenita de oro: ein sprechender Name, der zu deutsch Löwenmähne bedeutet. (Anm. d. Ü.)

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Und du? Bist du glücklich dabei, wenn sie dir bei der Zeitung das Kreuz biegen oder wenn sie dich schlechter behandeln als einen Papierkorb bei soviel Intelligenz, die du an das Produkt verschwendest? (54)

Ein anderes Element des Expressionismus, das in dem Werk zum Ausdruck kommt, ist das gemeinsame Vorkommen von Toten, Lebenden und Abwesenden. Am Ende des Textes erscheint Ernesto durch das Fenster seines Zimmers Melenita, die - statisch und abgeschirmt - das symbolisiert, was hätte sein können, aber verschwunden ist. In diesem Kampf zwischen dem alten und dem neuen Menschen wird hervorgehoben, dass die Eltern, die Älteren und die vorherigen Generationen die Gegenwart behindert haben. Die Zeit und der Tod, die sich mit dem Tango und seiner melancholischen Beichte mischen, finden sich im Ambiente von Buenos Aires. Das Stück geht über die Konventionen des Melodramas hinaus, um das Innere Ernestos sichtbar zu machen. Die Frau vermag es nicht, ihn "zum Himmel zu führen" (so Gravier 1967,123). Der verbale Aspekt erlaubt es, den Raum zu identifizieren. Die Erwähnung von Tangos, wie Milonguita von Samuel Linning und Enrique Delfino sowie Che papusa, oí von Matos Rodríguez und Enrique Cadícamo; Salgán und Troilo, zwei Personen, die ihre eigenen Tango-Orchester organisierten; Ausdrücke aus dem lunfardo3, wie garufa (Fest, Feier), manyar (essen), largar el rollo (sprechen), führen zu einer deutlichen lokalen Identifikation. Der Titel des Werkes erinnert an den Foxtrott von José Bohr und stellt gleichzeitig eine Verbindung mit dem Tango von Linning und Flores her, in dessen Refrain es heißt: "Melenita de oro, Goldmähnchen, lach nicht, denn du lügst, gestern Nacht weinte dein Herz." Schließlich bringt diese Richtung des Theaters von Rodríguez Muñoz, die in Buenos Aires angesiedelt ist, die Frustrationen, schlaflosen Nächte, Ängste und Unterdrückungen des kollektiven Subjekts, das in der großen Metropole lebt, zum Ausdruck. El solitario viaje de regreso, Réquiem en tres actos para solista y octeto de vientos (Die einsame Rückreise, Requiem in drei Akten für einen Solisten und ein Bläser-Oktett; Premio Dramaturgia del Fondo Nacional de las Artes, 1976). Dieses Werk bricht mit einem Theater, das eine Illusion von einer äußeren Realität schaffen will. Der Protagonist, der señor (Herr), der von vertrauten und fremden Geistern heimgesucht wird, tritt mit ihnen in einen Dialog und bricht somit mit der vorherbestimmten kausalen Unterordnung. Es handelt sich um ein Geständnis-Drama, in dem mittels der Semantik des subjektiven Expressionismus die Instabilität des Bewusstseins des Protago-

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lunfardo: Jargon der Halb- und Unterwelt von Buenos Aires. (Anm. d. Ü.)

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nisten aufgezeigt wird. Am Ende des Textes wird der señor seine Zukunft bestimmen, zu der er durch die Qualen, die ihm die ihn umgebenden sekundären Personen bereitet haben, geführt wurde: Ich werde auf dem Rücken meiner Siesta-Lethargie verfallen, und diese soll das ganze Leben andauern..., (wütend) weil ich nicht die Absicht habe, wach zu werden, um jemanden nach der Wahrheit zu fragen (122).

Dieses Werk, das zu El pasillo oscuro ausgeweitet wird, zeigt in seinen Rollen typische Charaktere der Gesellschaft, die sich gegenseitig mit Ironie angreifen und die nicht miteinander verbunden, sondern völlig isoliert voneinander leben. Diese Personen, "Verkörperungen von Ideen" (Brugger 1959,50), sind Symbole einer Dekadenz, die das expressionistische Theater zu bremsen versucht. Die letzten drei Werke von Rodríguez Muñoz sind besonders hervorzuheben: Una catedral gótica (Eine gotische Kathedrale; Premio ARGENTORES für das beste uraufgeführte Stück, 1988), Nadie debe morir (Niemand darf sterben) und El canto de la vida (Das Lied des Lebens; Premio Dramaturgia del Fondo Nacional de las Artes, 1993). In diesen Werken kristallisiert sich die Idee heraus, dass über die Träume und die Kunst ein Ausweg aus den Begrenzungen möglich ist. In Nadie debe morir kennzeichnet eine metatheatrale Überlegung die Wiederaufwertung des Theaters als Medium, das gehört werden soll, damit "die Barrieren der Zeit durchbrochen werden". Arzt:

[...] das Theater gefällt mir, sehr sogar. Weil im Theater alles Lüge ist. Amtsdiener: Sie irren sich, Herr Doktor. Im Theater ist alles Wahrheit. Archivar: Die andere Seite der Wahrheit (139).

Auch in der Textualität von Rodríguez Muñoz verkörpert die Frau Schuld, Angst, Marter oder Agonie. Durch ihre Präsentation in sowohl realen als auch symbolischen Szenen stellt sie sich in das Zentrum, um die verlorene Essenz wiederzugewinnen, jene, die das menschliche Wesen nur alleine in sich selbst finden wird. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Rodríguez Muñoz, Alberto. 1971. Biógrafo. Buenos Aires: ARGENTORES, Carro de Tespis. —. 1973. Melenita de oro. Los tangos de Orfeo. El tango del ángel. Buenos Aires: Sudamericana. —. 1988. Zarabanda de los inocentes. El solitario viaje de regreso. Buenos Aires: PROTEA. —. 1992. Una catedral gótica. Nadie debe morir. Buenos Aires: Plus Ultra. —. 1994. El canto de la vida, El ojo del juglar. El tren de la justa hora. Buenos Aires: Corregidor. Studien Brugger, Ilse T. M. de. 1959. Teatro Alemán expresionista. Buenos Aires: La Mandràgora. Foster, David William. 1986. The Argentine teatro independiente, 1930-1955. York: Spanish Literature Publishing. Gravier, M. 1967. Los héroes del drama expresionista. In: El teatro moderno. Buenos Aires: Eudeba. Pellettieri, Osvaldo. 1985. Estudio preliminar. In: Roberto Cossa. Teatro. Buenos Aires: Huemul. —. 1991. El teatro independiente en la Argentina (1930-1965): Intertexto europeo y norteamericano y realidad nacional. In: Fernando de Toro (Hg.). Semiótica y teatro latinoamericano. Buenos Aires: Galerna/IITCTL, 227-240. —. 1992. Modelo de periodización del teatro argentino. In: Osvaldo Pellettieri (Hg.). Teatro y teatristas. Estudios sobre teatro iberoamericano y argentino. Buenos Aires: Galerna/Facultad de Filosofía y Letras (UBA), 69-82. Staif, Kive. 1973. Epílogo para Rodríguez Muñoz. In: Melenita de oro y otros. Buenos Aires: Sudamericana, 208-213.

Andrés Lizarraga (1919-1982) Susana Freire Der Nachruf auf den Tod Andrés Lizarragas war schematisch, kalt und konventionell. Die Notiz rief Bilder aus der Vergangenheit hervor, darunter die Silhouette eines Autors, der 1960 die Aufmerksamkeit der Theaterwelt mit fünf eigenen Erstaufführungen in einem Jahr erregt hatte. Ursprünglich war Lizarraga Maler, aber eine innere Betroffenheit von der Situation Argentiniens führte ihn zum Theater. Als er 1952 nach Salta reiste, um Landschaften zu malen, ließ ihn die Dramatik der menschlichen Geographie seine Pinsel weglegen und zur Feder greifen. Bis dahin hatte er unter anderem George Dandin von Molière (1957) adaptiert und mit Osvaldo Dragún in Desde el 80 (Seit dem Jahr 1980, 1958) zusammengearbeitet. 1960 stellte er folgende Werke vor: Los Linares (Die Flachsfelder), El carro Eternidad (Der Wagen Ewigkeit), Santa Juana de América (Die heilige Johanna von Amerika), Tres jueces para un largo silencio (Drei Richter für ein langes Schweigen) und Alto Perú (Hoch-Peru). Später schrieb er: Un color soledad (Eine Farbe Einsamkeit, 1963), Y dale que va (Geh schon, 1963), Caralinda, Primavera y Parafuerte (1963), ¿Quiere usted comprar un pueblo? (Wollen Sie ein Dorf kaufen?, 1966), Jack, el destripador (Jack the Ripper, 1967), La cama y el emperador (Das Bett und der Kaiser, 1970), Romeo, Julieta y el tango (Romeo, Julieta und der Tango, 1971), Proceso a Juana Azurduy (Prozess gegen Juana Azurduy, 1978), Apenas un siglo (Kaum ein Jahrhundert, 1978) sowie die letzten, Tragos de madrugada (Schlucke des frühen Morgens) und Contacto en Madrid (Kontakt in Madrid), ein Stück, an dem er gerade schrieb, als er starb. Insgesamt hat er 25 Theaterstücke und zahlreiche Adaptationen für das Fernsehen geschrieben. Aus seiner Produktion treten drei Stücke besonders hervor, die zahlreiche Kritiker (Luis Ordaz, Perla Zayas de Lima) als die Mai-Trilogie bezeichnet haben: Tres jueces para un largo silencio, Alto Perú und Santa Juana de America. Zayas de Lima (1991,164f.) schreibt dazu: Für diese Trilogie verfolgte er eine historische Linie, deren Kontinuität faszinierend ist: der Beginn der Revolution, der Patriotismus von Castelli und seine Beziehung zu Juana Azurduy und Manuel Asencio Padilla (Tres jueces para un largo silenció), die Geschichte dieser drei Guerrilla-Kämpfer (Santa Juana de América) und der Moment der Gegenrevolution (Alto Perú).

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Der historische Blick Tres jueces para un largo silencio ist wahrscheinlich das vollendetste Werk dieser Trilogie. Lizarraga stellte genaue Nachforschungen in den historischen Details an, um die Figur des Juan José Castelli wieder zum Leben zu erwecken. Nach der Niederlage der Truppen der Befreiungskämpfer in der Schlacht von Huaqui wird Castelli bis Buenos Aires verfolgt, wo er ins Gefängnis kommt und für den Rückschlag als schuldig erklärt wird, obwohl bewiesen ist, dass die Anklage keine Basis hatte. Seine Verteidiger, Monteagudo und Balcarce, stellen sich dem Gericht entschlossen entgegen, welches es wagt, einen Patrioten von der revolutionären und moralischen Größe Castellis anzuklagen. In dieser violenten Situation hat einer der drei Richter, die nicht Recht sprechen, sondern einen Urteilsspruch befehlen sollten, für einen Moment Zweifel und kommt in einen Gewissenskonflikt. Der Figur Castellis fehlt dramatische Tiefe, da er nur in einem Teilaspekt, seiner politischen Handlungsweise, dargestellt wird. Dies wird anhand einer Reihe von offiziellen Taten, die zum Urteil führen, aufgezeigt, ohne dass dabei der Mensch Castelli sichtbar würde. Lizarraga agiert hier mehr als Chronist denn als Dramatiker. Ihn interessiert das über Castelli gefällte Urteil als Beweis für die Korruption der revolutionären Ideale, aber nicht Castelli als Mensch und Opfer eines langen Schweigens. Die Künstler und die Freiheit In seinen Werken griff Lizarraga nicht nur auf die argentinische Geschichte, sondern auch auf die anderer Länder zurück. Die Haltung des Künstlers, der eine Unterwürfigkeit höhergestellten Personen gegenüber verweigert und der erreichen will, dass die Menschheit über ihre Vergangenheit lacht und ihr somit eine Lektion zum Thema "Freiheit" erteilt, ist die dem Stück El carro Eternidad zugrunde liegende Hauptidee. Dieses Stück hat expressionistische Grundzüge und steht unter dem Einfluss Bertolt Brechts. Wie im expressionistischen Theater wird die Handlung durch eine innere Spannung ersetzt, die durch die im Kampf stehenden Personen aufgebaut und gelöst wird. Diese stehen in offener Konfrontation mit jeglicher zeitlichen Macht, die ihre Körper oder Seelen tyrannisiert. Der Kampf in El carro Eternidad spielt sich auf drei Ebenen ab: zunächst auf der der dramatischen Handlung, die langsam und episodisch ist, ohne Progression, und die nur in ihren Sichtweisen variiert; dann auf der Ebene der Poesie und Lieder, so wie sie Brecht in Kaukasischer Kreide-

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kreis und Mutter Courage benutzt, die die Entwicklung verzögern und so dazu beitragen, die Langsamkeit der dramatischen Handlung zu betonen; zuletzt auf der philosophischen und politischen Ebene, wobei der Autor ebenso wie Brecht - mit seinem Werk die Zuschauer zum Nachdenken anregen will. Ausgehend von einem historischen Thema, der Invasion Karls V. in Italien während der Renaissance, folgt der Autor der Konzeption des epischen Theaters Brechts und versucht, Lehrtheater zu machen, nicht indem er eine Theorie verbreitet, sondern eine Lebensanschauimg: der Triumph der Freundschaft oder die Stärke der Bindung. Gleichzeitig verspottet er den Klerus und das Heer. Mit Tango-Geschmack Wir können nicht mit wirtschaftlichem Denken schreiben, ebensowenig wie wir mit der Unabhängigkeit an die anerkannten Bühnen gehen können, die eigentlich ein Stück, das die Wurzeln des nationalen Dramas erfassen will, erfordert. Die jungen Schriftsteller-Gruppierungen sehen uns als veraltet an, da unser Werk nicht ihren unmittelbaren soziopolitischen Dringlichkeiten entspricht.

Mit diesen Worten drückte sich Lizarraga zur Zeit der Erstaufführung seiner Musik-Komödie Romeo, Julieta y el tango aus. Der Autor fand, dass seiner Generation (Dragún, Cuzzani, Betti, Gorostiza) die Bühnen versperrt waren. 1962 war in Buenos Aires ein bedeutsames Jahr für die Musik-Komödie. Ein Film, Amor sin barreras (Liebe ohne Grenzen), und ein Stück, Los fantásticos (Die Phantastischen), waren der Ausgangspunkt für einige Erfahrungen, die Lizarraga in Romeo, Julieta y el tango verarbeitete. Dies ist keine Kopie des Werks von Shakespeare und spielt somit auch nicht in Verona, sondern in einem Stadtteil von Buenos Aires, in der Nähe der Bahnlinie, in der Gegenwart. Abgesehen von der Absicht Lizarragas, ein weniger intellektuelles Publikum anzusprechen, erreicht dieses Werk nicht die Größe seiner Dramen. Der Autor meint dazu: Vielleicht hat diese Komödie keinen anderen Zweck als den, die Musik-Komödie in Buenos Aires wiederzufinden, ohne die Intellektualismen, die nur Minderheiten gefallen, und ohne Konzessionen, auf der Suche nach einem unvorbereiteten Publikum.

Doch als das Werk 1971 uraufgeführt wurde, konnte die Kritik diese Absichten nicht erkennen.

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Andrés Lizarraga hat sich bemüht, mit seiner Stimme eine Vergangenheit wiederzubeleben, die auch in der Gegenwart noch Bedeutung hat. Ein Bemühen, das erst spät erkannt wurde. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Lizarraga, Andrés. 1962. Teatro de Andrés Lizarraga. Buenos Aires: Quetzal.

Die sechziger Jahre

Ricardo Halac (»1935) María Esther Bedin Seit seinem ersten Werk Soldedad para cuatro (Einsamkeit für vier, 1961) wird Ricardo Halac als Urheber des reflexiven Realismus bezeichnet (Pellettieri 1987). Es handelt sich hier um einen Zeitabschnitt, den die Kritik der 60er Generation despektiv als naturalistischen Realismus oder als Neonaturalismus bezeichnen sollte. Dennoch wurde die Modernisierung, die das argentinische Theater damals anstrebte, mit den Werken von Agustín Cuzzani, Osvaldo Dragún und vor allem von Carlos Gorostiza mit El puente (Die Brücke, 1949) und El pan de la locura (Das Brot des Wahnsinns, 1958) erreicht. Diese Zielsetzimg erklärt, weshalb Arthur Miller mit seiner Verbindimg von sozialen und individuellen Problemen einen so großen Eirifluss gewinnen konnte. Damit trug er dazu bei, dass das zeitgenössische Theater sich vom alten Realismus weg hin zu einer Selbstreflexion entwickelte. Aber in Wirklichkeit ist es Halac, der dieses Ziel definitiv mit seiner Dramaturgie erreicht. Dies war das Ergebnis einer unerwarteten Erfahrung: Bertolt Brecht fesselte ihn; diese Bewunderung führte zu einem Stipendium in München und häufigen Besuchen im Berliner Ensemble, weitere Stipendien sowie Reisen nach Europa und Amerika folgten. Eine lange Reise, die sein Werk beeinflusste und in diesem aufging, ein bemerkenswertes Werk, das gleichzeitig persönlich und national ist. Als jemand, der das Theater kritisiert und in Frage stellt, mit einem bemerkenswerten sozialen Engagement - "ich war bereit, mit Spielen, Phantasien und Träumen die Illusion des Theaters zu zerbrechen" - ist er auf dem Weg zu einem Realismus, der entscheidende und aggressive Brüche sucht. Das Engagement bedeutete, zuerst die Realität zu ordnen, das Bild, welches kein freies Zeichen oder Symbol mehr ist, abzustecken und den Text konkreter zu gestalten. In dieser Hinsicht waren auch für Halac die Schauspieltechniken Stanislavkis grundlegend, so dass sein viel kritisiertes Estela de madrugada (Spur am frühen Morgen), wie der Autor sagte, "heute ununterbrochen in den Schulen verwendet wird, damit die Studenten lernen, ihre Gefühle besser auszudrücken." Zentrales Motiv und Hauptachse seines Theaters ist weiterhin das alte Thema der Identität des Menschen im sozialen Kontext, welches - wie bereits im Theater des sogenannten grotesco criollo - mit der (neuen) gna-

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denlosen und obsessiven Frustration der 60er Jahre, ihren Ängsten und Enttäuschungen zusammentrifft. Darin schafft ein besonderer Realismus, mehr als eine Synthese oder einen sicheren Rückblick, eine Anklage mit im Prinzip so einfachen Techniken wie einer im Kern trivialen Dramatik (Pellettieri 1987). Er beweist dies durch die Verwendung einer Alltagssprache innerhalb eines sich linear entwickelnden Situationstheaters, welches einen unter der Anspannung stehenden Menschen (Zentrum) zeigt, die Unmöglichkeit seiner Selbstverwirklichung inmitten seines Umfeldes (Epizentrum) zu erkennen. Mit diesen Problemen theoretisiert Halac sein Engagement, das soziale Konsequenz einer Geschichte ist, deren Konstante eine Auflösung zeigt, trotz der kurzen Zeiträume (täuschender) Hoffnung der argentinischen Mittelschicht. Er verwendet Mythen, zeigt Irrtümer und Misserfolge, die unabänderlich zum Scheitern der Illusionen führen. Die Krisen sind anders, doch immer dieselben: und "so vergehen die Jahre". Seine - mehr oder weniger jungen, mehr oder weniger gebildeten - Antihelden stellen alle das geschlossene Ende einer Gesellschaft dar, in einem offenen Werk, das vor allem das ausweglose Offenkundige und Gefürchtete betont. Ein Drama vom Typ Pirandellos umgibt die Personen auf und außerhalb der Szene: Prätext und Meta text konzentrieren und definieren sich in der Begegnung (vermiedene, programmatische oder offene Nicht-Begegnung). Die Protagonisten verwandeln die Szene in einen großen (konzeptuellen) Raum und verkleinern sie gleichzeitig (Gefängnis) als NichtResultat, erbittert durch die dringende Notwendigkeit und zerstört durch die Inkommunikation. Ahnlich bewegt Halac auch gute Personen, verletzt (angegriffen, würde Pirandello sagen) durch einen Komplex an Unterdrückungen und Missverständnissen, die unerträglich werden. Es sind Individuen, die gezwungen wurden, sich in abwesender "Begleitung" zu bewegen, Wesen, die durch Konventionen eingeschränkt oder verschroben, durch Repressionen gehemmt waren. Dennoch stiften seine Werke weder große oder komplexe Handlungen, noch stützen sie sich auf den Überraschungseffekt. Im Gegenteil, der Zuschauer wird über die Vorgeschichte informiert und auch darüber, was außerhalb der Szene geschieht. Sprache, Situationen und Handlungen sind linear, und die zusätzliche Verminderung der szenischen Bewegung schafft ein Situationstheater, aus dem klar die ideologische Absicht hervortritt. Der Realismus - sei er Fin de Siècle, europäisch oder national - war nicht völlig aus dem Theater verschwunden; als Spiegel des Alltäglichen erneuert er seine Formeln periodisch mit unterschiedlichen Techniken, wie der Autor in seinen ersten Produktionen Fin de diciembre (Ende Dezember) und Estela de madrugada (beide 1965) zeigt. Sein Werk handelt davon, dass

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es für den Einzelnen unmöglich ist, sich in einer Gesellschaft zu realisieren, die ihn täuscht und frustriert. Geschichten, deren Parallelismus und Antithese auf (im Fluchtversuch oder in der Passivität) halberstickte Jugendliche treffen, welche als primären Referenzpunkt frustrierte Familien haben. Die Verwirrung und die Unreife (Soledad para cuatro) zeigen, wie sich äußere Umstände verinnerlichen, und enden mit den Träumen und den Möglichkeiten, die zurückbleiben oder die verschärfte Formen annehmen. Eine besondere Einsamkeit verbindet sie (Mensch-Person), und als Symbole einer unmöglichen Vereinigung werden sie zu einer unbegrenzten Zahl von Marginalisierten. Tentempié I und Tentempié II (Stehaufmännchen I und II, 1968) sind für Halac ein Angelpunkt seiner verschiedenen Entwicklungsstufen. Diese Werke erreichen die Irritation in den Situationen und in dem Benehmen ihrer Protagonisten - normalerweise in ihren Liebschaften und ihren Schicksalen antagonistische Paare - deren an die Anfänge von Gewalt und des Absurden angrenzende Aggressionen als beste Mittel resultieren, den inneren Sinn einer versteckten Realität zu zeigen, die präsent wird in der Typifizierung, die zur atypischen Zerstörung wird. Tentempié I oder La muchacha que no podía volar (Das Mädchen, das nicht fliegen konnte) "gehören zu den Werken, die ich selbst am liebsten mag", gesteht der Autor. Es ist nicht schwer, darin eine gewisse Intertextualität mit Recordando con ira (Erinnerung im Zorn) zu erkennen (Pellettieri 1993), wegen der unglücklichen Ehebeziehung eines verheirateten Liebhabers, der trotz seiner eigenen Ängste und der erdrückenden Forderungen seiner Arbeits weit mit einer Frau mitfühlt, die ihn nicht nur nicht liebt, sondern auch noch vor seinen Augen aggressiv hintergeht. Mit diesem Affront rächt sie sich für seine Unreife, seine nichtakzeptierte Frustration als Ex-boheme, an ihm, der ihre Träume nicht verwirklichen konnte und sich immer noch nicht entschieden hat (das Thema der Unzufriedenheit und der Nicht-Definierung ist ähnlich wie beim Protagonisten in Segundo tiempo, Zweiter Akt, 1976). Die Rebellion angesichts des Statischen konzentriert sich in diesem Fall auf die Akzeptanz des Lebens, die von dem Ehemann vorgegeben ist - obwohl dieser still Beharrlichkeit und Bemühen entgegenstellt im Bewusstsein der Schmach, die er durch doppelte Ungerechtigkeit erleidet: seine Arbeit und seine Frau. Mona ist eine Protagonistin, die sich weigert zu verstehen. An Gefühlen verzweifelt, greift sie das beste der Gefühle an; durch Einsamkeit entmutigt, obwohl es nicht bis zum Absurden oder zur offenen Psychose kommt, ist sie dennoch ein Beispiel für die Zerstörung eines Wesens, das von einer übermäßigen und aussichtslosen Rebellion in einen anderen Zustand des Unbewussten fällt: den der Akzeptanz oder Anpassung ohne Prozess und ohne Überlegung -, die zu einer neuen Option wird.

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Offensichtlich stehen wir vor einem offenen Ende, dem nur die flüchtige Möglichkeit, die dem Werk den Titel verleiht, gegenübersteht: Stehaufmännchen. Ein Stehaufmännchen ist jene Figur, die sich nicht alleine aufrechthalten kann (außerdem eine Anschuldigung, die Mona im Werk erhält). Tentempié II wurde vom Autor als Wendepunkt bezeichnet, und die folgende Periode sollte er (zufällig?) mit Segundo tiempo eröffnen. Dieses Werk bringt bemerkenswerte Fortschritte bezüglich der Handlung und der Technik, die zur Disharmonie bestimmter Varianten des reflexiven Realismus führen. Die dramatischen Vorgehensweisen, mittels derer Halac die Illusion von Leben erreicht ("eine Illusion der Realität, die den Zuschauer täuscht"), mit einer guten Handhabung des Trivialen, stellt schon eine Reduzierung des Zusammenstoßes (zwischen Absurdität und Traum) der Dialoge sowie den Einschluss moderner Techniken dar, wie der der Rückblende (Pelletieri 1993). Dieses wird sich in anderen Werken wiederholen und erlaubt ein eigenartiges Spiel, in dem Wesen und Zeiten sich vermischen und verwechselt werden. Der Wechsel der Ebenen realisiert sich zum Beispiel vor den Augen der Zuschauer, und eine reale Entdeckung des theatralischen Raumes wird die dem Camarero (Kellner) zugemessene Funktion sein: eine eigenartige Mischung aus Person und Choreograph, eine ungewöhnliche Schöpfimg, deren Überlegungen zu Zeit und Raum sich nicht in einem kurzen und anregenden Dialog erschöpfen, sondern den Diskurs über Illusion und Darstellung eröffnen. In einem "zweiten Akt" wird dieser Realismus in sein Gegenteil verkehrt und erscheint grotesk. "In El destete (Der Abgenabelte, 1978) mischt sich dieser Stil mit der Farce und dem Absurden und schließlich, in Un trabajo fabuloso (Eine wundervolle Arbeit, 1980), erscheint die Tragödie", synthetisiert Halac in einem Interview, und in der Tat kommt der Moment, in dem er die Elemente des Grotesken neu funktionalisiert. Die Werte dieser "Gattung" liegen in ihrer nützlichen und dramatischen Fähigkeit der Veranschaulichung - eine sehr argentinische Art der Katharsis - und werden im Prolog zu El avión negro (Das schwarze Flugzeug) auf dieselbe Art hervorgehoben, wie es auch andere Autoren machen werden. So erklärt Talesnik Lafiaca (1967): Ich versuche mittels des Humors die Entfremdung gewisser sozialer Beziehungen zwischen den Menschen auszudrücken, die den Protagonisten umgeben, und seine exaltierten Beziehungen vor Grenzsituationen zu beschreiben [...]; es gilt, den Naturalismus, den Verismus, den Psychologismus zu überwinden, um, ohne in die Tragödie zu fallen, den komischen Pathetismus einer Gattung zu erreichen, die ich, wenn ich auf lästige Klassifikationen zurückgreifen müsste, als grotesco bezeichnen würde.

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Ähnlich drückte es Roberto Cossa aus. Zweifellos wiederholt sich etwas trotz der unbegrenzten Distanz von Epochen und sozialen Krisen - in der neuen lokalen Dramaturgie und dem ewigen Raum der temporär-universellen Angst. Manche sozialen Perspektiven werden erneuert: Themen, wie die Auflösung der Familie, die Inkommunikation zwischen Eltern und Kindern, der Mangel an Arbeit und Berufschancen sowie sozial marginalisierte Wesen bewegen sich mit Normalität in Werken wie Lejana tierra prometida (Fernes gelobtes Land, 1981), El ruido de rotas cadenas (Der Lärm gebrochener Ketten, 1983) und La perla del Plata (Die Perle des Plata[-Gebietes], 1986); oder, als Folgeerscheinung einer völlig irreparablen Inkommunikation, beschäftigen Hass und Rassismus das Zentrum von Mil años un día (Tausend Jahre ein Tag, 1993). Für Halac, der sich intensiv mit der nationalen Realität auseinandersetzt, hieß es, "die Strukturen zu durchbrechen", um die andere Realität zu zeigen, u m zu beweisen, dass die Ängste und Täuschungen Produkt einer trügerischen Geschichte waren. Dafür brauchte er Techniken, die sich als vertrauenserweckend zeigen sollten und deren theatrale Didaktik sich als wirksam erweisen sollte, und so übernahm er kombinierte Formen des Grotesken und des Absurden. Das Publikum zu mobilisieren bedeutete nicht, es zu retten, sondern ihm zu zeigen, dass der Fehler nicht völlig an ihm lag. In El dúo Sosa-Echague, ähnlich wie im Film El baile (Der Tanz), stellt er dar, wie die Zeit vergeht, ohne dass etwas passiert. Nichts Wesentliches ändert sich. Sosa will unschuldig einen Tango schreiben, dessen erste Strophe - aus politischen Gründen! - von seinem geübten Kollegen zurückgewiesen wird. Ohne Überzeugung wandelt er sie ab, aber das Einzige, das er ändern kann, ist die Sprache, die ironisch auf die Veränderungen in der argentinischen Geschichte antwortet. Es handelt sich u m einen Kurzfilm, der die Wendungen von den Linken zu den Rechten, von Peronisten zu Antiperonisten, vom Populismus zum Elitismus zeigt, und in dem versucht wird, mit unterschiedlichen Posen und Sprachen das einzige auszudrücken, was man in den soziopolitischen Rahmen der Zeit sagen kann, die als Begrenzung für das Lächerlich-Parodische dient. Zwei Personen, zwei Inseln oder zwei Schiffbrüchige? möchte man sich fragen, weil sie nicht mehr und nicht weniger sind als die "Protagonisten", die dieses Duo bilden, das gestrandet in der Nutzlosigkeit der Positur, in vier Versen eines Tangos, die Sosa letztendlich und unerklärlicherweise nicht schreiben kann, überleben. Dieses Duo besteht aus mehr als nur zwei Personen: Es zeigt, dass die unverstandene Andersheit grundlegender Faktor der blinden Gesellschaft ist, in der sich die Singles gemeinsam verstecken. Ahnlich wie in Sartres Huis clos liegt die Hölle in der abwesenden Anwesenheit derjeniger, die da

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sind, und der Unterschied liegt in der zwanghaft unterdrückenden Anwesenheit derjeniger, die nicht da sind. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Roberto Cossa (*1934) Martina López Casanova und Mónica Garbarini Eines der Ziele einer jeden Generation, die ihre eigene Sprache sucht, ist die Neuformulierung des Theaters. Der Historiker erhält dadurch seinerseits die Möglichkeit, Veränderungen im (Theater-)System als einen Streit um Ästhetik aufzufassen.1 Dies kann genauso für die Auseinandersetzung des Kritikers mit dem Werk eines Dramatikers gelten, der sich zu einem gewissen Zeitpunkt seines Schaffens selbst gegen die Ästhetik seines früheren Werkes wendet. Siedelt man nun die individuelle Produktion in einem System an, dann überkreuzen sich die Lektüren: vom System zum Text und vom Text zum System; von der Generation zum Autor und vom Autor zu seiner Generation. Roberto Cossa, 1934 in Buenos Aires geboren, wird 1964 mit der Uraufführung von Nuestro fin de semana (Unser Wochenende) Teil des Theatersystems dieser Stadt. Das Theatersystem, das sich in den 60er Jahren entwickelte, bedeutete im Vergleich zu den damals geltenden Textualitäten eine Modernisierung. Sowohl der reflexive Realismus - Halac, Cossa, Somigliana, Rozenmacher - als auch der Absurdismus von Gambaro oder Pavlovsky brachen mit dem Realismus der Jahrhundertwende oder dem aufklärerischen Realismus eines Cuzzani oder Dragün (Pellettieri 1989, Iis.).

Der reflexive Realismus thematisierte die Problematik der städtischen Mittelklasse jener Zeit und entmystifizierte deren Weltsicht. Die Theaterstücke betrieben die Ernüchterung des Fortschrittsglaubens der argentinischen Mittelklasse, die an diesem Glauben festhielt, ohne zu sehen, dass die Gefühle zu Waren geworden waren und die Familie dem Verfall ausgesetzt war. In diesem Familienpanorama spiegelten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, und dementsprechend bestand der dramatische Raum oft aus dem eines Hauses. Die Dramatiker des reflexiven Realismus forderten ein Theater ein, das in Umgangssprache und mit klaren Worten von der eigenen Realität handelte.

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Diese Auffassung von Geschichte als Streit teilen wir mit Historikern, die nicht nur über Theater, sondern auch über andere ästhetische oder soziale Praktiken schreiben.

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Wir waren davon überzeugt, dass der Naturalismus eine Form war "national zu sein", eine Form, die nationalen Wurzeln wiederzuentdecken und aufzuarbeiten.2 Die so von Cossa beschriebene Wirklichkeitsnähe dieses Genres fasste Lilian Tschudi mit dem Begriff "Theater der Reportage" zusammen: Markierungen des Verstreichens der Zeit, die Nicht-Aktion als Struktur; Handlungen, die die leere Zeit füllen und auf der Ebene der Fabel über Sitten informieren; zu guter Letzt die Charakterisierung einer Konsumgesellschaft. Dies alles, einschließlich der Sprache, weisen auf die genaue Beobachtung unserer eigenen Gesellschaft hin und zeigen eben diese Inhalte als argentinisch auf, was durch einige direkte Anspielungen der Figuren vor allem in bezug auf die Bezeichnung von Orten und Plätzen noch unterstrichen wird; dies ist ein weiteres Indiz für die Dokumentation, die Reportage (Tschudi 1974,53). Die Ästhetik des reflexiven Realismus führte nicht nur eine Auseinandersetzung mit den vergangenen Formen des Realismus der Jahrhundertwende und des aufklärerischen Realismus, sondern auch mit dem gleichzeitig aufkommenden Absurdismus. Diese Auseinandersetzung bezog sich nicht nur auf Text und Bühne, sondern führte in jener Zeit auch zu einer beinahe obligatorischen Parteinahme der Kritiker, die selbst vor dem persönlichen Bereich nicht haltmachen. Cossa beurteilt diese Auseinandersetzung heute folgendermaßen: [Sie war] gut, nützlich, aber auch irrtümlich. Wir sind nicht so weit gekommen, den Wert und die Fehler beider Strömungen hinreichend zu erkennen, wir bezogen einfach zwei unterschiedliche Positionen, die recht starr waren. Auch von Seiten der Wissenschaftler gab es keine ausgleichenden Beiträge. Wir waren mitten im Streit. Aber er war nützlich. Eine Weile hat er mich paralysiert, aber danach hat er mir auch erlaubt, mich zu ändern. Nicht insofern zu ändern, dass ich keiner Mode mehr angehörte, sondern mehr, dass ich darüber reflektierte. Aber das haben wir jetzt hinter uns (Cossa 1995,1). Wir schließen uns der Ansicht Pellettieris an, dass "wir uns auch heute noch in der [...] ästhetisch-ideologischen Atmosphäre des Systems der 60er Jahre" befinden. Gerade deshalb ist es - mit der Erklärung von Cossa im Ohr - so wichtig, darauf zu insistieren, dass der Steit zwischen der Ästhetik

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Eine Erklärung von Roberto Cossa gegenüber den Verfasserinnen des vorliegenden Artikels in einem Interview im Januar 1995.

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des reflexiven Realismus3 und der Ästhetik des Absurden damals wechselseitig war. Texte, die eine Veränderung innerhalb der damals so starren realistischen Ästhetik signalisieren, sind Lafiaca (1967) von Ricardo Talesnik und El avión negro (1970) von Cossa, Talesnik, Somigliana und Rozenmacher. Für Cossa hatte die Erfahrung mit der kollektiven Autorschaft fundamentale Auswirkungen auf seine weitere Arbeit als Autor; El avión negro führte den notwendigen Bruch herbei, um La nona (Omafrisst, 1977) schreiben zu können: Ich betone immer die große Bedeutung der Gruppe, denn sie erzeugt Widerhall. So wie sie einen Vorschlag eingrenzt oder fordert, so hält sie ihn im Zaum. Wenn ich z.B. etwas mit Humor brachte, damit die Gruppe es akzeptierte, dann war das sehr nützlich für mich (Cossa 1995).

Im Gegensatz zu seinen früheren Stücken war der Humor in La nona ein ganz "neues" Element im Werk des Autors, der gleichzeitig von den Möglichkeiten, die der Realismus für das dramatische Genre bietet, bis heute fasziniert bleibt. Am Anfang von La nona stand ein Libretto, das Cossa 1971 für das Fernsehen verfasste. Erst später schrieb er es "völlig unvorhergesehen" zum ersten Akt des Theaterstückes um. Ich entdeckte damals die Fähigkeit, mich zu amüsieren, mit Humor zu schreiben, etwas, das in meinem ersten Stück vollkommen fehlte (Cossa 1995).

Die Fernsehversion des Stückes wurde 1971 nicht mehr gedreht und erst 1973 herausgebracht. Die Bearbeitung des Drehbuchs zum dramatischen Text und die Hinzufügung des zweiten Aktes lagen in der Anfangszeit der Militärdiktatur. Das Stück wurde in seiner bekannten Version 1977 uraufgeführt und war ein grosser Publikumserfolg. Der Humor ist in erster Linie in der grotesken Konstruktion einiger Figuren verankert, am deutlichsten in den Figuren des Carmelo, der Oma (die auch expressionistische Züge aufweist), des Chicho und Don Franciscos, deren Konstruktionsweisen sich aus dem argentinischen saínete herleiten.

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Die meisten Stücke von Cossa aus den 60er Jahren gehören dieser Strömung an: das bereits erwähnte Stück sowie Los días de Julián Bisbai (1966), La pata de la sota (1967), sowie auch noch Tute cabrero (1981), denn "1981 fand mit Tute cabrero eine Rückkehr zu der eigentlich bereits überholten Form statt, da es sich in diesem Fall um die Übertragung eines Drehbuches desselben Autors handelt, das 1965 herausgebracht wurde" (Ordaz 1982).

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Elemente aus dem grotesco criollo sind in der Art, wie die zwei Akte miteinander verbunden sind und in der Wirkung ihrer Wechselbeziehung wiederzufinden. Im Vergleich zu der Fernsehfassung, in der die Komik einen eher heiteren und ungebrochenen Charakter hat, wirkt das Theaterstück durch die Hinzufügung des zweiten Aktes auch beklemmend. Die Gefräßigkeit der Alten, die an nichts anderes als nur an Essen denkt, erzeugt auch hier ein Lachen, aber eines, das in der Kehle stecken bleibt. Denn erst im zweiten Akt wird auch die Angst thematisiert, die durch die allmähliche Zerstörung der Familie durch Tod oder - wie im Fall von Maria - durch Flucht immer vorherrschender wird. Das der Grotesken eigene Pathos entsteht hier nicht nur aus der Wiederholung der Konfliktsituation in den beiden Akten, sondern wird im zweiten Akt sogar noch durch dramatische Übertreibung gesteigert. Die Vermischung der Elemente aus dem sainete und des Grotesken in La nona führt zu einer Erneuerung des reflexiven Realismus auf der Ebene der dramatischen Konstruktion. Damit wird gleichzeitig ein neues Licht auf die Frage nach der Bewertung des "nationalen Charakters" dieses Theaterstückes geworfen, denn nicht nur die Thematik des Stückes, sondern auch seine Poetik müssen als authentisch bezeichnet werden. Der naturalistische Stil des reflexiven Realismus ist durch eine Mimesis gekennzeichnet, in der Zeichen und Bedeutung zusammenfallen. In La nona jedoch wird dieses Verfahren durch die Anwendung der Mittel der Übertreibung und der Metapher ersetzt, so dass auch die theatralisch bedingte Fiktionalität thematisiert wird, und zwar nicht nur in der Verkörperung der Alten, sondern auch im Aufbau der Situation und des Konflikts. Da La nona das erste Stück von Cossa ist, in dem er diese neuen Elemente verarbeitet, waren die Kritiker, die auf die Analyse der Aufführungen und Stücke des reflexiven Realismus eingeschworen waren, offensichtlich nicht in der Lage, trotz der auffallenden Veränderungen den metaphorischen Charakter des Textes zu sehen und haben ihn jeweils nur in einzelnen Bedeutungszusammenhängen interpretiert. Die Kritiker vermieden in der Zeit der Militärregierung von Videla jede Referenz auf den politischen Kontext, in dem das Stück entstand und aufgeführt wurde. Ursachen dafür mögen einerseits die alte Gewohnheit, nur einen einzigen Bedeutungszusammenhang herzustellen und andererseits die Notwendigkeit, eine politisch allzu kritische Interpretation zu vermeiden, gewesen sein. Das Verschwinden der Familienmitglieder der Oma wurde nicht mit dem tatsächlichen Verschwinden vieler Menschen zur Zeit der Repression in Verbindung gebracht. Das konnte man nicht, und das wollte man auch nicht.

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Im Gegenteil, ein Kritiker der Tageszeitung La Nación zum Beispiel versetzte die "Zerstörungsmaschine" Oma zurück in die Vergangenheit: La nona ist zweifelsohne ein Symbol. Es ist der Verfall, das Unproduktive. Es ist das Vergangene, das die Gegenwart hemmt und die Zukunft zerstört (La Nación, 30.6.1977).

Und in der Tageszeitung La Prensa lautete die Einschätzung folgendermaßen: Das Stück handelt vom Konsumverhalten der gegenwärtigen Gesellschaft und der unaufhörlichen Steigerung des Lebensstandards. Der Versuch, diesen Standard zu erhalten, zerstört die Familie und die junge Generation.4

Diese Interpretation des Stückes steht der Feststellung des Kritikers gegenüber, der meint: "La nona ist ein authentisches Theater des Absurden." Die Kritik hat zwar die thematischen und die genrespezifischen Aspekte von La nona in ihren Interpretationen berücksichtigt, hat diese beiden Aspekte aber nicht oder nur geringfügig aufeinander bezogen. Wenn zum Beispiel La nona wie im Falle von La Prensa als Theater des Absurden aufgefasst wird, dann werden die Gründe für diese Einschätzung nicht erklärt. Ebensowenig stellt die Zeitungskritik einen Zusammenhang zwischen Produktionsbedingungen, Genre und Bedeutungsinhalt des Stückes her. Das Publikum, von Cossa "irgendein kultiviertes Publikum" genannt, reagierte ganz ähnlich wie die Kritiker. Die große Mehrheit zeigte keinerlei Interesse an der Frage des Genres. Seine einzige Reaktion war "Empörung, wenn es einmal hieß, La nona sei ein saínete" (Cossa 1995). Und doch war La nona ein außerordentlicher Erfolg. In den ersten Monaten füllte das Theater Lassalle jedes Mal seine 500 Plätze, und samstags gab es zwei Vorstellungen. Danach ging die Aufführung auf eine besonders erfolgreiche Tournee. Seitdem La nona 1991 auf die Bühne von Buenos Aires zurückgekehrt ist, herrscht bei der Kritik, im Gegensatz zu früheren Reaktionen, Einigkeit darüber, dass das Stück die Situation des Landes während der Militärdiktatur thematisiert. Wieder einmal wird die Vieldeutigkeit des Metaphorischen einer einzigen Sinngebung zuliebe negiert, wobei aber auch hier die theatralische Praxis nicht unberücksichtigt bleibt. Diesmal wird es dem Teatro Abierto zugeordnet, weil es die politischen Zustände denunziert, 4

Kritik der Uraufführung vom 13.7.1977, zitiert nach dem Archiv der Biblioteca de ARGENTORES.

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und die traditionelle Kritik beharrt auf der realistischen These, indem sie das Theater als Sprachrohr des sozial-politischen Engagements auffasst. Aber auch diese Interpretation, die das Stück ausschließlich in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umständen erklärt, wird ihm nicht gerecht, denn sie berücksichtigt nicht seine auf Metaphern und Übertreibungen beruhende Konstruktion. Ohne die Bedeutung des politischen Kontextes der Militärregierung bei der Entstehung des Stückes schmälern zu wollen, wäre es doch zumindest notwendig, diesen Zusammenhang - Tinianov folgend - ausgiebig zu untersuchen. Wollte man darüberhinaus die Bedeutung des Stückes in bezug auf seine Konstruktion und seinen Platz im Theatersystem analysieren, müsste man zunächst den Fragen nach der konstruktiven Funktion und der dramatischen Funktion (Tinianov spricht in diesem Fall von der literarischen Funktion) nachgehen. Die Konstruktion von La tiotia wird vor allem durch die Ersetzung der Eindeutigkeit (kennzeichnend für den reflexiven Realismus) und durch das Metaphorische (kennzeichnend für den Avantgardismus) charakterisiert. Genauer gesagt handelt es sich beim Avantgardismus sowohl um Formen des Expressionismus, der durch die Anwendung der Elemente der Übertreibung und Vergröberung auch mit der Ästhetik des Grotesken verglichen wird, als auch um Formen des Absurden, das vollkommen mit der direkten Referenzialität und der expliziten Kausalität des reflexiven Realismus bricht. Die Bedeutung des Stückes wird so um eine Konnotation bereichert, die sich nicht wie im Realismus hinter einer illusionistischen Wirkung versteckt, sondern sich in einer Sprache ausdrückt, die ihre eigene Konnotativität hervorhebt. Wenn also behauptet wird, dass die Gefräßigkeit der Oma sich einzig und allein aus dem einen oder anderen realen Kontext erklärt (Egoismus der Alten, die Vergangenheit, die militärische Repression, der Imperialismus oder die patriarchalische Familienstruktur), dann wird ein ganzes Feld an möglichen Deutungen zugunsten einer einzigen nicht berücksichtigt. Auch die positive Rezeption des Stückes von Seiten der Schüler, die die Etappe der Militärdiktatur nicht miterlebt haben, oder auch in Ländern, wo es keine vergleichbare Militärdiktatur gab, beweisen die Transzendenz des Konfliktes in La tiona. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, dass die Idee der Vieldeutigkeit des Stückes in der Zusammenfassung vieler möglicher Einzelinterpretationen bereits in der ersten Inszenierung des Textes in der Regie von Carlos Gorostiza zum Ausdruck kam. Gorostiza hat Cossa zufolge damals schon die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten in seiner Inszenierung aufgegriffen und gezeigt, dass "die Oma dasjenige ist, was uns verschlingt" (Cossa 1995). Die Bedeutung des Pronomens "dasjenige"

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entspricht auf sprachlicher Ebene dem metaphorischen Diskurs des Stückes. Die semantische Mehrdeutigkeit korrespondiert auch mit der theatralischen Konstruktion der Figur der Alten. Sowohl in der Uraufführung 1977 als auch in der Fernsehfassung, sowie in der Aufführung von 1991 und in weiteren Aufführungen in Ländern, wie Peru und Frankreich, wurde die Rolle der Oma von einem männlichen Schauspieler gespielt. So wird dem mythisch weiblichen Charakter des "Großmütterleins", das in der Beschreibung von Chicho folgendermaßen dargestellt wird: Oma... das weiße Haupt wie ein Acker im Mondenschein... Und diese Falten da... Furchen gezogen mit dem Pflug der Zeit. [...] Oma, erinnerst du dich noch, wie du mit mir auf dem Platz spazieren gegangen bist? [...] Ein Kind, das die Welt am Schürzenzipfel der Großmutter entdeckte (Cossa 1993,86).

die Ambiguität des Geschlechts hinzugefügt (dieses "Großmütterlein" trägt für das Publikum das Gesicht des Schauspielers), das als konnotativer Signifikant auf ikonische Weise weitere Ambiguitäten ausarbeitet, die die Lektüre des Textes zulässt. In ähnlicher Weise funktionieren bei dieser Figur die Anwendimg und die Unterlassung des Wortes, das Schweigen. Sie spricht nur, wenn sie etwas haben will oder um zu protestieren, wenn ihr etwas versagt wird. Sie spricht niemals, um etwas zu geben, nicht einmal ein Wort. Die Oma ist nicht nur in bezug auf ihre Unersättlichkeit gefräßig, sondern auch in bezug auf ihre Sprache, die angefangen bei der Frage ("Habt ihr keinen Keks?") bis hin zur nominalen Konstruktion, die anzeigt, was ihr gegeben werden muss ("ein Brot!", "das Dessert"), als Appell konstruiert ist. Diesen fordernden Imperativ umgibt ihr Schweigen, und abgesehen von den grenzenlosen Forderungen besteht keine andere Möglichkeit der Kommunikation. Wenn man genauer betrachtet, was sich entsprechend zur Figur der Oma hinter der Handlung und der Sprache auch in den weiteren Figuren verbirgt, dann entdeckt man, dass Caramelo, der alles gibt, sogar sein Leben, auch bittet - in seinem Fall um Hilfe; Chicho ist derjenige, der ihn dazu bringt, diese zu fordern; Don Francisco entgeht den Schachereien mittels einer Heirat - ein Betrug, durch den er schließlich selbst betrogen sein wird. Die Frauen - ganz eindeutig Frauen -, Anyula, Maria und Marta, führen drei verschiedene Arten weiblicher Ergebenheit in ihrem Schicksal vor: Anyula, die Tochter der Alten, lebt und stirbt für die Mutter. Sie ist die alleinstehende Tochter, die ihre eigenen Interessen auf dramatische Weise negiert, da sie den Mann, den sie immer geliebt hat, niemals heiraten wird. Sie trinkt das Gift, das die Familie für die Mutter bestimmt hatte und

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verhindert ihren Tod, indem sie selbst stirbt. Maria, die Ehefrau von Carmelo, kann sich am wenigsten dem katastrophalen Ende derjenigen entziehen, die in das Blutband dieser "Zerstörungsmaschine" verstrickt sind. Sie verlässt die Bühne, als kein Familienangehöriger mehr übrig ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie nichts anderes getan, als ihren Ehemann darin zu unterstützen, Hilfe anzubieten und um Hilfe zu bitten. Und schließlich ist da die junge Prostituierte Marta, eine Figur, die eine enge Verwandtschaft mit der Immigrantenfamilie aus dem traditionellen sainete der zweiten Generation (Pellettieri 1991), das sich aus dem grotesco criollo herleitet, aufweist. Auch sie stirbt, nachdem sie alles gegeben hat. In ihrem Fall drückt sich "alles geben" aber nicht nur im Tod, sondern auch in der Prostitution selbst aus. Die patriarchalische Sprache dieser Familie italienischer Einwanderer funktioniert als Regulator eines Systems, in dem der Mann am Kopfende der kollektiven Produktionskräfte zu stehen hat. Carmelo wird dieser Rolle, gehorsam unterstützt von seiner Frau, gerecht. Aber er scheitert. Chicho, der "Alleinstehende", der ihr nicht gerecht wird, scheitert ebenfalls. Auf der anderen Seite dieses Systems, auf der des Konsums, steht eine monstruöse Gestalt, eine gespenstige Mischung aus Mutter und Vater, die Stimme der Forderung "gib!". Für ihr Dasein wird keinerlei Erklärung geliefert, nicht einmal die, "die Schlechte" zu sein. Aber nach und nach werden alle Familienangehörigen von ihr ausgelöscht. Das Stück nimmt im argentinischen Theatersystem einen ganz besonderen Platz ein, weil es die Auseinandersetzung zwischen dem reflexiven Realismus, dem Realismus der Jahrhundertwende und dem aufklärerischen Realismus auf der einen Seite und dem Theater des Absurden auf der anderen Seite, einen wesentlichen Schritt weiterbringt. Der metaphorische Diskurs erhält dadurch eine neue Funktion, dass La nona mit der buchstäblich toten Metapher arbeitet: Die Gefräßigkeit des Verlangens und die der Macht verwandeln sich in eine konkrete Gefräßigkeit des "Essens": Die Mahlzeit als "Treffpunkt für die Familie" (Cossa 1995) ist das Handelsobjekt, das die einen geben und die anderen nehmen. Obwohl sich die Familie schließlich vornimmt, die Oma zu vernichten, wendet sich dieses Vorhaben gegen sie, weil sie sich nicht entschließen kann, die Gesetze des Systems von Geben und Nehmen zu verändern. Die Dialektik von Opfer und Täter, weit entfernt davon, durch die Vertauschung der Rollen untergraben zu werden, nährt sich dadurch selbst. Auf diese Weise zeigt sich im Theatersystem von Buenos Aires der Umschwung von der sauberen Trennung zwischen Realismus und Theater des Absurden hin zu einer Vermischung in einer Ästhetik, die man "hybride" nennen könnte. Eine ähnliche Annäherung wie beim reflexiven Realis-

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mus lässt sich im Theater des Absurden beobachten. Seit Dar la vuelta (1972) von Griselda Gambaro "setzt auch die realistische These" (Pellettieri 1989) im Theater der Autorin ein, indem sie die lokale Sprache als absurde anwendet. Das Werk von Cossa besteht außer den bereits genannten aus folgenden weiteren Stücken (im folgenden jeweils mit Angabe des Jahres ihrer Uraufführung): La ñata contra el libro5 (Mädchen gegen Buch, 1966); No hay que llorar (Kein Grund zu weinen, 1979); El viejo criado (Der alte Diener, 1980); Gris de ausencia (Das Grau der Abwesenheit, aufgeführt 1981 im Rahmen des Teatro Abierto); Ya nadie recuerda a Frédéric Chopin (Keiner denkt mehr an Frédéric Chopin, 1982); El tío loco (Der verückte Onkel, 1982 im Teatro Abierto); De pies y manos (Von Füßen und Händen, 1984); Los compadritos (Die Kameraden, 1985); Tartufo (Adaption) (1986); Yeoeti (1987); El Sur y después (Der Süden und danach, 1987); Angelito (1991); Viejos conocidos (Alte Bekannte, 1994). Trotz aller Unterschiede lässt sich ein gemeinsamer Tenor dieser Stücke6 feststellen, der in erster Linie im Aufbrechen der Grenzen von Raum und/ oder Zeit besteht. In Gris de ausencia zum Beispiel findet das Aufbrechen der Grenzen von Zeit und Raum aus der Sicht der Figur des Großvaters statt. Durch seine geistige Verwirrung erhalten Raum und Zeit eine übergeordnete Dimension, die den gesamten Text prägt. So wird auch das letzte Wort des Textes vom Großvater gesprochen, für den das ferne "Italien" und das "Jetzt seines Alters" in der Gegenwart stattfinden, in ständiger Verwechslung mit dem Buenos Aires von nun, seinem vormaligen "Leben in Buenos Aires" und "seiner Kindheit in Italien". Diese Verschiebung von Ort und Zeit setzt sich in den anderen, entwurzelten Figuren fort, z.B. in der Sequenz des Telefongesprächs, das Lucia und Frida mit Martin führen, der aus London anruft. Auch wenn behauptet wird, dass die Stücke von Cossa eine realistische These vertreten, darf nicht übersehen werden, dass die Konstruktion ihres gemeinsamen Topos in der Brechung der räumlich-zeitlichen Ord-

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Dieses Stück zeigt bereits eine besonders frühe Übereinstimmung mit dem nichtrealistischen Theater. Dennoch ist dieser Text bis heute von den Kritikern noch nicht als Vorläufer der ästhetischen Kreuzung genannt worden. Möglicherweise erklärt sich das mit dem geringen Echo, das dieses Stück im Vergleich zu El avión negro, als kollektives Stück und La nona, als individuelles Stück, erhalten hat. Außerdem erscheint das Stück im Rahmen der Gesamtproduktion von Cossa in den 60er Jahren als Einzelfall, der die Linie seines Stils nicht wirklich durchbricht. Mit Ausnahme von Viejos conocidos, das noch nicht publiziert ist, und Tartufo, das als Adaption im Vergleich mit dem Stück von Molière betrachtet werden muss.

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Martina López Casanova und Mànica Garbarini

nung auf die Kreuzung verschiedener ästhetischer Richtungen und verschiedener "Zeiten des argentinischen Theaters" zurückzuführen sind. Deutsch von Kati Röttger

Bibliographie Theater Cossa, Roberto. 1966. La ñata contra el libro (Mädchen gegen Buch). —. 1979. No hay que llorar (Kein Grund zu weinen). —. 1980. El viejo criado (Der alte Diener). —. 1981. Gris de ausencia (aufgeführt 1981 im Rahmen des Teatro Abierto) (Das Grau der Abwesenheit). —. 1982. Ya nadie recuerda a Frédéric Chopin (Keiner denkt mehr an Frédéric Chopin). —. 1982. El tío loco (Teatro Abierto) (Der verrückte Onkel). —. 1984. De pies y manos (Mit Füßen und Händen). —. 1985. Los compadritos (Die Kameraden). - . 1986. Tartufo (Adaption). —. 1987. Yeoeti. —. 1987. El Sur y después (Der Süden und danach). —. 1989. Teatro 1; mit Nuestro fin de semana (Unser Wochenende), Los días de Julián Bisbai (Die Tage mit Julián Bisbai), La pata de la sota (Der Fuß der Dirne) und Tute cabrero (Nichts als Arbeit). Buenos Aires: Ediciones de la Flor. —. 1989. Teatro 2; mit El avión negro (Das schwarze Flugzeug), La nona (Dt. La Nona - Omafrisst. Übers, von Yvonne Sturzenegger. In: Theaterstücke aus Argentinien 1993, 79-124) und No hay que llorar. Buenos Aires: Ediciones de la Flor. —. 1990. Teatro 3; mit El viejo criado, Gris de ausencia, Ya nadie recuerda a Frédéric Chopin, El tío loco, De pies y manos, Yeoeti und El Sur y después. Buenos Aires: Ediciones de la Flor. —. 1991. Teatro 4; mit Angelito, Los Compraditos, und Tartufo. Buenos Aires: Ediciones de la Flor. —. 1991. Angelito. —. 1994. Viejos conocidos (Alte Bekannte). Studien Bakhtin, Mikhail M. 1986. Formas del tiempo y del cronotopo en la novela. In: id. Problemas literarios y estéticos. La Habana: Arte y Literatura.

Roberto Cossa

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Barthes, Roland. 1970. El efecto de realidad. In: id. Lo verosímil. Buenos Aires: Tiempo Contemporáneo, Comunicaciones. Jakobson, Roman. 1982. Dos aspectos del lenguaje y dos tipos de trastornos afásicos. In: id.; Morris Halle. Fundamentos del lenguaje. Madrid: Ayuso. Ordaz, Luis. 1982. El Teatro Independiente. In: id. Historia de la Literatura Argentina, Band V. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina. Pellettieri, Osvaldo. 1989. Estudio preliminar. In: Eduardo Rovner. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. —. 1991. Cien años de teatro argentino, del Moreira a Teatro Abierto. Buenos Aires: Galerna. Tynjanov, Jurij. [1968] 1987. El hecho literario. In: id. Avanguardia e tradizione. Bari: Dedalo libri. —. 1991. Sobra la evolución literaria. In: Tzvetan Todorov (Hg.). Teoria de la literatura de los formalistas rusos. México: Siglo XXI. Tschudi, Lilian. 1974. Teatro argentino actual (1960-1972). Buenos Aires: Fernando García Cambeiro.

Germán Rozenmacher (1936-1971) Jorge Hacker Wenn wir zu irgendeiner Gelegenheit über die Bedeutung und Tragweite der "jüdischen Diaspora" im 20. Jahrhundert nachdenken wollten, würden uns sicher Leben und Werk von Germán Rozenmacher im Buenos Aires der 50er und 60er Jahre hilfreich sein. Er starb jung, so wie viele andere Künstler auf dieser Welt, die mit dem Leben einen tödlichen Kampf führen. Sein Phantasma, wie das von Kafka in Prag, folgt seinem Schritt durch die nächtlichen Straßen der Stadt, auf der Suche nach den Schlüsseln zu seiner Entwurzelung, dem Bekenntnis zu verschiedenen Wurzeln, den Kämpfen um eine Identität, die ihm einen eigenen kreativen Raum und eine größere Freiheit einräumen sollten. Als direkter Nachkomme der jüdischen Emigration aus Zentral- und Osteuropa zu Beginn des Jahrhunderts, wuchs er im Once,1 dem Bezirk der Kleinhändler, Schneider und rituellen Läden von Buenos Aires auf, wo sich die russischen und polnischen Ashkenasis niedergelassen hatten, welche versuchten, in der neuen Kultur Fuß zu fassen und gleichzeitig die alten aus den Ghettos und Dörfern der slavischen Diaspora überlieferten Traditionen beizubehalten. Das Grundproblem dieser Familien lag darin, ihren Kindern eine Zukunft und eine Position in der Gesellschaft zu ermöglichen, ohne ihre Ursprünge zu verleugnen. Rozenmacher war einer der wenigen seiner Schriftstellergeneration, der sein Universitätsstudium der Geisteswissenschaft beendet hatte - einen Titel zu besitzen war ein weiteres Mandat der immigrierten Familien, welches dank der Opfer des Vaters, eines rituellen Kantor (Sängers) erreicht werden konnte, der ihm in seiner Stimme den Schmerz und die unerbittliche Mystik der Synagoge, eine Mischung von Zärtlichkeit und Strenge, vererbte. Mit seinen eigenen Worten bezeichnete sich Rozenmacher "überall auf halbem Weg" und "zwischen armen Teufeln und Intellektuellen" befindlich und qualifizierte sich als "hässlich, Jude, Taugenichts, unorganisierter und langmütiger Bohéme und sentimental", letzte Eigenschaft als Anspielung auf sein Dasein in der Welt mit einem ideologischen Engagement. 1

11 de septiembre: Stadtteil v o n Buenos Aires mit traditionell vorwiegend jüdischen Bewohnern. Der Name erinnert an eine lokale Revolution v o n 1852. (Anm. d. 0 . )

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Jorge Hacker

Zwischen mehr als unvereinbaren Polen, wie Zionismus und Peronismus, hin- und hergerissen, war er einer von denen, die sich ständig selbst diskriminierten, und er konnte sich nur mit der kritischen und progressistischen Position der realistischen Dramatiker der 60er Generation identifizieren: Cossa, Somigliana, Halac und Talesnik, mit denen er El avión negro (Das schwarze Flugzeug) schuf, ein Schauspiel mit kurzen Szenen, in denen man sich die zum damaligen Zeitpunkt phantastische Rückkehr von Juan Domingo Perón, des 1955 gestürzten großen Exilierten der 60er Dekade, vorstellte. Das Werk von Germán Rozenmacher geht von der Kurzgeschichte zum Theater. Seine erste Kurzgeschichtensammlung, Cabecita negra (Schwarzes Köpfchen, 1962), weist stark autobiographische Züge auf, welche sein zweites Buch, Los ojos del tigre (Die Augen des Jaguars, 1967), unterstreichen sollte, und was bereits durch die Aufführung seines ersten Theaterstückes Réquiem para un viernes a la noche (Requiem für einen Freitagabend, 1963) Form angenommen hatte. In letzterem zeigt er die Spannung und den Bruch zwischen seiner Generation und der seiner Eltern in der Allegorie eines jüdischen Hauses in Buenos Aires. Er brachte es zu zwei weiteren Aufführungen, beide in Buenos Aires: Simón, el caballero de Indias (Simon, der Ritter der Indias) im Theater Tabaris 1982 und El Lazarillo im Theater IFT 1971, letzteres eine szenische Adaptation des spanischen Romans El Lazarillo de Tormes. Das ist alles, was uns von ihm erhalten geblieben ist, denn wie Kafka scheint er mehr verbrannt als hinterlassen zu haben. Diese fünf Publikationen, zwei Bände von Kurzgeschichten und drei Theaterstücke, reichten aus, um ihm einen festen Platz in der argentinischen Literatur einzuräumen. Betrachten wir zunächst Réquiem para un viernes a la noche näher, ein für sein Engagement und seine Besonderheit hoch gelobtes Werk, wie es Perla Zayas de Lima (1992) in ihrer ausgezeichneten Analyse der Objekte symbolische Boten für ein Leben der Kollektivität und einer Liturgie, die über die bisherige Tradition hinausgeht, um neue Niveaus der Identifikation zu erreichen - darstellt. Réquiem para un viernes a la noche basiert auf einer glaubhaften und nachvollziehbaren Wahrheit und könnte dem perfektesten Naturalismus zugeschrieben werden, wären da nicht die Zeiten und Rhythmen, die Art der Anordnung der Szenen, die Struktur des Stückes, die Spannimgssteigerungen. Rozenmacher eignet sich den realistischen Naturalismus bewusst an und sieht ihn nicht immer als Begrenzung; seine Suche nach Momenten der Zärtlichkeit und Entdeckung des Menschlichen ist sehr intelligent. "Ich will", wie Tschechov sagte, "ein korrektes Bild der Realität geben."

Germán Rozenmacher

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Requiem para un viernes a la noche besteht aus einem Prolog mit dem Titel "Requiem", in dem das Stück und die Personen vorgestellt werden, u n d neun Szenen, die die Handlungsstränge verwirren u n d z u m Konflikt führen, bis zu einem Ende, wie man es in der perfekten modernen Tragödie findet mit seiner Katharsis von Schrecken und Leidenschaft. In der ersten Szene von Requiem para un viernes a la noche sehen wir das Ess-/Wohnzimmer der Familie Abramson an einem Freitag zur Stunde des Sabbatessens. Leie, die Mutter, richtet das Zimmer her, u m den Festtag zu empfangen; die Kerzenleuchter sind schon angezündet; Onkel Max, der gerade seinen melancholischen Operettenprolog vorgesungen und -getanzt hat, kommt auch dazu; und sie warten auf den Vater, den Kantor Sholem, der gerade in der Synagoge den offiziellen Sabbatgesang gesungen hat, und der nun beim feierlichen Essen am Freitag Abend Tischvorsitz hat. Alle versuchen, die schreckliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn am Vorabend zu überspielen. Offensichtlich hat David, der 26-jährige Sohn aus der Ehe von Sholem und Leie, seinem Vater mitgeteilt, dass er mit Maria verlobt ist, einer nicht-jüdischen jungen Frau, und sie heiraten will. Er wartet nur mehr auf sein Gehalt in einer Schneiderei, in der er acht Stunden am Tag arbeitet. Außerdem schreibt er an einem tausendseitigen Roman. Sholem behandelt ihn als Vagabund und Träumer, und wirft ihm seine Beziehung vor, an die er nicht glaubt, sondern sie für einen riesigen Verrat hält; er hält ihm vor, kein gehorsamer Sohn zu sein, der die Autorität seines Vaters respektiere und sich an die Vorschriften der Familientradition halte. Der Diskurs von Sholem ist vom Vorurteil geprägt und engstirnig, in dem der Antisemitismus hervorsticht und die Unmöglichkeit einer Integration oder Assimilation, da diese bedeuten würden, seine Meinung zu ändern. Inmitten einer Konversation, welche die schwerwiegende Bedeutung der Situation überspielt, lassen das Ehepaar und Max die Zeit vergehen, während David mehr u n d mehr auf sich warten lässt. Als er endlich kommt, ist es spät, und die Spannungen, die durch die Täuschungen der Mutter und die Ablenkungsmanöver von Max und die wachsende Bitterkeit von Sholem noch gestiegen waren, schaffen die Atmosphäre zur endgültigen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Bei seiner Ankunft befindet sich David inmitten der Spannung, die aus den Diskussionen u m seine Abwesenheit entstanden ist. Bis z u m Ende des Werkes verteidigt David seinen Entschluss als notwendig, aus diesem engen Leben im geschlossenen Familienkreis und mit der Inflexibilität des Vaters einen Ausweg zu finden. Seine Entschuldigungen werden nicht akzeptiert, seine leidenschaftliche Verteidigung wird zurückgewiesen:

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Jorge Hacker SHOLEM: Schämst du dich meiner, dessen, was du bist? DAVID: Nein, Papa. Wie könnte ich mich schämen? Wenn es so viele Dinge an dir gibt, die ich so sehr mag. Nein, du verstehst mich nicht... Siehst du nicht, wie ich hier herinnen ersticke? Was ist in diesem Haus? Ich komme hier herein und fühle mich wie in einer anderen Welt, überall auf halbem Weg bin ich nichts, ich bin niemand. Ich habe genug davon, halb jiddisch und halb spanisch zu sprechen. Ich habe genug davon, den ganzen Tag von Dingen zu sprechen, die mich nicht mehr interessieren, in der Vergangenheit zu leben, ein Ausländer zu sein! Ich öffnete die Fenster,. Vater, ich ging auf die Straße hinaus, ich richtete meine Augen auf diese Welt, auf diese Menschen, mit denen wir leben, auf diese Stadt, in der ich geboren wurde und die meine Stadt ist! Was willst du, dass ich machen soll, wenn ich anders bin als du? Glaubst du, mir tut das nicht weh? Ich bitte dich um nichts Außergewöhnliches, Papa. Ich respektiere das alles, aber ich bitte dich, dass du mich mein Leben leben lässt (46).

So geht das Plädoyer von David weiter, das wieder und wieder von dem Vater zurückgewiesen wird (auch hier wiederum ein Parallelismus mit Kafka), der ihn als gescheitert bezeichnet und ihn beschuldigt, die Werte des Blutes und der Rasse zu verwerfen: SHOLEM: Fühlst du denn nicht, dass dieses Blut dein Blut ist, das deiner Brüder? Fühlst du nicht dieses Blut und all die Tränen, die sich in diesen Wänden aufbewahren? Weisst du denn nicht, dass du es nur einem Zufall verdankst, dass du lebst, dass, wäre ich nicht hierher gekommen, du und ich und wir alle tot wären? Es gibt so viele jüdische Mädchen. (Vorwurfsvoll) Warum gerade diese? (46)

Die beiden beharren auf ihren Argumenten, bis zur Gewalt der letzten Umarmung und des letzten Zurückstoßens, in dem Sholem seinen Sohn verflucht. David hat ihm seine große Liebe erklärt, verlässt das Haus, nachdem er sich mit den Augen und mit den Fingern von den Gegenständen verabschiedet, geht hinaus. Hinter sich hört er die Stimme des Vaters, der einen kleinen hoffnungsvollen Ruf in seiner Strenge als alter konservativer Jude von sich gibt: SHOLEM: "Nimm den Schal mit" (49). Aber wie in den guten Dramen endet das Werk nicht mit dem Tod des Protagonisten. Es gibt eine Schlussszene, einen Epilog. Darin erkennen alle die Realität an, stellen die kulturelle Instanz wieder her ohne zu moralisieren, und das Leben geht weiter. Sholem weiht den Feiertag und den Wein, Leie vergisst schnell ihr Leiden als Mutter, und Max, der Erzähler, beendet die Geschichte, indem er den Regen anschaut und ein Wiegenlied auf jiddisch anstimmt, in dem die süße Fatalität der menschlichen Tragödie besungen wird. Die Kerzen gehen vor den Spiegeln aus, erzählt Rozenma-

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eher. Er hat ein schreckliches und schönes Theaterstück geschaffen, das in der universellen Dramaturgie bestehen bleiben wird, da es in seiner Thematik universell ist; seine Beispiele sind austauschbar. Buenos Aires ist eine der vielen Städte, die im 20. Jahrhundert Schauplatz von Konflikten der Diaspora waren, von den Wirklichkeiten der tausenden Davids, die für neue Identitäten gegen die alten Traditionen kämpfen, die ihnen ein erfülltes Leben unmöglich machen. Das zweite Theaterstück, das wir eingehender betrachten werden, ist Simón, caballero de Indias. Hier sucht das autobiographische Element eine magische Poesie. Die Sage des Nachkommens von Konquistadoren, Simón Brumelstein, erzählt, wie der Schmuckhändler der "russischen" Straße Libertad in Buenos Aires sein Recht auf Leben fordert; seine Träume als Nachkomme von Konquistadoren ebenso verletzt durch das Vergessen wie durch seine Erinnerungen an Folterungen. Er lässt sich im 5. Stock eines Kolonialhauses nieder, flieht vor seiner Familie und seiner Verantwortung, um seiner Paranoia als Ritter der Indias2 nachzugehen. Eine Goldmine und eine Galeone seiner Ahnen, der Brumelsteins, sind die Basis seines Reiches "Chantania" - Reich der Täuschung und des Schwindels. Dort liest er Spinoza, hat eine Liebschaft mit Guadelupe, der Besitzerin des Hauses, studiert den Talmud unter dem Kreuz und kleidet sich wie ein Konquistador des 16. Jahrhunderts, mit hohen Stiefeln und Schwert. Seine Vergangenheit besucht ihn in den Personen seines Cousins Katz, seiner Ehefrau Bobe, seiner Großmutter. Diese definieren seine Unreife und sein Dasein als "Luftmensch", und sogar sein Vater - immer präsent im Werk Rozenmachers - singt ihm die Hagadá de Pesaj (die Geschichte von dem Aufbruch aus Ägypten im jüdischen Passah-Fest) und reproduziert im Delirium von Simón die Szene von Abraham und Isaak, den Kindesmord, den Jahwe verhindert, nachdem er ihn vorangetrieben hatte. Die Zone der Träume teilt sich die Bühne mit dem Zimmer der imbedeutenden Realität. Als man ihn in die psychiatrische Klinik bringt, erreicht Simón den Augenblick seiner größten Würde - so wie Blanche Dubois in der Endszene von Endstation Sehnsucht - und in Stiefeln bis zur Hüfte, mit Schwert und falschem Bart, lächelt er sanft und erweckt dabei das größte Mitgefühl des Zuschauers, wenn er sagt: (Simón nimmt den Koffer und gibt ihn mit der Karte

Guadelupe.)

SIMÓN: Nimm, Lupe, das ist für dich, Gold und Saphire. GUADALUPE: Was werden sie mit Ihnen machen?

2

Indias war im Spanien des 16. Jahrhunderts der Name für Amerika, da Kolumbus glaubte, in Indien gelandet zu sein. (Anm. d. Ü.)

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(lächelt) Mich heilen... Wovon? Wenn ich im Zustand der Gnade bin... (Er streicht über das Kreuz). Was die niemals wissen werden, ist, dass ich ein wirklicher Ritter der Indias bin... und ich werde sie überleben... Meine Ländereien sind riesig... (im Delirium) Ich habe eine Hacienda, die so groß ist wie ein Land... (Er pausiert und kommt auf die Erde zurück). Gehen wir... die Herren haben nicht soviel Zeit (Er wickelt sich in seinen Mantel ein). (49)

Bevor er hinausgeht, schaut er alles mit zärtlichem Blick an, verabschiedet sich von den Objekten, so wie es David am Ende von Réquiem para un viernes a la noche getan hatte - ein Abschied, der eine Konstante in der Öffnung für neue Welten, ohne Druck und Folter, ist. In einer einfachen, synthetischen Sprache, die voller volkstümlicher Wendungen und Wörtern aus dem Spanischen von Buenos Aires ist, zeigt Germán Rozenmacher realistisches Gefühl mit leidenschaftlichem Ausdruck - Wege erlösenden Wahns und gleichzeitig sein Durchhaltevermögen, für ein ausgeglicheneres und offeneres Leben zu kämpfen. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Rozenmacher, Germán. 1981. Cabecita negra. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina. —. 1971. El Lazarillo. Buenos Aires: Talia. —. 1971. Réquiem para un viernes a la noche. Buenos Aires: Talía. - . 1987. Simón, caballero de Indias. Buenos Aires: ARGENTORES. Studien Foster, David. 1992. Germán Rozenmacher: escribiendo la experiencia contemporánea judía en Argentina. In: Osvaldo Pellettieri (Hg.). Teatro y teatristas. Estudios sobre teatro iberoamericano y argentino. Buenos Aires: Galerna/Facultad de Filosofía y Letras (UBA), 129-136. Zayas de Lima, Perla. 1989. Un caballero en busca del aôr. In: Osvaldo Pellettieri (Hg.). Teatro argentino de los '60 - Polémica, continuidad y ruptura. Buenos Aires: Corregidor, 121-143.

Sergio De Cecco (1931-1986) Ana Laura Lusnich Das dramatische Werk von Sergio Amadeo De Cecco bildet einen umfangreichen Korpus, dessen Texte - obwohl sie sich auf verschiedene Poetiken und unterschiedliche Themen stützen - zwei gemeinsame Merkmale aufweisen: den Bezug auf soziohistorische lokale Situationen und das bewusste Bekenntnis zum Realismus. Um diese Aspekte darzustellen, hat die vorliegende Arbeit zwei Ziele: ein historisches Panorama der Erstaufführungen, der Verteilung und der sozialen Aufnahme der Werke zu geben und das Textmodell des Autors zu beschreiben, wobei dieses in drei Etappen aufgeteilt und El reñidero (Der Hahnenkampfplatz) als zentrales Werk angesehen werden kann. 1. Der Einstieg in die Welt des Theaters begann für De Cecco in der Marionettentheatergruppe De las Malas Artes. Vorher hatte er für Zeitungen sowie Textbücher für das Fernsehen geschrieben. Nach dieser Phase beginnt er als Dramatiker mit der Aufführung seines ersten Textes, Durante el ensayo (Während der Probe), gegen Ende der 40er Jahre. Im Verlauf der folgenden Jahre kennzeichnen ihn die Aufführungen seiner Werke als einen der Schlüsselautoren der Generation von 1960. 1956 geht er mit Prometeo an die Öffentlichkeit, einem Werk, das vom Erziehungsministerium prämiiert wurde. 1958 gewinnt er mit El invitado (Der Eingeladene) den Wettbewerb der Neuen Autoren, welcher vom Verlag Carro de Tespis und Radio Splendid organisiert wurde. Sein viertes Werk, El reñidero, macht ihn schließlich in der Öffentlichkeit bekannt. Der Text wird vom Fondo Nacional de las Artes (1962) ausgewählt, den Premio Municipal de Obras Inéditas (Preis für unveröffentlichte Werke, 1963) zu erhalten. Mit seiner Uraufführimg am 11. Januar 1964 im Teatro del Jardín Botánico erhält De Cecco den Jahrespreis für das beste Drama. Bezüglich seiner internationalen Rezeption ist zu erwähnen, dass dieses Werk unter dem Titel The Cockpit ins Englische übersetzt wurde und 1975 vom Theater des University College Cardiff aufgeführt wurde; andere Inszenierungen gehen nach Moskau und in verschiedene Länder Lateinamerikas. 1965, als El reñidero von René Mugica verfilmt wurde, stellt De Cecco gleichzeitig zwei neue Texte vor: Capocòmico und Titeatro de las malas artes (Marionettentheater der schlechten Künste). In dieser ersten Etappe übernimmt De

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Cecco in seinen Werken die diskursiven und semantischen Aspekte des reflexiven Realismus der 60er Generation (vgl. Pellettieri 1986,99). Ebenso wie die Autoren, die die Modernisierung des argentinischen Theaters betreiben - unter anderen Cossa, Halac, Rozenmacher, Somiglia - partizipiert De Cecco in seinen ersten Stücken an den neuen Techniken des Realismus, der als Referenz das triste, soziopolitische Panorama hat. Auf diese Weise erinnert El reñidero an die zum damaligen Zeitpunkt bereits desintegrierte Welt der orilleros und caudillos1 des Jahrhundertanfangs, während Capocòmico die Agonie der ländlichen und seminomaden Bevölkerung aufzeigt, welche durch die Entstehung der ersten Urbanen Zentren und neuer kultureller Medien - wie Radio, Theater und Kino - zu einer Veränderimg gezwungen waren. In dieser ersten Etappe ist El reñidero eine Besonderheit, da das Stück eine Brücke von der griechischen Tragödie Electra (Sophokles, 4957-404? A.C.) zu den ästhetischen und thematischen Versuchen des Theaters bis 1960 schlägt. Auf der Tiefenstruktur des Werkes finden wir ein Handlungsmodell, in dem Orestes als Subjekt und die Suche nach einer verlorenen Identität als Objekt des Wunsches fungieren. Das Ziel (die verdorbene Welt der schönen porteños zu Beginn des Jahrhunderts) und der Opponent (Pancho Morales, der Vater; Elena, die Schwester; und die Gesellschaft selbst) bestimmen eine unfruchtbare Entwicklung des Subjektes, welches sich gegen Ende des Werkes von seiner Handlungslosigkeit befreit und blutige Handlungen als einzige mögliche Antwort auf die Nicht-Liebe des Vaters und des Vermissens eines Platzes in der Gesellschaft begeht. Auf der Oberflächenstruktur verwendet das Werk die Begegnung als zentrales realistisches Mittel. So zerstören die Begegnungen Orestes1 mit seiner Schwester (Elena-Electra), seiner Mutter (Nélida-Clitemnestra) und seinem Freund Vicente (Pílades in der Tragödie von Sophokles) nach und nach die Integrität des Protagonisten, welcher sich ab einem gewissen Zeitpunkt als ausführendes Organ der unerbittlichen Rache von Elena wiedererkennt. Mit der Begegnung entspricht das Werk den von Osvaldo Pellettieri (1985, 30-36) angeführten realistischen Kunstgriffen: die referentielle Person (verkörpert durch die Personen Nélida und Vicente), die Ausführung der Krise vom Beginn des Werkes an, das Fehlen eines abgeschlossenen Endes, die realistische Außenszene, die Niveaus der Vorgeschichte und die strenge Kausalität der Situationen der Handlung. Von den Verfahren der klassischen Tragödie übernimmt De Cecco einen gewissen Parallelismus der Rollen und Personennamen sowie die Verwendung eines Chors, in seinem 1

orilleros: arme Bevölkerung vom Flussufer des Riachuelo; caudillos: Anführer. (Anm. d. Ü.)

Sergio De Cecco

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Fall einer Gruppe von Stimmen, die das Geschehene kommentieren und den Namen des Mörders des caudillos Pancho Morales, Soriano, nennen. Zur Konstruktion des Protagonisten ist zu sagen, dass der Autor die Figur des Orestes anwachsen lässt und ihn in einen Antihelden verwandelt, der seine Identität und sein Schicksal nicht kennt. In diesem Sinn - und dabei stimmen wir mit Néstor Tirri (1973, 67) überein - bestimmen folgende zwei Merkmale den Realismus der Autoren der 60er Jahre und markieren die Unterschiede zur klassischen Tragödie: 1. Der moralische und religiöse Determinismus wird von sozialen und familiären Kräften ersetzt; 2. Das System der Personen wird durch die Abwesenheit von Helden mit festen, unveränderlichen Rollen charakterisiert. Zur Sprache ist zu erwähnen, dass im Werk verschiedene Diskurse zu finden sind (die auf die ideologische Auseinandersetzung zwischen Nélida-Elena und Pancho Morales-Orestes zurückzuführen sind), und zum temporalen Aspekt, dass Rück- und Vorschauen zu finden sind. Die von Arthur Miller übernommene Rückblende hat bei El reñidero drei unterschiedliche Funktionen: 1. darauf hinzuweisen, dass das, was in der Gegenwart geschieht, seinen direkten Ursprung in einer nahen Vergangenheit hat: die wütende Rivalität zwischen Tochter und Mutter (am Ende des ersten Aktes) hat 10 Jahre vorher begonnen; 2. dem Diskurs des Subjektes mehr Glaubwürdigkeit zu geben (Elena erinnert sich am Anfang des zweiten Aktes an den Verrat ihrer Mutter und bestärkt in Orestes die Idee der Rache); 3. die Person Pancho Morales (Agamemnon) in die Szene zu inkorporieren, der in der Tragödie von Sophokles außerhalb der Szene geblieben war. Die Vorausdeutungen konzentrieren sich auf den Titel des Werkes und den Namen des Protagonisten, beide kündigen ein Schicksal voll Blut und Tod an. Das semantische Niveau, Ergebnis der bisher aufgezeigten Aspekte, ist mit der expliziten Forderung der realistischen These verbunden, das Scheitern und Auslöschen eines Lebens aufzuzeigen. Der geschlossenen Welt der guapos2 des Viertels Palermo gelingt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht, sich der neuen sozialen Ordnung anzupassen, sie versuchen Wege ohne Ausweg, welche von der Frustration (Nélida) und der Mystifizierung der Vergangenheit (Elena) bis zur Gewalt (Orestes) führen können. 2. Mit der Uraufführung von El gran deschave (Der große Wirrkopf) im Teatro Regina am 11. August 1975 erlebt der Autor einen neuen Höhepunkt. Das gemeinsam mit Armando Chulak geschriebene Werk wird 2

guapo: eigentlich schön, hübsch. Schöner junger Mann, Euphemismus für Zuhälter. (Anm. d. Ü.)

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anschließend an der Ópera de La Plata (am 12. Dezember 1976) und am Astral de Mar del Plata (4. Januar bis 14. März 1977) aufgeführt, und kehrt am 25. März für eine weitere Saison in die Hauptstadt zurück. 1975 wird das Werk von der Sociedad de Autores de la Argentina (Argentinischer Schriftstellerverband) zum besten Werk des Jahres ernannt, und 1977 wird es bei der Preisverleihung der Premios Estrella de Mar in der Stadt Mar del Plata mehrmals erwähnt. Anfang 1978 wird es nach Madrid gebracht, und in der folgenden Saison wird es gleichzeitig in Santiago de Chile, Rio de Janeiro, Säo Paulo (in der portugiesischen Version Firn do Papó) und am Broadway (unter dem Titel Incidentally, we're married, eine Adaptation von Allan Scott) aufgeführt. El gran deschave ist beispielhaft für die zweite Schaffensphase des Autors und gleichzeitig mit den Vorbildern der ersten Phase des Theatersystems der 60er Jahre verbunden (vgl. Pellettieri 1989,13), deren Charakteristika der Rückgriff auf die Linien des Realismus und des Absurden sind. In diesem Sinn intensiviert sich in diesem Text das konstruktive Prinzip der persönlichen Begegnung, und er steht daher mit folgenden Werken in Verbindung: A qué jugamos (Carlos Gorostiza, 1968) und Se acabó la diversión (Juan Carlos Gené, 1968). Das Stück spielt im Wohnzimmer eines Stadthauses, in dem zwei prägnante Objekte hervorstechen, ein Femseher und ein Piano, und in dem es zu unzähligen Aufeinandertreffen zwischen den Personen Jorge und Susana kommt, den beiden Hälften einer unglücklichen Ehe. Als die tägliche Banalität durch den Ausfall des Fernsehapparates unterbrochen wird, schließt sich das Paar zu einer Reihe aufeinanderfolgender Gespräche ein, in denen Vorwürfe und Unzufriedenheit zu violenten physischen Handlungen führen. Die Ankunft des Radiomechanikers unterbricht die Erinnerung an die Vergangenheit und die Wunschvorstellung der Gegenwart, und vereint das Paar wieder, das auf die Suche des gewünschten Objektes verzichtet: des Glücks. Mit Techniken des absurden Theaters, die jedoch eine realistische Funktion haben, wird gezeigt, wie die Protagonisten (physisch und psychisch) immer kleiner werden, und die Anwesenheit zwei weiterer Personen (der Großmutter und des Nachbars) sind ein Beispiel des kommunikativen Verschleißes des Paares und seiner Umgebung: Der Nachbar leidet unter einer graduellen Verschlechterung seiner Gesundheit vom Anfang bis zum Ende des Werkes, dem Zeitpunkt, in dem er vom Ischias gebeugt einen Rollwagen vor sich herfährt. 3. De Ceccos letzte Produktionen stammen aus den 80er Jahren: Llegó el plomero (Der Installateur ist gekommen, 1980); La demolición (Die Zerstörung, 1982); Blues de la calle Balcarce (Blues in der Straße Balcarce, 1983),

Sergio De Cecco

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welches im dritten Zyklus des Teatro Abierto in Zusammenarbeit mit Pais und Taraturo geschrieben wurde, sowie ¡Moreira! (1984), eine neue Version des Werkes von Eduardo Guitiérrez, das er gemeinsam mit Carlos Pais und Peftarol Méndez geschrieben hat. Diese Werke kennzeichnen die dritte Schaffensphase des Autors, die mit den inneren Veränderungen des reflexiven Realismus der zweiten und dritten Phase des offenen Theatersystems ab 1960 in Verbindung steht (vgl. Pellettieri 1989,17). In diesen Texten werden Techniken des Realismus eingesetzt, um die neuen unter der aktuellen Regierung entstandenen sozialen Beziehungen aufzuzeigen. In dieser Hinsicht hebt ¡Moreira! die Gier nach Gerechtigkeit hervor, dem semantischen Kern im Text von E. Gutiérrez, der als eine der sozialen Konsequenzen des Handelns während der letzten Militärdiktatur wieder vorkommt. Zur Intensivierung der Technik der Begegnung kommen nun aus dem Expressionismus übernommene Verfahren hinzu: Verkleinerung und Isolierung des Protagonisten (Juan verliert seinen Sohn, seine Frau und seinen besten Freund) und Verdopplung; in diesem Sinn stellen die Personen eines Zirkusses - ein Clown, ein Zwerg, eine Dicke, ein Trapezkünstler - die inneren Kräfte dar, die den Protagonisten moralisch zerstören und seinen endgültigen Fall vorbereiten. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater De Cecco, Sergio. 1963. El reñidero. Buenos Aires: Talia. —. 1978. El gran deschave. Buenos Aires: Talia. —. 1984. ¡Moreira! In: Cuadernos de la Comedia Nacional 1, Nr. 4. Studien Pellettieri, Osvaldo. 1985. Estudio preliminar. In: Roberto Cossa: La pata de la sota. Ya nadie recuerda a Frédéric Chopin. Ed. O. P. Buenos Aires: Huemul. —. 1986. El realismo en el teatro argentino de los años sesenta. In: Espacio 1,1. —. 1989. El sistema teatral del '60. In: Eduardo Rovner. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. Tirri, Néstor. 1973. Realismo y teatro argentino. Buenos Aires: La Bastilla.

Griselda Gambaro (*1928) Kati Röttger Jedes Theaterstück ist eine Abrechnung, eine direkte Konfrontation mit der Gesellschaft. Griselda Gambaro

"Griselda Gambaro ist wie eine Heilige, so weise, so gerecht und so gut." Diese Worte der argentinischen Regisseurin Laura Yusem,1 die in den 80er Jahren einige der wichtigsten Inszenierungen von Gambaros jüngeren Stücken in Buenos Aires auf die Bühne gebracht hat,2 stehen in einem scharfen Kontrast zu der Welt, die Gambaro in ihren Stücken heraufbeschwört: eine Welt der Grausamkeit, der Gewalt, der Repression und Entwürdigung, allerschwärzeste Abgründe der menschlichen Seele. Alpträume? Ihr erstes Theaterstück, Las Paredes (Die Wände) aus dem Jahr 1963, erscheint wie eine symbolische Ouvertüre, in der die zentralen Themen ihrer Werke, eingefasst in ein großes Theater-Sinnbild, exponiert werden. Dieses Bild ist eine beklemmende räumlich-visuelle Metapher für die existentielle Not, in die die Protagonisten ihrer Stücke geraten, wie in eine Falle. Ein junger Mann ist in einem Zimmer gefangen, dessen Wände erst unmerklich, dann aber immer nachdrücklicher, zusammenrücken. Zu Beginn, wenn sich der Theatervorhang öffnet, scheint alles noch harmlos: Ein Schlafzimmer, Stil 1850, sehr bequem, fast luxuriös. Schwere Vorhänge an der linken Wand verbergen scheinbar ein Fenster [...], ein schüchtern und rechtschaffen wirkender junger Mann, tadellos im Stil der Jahrhundertwende gekleidet, sitzt in einem Wiener Stuhl und macht den Eindruck, als warte er auf jemanden. An seiner Seite, unbeweglich, ein Türhüter in einfacher Uniform, bis zum Hals zugeknöpft (Gambaro 1990,9). 3

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3

Aus einem Interview mit Susan Jones (vgl. Jones 1994). Es handelt sich um folgende Aufführungen: 1. La malasangre. 17.8.1982 im Teatro Olimpia 2. Del sol naciente. September 1984 im Teatro Lorange 3. Antigona furiosa. 1986 im Theatersaal des Goethe-Instituts 4. Penas sin importancia. 5.10.1990 Sala Cunil Cabanellas Übersetzung der Zitate von Kati Röttger.

Kati Röttger

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Aber diese inszenierte Ruhe dauert nur kurz an. Der junge Mann hört irgendwo aus dem Gebäude einen Hilfeschrei, der in Geheul erstickt. Angst, Zweifel und Misstrauen werden in ihm wach. Er will wissen, woher der Schrei kommt und fragt den Türhüter: J. M. T. J. M. T. J.M. T. J.M. T. J.M. T. J.M. T. J.M. T. J.M. T.

Haben Sie gehört? (Natürlich) Ja, ja. Was war das? Ein Schrei. (Lächelnd) Jemandem ist die Decke auf den Kopf gefallen. Jemand hat um Hilfe geschrien. Ja? Glaube ich nicht. Die Akustik. Konstruktionsfehler [...]. (Väterlich) Sie träumen. (Er kratzt sich am Ohr) Haben Sie gehört? (Aufmerksam, dann) Nein. Jetzt nicht. Wie einen die Sinne doch täuschen! [...] Aber davor, davor habe ich wohl einen Schrei gehört, einen Hilfeschrei. Es schien jemand ... bereit, seinen Geist aufzugeben. (Amüsiert) So hätte ich es nie ausdrücken können! Wir sagen ausgelöscht, tot [...]. Beruhigen Sie sich. Außer diesem einen hat man hier noch nichts gehört. [...] Sind Sie nervös? (Setzt sich, nervös) Nein. Sie sollten es aber sein. Glauben Sie...? Ohne Zweifel. Es gibt also doch einen Grund zur Unruhe! Keinen einzigen. Aber es ist immer gut, die Nerven zu kitzeln. (Gambaro 1990,10)

Die Information, nach der der junge Mann verlangt, wird ihm, ohne dass er es merkt, gegeben. Unverfroren, lächelnd, teilt der Türhüter ihm in seinen ersten Sätzen genau mit, was ihn an diesem Ort erwartet: Die Decke wird ihm auf den Kopf fallen. Da sich der junge Mann jedoch lieber an den darauf folgenden beruhigenden Argumenten des Türhüters festhält, um der Realität, aus Angst vor der schrecklichen Wahrheit, nicht ins Auge sehen zu müssen, liefert er sich der Willkür seiner Gegenspieler aus (später erscheint noch ein Funktionär). Das ändert sich auch nicht, als er voller Schrecken feststellt, dass die dicken Vorhänge kein Fenster verbergen, wie es den Anschein hatte, sondern eine vierte Wand. Der Funktionär und der Türsteher nutzen seine ambivalenten Gefühle aus, verwirren ihn mit widersprüchlichen Aussagen und Manipulationen und entkleiden ihn somit Stück für Stück seines Selbstbewusstseins, seiner Identität. Das Stück ist voller Anspielungen auf diesen Prozess. Namensverwechslungen, das "unerklärliche" Verschwinden von den persönlichen Habseligkeiten, schließlich auch die Verkleinerung des Zimmers, alles weist darauf hin, dass der junge Mann der langsamen Vernichtung seiner Persönlichkeit

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ausgesetzt ist. Die Zerstörung der psychischen Identität geht einher mit der Antastung seiner körperlichen Integrität. In Szene 3 schlägt der Funktionär dem jungen Mann ein blaues Auge. Der aber wehrt sich nicht. Immer wieder lenkt er ein, in der naiven Hoffnung, der Falle durch Anpassung zu entkommen. Genau diese falsche Hoffnung aber führt dazu, dass der Junge tiefer in sie hineingerät, denn das Netz des manipulativen Diskurses der Macht zieht sich so eng zusammen, dass ihn selbst körperliche Gewalt nicht mehr wachrüttelt. Seine selbstbetrügerischen Strategien haben ihn zum Teilnehmer an diesem Diskurs gemacht, blind und handlungsunfähig. Am Ende ist der junge Mann nicht einmal mehr in der Lage, das unerwartete Angebot der Freiheit anzunehmen. Der Türsteher verlässt das Zimmer und lässt die Tür offenstehen, aber der junge Mann, ungläubig und blöde starrend, bleibt auf seinem Stuhl sitzen und wartet. Was ist das für ein Theater? Ein böser Traum? Eine Anklage der Gewalt? Eine Parabel auf den Untertanengeist? Eine zynische Bloßlegung patriarchalischer Machtstrukturen? Oder ein argentinisches Theater der Grausamkeit? Und was veranlasst die Autorin, ein solches Theater zu schreiben? Seit 1963 hat Griselda Gambaro 14 abendfüllende Theaterstücke und 14 Einakter verfasst.4 Heute gehört sie zu den bedeutendsten Dramatikern Argentiniens und Lateinamerikas. Ihre bekanntesten Stücke sind in mehrere Sprachen, unter anderem ins Deutsche, übersetzt und sowohl in den USA als auch in verschiedenen Ländern Europas inszeniert worden.5 1928 in Buenos Aires geboren und in einer kleinbürgerlichen Familie in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen (ihr Vater war Postbeamter), begann sie ihre dichterische Laufbahn, nachdem sie erst einige Jahre als kaufmännische Angestellte gearbeitet hatte, zunächst als Autorin von Romanen und Erzählungen. Las Paredes hieß ursprünglich eine ihrer ersten Kurzgeschichten aus dem Bündel El desatino, für das sie den Emecö-Preis

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Ich beziehe mich bei dieser Angabe auf die Publikation ihrer Theaterstücke im Verlag Ediciones de la Flor, Buenos Aires 1984-1991, 5 Bände. Theaterverlag Desch, München, hat folgende Theaterstücke in deutscher Übersetzung herausgebracht: Das Lager (El Campo) und Siamesische Zwillinge (Los siameses). Böses Blut (La malasangre) liegt bei der "Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika" vor. Das Stück Decir si (Ja Sagen) ist in der Anthologie Theaterstücke aus Argentinien (Hgg.: Hedda Kage/Halima Tahan) in der Reihe "Moderne Dramatik Lateinamerikas" (Berlin: edition diä 1993) unter dem Titel ]a Sagen erschienen. S.a. Bibliographie. Aufführungen ihrer Stücke in Deutschland: 1989 Staatstheater Augsburg: Böses Blut. Regie Augusto Boal. Oktober 1993: Staatstheater Stuttgart: Siamesische Zwillinge. Regie David Amitin.

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der Verlage in Argentinien bekam. Mit dem Gefühl, dass sie das Thema noch nicht erschöpft hatte, visualisierte sie die Handlung in einem dramatischen Bild. Damit entdeckte sie die Kraft ihres theatralischen Vorstellungsvermögens und konzentrierte sich von nun an auf das Schreiben von Theaterstücken, ohne allerdings je die Prosa aufzugeben. Erste Bekanntheit als Theaterautorin erwarb sie mit der Inszenierung ihres zweiten Stücks, El desatino (Das Unding), das im August 1965 unter der Regie von Jorge Petraglia, einem der ganz wenigen argentinischen Regisseure seiner Zeit, der sich nicht dem Naturalismus verschrieben hatte (Pellettieri 1991b), im Centro de Experimentación Audiovisual del Instituto Torcuato Di Telia uraufgeführt wurde.6 El desatino spielt sich im Milieu der portensischen unteren Mittelklasse ab. Alfonso erwacht morgens mit einem eisernen Objekt am Fuß, das ihn daran hindert, aus dem Bett aufzustehen. Es gelingt ihm nicht, sich davon zu befreien. Seiner Mutter und seinem Freund wagt er sein Missgeschick kaum zu gestehen, geschweige denn, sie um Hilfe zu bitten. Als er seine Hemmung schließlich überwindet, stößt er auf vollkommene Ignoranz der beiden. Sie machen keine Anstalten, ihn zu befreien und fangen stattdessen ein Liebesverhältnis miteinander an. Alfonso ist verheiratet mit Lily, die auf der Bühne jedoch nicht als reale Gestalt erscheint, sondern in den Regieanweisungen als übertrieben dargestellte Version von Anita Ekberg aus dem Film La Dolce Vita beschrieben wird. Sie ist Alfonsos Obsession und erscheint ihm ab und zu als große sexuelle, nie erreichbare Verlockung. Die einzige Hilfe, die sich Alfonso bietet, kommt von außen in der Gestalt eines jungen Mannes, einem Straßenarbeiter, der aus unerfindlichen Gründen seinen Arbeitsplatz verlässt, um Alfonso von seiner Qual zu erlösen. Alfonso jedoch reagiert kaum auf dieses Angebot, ja, er weist es sogar ab. Im Laufe des Stücks verkommt Alfonsos äußerliche Erscheinung allmählich ebenso, wie sein Selbstbewusstsein verkümmert. Er wird blass, ihm wächst ein Bart, er fängt an zu stinken und kann sich am Ende nicht mehr artikulieren, ohne stark zu stottern. In der letzten Szene lädt seine Mutter die Nachbarn ein, denn Alfonso ist Vater geworden. Während das freudige Ereignis gefeiert wird, kommt der junge Mann mit einer großen Feile, und es gelingt ihm damit, das Eisenobjekt von Alfonsos Fuß zu lösen. Ob dies eine Befreiung für Alfonso bedeutet, ist die Frage. Alfonso gibt einen fürchterlichen Schrei von sich, richtet sich im Bett auf und fällt mit weit aufgerissenen Augen zurück. Danach vernimmt man nichts mehr von ihm.

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Die Uraufführung von Las Paredes 1966 im Teatro Agón in der Inszenierung von José Maria Paolantonio in Buenos Aires blieb hingegen relativ unbemerkt (vgl. Giella 1984,35).

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Die Reaktion der Mutter: "Lily wird nicht mehr erscheinen!" (Gambaro 1991,105) Die Handlung klingt auf den ersten Blick absurd, und nicht zuletzt darum ist das Theater von Griselda Gambaro seit dieser Inszenierung immer wieder mit dem Etikett "Theater des Absurden" versehen worden (Holzapfel 1970, Cypess 1976, Pellettieri 1991a). Diese irreführende Kategorisierung muss vor dem Hintergrund der damaligen Theaterentwicklung in Argentinien betrachtet werden. Zunächst mag sie daher rühren, dass der Regisseur Jorge Petraglia vor allem durch seine Einführung von Beckettstücken in Argentinien bekannt geworden war (Pellettieri 1991b). Darüberhinaus verlangten die Stücke von Griselda Gambaro eine ganz neue Rezeptionshaltung vom Publikum. Die Inszenierung von El desatino verursachte großen Aufruhr, weil sie mit den damals geltenden Konventionen der naturalistischen und kostumbristischen Spielweise im argentinischen Theater radikal brach. Viele Kritiker setzen deshalb hier den Beginn des Neoavantgardismus in Argentinien an (Roster 1991,135), ein Terminus, mit dem sie in erster Linie den Gegensatz zu der damals ebenfalls aufkommenden und das argentinische Theater prägenden Strömung des kritischen Realismus bezeichnen (Giella 1987). In beiden Strömungen manifestierte sich die argentinische Generation der 60er, als deren Hauptvertreter Autoren wie Roberto Cossa, Carlos Somigliana und Ricardo Talesnik ebenso wie Griselda Gambaro und Eduardo Pavlovsky genannt werden; Autoren, die das Gesicht des argentinischen Theaters bis heute bestimmen. Was die Generation der 60er neben der Erschaffung neuer Paradigmen mit dem argentinischen Theater verbindet, ist die Anwendung humoristischer Stilmittel wie der Parodie, Groteske und Farce, um das argentinische Bürgertum auf satirische Weise mit dem Verlust ihrer Utopie der Moderne zu konfrontieren und ihm die argentinische Realität vor Augen zu führen (Rovner 1991)7 Während der kritische Realismus jedoch im Rückgriff auf die Tradition des teatro costumbrista realista soziales Engagement mit einem naturalistischen Stil

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Argentinien galt zu Beginn des Jahrhunderts als Vorreiter der Moderne in Lateinamerika, bedingt durch schnelle wirtschaftliche Expansion, ein gut ausgebautes Ausbildungssystem und der Entstehung einer breiten Mittelschicht (40 %), die den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft folgte. Aber schon Mitte dieses Jahrhunderts verursachten wirtschaftlicher Abstieg und mehrere gewaltsame Stürze ziviler Regierungen gesellschaftliche Erosionen, welche die bürgerliche Mittelschicht mit dem Verlust der Utopie von der modernen Gesellschaft konfrontierten, der bis heute, verstärkt durch das Ausmaß an Gewalt während der Militärregierungen, nicht verarbeitet ist. Waldmann führt u.a. an, dass Buenos Aires weltweit die höchste Anzahl von Menschen in psychotherapeutischer Behandlung kennt (vgl. Waldmann 1992,168).

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vereinte und daher vor allem Wiedererkennung beim Publikum und den Kritikern erzeugte, stießen die Werke von Gambaro vielfach auf Unverständnis und sogar Ablehnung. Politischen Realitätssinn konnte kaum jemand in ihren Stücken entdecken. Auch innerhalb der eigenen Reihen der Generation der 60er wurde ihr Theater kritisiert: I have remained rather isolated, even in Argentina. When my theatre emerged in the midst of the Realistic School, I was attacked for my view of reality. Around 1965,1 was opposed to the traditional "realism" in drama and still believe that each of us has his own voice (Gambaro in Picon-Garfield 1985,60f.).

Griselda Gambaro selbst hat Etiketten wie "Theater des Absurden" oder auch "Theater der Grausamkeit" für ihr Theater immer schon strikt abgelehnt.8 Sie beruft sich hauptsächlich auf das argentinische Theatererbe des grotesco criollo: Mich interessiert vor allem der sainete und der grotesco, und wenn ich höre, dass man in Analysen von meinen Stücken das "Theater des Absurden" als Maßstab anlegt, zucke ich regelrecht zusammen. Ich denke nämlich, dass es keinen Einfluss auf mein Werk hat. Die Einflüsse des grotesco hingegen liegen in einer Mischung von Elementen wie dem Pathetischen, dem Tragischen, dem Tragikomischen, die häufig in meinen Stücken vorkommen (Gambaro in Arlt 1983).

Die Universalität der Thematik ihrer Stücke und die Komplexität, Visualität und Theatralität ihrer Gestaltungselemente sperren sich der Kategorisierung "Theater des Absurden" jedoch nicht. So ist es durchaus zutreffend, wenn Holzapfel (1971, 6) meint, dass Elemente wie die Aufteilung der Stücke in zwei Akte, die Charaktere ohne individuelle Eigenschaften und die Atmosphäre der metaphysischen Angst vor der Absurdität des menschlichen Daseins in Gambaros Stücken dem "Theater des Absurden" entsprechen, oder Sandra Cypess in der Technik der Wiederholung eines Themas in verschiedenen Variationen Ähnlichkeit zu Becketts Warten auf Godot sieht (1976,96). Dennoch versperren diese Einschätzungen den Blick auf Interpretationen, die der Komplexität des Theaters von Gambaro wirklich gerecht werden. Griselda Gambaro war ihrer Zeit in jeder Beziehung voraus, politisch ebenso wie theaterästhetisch. Viele ihrer Theaterstücke wie z.B. El Campo (1967), La malasangre (1981) oder auch Decir si (1974), Las Paredes und El desatino haben visionäre Kraft. Vor allem Gambaros frühe Stücke bis 1974 zeugen von großer politischer Beobachtungsgabe, die sie in die Lage ' Vgl. folgende Interviews: Kage 1993; Giella 1987,35-42; Picon-Garfield 1985,60-70.

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versetzte, Tendenzen einer gesellschaftlichen Situation zu erfassen, die sich während der argentinischen Militärregierung 1976 bis 1983 im vollen Ausmaß des Terrors und der Gewalt offenbaren sollten. Erst nach diesen Jahren haben die meisten Kritiker die politische Brisanz ihrer Stücke erkannt9 und Gambaro aus der Umarmung des "Theater des Absurden" zu befreien gesucht. So betont Teresa Mendez-Faith in einem Aufsatz aus dem Jahr 1985, wie notwendig es sei, das Werk von Gambaro im argentinischen Kontext zu interpretieren, "weniger universal, als ihr Theater bisher betrachtet wurde" (832). Sie weist unter anderem nach, dass sowohl Las Paredes als auch El Campo jeweils ein Jahr nach dem gewaltsamen Zusammenbruch einer Regierung entstanden sind, das erste ein Jahr nach dem Sturz von Frondizi, das zweite nach dem Sturz der Regierung Illia, und interpretiert die Stücke als Reaktion auf eine Gesellschaft, die, von der Zerstörung ihrer politischen Strukturen, dem wirtschaftlichen Abstieg und steigender sozialer Unruhe durchsetzt, von militärischer Übermacht, Gewalt und Repression gezeichnet ist (833). Ein deutliches Beispiel für Gambaros direkten Bezug zur politischen Realität ist das 1973, zu Beginn der zweiten Regierung Peróns nach Ablösung des Militärdiktators Ongania, geschriebene Stück Información para extranjeros (Information für Fremde). Gambaro nennt es im Untertitel "Chronik aus 20 Szenen" und weist damit ganz direkt auf den zeitgeschichtlichen Charakter des Stücks hin. Sie benutzt im Stück Zitate, die sie buchstäblich der Wirklichkeit entrissen hat, Zitate aus winzigen Zeitungsmeldungen, die, auf dem Theater in größeren Dimensionen wiedergegeben, den kommenden Terror vorwegnehmen, ohne den gegenwärtigen zu unterschlagen: Fremdenführer (in professionellem Tonfall, trocken und schnell): Erklärung: für Fremde, 2. Juli 1971: Marcelo Verdt und seine Frau, Sara Palacio de Verdt, wurden von einer Gruppe von acht Männern entführt. Verschwunden. Beide gehörten der FAR, Bewaffnete Revolutionäre Kräfte, an. Wie die Tageszeitungen berichten, hat die Frau ihre Söhne einer Schwester anvertraut, bevor sie verschwand (Gambaro 1987, 92).

Den eingestreuten Zitaten, ihrer szenischen Umsetzung und den verschiedenen grausamen Bildern von Folter und Unterdrückung, aus denen das Stück zusammengesetzt ist, wird umso mehr Nachdruck verliehen, als das Stück laut Regieanweisung nicht auf einer konventionellen Bühne gespielt werden soll, sondern möglichst in einem Gebäude, in dem die 9

Obwohl Gambaro in Interviews immer schon auf dem Realitätsgehalt ihrer Stücke bestanden hat. Siehe dazu u.a. Gambaro und Tschudi 1974.

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Zuschauer wie eine Gruppe Touristen von einem Führer durch die einzelnen Zimmer geleitet werden. Durch diese radikale Lösung der dramatischen Struktur wird dem Zuschauer keine Chance eingeräumt, die Augen vor den Greueln zu verschließen.10 Im Gegenteil, er wird Teil von ihnen, Zeuge, aber auch Kollaborateur. Trotzdem hat das Stück, wie alle anderen der Autorin, keinen rein dokumentarischen oder gar erzieherischen Anspruch. Vielmehr analysiert sie die Beschaffenheit des (argentinischen) Autoritarismus, indem sie ihn nicht nur bei einer bestimmten politischen Organisation sucht, sondern ihn "überall, ungreifbar, in der bürgerlichen Gesellschaft, im Geisteszustand der Leute, in den Sitten und Gewohnheiten" (Sebreli 1983,187) ortet. Gambaros Beobachtungsgabe macht sie nicht nur hellsichtig für politische Tendenzen, sondern auch für Geschlechterverhältnisse. Auch das ist von der Kritik kaum gesehen worden. So kommt es, dass ein Stück wie El desatino als "reminiscent of Arthur Adamov's dramatic style in that it develops in a highly theatrical way a Kafkaesque theme tinged with social overtones" (Holzapfel 1970,6) beschrieben wird, ohne dass bis heute erkannt worden wäre, dass Griselda Gambaro 1965, kurz nachdem Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht in den USA Furore gemacht hat, mit El desatino ein parodistisches Bravourstück über den Ödipuskomplex geschrieben hat, das keiner aktuellen feministischen Dekonstruktion der Freudschen Psychoanalyse nachsteht. Dabei werden Gambaros frühere Stücke bis heute wegen ihres "apparent lack of concern with the oppression of women" (Magnarelli 1994,5) kritisiert. Macht man sich einmal von dem Gedanken los, dass die männlichen Figuren im Stück, Alfonso, Luis, El muchacho (der Junge) und El niño (das männliche Kind) individuelle Gestalten sind und betrachtet man sie als Archetypen der männlichen Entwicklungsstufen vom Kind zum Mann, dann steht die bitter-ironische Farce über den sexuellen Reifeprozess des Mannes glasklar vor Augen. Gambaro stellt Freuds Geschichte vom Ödipus-Komplex komödiantisch auf den Kopf. Das Verlangen nach der Mutter, die im Personenindex, ebenfalls archetypisch, La madre genannt wird, im Dialog hingegen Viola (violar=vergewaltigen), wird zunächst dadurch ironisiert, dass die Mutter alles andere als begehrenwert beschrieben wird. Sie ist ordinär, sieht abgezehrt aus, trägt bei ihrem ersten Auftritt einen Federbesen unter dem Arm. Ihr gegenüber steht Lily, das Traumbild, eine männliche Projektion. Beide, Mutter und Lily, stellen eigentlich zwei Seiten einer Figur dar, denn Lily erscheint nicht wirklich, "immer wenn man sie braucht, ist sie nicht 10

Die komplizierte räumliche Struktur könnte auch ein Grund dafür sein, dass das Stück noch nicht aufgeführt wurde.

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da" (Gambaro 1990,97), während die Mutter die ihr viel zu kleinen Sachen trägt, die Alfonso für Lily kauft. Sie zwängt sich in das Bild, das der Mann sich von der Frau macht: "Nun hör doch endlich auf, Lily zu verteidigen. Meine Füße sind schon ruiniert von deiner Manie, ihr immer nur kleine Schuhe zu kaufen"(97). Alfonso liegt im Bett und träumt von Lily. Das Eisenobjekt ist seine Angst vor dem Akt, der ihn zum Mann macht. Seine Mutter nimmt diese Angst nicht wahr. Sie behandelt ihn wie ein Kind. So nennt sie ihn im Stück ständig "mi niño". Sein sexuelles Problem ignoriert sie. Luis, der in der zweiten Szene auftritt, ist das alter ego von Alfonso, nämlich der Mann, der er sein wird, wenn er einmal von seinem Block befreit ist: ein abschreckendes Bild von einem Mann, ein echter Macho, der es mit seiner Mutter treibt und Alfonso bei ihrer ersten Begegnung auf seine Männlichkeit hin testet, indem er ihm eine glühende Zigarette vor das Gesicht hält. Eine lächerliche Figur. Der muchacho stellt Alfonso vor der Geschlechtreife dar; er ist in gewisser Weise noch unschuldig aber neugierig, daher will er Alfonso (und somit sich selbst) "befreien". Alfonso lehnt dies ab, weil er in Luis eine Zukunft sieht, vor der ihm graut. Er will gar kein Mann werden, aber der unschuldige Junge verlangt danach. So erkundigt sich der muchacho auch immer wieder nach Lily: "Wie ist sie? [...] Wann werde ich sie kennenlernen? Ich habe große Lust, sie kennenzulernen, Herr Alfonso." (88) Alfonso unterstellt dem Jungen denn auch nicht Hilfsbereitschaft bei dessen Wunsch, das Hindernis zu entfernen, sondern schmutzige Absichten: A. M. A.

Hast du etwa etwas mit mir vor? Mit Ihnen? Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Schwein! (89)

Die letzte Szene schließlich stellt die Initiation von Alfonso dar. Die Mutter bereitet ein Fest vor, weil Alfonso Vater geworden ist (oder nun fähig ist, es zu werden). Der muchacho befreit ihn von seinem Hindernis, die Tat ist vollbracht. Alfonsos Reaktion suggeriert "le petit mort", keine Befreiung, sondern den Tod der Illusion. Die Mutter gibt Alfonso einen Kuss: "Mein armer Sohn... ich denke, Lily wird nicht wiederkommen...ich glaube nicht, Jungens." (105) Alfonso ist Luis geworden. Und der muchacho nimmt die Position von Alfonso ein. Er ist jetzt geschlechtsreif. Nachdem er Alfonso befreit hat, ruft er: "Wir können jetzt zusammen ausgehen. Ich werde Lily kennenlernen. [...] Und Luis ist jetzt Ihr älterer Bruder, und Sie sind jetzt mein älterer Bruder." (105) Seine Unschuld ist verloren. Er weint. Er schreit das Kind an, das die ganze Zeit während der Szene mit dem Gesicht zur

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Wand gesessen und mit Stöckchen gespielt hat: "Lass die Stöcke, Schwein! Lass die Stöcke!" (106) Auch El desatino handelt von Macht, eine beißende Analyse, die das landläufige Bild der geschlechtlich bedingten Überlegenheit des Mannes über die Frau zersetzt und den Mann mit seinem unerfüllten Verlangen nach der Frau zum lächerlichen Opfer macht. Gambaros Theater legt die Realität zum Zwecke der Analyse unter ein Vergrößerungsglas. Das verzerrt bisweilen, erscheint grotesk. Aber es zeigt mehr und Genaueres als die Realität, die man mit dem bloßen Auge wahrnimmt. Unter dem Vergrößerungsglas erscheinen Stück für Stück verschiedene Versuchsanordnungen zu der Frage: Wie funktioniert Macht? In ihrem Stück Información para extranjeros zitiert sie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung, die beinahe als eine Art Rechtfertigung ihres bohrenden Interesses erscheint. Es handelt sich um ein Experiment, das 1960-1963 an der Universität in Yale von Stanley Milgram als Gehorsamkeitsstudie realisiert und 1970 am Max-Planck-lnstitut in München wiederholt wurde,11 "um die pädagogische Wirkung der Strafe zu untersuchen" (Gambaro 1987, 74). Eine Versuchsperson (Schüler) wird an einen Apparat angeschlossen, mit dem sie elektrische Schläge erhält, wenn sie eine Frage falsch beantwortet. Eine zweite Versuchsperson (Lehrer) wird vom Versuchsleiter instruiert, jeweils bei falscher Antwort per Knopfdruck die Voltzahl der elektrischen Schläge zu erhöhen. Der "Lehrer" weiß, dass 450 Volt den Tod herbeiführen. Im Stück wird der gesamte Test vorgeführt, begleitet von einem Koordinator. Seine abschließenden Worte an das Publikum lauten: Dieses Experiment, mit simulierten Schreien und Foltern, wurde 180 Mal wiederholt. Leider bildete der erste "Lehrer", der die Strafe bis 450 Volt fortsetzte und den Tod des "Schülers" riskierte, keine Ausnahme. 85 Prozent der "Lehrer" handelten in gleicher Weise. Derselbe Test wurde 1960 in den USA ausgeführt. Die Ergebnisse? 66 Prozent. Sie gehorchten den Regeln und waren nicht verantwortlich. Merkwürdig, nicht? Erstaunt? (Gambaro 1987,83f.)

Die beunruhigenden Ergebnisse dieses Experiments bestätigen die Gültigkeit der Fragen, die Gambaro in ihren Stücken aufwirft. Der Alptraum wird Entsetzen und die Absurdität nackte Wirklichkeit. Unter dieser Prämisse untersucht Gambaro die menschliche Fähigkeit zur Unterwerfung. Dabei vergisst sie nie, dass sie Theater schreibt. Ihr 11

Vgl. den Aufsatz von Kohut 1990/1991. Darin verweist er u.a. auf folgende Beiträge über die Ergebnisse des Experiments: Stanley Milgram. Obedience to Authority. An experimental view. New York/London: Harper 1974.

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Vergrößerungsglas ist nicht wissenschaftlich, es ist theatralisch. Die Theatralität, das Bewusstsein darüber, dass sie auf der Bühne eine mögliche Welt konstruiert, deren Illusionsgehalt sichtbar gemacht werden kann, manifestiert sich in drei miteinder korrespondierenden Perspektiven, aus denen sie die Machtfrage betrachtet: 1. auf der Ebene der Konstellation der Figuren als Frage der Ethik. 2. auf der Ebene der Repräsentation der Figuren als Frage der Ästhetik und 3. auf der Ebene der Kommunikation zwischen Figuren (Bühne) und Zuschauern als Frage der Perzeption. 1. "Mein Theater handelt in erster Linie von Haltungen, sein ethischer Sinn liegt im Verhalten der Figuren zueinander" (Gambaro 1993). Wollte man das Theater von Griselda Gambaro in Phasen gliedern, dann bietet sich die Einteilung nach dem Verhalten der Figuren zueinander an. In all ihren Stücken finden sich die prototypischen Positionen des Unterdrückers/ Aggressors/Machthabers gegenüber derjenigen des Opfers/Unterdrückten. Daneben gibt es die Figur des Kollaborateurs/Handlangers der Macht. Bis 1975, das Jahr, in dem sie mit Sucede lo que pasa (Es geschieht, was geschieht) das letzte Stück vor Beginn der Militärdiktatur des Proceso de Reorganización Nacional12 schrieb, scheinen die prototypischen Positionen ungebrochen: Die Opfer gehen an der Macht zugrunde, ihre Identität wird zerstört. Das gilt für den joven in Las Paredes. So wird die Rolle des Alfonso in El desatino im allgemeinen interpretiert. Das gilt für Emma in El Campo, für Ignacio in Los Siameses und für den Kunden in Decir sí, um hier die bekanntesten Stücke zu nennen. Die Positionen des freiwilligen oder unfreiwilligen Handlangers in diesen Stücken werden durch die Figuren des Türstehers (Las Paredes), Luis (El desatinó), der Polizisten (Los siameses) und Martín (El campó) repräsentiert. Es scheint, als wolle Gambaro mit der eindringlichen Darstellung der Passivität der Opfer gegenüber der Macht in diesen Stücken davor warnen, die Grauen der kommenden Diktatur zuzulassen. Dafür spricht auch ihr fünfjähriges Schweigen während der Diktatur. Zwischen 1975 und 1980 hat Gambaro kein Theaterstück geschrieben. Der Vollzug des Terrors, den sie vorhergesehen hatte, ließ sie verstummen: "All that remains is silence, for there is nothing left to say" (Magnarelli 1994,24). Erst unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in Barcelona, als die Schreckensherrschaft erste Zeichen des Wankens erkennen ließ, schrieb sie in der Zeit des Jahreswechsels 1980/81 wieder ein Stück, Real envido (Königlicher Bluff), eine Farce über das "Reich der Dummheit, ohne die Gewalt zu verharmlosen" (Giella 1987,40), parabelhaft zurückversetzt in 12

"Prozess der Nationalen Reorganisation", Titel des politischen Programms der Putschisten von 1976. (Anm. d. Hg.)

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die Zeit der Ritter: Ein König will seine Tochter mit Caballero Felipe verheiraten. Margarita, an Intelligenz ihrem Vater weitaus überlegen, wehrt sich gegen dieses Ansinnen. Schon nach den ersten Dialogen taucht eine zweite Margarita auf. Diese naive Version der Tochter beugt sich dem Willen des Königs freiwillig. Hier kündigt sich eine Änderung im Schema der Figurenkonstellation aus den früheren Stücken an. Die doppelte Margarita stellt einerseits eine Parodie auf den Untertanengeist der Opfer aus den früheren Stücken dar (Margarita II), kündigt aber gleichzeitig das Aufbegehren der potentiellen Opfer in den zukünftigen Stücken an (Margarita I). 1981, im selben Jahr, in dem ihr Stück Decir si, 1974 als apokalyptische Warnung vor den totalitären Folgen des autoritären Charakters geschrieben, im Rahmen des Teatro Abierto uraufgeführt wurde, 13 beginnt Griselda Gambaro Theater zu schreiben, das der Hoffnungslosigkeit und Zerstörung der Menschlichkeit Begriffe wie Würde, Stolz und Mut entgegensetzt.14 Träger dieser Begriffe sind die weiblichen Gegenspieler der männlichen Macht in Stücken wie La malasangre, Del sol naciente (Von der aufgehenden Sonne, 1984), Antigone furiosa (Die zornige Antigone, 1986) und Morgan (1989), wobei letzteres wiederum seiner Zeit vorausgreift, indem es über die Generation der Kinder spricht, die von den Generälen der Diktatur und den Müttern der Plaza de Mayo gezeugt wurden. 2. Aber im Theater von Griselda Gambaro ist nichts das, was es scheint Auch wenn sie in ihren Stücken gegensätzliche Rollenmodelle schafft, ist ihre Welt nicht in "Gute" und "Böse" aufgeteilt. Sie schafft diese Modelle, um ihre Gültigkeit zu hinterfragen, denn Macht funktioniert anders. Wie sie funktioniert, zeigt Gambaro auf der Bühne, indem sie die theatralischen Mittel des Diskurses gegen die des Körpers ausspielt. Hierin unterscheidet sich ihr Theater ganz wesentlich vom "Theater der Grausamkeit" nach Artaud. Während dieser nämlich dem Wort auf dem Theater eine Absage erteilt und den Dialog zugunsten der Gebärden- und Bewegungssprache in den Hintergrund verbannen will, stellt Gambaro gerade mit der Rede als Gegensatz zu körperlichen Aktionen ein Spannungsfeld her, in dem die Grausamkeit um so eindringlicher wirkt. Ihre Figuren sagen meistens etwas anderes als sie tun. Durch diese Art der Repräsentation wird die Ambivalenz der Funktion von Macht sinnlich vermittelt. Die scheinbar freundliche Rede der Henker lädt die Opfer ein, sich bereitwillig 13 14

Juli 1981 im Teatro del Picadero unter der Regie von Jorge Petraglia. Über La malasangre schreibt sie: "Ich wollte eine Geschichte erzählen, die das Gebiet durchquert, in dem die allesüberherrschende Macht immer scheitert, wenn die Besiegten ihr mit Mut und Würde begegnen" (Umschlagtext von Gambaro: Teatro 1. 1984).

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auf ihren raffinierten Diskurs der Macht einzulassen, obwohl ihre Gesten das Gegenteil beweisen. Die Opfer wiederum lassen sich bereitwillig auf die Rede - den Diskurs der Macht - ein, während ihre Körper immer deutlicher vom gewaltsamen Niedergang gezeichnet werden.15 Kein OpferKörper bleibt in Gambaros Stücken unversehrt. Wie die totale Internalisierung des Macht-Diskurses schließlich zur totalen Eliminierung führt, zeigt Gambaro in Decir si. Hier hat der Repräsentant der Macht nicht einmal mehr viel Worte nötig, sein Widerpart korrigiert sich selbst. Das kostet ihm wortwörtlich den Kopf. Was Griselda Gambaro schon in den sechziger Jahren in ihren Stücken thematisierte, greift der Analyse von Machtformationen voraus, die Foucault Anfang der 70er Jahre zum Mittelpunkt seiner Untersuchungen machte.16 Er definiert den Körper als Produkt normativer Effekte und situiert ihn damit in das Feld der Politik. Insofern kann Macht nach Foucault nicht mehr als konzentriert in den Händen einiger weniger aufgefasst werden, sondern vielmehr als ein physischer Prozess tingemein detaillierter Techniken von Wissen und Kontrolle, die vor allem über Institutionen wie Schule, Familie, Gefängnisse und Anstalten ausgeübt werden. Ist es ein Zufall, dass die meisten Stücke von Griselda Gambaro sich in Institutionen wie Familie, Anstalt/Lager oder, wie in Las Paredes, in dem abstrakten Bild einer Institution, verkörpert durch Türsteher und Funktionär, abspielen? In Decir si führt sie die diskursive Verstrickung des Individuums mit der Institution der Macht (repräsentiert durch den Friseur) auf die Spitze. Sie gibt dem Kunden deren Instrumente selbst in die Hand, womit er die Möglichkeit erhält, sich ihrer zu entledigen. Für ihn ist diese Möglichkeit undenkbar. Im Gegenteil, er sucht die Anpassung. So weit ist die Manipulation bereits fortgeschritten. Ein Stück, in dem Gambaro die Ambivalenz der Funktion von Macht in nahezu perfekter theatralischer wie dramaturgischer Umsetzimg bis in den Titel zuspitzt, ist El Campo aus dem Jahr 1967, zu deutsch "Das Lager", aber auch "(auf dem) Land". Das Lager ist ein Ort, von dessen Beschaffenheit letztlich nichts Genaues zu erfahren ist. Es könnte sich um ein Konzentrationslager handeln. Das Stück bietet Elemente an, die diese Vermutung nahelegen. Franco, der Vorgesetzte, trägt "eine blitzblanke SS-Uniform und

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Diese Ambivalenz zeigt sich bereits in Las Paredes. Vgl. den oben zitierten Dialog. Foucault wollte zeigen, "how power relations can materially penetrate the body in depth, without depending even in the mediation of the subject's own representation. If power takes hold on the body, this isn't through its having first to be interiorized in people's consciousness. There is a network or circuit of bio-power, of somatopower" (Foucault 1980,185).

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ums Handgelenk eine Peitsche" (Gambaro 1967,2). Aber das könnte auch eine Verkleidung sein. Zu Beginn des Vorstellungsgesprächs mit Martin, der sich um eine Stelle im Verwaltungsbereich an "diesem Ort" bewirbt, antwortet er auf die verwunderte Frage von Martin: "Aber warum diese Uniform?" - "Sie gefällt mir. Man muss sich was gönnen, solange man lebt. Ich tue niemandem etwas Böses. Ich trage keine Waffen."(3) Der Ort könnte genauso gut eine Anstalt für Geistesgestörte sein oder vielleicht auch so etwas wie ein Ferienort für Kinder. Denn Martin hört von draußen Stimmengewirr von Kindern, gleich darauf aber auch kurze, autoritäre Befehle, wildes Gebell und "eine Art Stöhnen, das aber so unterschwellig mitschwingt, dass es manchmal eine akustische Täuschung zu sein scheint" (1). Martin weiß ebenso wenig wie der Zuschauer, wo er ist; die Bedrohung, die sich u.a. durch die Geräusche anzukündigen scheint, fällt durch Francos small talk immer wieder ins Nichts. Die verwirrende Ambivalenz spitzt sich zu, als Emma erscheint. Es ist eine junge Frau mit kahl rasiertem Schädel. Sie trägt ein langes Kleid aus grobem, grauem Stoff. Auf der rechten Handinnenseite hat sie eine blauviolette Wunde. Sie ist barfuß. [...] Ihre Gesten stimmen in keiner Weise mit ihrem Aussehen überein. Es sind Gesten und Haltungen einer Frau, die ein festliches Kleid trägt (13).

Emma war Pianistin. Nun lebt sie "dort", wird von Franco gequält und erniedrigt, hält ihn aber für ihren Beschützer. Sie hat sich eine Welt der Illusion geschaffen, in der sie als Pianistin fortlebt, in einem Verbleib auf dem Lande. Ihr Körper allerdings spricht das Gegenteil, er ist gezeichnet, von einem ständigen Juckreiz geplagt. Martin wird im Laufe des Stücks zum Zeugen ihrer Unterdrückung und ihres Wahns und will sie von den "wahren" Vorgängen überzeugen, aber das gelingt ihm nicht. Wenn er z.B. Maschinengewehrsalven hört, dann bleibt das für Emma eine Fuchsjagd. Am Ende hat auch er sich des Diskurses der Institution, in die er hineingeraten ist, nicht entziehen können. Auch sein Körper wird gezeichnet. Emma und er werden zwar nach Hause entlassen, aber dort bekommen sie Besuch von zwei Beamten, die noch eine Formalität erledigen wollen. Dann treten drei sehr kräftige Männer ein, die wie Sanitäter aussehen. [...] Einer der Männer hält mit absoluter Natürlichkeit ein eisernes Nummeriergerät in die Flamme des Kochers. [...] Als das Brandeisen glüht, verlässt der Beamte seinen Platz an der Tür, nimmt es und geht auf Martin zu. Nur das Stöhnen von Emma ist zu hören, die ihren kleinen Koffer an sich drückt. VORHANG (56f.).

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3. Griselda Gambaro schafft in ihren Stücken Wahrheiten, die sie unmittelbar, inhaltlich wie formal, widerruft. Für diese Operation hält das Theater die geeigneten Mittel bereit, und diese Mittel schöpft sie voll aus, so gründlich, dass selbst Spezialisten in die Falle der geschaffenen Theaterillusion laufen ohne zu merken, dass diese nur dazu dienen soll, als solche durchschaut zu werden. Es ist dieselbe Falle, in welche die Protagonisten der Stücke geraten: die Falle der Erschaffung einer eigenen, trügerischen Wahrheit durch selektive Wahrnehmung. Gambaro weiß - wie Brecht -, dass wir nur etwas sehen, wenn es ausgeschnitten ist. Sie will uns unserer permanenten Sehschwäche, welche auch Selbstbetrug genannt wird, überführen, indem sie - im Gegensatz zu Brecht - ausschneidet, ohne dass wir es merken. Sie seziert die Wirklichkeit und das Universum des Theaters, zerteilt beide haarfein in einzelne Stückchen, schneidet diese aus ihrem Kontext, zerlegt sie in Zitate und setzt sie in ihren eigenen Theaterstücken so säuberlich zusammen, dass wir die Schnitte nur bemerken, wenn wir die Selektivität unserer Wahrnehmung ausschalten und zu exakten Beobachtern werden. Nur so, in der Mischung aus realen und theatralischen Zitaten "in der fleckenlosen Logik des realistischen Alptraums" (Carballido 1970, 633), lässt sich die grausame Wahrheit ihrer Stücke dem Betrachter überhaupt zumuten. Ihr Theater ist im reinsten Sinne des Wortes ein Artefakt, ein Kunstprodukt, das sich nur aus geliehenen Teilen zusammensetzt, wie ihr Nosferatu, den sie in ihrem gleichnamigen Einakter (1970) zum Leben erwecken lässt. Dass Decir sí Ionescos La legon zum Vorbild hat (Pellettieri 1991a, 184), dass das Ende von Los Siameses mit dem Ende von Becketts Warten auf Godot nahezu übereinstimmt (Holzapfel 1970, 9), kann durchaus sein, lässt aber nicht die Schlussfolgerung zu, dass Gambaro "Theater des Absurden" schreibt. Sie stellt sich vielmehr darüber, um in ihren Stücken einen völlig neuen Kontext zu schaffen, in denen die Zitate in parodistischer Weise eine andere Bedeutung erhalten. Gambaro hat aus dieser Technik niemals ein Geheimnis gemacht. In Informaciones para extranjeros lässt sie den Fremdenführer z.B. Grotowski zitieren,17 und in ihrem letzten Stück Penas sin importancia (Schmerzen ohne Bedeutung, 1990), verarbeitet sie ganze Teile aus Tschechows Onkel Wanja. Gambaros Leidenschaft ist es, den Zuschauer des Selbstbetrugs zu überführen, um ihm zu zeigen, dass er nicht anders ist als die Figuren in

17

Vgl. Información para extranjeros. In: Gambaro. Teatro 2,1987,115: "Meine Damen und Herren, wer gerne mitmachen möchte, ist herzlich dazu eingeladen. Grotowski sagte: Je größer der physische Abstand, umso größer die geistige Nähe. Was für ein Unsinn!"

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ihren Stücken, indem er nicht sieht, was er nicht sehen will. Sie hat etwas von einem Kriminalkommissar, der Fallstricke auslegt, u m den Täter auf frischer Tat zu ertappen. Einer der ganz wenigen, der ihre Falle schon sehr früh erkannt hat, war Emilio Carballido. Er schrieb 1970: El Campo vervollständigt das Bild von einer Künstlerin, die über eine sehr breite Perspektive auf die Realität und über reiche Gaben verfügt, uns ihre wichtigen Beobachtungen über dieses angsteinjagende, düstere, komische Terrain mitzuteilen, wo sich willkürliche, dumme, lächerliche, monströse, unglaublich traurige und lachhafte Wesen bewegen: Wesen, die genauso sind wie wir (634).

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Eduardo Pavlovsky (*1933) Alfonso de Toro

Einleitung

Schauspieler, Regisseur, Autor und Psychiater zu sein, all dies macht den Menschen Eduardo Pavlovsky aus. Nicht nur innerhalb des argentinischen Theaters hat er Geschichte geschrieben, sondern er ist einer der wenigen lateinamerikanischen Dramatiker, die internationales Renommee über den Kontinent hinaus genießen - ein Fakt freilich, der nicht immer die entsprechende Anerkennung im argentinischen Umfeld gefunden hat. So scheint sich das Wort vom "Propheten" zu erfüllen, der "nichts gilt im eigenen Land". Pavlovsky kann bereits auf eine lange Theaterlaufbahn verweisen - seine Aktivitäten im Theater gehen bis ins Jahr 1957 zurück, als Autor begann er spätestens 1961 mit Somos (Wir sind) und La espera trdgica (Tragisches Warten) - seine Erfolge sind insbesondere außerhalb Argentiniens, aber auch im Land selbst, gut bekannt, weshalb es zumindest merkwürdig anmutet, dass sein Werk bislang weder im Umfeld des Theaters (von einigen Ausnahmen in jüngster Vergangenheit abgesehen) noch in der Welt der Kritik den ihm gebührenden Platz einnimmt.1 In einem der letzten Interviews (vgl. de Toro 1991, 42-45) betont Pavlovsky seine Situation des Theatermachers am Rande des etablierten Theaterbetriebes, wobei er gleichzeitig auf ein jüngst erschienenes Buch mit dem suggestiven Titel den anos de teatro argentino (100 Jahre argentinisches Theater) Bezug nimmt, in welchem nur La espera trägica beiläufig erwähnt wird.2 Daher hat Pavlovsky wohl recht, wenn er feststellt: Ein Kritiker muss über seine persönlichen Vorlieben hinaussehen, denn was geschieht, ist, dass jemand intellektuell und künstlerisch verschwindet. Die Verschwundenen in Lateinamerika sind nicht nur diejenigen, die physisch ver-

1

2

In jüngster Zeit gab der berühmte französische Schauspieler L. Trintignant mit Potestad von Pavlovsky sein Debüt als Theaterschauspieler in den USA. Im Buch von Pellettieri (1990) geht es in der Tat nicht um ein Panorama (ebensowenig um eine systematische Darstellung) der Geschichte des argentinischen Theaters, sondern um eine schlichte Sammlung bereits publizierter Artikel zu verschiedenen Autoren. Daher ist die Zusammenstellung willkürlich und zufallsbedingt, so dass Pavlovsky und weitere wichtige Autoren nicht berücksichtigt bzw. nur am Rande erwähnt werden.

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schwinden, sondern auch diejenigen, die intellektuell verschwinden, wobei es in dem genannten Fall noch ernster ist, da die Eliminierung von einem Kritiker [...] ausgeht, der sich dem Theater in Theorie und Praxis widmet (Pavlovski/de Toro 1991,42).

Das Grundproblem, das Pavlovsky in der gegenwärtigen Kritik sieht, ist ein zweifaches: Auf der einen Seite gibt es eine gewisse Zahl von Kritikern, die nicht auf dem laufenden sind über das, was heute in der Welt geschieht und nicht über das Instrumentarium zur Analyse des Theaters verfügen, andererseits sind die informierten Kritiker überwältigt worden von der Schnelligkeit und Verschiedenartigkeit des gegenwärtigen Theaters: Wir benötigen neue, junge Kritiker, die diese Avantgarden begleiten.

Das einzige uns bekannte Buch, das sich dem Werk Pavlovskys widmet, ist jenes Teatro argentino hoy (1981), das den Bezugspunkt für jedwede Einführung in sein Theater darstellt.3 Ausgehend von dieser Arbeit, von der Lektüre einer größeren Anzahl von Werken Pavlovskys,4 von zwei Inszenierungen, Potestad und Paso de dos,5 sowie Interviewmaterial und theoretisch-szenischen Darlegungen von Pavlovsky selbst wie auch von den Regisseuren seiner Werke,6 möchte ich innerhalb des engen Rahmens eines Artikels versuchen, ein Panorama seines Theaters zu zeichnen, indem ich die Merkmale beschreibe, die uns als die grundlegenden erscheinen, wobei ich in einigen Fällen insbesondere auf das Moment der Inszenierung eingehen werde.

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Ediciones Búsqueda. Buenos Aires 1981; mit Arbeiten von G. O. Schanzer, Ch. B. Driskell, D. W. Foster und W. I. Oliver, die detaillierte Informationen über das Werk von Pavlovsky bieten. Neuerdings ist die Heidelberger Dissertation von Estela Patricia Scipioni (2000) hinzugekommen. Die Werke sind folgende: Ultimo Match (Das letzte Match, 1967), La mueca (Die Grimasse, 1971), El señor Galíndez (1973), Cámara lenta. Historia de una cara (Zeitlupe.

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Geschichte eines Gesichts, 1978), Telarañas (Spinnennetze, 1976), Pablo (1984). El señor Laforgue (1982), Potestad (Die Gewalt, 1986), Cerca (Nähe, 1988), Paso de dos (Pas de deux, 1989), El Cardenal/La ley de la vida/Alguna vez (Der Kardinal/Das Gesetz des Lebens/Irgendwann einmal, 1992). Potestad betreffend beziehe ich mich auf eine Videoaufzeichnung des Festivals in Mexiko, auf die Aufführungen in Ottawa (August 1991), Santiago de Chile (August 1992) und Augsburg (März 1993). Für Paso de Dos lege ich eine Videoaufzeichnung des Festivals in Essen (Juli 1991) zugrunde. S. Pavlovsky 1974, 1980a, 1980b, 1987, 1989; Pavlovsky/Hermes 1970, 3f.; Pavlovsky/Kogan 1986; Pavlovsky/de Toro 1991; de Toro 1991.

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1. Geschichte und Merkmale des Theaters Pavlovskys Das Theater Pavlovskys ist von seinen Anfängen an und die 70er Jahre hindurch in den politisch-sozialen Utopien verwurzelt, welche die damalige Zeit kennzeichneten; gleichermaßen beginnt sich aber vom ersten Augenblick an eine Tendenz zur Neutralisierung einer referentiellen Mimesis herauszukristallisieren, wobei diese durch etwas ersetzt wird, das wir als eine schwache (debole) Struktur und als einen "räumlich-zeitlichenNull-Zustand" bezeichnen könnten, wobei sowohl die Handlung als auch die Figuren erfasst werden. Innerhalb dieser offensichtlichen Abstraktion verwandelt sich das Gezeigte nicht in etwas semantisch Neutrales, sondern es erlangt eine Universalität, die Pavlovsky Raum zur theoretischen Reflexion und zum Experimentieren gibt. Diese in Lateinamerika neue Theaterformel führt dazu, dass die direkte Anwendung dessen vermieden wird, was Pavlovsky als die "Linie einer harten, politischen Botschaft" bezeichnet oder als "den Imperialismus der Identität: dort wurde er geboren, von da kommt er, sie trinken Mate, wie es im allgemeinen im rioplatenser Theater zu finden" ist, so dass sein Theater nun als eine "Reise durch neue Fragestellungen" verstanden wird, die zur Schaffung "neuer Bereiche der Existenz, neuer Identitäten, neuer ästhetischer Körperformen" führt (de Toro/Pavlovsky 1991,43). Diese Orientierung seines Theaters stellt sich im Verlauf der 80er Jahre schließlich als eine Neukodifizierung einiger Aspekte des Theaters von Beckett und von Pinter dar, was Pavlovsky "Theater des Genusses" (teatro del goce) nennt. Dieser Terminus kann als eine Kombination rein theatralischer Zeichen verstanden werden, die ihr Artefakt zum Thema machen, wobei gleichzeitig eine Reihe von Elementen aus dem Volkstheater, dem politischen Theater, dem grotesken Theater und dem Puppenspiel (mit klarem Bezug zu Dario Fo) zur Anwendung kommen, ein Theater also von hoher semantischer Ambiguität, in dem der Versuch unternommen wird, das Gefühl der Beklemmung, der Einsamkeit und Gewalt zu übermitteln. All das sind paradigmatische Themen im Theater Pavlovskys, die insbesondere in La mueca, Cerca, El señor Galíndez, El señor Laforgue, Pablo, Potestad und Paso de dos einen dramatischen Ausdruck finden. Alles Gesagte betrifft eine Neuformulierung all jener Elemente, die das Theater definiert haben, inklusive das der Spätmoderne, das Ionescos und Becketts, bis hin zu dem Punkt, an dem alles verschwindet, was früher Text, Dialog, Figur, Raum und Zeit ausmachte. Das Theater Pavlovskys stellt sich als eine radikale Subversion der Darstellung im Rahmen einer "Verwindung" der Theatertraditionen dar,7 indem es das Politische 7

Zum Begriff "Verwindung" im Allgemeinen und im Theater, s. de Toro 1992.

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behandelt, ohne politisch zu sein, das Soziale zum Thema macht, ohne sozial zu sein, oder das Ethische zum Gegenstand hat, ohne moralisierend zu sein, indem es die Geschichte in Erinnerung ruft, ohne historisches Theater zu sein usw. Die Verwindung wurzelt darin, dass nicht "schwarz/weiß gemalt" wird, sondern dass die ganze Komplexität einer Figur gezeigt wird, die man traditionell anklagte und bekämpfte - und dies seit Último Match (Das letzte Match), wo beispielsweise in der Figur des Boxers oder des Folterknechtes die Mechanismen offengelegt werden, die in der Tiefe des Unbewussten oder in Tabuzonen begründet liegen. In diesem Aspekt besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem postmodernen Theater eines Pavlovsky und gewissen Formen des nordamerikanischen oder europäischen postmodernen Theaters, das eine Überästhetisierung und eine spielerische Komponente aufweist, wovon Pavlovskys Theater jedoch nicht ganz frei ist. Pavlovsky stellt daher einer reinen Ästhetik des Vergnügens, der hohen Kultur, der Schönheit seine Ästhetik des Genusses zur Rührung des Zuschauers entgegen, die in einer absoluten Zwiespältigkeit, in einem konstanten Kampf gegen ethische Parteinahme begründet liegt. Seine Werke sind "a-ethisch" in dem Sinne, dass sie keine bestimmte Perspektive präjudizieren; daher provozieren sie. Seine ästhetische Intention ließe sich sogar auf der Basis der klassischen Termini admiratio, terror und perturbatio definieren, allerdings nicht mehr ausgehend von der Basis vorgegebener ethischer oder ästhetischer Codices, sondern von der Negierung des Zentrums, auf dem solche Postúlate beruhen. Die Leere, die vom impliziten Leser/Zuschauer gefüllt werden muss, ist die Quelle der Erschütterimg.8 Ein so konzipiertes Theater öffnet ein neues Paradigma im Kontext des lateinamerikanischen Theaters - neben Dramatikern wie Ramón Griffero, Antunes Filho, Gerald Thomas, Luis de Tavira und anderen - in dem dieses mit Botschaft überladene lateinamerikanische Theater der harten Linie, der harten Denkweise, der Augenfälligkeit und des geringen Bewusstseins bezüglich des künstlerischen Instrumentariums abgelöst wird. Pavlovsky sagt lapidar: "Man kann nicht in den Neunzigern dasselbe sagen wie in den Siebzigern". Wenn wir die Rhizom-Theorie von Deleuze und Guattari bemühen, können wir sagen, dass Pavlovsky das Theater in seiner traditionellen Form "deterritorialisiert", um es in einem postmodernen Kontext zu "reterritorialisieren"; das bedeutet ausgehend von einem Zustand x, von innen heraus, entgegen dem Gewohnten, ohne offensichtliche ethische Position einen Effekt erreichen, der über die reine Botschaft hinausgeht. Es gibt eine 8

Im Hinblick auf La mueca vgl. Oliver 1988.

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Aufspaltung auf allen Niveaustufen, wo der körperliche Ausdruck zum Zeichen und das Zeichen etwas rein Körperliches wird, wo die Stimme ein Klang ist, die einen Zustand reproduziert, der nur im absoluten Augenblick der Aufführung wahrnehmbar ist.9 Die Struktur der Theaterarbeit Pavlovskys weist einen oxymoronischen Status auf, insbesondere in den 80er Jahren. Einerseits ist der Text eine schlichte Grundlage für die Entstehung von szenischen Bildern, d.h. ein Ausgangspunkt, um Theater zu produzieren, andererseits weist er eine starke, entpragmatisierte, semantisch offene Implikation auf, die für Regisseur und Publikum zur Disposition steht. Von hier aus leitet sich sein postmoderner, entterritorialisierter, unbestimmter und antiautoritärer Charakter ab. Der Text ist Ausgangspunkt für Debatte, Reflexion, Rekodifizierung. So existieren z.B. Werke wie La mueca, Potestad, Pablo und insbesondere Paso de dos vor dem Text bzw. gründen sich auf eine Interaktion zwischen Text und Handlung, sie sind Produkte einer umfassenden schauspielerischen Arbeit; es handelt sich nicht um Inszenierungen, sondern um Theaterimprovisationen, die einen Grad von Akzeptanz erreichen, der es ihnen ermöglicht, sich schließlich als Text und Stück zu kristallisieren.10 Seit Ultimo Match sind die dramatischen Texte Pavlovskys gekennzeichnet durch die Ökonomie ihrer Sprache, durch ihren Collagen-Charakter (und damit durch den Verzicht auf räumlich-zeitliche Kausalität), durch das Groteske, das Puppenspielhafte. Der Text wird betrachtet als "Material" im Dienst der Schauspieler und des Regisseurs, d.h. für die Inszenierung; er ist offen, ein reiner Prä-Text, der seine Legitimation nur in dem Moment erhält, in dem er Theater wird.11 Diese Charakteristik ergibt sich daraus, dass Pavlovsky keine autoritäre Autorenschaft beansprucht, sondern sein Theater als kollektiven Prozess betrachtet, an dem Autor, Schauspieler, Regisseur und Publikum teilhaben.12 In exemplarischer Form

9

10 11 12

Diesbezüglich ist Pavlovsky weiter als jeder andere Avantgardist jener Zeit, wenn er feststellt, dass Elemente wie die Bewegung, der Klang, der Rhythmus, die Beleuchtung usw. die "wirklichen Protagonisten in einem Werk" seien (Pavlovsky/Hermes 1970,3), währenddessen der Regisseur von Ultimo Match diese als "handwerkliche, technische, d.h. sekundäre Probleme" betrachtet (ibid., 9). S. Ferrigno 1980,25ff. und Pavlovsky 1987. S. Pavlovsky/Hermes 1970,3. Im Gegensatz zu einem anderen postmodernen Theaterautor, Jean-Marie Kolt6s, der in Hamburg eine große Diskussion auslöste (die im Spiegel und in Theater heute dokumentiert wurde), da er - nicht einverstanden mit der Inszenierung seines Werks La solitude dans les champs de cototi - alle Aufführungen in Deutschland verbot und festlegte, dass Patrice Cherau der einzige, für die Aufführung seiner Werke autorisierte Regisseur sei.

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erfahren wir, wie dieser Prozess des dramatischen Textes als Aufführungstext in Ultimo Match umgesetzt wird, dank der wertvollen Anmerkungen des Regisseurs C. Ramonet, der eine ähnliche Methode anwendet wie Bob Wilson, indem er seine Arbeit mit den Schauspielern ausgehend von einer Grundidee des Textes beginnt, die durch Improvisation und Handlung ihre dramatische Form annimmt, und dann, nach und nach, den dramatischen Text einbezieht. Als sich Ramonet am Ende seines Essays nach der Autorschaft fragt, benennt er die vierundsiebzig Schauspieler und den Regisseur. Seit Ultimo Match präsentiert sich das Theater Pavlovskys als Körperlichkeit, zu verstehen im Sinne des totalen Zeichens, was meisterhaft erreicht wird in Potestad und insbesondere in Paso de dos. Der Körper wird selbst zur Quelle von potentieller Bedeutimg, er ist nicht mehr nur ein Träger, eine Krücke für das Wort, er stellt sich als Quelle von vielfältiger Bedeutung, so dass sich das Problem der Bedeutung selbst als Frage stellt. Das Geschriebene oder das Theaterzeichen wird zu einem subversiven Element, es zerstört die Unschuld, die in die erstrebte Provenienz der parole eingeschrieben ist, um mit Derrida zu sprechen, und auf diese Weise wird der in hohem Maße fragwürdige Realismus, der einen großen Teil des lateinamerikanischen Theaters kennzeichnet, ausgeblendet. Schließlich bleibt noch ein letztes Charakteristikum zu nennen, und zwar die beständige Entpragmatisierung des Diskurses, d.h. seine Situationslosigkeit, das Fehlen eines offensichtlichen kontextuellen Ursprungs, warum und weshalb. Er ist immanent rhizomatisch, hochgradig auf den Autor bezogen, und selbstgenügend, wodurch es möglich wird, die Theatersprache, ihren semantischen Aspekt, ihre Syntagmatik und somit das Artefakt des Diskurses zu rekodifizieren. Anhand der 123 Werke, die innerhalb von etwas mehr als fünf Wochen auf dem Theater-Sommerfestival 1992 in der Kampnagel Fabrik Hamburg aufgeführt wurden - dazu gehörte auch Tanztheater -, wird deutlich, dass diese neue Formel des lateinamerikanischen Theaters, die von Pavlovsky sehr früh vertreten wurde, die Fähigkeit besitzt, einen universellen Raum einzunehmen, einzufordern und für sich zu behaupten, dass dies das dominierende Paradigma ist, das das lateinamerikanische Theater nicht nur zugänglich macht, sondern überdies zu einer lohnenden Rezeption einlädt.

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2. Die Werke 2.1 Último Match, eine szenische Collage des individuellen und kollektiven Bewusstseins, und Cámara lenta, eine psycho-physiologische Collage eines Ex-Boxers Último Match, in neunzehn Szenen gegliedert, die zwischen "Stadion", "Szenen auf der Straße", "Zimmer des Champions", "Sporthalle", "zentralem Platz der Stadt", "Vorzimmer eines hohen Funktionärs" und "tiefe Nacht/Baum" ohne kausale Raum-Zeit-Relation wechseln, was als "expressionistisch" angesehen wird, ist ein tiefes Eindringen in die Psychologie und die Gefühlsbewegung des Individuums im Hinblick auf den sinnlichen und intellektuellen Genuss der Gewalt. Dabei werden Tabuzonen aufgedeckt, jedoch nicht in anklagender, moralisierender Weise, sondern als schlichte Feststellung, verbunden mit einer starken ethischen Provokation, die konkretisiert ist in der Selbstopferung des Champions, nachdem er seinen Gegner im Kampf getötet hat, und als Konsequenz aus seiner inneren Ablehnung des Berufs oder Sports, den er ausübt. Sein Selbstmord ist der Befreiung der Gewalt äquivalent, sein Triumph gegenüber dem Publikum, das - gleichgültig gegenüber dem Schicksal des jeweils einzelnen Boxers - einen anderen Champion fordert. Auf diese Weise produzierten Pavlovsky/Herme kein "realistisches", "expressionistisches" oder anekdotisches, eine Botschaft transportierendes Werk, es geht vielmehr darum, die Abgründe der Gewalt zu thematisieren, die dem menschlichen Wesen innewohnen und es schließlich bis zur Entwicklung einer kriminellen Energie führen (die Manager, die den Champion versklaven, das Publikum, das zur Lynchjustiz fähig ist, wenn es sich in der Umsetzung seiner Aggression nicht befriedigt sieht). Cámara lenta. Historia de una cara ist eine Fortsetzung der Thematik von Último Match, insofern das Leben eines ehemaligen Boxers, seines Managers und einer mit beiden befreundeten Prostituierten behandelt wird. Auch hier haben wir eine kaleidoskopartige Zusammenstellung von Szenen (zwanzig insgesamt) ohne jegliche kausale Einheit. Der einzige Punkt linearer Beziehung ist der beständige geistige und körperliche Verfall des ehemaligen Boxers. Es sind Abbilder oder Diagramme des psychologischen und physischen Zustands, in dem sich der (fünfundvierzigjährige) ehemalige Boxer Dagomar nach einer schweren Niederlage befindet, ein Zustand, der ihn in die völlige Abhängigkeit von seinem gealterten Manager Amilcar treibt, der die Rolle des Krankenpflegers übernimmt. Das Stück endet mit dem beklagenswerten Zustand des Verfalls Dagomars und mit der Verzweiflung Amilcars, der zu einem Messer greift und das Licht löscht.

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Die Grausamkeit und das Groteske sind im Stück vorherrschende Elemente, ebenso wie der sich wiederholende Diskurs, der sich in vielen Fällen als aus der Pragmatik herausgelöst zeigt, wie in der Szene "Secando el sudor" (Den Schweiß abtrocknend, 48-51) deutlich wird. 2.2 La mueca, die Ästhetik der Folter als Mittel der Enthüllung, und Cerca. Melodía inconclusa de una pareja, Einsamkeit und die Folter der Liebe La mueca behandelt das Problem der Scheinheiligkeit und der Korruption der wohlsituierten bürgerlichen Klassen, das Problem des ästhetischrevolutionären Fanatismus, ob von links oder rechts, das Problem der Liebe, der Sexualität, der Grausamkeit, des Sadomasochismus und der Folter. Ein Filmteam bricht in das Haus eines gutsituierten Paares ein, setzt die beiden unter Drogen und lässt sie live agieren, man erniedrigt sie (die Ehefrau wird geschlagen, der Ehemann wird gezwungen, dem Schweden, einem der Verbrecher, die Füße zu küssen), man erlaubt ihnen, ihre Würde zurückzugewinnen, indem man ihnen die Möglichkeit eröffnet, zu protestieren und Gewalt anzuwenden (die Ehefrau, das Opfer also, spuckt und greift ihre Peiniger an, der Ehemann schlägt den Schweden lang und hart), aber letztendlich kehren beide zu ihrer Opferrolle zurück. Um eine direkte Identifikation mit der einen oder der anderen Gruppe zu verhindern, gibt Pavlovsky - ohne die Moral oder den Diskurs der Eheleute zu relativieren - vor, dass das Paar seine Folterer bittet zu bleiben. Das Paar tröstet sich dann lustvoll beim Zuhören der Stimme des Schweden. Ein solcher Schluss zwingt den Zuschauer, seine ästhetisch passive Rolle (die im Werk thematisiert wird) aufzugeben. Cerca ist das andere Gesicht von La mueca, es ist dessen sanfte Seite, es ist ein knapper und ökonomischer Dialog, eher ein dialogisierter Monolog, zwischen zwei Figuren, Ihm und Ihr, der den Verlust der Liebe behandelt, die Abnutzung von Worten, von Gesten, letztlich sogar den Verlust der eigenen Identität und der des anderen im Laufe der Zeit. Als letzte Anstrengung, um der Beziehung Sinn zu geben, versuchen die beiden zu spielen, indem sie auf Erinnerungen zurückgreifen, eine Beziehung herzustellen, aber ein solches Unterfangen scheitert. Am Ende bleiben Beklemmung und Leere. Cerca ist die Ankündigung von Paso de Dos. 2.3 Telarañas oder die Gewalt in den Verwandtschaftsbeziehungen Wie Último Match und Cámara lenta kollektive und individuelle Gewalt behandelten, wie La mueca versuchte, die Scheinheiligkeit der Bourgeoisie und die Gewalt militanter Gruppen offenzulegen, so offenbart Telarañas die "Gewalt in den familiären Beziehungen" und "macht die unsichtbare

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ideologische Struktur sichtbar, die jeder familiären Beziehung unterliegt" (Pavlovsky 1980b, 125). Trotz dieses Zieles, das Pavlovsky als eine reine Option von seinem Standpunkt als Autor betrachtet, akzentuiert der Dramatiker das rein Theatralische des Werks, indem die Figuren nicht "Ideen aussprechen" sollen, d.h. zu Trägern von Botschaften werden, sondern zu Erlebnissen im hic et nunc der Vorstellung transformiert werden. Telarañas dreht sich um drei Figuren: den Vater, die Mutter und den Jungen, in deren Beziehung in einem Moment zwei Mitglieder des Geheimdienstes einbrechen, Beto und Pepe.13 Die Beziehung des FamilienTrios können wir als pervers ansehen: Der Sohn, der in seiner Persönlichkeit große Defizite aufweist, wenn er nicht überhaupt geistig zurückgeblieben ist, unterhält sexuelle Beziehungen zu seiner Mutter; diese verhätschelt ihn und füllt ihn bis zum Erbrechen mit Püree, und das mit sadistischem Vergnügen; sie ihrerseits ist masochistisch veranlagt und lässt sich von Pibe mit Peitschenhieben auf den Rücken bestrafen; der Vater ist roulettebesessen und ein Sadist, der den Sohn fast zu Tode misshandelt (er zerschneidet ihm das Gesicht und entstellt es so bis zur Unkenntlichkeit). Die Eltern sind nur zu sexueller Beziehung fähig, während sie Pibe foltern, ohne sich allerdings ihres sadomasochistischen Verhaltens bewusst zu sein; sie sind im Gegenteil davon überzeugt, perfekte Eltern zu sein. Am Ende des Stückes schenken sie Pibe ein Seil, mit welchem sie ihn dann erhängen. Pibe stirbt nach heftigen Zuckungen, wobei er den Spiegel zerstört, in dem er sich narzisstisch beobachtet hatte, so dass dieser Sprünge in Form eines Spinnennetzes trägt. Die Sprache ist reduziert in ihrer Thematik, aber ausgesprochen heftig. Die Diskurse beziehen sich auf das Roulette, auf die Art von Nahrung, die Pibe erhält (ausschließlich Brei), auf sein Dasein als Homosexueller und auf seine Pflicht, durch hohe sportliche Leistungen seine Männlichkeit zu beweisen. 2.4 El señor Galíndez und Pablo oder die zwei Seiten einer Medaille El señor Galíndez und Pablo sind zwei Seiten einer Medaille. Die eine ist die Gegenwart, die andere die Vergangenheit. El señor Galíndez ist vielleicht eines der bekanntesten, erfolgreichsten (neben Potestad) und sicher exponiertesten Werke Pavlovskys. 14 Nachdem es 1973 in einem großen Teil des Landes aufgeführt wurde und einen terroristischen Anschlag erlebte, wurde es 1975 als Vertreter des argentinischen Theaters für das X. TheaterFestival von Nancy ausgewählt. Danach ergingen Einladungen aus mehre13 14

Hier haben wir eine eindeutige Reminiszenz an Potestad. Wir benutzen die Ausgabe der Ediciones Búsqueda. Buenos Aires 1986.

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ren europäischen Hauptstädten, z.B. Paris und Rom. Das Werk gewann 1976 den Preis für die beste Inszenierung auf dem Internationalen TheaterFestival in Caracas, 1984 kam es in Spanien in die Kinos, und 1986 wurde es in New York aufgeführt. Einmal mehr setzt sich Pavlovsky mit dem Problem der Beklemmimg, der Unterdrückimg, der Folter und der anonymen und unbarmherzigen Macht der Diktatur auseinander. El señor Galíndez bringt uns 1984 von George Orwell in Erinnerung, denn Galíndez ist nur eine Stimme, die aus dem Telefon kommt und bei der sich seine Komplizen oder Folterknechte, Pepe und Beto, nicht sicher sind, ob es immer dieselbe ist. Seine Anhänger leben in der Ungewissheit, die Teil des Systems der Unterdrückung und Beklemmung ist, und warten auf seinen Anruf, um eine neue "Arbeit" zu bekommen oder ein neues "Paket", das sind Menschen, die sich gegen das System aufgelehnt haben und wieder "zur Ordnung gerufen" werden sollen. Galíndez hat sogar ein "Traktat" über die Folter geschrieben, das als Ausbildungsgrundlage für Neulinge dient. Herausfordernd ist die rohe, teilnahmslose und neutrale Weise, in der die Tabuzonen von Masochismus, Sadomasochismus und Sadismus bei der Beschreibung der Beziehung zwischen Pepe und seiner Frau behandelt werden. Die beiden können nur über die Gewalt zu sexueller Erfüllung kommen. So schlägt die Begegnung mit zwei Prostituierten - die Galíndez seinen beiden Anhängern als Geschenk schickt - von einem anfänglichen Bacchanal zu einer Folter-Orgie um. Die Gleichgültigkeit wird in der Vorstellung von Sara verkörpert, die das Zimmer säubert, während die anderen Figuren sich ihrer Orgie hingeben. Der Schritt vom Erotischen zur Folter geht von einer Tätowierung Cocas aus, die Perón zeigt. Auf diese Weise bringt Pavlovsky das politische Element ein und zeigt, ohne es zu sagen, dass die Gruppe Galíndez von totalitärem Zuschnitt ist. Pablo wird von Pavlovsky als "nicht geschriebener [...] Schlussbuchstabe", betrachtet, wobei der Schlussbuchstabe zum Punkt des Einsatzes wird, der Buchstabe ist "das Bild, das einen anderen Diskurs schafft, wenn es betrachtet wird" und das "Raum schafft für andere Szenen, die nur als Möglichkeit im Text angelegt sind"; und er fügt sein Konzept des dramatischen Textes als eine "Suche" an, die sich von der traditionellen Strenge löst und den Eindruck von Anarchie bezüglich der Struktur hinterlässt. Aber für Pavlovsky ist die Struktur "eine Masche des Weges des geschriebenen Textes", d.h. eine angelegte Struktur konkretisiert sich im Bühnentext. Es ist ein Text mit "Leerstellen", ein Text, der übertreten werden muss. Es handelt sich nicht um eine Rekodifizierung des Textes, sondern um eine Verwindung in der Sprache Pavlovskys, um ein "erneutes Hineinschreiben

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von vielfältigen Sinnelementen, die im Originaltext eingesperrt waren" (s. Pavlovsky 1986,54f.). Die Figur des Pablo ist eine einfache Nennung, ein Graphem, ohne Gesicht, ohne erklärte Vergangenheit, ohne Identität und ohne Funktion, ebenso wie die anderen beiden Figuren, L. und V., aber Pablo scheint drei Figuren zu vereinen, die beiden erwähnten sowie Irina, die offenbar eine vage Beziehung zu V. hat. Wenn die Frage nach dem Thema dieses Werks gestellt wird, müssen wir antworten, wir wissen es nicht. Es fehlt jegliche pragmatische Organisation der Diskurse, d.h. ein Fehlen von Deixis, eine radikale Herauslösung aus einem Kontext. Wir wissen, dass V. eines schönen Tages L. besucht, sagt, dass er von Pablo käme und einen Brief überreicht, den er neben einem Hemdkoffer und einer Rauchpatrone mit sich führt. Der Ort, an dem sich L. befindet, ist anonym, ebenso ist unbekannt, woher V. kommt, und man erfährt auch nicht, ob L. tatsächlich ein Freund Pablos ist, wie V. behauptet. Das einzige, was wir herauslesen, sind die folgenden Punkte: - Das Vorherrschen des Themas, dass sich "die Dinge überall häufen; Probleme des Überflusses" vs. "dort ist nichts übrig, es fehlt alles"; woran V. im Hinblick auf "dort" erinnert, wird von L. nicht erläutert; - Das Erwähnen des Überflusses und dass "dort alles verschlungen wird, wenn Hunger besteht" verursacht Grauen bei L., die Erwähnung der Vergangenheit ängstigt sie. L. will nur ohne Erinnerung überleben; - L. beobachtet eine gespannte Szene, eine Eifersuchtsszene zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau, die aber ohne ein Wort, mit einfachen Gesten, wie im Stummfilm, und in Zeitlupe abläuft. Dann sieht V., wie plötzlich zwei Männer in das Zimmer des Paares eindringen und den Alten schlagen, bis ihm das Blut aus den Augen rinnt, die ihm herausgerissen werden, und die Frau vergewaltigen. L. bittet V., sich nicht zum "Zeugen" zu machen. V. weist die versammelten Nachbarn, die glauben, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt, darauf hin, dass "dort solche Dinge normal seien... notwendiger Zeitvertreib. Ein wenig Blut bekommt niemandem schlecht" (Pavlovsky 1986, 76). Auf der Wand liest man einen mit Blut geschriebenen Text: "Vergiss mich nicht." Der Alte und die Frau sterben Hand in Hand. Was V. beeindruckt, ist das gewaltige "poetische Ende", und die Nachbarn applaudieren. V. fügt hinzu, dass "dort" die Leute, die von der Linie abweichen, so behandelt werden, um zur Normalität zurückgeführt zu werden. An diesem Punkt setzt sich diese Beobachtung in Beziehung zu einem beiläufig gesagten Satz, dass nämlich die Männer, die in das Zimmer eindringen, "etwas suchen wollen", und mit den Kommentaren

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V.s bezüglich Macht und Ordnung und deren Notwendigkeit, ergibt sich eine Anspielung auf ein politisches Verbrechen; - Irina tritt überraschend herein, sie ist offenbar die Geliebte Pablos und die Ehefrau von V., später liebt sie L., wobei der Rhythmus begleitet wird von Erinnerungen V.s an Pablo; - Die drei Figuren scheinen in eine undurchsichtige Vergangenheit verwickelt zu sein, die Irina als "eine schwierige Welt" charakterisiert, weshalb sie "nicht schuldig seien". Es wird vage angespielt auf das spätere Problem des Grades an Verwicklung oder Militanz bzw. Mittäterschaft in einem totalitären System, und auf das Problem, den Glauben an Werte verloren zu haben; von hier aus erklärt sich das Bedürfnis L.s, einfach nur zu überleben, und dies, ohne dass etwas hiervon in expliziter Form erwähnt würde, sondern nur als schlichte Andeutung (wir haben hier eine Reminiszenz im Hinblick auf Paso de dos); - Am Ende kristallisiert sich eine Beziehung zwischen Pablo und L. heraus: L. hat Pablo, einem Befehl entsprechend, getötet, und Pablo hat sich durch einen Befehl töten lassen, und V. kommt, um L. auf seinen eigenen Befehl hin zu töten: Er vergast ihn. 2.5 El señor Laforgue oder der "Hyperrealismus" der Folter El señor Laforgue könnte man vielleicht als das "politischste" Werk Pavlovskys interpretieren, in dem Sinne, dass die Diktatur von "Papa Doc" in Haiti direkt erwähnt wird, aber der Autor verfährt in der bekannten Weise, er produziert keinen "politischen", "anklagenden" Text, sondern im Gegenteil, er spaltet das Opfer und den Unterdrücker/Folterer auf, er nutzt in beiden Fällen den "Hyperrealismus" (von Pavlovsky als "erbitterten Realismus" bezeichnet) sowie Elemente des grotesken Theaters, die verbunden werden mit verbreiteten Klischeevorstellungen, die Lateinamerikaner oder Leute aus der Dritten Welt von den USA haben, oder mit Gemeinplätzen über bestimmte soziale Figuren. Es sind wiederum die kalten, allmächtigen und anonymen Kräfte der Unterdrückung, die die Welt der Handlung beherrschen und die Gefühle der Figuren leiten. Juan Carlos Open lebt ein normales Leben, das plötzlich unterbrochen wird durch die Geheimpolizei, die seine Vergangenheit als vom Regime bevorzugtes Mitglied erkundet. Seine Arbeit bestand darin, ein kleines Flugzeug zu fliegen, in dem Regimegegner transportiert wurden, die man mit Drogen in Schlaf versetzte und dann ins Meer warf. Im Gefängnis trifft er Calvet, eines der Opfer, dem es gelang, sich zu retten. Dieser löst einen Skandal aus, weil er die Art und Weise offenlegt, in der sich das Regime seiner Gegner entledigt, und wird lebenslänglich eingesperrt. Calvet, der seine Vergangenheit vergessen hat und sich nur an den Flug, seine Flucht

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und das Gesicht des Arztes sowie das des Piloten Juan Carlos Open erinnern kann, ist nun Teil des Regimes, er betätigt sich als Zuhälter und Spitzel. Sein Zustand ist beklagenswert, sein Körper ist von Folter und Infektion gezeichnet, sein Geist aber hell und sadistisch. Juan Carlos Open wird einer psychischen und physischen Drogenbehandlung unterzogen, was ihn in Laforgue verwandelt, einen Charles Atlas der Zeit, man gibt ihm eine neue Ehefrau und von den Armen Haitis gekaufte Kinder. Seine wirkliche Ehefrau (Pichona) wird mit einer Pension auf Lebenszeit zufriedengestellt. Dann wird beschlossen, ihn als Professor für Körperkultur in die USA zu schicken. Die Figur hat ihre Augenblicke der Erleuchtung: Sie wird von Albträumen gequält, die ihr die Reisen im Flugzeug und jene Situationen in Erinnerung bringen, als sie im Schlaf aus dem Flugzeug ins Meer geworfen wurde. Opens Entsetzen über das Flugzeug wird unterbrochen durch eine Art Seebeben, das der Stadt alle Leichen zurückbringt. Das Phänomen wird beobachtet als ein "herrliches Schauspiel von schöner Farbenpracht" mit den Leichen auf den Wellenkämmen. Laforgue - inmitten der Menschenmenge - erkennt glücklich seine Verschwundenen und fordert Gerechtigkeit ein, er wird zu einer Art Prophet. Das Stück endet mit einem Meer von Leichen, welche die Bühne überschwemmen und mit einer Stimme im Off, die "Papa Doc" rühmt. 2.6 Potestad oder die "schwache Leere": zwischen kinetischem und dekonstruktivistischem Theater Diese Werke Pavlovskys verkörpern ein sehr aktuelles Theater innerhalb jener Strömung, die wir als historisierende dekonstruktivistische Postmoderne bezeichnen (vgl. de Toro 1990). Dieses Stück ist eine Mischform innerhalb des Modells, das wir für das postmoderne Theater entwickelt haben (vgl. ibid, 9). Das Werk lässt sich mindestens in drei der Modelle einordnen: Es ist in hohem Maße kinetisch, dekonstruktivistisch, und es lässt sich auch charakterisieren als restaurativ-historisierend, allerdings vollzieht sich eher eine Deterritorialisierung dieses letzten Modells aus dem üblichen Gefüge. Potestad, inszeniert in der Sala del Teatro del Viejo Palermo,15 besteht nur aus zwei Personen, besser gesagt aus einer: der männlichen Figur, genannt "der Mann". Die zweite Figur, eine Frau, deren Name Tita ist, ist eine Art Phantasma, das sich versteinert auf der Bühne befindet, allerdings 15

Pavlovsky 1987. Dieses Werk wurde zusammen mit Paso de dos im Theater der Welt/Essen 27 vom 6. bis 14.7.1991 aufgeführt, die Theaterversion, die wir miterlebten, ist die im Alumni Theatre/Carleton University Ottawa am 2.8.1991 während des II. Internationalen Kolloquiums der IICTL.

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eine unabdingbare dramaturgische Funktion besitzt: Sie verkörpert die erbarmungsloseste Einsamkeit, die grausamste Kommunikationslosigkeit, die Kälte, das Da-Sein, aber nicht das Sein; sie markiert den Abgrund; sie ist ein Bild des "lebenden Todes". Der dramatische Text wird von dem Mann konstituiert, er bildet die physische und sprachliche Bühnenwelt: Sowohl die Objekte im Raum (es befinden sich auf der Bühne lediglich zwei Stühle und ein großer Vorhang im Hintergrund) als auch die anderen Figuren, seine Tochter Adriana und seine Frau Ana Maria (sie existieren, wie wir im Verlauf des Werkes feststellen, nur in dem rückblickenden Delirium in Monologform), und ihre diversen Bewegungen in der folgenden Form synthetisieren, ebenso semantisch wie syntagmatisch und zeitlich: Der Mann spricht, nachdem er die Präsenz seiner Frau und seiner Tochter in der Gegenwart heraufbeschworen hat, von seiner Jugend als Sportler (er macht sich über sich selbst lustig), seiner gegenwärtigen gewohnheitsmäßigen Beziehung zu seiner Frau und den Studien seiner Tochter. Plötzlich wechselt er zur Vergangenheit und beschreibt, wie eines Sonnabends ein Mann seine Tochter abholt und diese nie wieder zurückkehrt. Im zweiten Teil tritt Tita hinzu, die der Mann teilhaben lässt am Schmerz und an der Entfremdung von seiner Frau, die in einen Zustand von Schwachsinn verfallen ist. Schließlich haben wir den dritten Abschnitt, in dem der Mann, der bisher augenscheinlich ein Opfer der Repression ist, in seiner doppelten Identität als Opfer und Missetäter entdeckt wird: Er war ein Arzt des Geheimdienstes, der den Tod der ermordeten Eltern Adrianas bestätigte. Das Mädchen, noch sehr klein, befand sich im Nebenraum und wurde von dem Arzt, dessen Ehe kinderlos geblieben war, "adoptiert". Der historische Intertext ist die bekannte Tatsache, dass Kinder, die aufgrund der Ermordung ihrer kämpfenden Eltern zu Waisen geworden waren, von der Diktatur geraubt wurden. Hier nimmt das neue System dem Usurpator seinerseits das inzwischen ziemlich erwachsene Mädchen. Mit diesem Verfahren löst Pavlovsky die dargestellte Thematik aus ihrer rein lokalen und historischen Determinierung und lässt sie in die Zwiespältigkeit des Individuums im allgemeinen transzendieren, indem er dessen Fähigkeit zu zerstören, zu lieben, zu foltern und zu leiden zeigt. Potestad von Pavlovsky entfaltet sich als eine der großen Formen postmodernen, kinetischen/dekonstruktivistischen Theaters, das die politische Botschaft im Nicht-Gesagten lässt, im zwiespältigen Subtext, insofern es die Tragödie des Missetäters vom Standpunkt des Missetäters aus darstellt, wie Koltös in La solitude datis les champs de cotons oder in Roberto Zucco arbeitet, der eine umfangreiche körperliche und mimische Arbeit einsetzt. Pavlovsky löst das engagierte Theater und das Theater des

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Absurden aus dem gewohnten Umfeld und bietet so eine neue Formel. Potestad ist eine Erneuerung des Sprechtheaters, dessen also, was das traditionelle Theater war. Der Text verfällt weder in "Zirkus-Mimik" und "Zirkus-Rhetorik", dies hätte in diesem Werk leicht passieren können, noch in ideologische Debatten, Analysen sozialer Pathologie, politische Anklage oder in Gleichgültigkeit: Er verwendet die diversen Codices und Intertexte innerhalb einer ahierarchischen Spannung und immer mit einer Tendenz zur Entpragmatisierung, was zu Beginn dem Bedeutungsgefüge eine augenscheinliche Gleichgültigkeit verleiht, die sein Engagement versteckt und zu dessen Entdeckung einlädt. Klar ist, dass es grundlegend von der Inszenierung abhängt, ob sich das hier Beschriebene erfüllt. 2.7. Paso de dos oder die rhizomatische Erzeugung des Aufführungstextes Im Hinblick auf den Aufführungstext und als Theater bildet Paso de dos das vielleicht kühnste Werk Pavlovskys, das 1990 auf dem Festival des Teatro Iberoamericano in Cádiz, im gleichen Jahr in Buenos Aires und 1991 auch im Theater der Welt, Essen, aufgeführt wurde. 16 Obgleich weder der dramatische Text noch der Aufführungstext das Problem militärischer Unterdrückung durchscheinen lassen, verweist die Kritik von Klaus Albrecht in der NRZ (vom 6. Juni) auf etwas Grundlegendes im gesamten Werk von Pavlovsky: Die Folter, die militärische Unterdrückung, wird anhand zweier anonymer Individuen allegorisch aufgezeigt. Damit geht Pavlovsky vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Besonderen zum Universellen: von der Gewalt in der Beziehung Mann-Frau zum Verhältnis Herrscher-Opfer. Das Stück hat nur zwei Personen, einen Er und eine Sie. Es geht darum, die Vergangenheit zu rekonstruieren, einige grundlegende Erfahrungen eines Paares Wiederaufleben zu lassen, dessen Beziehung versiegt, Erinnerungen an Eifersuchtsszenen, Liebe, Beklemmimg füllen den Dialog. Dieser ist übersät von gelegentlichen Tiraden über Leichen im Schmutz, über Gewalt. Die sexuelle Gewalt des Mannes und seine physische und intellektuelle Abhängigkeit von der Frau werden uns offensichtlich und ebenso die psychische Kraft der Frau als einziges Refugium in ihrer Opfersituation. Während der Mann alles belegt, sich ihrer bemächtigt, rächt sie sich, indem sie ihn innerlich zurückweist, ihn nicht bei seinem Namen nennt, d.h. ihn nicht wahrnimmt. Das Opfer wird physisch zerstört, aber es gelingt dem Folterer nicht, sich ihrer Worte und noch 16

Wir benutzen den Text der Ediciones Búsqueda/ Ayllu. Buenos Aires 1989 sowie das Video vom Festival in Essen.

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weniger ihrer Gedanken zu bemächtigen. Das Schweigen (das NichtErkennen/Wahrnehmen) ist die Form, in der das Opfer den Folterer foltert. Während der Proben entdeckt Pavlovsky mit seinen Mitarbeitern, dass Paso de dos die Beziehung zweier Körper von der Liebe bis zum Tod sei, eine Beziehung, die sich als "Schlüssel zum Werk" (Pavlovsky 1989,32) aufdrängt. Für Laura entfaltet sich der Diskurs als "Bild von der Problematik der sexuellen Beziehung", wo sich das Bett darstellt als "Universum", als "metaphysischer" Ort, an dem die Figuren beginnen, das im dramatischen Text Ausgedrückte zu visualisieren, wie im Tanz, wo die körperliche Beziehung die Sprache bestimmt. Ausgehend vom körperlichen Kontakt kristallisiert sich die physische Beziehimg als Kern des gesamten Aufführungstextes heraus, genau die "Handhabung" des Körpers einer Sterbenden, eine "Handhabung", bei der das Opfer stumm bleibt, stumm, da seine Sprache völlig körperlich ist. Ihm den dramatischen Text in den Mund zu legen, hätte diese körperliche Konkretisierung zerstört. Deshalb geht es darum, dass die Figur Er auch den Diskurs von Ihr übernimmt, indem er das Opfer nach dessen Verlust verinnerlicht. Die Inszenierung, die zum Bild wird, zeigt eine "Szenographie der Folter" mit Momenten höchsten Überschwangs und mit großen Abgründen in die Leere des Alltäglichen. In dieser Situation, in der Er die Leere und die Zwiespältigkeit des Alltags nicht erträgt, der sich ihm als Scheitern in der Liebe darstellt, schlägt er sie zu Tode. Nach Pavlovsky ist dies genau der Moment, in dem der Aufführungstext beginnt und sich materialisiert. Angesichts des leblosen Körpers seines Opfers versucht Er verzweifelt, "Momente großer Intensität zurückzugewinnen" (ibid.). An dieser Stelle eröffnet der Aufführungstext die Möglichkeit, ausgehend von der physischen Beziehung, verschiedene Geschichten zu erzählen; auf dieser Grundlage wird der dramatische Text eingebunden, der aber nicht zum Aufführungstext adaptiert wird oder in diesen übergeht, sondern sich von diesem ableitet. Hier könnten wir von einem rhizomatischen Theater des "gelenkten Zufalls" sprechen, insofern die Sprache und der Zusammenhang körperlicher Empfindungen mit bestimmten Syntagmen am Ende eine Entscheidung erfordert; andererseits ergibt sich die Auswahl des Diskurses als Ergebnis der körperlichen Behandlung. Eine nächste Etappe entwickelt sich nach dem Tod des Opfers. Da diesem ein verbaler Ausdruck unmöglich ist, verdoppelt sich die Figur. Dann erscheint im Aufführungstext eine zweite Frau, die im Publikum sitzt und das Bewusstsein der weiblichen Stimme verkörpert, hier ist Ihr Diskurs im Aufführungstext eingebettet. Die andere Sie lässt die Vergangenheit der toten Sie durch die Beobachtung der Körper von Dun und Ihr

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Wiederaufleben, allerdings aus einer zukünftigen Perspektive. So haben wir eine räumlich-zeitliche Gesamtheit von Diskurs der Vergangenheit, körperlicher Beziehung in der Gegenwart und Diskurs der anderen Sie aus zukünftiger Perspektive. Die andere Sie spricht, empfindet, deutet aus einer Perspektive, in der alles Gegenwärtige bereits vergangen ist. 2.8 El Cardenal: der dramatische Text und seine rhizomatisch-intertextuellen Relationen El Cardenal, 1992 veröffentlicht,17 besteht aus sechzehn Szenen, in denen der Kardinal, Zwerg I und Zwerg II in Dialog treten, zunächst der Kardinal mit den Zwergen, ein anderes Mal die Zwerge untereinander. Dem von Pavlovsky verfassten Prolog nach ist der Text aus einer gemeinsamen Arbeit mit Miguel Dao und in Beziehimg zur Malerei von Francis Bacon entstanden. Es bestehen auch weitere Beziehungen: Explizit wird der intertextuelle Bezug zu Coriolanus von Shakespeare erwähnt. Unerwähnt, aber dennoch evident ist die intertextuelle Präsenz von Becketts Fin de partie und von manchen Szenen aus Ionescos La cantatrice chauve. Freilich handelt es sich, wie immer bei Pavlovsky, nicht um Nachahmung, sondern um eine Verwindung dieser Texte. Worin liegen nun die Beziehungen zwischen diesen Texten und El Cardenal? Zunächst haben wir explizite textuelle Bezüge zur Bibel (zum Neuen Testament), zu einem elisabethanischen Dramentext und zwei implizite Bezüge zu zwei Theaterstücken aus dem 20. Jahrhundert, sodann einen weiteren expliziten Bezug zu einem Maler des 20. Jahrhunderts. Coriolanus handelt von einem sozio-politischen Konflikt zwischen Volk (in El Cardenal besetzt durch die Inteligencia) und Aristokratie (in El Cardenal besetzt durch die herrschende Ideologie). Ferner stehen der kontrastreiche Charakter Coriolanus und sein Handeln, wie etwa Großmut, Radikalität und Anmaßung, im Mittelpunkt des dramatischen Textes. Hier wird die Opposition "Individuum vs. Masse", "Anpassimg vs. Kompromisslosigkeit" thematisiert. Die Malerei Bacons zeigt den Menschen auf eine unbarmherzige, entstellte, grausame und isolierte Weise. Zentrale Motive sind hier die Kreuzigung Jesu und das Porträt des Papstes Innozenz II. in der Nachfolge von Velázquez. Mit Fin de partie teilt El Cardenal die absolute Dekontextualisierung und Asituationalität des dramatischen Diskurses und seiner Handlung, seine Anonymität und die Abwesenheit einer räumlich-zeitlich pragmatischen Achse. Ferner stellen wir gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Hamm und dem Kardinal sowie zwischen 17

Buenos Aires: Búsqueda 1992. Zusammen mit diesem Text werden La ley de la vida, Alguna vez und Trabajo rítmico gedruckt.

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den Zwergen I und II bzw. Nagg und Neil fest. In diesen Stücken befinden sich die Figuren, oder das, was von ihnen übriggeblieben ist, in einer Grenzsituation, in einer Stunde Null, umgeben von Bewegungslosigkeit, Trägheit und Tod. Die Welt der Figuren besteht aus grausamen und ekelerregenden Erinnerungsfetzen. Die Gemeinsamkeiten mit La cantatrice chauve finden sich in der Identitätslosigkeit, Entfremdung und beinahen Schwachsinnigkeit der Figuren, in einer Art metaphysisch-absurden Dialogbanalität. Während den Zwergen eine Funktion als Diener und als intellektuelle Devoten des Kardinals zugewiesen wird, während diese als sein gedankliches Echo fungieren und nicht genau wissen, warum, wieso und seit wann sie sich beim Kardinal befinden, hat der Kardinal die Rolle des progressiven Intellektuellen, des Utopisten, des Vertreters einer bereits vergangenen und daher nostalgischen Ideologie, von dem, was war und nicht mehr ist. Das Stück ist eine Allegorie der Opposition "Modernität vs. Postmodernität", insofern die Zwerge das rhizomatische Denken vertreten, das sie selbst als jenes der "Pfade, die sich gabeln" benennen 18 und das für den Kardinal das Denken der "Ambiguität, der Konfusion, der Schattierungen und der unendlichen Tonalitäten" darstellt (Pavlovsky 1992,17), in dem nichts definiert wird und in dem "keine Solidarität existiert und keine Möglichkeit von Gründungen" (ibid., 18). Dem rhizomatischen Denken stellt der Kardinal jenes der "konzeptuellen Linearität" gegenüber (ibid., 20), in dem Dinge und Ideen klar definiert sind. Davon ausgehend, genauer, ausgehend von seiner brutalen Reduktion und Entstellung, wird versucht, die Dichter, die Rebellen, zu verwandeln, denn diese sind, so der Kardinal, die besten Philosophen, weil sie die Leidenschaft besitzen, Ideen zu vermitteln, Botschaften zu verkünden. Der Kardinal beschreibt dann die Konzeption der "Ernährung" als wissenschaftliche, verwandelnde Methode (ibid., 20ff.). Diese Methode ist freilich eine andere Allegorie, die darin besteht, die Intelligenz zu maßregeln und diese zu "idiotisieren" (wie auch die Zwerge behaupten (ibid., 14)). Es werden zwei Formen der "Idiotisierung" oder Verblödung der Ideen ausgewählt: Die Dichter-Philosophen müssen ihren Diskurs stark vereinfachen, um sich zu verständigen, sie müssen ihre Ideen beschränken. Sie beginnen aber mit der Zeit, dieses Verfahren aufgrund der fröhlichen Rezeption, die sie erfahren, mit Freude 18

"[...] los senderos que se bifurcan" (ibid., 10). Wie wir wissen, handelt es sich bei dieser Textstelle um einen intertextuellen Bezug zu einer gleichnamigen Erzählung von J. L. Borges, die ich als ein Beispiel par excellence für das Rhizomprinzip bezeichnet habe: hierzu s. de Toro 1992.

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zu akzeptieren, und so beginnen sie unmerklich, sich selbst zu verblöden. Die zweite Form findet sich in der "Verwertung der Abfälle", die die Ideen der Dichter-Philosophen selbst produzieren; d.h. die Gesellschaft, die herrschende Ideologie, bemächtigt sich willkürlich dieser Ideen, um sie ihren Interessen gefügig zu machen und damit ins Gegenteil zu verkehren. Die so verkümmerten Ideen der Dichter-Philosophen werden zu ihren Urfeinden. Damit wird sowohl die Vulgarisierung des Gedankenguts und der Ziele der Modernität und der Postmodernität behandelt wie auch ihre Irrtümer, ihre Irrungen und Wirrungen. Das Werk ist ferner eine Allegorie des Konflikts zwischen dem herrschenden pervertierten und pervertierenden ideologischen, soziopolitischen System und dem Individuum als Subjekt, zwischen dem Kollektiven und dem Einzelnen. Die Figuren machen die laue Anstrengung, die zwischenmenschlichen Beziehungen wiederzugewinnen, Gefühle zuzulassen, der Sehnsucht nach der Heimat Raum zu gewähren, aber sie tun dies umsonst. Die Beziehungen zwischen dem Kardinal und den Zwergen basieren auf einer verdrängten homosexuellen Erotik mit starken pathologischen Zügen sowie auf einer perversen, sadomasochistischen Erotik. Streckenweise wird die Beziehung zwischen den Zwergen und dem Kardinal als langandauernd und sehr familiär dargestellt, in anderen Szenen als etwas Fremdes. Dasselbe gilt für die Zwerge untereinander. Diese treten als Personen auf, die seit langem ihr Schicksal miteinander teilen, und plötzlich verhalten sie sich wie Fremde zueinander (ibid., 3237). Eine weitere Beziehung bilden der Zwerg I und seine Mutter, die dem Zuschauer durch einen traumhaft-analeptischen Diskurs vermittelt wird. Die Mutter und der Sohn haben eine fast inzestuöse Beziehung, von der sich der Zwerg durch die grausame Ermordung der Mutter befreit. Die Mutter, die er dennoch abgöttisch liebt, bleibt aber mit ihrem ununterbrochenen Redefluss im Leben des Zwergs präsent. El Cardenal thematisiert auch die Erschöpfung der Individuen und damit ihrer Ideen. Der Kardinal will die Langeweile, die Alltäglichkeit, die Routine, die Verwahrlosung und die Verfallenheit bekämpfen. Er sehnt sich nach der Erneuerung, auch dann, wenn diese sich nur in Details ausdrückt, auch dann, wenn diese sich kaum wahrnehmbar vollzieht (12). Der Kardinal übernimmt in diesem Zusammenhang die Funktion eines verkannten Messias, der von der Einsamkeit einer neuen Welt ergriffen ist, in der er keine Botschaft zu verkünden hat. Ihm bleibt nur die eigene Hochstilisierung als ein gekreuzigter Jesus. Diese Funktion wird am Dramenschluss im Rahmen der Kreuzigung Jesu und der beiden Diebe erneut

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unterstrichen: Der Kardinal und die beiden Zwerge erhängen sich, der Kardinal in der Mitte, links und rechts von den Zwergen flankiert. El Cardenal ist das vorläufig letzte Werk Pavlovskys. Man wird gespannt sein, was der Schauspieler, Dramatiker und Psychiater Pavlovsky, diese Mischung zwischen einem Beckett, Dario Fo und Hamlet des lateinamerikanischen Gegenwartstheaters, uns in der nahen Zukunft bieten wird. Wird er diese ars combinatoria beibehalten und weiter im gewohnten pluralen Reichtum schaffen, oder werden wir in Inhalt und Form eine Wende erleben? Wenn die von Enttäuschung geprägten Worte des Kardinals als jene des "impliziten Autors" und damit als eine mögliche Hypothese des realen verstanden werden können, dann befindet sich das Theater Pavlovskys an einer existentiellen Grenze und steht einer großen Herausforderung gegenüber. Bibliographie Theater Pavlovsky, Eduardo. 1970. Último Match. Buenos Aires: Talia (in gemeinsamer Arbeit mit Juan Carlos Herme). EA1967. —. 1980. La mueca. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral [auch Buenos Aires: Búsqueda 1988], EA 1971. —. 1980. El señor Galíndez. Gedruckt zusammen mit Pablo. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral [auch Buenos Aires: Búsqueda 1986]. EA 1973. —. 1980. Telarañas. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral. EA 1976. —. 1980. Pablo. Gedruckt zusammen mit El señor Galíndez. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral [auch Buenos Aires: Búsqueda 1986]. E A 1984. —. 1982. El señor Laforgue. Buenos Aires: Búsqueda. —. 21987. Cámara lenta. Historia de una cara. Buenos Aires: Búsqueda. EA 1978. - . 1987. Potestad. Buenos Aires: Búsqueda. EA 1986 (Dt. Potestad. Übers, von Heidrun Adler. In: Theaterstücke aus Argentinien 1993,263-276). —. 1988. Cerca. Buenos Aires: Búsqueda. - . 1989. Paso de dos. Buenos Aires: Búsqueda. 21990. —. 1992. El Cardenal/La ley de la vida/Alguna vez. Buenos Aires: Búsqueda.

Eduardo Pavlovsky

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Essays Pavlovsky, Eduardo. 1966. Algunos conceptos sobre el teatro de vanguardia. In: La muñeca/El señor Galíndez / Telarañas. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral 1980,189-196. —. 1974. Reflexiones sobre el proceso creador. In: La muñeca / El señor Galíndez/Telarañas. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral 1980,181188. —; Juan Carlos Hermes. 1970. Notas. In: Último Match. Buenos Aires: Talía, 3f. —. 1980. Prólogo. In: Telarañas. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral, 125f. —; Jaime Kogan. 1986. Introducción. In: El señor Galíndez. Buenos Aires: Búsqueda, 9-11. —. 1986. Apuntes para una obra de teatro. In: Pablo. Buenos Aires: Búsqueda, 54f. —. 1987. Apuntes para una obra de teatro. In: Pablo. Buenos Aires: Búsqueda, 13-17. —. 1987. Balbuceo del proceso creativo. In: Potestad. Buenos Aires: Búsqueda, 15-17. —. 1989. Paso de dos. Aventura de un puesta. In: Paso de dos. Buenos Aires: Búsquda, Ayllu, 31-39. —; Alfonso de Toro. 1991. El teatro del goce y los nuevos territorios existenciales. In: La Escena Latinoamericana 7, diciembre, 42-45. Studien Ferrigno, 0.1980. Prólogo. In: La mueca. Caracas: Fundamentos, Colección Espiral, 25f. Oliver, W.-1.1988. La mueca. In: La mueca y Cerca. Buenos Aires: Búsqueda, 48-51. Pelletieri, Osvaldo. 1990. Cien años de teatro argentino. Buenos Aires: Galerna. Scipioni, Estela Patricia. 2000. Torturadores, apropiadores y asesinos. El terrorismo de Estado en la obra dramática de Eduardo Pavlovsky. Kassel: Reichenberger. Toro, Alfonso de. 1990. Semiosis teatral postmoderna: intento de un modelo. In: Gestos 9, 23-52; wiederabgedruckt unter dem Titel: Hacia un modelo para el teatro postmoderno. Augsburg: Institut für Spanien- und Lateinamerikastudien 1990 (Mesa Redonda 11); wieder abgedruckt in: Fernando de Toro (Hg.). Semiòtica y Teatro Latinoamericano (Teoría y Práctica del Teatro 6). Buenos Aires: Galerna /IITCTL1990, 13- 42; und in: Revista la Torre V, 19.8.1991,341-367.

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Alfonso de Toro

—. 1991. Entre teatro kinésico y teatro deconstruccionista: Eduardo Pavlovsky. In: La Escena Latinoamericana 7,1-3. —. 1991. Cambio de paradigma: el "nuevo" teatro latinoamericano o la constitución de la postmodernidad espectacular. In: Iberoamericana 43/44,15, 2-3, 70-92; wieder abgedruckt in: Espacio 1991, 5, 9,111-133; überarbeitet auch erschienen unter dem Titel: Postmodernidad en cuatro dramaturgos latinoamericanos. In: M. Rojas (Hg.). De la colonia a la postmodernidad: teoría teatral y crítica sobre teatro latinoamericano. Buenos Aires/Ottawa: Galerna 1992,157-176. —. 1992. El productor "rizomórfico" y el lector como "detective literario": la aventura de los signos o la postmodernidad del discurso borgesiano (intertextualidad palimpsesto-rizomade construcción). In: K. A. Bltiher; A. de Toro (Hg.). Jorge Luis Borges: Procedimientos literarios y bases epistemológicas (TKKL/TCCL, Bd. II). Frankfurt a. M.: Vervuert, 145-184; wiederabgedruckt in: Studi die Litteratura IspanoAmericana 23,63-102. —. 1993. Gli itinerari del teatro attuale: verso la plurimedialitá postmoderna dello spettacolo o la fine del teatro mimetico-referenziale? In: Massimo Canevaci; A. de Toro (Hg.). La communicazione teatrale. Un approccio transdisciplinare. Rom: Seam, 53-110. Teatro argentino hoy. 1981. Buenos Aires: Búsqueda. [Mit Arbeiten von G. O. Schanzer, Ch. B. Driskell, D. W. Foster und W. I. Oliver],

Oscar Viale (1932-1994) Laura Mogliani Das dramatische Werk von Oscar Viale - Autor, Dramatiker, Theaterdirektor, Kino- und Fernsehregisseur stellt eine Besonderheit innerhalb des argentinischen Theaters der 60er Jahre dar. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen, dass er als Modell nicht den reflexiven Realismus, sondern den für das traditionelle Volkstheater typischen saínete criollo wählte (vgl. Pellettieri 1987). Zum anderen, dass er am Theater nicht als Dramatiker, sondern als Schauspieler begann; er spielte zuerst im Radiotheater, dann im Theater und später in humoristischen Fernsehprogrammen mit. 1967 wurde sein erstes Stück uraufgeführt, El grito pelado (Der nackte Schrei), das großen Erfolg beim Publikum erzielte und drei Jahre auf dem Programm blieb. Er hat folgende Theaterstücke geschrieben: La Pucha (1969), Chúmbale (1971), Luna de miel entre veinte (Flitterwochen mit zwanzig, 1971), ¿ Yo?... Argentino (Ich? ein Argentinier, 1976), Encantada de conocerlo (Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, 1978), Leonor vs. Benedetto (1978), Convivencia (Zusammenleben, 1979), Antes de entrar dejen salir (Lassen Sie die einen hinaus, bevor die anderen hinein gehen, 1981),1 Intimas amigas (Enge Freundinnen, 1982), Periferia (Peripherie, 1982), Camino negro (Schwarzer Weg; gemeinsam mit Alberto Alejandro, 1983), Ahora vas a ver lo que te pasa (Gleich wirst du sehen, was mit dir geschieht, 1983), Trátala con cariño (Behandle sie zärtlich, 1985) und Convivencia Femenina (Weibliches Zusammenleben, 1986). Er hat unter anderen in folgenden Filmen Regie geführt: "Los gauchos judíos" (Die jüdischen Gauchos, 1975) von Juan José Jusid, "Juan que reía" (Hans, der lachte, 1976) von Carlos Galettini, "El infierno tan temido" (Die so sehr gefürchtete Hölle, 1981) von Raúl de la Torre und, gemeinsam mit Jorge Goldenberg, in "Plata Dulce" (Süßes Silber, 1981) von Fernando Ayala; sowie in zahlreichen humoristischen Fernsehprogrammen. In seinem dramatischen Werk kann man nach Fowler (1971) folgende drei Phasen unterscheiden:

1

Dieses Stück wurde speziell für das Teatro Abierto 1981 geschrieben, konnte aber aufgrund technischer Schwierigkeiten erst 1983 uraufgeführt werden.

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1. Der ersten Richtung seiner Dramaturgie gehören El grito pelado und La Pucha an. Kennzeichen sind die Fragmentierung der Handlung in kurze Sketche mit einem unerwarteten Ende, die mit Musik und Liedern untermalt sind. Innerhalb dieser Sketche gibt es weder eine zeitliche Verbindung noch einen logischkausalen Zusammenhang. Jeder Sketch hat seine eigene Bezeichnung, und der letzte ist ein Gesang, der dem Werk den Titel gibt. In dieser ersten Phase seiner Dramaturgie mischt Oscar Viale verschiedene Poetiken. Er nimmt Vorgehensweisen des traditionellen saínete wieder auf, welches in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts populär war. Vom saínete übernimmt Viale die Karikaturisierung der städtischen, ländlichen oder marginalen Personen. Anders als im saínete, in dem das melodramatische Paar keine Karikatur war, betrifft diese bei Viale alle Personen. Zur Erzeugimg von Komik tragen der Witz, Wiederholungen und die Verwendung von Idiolekten bei (vgl. Ubersfeld 1989, 191). Desweiteren setzt er Stereotypen ein (vgl. Pavis 1984,194f.), wie zum Beispiel die Personen in "La Musa Rotonda": der Ingenieur, die Analytikerin, die Polyglotte und der Patriot. Viala schafft so ein Prisma, in dem der Humor und die Kritik an den Gewohnheiten nicht das Ziel sind, wie im saínete, sondern dazu dienen, die Mängel des argentinischen Soziallebens aufzuzeigen. El grito pelado zeigt uns das Leben in Scheinbildern ("La pieza del fondo"); das Fehlen von sozialer Solidarität in der Mittelklasse ("El Cosito"); die Falschheit und die Schematisierung der Rollen in der Familie ("EI Cosito"), in der Ehe ("La Pareja") und in der Freundschaft ("Un velorio out"); sowie die Institutionalisierung der Armut, Objekt von soziologischen Untersuchungen aber nicht von Lösungen ("Esta villa mía"). Die Vorgehensweisen des saínete werden mit Elementen anderer Poetiken verstärkt: dem schwarzen Humor ("Un velorio out", in dem sich der Hund den toten Körper von Federico in seinem Lager überwirft, was bei seiner Mutter und seinem Freund den Eindruck erweckt, dass dieser wiederauferstanden ist); dem Absurden ("El satélite") und dem Brecht'schen epischen Theater ("El incontible ascenso de Bienvendio Cui", eine Stilisierung von Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, von Bertolt Brecht). "Vacaciones", das eine kriminelle Person vorstellt, ist vom saínete ebenso entfernt wie vom reflexiven Realismus. Die erste Phase des Werkes von Viale passt nicht in das Theatersystem des reflexiven Realismus, da es den referenziellen Illusionismus unterbricht. Seine Personen sind nicht referenziell, sie weisen keine psychologische Tiefenstruktur auf, wie es der realistische Held tut, sondern es handelt sich um Karikaturen, Stereotypen, pathetische Figuren.

Oscar Viale

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2. Sein folgendes Werk, Chúmbale, eröffnet die zweite Phase des Schaffens von Oscar Viale, welche durch die Stilisierung des reflexiven saínete gekennzeichnet ist (vgl. Pellettieri 1993). Zu dieser Phase gehören Encantada de conocerlo, Convivencia, Periferia und Convivencia Femenina. Auf dem Niveau der Handlung handelt es sich hier um Dramen, in denen die Personen nicht mehr die Heterogenität und Vielfältigkeit der vorangegangenen Werke aufweisen, sondern die sich auf einen (oder zwei, im Fall von Convivencia) Protagonisten konzentrieren. Diese Personen haben nicht den referenziellen Charakter wie im reflexiven Realismus, wo ihre Stimmen die Ideen des Autors vermitteln; sie wollen keine Identifikation, sondern Distanz und Mitleid erzeugen. Sie sind pathetische Personen, die "zwar typische Verhaltensmuster der Personen in der Stadt aufweisen, aber keine Paradigmen bilden wollen, wie das in der referenziellen Person im Theater von Cossa und Halac der Fall ist" (Pellettieri 1994,29). Die pathetische Person (Enzo in Chúmbale, Mamá in Encantada de conocerlo, Enrique und Adolfo in Convivencia, Tonino in Periferia, Emi und Adela in Convivencia Femenina) erreicht einen Moment des höchsten Pathos: "Enzo setzt sich die Mütze auf und führt die Thermosflaschen zur Brust. Er sieht lächerlich aus, wie eine Marionette ohne Bewegung" (69); Mamá versucht, die Vergewaltigung ihrer Tochter nicht wahrzunehmen; Enrique gibt am Ende zu, die Hilferufe Tulios gehört zu haben; Adolfo fragt sich, warum er nicht einmal klar sagen kann, was er will; und Tonino möchte weitertanzen, obwohl er absolut erschöpft ist, und schließlich treibt ihn die Angst davor, seinen Fehler zugeben zu müssen, zum Brudermord. In diesen Werken steht der Humor, wie zum Beispiel der komische Einsatz verbaler Wiederholungen, im Dienste des Pathetischen. Die pathetische Person hat Probleme, sich sprachlich auszudrücken und wiederholt gewisse Wörter und Phrasen: Tonino und Enzo finden die passenden Wörter nicht (Enzo: "Wie heißt das...?"; Tonino: "Wie ist das...?"), Enrique und Emi verwechseln ihre Bedeutung ("Nein, das ist etwas Anderes."), Mamá bringt ihre Aussprache durcheinander. Zusätzlich zu dieser besonderen Konstruktion der Personen übernimmt Viale Vorgehensweisen der Brecht'schen Intertextualität. Sowohl in Convivencia als auch in Periferia erzählen die Personen ihre Vergangenheit, und ihre Erinnerungen werden auf der Bühne szenisch dargestellt. Auf diese Weise wird ein doppelter fiktionaler Status zwischen "realen" und "erinnerten" Personen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf der Bühne hergestellt. Die Personen diskutieren über die Vergangenheit, wiederholen Handlungen, indem sie diese aus verschiedenen Gesichts-

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punkten erzählen, verändern sie. Das Theatralische wird besonders in Periferia betont, wo Tänze und ein sportliches Ereignis aufgeführt werden. Mit Ausnahme der beiden Versionen von Convivencia (dessen Personen der Mittelschicht angehören) kommen die Protagonisten aller anderen Stücke aus der unteren Mittelschicht (Enzo ist Straßenverkäufer, Tonino Arbeiter). Themen, die sich in diesen Werken wiederholen, sind das Verbergen eines Verbrechens, die Vergewaltigung einer Bediensteten durch Quique und durch einen Polizisten in Chúmbale, die Vergewaltigung von Beba in Encantada de conocerlo, in Convivencia hat Enrique den Tod Tulios zugelassen. Diese Inhalte entfernen die Werke Viales noch weiter von den Erwartungen des reflexiven Realismus. 3. Die dritte Phase des Werkes von Oscar Viale ist durch die Intensivierung der absurden Elemente gekennzeichnet (vgl. Pellettieri 1992). Die pathetische Person befindet sich nun in einer absurden Situation (Antes de entrar dejen salir) oder ist Opfer einer Falle (Camino negro und Trátala con cariño). In dieser Phase wird die Referenzialität noch mehr gebrochen, es wird eine nicht erkennbare mehrdeutige Realität dargestellt. In Antes de entrar dejen salir interpretieren zwei Brüder ihr neunmonatiges Eingeschlossensein im Bad ihres Vaters als Verschwörung mit der Absicht, sie in den Kloaken zu ertränken. Die Person des Yeti ist eine typisch absurde Gestalt, die ausgeschlossen von der äußeren Welt lebt, nicht mit den anderen Personen kommuniziert, auf seine Rolle als "Blei" fixiert ist. Das Absurde wird auch durch die räumliche Gestaltung - eine Szene ohne Dekoration - intensiviert, sowie durch die Fragmentierung der Handlung, deren Entwicklung dem Zuschauer erst klar wird, wenn die zwei zeitlichen Linien miteinander in Verbindung treten. Oscar Viale lässt sich nicht in das typische Theaterbild der 60er Jahre integrieren, und er ist sich dessen bewusst. Als er in einem Interview gefragt wurde, ob er selbst sein Theaterschaffen der Generation der 60er zuordne, antwortete er: Ich bin ein einsamer Jäger... Vielleicht gehöre ich ihr auf dem Kalender an, aber sonst nicht... es verbindet mich nichts mit ihren Mitgliedern, ihren Stilen oder ihren Interessen (Rodríguez de Anca 1983,44). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Oscar Viale

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Bibliographie Theater Viale, Oscar. 1969. La Pucha. El grito pelado. Buenos Aires: Talía. —. 1981. Antes de entrar dejen salir. In: Teatro Abierto. Buenos Aires. —. 1983. Convivencia. Buenos Aires: Colihue, Colección Teatro Breve Contemporáneo. —. 1983. Periferia. Buenos Aires: Teatro Municipal General San Martín. —. 1984. Chúmbale. Camino negro. Rosario: Ediciones Paralelo 32. —. 1985. Trátala con cariño. Buenos Aires: Cultura. —. 1987. Teatro. Tomo I. El grito pelado. Encantada de conocerlo. Convivendo. Convivencia Femenina. Buenos Aires: Corregidor. Studien Anaine, Susana. 1987. El lenguaje dramático y la estética de Oscar Viale. In: Espacio 2,2,83-89. Cazap, Susana; Ana Ruth Giustachini; Cristina Massa; A. Semelman und Marina F. Sikora. 1991. Cronología acotada de la década del 80. In: Latin American Theatre Review, spring, 13-22. Fowler, Alastair. 1971. Vida y muerte de las formas literarias. In: New Literary History II, 2,39-55. Geirola, Gustavo. 1992. Viale y las estrategias mortíferas de la clase media. In: Teatro argentino durante el proceso 1976-1983. Buenos Aires: Instituto Literario, Cultural e Hispánico. Javier, Francisco. 1992. Argentina, veinte años ¿no es nada? In: Celcit Teatro 2,3,38-57. Ordaz, Luis. 1992. Aproximación a la trayectoria de la dramática argentina. Ottawa: Girol Books. Pavis, Patrice. 1984. Diccionario de Teatro. Barcelona: Paidós. Pellettieri, Osvaldo. 1986. Presencia del saínete en el teatro argentino de las últimas décadas. In: Latin American Theatre Review, fall, 71-77. —. 1987. El teatro de Oscar Viale. In: Oscar Viale. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. —. 1990. El teatro del sesenta y su proyección a la actualidad. In: Teatro argentino de los '60. Buenos Aires: Corregidor, 75-97. —. 1991. Las primeras obras de Armando Discépolo en colaboración (19141917). In: Cien años de teatro argentino. Buenos Aires: Galerna. — .1992. Del Saínete criollo al neosainete. In: id. Teatro argentino contemporáneo. México: Fondo de Cultura Económica, 603-607. —. 1993. Actualidad del saínete en el teatro argentino. In: Cuadernos Hispanoamericanos 517-519,421-436.

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Rodríguez de Anca, Antonio. 1983. Soy un cazador solitario. Diálogo con Oscar Viale, autor de "Periferia". In: Teatro 3,10,42-54. Tirri, Néstor. 1982. Viale y la configuración de un nuevo saínete argentino. In: Cuadernos de Investigación Teatral del CELCIT (Caracas), 14. Ubersfeld, Anne. 1989. Semiòtica Teatral. Madrid: Cátedra. Zayas de Lima, Perla. 1991. Diccionario de autores argentinos (1950-1990). Buenos Aires: Galerna.

Juan Carlos Gené (*1928) Cristina Massa Die Entwicklung im Werk von Juan Carlos Gené zu erarbeiten, bedeutet das Studium einer über mehrere Jahrzehnte fruchtbaren Laufbahn. Sein erstes Stück, El herrero y el diablo (Der Schmied und der Teufel), wurde 1955 uraufgeführt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte Gené eine intensive Theateraktivität, sei es in Argentinien oder im Exil. Über die Jahre hinweg hatte er verschiedene Positionen im Theater inne, vom Autor und Schauspieler zum Regisseur. Sein Werk lässt sich insgesamt dem Realismus zuordnen (vgl. Massa 1992,91). Auf das bereits erwähnte Stück El herrero y el diablo (1955), das im Theater La Luna uraufgeführt wurde und in dem dieselbe Richtung von National- und Volkstheater wie bei Bernardo Canal Feijóo und Oscar Ponferrada zu erkennen ist, folgt Se acabó la diversión (Die Unterhaltung ist zu Ende, 1967), im Theater A.B.C. uraufgeführt, das aus einer szenischen Improvisation mit dem Schauspieler Pepe Soriano entstanden ist.1 Dieses Stück verbindet mit den folgenden das konstruktive Prinzip der Begegnung: Golpes a mi puerta (Klopfen an meine Tür, 1984), El memorial del cordero asesinado (Das Tagebuch des ermordeten Lammes, 1985), Ulf (1988) und Ritorno a Corallina (Rückkehr nach Corallina, 1991); jedoch unterscheiden sie sich in der Art, wie die Referenzperson und der Kontext beschrieben werden. Der Autor schwankt zwischen einem mimetischen Realismus und anderen Varianten mit einem hohen Grad an Poesie und Phantasie. El inglés (Der Engländer, 1974) und Memorias bajo la mesa (Erinnerungen unter dem Tisch, 1993) bleiben noch zu erwähnen. El inglés reflektiert die argentinische Geschichte, und ebenso wie andere Werke dieser Zeit mit politischem Intertext benutzt es dazu Verfahren aus den Poetiken von Brecht und dem Expressionismus (vgl. Pellettieri 1989). In Memorias bajo la mesa finden wir einmal mehr eine Konstante im Werk des Autors, nämlich die Geschichte und ihre Mythen anhand einiger besonderer Fälle aufzuzeigen.

1

Diese Anekdote finden wir im Kapitel, das Néstor Tirri in Realismo y teatro argentino (1973,141ff.) Juan Carlos Gené widmet.

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Cristina Massa

Ohne seinen anderen Werken ihre Bedeutung aberkennen zu wollen, werden wir im folgenden die für die interne Geschichte des Theatersystems wichtigsten analysieren, Se acabó la diversión (1967) und Ulf (1988). 1. Se acabó la diversión (1967), ein hyperrealistisches Stück Nach Osvaldo Pellettieri ist dieses Werk dem Hyperrealismus zuzuordnen, eine Variante der ersten Phase des reflexiven Realismus, und es steht mit anderen Texten seiner Zeit in Verbindung, wie ¿A qué jugamos? von Carlos Gorostiza, und geht von Modellen aus, wie Who is afraid of Virginia Woolf? von Edward Albee (vgl. Pellettieri 1994,125f.). In Se acabó la diversión versucht Gené, eine Illusion der unmittelbaren Realität zu schaffen. Auf der Tiefenstruktur versucht Juan, durch Lügen an das Geld seines Bruders Manolo heranzukommen. Aber die Gier ist in mehreren Situationen sein größter Opponent. Er kann nicht immer täuschen und betrügen. Er legt sich den Panzer des intellektuellen Revolutionärs um, und mit gemeinsamen Idealen sowie nicht realisierten Träumen versucht er, das Vertrauen Manolos zu bekommen und so sein Ziel zu erreichen. Juan ist ein Spieler mit Schulden, Manolo ein peinlich genauer Büroangestellter, und beide haben ihre Identität verloren, die sie in der Poesie, der Musik und den revolutionären Ideen wiederzuerlangen suchen. Der Konflikt entwickelt sich innerhalb einer erstickenden verbalen Aktivität, welche durch physische Handlungen begleitet wird. Im Verlaufe des Stückes kommt es zu freundschaftlichen Pakten, die in neuen und immer stärkeren Auseinandersetzungen wieder gebrochen werden. Was die Handlung auf der Oberflächenstruktur betrifft, sind die Personen eindeutig referenziell: der Intellektuelle im Kaffeehaus, der Spieler, der gescheiterte Büromensch, zwei Brüder als Produkt einer Familie mit einer fragwürdig gewordenen Moral. Mit folgenden Mitteln wird versucht, den Eindruck der Realität zu verstärken: die biographische Methode, mit der die Personen präsentiert werden, eine explizite Kausalität, eine realistische Außenszene, die Niveaus der Handlung, die die Vorgeschichte in hohem Maße einbezieht, sowie dem aristotelischen Konzept von Anfang, Mitte und Ende. Das konstruktive Prinzip ist die Intensivierung der Begegnungen der beiden Brüder. Die Vortäuschimg von Gefühlen scheitert jedes Mal dann, wenn sie über nicht gelöste Themen sprechen: die Schuld am Betrug der Mutter, die Missachtung von Seiten des Vaters, die verworfenen Ideale und die geliebte Frau. So wird das innere Leben der Protagonisten mehr und mehr aufgedeckt. In der Sprache ist der Diskurs der Personen Manolo und Juan vorherrschend. Sie haben referenzielle Funktion und sprechen ununterbrochen

Juan Carlos Gene

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über sich selbst und über ihre Beziehung. Dabei versucht Juan, Manolo zu überreden und zu verpflichten. Seine sprachliche Fähigkeit zeigt sich vor allem, als er - um die Verbindung zu seinem Bruder zu intensivieren - von seiner fiktiven Reise nach Kuba und der Begegnung mit Fidel sowie von seiner Beziehung mit Sarita erzählt. Das Ende ist pathetisch: Juan erhält das Geld und geht, während Manolo verzweifelt versucht, das Bild seiner Mutter zu reparieren, das vom Dach gefallen ist. Beide sind gescheiterte Personen, die ihre Ideale verloren haben und weder einen Ausweg noch eine Erklärung für ihren Konflikt haben. Das Stück endet mit einer Strophe aus einem kubanischen Lied, das ihm den Titel gibt: Se acabó la diversión llegó el comandante y mandó parar...2

Dieses Lied von Carlos Puebla kennzeichnet die Zeit der romantischen Sicht der kubanischen Revolution und gleichzeitig die Träume eines großen Teils der argentinischen Jugend. 2. Ii//(1988), poetischer Realismus 1980 als Coproduktion des Theaters San Martin und des Grupo Actoral aufgeführt, zeigt Ulf die Möglichkeit, die Vergangenheit durch die Erfahrung der Gegenwart zu rekonstruieren. Das Stück spielt in der Nacht, in der zwei Alte, ein Zirkusehepaar, darauf warten, in ein Altenheim gebracht zu werden. Während dieser langen Wartezeit planen sie, sich zu retten und evozieren vergangene Glanzzeiten: "Die Leidenschaft von Paloma und Jacinto del Moral." Auf die Bühne gebracht werden somit die Biographien der Personen und Mythen der populären Vorstellungen der Argentinier; insbesondere die Imagination von Juan Moreira, dem Verfolgten, gilt als Leitmotiv des Stückes. Dieser Mythos steht in Verbindung mit seinem in der Repression gestorbenen Sohn, dem es in der Vorstellung der Alten gelingt - im Unterschied zu Moreira -, die Mauer zu überspringen und sich nach Schweden ins Exil zu retten. Daher der Name Ulf, eine Abänderung von Olof Palme, des ermordeten schwedischen Premierministers, der ein Verteidiger der Menschenrechte und der Ermordeten war.

2

"Die Unterhaltung ist zu Ende / der Kommandant (= Fidel Castro) ist gekommen / und hat befohlen, Schluss zu machen."

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Im Verlauf der Nacht nehmen Paloma und Jacinto ihre Pläne auf Kassetten auf, welche verschiedene Versionen der Vorgeschichte wiedergeben und als Grundlage für ein neues Schauspiel dienen. Wie im oben analysierten Werk besteht auch in Ulf das konstruktive Prinzip auf der Begegnung: In diesem Fall zeigen die Personen ihre Gefühle in Situationen der Zärtlichkeit und in den Erinnerungen an ein gemeinsam verbrachtes Leben. Die Personen sind referenziell: Alte, Zirkuskünstler, Marginalisierte in unserer Gesellschaft und außerdem Eltern eines Verschwundenen. In dieser pathetischen Realität als Basis gelingt es Gen£ mittels einzelner Techniken auf der zweiten Textebene - Lichtspiele, Hintergrundmusik, dem Kassettenrekorder, der die Stimmen wiedergibt - eine extrem poetische Atmosphäre zu schaffen. Diese Poesie stützt sich auch auf die Sprache, da - trotz der referenziellen Funktion im Diskurs der beiden Protagonisten - lyrische Mittel wie Wiederholungen, Parallelismus, Vergleiche und Metaphern verwendet werden. Der dramatische Sprecher ist an mehreren Stellen literarisiert, was bedeutet, dass UZ/nicht nur auf die Bühne gebracht, sondern auch als Text in einer poetischen Prosa gelesen werden kann. Beim Morgengrauen werden die Alten ins Heim gebracht, sie können ihren Traum nicht realisieren, da der Sohn in Wirklichkeit nicht in Schweden lebt, sondern einer mehr auf der Liste der Verschwundenen ist. Die Poetik ist dem reflexiven Realismus der zweiten Version zuzuordnen, dem poetischen Realismus, welcher auch in folgenden Stücken verwendet wurde: Ya nadie recuerda a Frederick Chopin (1982) und El viejo criado (1980) von Roberto Cossa, Principe azul von Eugenio Griffero und Krinsky von Jorge Goldenberg (vgl. Pellettieri 1989). In UZ/sind die Kunstgriffe des mimetischen Realismus vorherrschend, die mit dem anderen Extrem in Verbindung stehen: der Poesie und der intelligent gemachten Aufwertung der Volksmythen, die für die Geschichte der Argentinier grundlegend sind. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Juan Carlos Gern

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Bibliographie Theater Gené, Juan Carlos. 1988. El herrero y el diablo. Se acabó la diversión. El inglés. Buenos Aires: Centro Editor de América Latina. - . Ulf. Manuskript. EA1984. Studien Massa, Cristina. 1992. "Memorial del cordero asesinado" o el teatro como oxímoron entre lo mágico y lo real. In: Teatro argentino de los '90. Buenos Aires: Galerna/ Revista Espacio. Pellettieri, Osvaldo. 1989. Prólogo. In: Teatro de Eduardo Rovner. Buenos Aires: Corregidor. —. 1994. Teatro argentino contemporáneo (1980-1990). Buenos Aires: Galerna. Tirri, Néstor. 1973. Realismo y teatro argentino. Buenos Aires: La Bastilla, 141-143.

Carlos Somigliana (1932-1987) Alicia Aisemberg Der Dramatiker Carlos Somigliana ist ein einzigartiger Repräsentant der Poetik des reflexiven Realismus (vgl. Pellettieri 1989). Sein Theater weist ein deutliches soziales Engagement auf, bei dem es um die kritische Situation der Mittelklasse geht, um den Konflikt zwischen der Sichtweise der Welt seitens des Subjekts und der Realität sowie um die Denunzierung eines politischen Systems, dem jede Ethik und Gerechtigkeit fehlt. Innerhalb des reflexiven Realismus entwickelt er ein Theater, das mit historischem Intertext darauf abzielt, die Konflikte der aktuellen Epoche aufzuzeigen. Sechs seiner Werke spielen in einer anderen historischen Zeit: Amarillo (Gelb, 1965);1 De la navegación (Von der Navegation, 1969), in dem eine Meuterei von Galeerensträflingen eine Allegorie der politischen Gegenwart darstellt; El nuevo mundo (Die neue Welt, 1981); Historia de una estatua (Geschichte einer Statue, 1983), dessen Subjekt Lavalle, ein gescheiterter Held, ist und dessen Poetik auf das Theater der Ideen zurückgreift; und schließlich zwei Versionen von Texten William Shakespeares, Macbeth (1980) und Ricardo III sigue cabalgando (Richard III reitet weiter, 1989), in denen der dramatische Konflikt auf die argentinische Gesellschaft bezogen wird. Amor de ciudad grande (Großstadtliebe, 1965), La bolsa de agua caliente (Die Wärmflasche, 1966) und El exalumno (Der Exschüler, 1978) sind der ersten Version des reflexiven Realismus näher. Das handelnde Subjekt ist die referentielle Person, die auf der Suche nach seinem Objekt scheitert. Die Verfahren sind charakteristisch für diese Poetik, obwohl in El exalumno eine Intensivierung der Stilisierung der Begegnung, eine gewisse Entfremdung der Szene und eine karikaturistische Uberzeichnung der Person des Professors zu beobachten sind. El avión negro (Das schwarze Flugzeug, 1970) und weitere Werke, die im Rahmen des Teatro Abierto aufgeführt wurden, lassen eine Veränderung seiner Textualität erkennen, da bei ihnen illusionistische und theatralische Verfahren den Realismus bestimmen. El avión negro, von einer Autorengruppe geschrieben, der R. Cossa, R. Talesnik, G. Rozenmacher und C.

1

Folgende Zahlen beziehen sich auf die jeweiligen Jahre der Erstaufführung.

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Somigliana angehörten, trägt wesentlich zur Entwicklung des Mikrosystems des reflexiven Realismus bei: Nicht nur, weil es deutlich das zentrale Thema des Peronismus und seine Bedeutung für verschiedene Bevölkerungsschichten anspricht [...], sondern auch weil es, obwohl es ein realistischer Text ist, eine dramatische Entwicklung aufweist, deren Ziel es ist, eine bestimmte soziale These zu beweisen. Dies wird mit Techniken erreicht, die vom saínete, dem grotesco criollo, dem Absurden und dem Expressionismus kommen (Pellettieri 1989,13).

Die im Teatro Abierto uraufgeftihrten Werke setzen diese Poetik fort: El nuevo mundo (1981); El oficial 10 (Der Offizier 10,1982), welches das komplizierte Rechtssystem unter der Diktatur mittels szenischer Techniken kritisiert, die eine unheilverkündende Szene schaffen; Inventario (Inventar, 1983), das gemeinsam mit H. Serebrisky, S. Torres Molina und Peñarol Méndez geschrieben wurde. Schließlich wird sein Werk von zwei nicht aufgeführten Texten vervollständigt: Homenaje al pueblo de Buenos Aires (Hommage an das Volk von Buenos Aires), 1975 geschrieben, und La democracia en el tocador (Die Demokratie am Toilettentisch), welches für das Jahr 1984 für das Teatro Abierto geschrieben, jedoch nicht aufgeführt wurde. Amarillo (1965) gehört dem Theater des reflexiven Realismus der 60er Jahre an, obwohl es einige Besonderheiten von Somiglianas Poetik aufzuweisen hat. Das Werk arbeitet mit einem historischen Intertext und entfernt sich von der kostumbristischen Darstellung der argentinischen Mittelschicht, um Personen aus dem alten Rom darzustellen. Das Stück spielt im Rom des Jahres 123 v. Chr. Das Subjekt der Handlung, Cayo Graco, ist ein tragischer Held, nicht der charakteristische mittelmäßige und inaktive Protagonist. Aber er scheitert bei seinem Versuch, die Realität zu verändern; seine Vision der Welt entspricht nicht dem historischen Kontext, weshalb er sein Objekt, die Verteidigung der Interessen des Volkes, nicht erreicht. Ziel seiner Handlung ist das römische Volk, das ihn gewählt hat, und seine eigene politische Vision. Sein Gegner ist die Mehrheit der römischen Gesellschaft und schließlich er selbst, wenn er sich am Ende seinen Gegnern nicht stellt in der Meinung, es sei nicht der geeignete historische Moment. Seine einzigen Helfer sind Fulvio Flaco und ein Teil des Volkes, das auf seiner Seite steht. Auf der Ebene der Handlung finden wir Verfahren des reflexiven Realismus und der Tragödie mit dem Ziel, eine soziale These zu vertreten, bei der Graco in Rom als Metapher für die Denunzierung des argentinischen korrupten politischen Systems steht. Das konstruktive Prinzip ist das persönliche Aufeinandertreffen, wobei die Personen beim Versuch,

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ihre Gefühle zu verbergen, scheitern und dadurch Konflikte auslösen. Cayo Graco ist ständig im Konflikt mit den Patrioten, mit Livio Fruso und schließlich mit seinen eigenen Grenzen. Andere Mittel, um den Illusionismus aufzuzeigen, sind die realistische Außenszene, die Verwendung der Vorgeschichte und die realistische Kausalität. Diese werden mit einigen Merkmalen der Tragödie vermischt. Das Werk stellt einen tragischen Konflikt vor: "Der Held führt eine tragische Tat durch, wenn er freiwillig einen Teil seiner höheren Interessen opfert, ein Opfer, das bis zum Tod führen kann" (Pavis 1984,518). Dies ist der Fall bei Cayo, der sich für seine politischen Ideale opfert. Er besitzt noch weitere Charakteristika des tragischen Helden: Er leidet unter Hybris und bleibt trotz Vorwarnungen bei seinem Handeln. Als er sein Scheitern erkennt, beschließt er, sein Schicksal anzunehmen und zu sterben: Das Drama ist erst dann zu Ende, wenn die Personen sich ihrer Situation bewusst sind, wenn sie die Macht des Schicksals oder eines moralischen Gesetzes anerkannt und gleichzeitig ihre Rolle im dramatischen oder tragischen Universum erkannt haben (Pavis 1984,521).

Die Handlung spielt im alten Rom, gemeint ist aber das Argentinien der Gegenwart. Die Kritik erkannte diesen Bezug und nahm das Werk sehr positiv auf. Somigliana war mit einem Mal eine Figur des argentinischen Theaters. El nuevo mundo (1981) wurde im ersten Zyklus des Teatro Abierto uraufgeführt. In diesem Text wird die Verbindung mit der sozialen Situation und die Kritik an der Macht besonders betont. Dazu erfindet Somigliana einen Marquis de Sade, der nach Amerika reist und dort bleiben möchte. Die Handlung folgt den Gesetzen der satirischen Komödie. Das konstruktive Prinzip ist die Satire, deren Ziel es ist, soziale Laster zu korrigieren, indem sie diese lächerlich macht (vgl. Hutcheon 1981). Die Personen sind Karikaturen mit übertriebenen sozialen Defekten, womit ein parodischer Effekt erzielt wird. Für die Komödie typisch ist die Wiederholung von Situationen; die Personen müssen sich konstant unter dem Bett verstecken und werden dann von dort unter Widerstand hervorgezogen. Aber das Stück hat nur bedingt den in der Komödie glücklichen Ausgang, da das moralische Gleichgewicht nicht wieder hergestellt wird, sondern mit einem ironischen Augenzwinkern die Unmoral siegt. In der Sprache wird der soziale Codex des Kommissars, des Geistlichen und des Ministers parodiert. Bei ihnen ist der Diskurs der Diktatur zu hören, wenn der Marquis zum Beispiel sagt: "Ich brauche keine Freunde, sondern Komplizen" (40), und der Kommissar: "Wenn ich hier niemanden finde, werde ich irgendeinen Unglücklichen von der Straße festnehmen

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müssen und sagen, dass ich ihn bei einem Diebstahl in der Küche überrascht habe" (49). Wieder situiert Somigliana die Handlung in die Vergangenheit, wobei es sich in diesem Fall um eine Strategie handeln könnte, um die Zensur zu umgehen. Aber er arbeitet mit einer doppelten Referenzialität. In den Erklärungen spricht er von anachronistischer Kleidung und Ausstathing. So nimmt er wiederum Bezug auf die Gegenwart; und wenn er erkennen lässt, dass der Regierungsminister eigentlich ein größerer Sünder ist als der Marquis de Sade, weil er ein Heuchler ist, und dass in diesem Land größere Sünden begangen wurden als die von Sade, deckt er die Ideologie der Militärregierung mittels Satire, Ironie und Parodie auf. Wie im Fall von Amarillo wurden die politischen Intentionen des Stücks vom Publikum erkannt, um so mehr, als das Verfahren der mit verschiedenen Mitteln erzielten Verschleierung der Gegenwart im Rahmen des Teatro Abierto üblich war. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Somigliana, Carlos. 1988. Teatro Completo. Buenos Aires: Municipalidad de la ciudad de Buenos Aires. Studien Hutcheon, Linda. 1981. Ironía, sátira, parodia. Una aproximación pragmática a la ironía. In: Poétique (París) 46,140-155. Pavis, P. 1984. Diccionario del teatro. Barcelona: Paidós. Pellettieri, Osvaldo (Hg.). 1989. Teatro argentino de los '60. Buenos Aires: Corregidor. —. 1989. El teatro de Eduardo Rovner. In: id. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. Tirri, Néstor. 1973. Realismo y teatro argentino. Buenos Aires: La Bastilla.

Die siebziger Jahre

Diana Raznovich (*1945) Kati Röttger Aber sie fanden mich nicht, denn ich hinterließ keine Spuren. Oder ich habe zumindest gelernt, sie zu verwischen. Diana Raznovich1

Diana Raznovich ist Komödiantin: Theaterfrau, Humoristin, eine Herumziehende, eine Nomadin. Schon ihre biografische Vorgeschichte ist grenzüberschreitend. Ihr Großvater väterlicherseits, ein russischer Jude, ist 1905 mit seiner französischen Frau nach Argentinien geflüchtet. Die Eltern ihrer Mutter, ein Wiener Jude und eine Deutsche, konnten fünfunddreißig Jahre später durch ihre Flucht nach Argentinien dem Konzentrationslager entkommen. 1945 in Buenos Aires geboren, nimmt Diana Raznovich diese Geschichte mit in ihr Leben. Sie legt sich nicht fest, schreibt Theater, aber nicht nur das, sondern auch Lyrik, Erzählungen, Romane. Sie ist Dozentin für Dramenanalyse, erfolgreiche Cartoonistin und gefragte Drehbuchautorin für das Fernsehen. Im Ausland hat sie bisher beinahe mehr Ruhm erworben als in ihrem Heimatland Argentinien. Ihre Theaterstücke (laut eigener Angaben sind es bisher insgesamt zwanzig) sind u.a. in den USA, Australien, Italien und auch Deutschland übersetzt und aufgeführt worden.2 Nennt sie sich selbst eine argentinische Künstlerin? Eigentlich nicht, denn "Argentinien ist ein erfundenes Land" (Raznovich 1989c, 3), mit einer Bevölkerung, die zu einem großen Teil aus europäischen Einwanderern besteht, genauso heimatlos wie sie selbst. Sie fühlt sich "dem mythischen Juden verwandt, der Seele des Irrfahrers, der auf der Suche nach dem gelobten Land ist" (9). Trotzdem ist ihr Theaterstück Desconcierto (Konzert des Schweigens, 1981/1993) 3 eng mit der politischen Geschichte Argentiniens verknüpft, eine Antwort auf die Militärdiktatur unter Galtieri zwischen 1976 und 1 2

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Aus ihrem Gedicht "Die unmöglichen Dinge, die wir vergeblich suchen" (1989). Beim S. Fischer Theaterverlag liegen folgende Stücke übersetzt vor: Cosa Matriz, Weiße Federn, schwarze Federn (Plumas blancas, plumas negras), Persönliche Sachen (Efectos personales), Herbstzeitlose (Jardin de otono) und Konzert des Schweigens (Desconcierto). Herbstzeitlose ist unter anderem in Konstanz, Nürnberg und Wien aufgeführt worden. Veröffentlicht in Theaterstücke aus Argentinien (1993), 183-191.

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1983. Nach einem auferlegten Schreibverbot und zwei Morddrohungen ging Raznovich 1976 ins spanische Exil. Für sie war dies eine Zeit des Schweigens. Desconcierto ist nicht nur ein Resultat ihrer Rückkehr nach Argentinien, sondern auch ihrer Rückkehr zur Sprache. Das Stück handelt hiervon, seine Themen sind die durch die Zensur erzwungene Stille, die Bereitschaft, Komplize dieser Stille zu sein und die Angst vor der Öffentlichkeit in einem Land der Diktatur. Dass diese Angst nicht unbegründet war, zeigt die Antwort der Militärregierung auf die Uraufführung des Stücks 1983 im Rahmen des Teatro Abierto. Das Theater wurde in derselben Nacht in die Luft gesprengt. Im Grunde aber nennt sich Diana Raznovich eine "relativ unpolitische Autorin", sie glaubt nicht an die Politik. Denn nicht nur ihre persönliche Mythologie ist transitorisch, sondern auch ihr Denken: vorüber-gehend, durchquerend, Grenzen verlegend, umwertend, subversiv. Ihr angewiesener Ort ist das Theater, ihre Überzeugung die der Komödiantin. Das Vagabundieren bestimmt nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Werk. Die Herumziehende braucht keinen Status. Sie sorgt für Attraktionen, um bemerkt zu werden. Viele ihrer Theaterfiguren sind denn auch Reisende und Künstler, Menschen ohne Ort. Das "Konzert des Schweigens" wird zum Beispiel von einer berühmten Pianistin, Irene della Porta, gegeben. In einem ihrer früheren Stücke, Plumas blancas, plumas negras (Weiße Federn, schwarze Federn; 1974/1991), in dem die (wiederum berühmte) Modeschöpferin Florencia Berlinguer per Anzeige ihren Vater sucht, entpuppt sich dieser als Lebenskünstler und nicht nur symbolischer Vagabund. In EJectos personales (Persönliche Sachen, 1989) befindet sich die Schauspielerin und Diva Casalia Beltrop auf einem verlassenen Bahnhof inmitten unzähliger Gepäckstücke, von denen manche ihre Habseligkeiten beherbergen. Sie kann nur raten, wo sie ist. Europa? Brasilien? Russland? Bis zum Ende wartet sie vergeblich darauf, dass jemand sie abholt oder irgendwer erscheint, der ihre Gepäcknummer verifiziert oder wenigstens, "dass man mir sagt, ob ich nun abreise oder gerade angekommen bin" (1989a, 12). Das Herumziehen ist ein Ergebnis. Es hinterlässt ein Erlebnis, keine Spur. So, wie der "Vater" seine "Tochter" Florencia Berlinguer am Ende des Stücks mit dem großen Erlebnis ihrer Begegnimg hinterlässt, aber ohne Gewissheit, ohne etwas, an dem sie sich festhalten kann. Das Theater ist ein Ort, an dem Diana Raznovich jede Ansässigkeit verbietet, indem sie Sicherheiten untergräbt, Identifikationen zerstört, die Grenzen zwischen Bild und Abbild abreißt und "Wahrheiten" für ungültig erklärt. Ihr wichtigstes Mittel ist der Humor:

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Humor [...] bedeutet die Entmystifizierung eines ewigen Diskurses, die Aufdeckung jener Scheinheiligkeit die unter dem Vorwand der Natürlichkeit das Leben anderer mit Füßen tritt. [...] Humor heißt, den Fuß auf jene zu setzen, die sich eines schönen Tages zu Hütern der Moral und ihrer Sprüche aufgeworfen haben und sie von ihrem Sockel zu holen (Raznovich 1991c, 5).

Ihre Theaterstücke suchen die Übertreibung, die groteske Verzerrung, die Nähe zum gefährlichen Abgrund der lächerlichen Trivialität und pathetischen Künstlichkeit, um das scheinbar natürlich Gegebene subversiv zu zersetzen. Dabei geht es ihr in erster Linie um die natürliche Gegebenheit des Frauseins. Alle ihre "Helden" sind Frauen, die auf der Bühne ihr Frausein demontieren. Sie zeigen es als Fiktion, in dem sie es in die verschiedenen Bilder zerlegen, die es vom Frausein gibt, diese kommentieren und selbst dahinter verschwinden. In Desconcierto fragt Irene della Porta das Publikum: "Wer bin ich? Wer? Weiß mein Manager, wer ich bin? Meine Bewunderer, wissen Sie es? Weiß ich es denn selbst?" (Raznovich 1981/1993,185) Raznovich betreibt in ihren Stücken die Fragmentierung der weiblichen Subjektivität, die Irigaray im Angesicht der jahrhundertelang männlich definierten Einheit des Subjekts unter Ausschluss des Anderen als grundlegende historische Kondition der Frau begreift (vgl. Irigaray 1974). So stellt sich Irene della Porta dem Publikum in variabler Gestalt dar, als Pianistin, als Schauobjekt, als Schauspielerin, als Stripteaseuse, als Sensation. Gleichzeitig kommentiert sie in einer großen Beschimpfung die schaulustige Erwartungshaltung des Publikums. Ein Beispiel: (Sie sucht sich einen Zuschauer aus, spricht ihn an.) Sie dort, Sie sind schon früher in alle meine Konzerte gekommen, und Sie kommen auch jetzt; ja, Sie, mit Ihrem unergründlichen und geheimnisvollen Blick; Sie haben mir früher Rosen geschickt, und Sie schicken mir heute wieder welche, warum kommen Sie? Meine Demontage ist ein Spaß für Sie, nicht wahr, ein witziger Einfall, eine Show hat meine Konzerte abgelöst (1981/1993,187).

Sie spielt den Zuschauer vor und analysiert gleichzeitig, wie sie als Frau und in logischer Konsequenz davon als Schauspielerin eine exibitionistische und das Publikum eine voyeuristische Position einnimmt. Auf diese Weise überführt sie die Frauen-Bilder, die sie auf der Bühne entwirft, ihrer Fiktion und raubt dem Publikum das voyeuristische Vergnügen. Ein ähnliches Verfahren wendet Raznovich in Casa Matriz (1988/1991) an. Hier nimmt sie die landläufigen Vorstellungen von der Mutterrolle auseinander, um sie ihrer "Natürlichkeit" zu entkleiden. Das Stück treibt den Ausverkauf der Gefühle in unserer kommerzialisierten Welt auf die Spitze:

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Kati Röttger Casa Matriz ist ein internationales Unternehmen, das Ihnen die perfekte Ersatzmutter zu Verfügung stellen kann. Wenn auch Sie von einer Ersatzmutter besucht werden wollen, kommen Sie zu uns in die Zentrale [...] (1991b, 4).

Eine Broschüre mit diesem Text und weiteren Erläuterungen wird zu Beginn der Vorstellung im Publikum verteilt. Die Protagonistin des Stücks, Viktoria, macht zu ihrem Geburtstag Gebrauch von diesem Service und stellt sich aus dessen Angebot ein Potpourri von Muttertypen zusammen, das die bestellte Ersatzmutter, "hervorragend geschulte Schauspielerin" (3), ihr darbieten soll: Die "Mutter kalt wie eine Eishöhle, fern, unberechenbar" (18), die "keifende alte Schlampe in Lockenwicklern" (32), "die allerliebste, allerbeste Mutter der Welt" (44) und noch einige mehr. Im Zusammenspiel mit Viktoria, immer wieder unterbrochen von ihren kritischen oder verletzten Einwürfen und Diskussionen über die Art der Präsentation, entstehen zahlreiche komische, teilweise slapstickartige Situationen, indem die landläufig unterstellte Natürlichkeit des Mutter-Tochterverhältnisses durch die hergestellten Brüche grotesk aus den Fugen gerissen wird. Diana Raznovich durchbricht jede Natürlichkeit. Ihre Existenz und ihr Werk sind von Verfremdungen durchzogen. Wer den Zustand des FremdSeins kennt, kann nichts mehr als natürlich hinnehmen, es sei denn, man flüchtet sich in Nostalgie und sentimentale Gefühle. Raznovichs Figuren sind sentimental und pathetisch bis an die Grenze der Unerträglichkeit. Aber diese falschen Leidenschaften sind auf dem Theater zur Künstlichkeit erhoben, so dass die Unechtheit als doppelte Verfremdung wirkt. Dafür schreckt Diana Raznovich vor keinem Klischee zurück.4 Irene della Porta "spielt" die "Pathétique" von Ludwig von Beethoven, das Klischee schlechthin für verzehrende Leidenschaft, hier ein Symbol für die Leidenschaft, mit der die Pianistin danach verlangt, wieder wirklich spielen zu können. Als das Klavier unerwartet wieder erklingt, bringen ihre ungeübten Finger nur "grässlich verzerrte Missklänge" (1981/1993,191) heraus, ihr Auftritt entlarvt sich in jeder Beziehimg als falsch. Dem transitorischen Denken ist Fremd-Sein inhärent, auch FremdSein im eigenen Körper. "Der Körper ist ein Ereignis" (Braidotti 1991,131), sagt Deleuze, wie das Vagabundieren. Und wie das Theater, sagt Razno4

Dieses Thema hat Diana Raznovich vor allem in ihrem Stück Jardin de otofio (Herbstzeitlose, 1974/1989) ausgeschöpft. Die Hauptfiguren sind zwei Frauen, die in jeder Hinsicht dem Klischee der einsamen Frauen entsprechen, sich Gurkenscheiben aufs Gesicht legen, sich nach einem Mann verzehren und all1 ihre unerfüllten Sehnsüchte auf den Held einer Fernsehserie projizieren, den sie schließlich entführen, damit er ihnen die Liebesszene, die eine der beiden Frauen im Fernsehen verpasst hat, persönlich vorspielt.

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vich. Für sie ist der Körper (der Frau) ein fremdes Szenarium, sie will ihn als verfremdetes Theater denken (1994,6). Sie nennt ihn "multidisziplinären Raum". Deleuze beschreibt ihn als "geographischen Raum, den es als transitorische Lokalität neu zu entdecken gilt, ein Ort der zentrifugalen Bewegung des Denkens, bevölkert von Nomaden und Vagabunden" (Deleuze 1962, 115). In beiden Begriffen wird der Körper als eine Oberfläche definiert, auf der verschiedene Kräfte spielen, eine intensive Diskontinuität, in der das Subjekt desintegriert ist, weit entfernt von Essenz, Zentralität oder Einheit. Raznovich trifft die Befindlichkeit der Frau nach Einschätzimg poststrukturalistisch geweihter feministischer Theorie auf den Kopf, in der Sein oder Nicht-Sein als Essenz keine Gültigkeit mehr haben, sondern das Subjekt in der Vielfalt seiner Repräsentationsformen erscheint, um den (Frauen-) Körper wie ein Szenarium zu besetzen. Für die feministische Theoretikerin Judith Butler besteht darin die "Strategie der Maskerade", d.h. das "auf übertriebene Weise zur SchauStellen des Natürlichen", um deutlich zu machen, dass das, was für natürlich gehalten wird, wie z.B. die geschlechtliche Identität, "auf eine Illusion gegründet ist" (Butler 1990, 146). Die Nomadin, Grenzüberschreiterin, Komödiantin Diana Raznovich zeigt mit der Strategie der Übertreibimg der Weiblichkeitsmerkmale auf der Bühne, wie ihre Figuren die Konstruktion von Weiblichkeit imitieren. Damit verwischt sie den Unterschied zwischen Bild und Abbild, Original und Kopie. Echtheit gibt es nicht. In Efectos personales legt die Diva Casalia Beltrop irgendwann ihren grauen Regenmantel ab. Darunter erscheint ein weiterer grauer Regenmantel. So schält sich die Figur wie eine Zwiebel, ihrem Selbst auf endloser Spur. Geantwortet wird ihr auf ihrer Suche nur von ihrer eigenen Stimme, die, auf ein Tonband aufgenommen, aus einem Lautsprecher zu ihr spricht. Ihr Ort ist transitorisch, der Bahnhof, aber auch das Theater (sie ist Schauspielerin). Ihr Körper ist ein Szenarium ("Wenn ich wenigstens wüsste, ob ich ankomme oder abfahre, dann könnte ich persönlich eine andere Haltung annehmen. Die Haltung, mich mit jemandem zu treffen oder die klassische Haltung des Abschieds" (Raznovich 1989a, 2), im Dialog mit ihrer eigenen verfremdeten Stimme, umgeben von austauschbaren Requisiten, den Koffern mit ihren Habseligkeiten, die ihr jede Identifikation verweigern, weil die Nummern nicht mit der ihren übereinstimmten. Am Ende bleibt ihr nichts Anderes als selbst in einen Koffer zu steigen, wie ein Zirkusclown, der den "Trick des Verschwindens" ausprobiert, nachdem er eine traurig-komische Solonummer vorgeführt hat. Die Strategie der Maskerade erzeugt Gelächter, weil sie die Autorität der symbolischen Ordnung auf den Kopf stellt, indem sie diese in stereoty-

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pen Wiederholungen parodiert (vgl. Butler 1990,146), ein Gelächter von subversiver Kraft. Bibliographie Theater (Auswahl) Raznovich, Diana. 1981. Desconcierto. Dt. Konzert des Schweigens. Übers, von Ilse Schliessmann. In: Theaterstücke aus Argentinien (1993), 183-191. —. 1989a. Efectos personales. Typoskript. Dt. 1992. Persönliche Sachen. Frankfurt a.M.: S. Fischer Theaterverlag. —. 1989b. Herbstzeitlose. Frankfurt a.M.: S. Fischer Theaterverlag. —. 1989c. Interview. In: Programmheft zu der Aufführung von Herbstzeitlose vom "Theater in Konstanz". —. 1991a. Weiße Federn, schwarze Federn. Frankfurt a.M.: S. Fischer Theaterverlag. —. 1991b. Casa Matriz. Frankfurt a.M.: S. Fischer Theaterverlag. —. 1991c. Gegen die Gesetze der Schwerkraft. In: Programmheft der Aufführung von Herbstzeitlose vom "Theater in Konstanz". —. 1994. Lofomenio teatral. La teatralidad de la mujer. Vortrag. Studien Braidotti, Rosi. 1991. Patterns of Dissonance. Cambridge: Polity Press. Butler, Judith. 1990. Gender Trouble: The Subversion ofldentity. New York: Routiedge. Deleuze, Gilles. 1977. Nietzsche et la philosophie. Paris: Presses Universitaires de France. Irigaray, Luce. 1974. Spéculum d'autre femme. Paris: Minuit. Martinez, Martha. 1980. Très nuevas dramaturgas argentinas: Roma Mahieu, Hebe Uhart y Diana Raznovich. In: Latin American Theatre Review 14/1,39-45.

Ricardo Monti (*1944) Heidrun Adler Vor die Wahl gestellt zwischen das Leid und das Nichts, wähle ich das Leid. William Faulkner: Wilde Palmen

Einer der wichtigsten Autoren des argentinischen Theaters der 70er Jahre ist, neben Griselda Gambaro und Eduardo Pavlovsky, Ricardo Monti.1 Wie Roberto Arlt mit Dreihundert Millionen 1947 eine neue Ära einleitete, verändert Monti mit seinem ersten Stück Una noche con el sr. Magnus e hijos (Eine Nacht mit Herrn Magnus und Söhne, 1970) das Theater Argentiniens. In die Tradition der Groteske2 und des Zirkus nimmt er alle Strömungen des europäischen Theaters auf und kreiert einen eigenen pluralistischen Stil. Es lassen sich darin Elemente des Theaters von Pirandello, des Expressionismus, des Surrealismus, des Theaters der Grausamkeit von Artaud, des absurden Theaters Frankreichs, des dokumentarischen Theaters von Peter Weiss, des epischen Theaters Brechts nachweisen. Und jeder Zug wird von Monti auffallend übertrieben. Er selbst nennt sich einen Realisten, fügt aber hinzu: Unser realistisches Theater (vgl. Tirri 1973) ist einseitig, es zeigt nicht alles, nicht die Welt des Traums, nicht das Irrationale. Mich interessiert aber ein Theater en globe, das alle Bereiche einbezieht, denn unser Leben spielt sich vorwiegend in der Zwischenzone zwischen Realität und Irrationalität ab (Ardiles Gray 1977).

1970 wird Una noche con el sr. Magnus e hijos, es hieß ursprünglich El vendedor (Der Verkäufer), vom Grupo Laboratorio de Teatro in Neuquén uraufgeführt und bringt Monti den Premio Pilar de Luzarreta von ARGENTORES für das beste Erstlingswerk und den Sixto Pondal Ríos, der eine Europareise beinhaltet. Danach wird das Stück auch im Teatro del Centro gezeigt. Bei der Premiere sagt er: Ich will ein Theater ohne formale Zwänge; ein Theater, das Zweifel und Unsicherheit schafft, das die unbewussten Bilder des Publikums heraufbeschwört. Wir

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S. Zayas de Lima 1983,114-118; Tschudi 1974; Perales 1985,74ff. Kayser 1968, 383f.: "Im Grotesken entfremdet sich die Welt, die Formen verzerren sich [...]. Entscheidend ist, dass die Entfremdung [...] keine Sinndeutung zulässt."

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wissen, dass wir mit Theater kein Gesellschaftssystem ändern können. Aber die Denkweise einer Gesellschaft können wir verändern.

Una noche con el sr. Magnus e hijos stellt den Archetypus des Unternehmers auf die Bühne, der immer gewinnt, da er in erster Linie ein Image von Macht und Sicherheit verkauft. Monti hat sich zu dieser Figur durch Bilder von George Grosz inspirieren lassen.3 Ein junges Mädchen, Julia, verbringt einen Abend mit ihm und seinen Söhnen, an dessen Ende Magnus von seinen Söhnen getötet wird. Das Stück will die "Realität" einer Klasse zeigen, die, Montis Meinung nach, keine "reale" Zukunft hat.4 Sichtbar macht er dies über das Bühnenbild: ein labyrinthischer, geschlossener Raum mit falschen Ausgängen, gemalten Türen, der ein gleichzeitiges Spiel auf verschiedenen Ebenen erlaubt. Die Außenwelt dringt als rhythmischer Maschinenlärm aus Magnus' Textilfabrik herein. Die Schauspieler tragen auf das Gesicht gemalte Masken, ihre Gesten sollen künstlich sein, ihre Sprache pathetisch. Auch der musikalische Hintergrund wirft alle Stile durcheinander: Mozart, Zirkusmusik, Jazz, Beat, ein Requiem, Tafelmusik der Renaissance. Lichteffekte unterstreichen den Symbolcharakter von Figuren und Ambiente. Mit clownesken Szenen zeigt Monti die Welt von Henker und Opfer5 und stellt heraus, dass Magnus seine Macht nur ausüben kann, weil die anderen sie akzeptieren. Seine Opfer protestieren, sind aber unfähig, etwas zu tun. Ihr verbaler Protest wirkt wie eine sprachliche Maske; das "wahre Gesicht" zeigen sie in ihrer Zustimmung: Magnus: Alle: Magnus: Alle:

Wer ist der Herr silier Dinge? Magnus! Wer ist die Sonne, das Universum, das Maß aller Dinge? Magnus! (Monti 1971,43)

Sie fungieren quasi als Chor, der die Mechanismen der totalitären Macht offenlegt, die fehlende Solidarität der Opfer untereinander und ihre Komplizenschaft mit den jeweils Mächtigen. Der Vatermord am Ende bringt den Söhnen aber keine Freiheit. Weil sie ihn getötet haben, bleiben sie an den Vater gebunden. Una noche con el sr. Magnus e hijos ist eine Parabel auf die tiefgreifenden politischen und sozialen Veränderungen der Ära Perón. 3

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Monti in einem Interview mit Hedda Kage 1985. "Mich hat die expressionistische Malerei Deutschlands beeindruckt. So sind in meinem Theater die Figuren nicht realistisch, sie sind Masken. Die Bilder haben kontrastierende Farben, gewalttätige Farben. Magnus ist direkt aus einem Bild von George Grosz gestiegen." Interview mit Ardiles Gray; in Gray 1977. S. ausführliche Analyse von Ramos Foster 1971 und Previdi Froelich 1989.

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Roberto Previdi Froelich nennt es eine neogroteske Interpretation der Jahre einer langen Diktatur. 1970, gegen Ende des Regimes von Ongania, uraufgeführt, das heißt, im sozialen Kontext, der 1969 zum Ausbruch der Spannungen führte, scheint Monti eine subtile aber bösartige Kampagne gegen die Institutionalisierung der unterdrückenden Staatsmacht zu führen.6

In diesem ersten Stück lassen sich bereits die für Montis späteres Theater charakteristischen Elemente aufzeigen: Es gibt keinen Handlungsfaden, die Szenenfolge gehorcht vielmehr Assoziationen zu Bildern, die "ein Geheimnis enthalten, das enthüllt werden muss".7 Stereotype Clown-Masken verwischen oder betonen die Identität der Figuren, sie stammen aus der italienischen Groteske. Ein abrupter Wechsel von Licht zu Schatten, von feierlicher zu trivialer Musik, von gestelzter zu vulgärer Sprache schaffen den unmittelbaren Sprung von einer Realitätsebene zur anderen und assoziieren die irrationalen Brüche des Surrealismus. Künstliche Gesten schaffen auf der einen Seite die szenische Illusion, auf der anderen das Gefühl von Falschheit, als könnte jeden Augenblick alles in sich zusammenbrechen. Daraus entsteht eine allgemeine Instabilität, die eine bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Simultane Abläufe auf verschiedenen Ebenen lenken die Aufmerksamkeit des Publikums ab und lösen die Sprache von der Handlung, so dass sie als Sermon, als Litanei wahrgenommen wird. Folgerichtig entwickelt sich daraus das Spiel im Spiel, die Simulation als rituelle Zeremonie, die ewige Wiederholung, die die Erinnerung wachhalten soll: Julia und Magnus wiederholen ihre erste Begegnung; der alte Lou und Magnus spielen Käufer und Verkäufer; die Familie wiederholt die Beerdigung von Magnus' Frau Bibi, die er getötet hat; Magnus und Santiago spielen die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Kapitalismus. Montis Figuren wiederholen/simulieren unaufhörlich, sie verlieren die Kontrolle darüber, was real und was simuliert ist. "In autoritären Gesellschaften müssen die Menschen sich ständig verstellen. Darüber geht ihnen das Gefühl für Realität und für Identität verloren," erklärt Monti (1979,52).

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Previdi Froelich deutet die Figuren wie folgt: Die Söhne können die Führer der verschiedenen politischen Richtungen repräsentieren, die Perón unterstützten und sich später gegen ihn stellten. Der alte Lou kann die alte Oligarchie symbolisieren, die durch Perón entmachtet wurde. Julia ist dann die junge Generation, die der ideologischen Zersplitterung in den 50er Jahren verwirrt gegenübersteht. Emilio Schechtmann; Interview in Stuttgart 1988 anlässlich der von Schechtmann inszenierten deutschen Uraufführung von Marathon.

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Ein kurzer Prolog stellt auch in anderen Stücken das Thema vor; hier ist es ein Albtraum, in dem eine fette Ratte erschlagen wird. Auf dem Höhepunkt des Stückes erschlagen die drei Brüder ihren Vater Magnus. Auch die groteske Gleichsetzung von Mensch und Tier zieht sich durch das gesamte Werk. Magnus spricht von seinen Söhnen als "ratitas" (Rättchen); der alte Lou läuft auf allen Vieren und heult wie ein Hund; ein Motiv, das sich in den folgenden Stücken wiederholt (vgl. Podol 1980). Sicher ist die Beziehung zwischen den einzelnen Figuren als Allegorie für die Entfremdung der Menschen in einer kapitalistischen Welt anzusehen, und die verbale Wiederholung von Magnus' Sieg über die anderen als ewige Parodie eines Siegermythos der Bourgeoisie, der beschworen wird, um von der Vergänglichkeit abzulenken. Aber Montis Figuren zeigen darüber hinaus ein tiefes Grauen vor dem Ende der Vorstellung. Es sieht so aus, als wüssten sie alle, dass das Spiel ihre einzige Alternative zum Tod ist, den sie in seiner bedrückendsten Form in sich tragen, als Verwesung des Fleisches. (Magnus: "Ich bin verfault." Monti 1971,45) Alle leiden unter dem Spiel, wollen heraustreten. Doch das ist nicht möglich. Und in dieser Zwischenzone, zwischen dem ungewollten Spiel und dem Zwang zum Spiel, bietet sich die Groteske als Lösung an. Das Gelächter als verzweifelter Versuch, Distanz zu den erdrückenden Umständen zu schaffen. Sie trivialisiert den Tod und weckt die Illusion, man könnte ihn durch das Spiel fernhalten. Montis zweites Stück, Historia tendenciosa de la clase media argentina (Tendenziöse Geschichte der argentinischen Mittelklasse), wird 1971 im Teatro Payrö uraufgeführt. Es ist eine kollektive Arbeit von Autor, Regisseur und Schauspielern. Sie besteht aus chronologisch strukturierten satirischen Sketches auf die argentinische Geschichte und trägt den Untertitel, "Moralidad en un acto" (Moralität in einem Akt). In der Figur der alten Hure La Pola, die für die Nation steht, untersucht Monti allegorisch das argentinische Nationalbewusstsein. La Pola erinnert unmittelbar an Una noche am el sr. Magnus e hijos. Auch hier wird die Groteske mit dem MaskenMotiv vorgegeben. (La Pola: "Ich trage so viel Schminke, dass ich manchmal das Gefühl habe, durch zwei Gucklöcher zu sehen". Monti 1971, 7) Die Spielweise, die Monti für das Stück vorschreibt, hält die Zeit immer wieder an, indem die Schauspieler eigene Erinnerungen zu den gezeigten historischen Ereignissen improvisieren (Implosion). Das Ergebnis ist eine virtuose Mischung aus Poesie und vulgärem Text mit witzigen Einwürfen englischer und französischer Sätze. Aber im Gegensatz zu Una noche con el sr. Magnus e hijos, wo das Spiel den Handlungsablauf einfriert, um zu verhindern, dass der Tod erscheint, führt die Implosion zu einer subjektiven Realität, die die natürliche Kontinuität der Handlung zersetzt.

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Die Dialektik zwischen Spiel und Realität wird hier auf der Ebene des Textes entwickelt, indem eine Figur, die "Teatro" heißt, die Rolle des Moderators übernimmt, der ankündigt, was gezeigt werden wird, und kommentiert. Im Zentrum der Geschichte stehen die Filipeaus, als typische Mittelklasse-Familie Argentiniens, die ihren unbedarften Sohn in eine erfolgreiche Karriere zu stoßen versucht. Ihr, der Mittelklasse, weist Monti die Schuld am grotesken Verlauf der argentinischen Geschichte zu. La Visita (Der Besuch), 1977 im Teatro Payrö uraufgeführt, nimmt das Ambiente von Una noche con el sr. Magnus e hijos wieder auf und intensiviert die surrealistische Komponente, indem es den Zuschauer unmittelbar in eine magische Situation versetzt.8 Der Protagonist Equis (X) besucht Perla und Lali in einem Raum der Unsterblichkeit. Als er sie wieder verlassen will, zwingen sie ihn in die Rolle ihres verlorenen Kindes. Er tötet beide, kann den Raum aber nicht mehr verlassen. Die Türen sind versiegelt, und ein Fremder schaut zum Fenster herein. Die Idee zu diesem Stück fand Monti in einer Zeitungsnotiz: Ein junger Einbrecher bevorzugte die Wohnungen alter Leute, ließ sich von ihnen bedienen, schlief eine Nacht bei ihnen und ging dann mit seinem Diebesgut fort (vgl. Driskell 1979). Eine ähnliche Situation schafft Equis mit seinem Besuch, er dringt in den geschlossenen Raum der Ewigkeit ein, profanisiert ihn. Aber es zeigt sich, dass die Ordnung dieses "heiligen Raums" fiktiv ist. Equis kommt, um eine falsche Ewigkeit zu zerstören. Im Mittelpunkt dieses Stückes steht die Furcht des Menschen vor dem Tod und dem Nichts. Die wieder durch das Masken-Motiv vorgegebene Groteske nimmt dem Thema sein Pathos, der Tod wird lächerlich gemacht, und auch die Unsterblichkeit wird veralbert. Monti bevorzugt Beerdigungsszenen, um dies deutlich zu machen. In Una noche con el sr. Magnus e hijos stimmt der alte Lou sein Hundegeheul an, die Söhne kreischen schrill, während ein Requiem Bibis Beerdigungsritual begleitet. (Julia: "Das ist ja ein Irrenhaus!" Monti 1971, 39) Die Söhne erwidern, das letzte Mal sei es noch viel schöner gewesen. In Historia tendenciosa de la clase media argentina hält Madame Filipeau eine hochtrabende Totenrede auf ihren Mann, während er nicht so tot ist, um nicht noch eine Zigarre anzunehmen. In La Visita spielt Perla die Tote und bemerkt auf dem Höhepunkt der Zeremonie, dass sie sich in die Hosen gemacht hat. Auch in diesem Stück nimmt Monti jeder Szene ihre Stabilität, indem er einen raschen Wechsel zwischen ernsthafter und absurder Spielart verlangt, von zeremonieller zu infantiler Haltung, von klarer und gebildeter Sprache zu Gestammel und gestelzter Redeweise. Diese grotesken Brüche verhindern nicht nur jede Möglichkeit, die Zeichen eines Stücks auf 8

S. die Analyse von Foster 1979.

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ihre Referenz zu ordnen, eine Sinndeutung zuzulassen, sie spielen auch eine wichtige erzählerische Rolle. Indem er seine Szenen aufbaut und zerstört, als lösten sie sich auf spöttische Weise auf, suggeriert uns Monti, die reale Welt sei eine lange Kette von Erscheinungen, Verhüllungen und Verhaltensweisen, die nur dazu dienen, dem Menschen einen nicht vorhandenen Halt zu simulieren. So ist Simulieren der natürliche Bewusstseinszustand von Montis Figuren. Das heißt aber nicht, dass sie sich willkürlich verstellen. Simulieren ist vielmehr ihr leidvolles und unausweichliches Schicksal. Sie können das Geheimnis, warum die Dinge geschehen, warum eine Ordnung zerbricht oder warum der Charakter einer Situation sich ohne Vorwarnung verändert, nicht aufdecken. Darum wiederholen sie die Abläufe, kehren immer wieder zum Anfang zurück. Alle theatralischen Zeremonien in Montis Theater vollziehen sich mit der stets unbeantworteten Frage: Ist der Mensch eine Phantasmagorie oder ein zur Verwesung verdammter Körper? Mit seinem nächsten Stück, La cortina de Abalorio (Der Vorhang des Abalorio), 1981 für das Teatro Abierto geschrieben, greift Monti wieder zur zirzensischen historischen Allegorie. Hier wird nicht wie in Historia tendenciosa de la clase media argentina der große zeitliche Bogen geschlagen, der praktisch das ganze 20. Jahrhundert umschließt und der dazu dient, die politische Verantwortungslosigkeit der argentinischen Mittelklasse zu kommentieren. In La cortina de Abalorio ist der Ort der Handlung ein Bordell am Ende des 19. Jahrhunderts. Mama ist die nationale Geschichte; Pezuela der Landadel mit Großgrundbesitz; Popham ist das englische Kapital und Mozo das Volk. Solche groben Gleichsetzungen, die in der Allegorie erlaubt sind, haben bei Monti keinerlei didaktische Funktion. Auf diese Weise erlangen die Figuren aus dem Kontrast zwischen ihrem archetypischen Charakter und ihrem linguistischen Gehalt vitale Kraft, vor allem Mama, die französisch-argentinische Hure, die sich in herrlichen, diskursiven Konstruktionen ausdrückt. Ihre Sprache ist eine Collage aus Argot, der Sprache der aufstrebenden Mittelklasse und der mit französischen Redewendungen gespickten Ausdrucksweise der Oligarchie. In Marathon (1980) erscheint wieder das Bild des geschlossenen Raums. In einem Tanzsaal der 30er Jahre tanzen Paare um einen imaginären Preis. Der Animateur dieses "Wettkampfes" gleicht dem Magnus in Montis erstem Stück. Er hat die Position eines trügerischen Gottes, übt willkürlich eine Macht aus, die ihm allein aus der Schwäche und Unsicherheit der Tänzer zuwächst. Sie tanzen nach seinen Regeln, die sie nicht kennen, er treibt sie an und macht sich gleichzeitig über ihre Anstrengungen lustig. In einundzwanzig ungleichen Szenen, die an einen TangoRhythmus erinnern, wird der Tanz zur Reise in die Vergangenheit. Die

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Träume der Tänzer vermischen sich mit Erscheinungen aus der Geschichte Argentiniens, angefangen bei Pedro de Mendoza, der die Stadt Buenos Aires gründete,9 über die Weltwirtschaftskrise zum Faschismus der 30er Jahre. Wie die Söhne von Magnus rebellieren die Tänzer gegen den falschen Gott. Sie wollen wissen, worum sie tanzen. Und wieder erweist sich die Situation als falsch, denn es gibt keinen Preis, und die Anstrengungen dieser Menschen werden zur Farce. Erneut stehen wir in der Montischen Sackgasse: Seine Figuren entdecken das Spiel und kämpfen, um aus ihm herauszukommen. Doch das führt sie zu der unerträglichen Erkenntnis: Wenn die Vorstellung aus ist, kommt das Nichts, der Tod. Und davor fliehen sie erst recht. In Marathón wird die willkürliche Unterdrückung der Menschen durch ein System weniger scharf dargestellt als in den vorangegangenen Stücken. Niemand ist gezwungen, an dem Wettbewerb teilzunehmen, jeder kann gehen, wann er will. Dass diese Freiheit für die Tänzer ohne Bedeutung ist, verraten ihre Lebensgeschichten. Ihre Träume von dem Preis sind Träume von Erlösung, also geben sie sich der Illusion, der Lebenslüge hin, akzeptieren das Spiel: Animateur: Allein die Hoffnung hält sie auf den Beinen. Blind streben sie auf das Ende zu, auf Sieg oder Niederlage. Verstehe einer die Menschen... Wäre es nicht so lächerlich, man müsste es eine Tragödie nennen (Monti 1981/1993,138).

Nur ein Paar verlässt den geschlossenen Raum: Tom Mix, ein junger Idealist, und Ana, eine junge Einwanderin, die kaum versteht, was um sie herum geschieht. Für Una pasión sudamericana (1988) wählt Monti ein Landhaus, Mitte des 19. Jahrhunderts, als Schauplatz. Von außen dringen die Geräusche eines Unwetters und der Lärm eines Heerlagers herein. Es ist die Nacht vor einer entscheidenden Schlacht. Eine Gruppe von Narren vertreibt den Offizieren die Zeit mit grotesken Spielen, in denen die Themen des Stückes kommentiert werden. Es geht wieder um die Macht, mit der mein eine Ordnimg schafft, der sich die anderen beugen müssen. Der Prozess ist hier noch nicht abgeschlossen, es wird noch um die Macht gekämpft, und dazu sagt der verantwortliche Offizier einen Satz, der in jedes Monti-Stück passt:

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Hier wieder das Motiv der Fäulnis des Fleisches: Mendoza hatte Syphilis, Vespuchi, der ihn träumt, hat Tuberkulose.

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Heidrun Adler Auf jede Bewegung (des Feindes) reagiere ich im Spiegel mit einer anderen Bewegung... Und wenn ich in diesem Spiegel mein eigenes Mördergesicht sehe, erkenne nur ich hinter der reglosen Maske die Fratze der Angst und der Gewissensqual (Monti 1988,25).

Das gleiche Thema und die gleichen Mittel wie in den vorangegangenen Stücken: Narren, die das Leben nachspielen; der clowneske Kontrapunkt zwischen verschiedenen Ebenen wird durch eine verfremdete Sprache gesetzt: Die Narren sprechen ein spanisch durchsetztes Italienisch, die anderen ein vulgäres Spanisch mit poetisch pathetischen Ausbrüchen; Demonstrationen von Gewalttätigkeit zwischen den Menschen; keine Solidarität unter den Opfern; das Spiel im Spiel. Anders ist hier, dass Monti das Spiel den Narren überlässt. Groteske und Pathos sind voneinander getrennt worden. Die für sein Theater charakteristische bedrohliche Atmosphäre, die aus der Spannung zwischen dem bewussten Spiel der Figuren und ihrem Bewusstseinsverfall entsteht, kann sich hier nicht aufbauen. Eine Liebesgeschichte zwischen einem Priester und einem jungen Mädchen rückt in den Vordergrund. Beide werden in einer willkürlichen Entscheidung des Offiziers erschossen. Es ist die erste Demonstration seiner Macht. (Brigadier: "Man kann mit Freiheit keine Ordnung schaffen!" ibid., 65) Mit La oscuridad de la razön (1992) versucht Monti eine griechische Tragödie, eine argentinische Orestie. Klytaimnestra setzt er mit Argentinien gleich, Orestes mit dem in Europa ausgebildeten Argentinier, Kassandra mit der Seele Amerikas und beendet den Gewissenskonflikt von Orestes in einer christlichen Erlösungsszene. Von Montis originellem Stil hat dieses Stück nichts. Montis Theater präsentiert eine verfremdete Welt, in der die Menschen mit allen ihren Schwächen als Opfer eines bösartigen Schicksals erscheinen. Sie werden von denen manipuliert, denen sie selbst die Macht überlassen, Ordnungen (Familie, Staat) zu etablieren. Und mit jedem seiner Stücke stellt Monti die Frage neu: Was bedeutet dem Menschen die Macht, dass er in seinem Streben danach jede Menschlichkeit fahren lässt?

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Podol, Peter L. 1980. Surrealism and the Grotesque in the Theatre of Ricardo Monti. In: Latin American Theatre Review 14/1,65-72. Tirri, Nestor. 1973. Realismo y teatro argentino. Buenos Aires: La Bastilla. Tschudi, Lilian. 1974. Teatro argentino actual (1960-1972). Buenos Aires: Fernando Garda Cambeiro. Zayas de Lima, Perla. 1983. Relevamiento del teatro argentino (1943-1975). Buenos Aires: Rodolfo Alonso.

Jorge Goldenberg (*1941) Verónica Médico Was the hope drunk, Wherein you dress'd yourself? Hath it slept since? And whakes it now, to look so green and pale At what it did so freely? From this time Such I account thy love. Art thou afeard To be the same in thine own act and valour As thou art in desire? Would'st thou have that Which thou esteem'st the ornament of life, And live a coward in thine own esteem Letting "I dare not" wait upon "I would", Like the poor cat i'the adage? Shakespeare: Macbeth

Wir beginnen die Arbeit mit diesem Epigraph, weil wir glauben, dass die lange Tirade von Lady Macbeth die Positionen von vielen Personen des Werkes von Jorge Goldenberg zusammenfasse sowohl von denen, deren Spannung zwischen dem Wunsch und der erdrückenden Realität besteht, als auch von denjenigen, die für die Verwirklichung einer ihren Phantasien entsprechenden Realität kämpfen. Personen dieses Typs sind Krinsky und Luba (Krinsky), Maria Elena (Knepp), Miguel und Pato (Fifty-fifty), die Personen von Un pais muy verde (Ein sehr grünes Land) und von Cartas a Moreno (Briefe an Moreno). Sie alle versuchen, ihre Illusionen zu verwirklichen, sie aufführbar zu machen: Krinsky entscheidet sich für seinen eigenen Tod, nachdem er vorher den anderer versucht hat; Maria Elena entscheidet sich dafür, daran zu glauben, dass ihr Mann noch lebt; Miguel und Pato bevorzugen es, sich in ihren Phantasien einzuschließen und sich von der Realität zu entfernen; die Personen von Un pais muy verde entscheiden jeder für sich über die Identität der Voz (Stimme); die von Cartas a Moreno stellen die Geschichte aus ihren eigenen Gefühlen und Ideen dar. Es handelt sich um Personen, die handeln, die sich verkleiden, die verschiedene Rollen spielen, die sich auf der Bühne verändern. Goldenberg wurde 1941 in der Provinz von Buenos Aires geboren, er ist Filmemacher und Dramatiker. Sein dramatisches Werk besteht aus folgenden Stücken: Argentine Quebracho Company (Argentinische Quebra-

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cho Gesellschaft,1 in Zusammenarbeit mit Danilo Gelasse), 1972 im Teatro Lasalle uraufgeführt, der Text ist verlorengegangen; Relevo 1923 (Vorspann 1923) aus demselben Jahr, 1975 im Teatro Municipal von Mendoza uraufgeführt und Sieger des Premio Casa de las Américas im Jahr 1975; Fiftyfifty aus dem Jahr 1975 (ausgehend von Improvisationen der Schauspieler Miguel Guerberoff und Patricio Contreras), im Teatro Eckos uraufgeführt; Rajemos, marqués, rajemos (Sprechen wir, Marquis, sprechen wir; Kindertheater), 1976 in Caracas im III Festival Internacional de Teatro uraufgeführt; El baile de los Guerreros (Der Tanz der Krieger), 1982 basierend auf dem gleichnamigen Roman von Ernesto Schóó geschrieben, das weder publiziert noch aufgeführt wurde; Un país muy verde von 1983, das ausgehend von Improvisationen der Gruppe Equipo Teatro Joven Payró entstanden ist; Knepp, das im selben Jahr im Teatro Olimpia uraufgeführt wurde; Yo estoy bien (Es geht mir gut), das im Rahmen des Teatro Abierto '83 uraufgeführt wurde (Teatro Margarita Xirgú); Poniendo la casa en orden (Das Haus aufräumen), das auf Yo estoy bien basiert und 1984 im Ciclo Voces des Teatro Municipal General San Martín uraufgeführt wurde und den Preis Estrella de Mar 1985 gewann; Krinsky, das 1986 im Teatro Payró uraufgeführt wurde und die Preise Unión Carbide Argentina (1983) und María Guerrero (für den besten Autor, 1986) gewann; und Cartas a Moreno (Variaciones sobre una carta de María Guadalupe Cuenca, Variationen über einen Brief von María Guadalupe Cuenca) von 1987, das ebenso ausgehend von Improvisationen der Gruppe Equipo Teatro Joven Payró entstand und die Preise Premio ARGENTORES und Pepino el 88 gewann. Weiter bearbeitete er Measure for measure von Shakespeare (1984), Die Stützen der Gesellschaß von Ibsen (1986) und La Celestina von Fernando de Rojas (1993). Im Werk von Goldenberg können wir verschiedene Tendenzen unterscheiden: zum einen Werke mit Brecht'schem Intertext, die mit der Geschichte arbeiten: Relevo, El baile und Cartas-, zum anderen aus Improvisationen entstandene Werke, die die Problematiken der Autoren zum Thema haben, wie Eifty, Un país und wiederum Cartas; und schließlich eine Tendenz, die sich durch die Verbindung des Sozialen mit dem Individuellen charakterisiert und die aus den Werken Knepp und Krinsky besteht, wobei beide indirekt die Macht in Frage stellen; und Poniendo, das die Gesellschaft mittels der Parodie und des Humors in Frage stellt. Diese drei Tendenzen lassen sich jedoch einem einzigen Handlungsmodell zuordnen, dessen Subjekt aus einigen Personen besteht; die Protagonisten sind fast immer diejenigen, die einen Konflikt auszutragen haben 1

Quebracho ist ein Baum des Chaco mit sehr wertvollem Holz. (Anm. d. Ü.)

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(Krinsky, Maria Elena, Pato und Miguel, die Protagonisten in Un pais und Cartas, Mabel in Poniendo, zum Beispiel). Das Objekt ist die Suche nach Identität, sei es der sozialen oder individuellen. Ziel sind die Wünsche und Phantasien der Subjekte, Adressat sind sie selbst und, in einigen Werken, die Gesellschaft. Die Gegner sind fast archetypische Personen, die eine eindeutige ideologische Haltung einnehmen, welche meist degradiert oder parodiert dargestellt wird, und die fast immer irrational handeln. Die Helfer werden weniger verzerrt dargestellt. Während bei ersteren eine ironische Distanz zum Zuschauer bleibt, ist bei letzteren eine emotionale Identifikation möglich. In den Texten wird das Individuelle mit dem Sozialen verbunden. Die Personen definieren sich durch die Gegenüberstellung mit den anderen und durch ihre soziale und politische Geschichte. Auf der Suche nach ihrer individuellen Identität werden sie von der sozialen Komponente eingeholt. Es werden zwei Typen von Identität gesucht: Einerseits die soziale, die mit ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu tun hat, wie zum Beispiel, Jude (Krinsky), Anarchist oder Militarist (Relevo), Unitarier oder Föderalist (El baile), oder andererseits die des Argentiniers. Dieser wird als engstirnig und intolerant dargestellt: Pass auf: Ich habe nichts gegen niemanden: Er ist ein Schwarzer? Dann soll er ein Schwarzer sein. Er ist ein Jude? Dann soll er ein Jude sein... Aber ein Argentinier, nein. Argentinier sind wir, die Argentinier. Hören Sie zu, was ich Ihnen sage. Sogar der Penis ist anders. Wenn Sie mir sagen, es sei schwierig festzustellen, ob der Penis argentinisch ist oder nicht, dann sage ich Ihnen, machen Sie folgende Prüfung: Zeigen Sie ihm das Bad. Wenn er weiß, wofür das Bidet ist, ist er argentinisch. Wenn nicht... bei allem Respekt, ohne Gewalt, ohne Rassismus, dann nicht.

Die Verbindungspersonen zielen auf eine weniger engstirnige Identität ab und zeigen die Probleme auf, die Intoleranz mit sich bringt. In dieser Hinsicht haben die Texte verschiedene Niveaus, niemals wird eine einzige soziale Identität thematisiert, sondern es wird eine universellere Darstellung der Problematik gesucht. Ein anderes damit in Verbindung stehendes Thema ist das der Utopie. Die Personen verfolgen utopische Vorstellungen; wenn sie diese nicht im sozialen Bereich erreichen können, so realisieren sie sie im individuellen Bereich; wenn sie die Welt nicht verändern können, ändern sie zumindest ihre eigene Realität, wie dies bei Krinsky oder Maria Elena der Fall ist. Im Unterschied dazu handeln die Personen in Relevo bedingungslos entsprechend ihrer sozialen Identitäten und Ideologien.

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In diesen Werken wird die realistische Referenzialität gebrochen: der Raum, die Zeit und die Logik wechseln sich ab. Die Kausalität ist implizit, vom Subjektiven abhängig. Die Zeit wird verändert, es kommen Antizipationen, Retrospektiven, Ellipsen, Wiederholungen und Rückblenden vor. Der Raum ist theatralisch, die Personen gehen nicht von der Bühne, obwohl sie in manchen Szenen nicht eingreifen, wie es in Krinsky und Knepp der Fall ist. Es kommt zum Theater im Theater. Manchmal sind die Schauspieler Schauspieler und wenden sich direkt an das Publikum, dann wieder sind sie Personen und erklären oder paraphrasieren Teile des Stückes. In vielen Fällen verändern sie ihre Rollen, spielen gleichzeitig mehrere Rollen (Relevo, Un pais, Cartas, El baile). Es gibt auch Verdoppelungen, eine Rolle kann von mehreren Schauspielern übernommen werden. Es kommen Lieder, Plakate, Marionnetten vor. Diese aus dem Brecht'schen Theater stammenden Elemente wurden von Fernando de Toro (1987) untersucht. Obwohl nicht in allen Werken der Brecht'sche Intertext vorherrscht, wird die realistische Referenzialität immer unterbrochen, manchmal auch mit Techniken des absurden Theaters. Die Parodie und der Humor sind die vorherrschenden Mittel, um das Absurde in den Diskursen und den sozialen Rollen sichtbar zu machen. Es werden absurde Verfahren angewandt, wie banale und arbiträre Aussagen, Wortspiele, Dialoge von zusammengesetzten Phrasen ohne logische Verbindung, Parodistik der geäußerten Sätze, des gesunden Menschenverstandes, der sozialen Rollen und Diskurse (Poniendo, Cartas). Interessant daran ist, dass sich das Absurde auf den Menschenverstand und auf die typischen Personen (den Schwager und die Tante in Poniendo) bezieht, jedoch weder auf die Geschichte, die erzählt wird, noch auf die Sprache an sich. Die Texte arbeiten auch mit Mehrdeutigkeit, die die Personen in Schrecken versetzt, sie misstrauisch und paranoid macht und den Leser/Zuschauer verwirrt (zum Beispiel Knepp, bei dem nie klar wird, wer er ist oder was er sucht, oder der Umstand, dass man nicht mit Sicherheit weiß, ob der Mann von Maria Elena noch lebt oder tot ist). Es handelt sich um enigmatische und mehrdeutige Elemente, die weder absurd noch symbolisch sind und von denen der Leser/ Zuschauer nicht alles weiß und auch keinen bestimmten Sinn in ihnen erkennen kann. Häufig wird der Zuschauer mit einbezogen, entweder weil er Adressat des Werkes (El baile, Cartas, Krinsky) oder Komplize ist, so als ob er eine weitere Person im Stück wäre (Poniendo). Der Zuschauer ist niemals ein zu erziehendes Wesen, sondern eher ein Komplize. Der Realismus dieser Werke verbindet sich mit den theatralischen Vorgehensweisen so, dass er eine teilweise paradoxe Kombination von

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ironischer und emotionaler Identifikation bewirkt. Es kommt zu einer Spannung zwischen der Suche nach Identifikation mittels der Entfremdung und der emotionalen Funktion des Diskurses der Personen, welcher Identifikationsbrücken zu den Empfängern schlägt; eine Spannung, welche vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass diese Werke einer Vermischung der Poetiken des reflexiven Realismus und der Neoavantgarde zuzuschreiben sind, welche entrealisierende Elemente verwendet, aber weder mit dem Referenzpunkt noch mit der Identifikation des Publikums bricht, sondern diese Elemente in den Dienst einer realistischen These stellt, die im Text nicht durchscheint. Die Geschichte wird von der Gegenwart aus erzählt, es wird eine subjektive Lektüre versucht, bei der sie nicht als Ort der Wahrheit gesehen wird, sondern "Geschichte durch Vermittlung der konkreten Menschen betrachtet wird" (Cartas). Sie erscheint in Form von Resten, mittels Personen und Diskursen, nicht einheitlich, nicht in einer einzigen Version. Sie ist die Spur, die die Personen hinterlassen: die Geschichte der Bürgerkriege in Argentinien im 19. Jahrhundert zwischen Föderalisten und Unitariern (Cartas, El baile), die des Antisemitismus (Krinsky), die der Verschwundenen (Knepp), die der sozialen Diskriminierung (Poniendo). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Goldenberg, Jorge. 1975. Relevo 1923. La Habana: Casa de las Américas. - . 1978. Fifty-fifty. In: Tramoya 12,91-128. —. 1979. Rajemos, marqués, rajemos. In: Emilio Carbalido (Hg.). El arca de Noè. Antologia de teatro para niños. México: Mexicanos Unidos, 15-54. —. 1984. Krinsky. Buenos Aires: Arte Gaglianone. —. 1985. Poniendo la casa en orden. En: Hispamérica 42, XIV, 99-121. —. 1986. Krinsky. Buenos Aires: Teatro Municipal General San Martín. —. 1987. Cartas a Moreno (Variaciones sobre una carta de María Guadalupe Cuenca). Buenos Aires: Teatro Municipal General San Martín. —. 1992. Knepp. In: Moisés Pérez Coterillo (Hg.). Teatro argentino contemporáneo. Antología. Madrid: Fondo de Cultura Económica, 959-1011. Dt. Knepp. Übers, von Andrej Jendrusch. In: Theaterstücke aus Argentinien (1993), 227-261. Studie Toro, Fernando de. 1987. Brecht en el teatro hispanoamericano contemporáneo. Buenos Aires: Galerna.

Susana Torres Molina ("'1956) Cecilia Hopkins Ebenso wie andere argentinische Frauen, die eine gewisse Anerkennung in der Welt des Theaters erreicht haben, hat auch Susana Torres Molina die schwierige Aufgabe auf sich genommen, die Grenzen der verschiedenen Bereiche des Theaterschaffens zu überschreiten. Sie begann ihre Karriere als Schauspielerin, wurde Autorin und schließlich Regisseurin von Theaterstücken, wobei sie sich in vielen Fällen sowohl ihre eigenen Projekte als auch ihren eigenen Arbeitsraum schuf.1 Zu dem Zeitpunkt, als sie eine der Phasen ihrer Ausbildung als Schauspielerin beendete, begann Torres Molina zu schreiben und war dabei von der Dramaturgie des Absurden beeinflusst; die Lektüre von Pinter, Adamoy, Gambaro und Pavlovsky hatte besondere Bedeutung für ihren ersten Text, Extraño juguete (Seltsames Spielzeug), der 1977 in Buenos Aires uraufgeführt wurde. Dieses Stück gehört der zweiten Phase des reflexiven Realismus an, dessen Besonderheit darin liegt, mittels theatralischer Verfahren eine realistische These beweisen zu wollen (vgl. Pellettieri 1990,137), wobei es manche Übereinstimmungen mit den dramatischen Texten gibt, die sich auf die Entstehung mancher krankhafter Verhaltensformen konzentriert} Das Stück wurde in Spanien, den USA, Brasilien und Uruguay aufgeführt. Perla und Angélica, zwei alleinstehende Frauen mittleren Alters befinden sich im Esszimmer ihres Hauses in einer Routine verstümmelter und angedeuteter Gespräche, die die ihr Leben beherrschende Langeweile aufdecken. Angélica ist von Natur aus naiv und scheint sich des Zustandes der Frustration und Isolation, in dem sich beide befinden, weniger bewusst als Perla, ihre rauhe und beherrschende Schwester. Unvorhergesehenerweise erscheint Herr Maggi, hausierender Verkäufer von Weißwäsche, der ins Haus gebeten wird. Von da an entsteht eine eigenartige Beziehung zwischen den dreien: In manchen Momenten wird der Neu1

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Nach ihrem Debut als Autorin mit Extraño juguete übernahm sie die Regie ihrer Theaterstücke. Außerdem hatte sie von 1986 bis 1990 mit El Hangar ihren eigenen Theatersaal. Die bedeutendsten Repräsentanten dieser dramatischen Texte waren Dramatiker, die gleichzeitig in der Psychiatrie arbeiteten, wie Eduardo Pavlovsky, Eugenio Griffero und Pacho O'Donell.

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ankömmling feindlich behandelt, da er die häusliche Ruhe der beiden Schwestern gestört hat, an anderen Stellen monopolisiert Herr Maggi die Aufmerksamkeit der beiden, indem er Anekdoten der Außenwelt in das geschlossene Umfeld der alten Jungfern einbringt. Je nach Situation ändert sich das Spiel der Verbindungen, die zwischen den Personen entstehen: Die vorherrschende und zentrale Rolle wird abwechselnd vom Hausierer und vom Schwestern-Duo eingenommen. Erst gegen Ende, als Herr Maggi wirklich gewalttätig geworden ist und kurz davor steht, gegen Perla und Angélica sadistisch zu werden, kommt es zu einem tiefen und unerwarteten Bruch im Verlauf der Handlung. Die Realität stellt sich brutal ein, und der Zuschauer erkennt, dass alles, was er bisher erfahren hat, nicht mehr als Fiktion war, ein von den zwei Frauen der oberen Gesellschaft angezetteltes Spiel, die einen Mann unter Vertrag genommen haben, damit er mit ihnen eine Folge von Situationen durchspiele, welche sie vorher einstudiert hatten. Das gesamte Werk spielt im selben Raum; eine Umgebung, die den Zuschauern anfangs real erscheint, später aber seine fiktionale Kategorie erkennen lässt. Nach der frustrierten Darstellung wird die Szene parallel dazu enthüllt, wie die Personen ihre Kleider wechseln und ihre wahre Identität zeigen. Bis zur Auflösung kann man in dem Werk die eindeutige Absicht erkennen, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen; nach dem Schnitt im Spiel der Darstellung unterscheiden die Schwestern genauestens zwischen der Zeit der vorgetäuschten Handlungen und der reellen Zeit; Angélica schmiedet Pläne für das kommende Wochenende, während Perla das Finanzielle regelt, indem sie ihrem "Angestellten" das entsprechende Honorar gibt. Andererseits wollen die drei ein neues Textbuch lesen, das in den nächsten Tagen "auf die Bühne gebracht" werden soll. Für Ricardo Monti stellt das Werk "zwei kaum glaubhafte alte Jungfern dar, die eine nicht glaubhafte Beziehimg mit einem kaum glaubhaften Hausierer beginnen" (Monti 1978). In der Tat, sobald die Beziehung zwischen den drei Personen beginnt, kommt es im Stück zu einer vollendeten theatralischen Entwicklung, wobei Mittel aus Poetiken verwendet werden, die im Gegensatz zum szenischen Realismus stehen. In dem Moment, wo Herr Maggi die Türschwelle des Universums der beiden Frauen überschreitet, beginnt die verbale und gestische Übertreibung der Personen sowie der Einsatz von absurdem und schwarzem Humor, bis sich nach der Unterbrechung der Darstellung die Konventionen des szenischen Realismus durchsetzen. Dann wird auch die Prämisse von Torres Molina klar: Die Willensschwäche der Bourgeoisie führt dazu, dass die untätigen Klassen ihre wirtschaftliche Macht für ihre eigene Unterhaltung benützen. Es ist klar, dass über diesen Hinweis hinaus implizite Reflexionen über das

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unterdrückte Leben der Frau, die Grenzen der Machtausübung und die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Lebensstil hinzukommen. Auch Ricardo Monti weist noch auf ein weiteres, im Stück vorkommendes Thema hin: Seiner Ansicht nach verkörpert Herr Maggi den Künstler, der seinen Einfallsreichtum dem sozialen Sektor verkauft, welcher in der Lage ist, ihn zu bezahlen (vgl. ibid.). 1981 präsentiert Susana Torres Molina ihr zweites Theaterstück, Y a otra cosa, mariposa (Nun zu etwas Anderem, Schmetterling). Das Stück ist so aufgebaut, dass fünf Situationen von vier Personen in verschiedenen Phasen ihres Lebens gespielt werden. Es will die machistische Gesellschaft mittels der Meinungen und des Benehmens einer Gruppe von Männern kritisieren, welche - auf ausdrücklichen Wunsch der Autorin - nur von Frauen gespielt werden sollen. Torres Molina vertritt eine eindeutig feministische These - "in jedem Alter vertreten die Männer ein unwürdiges und degradiertes Konzept der Frau" -, wenn sie zeigen will, dass alle Vorurteile und Gemeinplätze, die die Männer ins Spiel bringen, wenn sie sich auf die Frau beziehen, ein Produkt ihres Nichtwissens, ihrer Angst und Verwirrung sind.3

So sind das Gespräch im Kaffeehaus und der Junggesellenabschied zum Beispiel Rahmenbedingungen, in denen das gesamte Inventar von Klischees und Stereotypen des machistischen Denkens über Eifersucht, Untreue und Unzufriedenheit der Frau zum Vorschein kommt, das alles eingebettet in ein Klima der Farce und der Karikatur, in dem der Realismus mittels der verwendeten Sprache klar hervortritt. Erst gegen Ende des Stückes tritt die Tragikomik gegenüber der Groteske zurück. Espiral de fuego (Feuerspirale) von 1985 ist ein leichter zugängliches Werk, in dem die Autorin eine umfassendere und tiefgreifendere Analyse des männlichen Universums versucht. Es handelt sich um den Monolog eines jungen Mannes, der in seinen Phantasien und Obsessionen in einem bruchstückhaften Diskurs verschiedene Augenblicke seiner persönlichen Geschichte aufgreift. Eine Europareise brachte sie in Kontakt mit dem Theater von Tadeusz Kantor, Eugenio Barba und Kazuo Ohno. In Folge davon betonte sie danach das visuelle Element und ließ gleichzeitig die Umgangssprache fallen. Amantissima (Geliebteste) von 1988 lässt die Veränderung der Autorin und Regisseurin erkennen. So versucht die Atmosphäre des Stückes ein

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Worte der Autorin in einem Interview, das zur Vorbereitung dieses Artikels durchgeführt wurde.

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Traumklima zu schaffen, in dem jede Anspielung auf das tägliche Leben weggefallen ist. Die Bewegungen der sechs Schauspieler haben einen rituellen, fast tänzerischen Charakter. Sowohl die konstruierten Bilder als auch die seltenen Texte, vom Flüstern bis zum Schrei, spielen auf die weibliche Welt an, insbesondere auf die Verbindung Mutter-Tochter, wobei Tüll, Dornenkronen, Masken hinter Masken sowie Augen- und Mundbinden verwendet werden. In den letzten Jahren ist Susana Torres Molina dem lyrischen Register verhaftet geblieben. Dieser Etappe gehören Unio Mystica (1991), Canto de sirenas (Lied der Sirenen, 1992) und Manifiesto (Manifest, 1993) an, poetische Texte, in denen die inneren Dialoge der Personen in vollkommener Freiheit fließen und weit entfernt von jeder räumlich-zeitlichen Anordnung sind. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Torres Molina, Susana. 1978. Extraño juguete. Buenos Aires: Búsqueda. —. 1987. Ya otra cosa, mariposa. Buenos Aires: Búsqueda. Studien Monti, Ricardo. 1978. Prolog zu Extraño juguete. Buenos Aires: Búsqueda. Pellettieri, Osvaldo. 1990. Cien años de teatro argentino. Buenos Aires: Galerna.

Patricio Esteve (1933-1995) Martin Rodriguez Die dramatische Produktion von Patricio Esteve1 ist durch eine Mischung von heterogenen bis gegensätzlichen Elementen im ästhetischen wie auch im ideologischen Bereich gekennzeichnet. Diese Elemente kommen von zwei verschiedenen Richtungen: Die eine ist volkstümlich und lokal, die andere "romanhaft" und universell;2 mittels der Kreuzung der beiden versucht Esteve, Literatur und Leben zu verbinden, und nimmt damit das Projekt der historischen Avantgarde wieder auf. Charakteristisch für diese Mischung ist sein Werk Palabras calientes, in dem Rabelais und Villon neben Ausdrücken aus dem lunfardo und volkstümlichen Kunstformen, wie dem Tango vorkommen. Hier potenziert sich der "Widerstand der Texte, sich den Kanons der 'gebildeten Literatur' unterzuordnen" (Pellettieri 1992,91). Esteve will die großen Werke der Weltliteratur übersetzen und sie an die Bedürfnisse des Publikums anpassen. Dies kann man an seinem "griechischen Zyklus"3 sehen, in dem sich der Intertext der klassischen Tragödie mit der historisch-kulturellen Realität des Landes vermischt. Die "Übersetzung" nimmt in seiner Textualität einen zentralen Raum ein und zeigt sich manchmal auf formaler Ebene (in Palabras calientes und im "griechischen Zyklus"), dann wieder auf thematischer Ebene (in ¿Probamos otra vez? und 1

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Die bedeutendsten Werke von Patricio Esteve sind: ¿Probamos otra vez? (Probieren wir es noch einmal?, 1970), La gratt histeria national (Die große nationale Hysterie, 1972; Erster nationaler Preis), Aimez-vous La Pampa (Lieben Sie die Pampa, 1975), Vivir sin domingo (Ohne Sonntag leben, 1975) in Zusammenarbeit mit Carlos Pais, Palabras calientes (Heiße Worte, 1976), Casamiento entre vivos y muertos (Hochzeit zwischen Lebenden und Toten, 1977), El diablo en la cortada (Der Teufel auf der Schneide, 1979) als Adaptation von zwei sainetes von Saldias und Pacheco, For Export (1981), Toda luna es atroz (Jeder Mond ist grausam, 1983) mit Elementen der Commedia dell'Arte, Lisistrata, Garibaldi puma (in Zusammenarbeit mit Julio Tahier) und El crimen es un asunto defamilia (Das Verbrechen ist eine Familienangelegenheit, 1993). "Ich kann mir jetzt mein Leben ohne Rampenlicht nicht vorstellen, und meinen ganzen romanhaften und vitalen Reichtum kippe ich in diese besondere und ewige Gattung" (Esteve 1983,35). Zum Beispiel kommt in El crimen es un asunto defamilia ein degradierter Orest vor, die Handlung spielt im aktuellen Argentinien und ist vermischt mit Elementen des Zirkus und der Music hall und Brecht'schen Intertexten.

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prinzipiell auch in For Export, das für das Teatro Abierto '81 geschrieben wurde). In diesem Werk soll die Intoleranz mit den für die Neoavantgarde typischen Techniken denunziert werden. Das Stück zeigt Personen aus verschiedenen kulturellen Gruppen, die eine gemeinsame Ebene der Verständigung suchen. Die Suche scheitert, womit der Weg frei wird für Gewalt und Barbarie, die für die Zeit der Uraufführung so typisch waren. Eng damit verbunden ist ein Kosmopolitismus, den man zum Beispiel in Por la vuelta erkennen kann, wo der männliche Protagonist sich selbst als "Mann von Welt" ausgibt, um eine alte Liebe wieder zu erobern. Durch den Einsatz von Techniken des reflexiven Realismus versucht der Text, das "Eigene" zu finden, das sich paradoxerweise letztendlich im "Fremden" befindet. In gewisser Weise fordert das Werk uns auf, die Masken abzulegen und unsere plurale Identität zuzugeben, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese Einstellung impliziert. Ein weiteres zentrales Interesse im Werk von Esteve besteht in der Auseinandersetzung mit der Geschichte, die ihren Höhepunkt in La gran histeria nacional erreicht. Wie Monti in Historia tendenciosa de la clase media argentina (1971), Operto in Ceremonia al pie del dbelisco (1971) und Adellach in Chau apa (1971) verwendet Esteve darin Verfahren des Expressionismus, die genaue Betrachtung von Buenos Aires und die Brecht'sche Intertextualität, um mittels der Parodie die Einschränkungen der offiziellen Geschichte zu zeigen und auf diese Weise die gegenwärtige Situation zu erklären (vgl. Pellettieri 1992, 90f.). ¿Probamos otra vez? wird in dem Moment uraufgeführt, in dem ein Austausch der Techniken des reflexiven Realismus mit denen der Neoavantgarde stattfindet (vgl. Pellettieri 1989,80).4 Dieses Werk beinhaltet neoavantgardistische Elemente, tut dies aber auf eine besondere, noch zu beschreibende Weise und mit dem Ziel, eine veränderte realistische These zu beweisen. Zur Zeit seiner Uraufführung befand sich Argentinien in einer schweren politischen und kulturellen Krise. Die aufeinanderfolgenden Eingriffe der politischen Macht in den intellektuellen Bereich, die ihren Höhepunkt in Aktionen wie der Schließung des Institutes Di Telia oder der Intervention in den Universitäten erreichte, hatte zu einer Vertrauenskrise zwischen den aufeinanderfolgenden Regierungen (z.T. Diktaturen) und weiten Teilen der Gesellschaft geführt. ¿Probamos otra vez? ist ein Echo dieser Krise, in dem uns wie bei Gambaro oder Pavlovsky eine entfremdete Welt 4

¿Probamos otra vez? wurde 1970 im Teatro de La Fäbula uraufgeführt, unter der Regie von Julio Tahier, mit Guillermo Renzi und Fanny Weskler in den Hauptrollen, im Rahmen des Schauspiels Absur2, das das erwähnte Stück mit Somos von Eduardo Pavlovsky und Alguien von Juan Carlos Herme verband.

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gezeigt wird, in der keine Kommunikation mehr möglich ist. Wie in vielen Texten der Neoavantgarde werden auch hier Elemente aus dem Expressionismus und der absurden Satire einbezogen, mittels derer der Autor ein distopisches Futur schafft, das uns den Kontext der Produktion in Erinnerung ruft. Auf der Handlungsebene ist Andrenio das Subjekt in ¿ Probamos otra vez?, sein Objekt ist Maria, mit der er sich vereinen muss, um die menschliche Art neu zu schaffen. Die "Stimmen", die Computer darstellen, nehmen anfangs eine hilfreiche Stellung ein, aber schließlich werden sie, ebenso wie Andrenio und Maria, zu Gegnern. Am Ende ist das Handlungsschema dem anderer Texte der Neoavantgarde ähnlich (wir nehmen als Modell El desatino von Griselda Gambaro, aber man kann es auch in anderen Werken dieser Gattung erkennen). In ihnen sind alle Handlungsträger Gegner, und das Subjekt scheitert immer beim Versuch, sein Ziel zu erreichen. Dennoch unterscheidet sich dieser Text von den anderen dadurch, dass das Subjekt handelt und dass sein Scheitern nicht eine Folge seines Nicht-Handelns, sondern eine Folge fehlgeschlagener Versuche ist. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass keiner der Versuche zum richtigen Zeitpunkt erfolgt: Damit soll die Fehlbarkeit der Technik und der wissenschaftlichen Fortschritte aufgezeigt werden. Auf der Ebene der Handlung zeigt der Text eine explizite Kausalität; eine Tatsache, die den Text von anderen der Neoavantgarde unterscheidet, in denen die dem satirischen Absurden eigene implizite Kausalität zu erkennen ist. Das Muster ist aristotelisch und weist wie andere neoavantgardistische Texte (zum Beispiel Somos von Pavlovsky) eine zirkuläre Struktur auf, wo die Auflösung die Personen zum Ausgangspunkt zurückführt. Der abschließende Blick (das "Heute ist Sonntag") zeigt uns eine erschütterte Welt ohne Ausweg. Das konstruktive Prinzip des Textes ist eine Mischung von parodierten Diskursen, die darauf abzielen, die These zu beweisen. Zum Beispiel präsentieren uns am Beginn des Stückes Stimmen im offein Gemisch von nicht kontextualisierten Diskursen, die wie in einem Geschäft vermischt sind, wo keine Kommunikation mehr möglich ist. Auf diese Weise versucht man, die Bedeutungslosigkeit der Zeichen in einer babylonischen und entfremdeten Welt aufzuzeigen. Wörter wie "Ordnung" und "Fortschritt" oder Aussagen wie "die Computer werden uns den Schritt in die Zukunft mit Vertrauen gehen lassen" werden aus einer ironischen Perspektive dargestellt und durch die bevorstehende Apokalypse negiert. ¿Probamos otra vez? zeigt archetypische Personen, eher menschliche Wesen als soziale Typen, in der Art des expressionistischen Theaters, was man bereits in der Auswahl der Namen (Andrenio und Maria) erkennen kann, welche mit Emblemen der Männlichkeit und Weiblichkeit arbeiten.

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Wie im Expressionismus sind die Personen dieses Werks isoliert in einer Welt ohne Ausweg. Von dieser Bewegung übernimmt der Text auch die Verdoppelungen (Maria ist das umgekehrte Bild von Andrenio, ein Umstand, der noch durch die Präsenz einer Trennwand und durch die linguistische Inversion, deren Opfer sie sind, verstärkt wird). Wenn die Stimmen auch keine direkten Verdoppelungen der Personen sind, so sind sie es doch transitiv, da der Mensch die Maschinen nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Im verbalen Aspekt übermittelt uns der wichtigste dramatische Sprecher eine dunkle und labyrinthische Welt, die an einem Ende durch eine Trennwand geteilt ist, welche die Vereinigung der Personen verhindert. In gewisser Weise hat diese Typographie expressionistischer Art auch eine allegorische Funktion: Das Labyrinth stellt das herrschende Chaos dar, und die Trennwand ist eine Metapher für die Inkommunikation. Im Text werden Wortspiele wie das Palindrom verwandt, das von den Personen dazu eingesetzt wird, das Problem der Inversion, die sie trennt, zu lösen. Das Palindrom bringt uns in den Bereich der Utopie, da es sich um eine irreversible Sprache handelt, die die Sprache des Paradieses vor der Erbsünde wieder herstellen will. Aber das Paradies ist nur eine Fata Morgana, und die Sprache, mittels derer sich die Personen retten wollten, führt sie zum Untergang. Die "Stimmen" verwenden Lexeme aus dem wissenschaftlichen Diskurs, die unverbunden verwandt werden und das experimentelle Klima des Stückes verstärken. Es ist kein Zufall, dass im Text Jarry5 zitiert wird, des Vaters der Pataphysik, einer "Wissenschaft", mit der er versuchte zu beweisen, dass es mit logischem Denken nicht möglich ist, die Realität zu verstehen. Es kommen auch Ausdrücke aus dem Ideolekt von Buenos Aires vor und Sätze, die auf die Konflikte der Zeit anspielen, wie "Die Pfarrer sind schuld" oder "Die Bolschewisten sind schuld", oder auf den Pariser Mai von 1968 Bezug nehmen mit Sätzen wie "Wir waren realistisch, wir verlangten das Unmögliche und sonst nichts". Im Text werden Safo, Catulo und Ionesco zitiert, was die Absicht des Autors erkennen lässt, die "hohe" Kultur mit der Volkskultur und der Sprache von Buenos Aires zu verbinden. Große Bedeutung haben weiterhin biblische Intertexte. Der Topos der Apokalypse, der Name der Frau, die sich selbst "diejenige, die euch retten muss" nennt, das von Andrenio ausgesprochene "fiat lux", das "es Adam", das dem endgültigen Scheitern 5

Nach Sam Lundwall gibt es vier Quellen für die aktuelle Science Fiction: Jules Verne, H. G. Wells, George Griffith und Alfred Jarry. Das Werk von Jarry wurde von der Editorial Minotauro in Buenos Aires herausgegeben.

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vorangeht, versuchen, die latente Göttlichkeit im menschlichen Wesen zu zeigen, dessen Wort magisch ist und Realität schaffen oder zerstören kann. Die Verwendung von biblischen Intertexten ist typisch für den Expressionismus, wo sie in ähnlichen Funktionen vorkommen. Auf semantischer Ebene können wir im Text von Esteve eine Reihe von Elementen der Neoavantgarde erkennen, aber im Unterschied zu den kanonischen Texten der ersten Phase dieser Untergattung, in denen die Wahrnehmung über der Reflexion vorherrscht (vgl. Pellettieri 1989, 79) und in einer dunklen Metapher das Signifiant vor dem Signifié kommt, wird hier darauf geachtet, dass jedes Element des Textes zur Bildung einer transparenten Metapher beiträgt, in der Darstellung einer These, die in gewisser Weise sein folgendes Werk ankündigt. Mittels der erwähnten expressionistischen und absurdistischen Techniken soll der destruktive und entfremdende Charakter mancher Phänomene des technischen Fortschritts denunziert werden, indem - wie in vielen zu der Zeit zirkulierenden Texten der Science Fiction - ein distopisches Futur geschaffen wird. Die Kritik an der Technik kommt am Rande auch in Texten wie El desatino oder Robot von Eduardo Pavlovsky vor, aber während diese in einer mythischen Zeit situiert sind, spielt der Text von Esteve in einer nahen Zukunft. Obgleich seine Verbindungen mit der Neoavantgarde evident sind, müssen wir daran denken, dass die Science Fiction ab den 60er Jahren beginnt, Elemente des Surrealismus, des Expressionismus und des Absurden aufzunehmen (vgl. Merril 1967,145) und, mit den Worten von Ballard, den inneren mit dem äußeren Raum zu verschmelzen (vgl. ibid.). Der Text entspricht der folgenden Definition Umberto Ecos dieser Gattung: Wir sprechen von Science Fiction als autonomer Gattung, wenn die den Tatsachen widersprechende Spekulation über eine strukturell mögliche Welt solcherart verfährt, dass sie ausgehend von einigen Tendenzen der wirklichen Welt die eigene Möglichkeit einer zukünftigen Welt extrapoliert. Das heißt, dass Science Fiction immer Formen einer Antizipation annimmt, und die Antizipation immer Formen einer Vermutung annimmt, die ausgehend von den Tendenzen der realen Welt gemacht werden (Eco 1988,189).

Dieser Text zeigt eine universalistische These auf, aber man kann ihn auch als Metapher der Ereignisse im Land lesen. Die Sprache enthält Fragmente, die die Konflikte der Zeit widerspiegeln; dies und die zyklische und pessimistische Darstellung sowie das Scheitern des Subjekts lassen eine ortsbezogene Lektüre zu. In La gran histeria nacional, seinem zweiten Werk, intensivieren sich die Beziehungen zwischen dem Text und der nationalen Realität. ¿Probamos otra vez? beinhaltet Elemente des Expressionismus und des satirischen

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Absurden, die es mit der Neoavantgarde verbinden; aber der Umstand, dass diese zur Vermittlung einer transparenten Metapher verwendet werden, seine explizite strenge Kausalität und die Präsenz von allegorischen Elementen, die den Symbolismus der Texte von Gambaro oder Pavlovsky ersetzen, nähern es dem reflexiven Realismus an. Man kann l Probamos otra vez 1 als Übergangstext sehen, der die Werke der Neoavantgarde mit einer realistischen These ankündigt, wie zum Beispiel Dar la vuelta (1972) von Griselda Gambaro (vgl. Pellettieri 1989,85). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Esteve, Patricio. 1981. For export. Teatro Abierto 81. Buenos Aires: Teatro Abierto, 63-76. —. 1983. ¿Probamos otra vez? In: Teatro breve contemporáneo argentino II. Buenos Aires: Colihue, 37-55. —. 1992a. La gran histeria nacional / Palabras calientes. Buenos Aires: Plus Ultra. - . 1992b. Por la vuelta. In: Art teatral (Valencia) 4,17-21. —. El crimen es un asunto de familia. Typoskript. Studien Eco, Umberto. 1988. Los mundos de la ciencia ficción. In: id. De los espejos y otros ensayos. Buenos Aires: Lumen, 185-192. Halac, Ricardo. 1989. La del '60, esa sí que fue una década. In: Pellettieri 1989a, 47-58. Jackson, Rosemary. 1986. Fantasy. Literatura y subversion. Buenos Aires: Catálogos. Lundwall, Sam. 1978. Science Fiction. An illustrateci history. New York: Grosset & Dunlap. Matamoro, Blas. 1989. La década prodigiosa. In: Pellettieri 1989a, 35^19. Merril, Judith. 1967. La escena inglesa. In: Minotauro 9,142-150. Oteiza, Enrique. 1989. El Di Telia y la vanguardia artística de la década del '60. In: Pellettieri 1989a, 59-70. Pellettieri, Osvaldo. 1989a. Teatro argentino de los '60. Buenos Aires: Galerna. —. 1989b. El teatro argentino del '60 y su proyección en la actualidad. In: Pellettieri 1989a, 69-82. —. 1992. Modelo de periodización del teatro argentino. In: id. Teatro y teatristas. Buenos Aires: Galerna, 69-82. —. 1992. Patricio Esteve: Una estética de la identificación. In: Esteve 1992a, 89-92.

Die achtziger Jahre

Mauricio Kartún (*1946) Lidia Martínez Landa Mauricio Kartún gehört zu einer Generation, die am Ende der 60er Jahre in der Welt des argentinischen Theaters erscheint. Er beginnt mit einigen kurzen Werken im Stil des engagierten Theaters. Mit Pericones1 (1987) und El Partener (Der Partner, 1988) entfernt er sich vom Realismus der früheren Jahre und sucht nach neuen Formen, die mit dem argentinischen Theater des Jahrhundertendes verbunden sind, indem er sie neu semantisiert und die Grundlage für eine neue Theatralität schafft (vgl. Pellettieri 1989,1990, 1994). Kartún bringt 1973 Civilización... ¿o barbarie? (Zivilisation oder Barbarei?)2 auf die Bühne; 1976 Gente muy así (Solche Leute), ein humoristisches Schauspiel und 1978 El hambre da para todo (Hunger gilt für alles). Aber erst Chau, Misterix, 1980 uraufgeführt, machte ihn als Autor bekannt. Die Personen in Chau, Misterix leben gegen Ende der 50er Jahre und verwenden neue Diskurse, die wieder verschwinden, so wie es in der Werbung üblich ist. Diese sind wiederholt mit den schon existierenden vermischt: das Radiotheater, die Comics, die Abenteuerromane, der Photoroman. Das illustrierte Bild mit einem kurzen Text und einem direkten und schematischen Argument - mit viel Handlung, erkennbaren Helden und Antihelden - erlauben ihm, uns von rettenden Phantasien zu erzählen, von unerfüllten Wünschen, vom Schmerz, den wir in der Hoffnung auf etwas Besseres erleiden, von der Illusion, die notwendige Stärke zu erreichen, um sich zu befreien. In einer schnellen Aufeinanderfolge von Sequenzen alternieren Phantasie und Realität und decken mittels dieses Spiels die verschiedenen Beziehungen und Situationen von Macht und ihren Konflikten auf, obwohl dieses Stück nach Meinung des Autors "ein der Ideen beraubtes Stück ist, weil es dasjenige war, mit dem ich den Prozess, mich den Bildern vor den Ideen zu nähern, erfüllte" (Roffo 1987).

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Pericón: aus der Kolonialzeit stammender argentinischer Nationaltanz, der im 19. Jahrhundert sehr populär war. (Anm. d. Ü.) Der Titel bezieht sich auf ein Werk des argentinischen Schriftstellers und Politikers Domingo Faustino Sarmiento von 1845, dem für das kulturelle Selbstverständnis der Argentinier zentrale Bedeutung zukommt. (Anm. d. Ü.)

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Im Zyklus des Teatro Abierto '82 wird La casita de los viejos (Das Häuschen der Alten) uraufgeführt, und innerhalb des Teatro Abierto '83 Cumbia, Morena, Cumbia, das den Premio ARGENTORES erhielt. Beide Stücke sind kurz und stehen im Kontext des Protests gegen die Militärdiktatur. La casita de los viejos nimmt zwar nicht explizit Bezug auf die konkrete politische Situation, lässt aber das Thema in den komplizierten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Autoritarismus und Dependenz, Einsperren, Folter und Bestrafung durchscheinen. Im Fall von Cumbia, Morena, Cumbia spiegelt die Geschichte der zwei befreundeten Endvierziger mit ihren sinnlosen Hoffnungen, ihrem Scheitern, ihren Frustrationen und der Anwesenheit des Todes ebenso die Situation des Landes wider. Beide Stücke weisen somit gewisse Gemeinsamkeiten mit Chau, Misterix auf. In allen drei Stücken kommt es zu einer Annäherung an das Volkstümliche mittels der räumlichen Anordnung, die uns in den Vorort, mehr noch, in seine Seitengassen führt. Die Personen sind ebenso charakteristisch dafür wie ihre Lebensformen. Aber interessanter daran ist, dass sich diese Personen im Bereich der Affekte bewegen und Bilder der Kindheit heraufbeschwören. Es gibt eine Suche nach Identität, die sich entweder auf individuelle Weise zeigt, wie es in Chau, Misterix der Fall ist, oder auf historische, wie in Cumbia, Morena, Cumbia und die auf besondere Weise durch den Kontext, in dem sie erscheint, gekennzeichnet ist (das Kommen der Demokratie, die Reflexion über die Diktatur). Andererseits weisen ihre Konflikte, ihr Scheitern und ihre endgültige Verzweiflung den Zuschauer auf die Ereignisse hin, die er täglich erlebt, auf ein Erkennen seiner eigenen sozialen und politischen Frustrationen, das heißt, auf einen klaren historischen Bezug. Aus diesem Grund wurden diese kurzen Texte zu Beginn der 80er Jahre semantisch mit dem reflexiven Realismus in Verbindung gebracht, vor allem durch die völlige Unterordnung der theatralischen Techniken zugunsten der These. Mit dem Beginn der Demokratie entfällt die Dringlichkeit, eine politische Botschaft auf der Bühne zu vermitteln, der Autor muss nicht mehr in Metaphern über die Realität sprechen, und der Weg wird frei für eine tiefere Suche nach der nationalen Identität, die sich in neuen ästhetischen Formen manifestieren sollte. Am 10. April 1987 wird Pericones im Saal Martín Coronado des Teatro General San Martin unter der Leitung von Jaime Kogan uraufgeführt, und am 13. September 1988 El Partener unter der Leitung von Omar Grasso im Teatro Lorange. In diesen Stücken erscheint die Utopie als zentraler Topos, da "die Utopie das Ziel ist, für das man lebt, aber mit dem Bewusstsein, dass in Wirklichkeit der Weg das Ziel ist" (Roffo 1987). Damit leiten beide Werke einen semantischen Wandel ein, der sich in den Adaptationen, die

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Kartün 1991 mit Sacco y Vanzetti und Salto al cielo (Sprung in die Luft) schafft, fortsetzen sollte. Im ersten Fall schreibt Kartün ein politisches Theater zu einem Zeitpunkt, in dem das Theater der Ideen entwertet ist. Kartün prangert in diesem Stück das Fehlen der Gerechtigkeit an, dem er eine utopische Vision gegenüberstellt. In Salto al cielo verwendet Kartün Die Vögel von Aristophanes als Urtext. Im Unterschied zur griechischen Komödie finden wir in diesem Werk keine Satire auf die täglichen Ereignisse oder auf bekannte Personen, sondern das komische Element ist vor allem in der Sprache vorhanden, mittels Täuschungen, Wiederholungen, Ausspracheproblemen und enttäuschter Erwartung. Der Großteil der Zeitungskritiker verstand nicht, dass sie sich vor einer klassischen aber unorthodoxen Vorstellung befanden (vgl. Pellettieri 1990), in der die für den Realismus charakteristischen Verfahren vorherrschen. Schließlich muss die Zusammenarbeit zwischen Kartün und Claudio Gallardou für den Text La comedia es finita (Die Komödie ist zu Ende) erwähnt werden, der von der Gruppe La Banda de la Risa (Die Band des Lachens) aufgeführt wurde und in dem sie die Handlung von I Pagliacci übernommen haben, aber mit der Spielweise dieser Gruppe: Zirkuseffekte, Spiel der Jongleure, Clowns, Schattentheater, Saltos und Akrobatik. Pericones: ein Weg zu neuen Formen Teatro Abierto wurde 1986 zum letzten Mal wiederholt, obwohl sein Einfluss noch einige Jahre andauerte. Mit dem Ende der Militärdiktatur 1983 verliert auf der Bühne die Thematik der Macht, ihre Missbräuche und ihre verschiedenen Auswirkungen auf die Gesellschaft, nicht an Bedeutung. Die vom sainete und dem Grotesken, vom Absurden und dem Expressionismus übernommenen theatralischen Verfahren erhalten neue Funktionen. Die Realität wird zur Metapher, die für ein Publikum, das denselben Bezugspunkt hat, transparent ist. Das Stück spielt 1889 an drei nationalen Feiertagen auf einem Kühlschiff, das der Kapitän Laffourcade nach Europa bringen soll. Die Besatzimg und die Passagiere repräsentieren verschiedene Gruppen der argentinischen Bevölkerung. Die Handlung zeigt die historischen Pendelbewegungen und die sozialen Beziehungen auf, die Argentinien während der Militärdiktatur erlebt hat. Während das Volk - Sorete, Gabino, die Indianer, der Heizer - für die Befreiimg und das Erreichen ihrer wahren Identität kämpfen, verhindern die Machtinhaber ihr Handeln. Die Person des Kapitäns Laffourcade ist eine deutliche Anspielung an die Vertreter des Militärs und der Politik: Um die Verwirklichung der patriotischen Handlungen bemüht, hat er keine Zweifel an seinem Tun, wenn er in einer

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politischen Rede den ausländischen Interessen dienlich ist. Die Professoren - die Intellektuellen - verbinden sich aufgrund ihrer europäischen Mentalität und trotz unterschiedlicher Interessen mit den Inhabern der Macht; ebenso wie diese fühlen sie sich dem Peronismus verbunden und verachten das Volk. Degenaro und Laureana repräsentieren die Bourgeoisie, die sich von persönlichen Interessen leiten lässt und nur darauf bedacht ist, die eigene Situation zu verbessern. Moralische Skrupel und ideologische Probleme sind ihr fremd, und so setzt sie den Machtinhabern keinen Widerstand entgegen. Trotz allem bleibt ein gewisses Mitgefühl mit der Unterschicht. Diese Diversität an Personen, welche die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten verkörpern, erlauben Kartün eine Kritik an den sozialen Rollen sowie an ihren Werten. Aber im Unterschied zu anderen Texten, die eine realistische These mittels der Vermischung von Volkstheater (sainete und Zirkus) und Brecht'schem Theater zu beweisen suchten, wird diese in Pericones durch Vorgehensweisen der Farce aufgezeigt (vgl. Pellettieri 1994). Die Personen sind in ihrer Sprache, ihrem physischen Aspekt wie in ihrer Gestik, groteske Masken. Die komischen Situationen erreichen in Mimik und Wort obszönen Charakter, wobei die Bilder deformiert werden. Die Degradation wird verstärkt durch die Betonung des Körperlichen, der physiologischen Funktionen, des Hässlichen und des Schmutzigen. Schwarzer Humor und schneller Witz regen den Zuschauer zum Nachdenken über die Gesellschaft an. Kartün resemantisiert die Dialektik von Komischem und Pathetischem. Die Komik wird der Macht, das Pathos ihren Opfern zugeordnet. Die didaktische Intention von Kartün ist klar: Er will zeigen, wie sich die Bourgoisie mit der Macht verbündet in der Absicht, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, obwohl sie sich ihr damit ausliefert. Das Volk hingegen kämpft und opfert sich auf, um eine eigene Identität zu erlangen. El Partener. Resemantisierung des tragikomischen sainete Die Resemantisierung des Komischen und Pathetischen wird auch im folgenden Stück, El Partener, sichtbar. Die Handlung wird von einem Vater-Sohn Konflikt getragen. Nico, der Sohn, will seine Identität und seinen Platz in der Welt finden. Er strebt danach, von seinem Vater anerkannt und sein Partner zu werden. Jeder Versuch scheitert; dennoch verzweifelt er nicht und versucht es immer wieder von neuem. Die Handlung steuert auf einen tragischen Ausgang zu. In einer überraschenden Wende wird jedoch die Möglichkeit eines hoffnungsvollen Endes sichtbar: Nico beschließt, mit Nydia wegzugehen. Er hat sein Ziel geändert und sich

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damit die Möglichkeit einer neuen Zukunft geschaffen. Er hat aufgehört, sein eigener Gegner zu sein, um sich zum Subjekt zu verwandeln und sich als solches anzunehmen, womit er seine wahre Identität anerkennt. Pacheco seinerseits begegnet seinem Sohn aufgrund seines Egoismus und seines zweifelhaften Moralbegriffs mit Unverständnis. Nico wie auch Nydia werben vergebens um seine Zärtlichkeit, da er unfähig ist, zu lieben und seine Rolle anzunehmen. Aufgrund seiner sozialen Bedingung als Marginalisierter besteht seine Überlebensstrategie darin, allein zu bleiben, ohne sich um die anderen zu kümmern. Wie Pericones wird auch El Partener durch eine Ästhetik des Hässlichen charakterisiert. Die Kommunikation zwischen den Personen ist gestört, jeder Versuch wird karikaturesk unterbrochen. Mit den Theatertechniken vom Ende des 20. Jahrhunderts verfolgt Kartün sein altes Thema: die Suche nach der Identität und die Notwendigkeit der Utopie. Er bezieht dieses Thema auf die individuelle Problematik seiner Person wie auch auf die kollektive der Argentinier. Personen und Handlung lassen sich aber auch als Allegorie für Kartuns Konzeption des Theaters deuten. Pacheco hat sein Ansehen verloren, so wie es das Theater des Jahrhundertendes in der Modernität tat. Das unabhängige Theater schwörte dem sainete ab und ließ es in Vergessenheit geraten. Nico will nicht dasselbe tun wie sein Vater, er sucht neue Formen, um das Publikum zu erobern und es zu vergrößern; er ist der Meinimg - vielleicht indem er die Modernität parodiert -, dass sich die Kunst verändern muss. Es ist jedoch signifikativ, dass er in der Stunde, in der er seine wahre Identität erkennt, sich der von seinem Vater verwandten Mittel bedient, seines Ponchos, des schon bekannten Tanzes, obwohl nun mit Nydia, um seine neue Aktivität zu beginnen. Mag sein, dass Kartün damit andeuten will, dass die Resemantisierung der Modelle vom Ende des 20. Jahrhunderts eine Form darstellt, die Tradition des argentinischen Theaters fortzuführen und damit seine Identität zu bewahren (vgl. Pellettieri 1990,1994). Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Kartún, Mauricio. 1993. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. Studien Cincinnati, Mario. 1990. Viejos modelos para una nueva identidad; resemantización de lo finisecular en el sistema emergente. In: Cuadernos GETEA, 1. Giustachini, Ana Ruth. 1993. Con Mauricio Kartún. In: Primer Acto, 248. Mogliani, Laura. 1992. Salto alríelo-,el desarrollo de una utopia. In: Cuadernos GETEA, 2. Pellettieri, Osvaldo. 1989. El Partener, la tragicomedia de la impostura y el de samparo. In: Serie Teatro Argentino. Santa Fe: Universidad Nacional del Litoral. —. 1990. El teatro espectacular de 'El Partener' de Mauricio Kartún. In: id. Cien años de teatro argentino. Del Moreira a Teatro Abierto. Buenos Aires: Galerna. —. 1991. La puesta en escena argentina de los '80: realismo, estilización y parodia. In: Latin American Theatre Review 24/2. —. 1994. Mauricio Kartún: entre el realismo y el neosainete. In: id. Teatro Argentino Contemporáneo (1980-1990). Crisis, transición y cambio. Buenos Aires: Galerna. Roffo, Analía. 1987. La utopía de organizar el caos. In: Teatro, 29.

Eduardo Rovner (*1942) Mirta Arlt Sohn:

[...] Dich beschäftigt die Welt... Gut, ich tue, was ich kann, ich kümmere mich um euch... Derjenige, der die Heldenbilder bevorzugt, soll er doch.

Eduardo Rovner: Lejana Herrn rma

In diesen Versen aus Lejana tierra mia kann man eine Synthese der philosophischen Haltung im Theaterdiskurs von Eduardo Rovner erkennen. Als die mythischen Götter ein Kultobjekt waren, schrieben die Autoren ein Theater mit heroischen Personen als Protagonisten; diese verwandelten sich später in neo-heroische und schließlich in anti-heroische Personen. Am Ende des 20. Jahrhunderts schreiben die Autoren ohne heroische Modelle und ohne eine heroische Ästhetik. Dies ist nicht neu. Schon Autoren wie Cervantes, Denker wie Pascal, Historiker wie Carlyle, Wissenschaftler wie Darwin, trugen ihren Teil dazu bei, sei es mit dem Roman, der Reflexion, dem Essay oder der Forschung, den Glauben in den göttlichen Ursprung des Menschen zu schwächen, und erschwerten es uns, "in den herrlichen Prägungen des menschlichen Gesichts die Linien Gottes" zu erkennen. Dennoch ist das heroische Streben nicht verschwunden, obwohl es übergegangen ist auf literarische Formen, wie das Feuilleton, die Kurzgeschichte, die Biographie und vor allem den Kriminalroman, wo der Detektiv kein passiver Held mehr ist mit induktiven und deduktiven Fähigkeiten, wie Poirot, Filo Vance oder Sherlock Holmes; sondern er ist eine marginalisierte Person, für die das Leben ein persönlicher heroischer Kreuzzug ist, auf dem sie versucht, das Rätsel zu lösen, das ihr der Verbrecher stellt. Die philosophische Richtung fand in Camus den Entdecker des repräsentativen Helden unserer Zeit, wie er im Mythos von Sisyphus wiedergegeben wird, dieses symbolische Sein der conditio humana, ohne Ausweg, und dem Schicksal, das ihn erwartet, entgegenstrebend. Aus soziologischer Sicht waren der Dichter, der Romancier und der Dramatiker immer getreue Chronisten der Geschichte, in dieser Eigenschaft haben sie bis heute aus dem Geschlecht von Sisyphus überlebt. Aber

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im Bereich der Literatur ist seit dem Realismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts im Roman wie im Theater aus dem Helden ein Antiheld geworden, dessen Wurzeln auf die Pikareske zurückgehen. Von Ausnahmen abgesehen will der Antiheld weder Dichter wie Baudelaire sein, noch Bandit wie Rocambole, weder Kämpfer wie Napoleon, noch Reformator wie Luther, und auch kein Befreier wie San Martin. Der Antiheld des Romans und des Theaters gegen Ende des zweiten Jahrtausends der christlichen Ära hat, ähnlich wie der Protagonist in Grieche sucht Griechin von Dürrenmatt, bestenfalls ein privates Kabinett von Modellen, aber diese kommen vom Fernsehen, vom Sport und von der Finanzwelt. Andere wiederum suchen die Erfüllung ihrer Bedürfnisse im Privaten, im Bereich der Gefühle. Dieses Modell charakterisiert das Theater Rovners. Er hält Distanz zu den Autoren des Absurden wie auch zu denen des sozialistischen Realismus, unter denen Halac, Gorostiza, Rozenmacher und Cossa die bedeutendsten sind. In den 60er Jahren gehörte Rovner einer Gruppe von Dramatikern um Ricardo Monti an wie Mauricio Kartün, Jorge Huertas, Horacio del Prado, Bernardo Carey, deren methodisches Interesse sich auf das Bild als Keimzelle des Theatralischen konzentrierte: Es ist nicht so, dass ein Werk keine Ideen beinhalte, sagte Rovner, aber die Absicht besteht darin, ein Bild, wenn es erscheint, genauestens in seiner Entwicklung zu verfolgen, oft sehr langsam. Man muss in der Schöpfung diesen ersten Moment zulassen, der oft sehr chaotisch und völlig unbewusst ist, um dann in jedem Fall dialektisch mit einer Idee zu arbeiten (Pellettieri 1989, 200).

Diese Methode, vom Bild und nicht von einer intellektuellen Idee auszugehen, stellt den Versuch dar, sich der Auseinandersetzung zwischen Realismus und Absurdismus zu entziehen, der in den 60er Jahren stattfand, als Autoren wie Griselda Gambaro oder Eduardo Pavlovsky in neuen theatralistischen Formen mit Sinnproduktion übereinstimmten und Zeichencodices entwickelten, die sich mittels der visuellen, akustischen, gestischen oder einer ähnlichen Metapher semantisierten und dabei das Verbale auf eine komplementäre Ebene mit den anderen Codices zurückverwiesen. Diese Öffnung für neue Methoden der Schöpfung ist im Theater von Eduardo Rovner zu erkennen, der jedoch realistische Prinzipien beibehält. So bleibt sein erstes, 1976 uraufgeführtes Werk, Una pareja (Ein Paar; vgl. Pellettieri 1989, 22-25), innerhalb des kanonischen Realismus mit Spannungsmomenten in alltäglichen Situationen. Die Handlung ist auf der doppelten "persönlichen Begegnung" aufgebaut, mit einer zunehmenden

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Verkettung der thematischen und Handlungselemente; seine Wurzeln sind auf Who's afraid of Virginia Woolf?,1 sowie auf Los prójimos von Gorostiza und Se acabó la diversión von J. C. Gené zurückzuführen. In Wahrheit beabsichtigen Rovner und die Gruppe um Ricardo Monti nicht, mit dem vorherigen Theater zu brechen, sondern in Zukunft Haitangen einzunehmen, deren Diskurs sich durch die Verwendung und Eingliederung von für ihre ästhetischen Bedürfnisse geeigneten theatralischen Mitteln charakterisieren soll. Und mit dieser vorurteilsfreien Haltung manipulieren sie implizit und explizit die Aufnahmefähigkeit des Zuschauers. Dies geschieht in Una pareja, wo Rovner klare Referenzpersonen aus der Mittelschicht nimmt, die in ihrer Alltäglichkeit gefangen, ihren Partner geringschätzen, ohne zu erkennen, welchen Schaden sie sich gegenseitig zufügen. Das Ziel ist, beim Zuschauer eine kritische Identifikation mit der sozialen Realität zu erreichen. Rovner versucht, die repräsentativen Bilder seiner Umwelt und des antiheroischen intellektuellen Feldes einzufangen, die ihm dann als unterstützendes Gerüst seiner Fiktionalisierung dienen. Ihn interessieren die Inhalte ethischer Ordnung und die freie Verwendung formaler Diskurse. Er sagt dazu: Das Risiko besteht darin, dass die Illusion [seiner Personen] sich in Richtung Delirium entwickelt, in dem sich der Mensch von der Realität entfernt und isoliert in einer eigenen Welt bleibt [...]. Die andere Möglichkeit ist, dass die Illusion ein kreativer Motor ist, der ihm eine aktive Wiederanpassung an die Realität erlaubt. Dort kann einer zu seiner Identität finden in der Welt, die ihn umgibt (Pellettieri 1989,203).

Aussagen wie diese zeigen, dass seine Poetik absichtlich Achsen aus dem ästhetischen mit dem sozialen Feld kreuzt, und dass auf deren Kreuzung die Ideen von Persönlichkeit und Person zusammenlaufen. Auf dieses Ziel arbeitet er mit dem Humor hin, in den Schattierungen von Ironie und Satire, was in der Sprache in Wortspielen und Kalauern seine Entsprechung findet. Dies gilt auch für sein zweites Werk, ¿Unafoto...? (EinFoto?). In diesem Stück sind die Protagonisten die "liebenden Eltern" eines Babys, das sie photographieren wollen, aber... lächelnd. Das Stück ist dem Realismus zuzuordnen, allegorisiert aber den Diskurs mit fortschreitender Handlung bis hin zur Katastrophe.

1

Das Stück von Albee war wenige Jahre vorher mit großer Begeisterung vom Publikum und den Kritikern in Buenos Aires aufgenommen worden.

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Wie Kristeva sagen würde, ist dramatischer Diskurs "in der komplexen Bewegung einer simultanen Affirmation und Negation von einem anderen Text entstanden". Die simultane Affirmation und Negation beziehen sich in diesem Fall auf den kanonischen Realismus, von dem er sich trennt. Dies ist der Fall in La máscara (Die Maske, 1978), Último premio (Letzter Preis, 1981) und Concierto de aniversario (}ubiläumskonzert, 1983). In diesem letzten Werk herrscht die satirische Farce vor (vgl. Pellettieri 1989, 27ff.), in der realistische und allegorische Personen abwechseln. Letztere gehören der Partei der Herrscher an, die die Macht unrechtmäßig besitzen, erstere (Mutter und Sohn) den Beherrschten. Im Rahmen des Teatro Abierto '83 uraufgeführt, fällt das Stück mit dem Ende der Militärdiktatur zusammen. In jenem Moment wurde Concierto de aniversario als repräsentativ für die Dramatik gesehen, mit der man die Odyssee der Gegner der Machthaber erlebte, zu deren Denunzierung das Werk beitrug. Daher wurden die vier Personen, angehende Musikanten, als Richtschnur des "satirischen Absurden"2 gesehen. Der Zuschauer erkannte die Analogie zwischen der allumfassenden Macht in der Regierung und in der Grundstruktur des Werkes, in dem der "Adressat" die Wahrnehmung des "du" ("Empfängers") verweigerte, um den Obsessionen und Wutanfällen der jeweils Regierenden (Musikanten) mehr Bedeutung einzuräumen. Concierto de aniversario hat zwei Versionen. Die erste gehört der erwähnten politischen Phase an, die mit der ersten Schaffensperiode unseres Autors zusammenfällt. Die zweite, die von 1983 bis zur Gegenwart reicht, zeigt einige Veränderungen am Stück; es bleibt jedoch eine verhängnisvolle Parodie der vier irren "Musiker", die von sich selbst überzeugt sind, dass sie herausragende Wesen und damit heroisch sind. Das erste Werk der zweiten Phase (die soziopolitisch mit den demokratischen Regierungen zusammenfällt) ist Sueño de náufrago (Traum eines Schiffbrüchigen). Hier hat die Macht ihre Bedeutung verloren; nun ist es der Dramatiker selbst, der sich persönlich mit seinem Protagonisten Aristides trifft, welcher wie Augusto Pérez von Unamuno seine Autonomie beansprucht, und weit davon entfernt, wie die sechs Personen von Pirandello, den Autor seiner Zeit zu suchen, sich von ihm und von seinen Heldenlaunen befreien will (vgl. Pellettieri 1989, 28). Aristides will das sein, was er fühlt, und das ist oberflächlich und geistlos. Es handelt sich also um ein Identitätsproblem, das die Thematik der folgenden Stücke Rovners im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beherrschen wird. Wieder geht es um Bild und Idee: 2

Nach Pavis (1980,4) "manifestiert das satirisch Absurde auf eine ausreichend realistische Weise die deskriptive Welt."

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Was ich zeigen möchte, ist, dass es sehr schwierig ist, ein Werk ausgehend von einer Idee zu schreiben, wenn es nicht von Bildern begleitet wird (Giella 1994, 114).

Weiterhin bemerkt man in diesen Stücken eine realistische Behandlung von surrealistischen Elementen im Umgang mit den Zeichensystemen. Die Textualität des Theaters erfordert dafür den Zuschauer als Komplizen, der die vom Autor vorgegebenen Spielregeln befolgen muss. Auf intertextueller Ebene erkennt man in Sueño de náufrago die Konzeption von Autor/Person/Protagonist von El fabricante de fantasmas von R. Arlt, worauf Pellettieri in seiner Studie "Das Theater von Eduardo Rovner" (1989) hinweist. Pellettieri war auch Direktor des im selben Jahr uraufgeführten Stückes Yel mundo vendrá (Und die Welt wird kommen). In diesem Stück ist der Protagonist und Antiheld Vicente, ein armer Unglücklicher - wie seine Frau sagt -, der 55 Jahre alt ist, mit seiner Familie in einem typischen Haus am Fluss in dem Ort El Tigre3 lebt und als Kellner in einem Katamaran arbeitet. Plötzlich glaubt Vicente, dass er reich werden kann, wenn er seine verborgene Persönlichkeit als griechischer Tänzer erblühen lässt. Am Ende rettet der gesunde Menschenverstand seiner Frau die Familie vor dem Elend, und gleichzeitig deckt sie die Maske des Selbstbetrugs auf, dem Vicente mit seinen Kindern und dem griechischen Onkel als Komplizen verfallen ist. Das Stück ist eine sainetenhafte Komödie mit Spuren des musikalischen saínete und zahlreichen Rückgriffen auf das Komische sowie der beabsichtigten Manipulation des Zuschauers, damit dieser seine affektiven Bindungen an die Familie überprüfe. Es folgt Compañía (1990), das auf der Begegnimg kleiner Leute aufgebaut ist, konkret einem Paar der Mittelschicht, kinderlos, noch jung, aber schon von der Gewohnheit, die die Liebe tötet, erdrückt. Der Ehemann hat an diesem Tag eine Frau kennengelernt, zu der er sich stark hingezogen fühlt, und will diese Erfahrung mit seiner Ehefrau und Magda, der Fremden, teilen. Alles weist darauf hin, dass es zur Bildung des klassischen Dreiecks kommen wird, aber die Funktion Magdas ist es, im Paar die eingeschlafene Sensibilität zu wecken, welche dazu geführt hat, dass sie keinen Sinn mehr im Zusammenleben sehen: Magda (zu Ana): [...] Wir wollen in Begleitung sein... Aber begleitet von was? Von Dingen... von niemandem! Das ist es!! Von niemandem! Wenn am Ende jeder von uns alleine ist! Oder nicht? ... Jeder

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El Tigre ist das dichtbesiedelte Mündungsdelta des Paraná im Norden von Buenos Aires. Es ist ein beliebtes Ausflugsziel der Hauptstädter. (Anm. d. Ü.)

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lebt abhängig von dem, was er will, und den Anderen soll doch ein Blitz treffen!! (Rovner 1994,179)

Auch wenn die Situation hier etwas ungewöhnlich ist, so ist die Botschaft doch direkt, wenn es den schwankenden Ängsten und Unsicherheiten des als "mittelmäßig" dargestellten Paares freien Lauf lässt, das nicht über die psychischen Probleme des Durchschnittsmenschen sprechen kann und will, welches sich nicht bewusst ist, dass es das Wunder des Glücklichseins gerade versäumt. Einmal mehr schreibt Rovner ein Theaterstück, in dem es um die Anerkennimg oder zumindest das Infragestellen der menschlichen Beziehungen geht. Er will nicht lehren, sondern bewegen, um den Zuschauer zur Identifikation mit den Personen zu veranlassen und dadurch die Reinigung der Gefühle zu erreichen. 1991 wird Concierto de aniversario neu unter dem Titel Cuarteto aufgeführt, nachdem Rovner einige Änderungen daran vorgenommen hat. Jetzt wird das Stück mit dem Musiker-Vater eröffnet, der an den Rollstuhl gebunden ist und sich mit dem Sohn auseinandersetzt, welcher von Anfang an die Komponenten des Quartetts als gescheitert aufdeckt; sie alle wollen ihren Egoismus auf die sterbende Frau ausüben, ohne dass einer von ihnen in der Lage wäre, solidarische, menschliche, und in letzter Instanz, ethische Haltungen zu zeigen. Sohn: Sie stirbt gerade. Johan: Genau. Sohn: Wie, genau? Johan: Die Nähe des Todes zeigt, dass das Leben nur eines ist.

Die höchste Ironie besteht darin, dass der Vater Johan heißt, wegen Johann Sebastian Bach. In dieser Version verschiebt Rovner die Kritik an der Macht, um daraus eine allegorische Parodie der moralischen Insensibilität zu machen und somit eine Universalität im Sinn des Stückes zu erreichen. Das vorletzte Werk dieser zweiten Phase ist Lejana tierra mia (Mein fernes Land), welches aus einem Dialog zwischen Vater und Sohn besteht, während sie eine Mauer anstreichen. Der Vater problematisiert den Sinn der Kunst: "Was machen wir hier, mein Sohn, wozu sind wir da?" (Rovner 1994,191) Der enthusiastische Sohn versucht, ihm Kraft zu geben, indem er zum Ausdruck bringt, dass er seine Malerei so fühlt, als sei sie die Neunte Symphonie von Beethoven. Der Vater besteht auf seiner negativen Haltung gegenüber dem Schöpfungsakt in einer Welt, die vom Streben nach Geld verdorben ist. Für ihn hat das Leben keine Bedeutung mehr:

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Vater:

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Wie erwarten sie von mir, dass ich darin einen [Sinn] erkennen kann? Wie soll gerade ich ihn finden, wenn ich doch male, weil ich nicht die geringste Ahnung habe, welchen Sinn alles hat, und nicht weiß, was ich tun soll, um irgendeinen in meinem [Leben] zu finden.

Obwohl dieses Werk dem kanonischen Realismus entstammt, so verwendet es die sokratische dialogische Formel und ist gleichzeitig umgangssprachlich, womit es der Tradition dieser Art der Untergattung zugeordnet werden kann, zwischen dem Literarischen und dem Theatralen stehend, dessen Spuren man in den ältesten Literaturen finden kann, beginnend mit den berühmten Dialogen von Lukian aus Samosata, den Dialoghi d'amore von León Hebreo4 oder den philosophisch-sozialen, wie Le neveu de Rameau von Diderot. In diesem Fall bewirkt die geistige Situation der Dialogpartner, dass der Junge der ist, der an das Wissen des Vaters appelliert, welches durch den Verlust jeglichen Glaubens erloschen ist. Einmal mehr wird auf der inhaltlichen Ebene die affektive Nähe als höchstes Gut des Menschen gesehen: Vater: Sohn:

Die Kraft wurde mir immer von der Überzeugung gegeben, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen habe... Und? Welche Aufgabe konnte ich erfüllen? Zu leben.

Diese Antwort auf existentieller, antiheroischer Ebene entspricht den eigentlichen Intentionen Rovners. Das letzte der bis Juli 1994 aufgeführten Werke ist Volvió una noche (Eines Nachts kam sie zurück). Darin ist eine wachsende strukturelle Komplexität auf allen Ebenen zu erkennen. Die Zeit fällt nicht mit der Zeit der Aufführung zusammen. Die Anzahl der Personen hat zugenommen. Es gibt eine Orchestrierung höherer semiotischer Anforderungen, mit "realen" und "irrealen" Personen innerhalb der Fiktion. Die Handlung benötigt verschiedene Räume: (reale) wie das Innere des Konzert-Cafés und das Haus von Manuel; und (irreale) fiktionale, wie der äußere Raum des Friedhofs und seine Bewohner. Das Stück zeigt eine zunehmende Anforderung an Zeichensysteme, lautliche, visuelle und gestische. Der Protagonist Manuel, ein jüdischer junger Mann, wird in vier Tagen eine christliche junge Frau heiraten; die beiden bilden mit Aníbal und Julio ein Tangoquartett im Konzert-Café Aníbals. Manuel besucht seine Mutter auf dem Friedhof und erzählt ihr von seiner Hochzeit. Diese, 4

Eigentlich Judas Abravanel, im italienischen Exil lebender jüdischer Philosoph des 16. Jahrhunderts. (Anm. d. Ü.)

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Fanny, verlässt ihr Grab und Iässt sich im Haus ihres Sohnes nieder, um das alles zu beobachten, was zu sehr komischen Situationen führt. Zu den fiktionalen Personen innerhalb der Fiktion gehört auch der Polizist Chirino (Mörder von Juan Moreira), Symbol der Unterdrückung der "idishe mame"5. Chirino drückt sich in gauchesken Achtsilbern aus und erhält von Fanny den Auftrag, ihrem Sohn "den Schmerz einer leidenden Mutter" zu zeigen. In diesem Stück betonen die Zeichensysteme das dialektische Wechselspiel zwischen dem rein Spielerischen und dem Psychischen. Die traditionelle ödipale Beziehung wird parodiert. Die Mutter entdeckt nach und nach, dass es weder sicher ist, ob ihr Sohn Arzt ist (oder Fußpfleger), noch, ob er eine jüdische Frau heiratet. Dies bedeutet, dass sich die Identität der Persönlichkeit, die sie ihrem Sohn zugeteilt hatte, verändert hat. Das Stück ist als musikalische Fantasy konzipiert, da darin die Personen mit Musik und Tanz sich zwischen Realistischem und Phantastischem bewegen. In Volvió una noche wird schließlich die Ideologie der Stücke dieser zweiten Phase der Dramatik Rovners zusammengefasst, welche "gut gebaute Stücke" im traditionellen Sinn sind, gleichzeitig jedoch das realistische Spiel durch die Erneuerimg der theatralischen Mittel, durch Tanz und poetische Phantasie erweitern. In beiden Versionen von Cuarteto de aniversario funktioniert Musik als Kodex, der sich a) zu einer Art psychischen Explosion materialisiert, und b) dazu beiträgt, die Ideologie derjenigen zu entmystifizieren, die sich als auserwählt, besonders oder einzigartig fühlen. Weiterhin nimmt die Musik in Volvió una noche polyseme und polymorphe Konnotationen an, die wir in den verschiedenen Stücken des Autors finden, vor allem in Y el mundo vendrá, wo die Musik dem Stück einen histrionischen Wert verleiht, der ohne sie nicht erreicht werden könnte, da sie das komisch-dramatische Register begleitet, welches von Anfang an spektakulär ist. Rovner hat zur Entmystifizierung der heroischen Ideologien beigetragen, wobei er das Ideal des Sich-selbst-annehmens auf persönlicher und sozialer Ebene privilegiert hat. Dies könnte eine Bereitschaft für das Gesetz des geringsten Widerstands implizieren, aber war in jenem historischen Moment vielleicht eine notwendige Phase der (es klingt paradox!) heroischen, reinigenden Bescheidenheit. Vielleicht trägt dieses Theater dazu bei, die Kehrseite der Medaille einer Epoche zu zeigen, die den Schein und

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"idishe mame": jüdische Mutter. (Anm. d. Ü.)

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die Eroberung von Status unter Aufgabe künstlerischer Werte überbewertet hat und dies immer noch tut. Andererseits ist es wahr, dass, wie wir zu Beginn sagten, je mehr das Mythische an Macht verloren, desto mehr das Heroische sein Profil geändert hat; aber es ist auch möglich, dass das Heroische, um seine eigenen Grenzen zu überschreiten, mit Charakteristiken, Formen und Werten, die wir noch nicht vorhersagen können, wieder erscheint. Auf jeden Fall impliziert ein Theater wie das von Rovner das Ende einer Phase und den Beginn einer anderen, in der der Mensch das Wiedererlangen der affektiven Werte als ethische Notwendigkeit empfindet. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

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Bibliographie Theater Rovner, Eduardo. 1989. Teatro. Buenos Aires: Corregidor. —. 1994. Teatro. Buenos Aires: Ediciones de la Flor. —. 1976. Una pareja (Ein Paar). EA Teatro Payró. - . 1977. ¿ Una foto... ? (Ein Foto?). EA Teatro Payró. —. 1978. La máscara (Die Maske). EA Teatro Payró. —. 1981. Último premio (Letzter Preis). EA Teatro Payró. —. 1983. Concierto de aniversario (Jubiläumskonzert). EA Teatro Margarita Xirgu [1984, Festival de Cuba; 1991, Arizona, U.S.A.]. —. 1985. Sueño de náufrago (Traum eines Schiffbrüchigen). EA Fundart. —. 1988. V el mundo vendrá (Und die Welt wird kommen). EA Galpón del Sur. —. 1990. Compañía (Gesellschaft) [Premio Municipal de Teatro]. —. 1991. Cuarteto (Quartett). EA Teatro Municipal General San Martín [Premio ARGENTORES]. —. 1992. Lejana tierra mía (Mein fernes Land). EA Teatro Regio. —. 1993. Volvió una noche (Eines Nachts kam sie zurück). EA Teatro Stella, Montevideo [Premio Florencio Sánchez für das beste Theaterstück, Uruguay; 1991, Premio Casa de las Américas]. Studien Giella, Miguel Ángel. 1994. De dramaturgos. Teatro latinoamericano actual. Buenos Aires: Corregidor, 109-107. López, Liliana B. 1992. Las recepciones de Cuarteto. In: Osvaldo Pellettieri (Hg.). Teatro argentino de los '90. Buenos Aires: Galerna, 47-53. Pavis, Patrice. 1980. Dictionnaire du théâtre: termes et concepts de l'analyse théâtrale. Paris: Ed. Sociales. Pellettieri, Osvaldo. 1989. El Teatro de Eduardo Rovner. In: Eduardo Rovner. Teatro. Buenos Aires: Corregidor, 7-44. Sagaseta, Julia Elena. 1992. Concierto de aniversario y Cuarteto de Eduardo Rovner: El poder de la imagen. In: Juana Alcira Arancibia; Zulema Mirkin (Hg.). Teatro argentino durante el Proceso, 1976-1983: ensayos críticos, entrevistas. Buenos Aires: Vinciguerra, 171-180.

Hebe Serebrisky (1928-1985) Beatriz Trastoy Hebe Serebrisky ist von 1978 bis 1984 literarisch tätig. Obwohl sie bereits 1971 mit der Uraufführung von Nadar sin respirar en cinco estilos (Schwimmen ohne zu atmen in fünf Stilen) und mit der Beteilung an der Gruppe, die in Bolivien Al grito de este pueblo (Beim Schrei dieses Volkes; Preisträger der Oficina Católica im Festival von Karlsbad) filmte, ihre ersten Berührungen mit der Kunst hatte, schrieb sie erst im oben erwähnten Zeitraum zwei Bände mit Kurzgeschichten und mehr als zehn Theaterstücke, von denen sechs in wichtigen Theatersälen in Buenos Aires und im Landesinneren uraufgeführt wurden, und für die sie zahlreiche lokale und nationale Auszeichnungen sowie Anerkennung von Kritikern und vom Publikum erhielt. Ihr Selbstmord im Jahr 1985 im Alter von 57 Jahren unterbricht eine Karriere, von der man noch viel erhoffen konnte. Trotz ihrer Bewunderung für Shakespeare und die griechischen Klassiker, für Beckett und Arthur Miller, schöpft Hebe Serebrisky ihr Theater aus den repräsentativen Strömungen der argentinischen Szene und schreibt ihre Stücke aus einer neuen Perspektive, in der sowohl die formalen Aspekte einfließen als auch die semantischen Instanzen, die sich von ihnen ableiten. Als Mitglied der von Ricardo Monti koordinierten Theaterseminare, besteht ihre Methode im Schreiben von Theaterstücken darin, dass sie von inneren Bildern ohne vorherige Konzeptualisierung ausgeht, um so der rhetorischen Versuchung zu entgehen, der die vorher ausgedachten Themen oder Strukturen unterliegen könnten. Mit Don Elias campeón (Der Champion Don Elias), das 1979 geschrieben und im darauffolgenden Jahr im Teatro Municipal General San Martin uraufgeführt wurde, refunktionalisiert und resemantisiert Hebe Serebrisky gewisse Verfahren des grotesco criollo, um sie mit der expressionistischen Ästhetik nahen Elementen auszudrücken. Die italienischen Immigranten des Theaters Discépolos sind hier rumänische Juden, die in den Kolonien von Entre Ríos1 leben. Ihre Armut und sprachliche Isolation sind nun kein Problem mehr, der Konflikt zwischen den Kindern und die ersehnte Rückkehr ins Heimatland bleiben aber bestehen. Die Opposition zwischen Sein und Schein, zwischen Maske und Gesicht, die das Groteske charakte1

Entre Ríos ist eine Provinz im Norden von Buenos Aires. (Anm. d. Ü.)

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risiert, ist hier verstärkt und erweitert; sie betrifft nicht nur den individuellen und familiären Raum der Protagonisten/ sondern hinterfragt auch die Strenge der den Männern und Frauen zugeteilten sozialen Rollen. So zeigt sich Don Elias in der Bar zuvorkommend und selbstsicher, und wird von allen bewundert, während er für zu Hause, für seine Ehefrau die Bitterkeit der Vorwürfe, die Trauer um seinen verstorbenen Sohn, seinen Frust und seine Impotenz reserviert. Zulema wird von ihrer Umgebung schlecht behandelt und abgewertet; dennoch wagt sie es, das Ablegen der Masken bis zu seinen letzten Konsequenzen durchzuführen: Sie wird mit der Idealisierung eines Sohnes, der ganz anders war, als sie es erwünscht hatten, Schluss machen und für ihre Ehe ein neues Leben inmitten der schwarzen Trauben der Heimat Rumänien vorschlagen. Die lineare Syntax der erzählten Geschichte wird unterbrochen durch den Einschub von irrealen Bildern, die zwar nicht der Traumwelt entspringen, sondern "Brunnen der Irrealität sind", Visualisierungen der inneren Visionen der Personen, die es dem Zuschauer erlauben, das Ablegen seiner eigenen Masken zu erkennen. Der Generationenkonflikt, der in Don Elias campeón bereits vorkommt, wird zum zentralen Thema in El hipopótamo blanco (Das weiße Flusspferd), einem kurzen Stück, das 1984 geschrieben und im selben Jahr im Teatro Escuela aufgeführt wurde, wo es sieben Spielzeiten lang mit mehreren Aufführungen pro Woche gezeigt wurde. Der violente Kampf zwischen dem alten Angestellten und dem Neuankömmling um einen weißen Schreibtisch (den als "Flusspferd" bezeichneten Fetisch) zeigt, dass die Komödie nicht unbedingt das Gegenteil der Tragödie ist. In der Tat sind beide Protagonisten im Recht, und sie argumentieren aus ihrem tiefsten Inneren heraus, um dies zu beweisen. Der Triumph des Älteren und das resignierte Unterwerfen des Jüngeren sind weit davon entfernt, sich in ein Lebensmodell zu verwandeln; ganz im Gegenteil handelt es sich um eine Art von Korruption, die sie über den Weg des Geldes beide gleichermaßen erreicht. Auf den ersten Blick ist El hipopótamo blanco das realistischste Werk von Hebe Serebrisky, da die im dramatischen Text vorgesehenen Verschiebungen im verbalen und gestischen Diskurs der Personen das komplizierte Zusammenspiel von sozialen und familiären Regeln, die auf die Individuen einwirken, aufdecken. So wird jede der Personen die Beziehungen, die sie mit den anderen außerhalb des Büros hat, theatralisieren, Beziehungen, die von Angst, Überdruss und Entfremdung gekennzeichnet sind. Obwohl sie die dramatische Produktion von Hebe Serebrisky eröffnen und abschließen, sind Redes (Netzwerke; 1978 geschrieben und Anfang 1984 im Teatro de la Fábula uraufgeführt) und Anagrama (1984 geschrie-

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ben, im Complejo Teatral La Gran Aldea im folgenden Jahr wenige Monate nach dem Tod der Autorin uraufgeführt) zwei komplementäre Werke, die miteinander in einer subtilen intertextuellen Verbindung stehen. Beide Stücke zeigen expressionistische Vorgehenweisen, wie die Verdopplung der Personen, die ihr inneres Ich bildhaft darstellen, das zwar dem äußeren Bild ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist. So liest in Redes Leopoldo 1 - die soziale Facette - vor dem Radiomikrophon fremde Texte und Gedichte, die nicht mehr sind als Glossen seiner eigenen Geschichte, der Alternativen, die Marga und Leopoldo 2 - die andere Seite des Spiegels, das innere und familiäre Ich - auf die Bühne bringen. Die enigmatische Figur einer Alten, die "in leuchtendem violett und grün geschminkt" (Serebrisky 1985,1:14) sich sowohl in ein Kissen verwandeln als auch gemeinsam mit Marga das Netz spinnen kann, das die Protagonistin gefangenhält, entfaltet die ganze Zweideutigkeit ihrer vielfältigen Semantik. In Anagrama unterhält sich Ana, die von Yoanna gedoppelt wird (Namen, die mit dem Titel ein signifikantes linguistisches Spiel darstellen), mit den Stimmen - im o f f - über ihre Vergangenheit: Eltern, die keine Liebe geben konnten, und ein Ehemann, der sie verlässt, nachdem er sie ausgesaugt hat. In einen Raum ohne Referenzen versunken (der durch ein Szenarium verwirrender auditiver Signifikanten sichtbar wird, in dem man nur Fensterrahmen erkennen kann, die den Selbstmord andeuten), erkennt Ana mit der Hilfe ihres Doppels, dass es möglich ist, die lähmenden Spinnweben abzuschneiden und eine erfüllte Existenz zu erreichen. Wenn auch die bisher interpretierten Werke fast ausschließlich den Konflikt des Individuums mit seiner familiären Umgebung zu erfassen scheinen, so blieb das Theater von Hebe Serebrisky dem politischen Engagement, das die damalige Zeit erforderte, nicht fern, jedoch verwandte sie dabei immer entfremdende Techniken, die auf die Wirkungslosigkeit didaktischer Maßnahmen anspielen. Proyecciones (Projektionen, 1983) nahm gemeinsam mit anderen Arbeiten von Susana Torres Molina, Peñarol Méndez und Carlos Somigliana am Schauspiel Inventario teil, das im Rahmen des Teatro Abierto 1983 im Saal Margarita Xirgu uraufgeführt wurde. Sie schrieb auch einen (unveröffentlichen) Monolog Mi libertad (Meine Freiheit) für das Teatro Abierto 1984, der nicht aufgeführt werden konnte, da sich dieser Zyklus nicht realisieren ließ. In Proyecciones feiern die Eltern den 19. Geburtstag ihres Sohnes, der, obwohl sie es verleugnen wollen, niemals wiederkehren wird, da er im Falkland-Krieg gefallen ist. Währenddessen schnitzen andere Eltern die Figur eines Soldaten, der von Objekten umgeben ist, die die verschiedenen Phasen seines kurzen Lebens zusammenfassen: ein Spielzeugauto, ein Hochstuhl, ein Laufwagen, eine Schultasche, ein Fußball und ein Fahrrad. Das Bedauern darüber, an die

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patriotischen Slogans eines Regimes geglaubt zu haben, welches versuchte, Unrecht zu rechfertigen, und die Notwendigkeit, sich zu erinnern, um zu überleben, lassen die echten und die anderen (Verdopplungen? Projektionen?) Eltern in einem makabren Fest zusammenfinden; eine Vereinigung, die pathetisch die erhoffte Fusion der Doppel von Redes und Anagrama umkehrt. Die Beschäftigung Hebe Serebriskys mit dem Klima der Unsicherheit und des Schreckens, das innerhalb der argentinischen Gesellschaft mit dem Ausbruch der Militärdiktatur entstand, beschränkte sich jedoch nicht nur auf die für das Teatro Abierto geschriebenen Texte. In El vuelo de las Gallinas (Der Flug der Hühner), das 1980 geschrieben und 1984 im Teatro Contemporáneo uraufgeführt wurde, sehen wir, wie maskierte Köpfe und behandschuhte Hände auf der Bühne erscheinen und hinter den Vorhängen verschwinden, wie sie den Personen Waffen übergeben und sie zu irrationaler Gewalt zwingen. Sowohl auf semantischer Ebene als auch auf der der dramatischen Techniken mit dem Absurden verbunden, das für die Textualität der 60er Jahre einer Griselda Gambaro charakteristisch ist, denunziert El mielo de las Gallinas nicht nur die Perversität, die in den familiären Rollen verborgen ist, sondern auch die Selbstzerstörung einer Mittelklasse, die sich weigert, den sie umgebenden Horror zu erkennen und die auf magische Lösungen setzt, um ihre armseligen Wünsche nach Reichtum und Macht zu realisieren. Mit einer ähnlichen Intention wie in El vuelo de las Gallinas, jedoch weniger transparent in seiner Metaphorik sind La cabeza del avestruz (Der Kopf des Vogel Strauß, 1981) und Finisterre (1982/1984), in denen das Absurde der Situationen und der ästhetischen Verfahren vertieft wird. In der Tat, die Musik ungewisser Herkunft, die die Personen in La cabeza del avestruz zum Tanzen zwingt und der rätselhafte Skafander, der mit seinen blauen Strahlen die Handlungen der Gefangenen und Inhaftierten in Finisterre kontrolliert, stehen für die Zufälligkeit einer Macht, die ohne Unterscheidung unterwirft. Die räumlich-zeitlichen Bezüge werden problematisiert, die Beziehung Ursache-Folge verliert ihre Logik, und die Ähnlichkeit der Außenbühne wird verschoben. Nichtsdestoweniger verweisen in diesem höllischen, an Dante erinnernden Umfeld, in dem die Protagonisten beider Werke fatal gefangen zu sein scheinen und eher bereit sind, sich gegeneinander zu stellen als mögliche Auswege zu suchen, Zeichen wie ein Tango, der halblaut erklingt oder die prosaische Alltäglichkeit von einem Essen, das es in jeder Bar von Buenos Aires gibt, eindeutig auf die argentinische Realität zu jener Zeit. Die zeremonielle Wiederholung von Situationen, die karnevaleske Umkehrung, die Verschiebung der Rollen, vielfältige Verdoppelungen und

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die Ritualisierung von Leben und Tod nähern Un fénix Lila (Ein lilafarbiger Phönix) und Pura sugerencia (Nur ein Vorschlag, 1983), die in Zusammenarbeit mit Mario Daian geschrieben wurden, an Werke wie Una noche con el sr. Magnus e hijos oder Visita von Ricardo Monti, welchen Hebe Serebrisky als produktives Modell ihrer eigenen dramatischen Texte anerkannte. Ein skandalöses Plagiat, dem Un fénix Lila zum Opfer fiel, führte zu mühseligen Gerichtsverhandlungen, welche seine für Mitte 1984 im Teatro San Martin geplante Uraufführung verhinderten. Die Sprache ist in diesem Text auf einen minimalen Ausdruck reduziert, während hingegen der besondere Umgang mit verschiedenen anderen Ausdrucksformen (Kleidung, Schminke, Objekte, Musik), welche in den Bühnenanweisungen sorgfältig festgelegt sind, erlaubt, szenische Bilder großer Bedeutungskraft zu schaffen. Auf diese Art löst sich Hebe Serebrisky einmal mehr von der "realistischen" Rhetorik, um die großen Gemeinplätze zu hinterfragen, die in der modernen Gesellschaft die Opposition zwischen Mann und Frau aufrecht erhalten. Die sadomasochistischen Zeremonien schließlich, die das Raster in Pura sugerencia bilden, widerspiegeln manche Konstanten des weiblichen Eigenbilds, die - umgekehrt und degradiert - immer aus der Frau ihr eigenes Opfer machen. In Un fénix Lila baut die Protagonistin die vom Himmel fallenden Teile eines Puzzles zusammen, und als sie gefragt wird, was sie mache, antwortet sie strahlend: "Ich schreibe" (ibid., 121). Genau das ist die ursprüngliche Metapher, definitive mise en abîme in einem Theater, das von seiner Autorin als Modell zur Selbstverteidigung konzipiert ist. Von gespalteten Wesen bevölkert, die miteinander durch die Gewalt der perversen Rituale verbunden sind, von Ängsten und Zwangsvorstellungen besessen, im unterdrückenden Spinnennetz der familiären und sozialen Zwänge gefangen, fordert jeder Text den Zuschauer heraus, seine Brüche wieder zusammen zu fügen. Die Theaterstücke von Hebe Serebrisky lassen sich als Teile eines einzigen Stücks auffassen, welches dazu beiträgt, das komplexe Rätsel der argentinischen Dramatik der 80er zu rekonstruieren. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Serebrisky, Hebe. 1985. Teatro. Buenos Aires: Ediciones Teatrales Seena.

Ricardo Bartis (*1949) Adriana Scheinin In der Textausgabe von Postales Argentinas (Argentinische Postkarten)1 ist zu lesen: Postales Argentinas, Skript von Ricardo Bartis (Science Fiction Sainete in zwei Akten) für Pepe Arias, Luis Sandrini, Ninl Marshall und besonders für Alberto Olmedo.

Bereits die Widmung zeigt uns seine Eigenschaft als Hommage an herausragende Schauspieler des argentinischen Volkstheaters. Aufgrund der besonderen Produktionsbedingungen ist der Text aus einer offenen experimentellen Absicht heraus entstanden. Obwohl das Stück nicht als dramatischer Text im literarischen Sinn konzipiert wurde, fügt es sich doch in die dramatische Literatur ein. In einem solchen Fall führen Regisseur und Schauspieler das durch, was Mauricio Kartún "Dramaturgie der Szene" zu nennen pflegt. Für Bartis ist die Realisierung des Stücks durch andere als seine ursprünglichen Interpreten unvorstellbar. Postales als dramatisches Werk an und für sich zu betrachten, hieße, die Wahrhaftigkeit seines Ursprungs, seiner Absicht und seines Ziels zu verleugnen. Der Wert des publizierten Textes wird damit nicht in Frage gestellt, besonders da er die entsprechende Autorisierung erhielt. Bartis autorisiert den Text mit folgenden Worten: "Es ist der, den wir gesprochen hatten." Und dennoch, es ist zwar derselbe, aber nicht das selbe: Es gibt Texte, die als solche geschrieben sind und darauf warten, entdeckt oder aufgebrochen zu werden. In diesem Fall, so kommt es mir vor, wurde der Text aus der Entscheidung für die Sprache heraus geboren.2

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Das Theaterstück wurde 1988 mit Pompeyo Audivert, Maria José Gabin und Carlos Viggiano (Musiker) als Produktion des Sportivo Teatral de Buenos Aires und unter der Regie von Ricardo Bartis uraufgeführt. Dieses und die folgenden gekennzeichneten Zitate stammen aus einem Interview mit Bartis im August 1994.

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Wie entsteht die Handlung in dieser ursprünglichen Textualität? Als Folge einer Arbeit weitgehend parodischen Registers, ist Postales das Resultat einer Art Schöpfermaschine von Diskursen, einer artikulierten Aneinanderreihung von Fragmenten. Die Sprache sucht die Inbesitznahme durch die Schrift, die der anderen ebenso wie die eigene oder mehr noch, als nicht greifbare Spur eines Ursprungs. Es ist die Begeisterung für das Strandgut, die den Diskurs bewegt und dabei die Geschichte hervorbringt. Der Akt der Äußerung unterweist die Person, und dieses konstruktive Prinzip versorgt ihn mit Keimen der Theatralität. Der Schauspieler übernimmt Techniken der Entfremdung und funktioniert für Momente als Erzähler. Andererseits personifiziert die Interpretin, die dann die Personen der Madre (Mutter) und Pamela durchlaufen wird, eine Schauspielerin, eine Verkünderin des publizitären Stils mit postmodernen Kennzeichen, in diesem saínete des Jahres 2046. Der Regisseur arbeitet in der Aufführung mit, spricht "die ganze Zeit", sodass dann, wenn er die vom Assistenten ausgewählten Sätze aufsammelt, sich ein Grundtext für das Schauspiel zu bilden beginnt. Es ist interessant, die Art der Randnoten zu betrachten. Zu den direkt Bezug nehmenden, kommen andere besondere, die eine verbale Manifestation von aktiven Stimuli sind, ungereimte szenische Hinweise, die ich für diesen Text formulierte: "Sie versteckt sich wie ein erschrockenes Wiesel."

Die Einleitung zu den Akten und Szenen funktioniert wie eine Art Zusammenfassung und Auslöser, sie beinhaltet nicht nur deskriptive Elemente, sondern auch Vorausblicke der Handlung. Es kommt darin auch die reflexive Ebene des Protagonisten vor: "Héctor versteht, dass er allein sein wird, desto mehr er schreibt" (Bartis 1990, 6). Als höchst ursprüngliches Produkt arbeitet es mit nicht ursprünglichen Texten in einem Universum von Zitaten, ausgehend von einem Spiel des Raubs, der Enteignung und Übernahme, auf der mühsamen Suche nach einer Identität. Die Person Héctor ist ein Trugbild oder einefiktionaleDeformation des Schriftstellers: ein Dichter, dem keine Verse einfallen, Gefangener der kulturellen Tradition des Tangos und der volkstümlichen Poesie und der Hochkultur.3

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Es werden, unter anderen, Gedichte wie die von Evaristo Carriego zitiert, Tangotexte wie die von Pascual Contursi und Celedonio Flores, und Texte von Borges oder von Shakespeare.

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Das Werk erzählt das Leben von Héctor Girardi, einfacher Postangestellter, und von seiner Leidenschaft für das Schreiben (Bartis 1990, 6).

Es ist die lange Reise der Frustration eines Wesens, das seine Realisierung mittels eines ihm stets fremdbleibenden Wortes sucht: Die Geschichte ist eine Konsequenz der Bestätigung einer dramatischen Sprache. [...] Die ursprüngliche Erzählung war einfallsreich und effektvoll. Darauf aufbauend gab es eine Menge nicht so durchsichtiger Geschichten.

Zwischen Melodram und Science Fiction situiert, durchläuft das Werk absurde Situationen und operiert mit Techniken der Entfremdung. Es vermischt und überkreuzt Stimmen, nähert uns an Modelle an, seien diese Texte oder Darstellungsformen; verdoppelt, multipliziert, verdreht und überschreitet sie. Die Idee zu dem Stück entstand, den Worten von Bartis zufolge, in einem Kontext, in dem das Vorherrschen von Regisseuren und Autoren die fruchtbare Welt des Schauspielers erstickt hat. Es ist also nicht nur eine Hommage an Schauspieler früherer Zeiten, sondern an all diejenigen, die das Universum einer Szene bevölkern können. Umgedichtetes saínete mit Blick auf die Zukunft, Science Fiction saínete. Bartis und seine Gruppe gehörten einem Sektor des Theaters an, der zu jenem Zeitpunkt in einer marginalisierten Zone agierte. Es ist kein Zufall, dass das Werk die Vorstellungskraft aus der Notlage heraus fördert, sowohl durch die Bescheidenheit der szenischen Mittel und durch die wiederholte Verwendung der Objekte, als auch durch die bestmögliche Ausbeutung der Rolle des Autors. Zwischen einer zerstörten Vergangenheit und Zukunft entsteht die Brücke der Gegenwart, der Moment der Darstellung, der versucht, durch das Geschriebene festgehalten zu werden. Die Zeit bedingt auf ihre Art die Erzählformen des Projekts. Die Einladung zum Festival de Cádiz schafft eine Grenze und eine Spannung im experimentellen Prozess. Bartis bemerkt, dass die Verfahren mehr als die Themen einen primären und obsessiven Charakter in seiner Produktion einnehmen. Das Werk entsteht aus [...] einem Blickwinkel, den die nationale Dramatik in Bezug auf die Behandlung gewisser Themen gemacht hatte: der Mythos der Mutter, die Liebe, der Tango, Buenos Aires, der Akt der Schöpfung.

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Es spielt zwischen Tradition und Bruch, zwischen der Loslösung von einer historischen Linie (des nationalen Theaters und des Landes) und der Bildung einer positiven Haltung gegenüber mythischen Wurzeln. Es enthüllt und bestätigt in gewisser Weise die Mischung als Bedingung und Besonderheit dieser amerikanischen Region. Grenzprodukt, das aus den Rändern des La Plata-Gebietes hervorgebracht wurde, wie die Geburt einer großen Stadt, Buenos Aires, Wiege und Grab der verlorenen Illusion. Die Parodie entsteht wie ein textueller Vampirismus (vgl. Jitrik 1993,19). Die Frau, Vermittlerelement, ist unentbehrliche Partnerin. Herrin der Zeit und der Verabredungen, eine Art Prostituierte der Sprache, ist sie wie Phagozyten des Wortes. Ein Zyklus von Substitutionen wird vollendet: Der Vater stirbt, als sein Sohn geboren wird; eine Frau ersetzt eine andere. Die Mythen ufern aus. Die Frau als Mutter (Heilige) und als Geliebte, Pamela Watson (die in der Lage ist, sich wie eine Jeanne d'Arc zu opfern) verwandeln sich ihrerseits in das unerreichbare Bild der Musen. Pamela umfasst schließlich - wie eine Metapher und eine Parodie der metaphorischen Vorgehensweise - die Figuren von Frau, Mutter, Taube und Engel. Gleichzeitig eine Verdichtung des Mädchens von La Plata, phagozytes Weib und Schöpferin des Menschen im La Plata-Gebiet, die in den Abwässern, im vom Fluss übriggebliebenen Morast stirbt. Die mythische Berufung bildet ihr Paradox als Wunsch nach Wahrheit. Héctor bittet seine Mutter, dass sie ihn in seinen Spielen nicht hintergehe, Spiele, die andere beinhalten und bedeuten, erotische Spiele, die an der Grenze zum Inzest liegen. Das Geschlecht kommt zum Kopf. Héctor "kämmt sich mit Sperma" (Bartis 1990, 9). Aber sie spielen nie dasselbe, das ist der Trick, eine arglistige Geschicklichkeit, um den Gegner zu täuschen und eine Wendung zu erreichen, die es erlaubt, seine eigenen Regeln aufzustellen, um, wie die Mutter, immer zu gewinnen. Sie legt Fallen, wenn sie das eine Kartenspiel spielen, er beim anderen. Die Polyvalenz der Objekte führt zu Transformationen der Bedeutung. So ist das Papier, auf dem geschrieben wird, Zeitungspapier, es verwandelt sich in Papiergeld; auf ähnliche Weise ändern sich die Rollen der Person/ des Schauspielers. Er ist ein berufener Dichter/ ein parodierter Dichter/Angestellter und Schriftsteller; ein Mensch aus zwei Kulturen, seine Figur als Antiheld lädt zu Heldenlaunen ein. Für ihn bedeutet Sein Schreiben. Aber hier findet das Wort nicht seinen ursprünglichen Platz. Ganz im Gegenteil, es befindet sich in einer Sprache, die durch eine entfremdende Andersheit verschlüsselt ist. Das "Gesetz des Blutes" würde den Befehl implizieren: "Du musst schreiben" (Bartis 1990,6). Der textuelle Vampirismus schafft seinerseits den Wunsch, die Mutter zu töten und vielleicht auch endgültig die Erinnerung an den Vater zu begraben. Nur dass eine mythische Mutter immer unsterblich ist. Die Fiktion zu

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sterben erscheint als Vorbereitung auf den Tod und das Sein zum Tod als höchste Fiktion. Das Mandat zu schreiben und sein Zeugnis bieten sich im selben Moment an, vor der apokalyptischen Welt der anderen, der Wesen/Zuschauer. Bartis sagt: Postales begann mit einer enorm hohen durchschnittlichen Zahl von Zuschauern. [...] Teil des Mythos von Postales liegt darin, zum richtigen Zeitpunkt entstanden zu sein.

Die Schrift, ebenso wie die Geste zum Zuschauer, erarbeitet einen unvollständigen, nicht erfüllten Traum. Aber das Zerbrochene und das Unvollständige schaffen neue Texte. In diesem fiktionalen Universum sind die Teile Müll und Schöpfung. Aus diesem Grund breitet die Schrift aus dem Raum der Bühne wieder ihre Flügel aus. Deutsch von Sonja M. Steckbauer

Bibliographie Theater Bartis, Ricardo. 1990. Postales Argentinas. In: Otro teatro. Recopilación y banda de Jorge Dubatti. Buenos Aires: Libros del Quirquincho. Studien Pellettieri, Osvaldo. 1994. Teatro argentino contemporáneo (1980-1990).Crisis, transición y cambio. Buenos Aires: Galerna. Jitrik, Noè. 1993. Rehabilitación de la parodia. In: Roberto Ferro (Hg.). La parodia en la literatura latinoamericana. Buenos Aires: Instituto de Literatura Hispanoamericana, Facultad de Filosofia y Letras, Universidad de Buenos Aires.