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German Pages 176 Year 1891
Ueber erste Erziehung.
Ueber
Erste
Erziehung
von ber
Fürstin M. Ouroustow.
Das Ainb — öcs Alarmes Vater. Worbsworth.
Straßburg 1890. Verlag von ckarl I. Trüb ner am Alnnsterptatz.
D.ruck der Union Dentsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart,
Ach erhebe
Eigenartiges
nicht den Anspruch,
geliefert
zu haben,
etwas
wenn
gleichbedeutend sein sollte mit „neu".
ganz
eigenartig
Es scheint mir
nur, daß die Bücher, welche die hochwichtige Frage
des ersten Kindesalters behandeln,
für die große
Mehrzahl nicht verständlich genug sind, und daher
habe ich versucht, auf einigen Seiten das wirklich unerläßliche Maß dessen zusammenzufassen, was man über diesen Gegenstand kennen muß.
Indem ich mich
auf ein so geringes Maß beschränkt und von allem ferngehalten habe, was wissenschaftliche Vorkenntnisse zu seinem Verständnis erfordert, hoffe ich, daß man
diese Blätter in die Hände aller jungen Mädchen
und Mütter, welches auch ihre Bildung oder gesell schaftliche Stellung sein mag,
wird
legen können.
Ich wende mich besonders an die breiten Schichten, die sich in vollständiger Unkenntnis über diesen Gegenstand befinden. Es ist Zeit, dieser Unkenntnis abzuhelfen.
M. O.
Inhaltsverzeichnis. Seile
9
Einleitung
Kap. 1. Was ist das Kind? — Vererbung. — Wichtig
19
keit der ersten Pflege. — Wärme. — Luft Kap. 2. Nahrung. — Schlaf. — Kleidung im ersten
33
Lebensjahr
Kap. 3. Das Entwöhnen. — Man soll die Kinder nicht auf dem Arm tragen oder allein lassen. — Gehorsam. — Das gute Betragen. — Von der Wiege an sind die Kinder zu ge
wöhnen. — Macht der Gewohnheit .
.
48
.
Kap. 4. Strafen. — Kinder soll man nicht fürchten
63
machen. — Die Kinderwärterinnen . . . Kap. 5. Achtung vor der Eigenart. — Die Fehler
sollen als Krankheiten behandelt werden. — Heftigkeit.—Trotz. — Anspruchsvolles Wesen.
— Vom Nutzen der Zurückhaltung
.
.
.
Kap. 6. Die Eindrücke der ersten Jahre sind rein äußerlicher Art. — Wie man aus der Lebhaf tigkeit dieser Eindrücke auf den Sinn des Kin
des Nutzen zieht, um den Sinn für das Schöne
zu entwickeln. — Einfache Wege zu diesem Ziel Kap. 7. Das Spielzeug. — Kleideraufwand. — Schäd lichkeit des Luxus. — Das richtige Maß. —
79
Seile
Geld und Wohlthätigkeit. — Gemeinsame Spiele. — Lob und Tadel der körperlichen oder geistigen Anlagen sind zu vermeiden
Kap. 8.
110
Erziehung und Unterricht. — In welchen Fällen soll man ein Kind für den höheren
Unterricht vorbereitend — Leibesübungen.
— Beweglichkeit. — Geschicklichkeit. — Wie man sich der Sinne zur Beobachtung be
dienen soll. — Grundzüge der Musik und des Zeichnens sind unentbehrlich für alle. Kap. 9.
126
Die Beobachtungsfähigkeit ist durch das In teresse an den Dingen der umgebenden
Natur zu entwickeln.
— Man vermeide
jede nicht unbedingt wahre Mitteilung. — Das Wunderbare. — Vaterland. — Familie.
—
Religion. — Bekanntschaft
mit
der
Poesie. — Die Bücher....................................... 145 Kap. 10. Die für jedermann unerläßliche Gesund
heitspflege. — Die Medizin der Vorsorge. — Welche Ergebnisse muß die wahre Er
ziehung haben? — Schluß............................ 162
Einleitung. Än unsere Frauen und Jungfrauen. Ich will euch von der einfachsten, der gewöhn lichsten, der notwendigsten Sache im Leben einer jeden von euch sprechen, von einer Sache, deren Nutzen viel
weniger bestritten werden kann als der aller Studien, denen ihr euch widmet.
Ich behaupte sogar, daß diese
Studien hauptsächlich dazu
dienen sollen, euch die
Aufgabe zu erleichtern, die einer jeden von euch wartet:
die Pflege der Kinder. Wenn ihr euch nach der natürlichen Ordnung
verheiratet und Mütter werdet, dann wird euch die Bedeutung dieser Frage klar werden.
Ueberhaupt ist
jedes weibliche Wesen bestimmt, sich mit Kindern zu
beschäftigen; es ist dies der natürliche Beruf und das wahre Interesse seines Lebens.
Als ältere Schwestern
in einer zahlreichen Familie, als Verwandte da, wo
Tod, Krankheit oder Ueberlast der Arbeit eure kleinen Angehörigen der Mutter berauben,
endlich in der
weiten Welt, wo Tausende von Waisen,
von Ver-
löffelten der mütterlichen Pflege bedürfen, werdet ihr
bald erkennen, daß immer eher Mangel als Ueberfluß an solchen obwaltet, die sich der Kinderwelt widmen.
Es ist der schönste Traum einer jeden edlen Seele,
den ich trotz alledem und alledem verwirklicht zu sehen
hoffe, daß einmal der Tag kommen wird, an dem es keine Waisen mehr geben wird in dem Sinne der
Verlassenheit,
den
dieses Wort ausdrückt.
Wenn
Jesus Christus durch die Lehre, daß wir uns alle
als Brüder betrachten sollen, ausdrücken wollte, es dürfe keinem unter uns an Pflege, Liebe, Barmherzig
keit fehlen: wer bedarf denn dessen mehr, als die unzähligen kleinen Wesen
rings um uns her, von
denen Tausende täglich zu Grunde gehen, weil es ihnen
an ein wenig Liebe und Pflege mangelt?
Wie viele
Frauen verbringen ein trauriges, einsames, zweckloses Leben, während es doch in der Welt so viele Kinder zu retten giebt!
Mit der Sorge für diese Kinder
würden sie gewiß ein oft unnützes und ihnen selber
lästiges Dasein
ausfüllen können.
Aber sie haben
nicht von Jugend auf die Wichtigkeit dieser Frage verstanden; sie haben nicht gesehen, daß hier eine
wirklich fruchtbare Arbeit zu thun ist, eine Quelle
unversieglichen Glückes sprudelt:
darum wende ich
mich an euch, die ihr in das Leben eintretet, die ihr
keine alten Gewohnheiten zu überwinden habt, denen es ein natürliches Bedürfnis ist, zu lernen, und für
die noch die Möglichkeit besteht, sich zu überwinden und sich zu entwickeln.
Denn je mehr ich über diese
Frage nachdenke, desto klarer sehe ich, daß es nur ein
einziges Mittel giebt, sie richtig zu lösen, das ist die Selbsterziehung.
Sie fällt eurer Generation zu, die
heutige Jugend allein wird im stände sein, die Kinder von morgen aufzuziehen.
Auf diese Aufgabe also gilt
es sich yorzubereiten, und um euch dabei zu helfen, will
ich euch meine Beobachtungen und Erfahrungen auf
diesem Gebiete mitteilen. Es klingt seltsam, daß die Erziehung eine der wenigst gekannten Aufgaben ist, über welche die größte
Unkenntnis herrscht, und doch ist es die interessanteste von allen.
Das Wesen, das heute noch Kind ist,
wird es nicht in der Zukunft Wohlthäter oder Geißel
der Gesellschaft, Quelle der Freuden oder der Schmerzen für viele andere sein, die Ursache'der Gestaltung für
viele noch ungeborene Geschlechter, welche alle von seiner körperlichen und geistigen Gesundheit abhängen?
Diese Gesundheit also muß das Ziel aller unserer Sorgen,
aller unserer Anstrengungen sein, und da
jedes gerettete Kind ein wirklich unberechenbares Gut ist, so ist die Arbeit nicht verloren, mag sie auch mit
unter noch so entmutigend scheinen.
Achtet wohl dar
auf, daß ich unter Gesundheit geistige und leibliche
Gesundheit verstehe, ohne sie zu trennen.
In alten
Zeiten sagte man schon, daß nur in einem gesunden
Leibe eine gesunde Seele wohne.
Nichts ist richtiger
als dieser Satz; die Ueberzeugung, die ich mir auf
Grund vielfacher Nachforschung und Erfahrung darüber gebildet habe, ist mir so wertvoll, daß ich euch vor
allem andern daran teilnehmen lassen möchte. Nimmt man diese Wahrheit einmal als Grund
lage an, so muß man zu der Erkenntnis dessen ge langen, was denn einen gesunden Zustand im Men
schenwesen bedingt und wie man es anstellen muß, um so viel Kinder als möglich zu einem solchen Zu stand zu bringen.
Die Gefängnisse sind mit Leuten
gefüllt, die alle einmal Kinder gewesen sind, und die
Mehrzahl von ihnen dankt ihr trauriges Geschick der Vererbung, der Vernachlässigung oder der Krankheit. Wie viele dieser Unglücklichen hätten gerettet werden
können, wenn ihre Kindheit anders gewesen wäre! Darum sage ich: wendet euch nie von einem Kinde ab!
Abgesehen von den
gar seltenen Fällen von
Krankheiten (so nenne ich auch die durch Vererbung übertragenen Fehler), welche so tief in der Persön lichkeit verankert sind, daß das Opfer daran sterben
muß, giebt es kein unbedingt verlorenes Kind.
Die
Umbildung eines fertigen Menschen ist eine sehr schwere und gewöhnliche Kräfte übersteigende Aufgabe
— die Erziehung des Kindes liegt im Bereich der Kräfte einer jeden von euch und von allen sozialen Reformen ist sie die einzige, die ein sicheres Ergebnis
verheißt.
Gesetze, Unterricht, Kultur sind machtlos
im Vergleich mit der ersten Erziehung, mit der Pflege, die der Gesundheit eines Menschenwesens von seiner
Wiege an gewidmet wird.
Ihr seht, wie hoch dies Ziel gesteckt ist, wie
nahe es uns berührt.
Nicht wahr,
ihr alle wollt
Gutes thun in dieser Welt, ihr seit bereit, eure Kraft dieser Aufgabe zu widmen, besonders wenn sie zu
sicherem Ergebnis führt?
Nun wohl, ihr braucht nicht
zu suchen, das Gute liegt so nahe, bei jedem Schritt,
in jedem Augenblick.
Was auch immer eure gesell
schaftliche Stellung sein mag, ihr könnt, ihr müßt
diese Pflicht erfüllen.
Pflegt die Kinder! setzt euer
Herz, eure Einsicht, eure Kraft daran und ihr werdet es wohl empfinden, daß ihr nicht ohne Segen im
weitesten Sinne des Wortes in dieser Welt gelebt habt.
Ihr werdet immer das Herz voll lebendiger
Teilnahme haben, niemals ohne Familie, ohne Gegen stand eurer Zuneigung sein.
Es verschafft euch innere
Genugthuung, ein Hündlein, das man ertränken wollte,
aufzulesen und bei euch zu füttern.
Wie wird es erst
mit jedem menschlichen Wesen sein, das ihr dem Kerker, der Krankheit, , der Verzweiflung entrissen habt, um
es zu
machen!
einem gesunden Gliede
der
Gesellschaft zu
Und diese Art der Hingebung wird dadurch
noch wertvoller, daß ihr nicht bloß das Einzelwesen
rettet, indem ihr die Kleinen pflegt, es ist eine Wohl-
that ohne Ende, die sich von Jahrhundert zu Jahr
hundert fortpflanzt, und ich bin überzeugt, daß nichts in gleichem Maße die unserer Menschennatur inne wohnenden geheimnisvollen Wünsche so sehr erfüllt, wie das Bewußtsein, so viel als möglich zu dieser künftigen Entwickelung
beizutragen,
die
wir nicht
sehen werden.
Denn es ist eine klare Thatsache, an die man nicht genug denkt, daß alle menschlichen Wesen in
festem Zusammenhang miteinander stehen. Jede Hand lung, jedes Wort irgend eines von ihnen hat feine
Gegenwirkung in der Gegenwart und oft auch in
der Zukunft, und diese Zusammengehörigkeit kommt her von dem festen Bande, das uns alle in einer unlösbaren Kette aneinander fesselt. Diese Zusammen gehörigkeit beweist die Wichtigkeit jedes Einzelwesens,
nicht an und für sich, sondern in seinem Zusammen hang mit den andern.
Es ist nicht bloß
eine abstrakte Idee, wenn
Christus sagt: ihr seid alle Brüder, nicht bloß das
Gesetz einer erhabenen Sittlichkeit, welches er verkündet,
sondern eine unbestreitbare natürliche Thatsache. Ein
Beweis dafür, an den wenige denken, ist die uner meßliche Zahl von Einzelwesen, deren Blut in unsern
Adern rinnt. Wie steht es denn damit? Jede von euch weiß, daß sie zwei Großväter und zwei Großmütter hat; giebt es denn viele, die sich ihrer acht Urgroßeltern
und ihrer sechzehn Ur-Urgroßeltern erinnern? Nehmt einfach die nächsten Verwandten, Brüder und Schwestern
dieser Vorfahren und
ihr seht, welche Menge von
Einzelwesen sich in thatsächlicher Verwandtschaft mit uns befindet.
Ihr seht, daß alle untereinander in
natürlicher Verwandtschaft stehen und daß nur die Unwissenheit in Verbindung mit der rohen Selbstsucht
den Gedanken erzeugen konnte, daß es Fremde unter uns gebe.
Die Kinder dessen, der heute euer Nach
bar ist, sind unabweisbar bestimmt, sich eines Tages
mit den eurigen zu vereinen oder mit ihnen im All tagsleben in Berührung zu kommen: glaubt also nicht,
daß ihr der Zukunftswelt einen ganz selbstlosen Dienst
leistet, wenn ihr euch mit der Kinderwelt überhaupt
beschäftigt. Ihr werdet eure Abkömmlinge lieben und ihnen Gutes wünschen, wie dies das allgemeine Natur
gesetz ist; ihr Wohl wird von ihrer Umgebung ab hängen.
Wenn sie in eine Gesellschaft von Kranken
oder Verbrechern geschleudert werden, wird keine per sönliche Tüchtigkeit sie vom Untergang retten:
die
Vereinzelung, selbst in der Tüchtigkeit, ist nutzlos. In erschreckender Weise hängen wir alle einer vom
andern ab.
Jede schlechte Handlung wird beinahe
immer an einem Unschuldigen gestraft. Jedes Menschen
wesen, dem man nicht zur rechten Zeit die rettende Hand reicht, wird die unmittelbare Ursache endloser
Uebel für uns und vor allem für unsere Nachfahren.
Wenn das Nachbarhaus brennt, ist deines bedroht, glaube es nur, und unter dieser Bedingung sind wir
in diese Welt geworfen, daß Vereinzelung und Gleich gültigkeit gegen die Nächsten unmöglich ist.
Es heißt
also in der That am eigenen Glücke arbeiten, wenn man beim Unglück des Nächsten nicht glücklich sein
kann, denn so sind die Fäden unserer Geschicke wechsel seitig verwoben, daß wir nicht ohne einander existieren
können, was wir auch beginnen. Dieser Zustand wird dauern, solange es eine Menschheit giebt; je mehr wir
also dahin kommen, denen Gutes zu thun, die künftig ihre Glieder sein werden, um so mehr werden wir unsern nächsten Angehörigen einen Dienst leisten, und
ich sage unbedenklich, daß wir unsern Kindern nütz licher sein werden, wenn wir ihnen eine gesunde und glückliche gesellschaftliche Umgebung vorbereiten
als
wenn unser Dichten und Trachten dahin geht, ihnen
ein großes Vermögen zu hinterlassen. ein zweifelhaftes und jedenfalls
Vermögen ist
sehr
zerbrechliches
Glück, das gesellschaftliche Wohlsein ein gewisses und
dauerhaftes Gut. Aber zur Erreichung eines Zieles
genügt der
gute Wille nicht, auch nicht eine edle und erhabene
Gesinnung.
Es ist unerläßlich damit ein eingehendes
Studium der Sache, der man sich weiht, und eine
bis ins Kleine gehende Erforschung alles dessen zu
verbinden, was uns bei dieser Arbeit leiten kann.
Man muß alles, was man gethan hat, berechnen, um sich nicht von seiner Einbildungskraft oder seiner
Unkenntnis fortreißen zu lassen, mcm muß so viel als möglich Einsicht in den Gegenstand
gewinnen.
Ich werde mich also nicht darauf beschränken, euch anzudeuten, was ihr zu thun habt, ich lege Wert darauf, euch zu sagen, warum und wie ihr es meiner
Meinung nach thun müßt, und jeden Rat werde ich möglichst durch Beobachtungen und Beispiele aus der
Welt der Thatsachen unterstützen. Wenn es mir geglückt ist, euch den Wert der
vorliegenden Frage begreiflich zu machen, so bin ich
ruhig über das Ergebnis meiner Ratschläge, wäre es auch nur, daß euch das Auge zu richtigem Blick ge
öffnet wird auf einem Gebiete, auf dem bis heute
die gröbsten Irrtümer als Gesetz gelten.
Klar wie
das Sonnenlicht scheint mir die Lösung der großen
sozialen Aufgabe, welche euch jetzt so nahe angeht,
mit der ihr alle, eure Brüder, eure Söhne, ob ihr es nun wollt oder nicht, befaßt werdet. heißt:
Die Lösung
Pflegt das Kind von seiner Geburt an!
Es
giebt keine Wissenschaft in der Welt, die man nicht
in ihren ersten Anfängen studieren und vollkommen ver stehen müßte, um zu den schwersten Problemen zu gelangen.
Es giebt kein Gebäude, welches der Zeit
und dem Zufall widerstehen kann, wenn sein Grund
nicht sicher gelegt und sorgfältiger als der ganze OberOur oussow. Ueber erste Erziehung.
2
bau errichtet ist. seinem Anfang
So auch im Menschenleben. hängt
seine
ganze Gestaltung
Von ab.
Also muß diese Arbeit vom ersten Tage an unter
nommen werden. Ich weiß wohl, daß es Zeit braucht, um die einfachste Idee zu verbreiten, aber das ent
mutigt mich nicht. Wenn nur einige von euch diese Idee in Herz und Kopf aufnehmen, so sage ich ihnen: Mut, Aus
dauer bis zum Aeußersten, so schwer das auch scheinen
mag!
Jede von euch, der es gelingt, drei oder vier
Kinder in den von mir als gesund angesehenen Be
dingungen aufzuziehen, rettet Tausende von Zukunfts wesen.
Diese meine Mitarbeiterinnen
werden
sich
vielleicht zuerst vereinsamt fühlen in ihrem Werke der
Welterneuerung, aber ihre Leitidee ist richtig, sie wird sich endlich ausbreiten und triumphieren, denn was
ewig wahr ist, behält doch endlich den Sieg.
Nur
braucht es lange Zeit, um die einfachsten Arbeiten zum Gemeingut zu machen, und dafür zähle ich auf euch.
Zwei oder drei Generationen in diesen Ideen
aufgezogen werden ihnen zur Herrschaft verhelfen und
dazu braucht es keine Gelehrten oder Philosophen, sondern die ganze Frauenjugend unserer Tage, ohne
Ausnahme, ohne Unterschied.
Was ich euch sagen
will, ist für jedermann verständlich, und wenn ihr es wollt, so kann, ich bin davon überzeugt, ein großer Fortschritt aus diesen einfachen Studien hervorgehen.
I. Mit der Kinderwelt wollen wir uns also beschäf tigen, d. h. mit der ganzen Menschheit, insofern sie
verbesserungsfähig ist.
Was ist denn das Kind? Es ist die Frucht, das
notwendige Ergebnis der vorangehenden Generationen, es ist der sichtbare Kettenring, der die Vergangenheit an die Zukunft anknüpft.
Es trägt in sich die Folgen
von allem dem, was vor ihm war; in diesem Saat gut giebt es gute und schlechte Körner.
Das einzige
Ziel der Erziehung ist die Entwickelung des guten
Samens und der Kampf mit dem Unkraut.
Das Kind
wird seinen Nachfolgern den Kern seines Wesens über liefern, und unsere Arbeit ist es nur, in ihm das Ge
deihen der wohlthätigen Kraft möglichst zu fördern.
Gerade wie in der Heilkunst jedes Mittel versucht werden muß, um die Kraft der Natur in ihrem Kampfe gegen ein Uebel zu stärken, welches auf gewaltsamem
Wege nicht entfernt werden kann, so muß auch die Erziehung alle ihre Anstrengungen darauf richten, das
Gute in der menschlichen Natur zu stützen, die auch
immer gegen das Ueble zu kämpfen hat.
Das Werk
der Erziehung läßt sich nicht in feste Grenzen ein schließen, es beginnt von der Wiege an mit der Vor
bereitung des Körpers auf den Kampf, den jedes
Menschenwesen von seiner Geburt an zu bestehen hat. Vernünftigerweise wird die Erziehung in einer plan
vollen Verwendung der Hilfsmittel bestehen müssen,
welche sie in der Natur selber findet, und besonders darf sie nicht ein Werkzeug für die Willkür oder die Lieb
haberei des Erziehers sein.
Wenn man in Erziehungs
fragen zum Ziele kommen will, muß man jeden rein
persönlichen Wunsch, jedes Vorurteil beiseite lassen
und nur das Wohl des Kindes ohne jede Nebenbe dingung ins Auge fassen.
Es ist eine kindische und
selbstsüchtige Art der Beschäftigung mit der Jugend, wenn man einem Kinde den eigenen Geschmack, die eigene Beschäftigung, die eigenen Gedanken aufdrängen
will.
Sie führt bald zu Kämpfen, die sehr gefährlich
für den Charakter und die Beziehungen des Kindes zu andern werden.
Die erste unerläßliche Bedingung
ist also die, daß man das Ich mit allen seinen Irr tümern, seinen Vorurteilen und seinen oft recht un vernünftigen Wünschen vergißt und nur das unbe zweifelbare Wohl des Kindes selbst ins Auge faßt. Gleich von Anfang an werden wir sehen, daß wir
selber Entsagung üben müssen, um dahin zu gelangen.
Das einzige Gut ist, wie gesagt, die Gesundheit. Wir werden also damit anfangen, uns mit dem zu be;
schuftigen, was im stände ist, sie uns zu geben, und
später werden wir die greifbaren Ergebnisse dieser Pflege sehen, die trotz ihrer scheinbaren Geringfügig
keit der höchsten künftigen Entwickelung dient. Körperliche und sittliche Gesundheit sind nach meiner Ansicht untrennbare Dinge.
Ich bitte diesen
Grundsatz festzuhalten, denn die meisten Erziehungs fehler kommen von der Meinung her, daß jene beiden
getrennt werden könnten. Beide müssen also von der
Geburt des Kindes an gleicherweise gepflegt werden;
aber in den ersten Jahren bereitet man die gesunde Seele vor, indem man den Körper'pflegt.
Was der
Gesundheit schadet, schadet auch dem Charakter und somit der Sittlichkeit. Wenn man einem ganz kleinen Kinde (von vier oder sechs Monaten) irgend ein Ding giebt, weil es danach schreit, so ist es klar, daß es dieses Mittel
jedesmal anwenden wird, wenn es nach etwas ver langt.
Wenn man eines schönen Tages thatsächlich
außer stände sein wird, ihm den Gegenstand seines Wunsches zu geben, so wird es sich krank schreien, bis es die Stimme, den Schlaf und den Appetit verliert.
Das kleine Gesicht wird von Zorn und Heftigkeit ganz
entstellt sein und sein überreiztes Nervensystem wird das Böse in seiner sittlichen Natur entwickeln, wenn sie auch nur in den ersten Anfängen liegt.
Hat man
aber einem Kinde nein gesagt und giebt in dieser Hin-
sicht nicht nach, so wird es schnell, überraschend schnell das Nutzlose seines Schreiens einsehen, weil die ihm gegenüberstehende Gewalt konsequent bleibt. Uebrigens ist es bei der staunenswerten Beweglichkeit des Kindes
alters sehr leicht, die Aufmerksamkeit des Kindes von
dem begehrten Gegenstände abzulenken, aber immer
nur, wenn man es daran gewöhnt hat, daß seinen Launen nie nachgegeben wird.
Ohne diese Gewöhnung
ist die Hartnäckigkeit, mit der es das Unmögliche will,
in der That bemerkenswert und stellt sich sehr früh
ein.
Wenn man ihm nachgiebt, stört man seine ersten
Vorstellungen von Moral und es fühlt nicht die für-
feine Ruhe notwendige Autorität.
Ich habe dieses
Beispiel angeführt, um zu beweisen, daß die Erziehung
in der That von der Wiege an und nach allen Richtungen
hin gleichzeitig beginnt.
Von allen Wesen der Schöpfung ist der Mensch bei seiner Geburt das ohnmächtigste.
Alle andern
wissen wenigstens sogleich ihre Nahrung zu finden.
Für ihn muß vom Anbeginn des Lebens alles von andern gethan werden.
Man lasse das Neugeborene
an der Seite der Mutter: wenn diese ihm nicht die Brust reicht, würde es sie nicht suchen können, es
würde nicht einmal in eine warme Ecke des Bettes kriechen können imb würde an seinem ersten Lebens
lage umkommen.
Ich nehme an, daß die Natur es
so gewollt hat, weil der Mensch bei seiner geistigen
Überlegenheit über alle andern Wesen eigenen Antrieb
genug besitzt, um sich seiner Nachkommenschaft voll
ständig anzunehmen. Die ersten Bedürfnisse derselben
sind rein tierischer Art, aber es ist von äußerster Wichtigkeit, daß ein vernünftiges Wesen, und zwar
mit aller Kraft der Einsicht und des Herzens sie ihm stillt.
Nackt, zitternd, schwach, hungrig, so kommt das Kind in dieser Welt des Elends an: so muß sie ihm wenigstens bei seinem Eintritt in dieselbe vorkommen.
Sein Leben ist in diesem Augenblick sehr in Frage gestellt und fordert die gewissenhafteste Sorge.
Die
Hälfte der menschlichen Nachkommenschaft stirbt im
ersten Lebensjahre infolge der Unwissenheit der Pfleger und aus Mangel an Pflege.
Je ärmer, je weniger
zivilisiert ein Land ist, um so mehr kommen um.
In
Europa weist Rußland die größte Zahl der Geburten auf und in den ärmeren Schichten, in denen Mütter von zwanzig Kindern keine Ausnahme bilden, kommen
selten mehr als drei oder vier zu Jahren, oft sterben sie
alle in zartem Alter. Mit dem Wachstum des Wohl standes mindert sich diese Sterblichkeit und sie würde noch geringer sein, wenn man die Neugeborenen ver
nünftiger behandelte.
Aber auch in hoch zivilisierten
Ländern wie Frankreich ist die Sorglosigkeit in dieser Hinsicht unbegreiflich. Ich habe diese hohe Sterblichkeits
ziffer oft als ein Glück für einen Staat preisen hören.
Die Starken allein überleben, sagt man, und es ist besser, daß die Schwachen verschwinden.
Ich halte
diese Betrachtungsweise für unbedingt thöricht; sie be
ruht nicht auf einem Gedanken, sondern auf einem
trügerischen Schein,
wie
er so oft in menschlichen
Glaubenssätzen bestimmend wirkt.
Wenn ein Kind in
den Anfängen seines Lebens schwach scheint, so ist das
erstens keineswegs ein Grund, daß es für den Rest seiner Tage kränklich bleibe, und dann fehlt viel daran,
daß die, welche den schrecklichen Anfechtungen ihrer Kindheit widerstehen, immer gesunde und starke Indi
viduen werden.
Oft kränkeln sie jämmerlich dahin während einer Reihe von Jahren und hinterlassen kränkliche Kinder. Diese Pflänzlinge des Elends
dauernswerten Anblick.
gewähren
einen be
Ein allgemeines Verkümmern
scheint diejenigen zu treffen, welche die ersten Jahre
überleben und die nach dem von mir bekämpften Satze
hätten Riesen werden und starke und gesunde Kinder zeugen sollen.
Ansteckende Krankheiten werfen sich
durchaus nicht bloß auf kränkliche Kinder; oft werden
die kräftigen reißend schnell dahingerafft, während die andern für ein schmerzvolles Dasein aufbewahrt bleiben. Beispiele sind in Fülle vorhanden, daß durch die Pflege
ein Kind dem Tode entrissen wurde, der es bei der Geburt zu bedrohen schien, und daß solche Kinder stark wurden und Hervorragendes leisteten.
Viktor Hugo,
der große französische Dichter, dessen Greisenalter von
Leiden ganz frei und blühender war als die Jugend vieler anderer ist, erreichte das dreiundachtzigste Jahr
und doch hielt man ihn bei seiner Geburt für tot,
rang ihn seine Mutter in den ersten Monaten seines Lebens Stunde für Stunde dem unvermeidlich schei
nenden Tode ab.
Die Geschichte ist voll von Bei
spielen dieser Art.
Es ist also unsere Pflicht, jedes
Neugeborene auf das sorglichste zu pflegen, denn vor
ihm finden wir uns gegenüber dem großen Geheim
nis, dem Reiz der unbekannten Größe. dieses künftige Wesen werden?
Was wird
Wir wissen es nicht.
Darum nicht gespart, um es zu erhalten, denn es ge
hört vielleicht zu denen, deren Andenken die Zukunft
segnet. Nur in einem Fall möchte man wünschen, daß
die Kinder nicht am Leben bleiben: wenn sie von brustkranken oder dem Trünke ergebenen Eltern ge boren werden.
Ich
möchte es niemand
wünschen,
solche Kinder zu pflegen: man würde es nicht können. In solchem Falle bedarf es der Ueberwachung durch
Männer von bester wissenschaftlicher Bildung
und
trotzdem zeigen sich bis auf diesen Augenblick diese
erblichen Anlagen stärker als alle Mittel, welche die Heilkunde zu ihrer Bekämpfung ersonnen hat. Unter
allen Krankheiten der Welt fordert die Schwindsucht die meisten Opfer: sie verschlingt ganze Rassen.
Hin-
sichtlich der dem Trünke ergebenen zeigt die Statistik, daß ihre Abkömmlinge den größten Teil der Ver brecher, der Epileptischen und Irrsinnigen stellen. Erst
wenn die Menschen einmal so erzogen sein werden, daß sie im Trünke nicht mehr den verdummenden
Genuß suchen, den sie so gern darin finden, wird
man die Verminderung all dieses Elends erleben.
Ich habe die Schwindsucht und die Trunksucht hier berührt, um auf die bündigste Art zu beweisen,
welche Nolle die Vererbung in der Natur des Kindes spielt. Die Vererbung existiert in der ganzen Schöpfung: das Gesetz der Vererbung vermag allein zu erklären,
warum der Apfelbaum immer Aepfel,
die
Stute
Füllen, die Kuh Kälber hervorbringt und warum jeder
Artunterschied sich bei den Abkömmlingen wiederholt.
Schwieriger ist es,
in der menschlichen Natur die
Unabänderlichkeit dieses Gesetzes zu erkennen, weil sie viel künstlicher geartet ist als alles andere auf der
Erde, und weil die erblichen Einflüsse bei ihr besonders
zahlreich sind.
Beispielsweise besitzt der Mensch, was
den Tieren abgeht, die Ueberlieferung, d. h. die in
Worte gefaßte Erinnerung an die Thaten und Er lebnisse
früherer Geschlechter
und
infolgedessen
ist
die Fülle der Ursachen, die seine Persönlichkeit bedingen,
unberechenbar groß.
Es ist uns
warum ein Neufundländer Hund
leicht
begreiflich,
seinen Eltern so
gleicht, daß er unmittelbar nach dem Abschluß der
Entwickelung ihnen in allen wesentlichen Stücken, in
Neigungen, Gewohnheiten, Aussehen u. s. w. ähnlich wird; wenn seine Eltern ihm die für ihn als Neu fundländer unentbehrlichen Dinge
haben beibringen
können, so haben sie ihm doch nichts darüber hinaus
mitteilen können und lassen ihn im Stich, sobald er stark genug ist, um unabhängig von ihnen zu leben,
da sie sich selber nicht einmal erinnern, daß sie Eltern gehabt haben.
Der Kreis ihres Gedächtnisses, ihrer
Eindrücke, Erinnerungen ist eng begrenzt, und nur
ein Flecken, eine Form, ein natürlicher Trieb zum Jagen oder Rennen, der uns das Dasein erblicher
Besonderheiten
bei den Tieren
beweist,
zeigt
uns
Menschen (denn die Tiere kümmern sich nicht darum), daß ein Pferd oder ein Hund von dem oder jenem
berühmten Ahnen abstammt.
Ganz anders der Mensch. Jeder hat einen Vater
und eine Mutter von ganz verschiedenem Charakter, Aussehen, Gesundheit; in jedem finden sich die Naturen von Vater und Mutter vereinigt.
In den Eltern
findet sich wieder der doppelte Einfluß
Eltern und so fort.
von deren
Wie viel unmittelbare imb oft
einander entgegenarbeitende Einflüsse wirken zusammen, um einen Menschen zu bilden! Es ist also vollständig
unmöglich, den Ursprung aller Eigenheiten eines Kin des wiederzufinden, denn diese Arbeit übersteigt die
Kraft
eines einzelnen;
aber was auch die Fehler,
Vorzüge oder Eigenheiten sein mögen, die man an ihm findet, sicherlich ist alles dies ererbt und hat seine
Berechtigung in den Ahnen, von denen es abstammt.
Ist dieser Grundsatz einmal reiflich erwogen und an genommen, so ist er uns eine treffliche Hilfe, um allerlei Fehler zu vermeiden und zu erkennen, daß
alle die Verschiedenheiten der Charaktere nicht als persönliche oder willkürliche Unregelmäßigkeiten zu be trachten sind.
Einige Andeutungen über die körperliche Gesund
heit und den Charakter der Eltern und sogar der Großeltern sind ja leicht zu erhalten und werden uns von erheblichem Nutzen sein.
Wer Kinder hat, dem
empfehle ich, daß er sich selbst wohl beobachte, um zu
wissen, was er wahrscheinlich an seinen Kindern zu
bekämpfen oder zu unterstützen hat.
Wer aufrichtig
seine eigene Natur studiert, wird sehen, wie verwickelt sie ist; das trifft für jeden zu.
Verschiedenartige An
lagen stoßen und kreuzen sich massenhaft, und wenn niemand von sich rühmen kann, daß er unbedingt gut sei,
so darf auch niemand klagen, daß er vollständig schlecht sei.
Diese Menge verschiedenartiger Keime ist in der
That ein Glück.
Sie läßt die Hoffnung zu, daß
man bei verständigem Verfahren immer ein paar gute
Keime zu
pflegen
findet.
So werden wir
dahin
kommen, nicht mehr allzusehr zu erschrecken über das, was wir als Erbe von uns in den Kindern sehen,
und wir werden hoffen, daß sich das gute Erbteil
auch entwickeln wird. Man beginne also dem Neugeborenen die ein
fachste, aber ganz gewissenhafte und zu seiner Erhal tung notwendige Pflege angedeihen zu lassen.
Es
friert zunächst beständig, denn es kommt aus einem
warmen Heim und gewöhnt sich nur nach und nach
an die verhältnismäßig kalte Luft sogar eines warmen Zimmers.
Alles an ihm ist zerbrechlich und zart:
Glieder, Organe, Haut.
Das Geschrei, das es bei
seinem Eintritt in die Welt ertönen läßt, ist
ein
Zeichen von Kraft und eine ausgezeichnete Uebung,
um seine Lungen an die neue Aufgabe zu gewöhnen, Luft einzuatmen, ohne darunter zu leiden.
Wenn
das Kind sehr zart ist, muß man ohne Zaudern zur künstlichen Erwärmung schreiten: sein Leben hängt da von ab.
Ich habe selbst in meiner Familie Zwillinge Später wurden sie
gesehen, die äußerst zart waren.
sehr starke Kinder. Wenn sie sich bis 311 diesem Grade entwickelt haben, so verdanken wir das der Sorgfalt
eines ausgezeichneten Arztes,
der ihnen bei einer
Zimmerwärme von 160 Wärmflaschen (Steinkruken) von 30° N. ins Bett legen ließ.
Man ließ ihnen
das Gesicht unbedeckt, um sie an die Einatmung nor
maler Luft zu gewöhnen. lang fortgefahren.
Damit wurde sechs Wochen
Dann wurde die Wasserwärme
allmählich verringert, aber bis nahezu zum vollendeten
zweiten Jahre wurden sie nur sehr warm gebadet, was nicht verhindert hat, daß sie sich hinterdrein ans kalte
Wasser und seinen
beständigen
Gebrauch
gewöhnt
haben. Es wäre also großes Unrecht, die Abhärtung des
Neugeborenen zu überstürzen.
Man gebe ihm erst
Kräfte und es wird alles aushalten können.
Nichts
ist leichter, als ihm Wärme zuzuführen, denn man kann es immer einhüllen, müßte man ihm auch den
eigenen Mantel opfern, und ihm Wärmkrüge an die
Seite legen.
Unglücklicherweise
ist es schwerer, der zweiten
ebenso unentbehrlichen Lebensbedingung zu genügen. Reine und frische Luft ist der Luxus einiger wenigen Bevorzugten.
Beinahe das ganze Menschengeschlecht
ist verurteilt in einer von allen möglichen schädlichen
Keimen verderbten Luft herumzuschleichen. Der Mangel an Geld macht sich besonders darin bemerklich, daß es um seinetwillen an Luft, Licht und Spielraum
fehlt.
Aber die Sorglosigkeit ist ebensosehr schuld
an diesem Uebel wie die Armut. Die Unbekanntschaft
mit den notwendigsten Lebensbedingungen kann allein die abscheuliche Vergiftung erklären, welcher die armen Schichten der Bevölkerung in ihren Heimstätten unter
liegen.
Dieselben sind ein wahrer Pestherd, an dem
die Krankheitskeime sich unter ganz besonders günsti gen Bedingungen entwickeln.
Die Fenster auf!
Die
frische, selbst die kalte Luft schadet nie, vorausgesetzt,
daß der Körper genügend bedeckt ist.
Im Gegenteil,
sie ist die große Wohlthäterin, die Gesundheit selbst. Es werden Vorhänge und Teppiche,
die nicht be
ständig geklopft und gewaschen werden, zu einer be ständigen Krankheitsquelle — man lasse sie doch ver
schwinden, das wird in vielen Fällen leichter sein als sie zu reinigen. Die Sterblichkeit der Dorskinder ist ebenso
groß wie die der Stadtkinder.
Man sollte erwarten,
daß sie geringer sei, aber dieselben Feinde, die Nicht erwärmung hier und die verdorbene Luft da verfolgen
die Kinder auch auf dem Lande.
Wenn in nördlichen
Ländern eine Familie von sechs oder sieben Köpfen (oft mit den Haustieren obendrein) im selben Zimmer
lebt, in dem ganze Monate hindurch die Luft nie erneuert wird, so darf man sich nicht wundern, wenn sich Epidemien auf diese allzubereite Beute stürzen, und die jüngsten, d. h. die schwächsten zuerst weg
raffen.
Aber selbst da, wo der Wohlstand eine an
dere Lebensweise gestattet, wacht man nicht im ent
ferntesten hinreichend über die Luft im Kinderzimmer und doch möchte ich ohne alles Bedenken an den
Schluß dieses Kapitels die Behauptung setzen, daß die Warmhaltung des Körpers und die Reinheit der
Luft viel mehr Kinder retten würden, als die Aerzte in Krankheitsfällen es können.
Wenn man die Leute
überzeugen könnte, daß es viel leichter ist, Krankheiten
zuvorzukommen,
als sie zu heilen,
sicherlich alle über diese einfachen sundheitslehre unterrichten.
so würde man Gesetze
der Ge
Die Unbekanntschaft mit
dieser ersten Pflege kann ein schlimmeres Uebel er zeugen,
als den Tod: sie kann das Kind während
seiner ganzen Jugend, vielleicht während seines ganzen
Lebens kränklich machen, und sicherlich besteht das Glück doch
Leben.
nicht im Leben, sondern im
gesunden
Gebt den Kindern diese Wohlthat, es ist die
einzig wahre Wohlthat. Spart nichts für diesen Zweck von seiner Geburt an, das ist besser, als ihm ein Ver
mögen zu hinterlassen, welches nie über eine wankende
Gesundheit tröstet.
Und man glanbe nicht, daß für
die hier empfohlene Pflege viel Geld nötig ist.
Geld
ist im ganzen nicht so mächtig wie man denkt: Pflege,
Liebe und Kenntnis der notwendigen Lebensbedingungen, das sind die unerläßlichen Voraussetzungen.
Die Lust
zu erneuern, die Stube zu reinigen, sie frei zu machen
von den Gegenständen, in denen verderbenbringende
Keime sich angehäuft haben, das fordert keine Kosten, wohl aber spart es große und viele Kosten, die noch
dazu keineswegs ein ebenso sicheres Ergebnis herbei
führen dürften.
II. Wenn dem Kinde Wärme und Luft, seine beiden
besten Schutzwächter in der ersten Lebenszeit, gesichert
sind, muß man gleich an seine Nahrung denken. Die einzige ihm vollkommen zuträgliche ist die
Muttermilch.
Jede Frau, die sich ohne zwingende
Notwendigkeit diesem natürlichen Dienste entzieht, ver
ursacht ihrem Kinde erheblichen Schaden.
Alls jeden
Fall ist die Muttermilch immer besser als alle Saug
flaschen
und
letzteren
erheischen
künstlichen
eine
Diese
Ernährungsmittel.
nur * schwer
zu
erzielende
Sorgfalt der Behandlung, während die Milch der
Mutter in der regelmäßigen Wärme und Zusammen setzung sich findet, wie sie für das Wesen, das sie
geboren hat, erforderlich sind.
Wenn die Mutter sehr
leidend ist oder nicht die hinreichende Menge Milch besitzt, so wird man sie offenbar das Stillen des Kindes nicht fortsetzen lassen, aber sie wird es beinahe immer wenigstens für die erste Zeit thun können und,
wenn es ein Arzt für unmöglich erklären sollte, so
wird eine gesunde Amme zu suchen sein.
Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
Besonders 3
darf man nie das Kind zum Aufziehen weit von sich geben; auf diese Weise gehen bekanntlich alljährlich
in Frankreich Tausende von Kindern zu Grunde.
Ist
es ganz unmöglich, eine gute Amme im eigenen Hause zu halten, so wird man allerdings zur künstlichen
Ernährung greifen müssen, aber das ist doch immer
ein Notbehelf.
Die größte Reinlichkeit, die peinlichste
Einhaltung der Zeit, die beständige Gleichheit des Wärmegrades sind in diesem Falle Tag und Nacht zu beobachten, und ich gebe zu bedenken, daß es in den meisten Fällen sehr schwer ist, alle diese Bedin
gungen zu erfüllen, denn hier kann nur der Wohl stand alle die unbedingt erforderlichen Vorkehrungen schaffen.
Jede Mutter möge also versuchen' selbst zu
nähren.
Wenn das Stillen in unserer Zeit eine so
unangenehme Sache geworden ist, so ist es dazu nur
durch die unrichtige Art geworden, mit der man bei
der Ernährung des Kindes verfährt.
Abgesehen von
der allerersten Zeit, in der die Schwäche mitunter
das Kind hindert, sich auf einmal satt zu trinken, darf man ihm die Brust nicht öfter als alle zwei
Stunden reichen, und wenn es ungefähr drei Monate
alt ist, alle drei Stunden und es auch niemals bei Nacht wecken, um sie ihm zu reichen.
Das Sprich
wort vom Schlaf, der so viel wert ist wie Nahrung, ist vor allem auf dieses Alter anzuwenden.
Bald
wird man ihm überhaupt (abgesehen von Krankheits-
fällen) in der Nacht von Mitternacht bis 7 Uhr die Brust nicht mehr reichen.
(Sine Mutter oder eine
Amme muß auch selber gut schlafen sowohl im In
teresse des Kindes wie in ihrem eigenen.
Die Milch
einer immer müden, von Schlaflosigkeit entkräfteten Frau wird ungesund und unverdaulich.
Die Natur
hat aus der Ernährung des Kindes keineswegs eine
Quelle der Erschöpfung für die Mutter machen wollen.
Jin Gegenteil, wenn sie gut geregelt ist, muß sie der
Gesundheit zuträglich sein, weil sie ein- ganz und gar natürlicher Vorgang ist.
Es handelt sich nicht allein
darum, das Neugeborene zu nähren und zu'pflegen. Es wird seiner Mutter später noch ganz anders be
dürfen und überdies ist es nicht das einzige Kind: alle haben sie nötig.
Für die Mutter ist es eine ge
bieterische Pflicht, ihre Gesundheit zu pflegen und sie nicht durch eine falsche Auffassung von Mutterpflicht zu gefährden.
Da gilt es, die ruhige Vernunft an
die Stelle der weichen Empfindsamkeit treten zu lassen und der Lust zu widerstehen, jeden Schrei des Kindes
dadurch zu stillen, daß man es alle Augenblicke an die Brust legt. Mit gleicher Sorgfalt wie über Wärme, Luft
und Nahrung muß man über die Reinlichkeit des
Kindes wachen.
Man muß es nie in schmutzigen oder
nassen Windeln lassen, und wenn man von Anfang
an nie verfehlt, sie im Bedürfnissalle gleich zu wechseln,
so wird es nicht nur selber schreien, um diese Wohl that zu fordern, sondern seine Erziehung wird sich
auch in dieser Beziehung viel leichter machen, wäh rend dem in Hinsicht auf die Reinlichkeit vernach lässigten Kinde unsaubere Gewohnheiten oft sehr schwer abzugewöhnen sind.
Dann wird man ärgerlich und
nimmt seine Zuflucht zu Strafen, während man selber die Ursache dieser Fehler ist.
Tägliches Baden ist
ausgezeichnet, aber man muß sich dabei sehr in acht nehmen, um Erkältungen zu vermeiden; darum möchte
ich unmittelbar nach dem Bad eine sanfte, aber ziem
lich anhaltende Abreibung mit Flanell empfehlen, bis der ganze Körper rot wird.
Ueberhaupt möchte ich
die Abreibung als die beste Kur für alle Lebensalter,
besonders aber für Kinder empfehlen. Leibweh, Schnup
fen, alle diese bei Kindern allgemeinen Unpäßlichkeiten
müssen durch Abreibung mit trockenem Flanell be handelt werden.
Alle Krankheiten beginnen mit einem
Sinken der inneren Temperatur; durch die Abreibung wird dem Blute seine regelmäßige Bewegungsschnellig
keit wiedergegeben, und da bekanntlich Wärme und Bewegung dasselbe ist, so ist leicht ersichtlich, wie
kostbar und wie leicht erreichbar für jedermann dieses
Mittel, sei es als Vorsichtsmaßregel, sei es als Heil mittel, ist. Sobald man kalte Waschungen anwendet, was man beiläufig gesagt nicht vor dem ersten Zahnen
und nur bei sehr kräftigen Kindern thun sollte, ist es
unumgänglich nötig, den ganzen Körper rasch mit einem
rauhen Stoffe oder einer Biirste zu reiben. Was für Kleidung man auch immer dem Neu geborenen anlegt, sie muß weit, bequem und leicht
auszuziehen sein und darf in keiner Weise seine Be wegungen hindern.
Das Kind muß Arme und Beine
nach Belieben bewegen können.
Muskeln und Glieder
entwickeln sich auf diese Weise ganz natürlich und die
Idee, sie mit Wickelbündern zu umhüllen, ist thöricht,
denn man nimmt dem Kinde das einzige natürliche
Mittel, den Blutumlauf wiederherzustellen und sich zu
stärken.
Das in den unteren Klassen so häufige enge
Einschnüren der Kinder, das jetzt noch überall ebenso verbreitet ist, wie es uns die Bilder aus den letzten
Jahrhunderten zeigen, ist eine Gewohnheit, die sich
zäh erhalten hat aus der Zeit, in der unsere Väter Nomaden waren und in der man gezwungen war, die Kinder weit zu transportieren.
In diesem Fall ist
es sicherlich viel bequemer, sie gut eingeschnürt zu
haben, aber die Glieder verkümmern und verkrüppeln. Ich mißbillige auch alle eleganten Moden für Kinder,
jene mit Agraffen und Knöpfen besetzten Kleider. Man
hat sie zur Befriedigung unserer eigenen Eitelkeit er funden.
Ein kleines Hemd aus altem Leinen, an der
Seite mit einem oder zwei Bändern gebunden, ein weiter und langer Flanellrock, den man leicht aus-
und anziehen kann, recht viele Windeln, welche die
Beinchen frei lassen, das scheint mir der Anzug, der dem Kleinen selber am besten gefallen wird; in seiner
Wiege eine große Gummiunterlage, welche die Feuch tigkeit von der Matratze abhält, das wird die für sein Gedeihen wirklich notwendige Bequemlichkeit vervoll ständigen.
Wenn das Zimmer nicht zu feucht ist,
kann man es bald gewöhnen, mit bloßem Kopf zu
liegen, auf jeden Fall muß der Kopf immer weniger bedeckt sein als der übrige Körper, denn das Blut
steigt ihm beim Schreien leicht zu Kopf.
Doch möchte
ich für die ersten Monate eine sehr leichte Mütze aus
alter Leinwand vorziehen, welche verhindert, daß die Ohren, wenn es auf der Seite liegt, sich vorbiegen und dann wie Fledermausflügel aussehen, was sehr
häßlich ist und vielleicht einen Einfluß auf die Ent wickelung des Gehörs und sogar des Gehirns hat.
Augen und Ohren sind bei der Geburt äußerst zart und müssen stufenweise für ihre Thätigkeit vor
bereitet werden.
Still muß es sein um das Neuge
borene, besonders während seines Schlafes, und ebenso
vollkommen dunkel.
Man muß sich hüten, selbst leise
zu ihm zu sprechen und in seiner Nähe während seines
Schlafes zu viel zu flüstern.
Wenigstens einen Monat
lang vertragen seine Sinne weder starkes Licht noch
starkes Geräusch.
Wenn es also ältere Kinder im
Hause giebt, darf man es nicht im selben Zimmer mit ihnen halten, denn sie werden es sicher stören.
Lieber läßt man es bei seiner Mutter, die in jener Zeit auch Stille und Dunkel und vor allem unbe dingte Ruhe nötig hat.
Eine verständige Frau wird
sich wenigstens drei Wochen so pflegen, und erst nach dieser Zeit kann man das Neugeborene allmählich an
die gewöhnlichen Lebensbedingungen gewöhnen, aber immer muß man zu starkes Geräusch vermeiden.
. Seine erste unwillkürliche Bewegung sucht nach dem Lichte.
Dasselbe darf also niemals hinter ihm
oder an der Seite sein, so daß das Kind genötigt
wird zu schielen oder das Gesicht zu verziehen, um es zu finden.
Wenn es schläft, wird sein Kopf immer
nach der Seite des Lichtes gewendet sein, dessen Hellig
keit man vorsorglich durch einen Vorhang oder Licht schirm dämpfen wird.
Wenn es sich gegenüber zu
starkes Licht hat, kann es leicht die Sehkraft ver lieren, obgleich dieses in den ersten Zeiten nach der Geburt sehr häufige Unglück am öftesten von einer
Erkältung oder von einem Mangel an Reinlichkeit herkommt.
Wenn man ihm die Augen nicht gut aus
wäscht, setzt sich die Feuchtigkeit dort fest; bei der ge ringsten Erkältung giebt das eine Entzündung, eine
Augenkrankheil, und so bildet sich der Zustand der „Blinden von Geburt", wie man sie nennt, die nur
in den armen Klassen vorkommen und die fast immer in ihrem ersten Jahre blind geworden sind.
Das Bett oder die Wiege muß hoch genug über
dem Zimmerboden sein, um den kalten Luftzug zu
vermeiden, der in dem unteren Teil der Stube immer
stärker ist, weil die warme Luft nach oben strebt, so
daß die kälteste Partie die ist, welche den Dielenboden berührt.
Man lege sich nur auf den Boden und
dann in demselben Zimmer auf einen Schrank, um sich davon zu überzeugen.
Keine Vorhänge um das
Bett, aber warme Decken, die das Kind von allen
Seiten einhüllen. Ich bin ganz gegen Schaukelwiegen
und gegen jede einschläfernde Bewegung.
Ich weiß,
daß es mit wenigen Ausnahmen keine Amme, keine
Kinderwärterin, keine Mutier giebt, die darin mit mir übereinstimmt. Das hindert mich nicht, für meine Ansicht das Prädikat der Richtigkeit in Anspruch zu
nehmen, und ich möchte es gern beweisen, denn ich
bin überzeugt, daß das poetische Wort „Wiegen" in der That eine barbarische Handlung bedeutet, eine
der verhängnisvollsten auf dem Gebiet der Kinderpflege. Von allen Organen ist in diesem Alter das Ge
hirn das reizbarste, demnach das schwächste. ungemein zart.
Es ist
Nun bedenke man, daß in den ersten
Jahren die Schädelnähte nicht einmal geschlossen sind
und daß nur der Knorpel die Schüdelhälften verbindet.
In dieser Zeit ist das Gehirn nur zu unbewußter Thätigkeit berufen.
Andererseits wird es in Zukunft
das wichtigste aller Organe sein, denn ohne daß ich
in Erörterungen über die dunkle Frage von der Her-
fünft der Vorstellungen, der Empfindungen, der Leiden
schaften eintreten möchte, wissen wir doch so viel ganz genau, daß eine Gehirnkrankheit uns alles das rauben kann, was das menschliche Wesen ausmacht, die Fähig
keit, zu empfinden und zu denken, das Gedächtnis,
das Talent, sogar das Bewußtsein.
Ist dieses In
strument einmal verstimmt, so stirbt alles das und nur unser tierisches Leben dauert fort, ohne Genuß
und ohne Zweck, die schrecklichste aller Lagen, in denen man sich befinden kann, ein essender, schlafender, sich
bewegender Leichnam.
Kein Teil unseres ganzen Or
ganismus muß also mit solcher Sorgfalt behandelt werden, wie dies Zentralorgan.
Wenn man seine
Aufgabe in unserer Persönlichkeit versteht, so wird es
klar, daß wir alles das kennen und vermeiden müssen, was es erschüttern oder verstimmen kann.
Wenn man
mm das Kind in den Armen oder in der Wiege
stundenlang
schaukelt, so wirken diese wiederholten
Stöße auf das Gehirn und ermüden es bis zur Ver
dummung.
Aber offenbar bringt diese Betäubung eine
angenehme Empfindung hervor, wie später die nar
kotischen Mittel, die darum doch nicht minder Gift sind, und hat das Kind fte einmal gekostet, so fordert es sie mit lautem Geschrei.
Man lasse sich also nicht
aus Schwäche oder sogenanntem Mitleid zur Anwen
dung dieses falschen Beruhigungsmittels verleiten, son dern wenn das Kind schreit anstatt zu schlafen, so
glaube man nur, daß das seinen Grund in irgend
einer Schmerzempfindung hat, und suche sorgfältig nach ihrer Ursache.
Der natürliche Zustand des Neugeborenen ist,
daß es den größeren Teil seiner Zeit verschläft.
Es
wacht nur auf, um sich zu nähren, sich zu dehnen und
ein wenig mit Armen und Beinen zu spielen.
Es
schreit, weil es Hunger hat oder sich beklagen will;
wenn es gesund ist, so reicht zu seiner Beruhigung hin, daß man es umlegt und ihm seine Nahrung reicht, und schnell schläft es von neuem ein.
Wenn es
schreit, um seine Lungen zu üben, so verzieht sich sein
Gesicht nicht und man braucht es nur gewähren zu lassen.
Aber wenn
es trotz scheinbarer Gesundheit
ganze Stunden lang fortfährt zu schreien, so wird es sicher von irgend etwas gequält.
Das Geschrei ist
das einzige Mittel, sein Leiden auszudrücken, es fühlt
sich
unwillkürlich
hilfsbedürftig.
Es
giebt
nichts
Rührenderes und Traurigeres, als zu sehen, wie das
arme Kleine sich abquält, diese Hilfe zu fordern und dabei doch so völlig unfähig ist, ein Zeichen zu geben.
Das Gesicht wird blau, Mund und Kehle werden trocken, dicke Thränen rollen über das kleine Gesicht,
welches dann einen sonderbaren greisenhaften Ausdruck bekommt.
Niemals schreit ein Kind von diesem Alter
aus Laune.
Man glaube nur in dieser Hinsicht keiner
Wartefrau, die thöricht genug ist, das zu sagen.
Wir
wollen lieber unsere Einsicht in seinen Dienst stellen,
um die Ursache seines Leidens zu finden.
Mit ein
wenig Geduld wird es gelingen.
Zuerst sehe man nach, ob es friert, ob es von irgend etwas in seiner Kleidung oder seinem Bettchen
gedrückt oder gekratzt wird.
Wenn seine gairze Hülle
in gutem Stande ist, so kann es unwohl sein, es kann sich erkältet haben oder auch, und das ist ein
sehr häufiges Uebel, es hat Leibschmerzen.
Man be
geht vielleicht in der Ernährungsweise einen Fehler oder es ist vielleicht verstopft.
Darüber muß man
sorgsam wachen und es nicht 24 Stunden in diesem
Zustande lassen.
Nur muß man ihm keine Abführ
mittel geben, sondern schwache Klystiere von lauem
Wasser.
Aber wenn nun das Geschrei anhält, nach
dem man alles in Betracht gezogen hat, was wird man dann thun?
Nun, in diesem Falle komme ich
auf das Mittel zurück, das ich schon angedeutet habe, die Abreibungen.
Man reibe ihm
besonders
den
Unterleib, denn dort muß wohl der Sitz des Uebels
sein, einer Blähung oder einer Verdauungsstörung;
man reibe es sanft, aber anhaltend, man reibe ihm den Rücken, die Beine, die Brust.
Man wird sehen,
daß dies zu seiner Beruhigung beiträgt, wenn es sich
um eine vorübergehende Unpäßlichkeit handelt.
Aber
besonders wiege man es nicht und nähre es nicht zu
ungelegener Zeit; es leidet an Magenweh und man
stopft es, gerade als wenn man uns während einer
Verdauungsstörung immer Bonbons
lutschen lassen
wollte, indem man so das Organ immer mehr quält, welches gerade gebieterisch Ruhe verlangt.
Sobald das Wetter es erlaubt, muß man das Kind av die Luft bringen.
Man braucht es mit
warm einzuhüllen, ihm das Gesicht mit einem Schleier oder einem Tuche zu bedecken und es auf einem Kissen zu tragen, das mit Bändern besetzt ist, welche um
seinen Leib gebunden werden, um Stöße oder Unfälle
abzuwehren. Wenn die Sonne scheint, muß man einen
Sonnenschirm über seinem Kopfe aufspannen
und
übrigens das Kind nie nach Sonnenuntergang draußen
lassen.
Bei schönem Wetter kann man im Sommer
sein Bettchen in die freie Luft bringen und es dort
schlafen lassen.
Je mehr es an der Luft ist, um so
mehr wird es zunehmen.
Ehe das Kind seinen Kopf nicht aufrecht halten kann,
muß man
es vorsichtigerweise immer wage
recht liegen lassen, und wenn die Wirbelsäule sich hin
reichend gestärkt hat, um den Kopf aufrecht zu halten,
so darf man es nur unter der Bedingung auf den Schoß setzen, daß das Rückgrat von dem Arm oder
der Brust der tragenden Person hinreichend gestützt ist.
Wenn man den Körper ohne Stütze schwanken
läßt, kann das Rückgrat leicht eine Krümmung oder
seitliche Ausbiegung erleiden.
Die Natur ist hierin
unsere beste Führerin.
Sobald das Kind die Kraft
hat, aufrecht zu sitzen, thut es dies von selbst, ohne
Schwierigkeit, und wir brauchen es nur gewähren zu lassen.
Wenn man es sich selbst überläßt und es
immer liegen bleibt, so thut es das, weil der Zustand seiner Kräfte und seiner Muskeln es fordert. In dieser
Lage wird es anfangen alle möglichen Bewegungen zu machen, wird sich von einer Seite auf die andere,
auf den Rücken oder auf den Leib drehen. Vermöge der unglaublichen Biegsamkeit seiner Glieder kann es
sie in allen möglichen Arten krümmen:
zum Ver
gnügen steckt es die große Zehe in den Mund — alles das ist ihm natürlich, also wohlthätig.
Aber wenn diese Glieder auch biegsam sind, so darf man niemals vergessen, wie sehr zerbrechlich sie sind.
Armbruch oder Armverrenkung kommt bei einem
Kinde weit öfter vor als man es denkt, sei es beim
Anziehen eines
jener
ausgeschnittenen Kleider, die
eine Marter für das Kind sind, sei es indem man es auch ohne heftige Absicht bei einem Arme zieht,
und die Folgen eines solchen Unfalls sind sehr schlimm. Lebenslängliche Schwäche oder Verkümmerung eines Gliedes tonnen die Folge davon sein.
Es ist also
besser, es möglichst wenig anzufassen. Stille und Ruhe
in seiner Umgebung wird seine beste Wärterin sein. Schreien, Lachen, heftiges Gerällsch jeder Art wirkt viel zu stark auf sein Nervensystem ein. Aus solcher
Ueberreizung kommt die Heftigkeit, kommen die Launen, welche das Gleichgewicht stören und das Kind, indem sie es schwächen, zur Beute von Krankheiten und allen
möglichen Gefahren machen,
die
sein
zerbrechliches
Dasein bedrohen. Der Instinkt sagt ihm gar schnell, ob es in den Personen seiner Umgebung die nötige
Stütze hat, der es sich gern überläßt. erste moralische Bedürfnis
Das ist das
seines Lebens
und von
dieser Altersperiode an kann man es dem Gesichtchen
ansehen, ob es zufrieden ist. Man sehe doch nur den fröhlichen
und
lieblichen Ausdruck in
dem Gesicht
eines gesunden kleinen Kindes; es lächelt, es macht
Brümmerchen, es schläft mit einer Glückseligkeit, die uns an die alte Erzählung erinnert, nach welcher das Kind im Schlafe mit den Engeln Zwiesprache hält. Beinahe immer kann man dem Kinde eine glückliche
Zukunft voraussagen, welches diesen Ausdruck lange
beibehält; er ist das Ergebnis des innern Ebenmaßes und Gleichgewichts, das ihm ein ruhiges und gesundes
Dasein verbürgt.
Welcher Gegensatz zu der stumpfen,
launischen, leidenden Art des Kindes, Lebenstage unverständigen oder
dessen
sorglosen
erste
Pflegern
überantwortet sind, die da glauben, für dieses Alter
gebe es noch nichts Wichtiges.
Aber, ihr Unglücks
menschen, seine ganze Zukunft hängt ja gerade von dem Zustand ab, in dem es sich in diesem Lebens
alter befindet!
Wenn ihr die Wichtigkeit dieser ersten Pflege
begreift, werdet ihr diese kleinen Einzelheiten nicht für kindisch halten. Sie würden uns aufreiben, wenn wir nicht hinter ihrer scheinbaren Wertlosigkeit den großen Zweck sehen, dem sie dienen sollen. Ich glaube
fest, daß jede Frau, welche diese kleinen Handlungen der Hingebung in jeder Stunde neu übt, reichlich be
lohnt wird durch den Anblick wahrhafter Wunder
dinge, die aus gar kleinen Mitteln hervorgehen, und
durch die Leichtigkeit, mit der sich die angeblich so furchtbare Aufgabe der Erziehung auf diesem ange messen vorbereiteten Boden lösen läßt.
III. Solange
das Kind
keine Zähne hat, ist
die
Muttermilch die einzige angemessene Nahrung, aber sobald sie durchgebrochen sind, muß man anfangen,
es an das Ertragen anderer Nahrung zu gewöhnen, denn ihr Erscheinen ist das Zeichen dafür, daß sie be
schäftigt werden müssen.
Man wird dem Kinde zuerst
Süppchen und Haferschleim reichen, um es allmählich dahin zu bringen, daß es ißt wie jedermann.
Im
Augenblick der Entwöhnung muß es die Veränderung
der Lebensweise ertragen können, ohne darunter zu
leiden. Sobald es zu kriechen anfängt, muß man es auf
einem Teppich am Boden lassen, indem man alles
entfernt, wodurch es sich verletzen könnte, und es möglichst wenig tragen.
In vielen ärmeren Haus
haltungen sieht man die älteren Schwestern zwei- oder
dreijährige Kinder auf den Armen schleppen.
Nichts
kann einem im Wachstum begriffenen jungen Mädchen mehr schaden, als solchergestalt ein so beträchtliches Gewicht zu tragen; das kann die schwersten Störungen
in seinem Organismus bewirken und schadet nicht
Es unterliegt dabei hunderterlei
minder dem Kinde.
Gefahren.
Eine der schwersten ist die, daß es fällt;
die Mehrzahl der Verwachsenen verdankt ihre traurige Verunstaltung einem derartigen Unfall.
Außerdem
befindet sich das Rückgrat des Kindes nicht mehr in
normaler Lage, wenn das Kind stundenlang auf dem
Arm getragen wird.
Die Natur zeigt uns hier wie
fast immer, was wir zu thun haben. Weil das Kind
im stände ist zu kriechen, so laßt es doch sich darin
üben.
Wenn es am Boden ist, bricht es und ver
unstaltet es sich kein Glied;
wenn
es
sich
legen
will, legt es sich, wenn es strampeln will, kann es
das thun. ' Ebenso ist es mit dem Gehen.
Wenn
eines schönen Tages Rückgrat, Kreuz und Schenkel stark genug sind, um den Körper aufrecht zu halten,
dann wird es sicherlich dem Kinde das. größte Ver
gnügen sein, euch zu zeigen, daß es sich seiner Füße
bedienen kann. Alle Vorrichtungen, um dem Kinde das Laufen beizubringen, laufen dem gesunden Menschen verstand zuwider.
Wenn es nicht von selber in der
normalen Zeit Anstalten zum Laufen macht, so hängt
das mit Gesundheitsursachen zusammen. Dann handelt
es sich nicht darum, es zum Laufen zu zwingen, son
dern dem Uebelstande abzuhelfen, welcher es daran hindert.
Sobald das Kind auf allen vieren sich fortzubewegen beginnt, in der Zeit vom sechsten bis neunten Monat, Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
4
muß man die langen Kleider beiseite lassen, aber darum nur noch sorgfältiger auf warme Kleidung
achten, weil die Luftschicht am Boden kälter ist als in Kniehöhe oder in der Höhe des Bettchens.
Die
thörichte Gewohnheit, dem Kinde Arme und Beine bloß zu
lassen, ist die Quelle von tausend Kinder
krankheiten und besonders von Verdauungsstörungen, welche so oft die Zeit des Zahnens und der Ent
wöhnung begleiten.
Wenn es ein kurzes Kleid von
dickem Flanell trägt, das ihm Schultern und Arme
gut bedeckt, warme und lange Strümpfe und bequeme
Schühchen, so kann es sich vollständig frei so bewegen, wie es seinem Alter zukommt.
Man vergesse niemals, daß eine wirkliche Gefahr darin besteht, ein Kind dieses Alters sich selbst oder
andern Kindern zu überlassen.
Dieser Mangel an
Vorsicht, für den freilich die Eltern mitunter nicht ganz verantwortlich sind, weil sie oft ihre Kinder verlassen müssen, mit für ihren Lebensunterhalt zu
arbeiten — dieser Mangel an Vorsicht führt zahl reiche Unglücksfälle herbei, wie man in den leider
viel zu häufig wiederkehrenden Geschichten der ver
mischten Nachrichten in unsern Zeitungen sehen kann. In einem Dorfe sollte man sich dahin einrichten, daß
abwechselnd eine Frau alle Kinder zusammen bewahrt,
wie man dies in den Krippen thut.
Das ist eine
unbedingt zu treffende Einrichtung, denn die Kinder
thun sich nicht nur selber Schaden,
wenn sie ohne
Ueberwachung sind, sondern sie stecken, wie wir es all zuoft sehen, ein ganzes Dorf in Brand.
Eine derartige
Einrichtung bietet ein treffendes Beispiel von dem
Vorteil der Genossenschaft und der gegenseitigen Hilfe.
Ich warte deine Kinder heute, du die meinigen morgen; so kann jede die notwendige Arbeit fortsetzen und
nimmt endlich an fremden Kindern ebenso warmen
Allteil wie an den eigenen.
Während dieses ersten Jahres vollzieht sich die Entwickelung des Kindes mit einer in jeder Beziehullg unerhörten Schnelligkeit.
Ein einjähriges Kind hat
schon einen großen Erfahrungsvorrat.
Es kennt die
meisten Gegenstände seiner Umgebung und sogar ihre Anwendung.
Wenn seine Erziehullg gut geleitet ist,
so weiß es auch, daß es nicht ungestraft ungehorsam
sein darf.
Ich habe schon gezeigt, daß es leicht dahin ge bracht werden kann, nicht zu schreien, imt einen Gegen
stand seines Verlangens zu erhalten, vorausgesetzt, daß seine Erzieher bei ihrem Grundsatz verharren und dem Kinde nie nachgeben.
Tausendmal lieber ihm
auf der Stelle die unvernünftigsten Dinge geben als einmal seinem Schreien nachgeben.
Ebenso leicht ist
es an einen augenblicklichen Gehorsam zu gewöhnen, der um so weniger entbehrt werden kann, als das Killd
in diesem Alter sich keine Rechenschaft geben kann
von den Gefahren, welche es umgeben.
Es ist also
völlig unnütz, vor dem Alter von fünf oder sechs Jahren ihm den Grund eines Verbotes auseinanderzusetzen, vielmehr mutz der Gehorsam von feiten des Kindes
unbedingt und wortlos fein, bis es geistig hinreichend
entwickelt ist, um selber den Grund eines Befehls zu begreifen.
Im allgemeinen entwickelt sich der Unge
horsam aus der Schuld der Erzieher; entweder hält man es jeden Augenblick ohne vernünftigen Grund
in feinem Thun und Treiben auf oder man lacht und läßt einen förmlichen Ungehorsam durchschlüpfen. Das verwirrt die Vorstellungen des Kindes.
Sobald du
einmal etwas forderst, so fetze es auch durch, aber
ehe du forderst, überlege dir wohl, ob das Geforderte für das Kind notwendig ist.
Heute etwas erlauben,
morgen dasselbe verbieten, das kann dem Kinde nur
wenig Vertrauen zu dir erwecken; ich bin überrascht
gewesen von der Art, mit der das Kind in einem so zarten Alter den Ton oder den Blick feines Erziehers
begreift.
Es versteht wunderbar gut, ob er das Ge
forderte ernsthaft will; es faßt die leisesten Schattie rungen des Tons auf, es versteht den Sinn der kleinen Komödien, die man mit ihm aufführt, es er
hascht den bewundernden Blick, das versteckte Lachen,
das man oft heimlicherweise dem Kinde in dem Augen
blicke zollt, wo es im Begriff steht, irgend ein kleines Unrecht 311 thun, irgend etwas Verbotenes zu nehmen,
hinaufzuklettern, wo es eben herabsteigen sollte u. s. w.
Man glaube nur nicht, daß man mit solchem unschul digen Doppelspiel gut erziehen könne — es ist nur eine neue Art, die Vorstellungen des Kindes in allen Stücken zu verwirren und schnell erwächst in seinem
Herzen der Zweifel über den Willen seiner Erzieher.
Oft hört man es von recht jungen Kindern:
„Heute
ist Vater oder Mutter oder die Kinderfrau bei schlechter Laune; ich warte, bis das vorüber ist, um sie um
dies oder jenes zu bitten." Oder im Gegenteil: „Vater oder Mutter ist heute guter Laune, wir können lärmen, in die Speisekammer gehen, Eingemachtes aus dem
Schranke essen."
Und wohlgemerkt, alle diese Be
merkungen sind durchaus wahr und auf eine voll
kommene Kenntnis der Erwachsenen begründet.
Wie
sollen sie denn die Ge- und Verbote ernsthaft nehmen, die aus der wechselnden Laune ihrer Leiter hervor gehen, auf welche sie nicht mehr jenes unbeschränkte
Zutrauen setzen, das dem, der es verdient, meiner festen Ueberzeugung nach nie versagt wird und das
jedenfalls das mächtigste Erziehungsmittel ist.
Wenn
man durch ruhige Beharrlichkeit zeigt, daß es ernst ist mit dem, was man sagt, wenn man sich durch den
Zustand der eigenen Nerven zu keinem Wechsel der
Stimmung hinreißen läßt, weder von der Reizbarkeit zur Schwäche noch von der Strenge zu weichlicher Nachgiebigkeit übergeht, so wird das Kind mit jenem
unbegrenzten Vertrauen antworten, welches ein ge rechtes Wesen immer einflößt.
Wenn ich daher auch
den Kindern das reichlichste Maß von Freiheit lasse,
das mit ihrer Gesundheit und mit ihrer Sicherheit vereinbar ist, so klage ich doch wie über ein an den Kindern begangenes Verbrechen, wenn man sie als
Spielzeuge behandelt und sie in einer Altersperiode,
in welcher die Zucht ihre einzige Rettung ist, allen ihren Neigungen folgen läßt.
Man kann einem Kinde nicht früh genug die
Achtung vor dem Willen oder dem Eigentume anderer
Leute beibringen; so bereitet man es darauf vor, seine Solidarität mit seiner Umgebung zu verstehen.
Jedes
Kind bildet sich ein, es sei allein auf der Welt, und die Vorstellung, daß andere ebensogut
einen Platz
darauf haben, entwickelt sich im jugendlichen Alter nicht von selber.
Das ist der wilde Instinkt aller
Lebewesen; wir sehen auch, daß die Urvölker in ihrer Gesamtheit diesem sehr beschränkten Erhaltungstriebe
gehorcht haben, auf den sie wie die Einzelwesen eines
Tages verzichten müssen, denn die Erfahrung belehrt
uns alle, daß man andere leben lassen muß, wenn man selber leben will.
Die erste Erkenntnisfrucht vom
Baum des Lebens ist also die Lehre, daß man nicht
ausschließlich das thun darf, was uns durch den Kopf schießt, ohne zu überlegen., bis wie weit das andern
Leuten angenehm oder unangenehm sein kann.
Diese
Lehre ist leicht genug einzuprägen, wenn man für
seine eigene Person nicht unter der Schwäche leidet zu fürchten, daß man dem Kinde weh thut.
Es ist
gar kein Unglück, wenn es nicht alles thun kann, was
ihm beliebt, und je eher es diese Erkenntnis gewinnt, die man ihm in diesem Alter mit Milde zuführen
kann, um so weniger wird es später der Schläge und
Püffe bedürfen,
um sie ihm einzubläuen, denn es
wird sie auf alle Fälle zu lernen haben, diese Lektion!
Sein Glück besteht ebensowenig wie das der erwachsenen Leute darin, daß es das Glück auf Kosten seiner Nächsten sucht.
Es ist weder für die Gesundheit noch für die
Ruhe des Kindes notwendig, daß es alles zerstört und zerbricht, was ihm gehört.
Für den Anfang
muß man aus seinem Bereich entfernen, was es in
Versuchung führen könnte; geht das nicht, so muß man ihm verbieten daran zu rühren, und muß es
auf andere Weise beschäftigen.
Man ist so ziemlich
geneigt, an einem ganz kleinen Kinde alles nett zu
finden, und man läßt es Gewohnheiten annehmen, die uns später mit Schrecken erfüllen und strenge
Besserungsmittel heischen.
Heute quält es eine Fliege
oder einen geduldigen Hund; morgen schlägt es im Zorn nach seiner Wärterin oder sogar nach seiner Mutter.
Da ist es ein vortreffliches Mittel ihm zu
zeigen, daß die für das Kind so erheiternden Spiele
ihm keineswegs so lustig vorkommen würden, wenn
es selber dabei der leidende Teil sein würde.
Man
kann seine edlen Regungen leicht wach rufen, indem
man ihm das Vergnügen verständlich macht, das darin besteht, andern zuliebe die eigene Laune zu über
winden.
Wenn die Mutter oder die Wärterin krank
ist, so muß man es gewöhnen, im Zimmer keinen Lärmen zu machen.
Ich habe selber das glückliche
und stolze Gesicht eines Kleinen gesehen, dem die Mutter sagte:
„Ich habe gut geschlafen, der Kopf
thut mir nicht mehr weh; du hast mich schön gepflegt, weil du keinen Lärmen gemacht hast."
Das Kind wird
es nie vergessen und die daraus hervorgehende Ge nugthuung wird selbst in diesen jungen Jahren unver
gleichlich größer sein als die Freude an einem unsin nigen Trompeteblasen gewesen wäre, wie ich es von einem andern Kleinen gehört habe, der auf dem Bett
seiner kranken Mutter saß und der sich nicht entschließen konnte,
sein
geliebtes Spielzeug beiseite zu legen,
um der Mutter diese Qual abzukürzen. Besonders muß man sich bei einem Kind ohne
Geschwister hüten, daß man nicht ein kleines Unge
heuer daraus macht, während man es wie einen Götzen behandelt.
Sein Schicksal ist besonders beklagenswert,
denn wenn die Eltern nicht verständig genug füll), um
den Schaden zu verstehen, den sie ihm anthun, wird es während seiner Kindheit als eine so wichtige Person
behandelt, daß es in erheblicher Gefahr ist, sein ganzes
Leben als Sohn, Gatte, Vater, Bürger u. s. w. uner träglich zu werden.
In dieser unvorteilhaften Lage
gilt es verdoppelte Wachsamkeit, um in ihm den Al
truismus oder die Rücksicht auf andere zu entwickeln, indem mail mit seinen nächsten Verwandten anfängt.
Bei mehreren Kindern in einer Familie ist die
Aufgabe leichter, die älteren geben den jüngeren nach
und man kann sie dahin bringen, daß sie versuchen, ihnen nicht zuwiderzuhandeln, aber sie sind selber zu jung, um sich vollständig den Forderungen der Kleinen
aufzuopfern, wie es die Erwachsenen thun, und darin
liegt ein Vorteil für die Kleinen.
Die Größeren
halten auf ihr Spielzeug, ihre Bücher und wollen
nicht, daß Brüderchen alles dies zu seinem Vergnügen zerstört, und Brüderchen ist seinerseits gezwungen, nach zugeben, damit er keine Klapse bekommt.
Wie doch
die kleine Welt ein Abbild der großen ist, in die sie eines Tages eintreten wird!
Jedes ihrer Glieder sucht
nach einem modus vivendi und besorgt so seine Er ziehung, und es ist am besten, sie sich untereinander einrichten zu lassen, was um so leichter sein wird,
wenn die Größeren schon auf den Weg der kleinen Nachgiebigkeiten und der kleinen Rücksichten gelenkt
worden sind.
Solltet ihr einmal mehrere Kinder zu erziehen haben, so werdet ihr hoffentlich nie jene verderbliche
Vorliebe zeigen, die aus ihrem Gegenstände ein selbst
süchtiges Ungeheuer und aus den andern, welche diesen Vorzug bemerken, eifersüchtige und bisweilen gehässige Naturen macht.
Und doch sage ich unbedenklich, daß
das zurückgesetzte Kind immer mehr Aussicht hat, ein erträgliches Wesen zu werden, als das vorgezogene. Das letztere ist künftiger Verwünschung verfallen; es
wird sicherlich das herzloseste, das eigensüchtigste, es wird das Kind werden, welches den Seinen den meisten Kummer macht, während die Geschichte von Aschen
brödel, immer aufs neue wahr, sich oft zu Gunsten der Enterbten wiederholen wird. Es ist ja unmöglich, bisweilen nicht eine stärkere Neigung für das eine
Kind wie für das andere zu empfinden, aber alle haben
das Anrecht auf die gleiche Pflege in jeder Art und da die Jüngeren die Schwächeren sind, so müssen sie
in dem Kinderstaate geschützt werden, in dem das
„Recht des Stärkeren" im allgemeinen das bessere ist. So besteht jede erste Erziehung in der Begrün dung von Gewohnheiten: der Gewohnheit der Rein
lichkeit, der Gelehrigkeit, vor allem des guten Betragens bis zil dem Grade, daß das schlechte Betragen für
eine Krankheit gilt, daß es den Kindern unmöglich ist, zufrieden zu sein, wenn ihre Umgebung nicht zu frieden ist.
Es ist tausendmal richtig, daß die Ge
wohnheit eine zweite Natur ist. Alles in uns ist nur Gewohnheit.
Glaubt ihr etwa, daß wir in unserer
Zeit andere, bessere Naturen haben, als die unserer Väter waren, die uns der Zeit nach so nahe stehen?
Gewiß nicht, denn sie waren edler Handlungen, mannig
faltiger Regungen, großer Thaten fähig, die wir selten unter unseren Zeitgenossen wiedersinden, aber sie er-
trugen beständig den Anblick von Dingen, die wir nicht mehr ertragen können, weil bei ihnen die Ge
wohnheit so stark war, daß sie, ohne weiter nachzu denken, sich wahre Unbilligkeiten gefallen ließen.
So
schienen bis auf dieses Zeitalter Sklaverei, Leibeigen schaft, Folter, Verfolgung des Andersgläubigen oder
des wissenschaftlichen Forschers ganz natürliche Dinge.
Jetzt könnte der unwissendste und mindest entwickelte Mensch das nicht aushalten, weil die Gewöhnung an
den Anblick dieser Dinge verloren gegangen ist -und
weil das menschliche Gewissen sie verwirft infolge der Verallgemeinerung der Ideen, die früher nur die Mit gift einer beschränkten Zahl bevorzugter Wesen waren. Es ist nicht mehr wie früher ein Verdienst, sich schau dernd abzuwenden von den Strafen einer ausgesuchten
Grausamkeit, einer gesetzlichen Ungerechtigkeit, es ist unsern Zeitgenossen etwas Alltägliches geworden und
ein Autodafe zur Verherrlichung
des Festes
wäre
in unseren Tagen unbedingt unmöglich. Da ist denn die zweite Natur für uns die wahre Natur geworden. Wir haben es alle schon einmal gehört: der oder
jener sieht aus wie ein Mensch cuiS guter Familie, er
verrät durch sein Benehmen eine gute Herkunft. Was
will das sagen?
Einfach, daß die Ungezwungenheit,
sein höfliches, freundliches, einnehmendes Wesen den Beweis liefern, daß er von seiner Geburt an daran gewöhnt worden ist, daß er es bei allen Personen
seiner Umgebung gesehen hat, daß diese Sitten ihm
ebenso geläufig geworden sind, wie andern die Roheit und die Anmaßung.
Diese Gepflogenheiten sind auf
dem Wege der Vererbung so sehr sein Eigentum, so
zu seiner Natur geworden, daß es ihm unmöglich sein
würde, anders zu sein: Anderssein würde für ihn Kranksein bedeuten.
An der Genugthuung und den:
Behagen, das jemand infolge der Erziehung empfindet,
bemerkt man sehr bald, vb sie ihm zur Natur oder bloß zu einem gesellschaftlichen Firnis geworden ist.
Für den einen ist Höflichkeit und Rücksicht eine pein liche Anstrengung, der er sich aus gesellschaftlichen
Gründen, unterzieht, um den Ruf eines wohlerzogenen Menschen zu haben, und dann richtet sich alle Rücksicht,
alle Feinheit des Betragens nur an Fremde, an ober flächlich Bekannte.
Für die Vertrauten bewahrt er
die Unhöflichkeit, die schlechte Laune, und die Redens art: „sich keinen Zwang anthun, mit seinen Freunden
formlos verkehren" malt vollständig die Art dieses Ver
kehrs.
Sie deutet uns an, daß „die andern", die
guten Sitten ein Zwang sind, den man sich auferlegt, eine künstliche Natlrr, die man anzieht, wie einen
Nock für besondere Gelegenheit, während die wahre Natur ungebildet, roh geblieben ist — und man fühlt sich nur wohl in seiner eigenen Natur.
Ein Wilder,
der an unreinliches Essen gewöhnt ist, giebt sich mit innerlichem Fluchen die Mühe, sich vor den Leuten
des Messers und der Gabel zu bedienen; man kann
ihn: das wie eine lästige Lektion beibringen, aber wenn
er zu Hause ist, wo er sich keinen Zwang anthut, wird es sein wahres Vergnügen sein, das Besteck durch seine zehn Finger zu ersetzen und so schmutzig zu sein,
wie sein Herz es ihm befiehlt. So geht es tagtäglich vor unseren Augen zu.
Vor den Leuten lächelnd und angestrengt höflich gefällt sich der geleckte Barbar, sobald er nur kann, in Roh
heit und Unordnung. Wenn also die Gewohnheit eine solche Macht ist, so sieht man, was die ersten Jahre für eine kostbare
Zeit sind, um den künftigen Menschen darauf vorzu bereiten, daß er seine Ruhe, sein Vergnügen, seine
Lust in dem findet, was physisch und moralisch rein, glatt und angenehm ist. Wirket dahin, daß sein Ver gnügen in dem Vergnügen seiner Umgebung besteht,
denn wir thun nun einmal nur das, was uns ver
gnügt. Selten kann man längere Zeit eine gezwungene Nolle spielen, während die Art sich zu geben, welche am wenigsten auf die Wirkung sieht, die einzige Ge
währ der Dauerhaftigkeit bietet.
Die Gewohnheit
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Gewöhnung durch Beispiel.
wird durch das Beispiel eingepflanzt. Hütet euch also,
vor dem Kinde grob und rauh aufzutreten, und ihr
werdet sehen, wie peinlich ein an Höflichkeit gewöhntes Kind durch das Gegenteil berührt wird. Alle Grund sätze, die auf lehrhafte Art, wie durch Predigt oder Unterricht, ohne das lebendige Beispiel eingeprägt
werden, sind eher ein Uebel als ein Gewinn.
Das
Kind wird sich immer dem gegenüber zweifelhaft ver halten, dessen Thaten das Gegenteil seiner Predigt sind.
IV. Hat das Kind im frühen Alter sich an den Ge
horsam gewöhnt, so sind die Eltern vor der Plage der Strafen bewahrt, die übrigens, als Erziehungsmittel betrachtet, in meinen Augen wenig Wert haben.
Ihre
Notwendigkeit würde mir nur beweisen, daß man sich
ihrer zu spät bedient und daß man unter dem Vor wande, das Kind sei zu jung, die Anfänge vernach lässigt hat.
Angenommen, daß man dem Kinde nur
die für sein Wohl notwendigen Dinge befiehlt, so
würde die Strafe von selber in den Folgen seines Fehltritts
für das Kind
eintreten.
Aber offenbar
handelt es sich in diesem Alter nicht darum, sondern
man will es hindern, sich selber Schaden zuzufügen. In gewissen Fällen muß man mit starker und rascher
Energie handeln.
Angenommen, daß ein Kind aus
Eigensinn schreit, so daß es purpurrot im Gesicht wird
und Krämpfe befürchten läßt, so ist das einfachste Mittel, es herumzudrehen und ihm ein paar derbe
Klapse aufzuzählen.
Ich habe diese Art Zugpflaster
oft beinahe augenblicklich wirken sehen; das Blut steigt nicht mehr zu Kopf und nach ein paar Thränen schläft
der kleine Eigensinn ruhig ein.
Man darf nur nicht
selber zornig werden, sondern muß mit kaltem Blute
schlagen und zwar in dem Augenblick, wo die Ueberreizung des Kindes gefährlich werden könnte.
Das
ist keine Strafe, sondern ein Heilmittel und läßt sich nur bei ganz kleinen Kindern anwenden, die sich un
serem moralischen Einfluß noch entziehen.
Sobald
sie ein Wort stammeln können, muß das nicht mehr
nötig sein.
Es ist äußerst gefährlich, Kinder in der finsteren
Stube
einzusperren,
halten re.
ihnen
die Nahrung vorzuent
Die Nahrung ist für ihr Alter das utp
entbehrlichste Ding.
Sie soll nie weder als Strafe
noch als Belohnung dienen.
Im ersten Fall würde
es Grausamkeit und Unkenntnis des Grundgesetzes
der Gesundheitspflege sein, im zweiten heißt es die Gutschmeckerei entwickeln.
Die dunkle Kammer ist
erfunden worden, um Furcht vor der Dunkelheit ein
zuflößen. Diese Erfindung verdanken wir den Kinder
wärterinnen, die im Namen des Menschenfressers und des Werwolfs erziehen, der die kleinen Kinder frißt.
Welche ungeheuerliche Idee, Furcht vor der Dunkel
heit einzujagen, während man das gerade Gegenteil thun sollte.
Es ist leicht, das Kind für immer daran
zu gewöhnen, daß es im dunkeln Zimmer schläft, und
diese Gewohnheit ersetzt ihm eine Kerze oder ein un
bequemes Nachtlicht. Ich kenne erwachsene Leute, die
bis in ihr Alter nicht im Dunkeln schlafen können. Das verdanken sie den Gewohnheiten ihrer Jugend.
Ganz abgesehen von der nicht bloß eingebildeten Ge
fahr einer Feuersbrunst, die
ein brennendes Licht
im Zimmer eines Schlafenden bildet, verrät es eine
unvernünftige Furcht und wovor?
Vor einer ganz
gewöhnlichen, sehr natürlichen Sache, vor der Nacht,
welche kein Tier fürchtet. Die wichtigste Regel, die man bei der Erziehung zu beobachten hat, wäre die:
Bringe das Kind nie
zum Fürchten! Von allen menschlichen Empfindungen
ist die Furcht die schlimmste.
Sie ist der Quell der
Lüge, der Feigheit, des Verbrechens, aller Schrecken
aller Zeiten und endlich der unerträglichsten moralischen
Folter.
Ein durch die Furcht erzogener Charakter ist
zu nichts Gutem fähig, zu nichts Hohem und Wahrem! Und doch erkennen wenige, wie viel Uebel sie den
Kindern zufügen, indem sie sie zum Fürchten bringen. Sie zweifeln nicht daran, die beste Erziehungsmethode
bestehe darin, beständig zu lehren, daß man sich vor nichts fürchten müsse, denn wer dahin kommt, in sich dieses gemeine Gefühl auszurotten, der ist wirklich Herr über die Welt und über sich selbst.
Er wird
niemals lügen, niemals hart, knechtisch oder frech sein.
Er trägt in sich die zum Leben erforderliche Kraft und der Tod wird ihm keineswegs die Schrecken ein
flößen, die so manches Dasein vergiften. Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
5
66
Erziehung zur Unerschrockenheit.
Das ist ein solcher Hauptpunkt für die ganze Zukunft des Kindes, daß ich darüber ein wenig ins einzelne gehen muß; es handelt sich um den Grund stein des Gesamtcharakters, des ganzen Lebens.
Man
kann es sich in der That, ohne es selbst gesehen zu
haben, nicht vorstellen,
wie weit die
verderblichen
Folgen aus den thörichten Drohungen oder Lügen gehen, deren man sich bedient, um die Kinder zu er
schrecken, angeblich um sie artig zu machen.
Eine An
wandlung von Furcht überwinden heischt eine große Dosis
persönlichen Mut, eine ruhige Ueberlegung, starke Ner
ven; die Furcht zu einem beinahe ungekannten Dinge zu machen ist leicht, wenn Man sich die Mühe giebt, vom
Anfänge des Kindeslebens an alles zu vermeiden, was sie hervorrufen könnte. das Gegenteil davon.
Nun thut man gerade
Man benutzt die Schwäche
seines Geistes, um ihm die Einsamkeit, den Kirchhof,
die Dunkelheit oder die Drohung mit dem schwarzen Mann, der es holen soll, zu Schreckmitteln zu machen. Die Einbildungskraft ist bei dem kleinen Kinde sehr
stark und die Ueberlegung gleich Null, so daß es sogar schwer ist, später das Maß der Leiden zu ver stehen, welches diese leeren Schreckbilder
ihm auf
erlegen. Sie können das Gehirn aus seinem Gange bringen, Gehirnentzündungen, Krämpfe, Nervenkrank heiten Hervorrufen.
Sie vergiften den Schlaf, diese
beste Schüssel auf des Lebens Tisch, sie bringen einen
Erziehung durch Liebe.
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Umsturz in seiner ganzen Natur hervor, der offenbar
auf den Charakter zurückwirkt. Aber ohne geradezu das Verbrechen zu begehen,
die Kinder durch leere Ausgeburten der Phantasie zu erschrecken, wendet man viel zu oft Furcht erzeugende Strafen an in der Erwartung, das Kind dadurch vom
Ungehorsam zu entwöhnen.
Ich glaube, daß es un
bedingt schädlich ist, durch Androhung einer Strafe
irgend eine Wirkung, welche es auch immer sei, bei dem Kinde zu erzielen.
Da wo die Furcht der einzige
Zügel ist, gewöhnt sich das Kind an Doppelzüngig
keit, an Lüge und benutzt die erste Gelegenheit, wo es ungestraft ungehorsam sein kann,
um sich dieses
Vergnügen zu verschaffen; das kann man alle Tage
sehen.
Immer ist es der Fehler der Erzieher, wenn
sie gezwungen werden zu diesem abscheulichen System
ihre Zuflucht zu nehmen; es ist eben nicht gelungen, dem Kinde durch Festigkeit und Milde hineinreichendes
Vertrauen einzuflößen, um es mit einem Blick oder
Wort zu lenken.
Die Liebe, deren das Kind gewiß
sein sollte, ist eine ganz andere Kraft als die Furcht;
wenn man dem Kinde vernünftige Liebe zeigt, so wird es dieselbe sicherlich erwidern. Alles, was man
durch Furcht bewirkt, ist ohne wirkliches Ergebnis.
Darum haben ja Gesetze die Verbrechen und
und Gendarmen niemals
Uebelthaten ausrotten können,
während die Gewohnheiten, die ein Kind im rechten
Augenblicke annimmt und die später durch Ueberredung und Liebe gestützt werden,
Gewalt nie und
das erreichen, was die
nimmermehr dem Charakter geben
kann. Ich weiß,
daß beinahe jeder im Prinzip
das
Wohl seiner Kinder will, aber diesem Willen fehlt zumeist die Stetigkeit und die Unterscheidung des ein zelnen Falles.
Beides ist nötig, wenn man nicht
bloß den Schein des Guten ausprägen, sondern inner lich Liebe zum Guten erwecken will.
Wenn man mm
das Kind fürchten macht, so verdirbt man seine Natur,
weil die Furcht
feige,
vielleicht heuchlerisch macht.
Man erkennt es grundsätzlich an, daß Unaufrichtigkeit
das schlimmste Unglück ist, welches dem Kind wider
fahren kann, und doch giebt man sich alle erdenkliche Mühe, um es unaufrichtig zu machen. Man protestiere
nicht dagegen.
Ich werde den Beweis führen, wie
groß die Zahl der Leute ist, die nur infolge ihrer
ersten Erziehung Lügner geworden sind. Kind ist ungehorsam.
Das kleine
Man bestraft es und bedroht
es mit härterer Strafe, wenn es wieder ungehorsam sein sollte.
Sein einziger Gedanke ist, nun das Ver
botene insgeheim zu thun und dann, wenn es entdeckt wird, zu leugnen. In der Regel ist diese erste Lüge
so ungeschickt, daß man sie auf der Stelle entdeckt und dem Kind eine derbe Zurechtweisung angedeihen läßt.
Das nächste Mal benimmt es sich schlauer ynd
geschickter und wenn es dahin kommt, die zu täuschen, welche es fragen, so ist es auf den Weg gebracht, an
dessen Ende es vielleicht als eine vollständig herunter gekommene Natur steht.
Sein einziges Ziel ist, durch
die Lüge der Strafe zu entgehen.
Es ist noch viel
zu jung, um die sittliche Bedeutung der Lüge zu ahnen. Man hält sich vielleicht im Verkehr mit dem Kind
nicht allzustreng
an die Wahrheit und es genügt,
daß es dies einmal bemerkt, um einer Predigt über die Wahrheitsliebe keinen großen Wert mehr beizu
messen. Auf jeden Fall ist es ganz unnütz, einem Kinde vorzupredigen.
In gewissen Lebensjahren des Kindes
ist das vollständig verlorene Zeit.
Es hört nicht ein
mal auf den Predigenden, eskannesnicht. Seine
Aufmerksamkeit folgt einer Fliege, einem Lichtstrahl, einem Etwas, das gerade vorgeht, und was man ihm
sagt, ist ihm nur ein leerer Schall. Aber man kann das Kind vollständig an Wahrhaftigkeit gewöhnen,
wenn man cs niemals für eine Sache straft, die es
frei heraus gesteht, oder wenn man ihm niemals ver bietet gerade heraus zu sagen, was es denkt. Die meisten
Leute strafen blindlings darauf los, nicht wegen des Ungehorsams, sondern wegen seiner Folgen. Ein Kind
rührt gegen das Verbot an die Uhr.
Du wirst dich
begnügen, es davon zu entfernen mib ihm zu sagen, daß es nicht daran rühren darf.
Es zerbricht sie aus
Unachtsamkeit (denn niemals wird es sie absichtlich zerbrechen) und du schlägst es tüchtig, weil das, was
dich persönlich berührt, höheres Interesse für dich hat als seine Erziehung.
Anstatt zu drohen lobe doch
das Kind jedesmal, wenn es dir sagt, was es gethan hat; wenn die von ihm begangene Handlung schlecht
ist, so zeige ihm, daß bii darüber betrübt bist, und da der stärkste Naturtrieb der Wunsch zu gefallen ist, so wird es das sehr genau empfinden, besonders wenn man es durch Strafen und Zornausbrüche nicht ver
härtet hat. Solange das Kind ganz klein ist, nlußt du es offenbar entschlossen und nötigenfalls mit Gewalt ver
hindern sich weh zu thun, und selbst wenn es seinen
ganzen Trotzkopf darauf setzt, etwas Verbotenes zu
wollen, so laß es aus eigener Erfahrung merken, daß es gefährlich ist, dir nicht zu gehorchen.
Wenn es
mit Zündhölzern spielen will, so lasse man es sich ein wenig die Finger verbrennen.
Das wird ihm die
Lust benehmen, mit den: Feuer zu spielen. Eine der lästigsten Kindergewohnheiten ist gerade die, alles anzufassen.
Man muß aus dem Bereich des Kindes alles
das entfernen, was ihm weh thun oder was es ver derben könnte, besonders aber ihm recht einfache und
mannigfache Tinge geben, welche seine Hand, sein Auge, seine Aufmerksamkeit beschäftigen.
Während der drei
oder vier ersten Jahre ist jedes Stück Holz, jeder Faden
ein Spielzeug.
Wenn die Kinder nun erst auf den
Tisch reichen können, dann müssen die Grundlagen Es muß also ein
der Erziehung schon gelegt sein.
einfaches Verbot genügen, um
die Idee nicht auf
kommen zu lassen, daß es ungehorsam sein kann, denn
wenn diese Grundlagen mit Vernunft und Liebe ge legt sind, so muß das dem Kinde Achtung einflößen.
Wenn wir jemand achten, so mischt sich mit dieser Achtung eine gewisse Furcht, nicht etwa vor einer
Strafe, sondern die Befürchtung, wir könnten das
Mißfallen des Geachteten erregen, und diese Stimmung läßt uns nach seiner Billigung wie nach der Bestätigung der Gewissensstimme trachten.
Achtung
lassen sich iuin nicht erzwingen.
Alle Predigten und
und Liebe
alle Befehle können nur den leeren Schein dieser Em pfindungen bewirken. In sich selbst sind sie frei und das Kind weiß recht wohl sie nur da zu zeigen, wo sie verdient sind.
So steht es nicht mit der Furcht
des Sklaven oder des Hundes, welcher Schläge er wartet, weil er das Mißfallen seines Herrn erregt hat.
Dieses erniedrigende Gefühl entwickelt die Furcht
vor einer Person, ihrem Charakter, ihren Drohungen, ihren Strafen. Wie viel Leute machen nicht selbst aus dem lieben Gott einen Popanz!
Und doch ist es eine
Sünde, diesen großen unbekannten Gott wie einen
unseresgleichen,
nur
härter und
grausamer
darzu
stellen, denn unwissend, wie wir in dieser Hinsicht
sind, sollen wir wenigstens das Vertrauen der Kin
der nicht mißbrauchen, um ihnen Furcht da einzu
flößen, wo sie nur Bewunderung und Liebe empfinden sollten!
Die moralische Furcht ist viel verderblicher als
die physische. Es ist offenbar notwendig, einem Kinde
von zwei oder drei Jahren zu zeigen, wie gefährlich es ist, mit dem Feuer zu spielen, sich aus dem Fenster
hinauszulegen, in das Wasser zu fallen, nicht bloß
gefährlich für das Kind selbst, sondern auch für seine Aber indem es sich
kleinen Brüder und Schwestern.
davor in
acht nimmt, wird
es
nie
zur Memme.
Memmenhaftigkeit entsteht nur aus eingebildeter Furcht und besonders aus der Furcht vor einer Person.
Will man diese Gefahr vermeiden, so ist beson deres Gewicht auf die Wahl der Umgebung des Kindes zu legen.
Während niemand, auch der gewöhnlichste
Mensch nicht, sein Pferd einer Person anvertrauen würde, die nicht mit Pferden umzugehen gelernt hat,
fordert man keine besondere Vorbereitung von
den
Leuten, die man mit der Wartung seiner Kinder be
traut.
Man frage doch einen Jäger, ob er einem
unbekannten Jemand die Erziehung seiner Hunde über lassen möchte.
Gewiß nicht, wird er antworten, und
wird auseinander setzen, daß man sie von klein auf verhindern muß, Wild zu fressen oder es anzuschneiden,
wenn sie es apportieren sollen.
Diese Leute erkennen
also für die Erziehung des Hundes die Macht der zur rechten Zeit angenommenen Gewohnheit an und
für ihre Kinder sind
sie in
dieser Hinsicht blind.
Wenn eine Frau als Köchin oder Nähterin keinen Platz finden kann, so verdingt sie sich als Kinder
wärterin.
So kommt es, daß Eltern, welche einem
ins Gesicht lachen würden, wenn man ihnen sagen
wollte, sie sollten ihren Garten durch den Kutscher besorgen lassen, dennoch unbedenklich ihre Sprößlinge der Pflege von Leuten anvertrauen, welche nicht den geringsten Begriff von Gesundheitspflege oder Sitte,
nicht die geringste eigene Erziehung besitzen und in
folge davon unfähig sind, selber zu erziehen.
Man
betrachtet in diesem Falle den Befähigungsnachweis für gar nicht erforderlich,
den man sonst für das
geistloseste Handwerk fordert.
Darf man sich denn
noch wundern, wenn eine Kinderwärterin dem Kinde Opium giebt, um es einzuschläfern, oder es schlügt,
sobald die Eltern nicht in der Nähe sind, indem sie es durch Drohungen zum Schweigen bringen, oder
dem Kinde Geschichten erzählt, an die sie vielleicht
selbst glaubt und die es für den Nest seiner Tage zum Hasenfuß machen? Der allgemeine Bildungsstand
ist zu niedrig, als daß man nicht die Umgebung des
Kindes streng überwachen sollte.
Dienstboten sind in
dieser Hinsicht eine klägliche Gesellschaft; sie gewöhnen die Kinder an Altweibergeschwätz und rohe Redens-
arten und wie wir es eben gesehen haben, an Lüge und Durchsteckerei.
Man darf ihnen darum kaum
böse sein und kann nicht von Leuten, die selber keinen Begriff von einem Grundsatz haben, fordern, daß sie
andern welche beibriugen; aber sind meine Leserinnen
nicht mit mir betroffen über die in dieser Hinsicht allgemein herrschende Nachlässigkeit?
Die einzig mög
lichen Wärterinnen könnten noch die sein, welche ihr
Leben lang sich mit Kindern beschäftigt haben und nun zu einem gewissen Verständnis von der Sache und zu einer ziemlichen Erfahrung in Sachen der Gesundheitspflege
gelangt sind;
aber sie
sind gar
selten und es ist schwer, eine zu finden, auf die man sich ganz verlassen kann.
Da
das Bedürfnis sich
mehr und mehr fühlbar macht, so sieht man, wie
wichtig es ist, daß jede Frau sich mit dem Inhalte
dieser Abschnitte beschäftigt, denn wenn jede Frau das auf die erste Erziehung Bezügliche kennte, so würde
jede je nach Bedarf Mutter oder Wärterin sein können. Was auch ihre Pflichten sein mögen, die Mutterpflicht ist die natürlichste und es ist einfach
eine Schande,
die praktischen Kenntnisse nicht zu haben, die uns be
fähigen würden, eine Wärterin zu leiten oder im Not
fall zu ersetzen. Weit entfernt, die Stellung einer Kinderwärterin
als untergeordnet oder erniedrigend anzusehen, möchte ich, daß viele junge Mädchen dieselbe zu ihrer Lebens-
aufgabe machten.
Das erste Erfordernis wäre der
innere Beruf, das Interesse für Kinder und die Kraft sich ihnen zu widmen.
Ueberall giebt es Lehrerinnen
im Ueberfluß; viele Frauen, die ihre Prüfungen glän zend bestanden haben, finden keine Stellung, weil das
Angebot größer ist als die Nachfrage und Kinder
wärterin will man nicht werden, weil man sich dafür zu gut vorkommt.
So weit geht die allgemeine Un
wissenheit über diese Frage, daß man die Pflege Heiner
Kinder unter feiner Würde und die Stellung der Wärterin entehrend findet. tum!
Welch sonderbarer Irr
Meiner Meinung nach ist es der höchste und
ansprechendste Beruf, ein Kind von der Wiege an zu beobachten und zu leiten, viel weniger undankbar als der der Lehrerin.
Diese übernimmt ein bereits der
Verbesserung bedürftiges Kind, dessen ganzer Charakter
sich unter Einwirkungen gebildet hat, die von da ab unzerstörbar sind.
Dagegen ist das neugeborene Kind
bis zu seinen Schuljahren ganz und gar in den Händen der Wärterin; jede Arbeit für dasselbe belohnt sich
selbst, ist interessant und nimmt die Person in An spruch.
Je höher eine Frau gebildet ist, desto mehr
paßt sie für diese Stellung.
Die materielle Pflege,
die man diesen kleinen Wesen angedeihen läßt, kann doch nicht als Dienstbarkeit oder als Erniedrigung er
scheinen.
Für eine fein gebildete Person besitzt diese
Beschäftigung im Gegenteil solches Interesse und solchen
Wert, daß dieser Broterwerb eigentlich mit Vorliebe ergriffen werden müßte.
Eine Mutter kann schlechter
dings nur das Jüngstgeborene pflegen. Sobald mehrere Kinder da sind, bedarf sie der Unterstützung, damit
keines derselben vernachlässigt wird.
In dieser Weise
sollte eine Kinderwärterin nicht etwa eine untergeordnete Person, eine Art Dienstbote sein, sondern die Stütze
und bei Gelegenheit die Führerin der Mutter. Uebrigens würde eine nach allen Seiten gebildete Frau
durch nichts gehindert werden, als Lehrerin das zu vollenden, was sie als Erzieherin begonnen hat.
Die
Aufgabe wird sich für sie um so leichter gestalten,
da sie die Persönlichkeiten kennt, mit denen sie sich zu beschäftigen hat, und sie wird sich dann nicht auf
das Stundengeben beschränken.
Die Frauen also, welche sich auf den Erwerb ihres Lebensunterhaltes vorbereiten,
lade
Ernstes ein, diese Beschäftigung zu wählen.
ich
allen
Je ein
sichtiger sie sind, desto lieber wird diese Stellung ihnen werden, desto sicherer können sie von der Nützlichkeit
ihrer Arbeit überzeugt sein.
So wie sich
heute die Erziehung der kleinen
Kinder vollzieht, sehe ich Mütter und Wärterinnen
im Kampfe mit großen Schwierigkeiten, welche nicht bestehen würden, wenn sie die Dinge in ihrem wahren
Lichte betrachten wollten.
Viele Leute geben sich gar
nicht Rechenschaft über die Natur der Kinder im all-
gemeinen, bevor sie zu ihren Einzelheiten und Be sonderheiten
wollen.
kommen,
welche wir später behandeln
Besonders da, wo äußere Umstände Kinder
und Erwachsene
in beständige
Berührung
bringen,
finde ich, daß es meistens sehr unschuldige Ursachen sind, welche ein Scheltwort Hervorrufen.
Die Kleinen
lärmen, sind übermütig, spielen den Hanswurst, quälen
die Erwachsenen, und diese letzteren fordern von ihnen
Ruhe imb Unbeweglichkeit, mit einem Wort gerade das Gegenteil von dem, was ihr Alter und ihre
Körperbeschaffenheit gebieterisch fordern.
Man gehe
weg von dem Lärmen, wenn er einem zu viel w.ird, aber man soll sich nicht bis zu jener Gereiztheit gehen
lassen, die uns in Sachen, welche uns lästig sind, Anlaß zum Tadel oder zur Strafe giebt.
Die Muster
kinder, die nie eine Dummheit begehen, die nie aus Lebhaftigkeit
etwas zerbrechen oder die ein lautes
Spiel nicht lieben, sind entweder krank oder Opfer der Erziehung.
Es klingt vielleicht übertrieben, aber
ich kann sagen, daß es ein Alter giebt, in dem diese ungeordneten Bewegungen, dieses Schreien und Lärmen ebenso nötig zum Glücke sind, wie später Stille oder Ruhe.
Darum möchte ich junge Wärterinnen bei den
Kindern haben, denn sie leiden weniger unter diesem
Ueberschwang von Jugendmut und können sogar selber mit Vergnügen daran teilnehmen.
Sie stehen dem
Kinde näher als eine durch das Leben schon geschwächte
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Junge Wärterinnen.
Frau. Sie werden besser verstehen, daß man nur das abzuwehren braucht, was eine wahre Gefahr sein würde, und werden zu den meisten Dingen lachen, welche ältere Personen nur widerwillig er tragen.
V. Ich lenke jetzt die ganze Aufmerksamkeit meiner Leserinnen auf die Eigenart der Kinder.
bare Verschiedenheit
Diese wunder
der menschlichen Wesen unter
einander wird oft absichtlich in Fesseln gelegt oder erstickt.
Darum erkläre ich alle die pädagogischen
Schriften, die hochwissenschaftlich gehaltenen vor allen,
für ganz unnütz, in denen das Kind als eine abstrakte Erscheinung dargestellt wird, welche unter unabänder
lichen Bedingungen steht
geleitet werden soll.
und ebenso unabänderlich
Unsere Unwissenheit wird durch
nichts besser dargethan als durch die Anmaßung, besser
als die Natur selbst wissen zu wollen, was sie braucht,
und das geheimnisvollste und schwerstverständliche Ding ändern zu wollen: die Eigenart, bloß weil es uns beliebt, aus einem menschlichen Wesen das zu machen,
was uns selber gut scheint.
Du kennst die Neigungen,
die Leibesbeschaffenheit, den Zustand
des Gehirnes
bei diesem Kinde nicht, und du willst es nach dem
Bilde formen, das du dir nach der von dir gewünschten Zukunft desselben machst!
Unnütze Mühe! Du kannst
es beherrschen, bis zu einem gewissen Grade zwingen,
aber du kannst ihm niemals geben, was die Natur ihm verweigert.
Vor allem aber wirst du es unglück
lich machen, indem du die allmähliche und regelmäßige
Entwickelung dessen hinderst, was dir an dem Kinde unbekannt ist und was du aus allen möglichen Gründen bekämpfst, die gar nichts zu thun haben mit dem Ziele, das uns allein leiten soll, nämlich das Kind darauf
vorzubereiten, daß es einmal möglichst glücklich wird. Ich will zu zeigen versuchen, eine wie heilige Sache es um die Eigenart des Kindes ist, wie sehr sie ge
achtet werden, wie sehr ihr Spielraum gelassen werden muß.
Gerade hier bemerken wir, wie sehr wir von
Vorurteilen und Irrtümern in allem unseren Thun
beschränkt sind. Gewisse Erfordernisse sind allen Menschen ge meinsam, aber nur die elementaren und materiellen
Erscheinungen sind immer denselben Gesetzen unter worfen, auch begegnen wir tausend Fällen des rein physischen Lebens, welche je nach der einzelnen Per sönlichkeit verschieden geartet sind.
Es giebt keine feste
Regel, die für jedermann paßt, und wir werden schweren
Fehlern entgehen, wenn wir ohne Vorurteil an viele Fragen herantreten, mit denen Eltern sich ganz um
sonst abquälen.
So ist es ein wirklicher Fehler, ein Kind zum Essen zwingen zu wollen.
Die Launen des Magens
hängen mit der gesamten Körperbeschaffenheit zusam-
men und die Vernunft wird uns dahin bringen, daß wir diese Neigungen oder Abneigungen, statt sie mit Gewalt zu bezwingen, als wertvollen Aufschluß über die uns unbefannten Bedürfnisse des Körpers be trachten. Die vielen Kindern gemeinsame Abneigung gegen das Fleisch, die Vorliebe für Gemüse, Milch speisen und erfrischende Nahrung sind natürliche Negungen, und wenn den Kindern nicht die wahre Eß lust abgeht infolge unverständiger Darbietung von Leckereien zu jeder Stunde, so ist ihr Widerwille gegen irgend eine Nahrung ein Symptom, nicht eine Laune. Wenn das Kind sich wohl befindet, braucht man sich nicht zu beunruhigen, wenn es weniger als ein an deres ißt. Die Verschiedenheit des Nahrungsbedürf nisses ist ebenso groß wie in anderen Eigentümlich keiten der Kindernatur. Wenn es krank ist und hin siecht, wenn es gar keine Eßlust zeigt, so giebt man ihm die Gesundheit nicht wieder, indem man es zum Essen zwingt. Abgesehen von schwerer, rasch vorüber gehender Krisis, wie z. B. bei Diphtheritis, wo man um jeden Preis die Kräfte erhalten muß, wird die gezwungene Ernährung niemals gegen irgend eine der verborgenen Ursachen des Siechtums helfen, gegen die man mit einer allgemeinen und dauernden Ordnung der Lebensweise ankämpfen muß. Hinsichtlich des gewöhnlichen Gesundheitsstandes kann ich versichern, daß jeder von uns, wenn er nicht geradezu ein HungerOuro ussow, Ueber erste Erziehung.
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leider ist, mehr Speise zu sich nimmt, als die Natur fordert; starke Gier und Gefräßigkeit sind daher bei
einem Kinde viel eher ein Zeichen von Schwäche als
die Zurückhaltung.
Auch hier beharre ich dabei, der
einzelnen Person so viel als möglich selbst zu über lassen, weil das natürliche Gesetz für jedes Wesen (und dieses ist bei dem Kinde das stärkste, da ja alle
seine Handlungen viel mehr von
der unbewußten
Regung abhängen als bei dem Erwachsenen) — weil das natürliche Gesetz für jedes Wesen darin besteht,
die günstigsten Bedingungen für den eigenen Organis
mus aufzusuchen.
Die Tiere besitzen diesen Instinkt
im höchsten Grade; bei dem Menschen ist er durch
eine
jahrhundertelang
dauernde falsche medizinische
Wissenschaft erstickt worden, welche sich niemals Rechen
schaft gegeben hat über die wertvollen Andeutungen, die für uns in unbewußten Liebhabereien oder Ab
neigungen enthalten sind, und welche immer ihre per sönliche Ueberzeugung allgemein hat aufdrängen wollen. Tie Aerzte fangen jetzt an, ihre Aufmerksamkeit auf diese Eigentümlichkeiten zu lenken.
Bisher glaubten
sie ihre Pflicht zu erfüllen, wenn sie jedermann das vorschrieben, was ihrer eigenen Natur zusagte.
Indes
werden wir, je mehr wir sehen, wie viel uns an uns selbst unverständlich ist, Bedenken tragen, die Natur eines anderen zu zwingen.
Beispielsweise bekämpft
man mit Eifer die sogenannte Linkshändigkeit, und
doch bin ich überzeugt, daß auf diese Weise die Natur
die teilweise Schwäche gewisser Muskeln ersetzt und daß aus dieser Gewohnheit keinerlei Nachteil entstehen Es ist überdies Sache des Herkommens und
kann.
zwar eine recht thörichte Sache, daß man, wie es ge
schieht, ein Glied auf Kosten eines anderen entwickelt. Darin liegt ein wahres Uebel, denn beide Arme und
beide Hände sind wie die beiden Füße zu gleichmäßigem Gebrauch bestimmt, mib die herkömmlichen Thorheiten
sind bei uns gar fest eingewurzelt, wenn wir darauf
beharren, ein Glied planmäßig ehiToften zu lassen.
Die linke Hand sollte genau dasselbe thun, was die rechte, und ich fasse dies im buchstäblichen Sinne, d. h. so, daß man alles beiden Händen zugleich lehrt, in
dem man die mit erblicher Schwäche behaftete linke Hand ein wenig mehr arbeiten läßt als die rechte; also Schreiben, Zeichnen, Arbeiten aller Art, Zu
schneiden, Maßnehmen, Nähen u. s. w.
Das würde
etwas klüger sein, als ein Kind darum zu bestrafen,
wenn es sich gemäß der Eingebung seiner Natur der linken Hand bedient. Sobald wir uns mit Geschmacksrichtungen, mit
Charakter oder Entwickelung des Kindes beschäftigen, begegnen wir tausend verschiedenen und individuellen Schattierungen, mit denen wir nicht allein rechnen
müssen, sondern aus denen wir auch Nutzen ziehen
können.
Eine jede Natur fordert nicht radikale Ver-
änderungen, sondern Anpassung an ihre Umgebung
und zwar so, daß man sie so viel als möglich der eigenen Entschließung überläßt.
Beständig sehen wir
in unserer Umgebung, wie man sorgfältig alles das erstickt, was persönlich oder eigenartig ist,
um sich
dafür einer Dressur hinzugeben, in welcher die Indi vidualität nichts bedeutet.
Ehe man verbessert, müßte
man, scheint es mir, beobachten (das ist scheinbar etwas passiv, aber es ist sehr wichtig), um zu wissen, mit
wem man es
zu thun hat und was in Wahrheit
unser Dazwischentreten fordert.
Alles, was unter
diesem unserem doppelten Gesichtspunkt nicht ungesund
ist, lohnt die Mühe nicht, die man auf seine Be kämpfung verwendet.
Für unser Gewissen ist die
entscheidende Frage : ist dies oder jenes der Gesundheit oder dem Charakter des Kindes schädlich?
Wenn es
schädlich ist, werden wir es mit Energie bekämpfen
und die wahre Energie, das ist die Geduld. Fehler rühren entweder von erblicher Anlage oder
von dem körperlichen Befinden
oder auch von der
Umgebung des Kindes her. Es ist allgemein bekannt, bis zu welchem Grade die Seelenstimmung dem körper
lichen Zustand entspricht. Es kommt oft vor, daß wir von erwachsenen Leuten sagen, sie haben ihren guten
oder ihren schlechten Tag, sie sind mit dem linken Fuße zuerst aufgestanden, um die Abweichung für die Stimmung zu erklären, die man gewöhnlich an ihnen
kennt.
Man schreibt also diese Veränderungen einem
gewissen Gesundheitszustand zu und wir müssen den Dingen, welche uns an den Kindern sonderbar vor kommen, dieselbe Erklärung geben. Jede Mutter einer zahlreichen Kinderschar wird das sagen, daß eines ihrer
Kinder, welches in einem gewissen Alter verdrießlich war, heiter geworden ist, und umgekehrt, daß der Faule oder Träge sich in einen fleißigen Arbeiter ver wandelt hat, daß das Kind, dessen Laune oft ganz
unerträglich war, nunmehr das umgänglichste geworden ist, oder sie wird sich auch wundern, das Kind, dessen Charakter vollständig zur Erregbarkeit zu neigen schien,
traurig oder scheu zu sehen.
Diese Veränderungen
hängen von gesundheitlichen Ursachen ab.
Unsere ärzt
lichen Kenntnisse sind noch so sehr in den Anfängen, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, den genauen Nachweis der physischen Ursache jeder moralischen Stö
rung zu führen, aber wenn man diese Erklärung als die einzig mögliche betrachtet, so werden wir nicht mehr durch Züchtigungen und Drohungen Abhilfe zu
schaffen suchen; wir werden uns aus allen Kräften anstrengen, die Grundursache des Uebels zu suchen
und an dieser Stelle Heilmittel anzuwenden, indem
wir sie wie eine Krankheit behandeln.
Wir werden
bei diesem langsamen Verfahren viel mehr Geduld nötig haben, als bei dem andern, aber ich halte es
für das einzig vernünftige.
Bei dem kleinen Kinde giebt es keine Bosheit oder Böswilligkeit.
Sogar bei dem verkommensten
Menschen ist es zweifelhaft, ob er den Vorsatz hat, ein Bösewicht zu sein.
Aber der Mensch in zartem
Alter kennt keine sittliche Erwägung; er folgt den
natürlichen Trieben und diese sind rein physischer Natur. Infolge der Vererbung liegen in dem Menschen
gewisse herrschende Neigungen und wenn diese krank hafter Natur sind, d. h. den Gesetzen einer harmo nischen Anlage zuwiderlaufen, so trachten sie danach, sich zu entwickeln und den guten Samen zu ersticken.
Wir vergessen beständig den krankhaften Zustand, in
welchem sich die Mehrzahl der Menschen befindet; die Leute von gesunder Naturanlage scheinen sich zu min
dern und kranke Eltern sind leider in der Ueberzahl. Wir haben also beinahe alle Tage Unordnung zu be kämpfen, die auf Vererbung beruht, mit dem Kinde
geboren ist.
Wenn es wahr ist, daß jedes Heilmittel
je nach der Dosis, die von ihm eingegeben wird, nützt oder schadet, so kann man auch anerkennen, daß jede Anlage ihre gute und ihre schlimme Seite hat, daß jeder Fehler mit einem Vorzug zusammenhängt, und unsere ganze Aufmerksamkeit mufe sich darauf richten,
daß wir diesen entwickeln, indem wir jenen vermindern.
So ist die Milde oft mit einer Schüchternheit gepaart, die bei dem ersten rauhen Wort sich zu einer Lüge treiben läßt; Großmut geht mit der Heftigkeit; Selbst-
sucht und Liebenswürdigkeit, argwöhnische Scheu und Fülle des Gefühls sind Schwestern. Wenn die Thatsache zugegeben wird, daß es in der Natur keinen bösen Vorsatz giebt, wenn die Un
möglichkeit eines solchen Vorsatzes zugegeben wird, so
wird man sich, denke ich, über eine Krankheit nicht ereifern, wenn ich auch zugebe, daß man bisweilen darüber ungeduldig wird.
Die gewöhnlichsten Krank
heiten können uns ungeduldig machen, wenn sie nicht
schnell weichen wollen, aber man wird sich wenigstens
nicht über die Art und Weise täuschen, in der man
sie behandeln muß.
Man wird ein Kind nicht darum
strafen, weil es blutarm oder schwach ist, und man straft es, weil es launenhaft, heftig oder jähzornig ist.
Demgegenüber behaupte ich auch jetzt, daß es an
diesen Neigungen nicht mehr schuld ist als an der
Zusammensetzung
seines Blutes.
Wenn das Kind
blutarm ist, so wird man versuchen, es durch eine ge regelte Lebensweise, durch geeignete Heilmittel zu stärken, vielleicht durch Luftveränderung, neue Umgebung, kurz,
durch eine oft recht lang fortgesetzte Kur, denn wir wissen, ohne daß ich es zu sagen brauchte, daß die
einmalige Anwendung
eines starken Heilmittels es
nicht stark und vollsäftig macht.
müssen werden.
die krankhaften
Nun wohl, ebenso
Charakteranlagen behandelt
Heftigkeit, launenhaftes Wesen, beständige
Mißvergnügtheit, Faulheit sind Uebel, die durch die
Lebensgewohnheit und durch eine sanfte, feste und
ebenso beharrliche Pflege bekämpft werden wollen wie
die, welche man bei einem gewöhnlichen Krankheits
zustand anwendet. Wenn ich also Achtung vor der Eigenart fordere,
so will ich damit keineswegs sagen, daß man ihre Fehler nicht bekämpfen soll.
Das wäre ebenso thöricht,
als wenn man ein skrofulöses Kind so wie es ist aufwachsen lassen und sehen wollte, was daraus würde.
Ich sage nur, man soll sich nicht nach schroffen Mitteln
umsehen: grundstürzende Veränderungen sind ganz und gar unmöglich. Je früher man die Kur beginnt, desto
größer ist die Aussicht auf Gelingen.
Wenn man
hinsichtlich der Blutarmut, der Gliederschwäche und anderer konstitutioneller Krankheiten verstanden hat, wie wichtig es ist, sie von dem Augenblick an, wo
man sie erkannt hat, zu bekämpfen, so habe ich nicht
nötig, die Größe des Gewinnes darzuthun, wenn man
dasselbe System mit dem Charakter befolgt.
Eine
rechtzeitig in Angriff genommene Krankheit ist leicht besiegt, ein Fehler im Keime leicht erstickt, aber dann
darf man auch keine Stunde verlieren!
Heftigkeit z. B. ist eine der am gewöhnlichsten
bei ganz kleinen Kindern entwickelten Züge. Das Uebel, welches daraus für Gehirn und Nervensystem erwächst, ist ungemein groß. Wir haben es beobachten können,
daß die heftigsten kleinen Geschöpfe, sobald der Anfall
vorüber ist, die schwächsten sind. Warum? Weil ihre Nerven infolge der soeben erlittenen Ueberreizung ge schwächt sind und eine so vollständige Erschlaffung
eintritt, daß ihnen keine Willenskraft mehr übrig bleibt. Es ist also ein nervöser Anfall, der durch eine oft sehr geringfügige Ursache hervorgerufen wird.
Bei
nervösen Anfällen, welche von bekannten Gesundheits störungen herrühren, bei Krämpfen, Fallsucht oder
Veitstanz empfehlen die Aerzte Heilmittel, wie z. B. Bäder, beruhigende Mittel und eine vollständige Ruhe,
ohne das mindeste Geräusch oder die mindeste Er regung.
In derselben Weise muß man die Zorn
ausbrüche behandeln.
Heftigkeit der Heftigkeit ent
gegenzusetzen nützt gar nichts.
Wenn sie auch einmal
in einem Falle dem Kinde Halt gebietet, so stehen dem hundert Fälle entgegen, in denen kein Schreck
mittel und keine Schläge das Kind abhalten, bis zur äußersten Raserei der Wut zu toben, auf welche höchst
wahrscheinlich eine tiefe Abspannung folgt.
Sobald
man einmal das Vorhandensein dieser Anlage zur Wut bei dem Kinde bemerkt hat, muß man es ver
meiden sie hervorzurufen, und muß die Beweglichkeit dieses Alters benutzen, um es mit irgend etwas an
derem als mit dem, was es reizt, zu beschäftigen. Man soll nie unter dem Vorwande, man wolle den
Charakter des Kindes bilden, an ihm herumnergeln; wenn es zum Zorne neigt, so vermehrt das nur die
Neigung zum Jähzorn.
Die Furcht vor Strafe wird
es auf die Länge dahin bringen, daß es die äußeren Zeichen dieses Zornes verbirgt, aber dieses Doppel
spiel, das erst nach jahrelanger Uebung erlernt wird, ist im ganzen ein dürftiges Ergebnis, weil es ein
Uebel durch ein anderes ersetzt.
Es wütet innerlich
darum nicht minder und oft entwickelt sich in ihm eine Anlage, die sonst niemals mit Heftigkeit gepaart vorkommt: es wird hinterhältig und rachsüchtig.
Ein
verschlossenes, stilles und verdrossenes Kind wird mir immer mehr Befürchtungen einflößen als das, welches sich gehen läßt und seinen wahren Charakter zeigt.
Wenn man sein wahres Wohl will, so wende man
alle Erfindsamkeit an, um jede Gelegenheit, die es in Aerger versetzen könnte, zu vermeiden, denn Heftigkeit
und Jähzorn entwickeln sich stärker, je häufiger ihre Anfälle sind.
Diese Anlage gilt es zu bekämpfen,
welche immer eine große Reizbarkeit der Nerven an
deutet; dazu dienen stärkende Mittel, vor allen Dingen der Schlaf während zwei oder drei Stunden den Tag über, wenigstens bis zum siebenten Jahre; dann Be
wegung in freier Luft, Spiele, welche den Körper entwickeln und so weit ermüden, bis die Lust zum
.Schlafen kommt.
Wenn trotz alledem ein Zornanfall
sich einstellt, so lasse man das Kind allein, streite nicht mit ihm während der Dauer des Anfalles, schließe es
da ein, wo es sich keinen Schaden thun kann, und
sage ihm, daß es herausgelassen werden wird, sobald
es aufhört, die andern mit seinem Schreien zu be
lästigen.
Sobald es sich beruhigt hat, gebe man ihm
seine Freiheit wieder und lasse es mit einem kurzen Wort der Ermahnung laufen und wieder spielen.
Die
Strafe darf man nicht über die Dauer des Heftigkeits
anfalls verlängern.
Nach Verlauf von fünf Minuten
(ich spreche immer von den ersten Jahren) erinnert
sich das Kind nicht mehr, warum es in Strafe ge nommen worden ist/und aus der Langeweile, welche ihm seine Einsamkeit verursacht, kann seine Erregung
wieder erwachen; dann kommt ein neuer Anfall, Thränen, Heftigkeit, Abgespanntheit und so weiter und so weiter.
Wenn es im Gegenteil gleich wieder in die gewöhnliche Umgebung zurückkommt, sobald es zur Vernunft zurück kehrt, so wird es versuchen, die unangenehme Stim mung zu vermeiden, welche, wie es wohl weiß, durch seine Unvernunft verursacht worden ist.
Auf jeden
Fall ist durch eine vorübergehende Isolierung eine längere Dauer des Anfalles vermieden worden, und
das ist ein Hauptpunkt. Eigensinn wird, abgesehen davon, daß man ihn
durch Nachgiebigkeit ermutigt, am häufigsten durch die aus der Unthätigkeit hervorkommende Langeweile ver ursacht, denn:
In mttß'ger Weile schafft der böse Geist
und ein englisches Sprichwort sagt: Der Satan findet
immer eine Missethat für müß'ge Hand zu thun. Von dem ersten Tage des Kindes an muß seine Zeit
auf irgend eine Art ausgefüllt sein.
Für das erste
Jahr genügt es ihm, zu schlafen, zu essen und Arme
und Beine zu recken.
Sobald es auf der Erde sitzt,
kann man ihm durch Spiele, die für sein Alter passen,
Abwechselung in den Gebrauch seiner Zeit bringen. Die ersten Gegenstände, die man ihm in die Hand giebt, müssen unbedingt unschädlich sein, denn instinkt
mäßig bringt es dieselben stets an den Mund.
Das
Zahnen macht ihm dies zum Bedürfnis, denn es ver
ursacht einen Reiz des Zahnfleisches und während dieser Periode muß das Kind auf irgend etwas beißen,
um den Durchbruch der Zähne zu erleichtern.'
Man
gebe ihm ein Stück poliertes Holz, das nicht splittert,
einen Gegenstand aus Knochen, kurz irgend etwas,
was die Gefahr einer Verwundung oder Vergiftung nicht mit sich bringt, namentlich aber nichts, was man
ihm später wegnehmen muß, denn sicherlich will es das einmal erhaltene Ding behalten und eine ganze Reihe von Launen wird denjenigen strafen, der es
durch irgend eine Sache in Versuchung führt, welche
er ihm nicht lassen kann.
Man kann ihm Bilder
zeigen, mit ihm Versteck spielen und mit dem Balle rollen und es besonders in Gesellschaft anderer Kinder sich bewegen lassen, vorausgesetzt daß sie alle über-
wacht sind.
Wenn es so immer beschäftigt ist, wird
es keine Lannen haben, die immer durch die Lust nach dem Unerlaubten oder durch die Ermüdung verursacht werden.
Bei ganz kleinen Kindern
geht allzuviel
Lachen und lärmendes Spiel über die Kräfte hinaus
und macht sie eigensinnig, d. h. krank und zwar ohne daß sie oder wir uns Rechenschaft darüber geben, daß das, was wir Eigensinn nennen, oft ein gebie terisches Bedürfnis nach Ruhe, bisweilen auch nach
Schlaf ist.
Wenn das Kind trotzt, so kommt dies daher, daß ihm eine gewisse eitle Eigenliebe die Ueberzeugung von seiner eigenen Wichtigkeit beibrjngt; es denkt die andern dadurch zu strafen,
einbildet, eine
unentbehrliche Person zu sein, die man nicht nach
Verdienst behandelt.
Man muß nicht darauf achten
und es zerstreuen; einem etwas älteren Bruder oder
einer Schwester wird das besser als sonst wem gelingen. Es ist so beweglich, daß es von selber zu lachen und zu spielen anfängt, wenn man seine üble Laune un
beachtet läßt, aber wenn man ihm zu eifrig entgegen kommt, dann schließt es sich ein wie in einer Burg.
Wenn die Laune keine Beachtung findet, dann ver gißt es sie selbst; es sieht, wie die andern sich be
lustigen, und nimmt teil an dem Spiel, dann darf man es aber nicht an den eben verrauchten Trotz
erinnern.
Der Trotz gehört unter die Fehler, die
man durch Nichtachtung am besten ausmerzt.
Das
Kind bemerkt gar bald, daß es allein darunter zu leiden hat und daß man seiner sauertöpfischen Miene gar keinen Wert beilegt.
Diese scheinbare Enthaltung
von unmittelbarer Einwirkung ist die beste Art, um zu dem gewünschten Ziel zu kommen.
Sobald das Kind zu sprechen anfängt, wird es ein Fragemäulchen und man muß ihm immer ant worten, wenn man eben im Augenblick der Frage
nicht mit etwas anderem beschäftigt ist. In dem Fall sage Ulan dem Kind, daß man ihm nachher antworten
will, und hüte sich, einer Laune unmittelbar zu ge nügen, die vielleicht vorübergeht oder nur eine List ist, mit der das Kind uns zwingen will, uns mit ihm
abzugeben.
Es soll gewiß die Ueberzeugung haben,
daß man es liebt und liebkost, sogar auch schützt, da
gegen darf, es nicht infolge unseres Verschuldens eine übertriebene Vorstellung von seinem Werte gewinnen.
Ich kann den Anblick eines kleinen Kindes nicht aus stehen, das kaum einige Worte lallt und sich erlaubt, einem Erwachsenen etwas zu befehlen.
So sehr ich
es natürlich finde, daß es bittet und daß man, ohne
Mißbehagen zu zeigen, ihm giebt, was es braucht, ebenso sehr tadle ich die, welche ihm gestatten, befehlerisch
und
anspruchsvoll
aufzutreten oder irgend jemand
etwas aufzutragen.
Der ersten derartigen Unbesonnen
heit muß man eisiges .Stillschweigen
entgegensetzen
und ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken. Der Befehl, den das Kind giebt, muß sogar, wenn er vernünftig ist, sich in eine Bitte umwandeln, um beachtet zu werden.
Alles hängt also von der Art ab, in der wir
unsere Aufgabe verstehen —
und wir sind oft an
dem schuld, was uns späte Neue einträgt.
Um ein
befriedigendes Resultat zu erhalten, mußt du, liebe
Leserin, die erste Forderung dadurch erfüllen, daß du
selber nie erregt oder ungeduldig bist; in Augenblicken, wo du schlechter Laune oder empfindlich gereizt bist (und wir haben solche Augenblicke recht oft, weil
unsere Kraft nicht jede Prüfung besteht und wir uns von tausend Sorgen bedrückt fühlen), in solchen Augen
blicken nun ist es besser, gar nichts zu thun, sondern zu warten, bis der regelmäßige Zustand wiederkehrt.
Wenigstens hat man das Kind dann nicht erschreckt oder eingeschüchtert und man hat keine Reihe von
neuen Schwierigkeiten, mit denen man noch lange
kämpfen müßte.
Ich hoffe meine Leserinnen zu der Ueberzeugung gebracht zu haben, daß in den meisten Füllen Strafe
und persönliche Voreingenommenheit eine wahre Plage sind und daß die Politik der Enthaltung da ange bracht ist, wo man nicht ganz und gar sicher ist, ruhig
so zu handeln, daß man Freundlichkeit und Festigkeit vereinigt.
VI. Während der ersten Jahre richtet sich das Auf
fassungsvermögen des Kindes nur auf sinnlich wahr nehmbare Gegenstände; es wird nur von dem in An spruch genommen, was es sieht,
hört,
schmeckt.
ist
höchsten
Der Nachahmungstrieb Maße
ausgebildet;
fühlt und
bei
ihm
im
einzig vermöge dieses
Triebes lernt es gehen, lachen und sprechen.
Die
Taubstummen sind des Vermögens, einen Laut her
vorzubringen, keineswegs beraubt, aber da bei ihnen das Trommelfell nicht vorhanden oder zufälligerweise zerstört ist, so kommen sie nicht zum Sprechen, welches
auf dem Wege der Nachahmung erlernt wird.
Sogar
bevor es spricht, bezeichnet das Kind die Tiere nach ihren charakteristischen Lauten.
Dies ist der Auf
merksamkeit meiner Leserinnen sicher nicht entgangen,
denn jedes Kind fängt damit an; immer ist es die Nachahmung, welche es in seinem Lallen die komischen
Namen erfinden läßt, die es den Dingen und Personen giebt.
Die Eigentümlichkeiten
fallen ihm auf;
es
sieht jemanden z. B. Gesichter schneiden und auf der Stelle schickt es sich an, die Grimasse nachzuahmen;
es kann sich sogar auf diese Weise entstellen und da
her muß man auf diese
kleinen Kniffe sehr wohl
achten, welche so viele Kinder einfach darum annehmen, weil sie sie gesehen haben.
Die Spiele, welche sie
erfinden, sind ein Spiegelbild dessen, was in ihrer Umgebung vorgeht. Die Kinder eines Zimmermanns, einer Näherin, eines Malers spielen die Beschäftigung
ihrer Eltern und nichts in der Welt ist amüsanter als zu sehen, wie die kleinen Mädchen unter sich Be
such spielen.
Unbewußterweise liefern sie die aller
gelungenste Parodie der Gebärden, der Redensarten
und Gewohnheiten, welche sie um sich sehen. Die Natur enthüllt sich am besten in den von den Kindern selbst erfundenen Spielen; diese zu be
obachten ist interessant und unterrichtend.
Sie ge
stalten durch die Stärke ihrer Einbildungskraft die gewöhnlichen Dinge in solche um, welche ihnen aus
gefallen sind oder welche ihnen gefallen.
So setzt
sich das Kind unter einen Tisch und bildet sich ein,
auf diese Weise in einem schönen Salon oder im
Schatten der Bäume zu sein und endlich glaubt es selber daran.
Ein Stock verwandelt sich ihm in ein
feuriges Roß, auf dem es selber sich als schöner Reiter brüstet;
auf diesem in seinen Augen
leibhaftigen
Nenner jagt es durch Wälder, setzt es über Flüsse, überwindet es tausend Hindernisse. Aber dazu braucht es eine gewisse Erfahrung; entweder hat es Roß und Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
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Reiter, dem einige dieser Abenteuer widerfahren sind,
gesehen oder es hat die Erzählung gehört und hält sich für ihren Helden.
Allein die äußern Thatsachen
prägen sich ihm ein, nicht ihr geheimer Sinn, der ihm noch lange entgehen wird.
Beispielsweise habe ich
ein Kind, dem ein kleiner Bruder gestorben war, ganze
Monate lang sich damit unterhalten sehen, daß es
seine Puppe unter Blumen begrub, dazu in traurigem Tonfall saug und sein Gebet am Sarge dieses ge
dachten Toten verrichtete.
Offenbar war die ursprüng
liche Erinnerung an den Lebenden beinahe vergangen,
ebenso die Trauer über seinen geheimnisvollen Fort
gang, aber die Einzelheiten der Leichenfeier hatten in seiner Einbildungskraft einen solchen Eindruck hinter lassen, daß es unaufhörlich darauf zurückkam, wie es in
jedem Falle versucht haben würde das nachzuahmen, was ihm stark aufgefallen war.
Aber da ein von außen
kommender Eindruck notwendig ist, um ihm die Vor stellung von diesem Spiel zu geben, so kann man
sagen, daß es nichts erfindet, daß es sich das, was es sieht, aneignet und je stärker seine Einbildungs
kraft ist, um so inniger wird es sich selbst mit dem Bilde verschmelzen, welches ihm gefallen hat oder von dem es erschreckt oder beschäftigt worden ist.
man ein kleines Mädchen
sieht,
das
Wenn
seine Puppe
mißhandelt, so kann man sicher sein, daß dies Spiel ein Ergebnis der Art und Weise ist, in der es selbst
behandelt worden ist, und da es die Puppe für eine
Person hält, so ist es in der That ein leidiger An blick, zu sehen, daß es eine derartige Gewohnheit an
nimmt.
Von da bis zur Tierquälerei ist nur ein
Schritt, und wen das Leiden eines Tieres nicht be
wegt,
der
kommt leicht
dazu,
auch
seinesgleichen
ohne Gewissensbisse zu schädigen. Abstrakte Ideen existieren in diesem Alter nicht,
sie kommen nur in der Folge einer sehr langsamen geistigen Entwickelung.
Nicht bloß das Kind, sondern
auch der.Ungebildete stellt sich jede nicht-materielle
Idee in der Form vor, in der sie seinen Sinnen ent
gegentritt.
Man denke, wie viel Jahre und Beleh
rung wir gebraucht haben, um uns Gott anders als
den weißbärtigen Greis vorzustellen, welchen die Bil der darstellen, und sind wir denn wirklich vollständig
frei geworden von dieser Vorstellung des Schöpfers? Für ein Kind ist gar keine andere Idee möglich;
ebenso geht es mit Engeln, Geistern und Feen; das Volk und die Kinder stellen sie sich mit den durch die Abbildungen verbreiteten Attributen so gut vor, daß sie ihnen zu alten Bekannten geworden sind und sie
eine sehr bestimmte Vorstellung von denselben haben, in
welcher sie weit mehr als wir über diese geheimnis
vollen Wesen klar sind. Alles was dem Bereiche des Geheimnisses angehört, gefällt diesem Alter ungemein,
indem sich das Kind van alle dem angezogen fühlt,
wodurch es in eine unbekannte Welt versetzt wird,
da es sich alles durch Bilder vergegenwärtigt.
Man
darf also in dieser Zeit die Einbildungskraft nicht
entwickeln; man muß sich ihrer und des Nachahmungs triebes vielmehr bedienen,
um sie
auf Sachen zu
lenken, welche bleibender Erinnerung wert sind. Wir können uns diesen Vorgang vorstellen, wenn
wir darüber nachdenken, wie sich das Schönheitsgefühl
in uns
entwickelt hat.
Derjenige erwirbt
es
am
schnellsten, der es bei den Personen seiner Umgebung
entwickelt vorfindet.
Die ersten Eindrücke sind so
stark, daß sicherlich jeder von uns den Raum genau
beschreiben kann, in dem wir unsere Kindheit verlebt
haben, und wenn die Zeit einmal viele merkwürdige Dinge aus unserm Gedächtnisse getilgt haben wird,
werden wir von dem Sorgenstuhl aus, in den uns das Alter bannt, das Gesicht der Wärterin wieder
sehen, welche uns beten gelehrt hat, oder das Bild an der Wand, das wir im Augenblick des Erwachens
von unserm Kinderbett aus sahen.
Wir werden nur
einen Glockenton zu hören oder den Duft einer Blume zu riechen haben, um uns in der Kirche unseres Dorfes
wiederzufinden und die geringsten Einzelheiten darin wiederzuerkennen, oder auf der Wiese, auf der wir
die Frühlingsblumen suchten und hinterdrein Schelte
bekamen, weil wir unsere Kleider schmutzig gemacht hatten. Die Zähigkeit dieser Eindrücke ist ein Beweis
für die überaus starke Kraft, mit der dieselben ent standen sind, und durch ihre Dauer erklären sie den Einfluß, den sie auf unsere Art zu fühlen und zu
denken ausüben. Wir wollen also gleich die ersten Jahre benutzen,
um sorgfältig dieses unbeschriebene Blatt des Kinder gehirns zu füllen, so daß es hohe und reine Eindrücke
empfängt, die es für sein ganzes Leben trösten und
erheben.
Unsere Bundesgenossen werden die Dinge
sein, welche das Kind umgeben.
Der Vater des fran
zösischen Philosophen Montaigne wollte, daß sein Sohn von klein auf nur gute Musik höre, nur dem Auge
wohlthuende Sachen sehe, und ließ ihn spielend die
Hanptwissenschaft seiner Zeit, das Latein, erlernen. Ohne irgendwelchen Luxus und ohne große Anstren
gungen kann in unserer Zeit die niederste Hütte dem
frischen Sinn des Kindes etwas Anziehendes
Schönes bieten. kann jedermann
und
Ein paar Feldblumen und Laubwerk
erreichen.
Ebenso
bietet uns der
Fortschritt der Industrie Gelegenheiten, die unseren
Vorfahren unbekannt waren.
Früher brauchte man
ein großes Vermögen, um mit allem dem, was zur Kunst gehört, vertraut zu werden.
Heute kann jeder
sein Haus füllen, nicht etwa mit den gesudelten wohl
feilen Nachbildungen von ehedem, sondern mit den ebenso wohlfeilen Photographien, welche die Meister
werke der Malerei genau wiedergeben.
Glücklich das
Kind, dem seine Träume die Mutter Gottes mit den Zügen einer Naphaelschen Jungfrau und die Engel
in der Gestalt von Cherubim des Correggio darstellen.
Wie ganz anders läßt sich die heilige Geschichte nach
diesen Meistern lernen als nach den scheußlichen bunten Bildern, die den breiten Schichten der Bevölkerung lieb sind und die doch nur gemacht sind, den Geschmack zu verderben.
Ich kann aus meiner eigenen Erinne
rung eine Thatsache mitteilen, welche die Untilgbar
keit des Eindrucks bestätigt, den die in jungen Jahren gesehenen Bilder hinterlassen.
An den Wänden des
Zimmers, in dem sich meine ersten Jahre abspielten, hingen eingerahmt Stiche nach Bildern der Münchner
Galerie.
Ich kannte sie so gut und bewunderte sie
so sehr, daß ich mir die Scenen der biblischen oder der alten Geschichte nie anders vorstellen konnte, als diese Bilder sie darstellten, und infolge dieses An schauens erkannte ich später andere Werke dieser Maler
nach meinen genauen Erinnerungen an diejenigen ihrer
Bilder, die ich doch nur im Stich gesehen hatte. Ich möchte es thunlichst vermeiden, den Kindern Karika turen zu zeigen.
Sie können ihre feine Bosheit nicht
begreifen und so entwickelt die Karikatur in ihnen nur den Geschmack an der Verzerrung, der den Sinn
für das Schöne verderben kann. Die Bücher für das erste Kindesaller werden jetzt mit einer Sorgfalt, so gar mit einer Vollkommenheit des Bilderschmucks aus-
gestattet, welche alles das weit übertrifft, was wir in den Händen hatten, um unser Alphabet zu lernen.
Ohne außerordentliche Ausgaben kann man den Kindern so eine Menge von Dingen in genauer Abbildung
zeigen: Tiere, Landschaften, Leben und Treiben der Menschen in fernen Ländern, Dinge, welche ihre Neu
gier und den Wunsch nach Belehrung erwecken. Alles, was das Kind hört, sei es das gesprochene Wort oder die Musik, muß harmonisch sein, und so
einfach die Lieder sein mögen, die an seine Ohren klingen, so muß man doch, wenn man sie ihm vor singt, die größte Tonrichtigkeit beobachten und niemals
zu seiner Unterhaltung ihm etwas vorschreien oder
vorgröhlen. Eine Mutter, die ihrem Kinde ein Volkslied
leise vorsingt, läßt ihm einen schönen und darum künst lerischen Eindruck zukommen, der es für immer von wildem und rohem Lärmen fernhält. Wie ganz anders
wird sich die Natur des Kindes entwickeln, welches von solcher Melodie eingewiegt wird, als desjenigen, welches durch die Flüche eines Trunkenboldes, durch Gezänk
und Schimpfreden aus dem Schlafe aufgeschreckt wird, die um so manche Wiege laut werden!
Entweder
ist das für die Kinder ein unerträgliches Leiden oder
sie gewöhnen sich, wie das nur zu oft vorkommt, an leidenschaftliche und rohe Ausdrücke.
Dann werden
sie nie singen, sondern eine bedauerliche Freude daran haben aus vollem Halse zu schreien und Roheiten
zu sagen. Wie man sie zur Reinlichkeit, zur Ordnung
und zu der Empfindung, daß nur da Wohlbehagen herrscht, wo jene vorhanden sind, gewöhnen kann, so steht es auch durchaus in unserer Macht, ihm alles
das zu verleiden, was häßlich und mißtönend ist,
alles, was in anderem Zusammenhang die Unsauber keit darstellt.
Schreiende Farben und unharmonische
Töne sind eine Roheit für Auge und Ohr, und wer sich davon abwendet, wird immer Abneigung davor
empfinden, unter welcher Form sie ihm auch ent
gegentrete.
Indem wir das Kind mit dem wahrhaft Schönen vertraut machen, geben wir ihm eine ganze Erziehung,
die
wir später
beinahe nicht mehr geben können.
Wenn es nur einen ganz geringen Keim von Talent hat, so erleichtern wir ihm durch diese Pflege des Schönen die Entwickelung einer Gabe, die vielleicht
die beste Mitgift seines Lebens wird.
Eine uner
schöpfliche Hilfsquelle haben wir dabei in der Natur,
deren Mannigfaltigkeit,
deren Zauber und tägliche
Wunder denjenigen nicht müde werden lassen, der in
ihrer Bewunderung aufgewachsen ist.
Ueberall ist sie
schön, sei es in den dürren Ebenen, sei es in der reichsten Abwechselung herrlicher Thäler. Ueberall kann
man sich am Anblick der Wolken, des Sonnenaufgangs, eines Grases, eines Käfers freuen.
Ihre Erscheinungen,
ihre Töne, ihre Veränderungen werden
das
Kind
immer in Anspruch nehmen, besonders wenn seine Aufmerksamkeit
auf
diese Vorgänge
gelenkt wird.
Welch reichen Schatz von Vorstellungen kann es auf stapeln, ehe die Schule sie ihm zuführt, und wieviel
wertvoller, sie aus eigener Neigung als in mechanischer und langweiliger Art kennen gelernt zu haben! Wer
die Natur liebt, kann niemals ein stumpfer Mensch werden, denn diese Liebe allein genügt, um ihn vor
dem Niedrigen oder Gemeinen 'zu bewahren.
Für
den, der einen Sonnenuntergang genießen kann, der sich aufhält, um eine Nachtigall zu hören oder eine Pflanze zu suchen, hat das Wirtshaus weit weniger
Reiz als für den, dessen Augen sich nie zum An schauen des gestirnten Himmels erheben oder der nie
die poetische Trunkenheit eines Sommerabends ge fühlt hat.
Wenn wir die Macht haben, die Neigungen des Kindes in den Dingen zu
leiten, welche von den
äußeren Eindrücken seiner Umgebung abhängen, wie groß kann unser Einfluß in allem dem sein, was
seinen Geist und sein Herz angeht!
Um zuerst von
dem mechanischen Gebrauch des Wortes zu reden, so
kann man das Kind darauf vorbereiten, sich desselben
gut zu bedienen, wenn man selber gut spricht, d. h.
immer die klarste und knappste Ausdrucksweise für seinen Gedanken wählt — in der Regel ist das auch die einfachste — und jede gemeine oder rohe Redens-
art vermeidet.
Darin liegt einer der Beweise für
die Notwendigkeit, das Kind mit wohlerzogenen Leuten zu umgeben.
Wenn die Umstände es erlauben, so
kann man ihm in den ersten Jahren ohne jede An
strengung mehrere Sprachen auf einmal spielend bei
bringen. denn es lernt sie wie ein Papagei, aber mit einer Schnelligkeit und Geläufigkeit der Aussprache, die man im späteren Leben nicht wieder findet.
So
bald die Kinder nur die Worte verstehen, wollen sie alle eine Geschichte erzählt haben.
Man wird ihnen
solche erzählen, welche in ihnen den Sinn für das
Rechte, die Liebe zum Guten, die Bewunderung für das wahrhaft Schöne in der sittlichen Ordnung der
Dinge und in den menschlichen Handlungen erwecken.
Jesus redete in Gleichnissen zu dem Volke und das
Volk ist ein großes Kind, welches auch die Geschichten
und die Bilder liebt — seinem Beispiele wollen wir folgen.
Das Interesse hängt von der Art der Er
zählung ab.
Für ganz kleine Kinder muß sie kurz
und lebhaft sein, um einen Eindruck hervorzubringen. Es bedarf keiner langatmigen Moral, sondern nur-
weniger Worte, in denen der Kern der Erzählung zu Tage tritt.
Auf diese Art ist es leicht die Folgen
des Ungehorsams zu zeigen, die Befriedigung über
unterdrückte Rachlust, über hintangesetzte Selbstsucht. Wenn man selber keine Phantasie hat, so giebt es
doch Gleichnisse im Evangelium, Erzählungen aus der
biblischen Geschichte und rührende Momente der all gemeinen Geschichte, welche innerhalb der Fassungs
kraft kleiner Kinder liegen.
Man kann ja den auf
einem Bilde, auf einer Photographie gewählten Gegen stand nehmen, um kurz inib bündig seine Geschichte zu erzählen und diese Ereignisse prägen sich dann mit
zäher Haltbarkeit dem Gedächtnisse ein.
Ohne irgend
einen besonderen moralischen Zweck nimmt die Ge
schichte von Abenteuern, von Leuten, die in schwieriger Lage das Herz auf dem rechten Flecke hatten, von
Erinnerungen aus der eigenen Jugend die junge Zu hörerschaft immer .leidenschaftlich in Anspruch.
Ich
habe mit vielem Erfolg versucht, ihr mit wenig klaren
Worten die bekanntesten Fabeln zu erzählen und sie fand offenbar großes Vergnügen
daran.
An den
kleinen Ereignissen ihres täglichen Lebens kann man den Kindern den Sinn dieser Lehrsabeln zeigen, ob
gleich meiner Meinung nach in diesem Alter die Ge
schichte selber sie ganz und gar in Beschlag nimmt. Erst später wirb ihnen der Gedankeninhalt klar.
Nie
mals darf man die Erzählung so lange ausdehnen, daß die Aufmerksamkeit erschlafft. Endlich wollen wir immer und unter allen Um
ständen dem Kinde das einprägen, was wir für die Quelle des wahren Glückes halten, des Glückes, welches nicht von anderen Leuten und nicht von äußeren Um
ständen abhängt, das man mit im Gleichgewichte der
körperlichen und der sittlichen Kräfte und durch die innere Befriedigung und Ruhe, die daraus entspringt,
erreichen kann.
Es sind das einfache Wahrheiten,
aber man kann sie den Kindern nur durch zwei Mittel
einprägen, indem man die Liebe zu ihnen erweckt, d. h. indem man sie der jugendlichen Phantasie als
das Schönste und Wünschenswerteste auf der Welt dar stellt, und durch das Beispiel, iiibem man selber daran glaubt und das, was man lehrt, hochhält. Der per
sönlichen Einsicht und Initiative bleibt im einzelnen Fall das einzuschlagende Verfahren überlassen, darüber
kann ich nur Andeutungen geben.
Meiner Ansicht
nach darf sich keine Spur von Pedanterie des Erden
staubes in
dieser Thätigkeit bemerkbar machen.
Es
muß vielmehr eine reine und feine Luft sein, die man
diese jungen Wesen atmen läßt, ohne daß sie es merken. Nichts Lehrhaftes, keine Aufgabe, nichts was an den
Schulmeister erinnert, niemals sie zwingen, sondern
dafür das, was ihnen nützt, in anmutiger und inter essanter Form. Gar oft verleidet man ihnen das Gute, wenn
man ihnen unaufhörlich vorpredigt, und das muß man doch vor allem vermeiden.
Meine Leserinnen
haben übrigens, wie ich hoffe, wohl verstanden, wie sehr das Predigen meinem innersten Gedanken zu
wider ist, und sie werden nur das lehren, was sie
selbst glauben und lieben; sie wissen, wie lebhaft und
Die Persönlichkeit des Erziehers.
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anregend man ist, wenn man von einer Sache spricht,
die man wirklich mit ganzem Gemüt erfaßt hat, wie Goethe es ausspricht: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr
werdet's nicht erjagen, wenn es nicht ans der Seele
dringt und mit urkräftigem Behagen die Herzen aller
Hörer zwingt!
VII. Die Einfachheit des Spielzeugs ist sein wahrer Vorzug.
Die
herkömmlichen
Bälle,
Springseile,
Schaufeln, Eimer und Bauklötze aus Holz erfreuen sich fortwährend der Gunst aller Generationen und
der Sand, aus dem man Kuchen bäckt und Festungen baut, ist eine unerschöpfliche Fundgrube der Freuden.
Die schönen Spielwaren, welche in den Schaufenstern der Verkaufsläden ausgebreitet sind, gefallen besonders
den Erwachsenen; die Kinder haben in dieser Hinsicht überraschende Neigungen, die dem Preis und dem
äußeren Anschein des Gegenstandes ganz zuwiderlaufen. Ich habe gesehen, wie Kinder von recht reichen Leuten
alles im Stich ließen, um dem Ausschneiden kleiner
Papierfiguren zuzusehen, und wie sie sich darum wie
um Schätze zankten.
Wenn man vor ihren Augen
einen Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs zeichnet,
so ziehen sie das schauderhafteste Gekritzel, welches sie so haben entstehen sehen, dem schönsten Bilderbuch vor.
Ein Papierdrache, der Stück für Stück unter
ihren Augen fabriziert worden ist, macht ihnen hundert mal mehr Vergnügen und beschäftigt sie namentlich
ungleich länger als der glänzendste Papierdrache, den
man fertig kauft.
Sie lieben das, was ein Geräusch
macht und wobei sie sich tummeln können.
Jede
Gartenschiebkarre gefällt ihnen besser als eine schöne Kutsche; die alte Puppe ohne Kopf und Glieder wird
der Liebling einer ganzen Kindergesellschaft, während
ihre eleganten und aufgeputztcn Gefährtinnen in irgend
einem Winkel verstauben, in dem sie ganz unbeachtet liegen bleiben.
Ost gestalten die Kinder ein Spiel
zeug nach ihrem Geschmack zu einer Bestimmung um, zu der man es sonst nie anwendet.
Je mehr ein
Kind verwöhnt wird, je mehr man teure und zierliche Sachen im Bereich seiner Hände aufstapelt, desto
weniger spielt es überhaupt.
Das arme kleine Mädchen,
dem seine Mutter mit vieler Mühe eine Puppe für
ein paar Groschen kauft, hat daran eine dauerhafte Freude und wird sie wie einen kostbaren Schatz ver
wahren.
Es hat Zeit genug
gehabt,
sie sich
zu
wünschen, von ihr zu träumen, und diese lange Er wartung umgiebt ihr teures Kleinod mit allen Schön heiten seiner jungen Einbildungskraft.
Im Vergleich
zu diesem Kinde kann man das reiche Kind nur be
mitleiden.
Die
sprichwörtliche Geschichte
von dem
Kinde, das mit den schönsten Geschenken von der Welt überhäuft wird und doch weint und schreit: Ach, ich langweile mich so! ist buchstäblich wahr.
Ich
habe an Festtagen die Austeilung von Geschenken an
Reiche und an Arme gesehen.
Für die Reichen ist
diese unselige Manier, die Kinder mit Geschenken zu überhänfen, ein wahres Unglück.
davon
überwältigt und
Die Kinder werden
abgespannt und diejenigen
unter ihnen, deren Temperament zu fröhlich und leb
haft ist, um sich von diesem Uebermaß abstumpfen
zu lassen, der für ihr Gehirn ebenso schädlich ist wie
die Süßigkeiten, mit denen sie bei solcher Gelegenheit vollgepfropft werden, für ihren Magen — diese haben
von all den schönen Sachen nur ein einziges Ver gnügen, nämlich sie in ihre Bestandteile zu zerlegen, sie so schnell
überreizte und
als möglich zu zertrümmern.
Ihre
gleichgültige Haltung würde komisch
sein, wenn man sich des Gedankens erwehren könnte, daß diesen Kindern unrecht gethan wird. Den armen,
den wirklich armen Kindern giebt man einfache Spiel zeuge, weil sie an allem ihre Freude haben — die Glücklichen! — in Wahrheit sagen ihre leuchtenden
Augen und ihre überströmende Freude genug, um uns von ihrem Glück zu überzeugen! Man sieht also, wie tadelnswert große Ausgaben
für Spielzeug sind.
Zur Freude oder zur Unter
haltung der Kinder trägt diese Verschleuderung nicht das
geringste bei.
bedauerliche Folgen.
Auf der anderen Seite hat sie Abgesehen von der Uebersät-
tigung entwickelt sie im höchsten Grade eine Selbst
sucht, von der wir selber recht sehr durchdrungen sein
müssen, wenn wir uns solchergestalt Ausgaben ge statten, die das tägliche Brot von manchem unter Später wundern wir
unseren Nächsten daxstellen.
uns, wenn wir sehen, wie die Kinder hoffärtig und gleichgültig gegen andere nur ihrem eigenen Vergnügen
nachlaufen und die Zeit mit leichtsinnigen Ausgaben totschlagen: wen haben wir für dieses Ergebnis ver antwortlich zu machen?
Auf welcher Grundlage haben
wir sie erzogen, wir, die wir über Hilfsquellen, Kennt
nisse und. Mittel verfügten, um ihnen ein würdiges und glückliches Leben zu bereiten? Von ihrer Geburt
an bringen wir es ihnen bei, daß das Glück im Luxus
besteht, und die gute Natur in ihnen mag dieser
Doktrin noch so sehr widerstreben, endlich wird dieselbe
doch zum Glaubenssatz.
Ganze Vermögen geben wir
ihnen unter der Form von unnützem Zeug — ein
Bild von dem, was ihnen ihr ganzes Leben lang das Wünschenswerteste scheinen wird —, das Unnütze, das sehr teuer zu stehen kommt.
Wir bringen den Kindern
mit Gewalt die Vorstellung von der überlegenen Ge
walt des Geldes bei, nicht des Geldes, das durch die
Arbeit erworben wird, sondern das ohne Mühe und Schwierigkeit Gott weiß woher kommt.
Unsere Unter
weisung in der Mildthätigkeit geben wir ihnen mit den paar Pfennigen, die wir in ihre Hand legen, um
sie den Bettlern zu geben, oder indem wir ihnen er lauben, ihre zerbrochenen Spielsachen oder ihre abgeOuroussow, Ueber erste Erziehung.
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tragenen Kleider zu verschenken. und bei dieser Ge
legenheit schmeichlerische Danksagungen von denen ein zuernten, denen sie ein Almosen geben, welches sie selbst nichts kostet.
Nein, wir wollen uns selber für
die Zukunft dieser jungen Herzen verantwortlich machen, die wir durch unsere eigenen Fehler verdorben und
verblendet und denen wir niemals die Dinge in ihrem wahren Licht gezeigt haben.
Man kann die Kinder
nicht früh genug über den wahren Wert des Geldes belehren,
dieser furchtbaren Macht,
in der sich die
Arbeit und die Entbehrungen unserer gesamten Um
gebung darstellen.
Unter diesem Gesichtspunkt muß
man sie lehren das Geld zu achten als das, was so viel anderen den Wohlstand, ja das Leben selber er möglicht; wir wollen ihnen durch das eigene Beispiel
die gebieterische Pflicht zeigen, daß man sparsam mit dem Geld umgeht, sobald es sich um eine persönliche
Laune handelt.
Kein Kind, in welcher Lage es sich
auch befinde, darf über den Wert des Geldes in Unkunde bleiben.
Kein Kind darf Almosen geben,
bis es sich die Freude des Gebens durch eine kleine eigene Entbehrung verdient hat.
Nur auf diese Weise
kann das wahre Vorrecht des Wohlstandes und des
Reichtums gelehrt werden, daß er nämlich das Mittel
ist, um viele andere glücklich zu machen.
Aber das
ist eine Belohnung, kein Verdienst und es ist nur dann ein wahres Vergnügen, wenn man es selber
wenigstens zum Teil sich erarbeitet; so können Arme
und Reiche das unvergleichliche Vergnügen genießen, welches eine Handlung wahrer Barmherzigkeit herbei führt.
Wenn es sich um eine Belohnung handelte,
so hätte ich den einen wie den anderen eine Teilung
mit den Schwächeren, Verlasseneren, Unglücklicheren
vorgeschlagen.
Aber um nichts in der Welt möchte
ich das als eine verdienstvolle Handlung oder als einen Akt der Herablassung oder als einen Anlaß zum Lobe darstellen.
Wer kein Geld hat, kann dem
Neichen doch ebensoviel geben als er empfängt, denn von allen Lehrsätzen ist der, den wir, beinahe ohne es zu merken, den Kindern beibringen, der falscheste
und der beklagenswerteste, daß das Vermögen eine persönliche Ueberlegenheit bedingt.
Ich weiß wohl,
daß wir in Worten, in schönen langen Reden das
Gegenteil predigen, aber unsere Handlungen, unser Leben, die Gedankenlosigkeit, mit der wir auf dieser
Grundlage die einen zum Hochmut, die anderen zum
Neid erziehen, beweisen nur zu sehr die Richtigkeit meiner Ansicht.
Ebensowenig wie teure Spielsachen machen reiche Kleider die Kinder glücklich.
Ihr wahres Vergnügen
ist so angezogen zu sein, daß sie nicht an die Kleider
zu denken brauchen; ihr eigener Geschmack würde also die einfachsten, bequemsten und dauerhaftesten wählen.
Wir befriedigen nur unsere eigene Eitelkeit, wenn wir
sie mit Spitzen und Tand bedecken, unter dem die künftige Salonpuppe ihre Lehrzeit in Leichtsinn und
Gefallsucht durchmacht. Weit entfernt, daß diese bar barische Liebe für den Aufputz bekämpft wird, sieht man sie in allen Klassen der Gesellschaft entwickelt
und ich bedaure sagen zu müssen, daß die Mütter,
welche infolge ihrer Erziehung über diese Thorheit erhaben sein sollten, im Gegenteil die Führerinnen dabei sind.
Und doch entwickelt diese Neigung in der
Frau im höchsten Grade den Neid und die Selbst sucht und bedingt ihre wahre Sklaverei.
Wir wissen
also, was es zu bedeuten hat, wenn wir dieselbe er
mutigen. Ganz besonders ist das Sonntagskleid zu ver bannen, das man den Kindern mit einer Menge Er mahnungen anzieht, sie möchten sich ruhig verhalten, um es nicht zu zerreißen.
Ich möchte lieber, daß die
Eltern, wenn ihr Vermögen es ihnen erlaubt, ihre
Kinder Tag für Tag wie kleine abgerichtete Affen
anziehen, als daß sie ihnen für einen bestimmten Tag, an dem sie sich
hervorthun sollen, einen Gürtel
oder ein Geschmeide vorbehalten.
Wie soll man aber
diese Ueberzeugung einer Mutter beibringen, die es wie einen Schimpf betrachtet, wenn anderer Leute
Kinder eleganter gekleidet sind als das ihre? was für Thränen,
Und
was für Scheltscenen habe ich
schon wegen solcher Flitter gesehen! wie viel fröhliche
Spiele verdorben durch die Furcht, das Kleid könnte
beschmutzt oder zerrissen werden! Tage
Wenn ich früh am
ein kleines Mädchen feierlich spazieren gehen
sehe,, wie es sich in jedem Spiegel, den es antrifft, fröhlich beguckt, und damit später die traurige Hal tung desselben Kindes vergleiche, das durch die be
ständige Anstrengung,
die
natürliche Beweglichkeit
seines Alters zurückzudrängen,
etwas Gezwungenes
erhält, so kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, daß man gar nicht an das wahre Vergnügen des Kindes gedacht hat, als man es so herausstaffierte.
Die Gefahr ist ziemlich stark, daß wir durch diesen Toilettenkram in seinem jungen Herzen
eine
recht
niedrige Regung wachrufen: den Wunsch, durch die
Entfaltung dieses Luxus irgend jemand in den Schatten
zu stellen.
Die verächtlichen oder neidischen Blicke,
welche aus solchen Kinderaugen auf die Kleidung der
Altersgenossen geworfen werden, haben mich oft be schäftigt. — Schon! sagte ich mir. Wenn man ein Kind an Ordnung gewöhnt hat, was man auch gleich von Anfang an thun muß, indem
man das Kind lehrt seine Sachen immer selbst in Ordnung zu bringen, so wird es sicherlich aus freien
Stücken seine Kleider nicht beschmutzen oder zerreißen,
und wenn es die Reinlichkeit liebt, wird es ihm un angenehm fein, sie befleckt zu sehen.
Wir wollen ihm
also niemals erlauben, mit schmutzigen Händen oder
mit zerzaustem Haar oder mit Schmutz bespritzt in
unsere Nähe zu kommen; wenn es uns lieb hat, wird es die Dinge vermeiden, die es von unserer Gesell schaft fernhalten und die uns unangenehm sind.
Aber Spielzeug, Kleider und alles, was zu dem Kinde in Beziehung steht, muß ohne alle Neben gedanken lediglich Gegenstand des Bedürfnisses, der
Bequemlichkeit oder des Vergnügens sein.
Von dem
wahren Luxus habe ich oben gesprochen, der in Lust, Reinlichkeit, Bewegungsfreiheit, Nahrung und ge
nügender Wärme besteht.
So
reichlich
man dem
Kinde diesen Luxus auch geben mag, so wird es doch darum niemals eitel werden, denn diese so kleinliche
Regung kommt nur von den Dingen, die seine kleine
Person besonders angehen. Um sich in dieser ernsten Frage nicht zu täuschen, muß man wissen, was man für seine Kinder wünscht.
Es kann dabei keine doppelte Moral, keinen doppel ten Weg geben. Von den ersten Schritten an werden
sie in die eine oder die andere Richtung gebracht. Oft habe ich die bittere Täuschung wohlmeinender Eltern erlebt, welche naiv gestanden, daß trotz aller ihrer Erziehung ihr Kind gerade das Gegenteil ihrer Absichten geworden sei.
ziehung" denken.
Ich kann mir diese „Er
Wenn das Kind 15 oder 16 Jahre
alt geworden ist, werden sie wohl, vor Schrecken über seine Eitelkeit, seine Selbstsucht, seine Nichtigkeit,
heftig gegen das zu Felde gezogen sein, was sie selbst
ermutigt hatten.
Predigten und sogar Strafen wer
den sie dann nicht gespart haben.
Aber wie war
denn die Aussaat beschaffen, aus der ein hochsinniges, hingebendes,
liebevolles Wesen
hervorgehen sollte?
Was hat man denn das Kind gelehrt höher als alles zu schätzen?
Was hat man ihm denn gezeigt als
Ziel für all sein Streben? Darum Minute ab.
also
keine Täuschung
von der ersten
Was ist besser, Selbstsucht, Eitelkeit,
Herzenshärtigkeit, oder Hochsinn, Hingebung, Liebe?
Welcher von diesen beiden so verschiedenen Wegen ist
der Weg zum Glück?
Darüber muß jeder, der sich
mit Kindern beschäftigt, ernsthaft nachdenken, ehe er
diese Aufgabe unternimmt, und man muß in dieser Hinsicht einen unwiderruflichen Entschluß fassen, denn man kann später das nicht wieder zerstören, was
man von Anfang an gebaut hat.
Gar schnell ist die
Saat eingesenkt und trägt Samen.
Ich für meinen
Teil, überzeugt wie ich bin, daß der mindest Selbst süchtige oder Eitle die meisten Aussichten auf Glück hat, halte es für meine Pflicht, meine Leserinnen auf
die Wichtigkeit ihrer Entscheidung hinzuweisen.
Aber
man darf sich keiner Täuschung über die rings um uns
herrschende Stimmung
Arme,
hingeben;
Reiche und
sie unterliegen alle der Möglichkeit dieses
Irrtums.
Man unterstützt durch die Wertschätzung,
welche man vor den Augen des Kindes den äußern Zeichen des Reichtums beimißt, die Begehrlichkeit und die Eitelkeit.
Das Kind fängt also an, falsch über
diese Dinge zu denken und doch kommt es darauf an, richtig zu denken.
Nur wenn es die Dinge ihrem
wahren Werte nach schätzt, d. h. insoweit sie zur Her
stellung des inneren Glückes beitragen, wird es künftig einmal, was auch sonst seine Lage sein mag, zu der unvergänglichen und glorreichen Schar der Diener
der Wahrheit zählen, welche jetzt und immerdar starker
sind als alle andern. Statt also dem Kinde zu gestatten, daß es alle
seine Vorstellungen auf sich selber,, seine Neigungen und seine Launen konzentriert, wollen wir es sobald als möglich für seine Umgebung interessieren, welche
so viel Leute ihr ganzes Leben lang weder bemerken noch kennen.
Während der schönen Jahreszeit wird
es mit Vergnügen graben, jäten und pflanzen, aber
während der ersten Jahre ohne große Ausdauer, denn es vergißt den Zweck seiner Arbeit und möchte Ab
wechselung haben.
Man muß es nun nicht zwingen
eine Beschäftigung fortzusetzen, welche es langweilt; es sucht infolge der Beweglichkeit des Leibes und der
Eindrücke Neues. Indessen kann es vom fünften Jahre
an genug Interesse für eine Sache haben, um eine Pflanze zu pflegen und sich in dem Gedanken zu
freuen, daß es ihre Entwickelung gefördert habe.
Aber die allerbeste Unterhaltung sind gemein
schaftliche Spiele.
Eine Kinderschar, die dem eigenen
Beginnen überlassen ist, bietet Gelegenheit zu dem
anregendsten Studium.
Da enthüllt sich Geschmack,
Neigung, Fähigkeit eines jeden und unter ihnen sieht man immer eines, welches den Ton angiebt; ihm ge
horchen alle übrigen und zwar ist es das Klügste, dem dieses Los bei der Teilung zufällt.
Niemals
erlangt es diesen Einfluß durch körperliche Stärke,
denn von der Wiege an gehorcht der Mensch instinkt mäßig der geistigen Ueberlegenheit. Der kleine Däum
ling ist ein anmutiges Beispiel für dieses Gesetz. Wie oft habe ich mich über die Geschicklichkeit gefreut, mit welcher das Klügste sich der Leitung der andern
bemächtigt, sie in Anspruch
nimmt und befehligt.
Diese Spiele sind der Beweis dafür, daß die Men schen von Natur in Herrschende und Gehorchende zer
fallen.
Es giebt keine Gleichheit unter uns, was
man auch darüber träumen möge, und der Kinder
staat ist der einzige, welcher sein Oberhaupt nach der
einzigen wahren Ueberlegenheit wählt, der des Cha
rakters.
Denn
unter den Begabten findet immer
noch der den meisten Gehorsam, der sich selbst am
besten beherrscht.
Das Kind, welches gleichgültig ist
gegen Neckerei, welches ohne Furcht oder Berechnung
die Wahrheit sagt, welches eine Regung des Zorns zu unterdrücken und leicht nachzugeben versteht, weil
es den für seine Altersgenossen schrecklichen Dingen
keinen Wert beimißt, das Kind endlich, welches sich
selbst vergißt, um den andern zu helfen oder sie zu erheitern, das wird immer von den Kameraden ge achtet.
Diese Achtung ist der Beweis eines uns an
geborenen Gerechtigkeitssinnes. Die künstlichen Kastenuiib Standesunterschiede können verschwinden, — diese Ueberlegenheit wird immer von allen anerkannt.
Es
braucht uns nicht allzusehr zu kränken, wenn das
Kind, für welches wir uns persönlich interessieren, sich unter den Gehorchenden befindet. Das ist besser,
als wenn wir es voll Neid sich absondern sehen aus
Aerger darüber, daß es nicht den ersten Platz hat.
Das Kind ist verständig; der unanfechtbare Beweis dafür ist, daß es sich durch einen Ueberlegenen leiten
läßt, ohne ihm böse zu werden. Wenn uns ein Kind schwach begabt scheint, wollen
wir uns sehr hüten, es dumm zu nennen; wir wollen es vielmehr für jede kleine Anstrengung loben, denn
das Lob wird zu seiner Entwickelung dienlicher sein,
als alle tadelnden Bemerkungen, die wir ihm im
Aerger über seine Beschränktheit machen.
Zunächst
kommt ein etwas schüchternes Kind uns andern, die wir nicht wissen, was in ihm vorgeht, oft viel thö
richter vor als es in Wirklichkeit ist; wenn es sodann bemerkt, daß man es für dumm hält, so wächst seine
Schüchternheit,
denn es ahnt seine Schwäche und
steigert sie sogar oft.
Das kann eine Quelle wahr
hafter Leiden werden und seine Entwickelung wirklich
aufhalten, indem es verschlosien und still wird.
An
ein solches Kind muß man also Ermutigungen wen
den, denn alles, was man von einem fordern kann, ist eine Anstrengung und für den einen ist es ebenso
viel Verdienst, daß er lesen lernt, wie für den andern, daß er Schwierigkeiten spielend überwindet.
Reich
begabte Kinder bedürfen der Ermutigung weit weniger. Jedermann spendet sie ihnen und fügt ihnen großen
Schaden zu, wenn er über die Beweise ihres Witzes
oder Talentes in Verzückung gerät.
Diese unver
ständigen Lobeserhebungen hindern ihre Entwickelung
durch die Eitelkeit, deren Weihrauchwolken ihnen den
Kopf benebeln, der selbst beim Erwachsenen noch von
Komplimenten eingenommen wird.
Im allgemeinen
ist nichts unheilvoller als Bemerkungen über Häß lichkeit und Dummheit, über Schönheit und Klugheit
der Kinder.
9tur über das, was der persönlichen
Initiative entstammt, braucht es der Bemerkungen;
sie sind ganz und gar zu vermeiden, wenn sie sich auf Dinge beziehen,
die so sehr vom Willen des
Kindes unabhängig sind, wie physische und geistige
Beschaffenheit. Sie veranlassen das Kind sich zu sehr mit sich selber zu beschäftigen und machen ein Ver dienst oder ein Verbrechen aus rein zufälligen Dingen;
im Gegenteil muß man das Kind gerade mit allem
dem beschäftigen, was es von sich selber abziehen
Durch anerkennende oder mißbilligende Be
kann.
merkungen entwickeln wir die Ansprüche der einen oder die krankhaften Vorurteile der andern.
Ich hege die feste Ueberzeugung, daß jeder von uns in That und Wahrheit nur unter dem leidet, was ihn persönlich berührt.
Alles was darüber hin
ausgeht, kann ihn erregen und in Anspruch nehmen, aber wird bei ihm niemals Gefühle der Bitterkeit oder der Eitelkeit erregen.
Möglichkeit des Glückes:
Darin liegt eine reiche
laßt uns in diesem Sinne
arbeiten. Wenn man nun auch den gemeinsamen Spielen die möglichste Freiheit läßt, so darf man doch nie
mals kleinere Kinder allein lassen, denn selbst wenn die Roheit ganz aus dem Spiele bleibt, könnten sie
doch unwissentlich den Kleinen oder Schwachen einen Schaden zufügen. nicht einmischen.
Darüber hinaus dürfen wir uns
Ich finde es äußerst anziehend, die
Verschiedenheit ihrer Charaktere in ihren wechselseiti gen Beziehungen und sogar in ihren kindischen Ge
sprächen zu verfolgen.
Man kann darin schreckliche
Wahrheiten für ihre Erzieher entdecken und wird oft
über die Stärke des Gedächtnisses erstaunt sein, mit
welcher sie das in ihrer Gegenwart Gesagte festhalten,
wenn man gar nicht daran dachte, daß sie ganz Ohr waren.
Also Vorsicht, in dem was wir sagen, und
wenn wir dann ein unwiderstehliches Bedürfnis zu
klatschen, andere durchzuhecheln oder Thorheiten zu sagen haben, so wollen wir es wenigstens an einem
Orte thun, wo uns die Kinder nicht hören.
Dieser
Nat ist auf eine sichere Vertrautheit mit dem Gehör und dem Gedächtnis dieser lieben Kleinen begründet.
VIII. Wenn mir der Nachweis gelungen ist, daß die
ersten erziehlichen Elemente in der Umgebung des Kindes und nicht etwa in einem eigentlichen Unter
richt liegen, so wird man anerkennen, daß die Er
ziehung von der Wiege an beginnt und daß sie allen Kindern notwendig ist, während der höhere Schul unterricht keineswegs jedermanns Sache ist.
Die Er
ziehung muß in gewissem Sinne beinahe vollendet sein, wenn die Schularbeiten beginnen.
Nicht die
Schulstudien bilden die Gesundheit des Leibes oder den Charakter; wenn der Boden, auf welchen sie ge
pflanzt werden, nicht vorbereitet ist, so sind sie nutz los und können sogar gefährlich werden, wie etwa ein unrichtig angewendetes Heilmittel oder ein spitzes
Messer in den £änben eines Kindes gefährlich werden kann.
Sehr mit Unrecht wendet man also die Be
zeichnung „Erziehungsperiode" auf die auf den Schul bänken zugebrachte Zeit an. die rechte Benennung;
Dafür ist Unterrichtszeit
die Kinderstube macht aus
dieser Unterrichtszeit eine Wohlthat oder ein Uebel.
Ein Beweis dafür liegt darin, daß in der ganzen Welt die heftigen Umstürzler meist unterrichtete, bis weilen sogar gelehrte Leute sind, aber Leute ohne Erziehung, und unter den ärmsten Proletariern können
die im Besitze einer gewissen Schulbildung befindlichen am allerschwersten ihr Brot verdienen; das sind die
Leute, unter denen sich der Selbstmord oder die Ent mutigung die meisten Opfer holt. Von Anfang an wollen wir also dem Unterricht
nicht etwa einen Wert beimesscn, den er an und für sich nicht besitzt; er wird ein kostbares Werkzeug zu
Kraft und Unabhängigkeit für denjenigen, dem eine vernünftige Erziehung das rechte Gleichmaß verliehen
hat.
Durch die Erziehung gilt es also das Kind so
vorzubereiten, daß der Unterricht nicht zu einer Jagd
nach dem ersten Platz in der Klasse oder in der Prü fung wird, sondern zu einer Quelle der Genugthuung, zu einer wahren Erleuchtung und Hilfe in den Auf
gaben,
welche das Leben stellt.
Maschinenmäßiger
Unterricht ist eine fruchtlose, erschlaffende und ab stoßende Arbeit.
Und doch wird er in den Anfangs
jahren meistenteils so geübt.
auf der Hand.
Der Grund dafür liegt
Die Schulstudien beginnen für die
Kinder im allgemeinen zu früh.
Vor der Zeit über
häuft man sie mit einer Menge von Begriffen, die sich untereinander verwirren, weil keiner ganz ver
standen wird, und
die Gehirnarbeit übersteigt bei
weitem die Fähigkeit dieses zarten Organs, dem man keine Zeit läßt, sich in regelmäßigem Fortschritt zu
entwickeln.
Diese Hast kommt daher, daß man weder
Zeit noch Mittel zu
langsamem Verfahren besitzt,
und in der zwingenden Eile, mit der man das Kind zum Einschlagen einer Laufbahn befähigen muß, über häuft man es in der möglichst kurzen Zeit mit mög lichst vielen Dingen.
Nur in folgenden Fällen, scheint es mir, dürfen
die Eltern für ihre Kinder an höheren Unterricht
denken: Erstens, wenn ihre Mittel ihnen erlauben, die Schularbeit auf längere Zeit zu verteilen und das Kind durch eine
gleichmäßige
und stufenweise
fortschreitende Entwickelung seiner leiblichen, geistigen und sittlichen Kräfte darauf
vorzubereiten.
Diese
Kräfte sind so untrennbar verbunden, daß man die
eine nicht ausschließlich pflegen kann, ohne den an dern zu schaden.
Sodann wenn ein Kind auffallend
begabt ist, aus eigenem Antriebe und mit Lust ar
beitet und sich stark von der Arbeit angezogen fühlt.
Die höhere Begabung überwindet alle Hindernisse,
die Geschichte der
großen Männer beweist es uns.
Man rede also nicht von Ausnahmsfällen, wie die der genialen Menschen, vielmehr giebt es glücklicher weise oft starke und thätige Naturen, denen die gei
stige Arbeit eine Freude ist und mehr als jede andere
paßt.
Die muß man kühnlich dazu ermutigen.
Die schwächeren Naturen, welche das Studium
ermüdet und langweilt, dazu zu zwingen, scheint mir unvernünftig. Ihre Trägheit ist der natürliche Wider
stand eines für die zugemutete Arbeit zu schwachen Menschen.
Für diese ist die Stärkung der geistigen
Kraft erste Pflicht, und zwar bedarf es dabei der Milde und der Geduld, denn alle mit Gewalt ver
suchten Aenderungen
könnten nur ihre Abneigung
gegen die Arbeit vermehren.
Dauert diese Unlust
zum Schulstudium an, so gilt es den Versuch, die natürliche Fähigkeit des Kindes zu entdecken; jedes
hat die seine; welche es auch sei, man lasse das Kind ihr folgen.
rührig.
Keine Art der Arbeit ist an sich ehren
In unserem kurzen Leben kommt es darauf
an, das, was man thut, gut zu thun und vor allen
Dingen nicht müßig zu gehen.
Alles andre ist Vor
urteil, Eigenliebe der Eltern, und wenn man die Ab sicht hat, damit das Glück eines Menschen zu machen,
so endet es, fürchte ich, mit einer Niederlage.
Ich
bin überzeugt, daß, wenn sich angesichts der allge
mein in diesem Sinne bei uns herrschenden Bewe gung der Wunsch nach ernsthafter geistiger Arbeit bei einem Kinde nicht in gewissem Alter sich regt, der Beweis für eine vollständige Unfähigkeit in dieser
Hinsicht gegeben ist und infolgedessen der Beweis für eine natürliche Schwäche, die schwer beseitigt werden
kann.
Wer keine Fähigkeiten für eine bestimmte Ar-
Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
9
beit hat, den machen auch die glänzendsten Examina
nicht zu einem Menschen, der das ihm Beigebrachte zu verwerten weiß.
Den Beweis dafür sehen wir in
der überaus großen Zahl von Leuten der höheren
Stände, die nach langen Studien auf Schulen und
Universitäten doch, sobald sie einmal von dort weg
kommen, Müßiggänger im vollsten Sinne des Wortes werden, die Zeit im Kartenspiel, an der Roulette,
auf der Jagd totschlagen.
Man fragt sich in der
That, warum man sie in der Jugend so sehr gequält
hat, um Dinge zu lernen, die ihnen nie irgend etwas
nützen.
Die Mannigfaltigkeit der Individuen ist so groß, daß es unmöglich ist, allgemein das Alter festzusetzen,
in welchem man mit den Schulstudien beginnen kann. Ein Aufschub ist in dieser Hinsicht kein Unglück, jeden falls ist er weit weniger nachteilig als llnzeitige Hast.
Selbst bei einem begabten Kinde ist es ein Fehler, seine glückliche Leichtigkeit zu Studien zu benutzen,
die über den Bereich seines Alters hinausgehen. In seiner Selbstbiographie erzählt John Stuart Mill,
einer der größten Geister dieses Jahrhunderts, wie sein Vater die frühreifen Talente des Knaben be
nutzte, um ihn vom dritten oder vierten Jahre an Griechisch unb Lateinisch lernen zu lassen und ihn in
einem Alter, in welchem andere ihre ersten Wörter buchstabieren, zu einem Wunder des Wissens machte;
ausnahmsweise haben seine späteren Studien nicht darunter gelitten, der reife Mann hielt, was der Knabe versprochen hatte,
aber über seinem ganzen
Leben lag ein Schatten, weil er keine Kindheit ge kannt hatte; er erinnerte sich dieser Zeit nur mit Trauer und Unlust, er war nicht glücklich.
Sogar
in diesem Ausnahmsfalle sieht man, wie sehr Glück
und Gleichgewicht seines Wesens von dieser gezwun genen Bildung beeinträchtigt wurden, die nur schein bar keine nachteiligen Folgen hatte: für gewöhnliche
Köpfe wäre Krankheit oder Wahnsinn die Folge da von
gewesen.
Wunderkinder sind allgemein dafür
bekannt, daß sie mittelmäßige Männer werden oder
jung sterben.
Wer weiß, ob Mozart den Uebeln,
denen er leider so früh unterlag, nicht besser wider
standen hätte, wenn er in seiner Jugend die Abende nicht damit verbracht hätte,
seine Zuhörer in den
Salons zu bezaubern und in Erstaunen zu setzen.
Zwar schien ihm alles leicht, aber diese Ueberanstrengung war an sich
seiner Lebenskraft schädlich,
denn in dem Alter, wo alles sich kräftigen muß, wo sich der Vorgang des Wachstums vollzieht, welcher
einen großen Teil der später nur zur Erhaltung des Organismus verwendeten Kräfte in Anspruch nimmt,
in diesem Alter verbrauchte er mehr Lebenskraft, als
er erwarb.
Nahrung, Schlaf und Ruhe sind wäh
rend der Zeit,
in
der
die
Natur
alles
für
die
leibliche Entwickelung fordert, in größerer Dosis er
forderlich. Wenn man sich gegenüber so ausnahmsweise be gabten Personen, wie die eben erwähnten, fragt, was für sie die schweren Folgen einer verfrühten Arbeit
gewesen sind, wie sehr wird man da in gewöhnlichen Fällen, in denen das Lernen große Mühe und An strengung kostet, fürchten müssen, ein Kind zu über bürden!
Deswegen muß man die Persönlichkeit gut
kennen und sich darauf beschränken, das Gehirn nie
mals zu ermüden und nie etwas maschinenmäßig zu lehren.
Ein gut verstandener und wohl durchdachter
Gedanke bringt als überraschendes Ergebnis die Leich
tigkeit weiteren Denkens hervor, wenn er auch selber gar lange Zeit gekostet hat.
Wenn man über die
Zukunft eines Kindes noch keinen Entschluß gefaßt hat, so wird man es nach seinen natürlichen Nei
gungen arbeiten lassen.
Man kann die Kräfte, welche
die Natur ihm gegeben hat, ersticken und wäre doch
nicht im stände, ihm Ersatz zu schaffen, ebenso wie
man einen Menschen töten,
aber der Höhe seines
Wuchses nicht einen Zoll zusetzen kann.
Ehe wir also von künftigen Schulerfolgen träu
men, wollen wir lieber an allgemein nötige Dinge
denken.
Wie sich auch die Zukunft des Kindes ge
staltet, ob es Gelehrter, Arbeiter, Künstler, Land mann u. s. w. wird, so braucht es für künftiges Ge-
lingen im Leben die möglichste Entwickelung seiner Glieder, seiner Denkthätigkeit, seiner Geschicklichkeit Dazu kann die ganze Zeit seiner
und seiner Kräfte.
ersten Jahre ausgenützt werden; das übrige hat ge
ringere Bedeutung.
Alle Leibesübungen sind vor
trefflich und sollten bis zum zehnten Lebensjahre, wo
möglich noch darüber hinaus, bei Knaben und Mäd chen den größten Teil der Zeit in Anspruch nehmen. Mit vollem Rechte wachten die Griechen, so wie sie
thaten, darüber, daß ihre Jugend in Kämpfen, Reigen
tänzen, Geschicklichkeitsspielen und Uebungen aller Art
erstarkte.
Besonders nützlich sind die Uebungen, welche
die Brust entwickeln.
Uebungen, bei denen man in
Hockstellung bleibt, sind zu vermeiden.
Schwimmen,
Zindern, Klettern, Tischlerei, Feldarbeit, Hausarbeit, wie Fegen, Bettenmachen u. s. w. entwickeln, sobald es sich nicht um das Heben schwerer Lasten handelt,
die Beweglichkeit und Gelenkigkeit und sind für jeder mann erreichbar,
während Reiten und Fechten ein
kostspieliger Zeitvertreib und nur für den Reichen da sind.
Davon wollen wir also
nicht
sprechen,
die
besten Mittel sind immer noch die, welche in jeder
manns Bereich liegen.
Ich möchte von jedem Kinde,
in welcher Lebenslage es auch geboren sein mag, for dern, daß es jeden Morgen sein Bett und seine Stube
selbst zurecht macht; das ist zugleich eine Gewöhnung zur Ordnung und eine notwendige Uebung für die
Muskeln, und indem wir das Kind gewöhnen, sich selber zu bedienen, verleihen wir ihm eine bedeutende
Selbständigkeit, welche ihm gestatten wird, sich in den Wechselfällen des Lebens leicht zu bewegen.
stens
wird
Reinlichkeit
und
Bequemlichkeit
Wenig
seines
Lebens nicht mehr von der Gnade eines Dienstboten
abhängen, den man doch nicht immer bei der Hand haben kann. Unter den Spielen dienen Wettlauf, Ballspiel
und Federball demselben Zweck.
Die Geschicktesten,
die, welche sich ihrer zehn Finger gut bedienen, wer
den auch in jeder Hinsicht die besten Arbeiter abgeben und am fleißigsten sich bemühen.
Man beachte, daß
die Geschicklichkeit zugleich ein Zeichen von Intelligenz
ist; die rohe Kraft verhilft nicht dazu.
Bis zu welcher
wunderbaren Gelenkigkeit kommen nicht die Leute, die ihren Lebensunterhalt als Akrobaten, Jockeys oder
Tänzer verdienen wollen.
Die tägliche Schulung,
früh begonnen, verleiht diesen Leuten die Gabe, mit
Leichtigkeit Dinge zu thun, welche uns wunderbar er scheinen.
Für wichtiger als alle Studien möchte ich
die höchstmögliche Entfaltung der Gelenkigkeit, Be weglichkeit und Geschicklichkeit halten und jedermann
sollte die tausend
Hilfsmittel kennen,
die wir in
unsern Gliedern und unsern Muskeln besitzen, um
einer Gefahr zu entgehen und der in unserem Be reich liegenden Gelegenheit uns zu bedienen.
Des-
wegen braucht man weder zu quälen noch zu schelten.
Um diese Dinge zu lehren, bedarf es einer großen Dosis Geduld und beständiger Wiederholung
selben Sache.
Ich
der
daher jedes Kind vor
möchte
seinem siebenten Jahre daran gewöhnt wissen, auf
einem Seile zu gehen, sich ohne Furcht am Seil aus einem Fenster oder von einem Dach herabzulassen,
auf das erste beste Pferd zu springen, eine Halfter überzuwerfen, kurz, seinen
Körper
dahin
zu
ent
wickeln, daß es den Gefahren, welche im Gefolge
der Schwerfälligkeit
und
Ungeschicklichkeit kommen,
viel weniger ausgesetzt ist. Der erste Pädagog müßte
also ein dem
Clown sein.
Wort.
Wieviel
Man
ärgere
Unfälle
sich
würden
werden, wenn man dem Worte folgte.
nicht
an
vermieden Und wenn
man dem Kinde zu gleicher Zeit die beste der Vor
bereitungen zu jeder künftig zu wählenden Laufbahn
geben will, so lehre man es seine fünf Sinne recht zu gebrauchen.
Beim ersten Anblick scheint das ein Scherz, denn man wird mir einwerfen, jedermann sieht, hört, schmeckt
und fühlt, ohne einen besondern Unterricht dazu nötig zu haben.
Sicherlich bedient sich jeder seiner Sinnes
organe, aber sehr wenige bedienen sich derselben wie Menschen, welche vor dem Tier die Vernunft voraus
haben, die diesen Sinnen eine Kraft verleiht, von welcher man sich kaum eine Vorstellung macht und
welche ihre vollständige Anwendung gestattet.
Man
sagt, eine geistig wohl begabte Person hat einen rich tigen Blick, d. h. in ihrem Geiste vollzieht sich rasch die Berechnung des Verhältnisses zwischen dem, was
existiert und dem, was scheinbar in ihrer Umgebung vorhanden ist.
Für den einen geht alles unbeachtet
vorüber, für den andern ist alles Anlaß zum Nach
denken und diesen letzteren nennen wir ein Genie;
Leute dieser Art haben die Beobachtungsfähigkeit über die gewöhnlichen Grenzen hinaus entwickelt und haben
so eine Menge Dinge entdeckt, welche zwar schon be standen, für die sie aber doch die Schöpfer geworden
sind, weil sie diese Dinge durch die Kraft ihres Ge
dankens angeschaut haben.
Es giebt also zwei Arten,
sich seiner Sinneswerkzeuge zu bedienen, die eine, rein
tierisch, ist am weitesten verbreitet, die andere Art, welche sich des menschlichen Vorrechtes des Gedankens
bedient und damit in den Erscheinungen der uns um gebenden Welt das feste Gesetz, den inneren Sinn,
den philosophischen Zusammenhang, wenn man will,
erkennt, ist die richtige.
In ihrer Ausbreitung und
Verallgemeinerung wird sie das, was wir Zivilisation
nennen.
Je weniger der Mensch gebildet ist, um so
mehr sieht er bloß den äußeren Anschein der Dinge,
nicht ihr wahres Wesen.
So ist es noch gar nicht
so lange her, daß man die Erde für den unbeweg lichen Mittelpunkt des Raumes hielt, um den das
Himmelsgewölbe mit seinen Sternen sich drehe; so
hatten die Erde alle menschlichen Augen angeschaut,
die in ihrer Bildung und ihrem Vermögen denen des Galilei ähnlich waren, und doch ist erst dieser durch
die vernunftgemäße Erwägung des von seinen Sinnen Angeschauten
gelangt.
zur Wahrheit über die Erdbewegung
Alle Tage können wir uns überzeugen, wie
wenig wir uns auf unsere Sinne verlassen können. Unser Auge hat den Eindruck, als ob die Landschaft
vor ihm fliehe, wenn wir in
einem Eisenbahnzug
fahren; wir wissen, daß es nicht so ist, aber wir wissen es durch den Gedanken, nicht durch das Gesicht.
Von
allen Sinnen dient dieser am meisten zur Entwicke
lung des Beobachtungsvermögens; er ist den andern
so gar sehr überlegen, daß wir die Leistungsfähigkeit derselben erst dann erkennen, wenn wir uns mit Blinden
beschäftigen.
Durch die Beobachtung der letzteren er
kennen wir, welche Menge von Dingen das Gehör und der Tastsinn uns enthüllen können und ich halte es für sehr nötig, diese Hilfstruppen nicht zu ver
nachlässigen.
Die Beobachtungsgabe wird in gewissen
Klassen erblich so weit entwickelt, daß sie einen wirk lichen Unterschied in der Summe der Fähigkeiten dieser
Leute im Vergleich zu den in anderer Lage geborenen darstellt. So werden ungebildete Leute selbst im reifen Alter ein Porträt nicht erkennen können, während
ein von einsichtigen Eltern abstammendes kleines Kind
ohne Zaudern
Um
die dargestellte Person nennt.
also die Beobachtungsgabe des Kindes zu entwickeln, wollen wir seine Sinne an alle dem, was es umgiebt, üben und wollen seine Aufmerksamkeit beständig
hinlenken auf das, was es sieht und hört, zuerst in der Natur, dann in Industrie und Kunst.
Ein Kind,
welches die Tageszeit an der Richtung oder der Länge
der Schatten erkennt, welches einen Vogel an seinem
Schrei leicht von einem andern unterscheidet, welches Früchte und Pilze an Zeichen, die es hat beobachten müssen, erkennt, hat sich sicher gewöhnt, nicht bloß
einen leeren und zerstreuten Blick über die Dinge
gleiten zu lassen, wie es so viele Leute thun, welche
unfähig sind, von ihren Sinnen einen vernünftigen Gebrauch zu machen.
Nichts hilft der Entwickelung des Ohres und des Auges so sehr wie Musik- und Zeichenunterricht.
erscheint mir unentbehrlich für jedes Kind.
Er
Beson
ders die Musik kann sehr früh und ohne jede An
strengung, beinahe spielend begonnen werden.
Man
müßte gleichzeitig eine Taste auf dem Klavier an schlagen, den Ton singen lassen und die Note auf
eine mit Systemen versehene große Wandtafel schrei
ben; das Kind wird unmittelbar die Note singen. Man schreibt dann die anderen dazu, aber so, daß man sie jedesmal anschlägt und singt, so daß der Name der Note nie eine leere Bezeichnung bleibt,
sondern wirklich einen bestimmten Ton darstellt. Nach und nach würde man so alle Tonzeichen vorführen,
indem man auf dem Instrument den Ton begleitet,
aber immer das Ohr zwingt, die Töne zu unterschei
den.
Mit dieser Uebung würde ich sehr früh an
fangen, ein oder zwei Jahre, ehe man sich an das Klavier giebt, denn der Hauptpunkt für die musika lische Erziehung ist die Feinheit des Gehörs, dessen
Beobachtungsfähigkeit man auf diese Weise übt.
Es
giebt kaum ein Ohr, welches sich gegen diese Unter
scheidungen unbedingt widerspenstig verhielte; es ist
also sehr selten, daß ein Organ mit unüberwindlichem Fehler vorkäme.
Singen ist uns ebenso
natürlich
wie Sprechen und auf irgend eine Weise wendet ein
jeder diese
Fähigkeit an, oft allerdings nur zum
Schreien, Gröhlen und Schimpfen.
Ganze Völker
singen richtig, andere stoßen nur unzusammenhängen des Geschrei aus.
Diese Verschiedenheit im Gebrauch
derselben Organe wird nicht durch einen Unterschied
der körperlichen Organisation hervorgebracht; es treten darin ererbte Gewohnheiten zu Tage, was man von'
frühester Jugend an gehört hat, das nimmt man un willkürlich
an.
Die
oben
dargestellte
planmäßige
Unterweisung im Gesang weicht von dem in unseren
Tagen so weit verbreiteten Klavierunterricht vollstän dig ab, den man oft erteilt, ohne die geringste Vor stellung von dem Wesen der Musik zu geben.
Ein
„Musik ist die
Kind antwortet wie ein Papagei:
Kunst, die Töne in Beziehung zu einander zu setzen,"
weil es das aus seinem Buche gelernt hat, aber es wird möglicherweise viele Stücke heruntertrommeln,-
ohne sich über den Sinn dieses Satzes klar zu wer den.
Dagegen kommt es bei dem oben angedeuteten
einfachen Verfahren zum Unterricht im Notenlesen von selber zur Verbindung der Töne, weil es weiß,
was ein Ton im Verhältnis zum
andern ist.
Je
härter dem Menschen das Leben wird, um so mehr
wird er Trost in einem bißchen Musik finden.
Freude
an der Musik ist für die breiten Schichten eine vor treffliche Sache und kann sie von Trunk und Spiel abhallen, den beiden Abgründen, welche die Ersparnisse des armen Arbeiters verschlingen.
Schon in frühem
Alter kann man die Kinder an Chorsingen gewöhnen und ich möchte gern in jedem Dorf und jedem Stadt
viertel Kindergesangvereine entstehen sehen, in denen
ohne irgend welche politische oder dergleichen Absicht
ein Freundschaftsband sich um die Teilnehmer aus
allen Ständen schlänge. Daraus entwickeln sich später die Liedertafeln und Gesangvereine, wie sie in Deutsch land einen so
glücklichen Einfluß geübt haben.
braucht nur eine gewandte Person,
Musik versteht,
Es
die ein wenig
um diese Kinderchöre
einzurichten.
Die in deutschen, schwedischen, dänischen Familien ge machte Erfahrung zeigt, daß es leicht sein würde,
die einzelnen Familienglieder zur Durchführung ihrer
Stimme zu gewöhnen. Die ärmlichste Hütte wird durch solche edle und
unschuldige Vergnügung wohnlicher, lichter und höher. Die Musik, deren wohlthätiger Einfluß auf Sitte
und Charakter noch längst nicht genügend geschätzt ist, fordert, daß das Gehör so früh als möglich ent
wickelt wird, sie fordert weniger Verstandesarbeit als eine gewisse plastische Bildung.
Alle Kinder fassen
ohne Anstrengung den Zauber eines Volksliedes und beginnen nach der Melodie eines Walzers zu tanzen,
alle ohne Ausnahme sind also empfänglich für Musik. Folglich ist dieselbe von allgemeinem Nutzen, nicht
wegen der Fähigkeit ein Instrument zu spielen — das ist Sache des besonderen Entschlusses — sondern
wegen ihres Einflusses auf die beiden so wertvollen Werkzeuge des Ohres und der Stimme. Was für sie die Musik, das ist das Zeichnen für
das Auge, nur will es etwas später gelehrt sein, denn der Gebrauch des Zeichenstistes setzt weniger Natur
trieb und dafür mehr Nachdenken voraus. Wenn man dem Kinde den Stift in die Hand giebt, so wird man es veranlassen, das Angeschaute wiederzugeben.
Mit
Notwendigkeit wird es dann die Dinge aufmerksamer als vorher betrachten und damit die bei zahlreichen Gelegenheiten gar nützliche Gabe gewinnen, das mit
dem Auge Gesehene festzuhalten.
Ueberdies giebt es
kein Handwerk und keine Wissenschaft, bei der die Gabe des Zeichnens nicht ein
vortreffliches Hilfs
mittel wäre, sie ist so viel wie ein sechster Sinn.
Nur
wenn man die Dinge in der Absicht sie wieder dar zustellen, anschaut, sieht man sie mit der Genauigkeit
und Schärfe, von der die, welche die Dinge zwecklos betrachten, sich gar keine Vorstellung machen.
Viele
Leute, die eine Menge Dinge gelernt zu haben schei
nen, sind nicht recht im stände, sich ihrer Augen zu
bedienen, ich habe darüber merkwürdige Beobachtungen gemacht.
Man frage sie nur, ob eine Person, mit
der sie eben gesprochen haben, blond oder brünett ist
oder ob auf dem Gemälde, das sie soeben bewundert haben, mehrere Personen dargestellt sind: sie können
Das
nicht antworten.
kommt
einem Zeichner nie
vor, vorausgesetzt, daß er so wie es sich gehört das
Gesehene zeichnet und daß er sich infolgedessen Rechen schaft giebt über die Art, in der sich die Dinge unse
rem Auge darstellen und die so ganz verschieden ist Wie falsch es ist, Kin
von ihrem wahren Aussehen.
der nach Vorlagen zeichnen zu lassen, davon hier ein
Beispiel.
Ein Kind kopierte eine Lithographie, welche
ein Pferd darstellte, von dem man infolge seiner Stellung nur zwei Hufe sah. wieviel Hufe
Antwort:
das
Pferd
Ich fragte das Kind,
hätte,
und
erhielt
die
„Zwei, die andern beiden hat man ihm
abgeschnitten."
Das
Kind
hatte
also
nie
darauf
geachtet,
auf
daß
einmal
man nie das sieht.
Allein
Ganze eines Dinges
die
Beobachtung
der
Natur kann die Kenntnis dieser einfachen Thatsache geben.
Ich erachte es also für notwendig, daß Zeich nen vor dem Schreiben gelehrt wird, welches in der Reihenfolge menschlicher Erfindungen viel jünger ist.
Jedes Kind kann schließlich einen Gegenstand dar
stellen, welcher beständig unter seinen Augen ist. Mit großem Unrecht bezeichnet man also Musikund Zeichenunterricht als „Annehmlichkeitsunterricht".
So wie er im allgemeinen geübt wird, möchte ich
ihn lieber Unannehmlichkeitsunterricht nennen, denn nichts widerspricht dem
künstlerischen Gefühl mehr
als die kleinen Klavierstücke oder die kleinen Zeich nungen, welche ein Fräulein verübt,
nannte Erziehung vollendet hat.
die ihre soge
Wenn auf einsich
tige Art gelehrt, sind diese beiden Künste köstliche Hilfsmittel zur allgemeinen Entwickelung sowohl der Denkkraft wie der Sinne und ich messe ihnen einen
viel wesentlicheren Nutzen im praktischen Leben bei,
als den unzähligen Geschichtszahlen und geographischen
Einzelheiten, mit denen man die Schuljahre belastet. Sie sind jedermann
ohne Unterschied
nützlich unb
bringen eine helle und anmutende Partie auch in die
tiefsten Schalten eines von Entbehrungen und Schwierig
keiten verdüsterten Lebens.
Den Neichen sind sie ein
Günstiger Erfolg.
144
Schutz gegen niedere Vergnügungen, welche der Ge
sundheit und
dem Charakter schaden, den
Armen
geben sie die unentbehrliche Seelennahrung, denn das Evangelium sagt: allein.
Der Mensch lebt nicht von Brot
IX. Indem wir versuchen, bei unseren Kindern den
Beobachtungstrieb zu entwickeln, können wir zugleich ihrer Neugierde die gewünschte Nahrung geben. soll nun
keineswegs heißen,
Das
daß man ihnen eine
fortlaufende naturwissenschaftliche Vorlesung hält oder daß man sich an ihnen einen ermüdenden geistigen
Drill gestattet.
Ich möchte nur, daß sie durch eigene
verständig geleitete Beobachtung richtige Begriffe ge winnen von dem, was im Alltagsleben und in der
Natur um sie her vorgeht und was ihnen eines Tags eine wertvolle Vorbereitung für die schwersten Studien
werden kann.
Man kann zunächst ihre Aufmerksam
keit auf die Blumen, Käfer, den Schnee, die Stürme,
auf die tausenderlei gewöhnlichen Vorkommnisse len ken.
Ganz kurze und einfache Erzählungen über die
vierfüßigen Tiere und die Insekten, ihre Lebensge
wohnheiten und ihre Arbeiten würden sie ebenso sehr wie ein Märchen interessieren. Probe machen.
Man kann ja eine
Sobald sich die Langeweile merkbar
macht, höre man auf, aber für das Kind, welches Ouroussow, Ueber erste Erziehung.
mit uns den Farbenschmuck oder den Gliederbau eines Vogels oder eines Insektes bewundert hat, über den ihm mm Einzelheiten erzählt werden, für das Kind,
welches selber bei der Pflege der und jener Blume geholfen
hat, deren Aufblühen es mit Spannung
verfolgt, für diese Kinder werden solche Erzählungen
nie langweilig sein.
Der
Trieb
sich irgend
Sache hinzugeben, welche unsere
einer
beständige Pflege
heischt, ist so stark in uns, datz ein Kind, welches sich ein wenig für Gärtnerei interessiert, schließlich die Pflanze wirklich liebt, an welche es seine jungen
Sorgen gewendet hat.
Auf diese Weise giebt man
ihm ein unfehlbares Mittel, Gedanken, Herz
Hände stets mit etwas anderem
und
als seinem lieben
Ich zu beschäftigen, und' darin liegt ja das wahre Geheimnis
des
Glückes.
Neuerdings
hat
sich in
Amerika eine Kindergenossenschaft gebildet, die ich zu
allseitiger Nachahmung
Agassizbund.
empfehlen
möchte, der
Die Kinder, welche daran teilnehmen,
bilden an jedem Ort eine Gruppe und die Gruppen stehen miteinander in Briefwechsel.
Ihr Zweck ist
botanische, Zoologische, mineralogische, geologische u.s.w. Sammlungen herzustellen.
Sie teilen sich ihre Be
obachtungen, ihre Entdeckungen mit und spinnen so
Fäden zwischen einer Menge von Personen an, welche sich für die gleichen Objekte interessieren.
Das er
weitert den Kreis ihrer Beziehungen, das treibt sie
an einer Menge Leute von verschiedenem Stande und
verschiedener Herkunft Anteil zu nehmen.
Es ist dies
eine gute Art, die Sympathie zu entwickeln, die unter
allen Gleichgesinnten bestehen sollte.
Von dem frühe
sten Alter an gewinnen dabei die Spaziergänge ein lebhaftes Interesse, auf denen man irgend eine neue
Merkwürdigkeit
sucht.
für seine Sammlung
und eine Anstrengung. ihren und
zu
entdecken
Zwecklose Spaziergänge sind eine Langeweile
Die Lust, die Freude mit
glücklichen Folgen,
reichlichen
dem
Appetit
dem ruhigen Schlaf, werden durch eine dem
Körper nützliche Uebung herbeigeführt, welche den
Geist
und den Gedanken nicht
unbeschäftigt
läßt.
Diese haben ebensogut wie ihre Diener, die Sinnes werkzeuge, Bewegung und Beschäftigung nötig. Wenn
die Rauheit der Jahreszeit Spaziergänge und Gürtnerarbeit nicht gestattet, so möchte es gut sein, daß jeder, wie schon I. I. Rousseau lehrte, ein Hand
werk lernte: Drechsler, Schreiner, Schuhmacher, Buch-
binder, werde was du willst, nur treibe dies Hand werk mit Konsequenz.
Es giebt dir noch einen sicheren
Broterwerb, wenn die anderen uns im Stich lassen, und die Geschicklichkeit entwickelt sich durch die Voll
endung einer Arbeit, von welcher Natur diese letztere
auch sein mag.
Ich möchte, daß
diese Handwerke
auch gemeinsam gelernt würden, in einer Genossen schaft, wenn das möglich wäre.
Abgesehen von Nach-
daraus hervorgehen
eiferung und Fröhlichkeit, die
würden, ist das ein ganz ausgezeichnetes Mittel, um die künstlichen Schranken der Kaste und der Nation
ohne Gewalt zu
beseitigen.
Seite an
in
Seite
Zwei Kinder, welche
derselben Werkstatt
gearbeitet
haben, sind fürs Leben in die Brüderschaft eingetreten, welche uns alle vereinigen muß, wenn wir in Wahr heit zivilisiert sind. Und bei dieser Gelegenheit fordere ich vor jeder
anderen Unterweisung meine Leserinnen auf, die mas
senhaften falschen Unterweisungen zu vermeiden, die sich unaufhörlich um uns breit machen und welche
mehr Uebel anstiften, als die besten Lehrstunden wie
der gut machen können. Vor allem lehre man auf keinen Fall, unter
keinerlei Umständen den Haß.
Zu dem Ende darf
man nie mit Geringschätzung oder Abneigung von einem Land, von einer Rasse,
Religion reden.
einer Klasse, einer
Das hieße alles Gute zerstören,
was du sonst lehrst.
Und gerade das ist es, was
man von klein auf den Kindern von Generation zu Generation einprägt: Verachtung und Haß auf der
Grundlage
unnatürlicher
Unterscheidungen!
Wenn
die Zivilisation, als deren Träger wir uns betrachten,
der Welt irgend etwas Schönes und Neues gebracht hat, so ist es die Idee der allgemeinen Brüderlichkeit.
Es ist unmöglich, an diese Idee zu glauben, wenn
man Menschen, die man nicht kennt, verwünscht, die geboren werden, leiden, arbeiten, denken und sterben wie wir, welche eine vorübergehende Form des Glaubens
oder eine Verschiedenheit der Sprache uns als Fremde und Feinde betrachten läßt.
Wenn wir unter dem
Vorwand von Pflichten der Vaterlandsliebe, der Re
ligion oder der Familie diese abscheulichen Stimmun gen lehren, so töten wir den Gedanken und die Ver
nunft, denn die Grundlage dieses Hasses ist die blinde von Vätern her ererbte Leidenschaft, die Barbarei
der Jahrhunderte, welche noch über das Licht trium phiert und aus einer so niedrigen Selbstsucht und Eitelkeit herstammt, daß man sie nicht offen genug
an den Pranger stellen kann. Wenn die Vorstellungen von Familie und Vater landsliebe sich mit den Empfindungen der Verachtung und des Hasses gegen den Nächsten gesellen, so sind
sie eine Erscheinungsform dieser persönlichen Eitelkeit, nach deren Willen alles was uns angeht den Inter
essen anderer vorangehen soll.
Das ist das kindische
Element in der Menschennatur.
Das kleine Kind
bildet sich ein, allein zu sein, der Mittelpunkt der Welt zu sein, und behauptet, daß alles nur um seinet
willen da ist.
Der barbarische Mensch betrachtet das,
was ihn körperlich angeht (denn das allein zählt für
seine
kaum vorhandenen Gedanken), als
und über allem anderen stehend.
außerhalb
Er dehnt diese Be-
Pachtung, indem er sie in dem Verhältnis mildert, in welchem sie sich von der unmittelbaren Berührung
mit seiner Person entfernt, aus auf diejenigen, welche
dieselbe Sprache sprechen und denselben Götzen an beten wie er.
Ueber die anderen lacht er oder ver
flucht sie.
Die natürliche Vorliebe, welche wir für die uns nahe Stehenden empfinden, weil wir ihnen besonders
ähnlich sind, ist ein so allgemein verbreitetes Gefühl,
daß wir es nicht durch gehässige Unterweisung in betreff anderer zu verstärken brauchen.
unter der Herrschaft des
Je mehr wir
Gedankens stehen,
desto
mehr werden wir Familie und Vaterland in der Ver einigung derer finden, die mit uns das gleiche denken und lieben.
Und wenn wir uns über die Vorurteile
erheben, so finden wir, daß wir eines fühlen, denken
und sind mit allem dem, was die Menschheit Großes, Edles und Ewiges hervorgebracht hat. der Familie
und
Die Fragen
des Vaterlandes gehen vorüber,
weil diese Dinge vergänglich sind; es bleibt die Ein
heit mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der
Zukunft in dem, was unvergänglich ist, und wenn es uns für den Augenblick gleichgültig ist, was Per
sonen und sogar Völker für Schicksale gehabt haben,
so findet doch ihre Art zu denken und zu empfinden in unseren Herzen eine lebendige Fortsetzung.
In
dem wir also wie diejenigen denken, welche allen wert
und verständlich sind, finden wir uns vereinigt in
der lichten Schar der großen Geister, welche vor uns gelebt haben; wir haben an ihnen eine Familie, an
welche wir in der Gegenwart alle diejenigen gliedern
können,
an
welche mit uns diese künstlichen
Trennungen verwerfen.
Wenn wir danach trachten,
die Menschen möglichst zu lieben, werden wir uns
nie täuschen, aber immer, wenn wir sie hassen. Wir haben alle die Neigung, das für lächerlich,
oder thöricht 511 finden, was uns unge
erschreckend
wöhnlich ist, aber das ist eine instinktmäßige und
tierische Neigung. kann auf
bringen.
Was uns natürlich und gut scheint,
andere eine
abstoßende Wirkung hervor
Der Unterschied zwischen den Schnürbrettern
für die Füße der Chinesinnen und unseren Schnür leibern ist nicht sehr groß; denen, welche sich beim Begegnen die Nasen reiben, müssen unsere europäi
schen Begrüßungsarten äußerst lächerlich vorkommen.
Natürlich ziehen wir unsere eigene Gewohnheit vor,
nur möchte ich den Kleinen nicht den Wahn beibrin gen, als ob vorübergehende Unterschiede etwas Wich
tiges seien.
Der Zufall allein hat sie entstehen lassen
und dies beweist, daß sie nur eingebildeter Art sind. Zwei oder drei Generationen in
gebung versetzt, genügen,
zu bringen.
eine andere Um
um sie in Vergessenheit
Ich kenne keine deutscheren Deutschen
als die Abkömmlinge der Hugenotten, die im 17. Jahr-
hundert nach Deutschland auswanderten.
Das Chri
stentum hatte den Satz des allgemeinen Brüdertums ausgesprochen, aber er ist nicht angewendet worden,
weil man bis auf diesen Tag sich selbst das Unrecht
anthut, sich nach der Nationalität oder nach der Reli gion zu nennen, der man angehört: Deutscher, Pole, Franzose, Christ, Jude.
Das wahre Mittel, um die
sen schönen Grundsatz in die Vorstellungen und die Sitten eindringen zu lassen, besteht darin, daß man
dem Heranwachsenden Geschlechte zeigt, was auf jeden
Fall bewundernswert oder verächtlich in jeder Klasse, jeder Familie, jedem Vaterlande ist.
Sodann würde ich nie, wie es doch unaufhörlich geschieht, die Geringschätzung eines Geschlechtes durch
das
andere
lehren.
Sobald
ein Junge
schüchtern
oder feige ist, sagt man ihm, als wäre es das ent ehrendste von der Welt, daß er ein kleines Mädchen
sei, als wenn diese Fehler wirklich das traurige Vor
recht unseres Geschlechtes wären.
Diese Vorstellung
kommt auch aus dem erzbarbarischen Grundsatz von der Ueberlegenheit der brutalen Gewalt.
Der Unter
schied der Geschlechter ist im Kindesalter gleich Null, und ich halte es für unerläßlich, Mädchen und Knaben
an dieselben Uebungen zur Stärkung
ihres Leibes
und zur Entwickelung ihrer Geschicklichkeit zu gewöh
nen.
Die Thatsache, daß eines ein Knabe oder ein
Mädchen ist, bedeutet weder eine Ueberlegenheit noch
eine Schwäche; obgleich
es eine sehr abgestandene
Wahrheit ist, so muß ich doch daran erinnern, daß
die einen wie die anderen auf der Welt gleich nötig
und nützlich sind und daß ihre Kraft gleich ist, wenn sie sich auch auf verschiedene Weise bekundet.
Dank
dieser Unterweisung in der Mißachtung des Geschlech tes, dem der Knabe seine Mutter verdankt, gewöhnt er sich von klein auf die Nadelarbeit mit Verachtung anzusehen. Nun scheint es mir aber, daß jeder Mensch,
gleichgültig von welchem Geschlecht, das Nähen lernen
könnte und sollte.
Eine ganze Klasse von Männern,
denen man sicher weibisches Wesen nicht vorwerfen
kann, die Seeleute, versteht vortrefflich mit der Nadel umzugehen und kein Forschungsreisender, kein Jäger
oder Soldat kann auf Zügen in entlegene Länder
ohne Nähen, Schneidern, Stopfen und Stricken aus
kommen.
Ich frage mich, durch welche sonderbaren
Schlüsse man dazu gekommen ist, die möglichste Ge
schicklichkeit der zehn Finger als etwas Verächtliches zu betrachten.
Wenn ich die
kleinen Mädchen an
allen Handwerksbeschäftigungen und Uebungen ihrer
Brüder teilnehmen lassen möchte, so ist es hoffentlich
verständlich,
daß diese
dafür die Näherei und die
Küchenarbeit wie ihre Schwestern kennen lernen sollen.
Unabhängigkeit, Geschicklichkeit und Kraft für die einen
wie für die anderen. Diese Bemerkung über die Nadelarbeit knüpft sich
an die Erwähnung der fehlerhaften Art, Dinge, die an und für sich durchaus ehrenwert sind, als un
ehrenhaft betrachten zu lassen.
Stuf die so hervor
gerufene falsche Scham gründen sich die meisten Vor
urteile und nichts verwirrt so sehr das Urteil über
gut und böse.
So treibt man ein Kind von klein
auf viel zu viel darauf zu achten, was die anderen von ihm denken, die gemeiniglich unbekannt oder gleich gültig sind.
Man stellt es ihm als das größte Un
glück dar, daß es in den Augen dieser Leute sich lächerlich mache, während sich im wirklichen Leben niemand lange um Worte oder Thaten eines anderen
kümmert.
Es ist also unbedingt irrig, sich an die
Eigenliebe des Kindes zu wenden, seine Eitelkeit in Mitleidenschaft zu
ziehen,
um es
zu bessern:
das
Schlechte ist es, was ihm Schaden thut! — unter diesem Gesichtspunkt muß man es ihm zeigen. Wenn
unser Leben durch unsere eigenen Fehler verdorben und
gebrochen ist, denken die anderen nicht lange daran,
aber für uns selber sind die Folgen untilgbar. Das, was die Leute sagen, ist so veränderlich und so wenig
haltbar, daß man ihm eine vollständig übertriebene
Wichtigkeit beiniißt, wenn man es zur Grundlage
seiner Handlungsweise macht. Endlich wollen wir uns hüten, dem Kinde eine
falsche Wundergeschichte in Beziehung auf die wahr haften Wunder unserer Umgebung zu erzählen.
Wir
wollen nichts lehren, was wir später etwa zurücknehmen müssen, indem wir ihm sagen, das damals Gesagte
sei eben gut für sein Alter gewesen.
Es ist besser,
jede Art von Erklärung abzulehnen, als sich zu den
phantastischen Erzählungen zu versteigen, durch welche man den Kindern angeblich auf eine in ihrem Ge
dankenkreise liegende Art die natürlichsten Erscheinungen erklären will.
Ich finde es gegenüber diesen jungen
Gemütern, die uns ihr ganzes Vertrauen schenken, im höchsten Grade illoyal, so zu verfahren. Ich bin eine
Gegnerin
der phantastischen Erzählungen aus dem
Bereich des Uebernatürlichen, weil sie die Furcht und die Nervosität großziehen, während das Geheimnis
volle in der Natur der Einbildungskraft freien Spiel raum läßt und doch nur bezaubert und beruhigt. Was
braucht man die Einbildungskraft durch Erzählungen zu reizen, in denen alles falsch ist, welche, was man auch anwenden möge, langdauernde Spuren in dem
Geiste zurücklassen und später mit vieler Mühe be kämpft werden müssen. Als Kind glaubt man blind
lings an jede Geschichte, so bumm oder unwahrschein lich sie sein mag.
Wenn ich nicht den Nahmen zu
überschreiten fürchtete, innerhalb dessen ich glaube mich halten zu müssen, so würde ich mich über die uner
hörte Lebenskraft der thörichten Vorstellungen ver breiten, welche von der Wiege an durch Feenmärchen, durch
Geistergeschichten
und
Gespenstererscheinungen
den Kindern eingeprägt werden.
Die Leute ahnen
nicht, was diese Dinge für eine zähe Lebenskraft haben,
und doch leiden sie unter ihren Folgen.
Ahnungen,
Aberglaube jeder Art, Wahrsagerei, Tischrücken und Unterhaltungen zwischen Lebenden und Toten, alles
dieses Zeug wurzelt in den Ammenmärchen.
Nichts
wird in diesen Geschichten so oft verwertet als der
Tod und seine Schrecken; man macht ihn von der Wiege an zum Schreckbild und man beschäftigt da mit vorzugsweise
die jugendlichen Gemüter,
deren
ganze Aufmerksamkeit sich auf das Leben richten sollte,
in welches sie eintreten. Es giebt eine Art, die begehrliche Phantasie der kleinen Kinder zu befriedigen, wodurch dieselbe nicht
krankhaft überreizt, sondern zu nützlichem Gebrauch
verwertet wird.
Die Griechen, unser aller Meister,
hatten sie angewendet und wir brauchen nur ihrem Beispiel zu folgen, um zu lernen, wie man durch die
Bewunderung des Ewig-Wahren die Seele kräftigt. Neben den Leibesübungen, von denen ich gesprochen
habe, hatten sie den musischen Unterricht: die Seele
sollte mit den Dichtern und den heiligen Ueberliefe rungen leben; was schön ist, ist gesund, das wußten
sie sehr wohl.
Die edelste Poesie entwickelt den Ein
klang der Gedanken und der Form und nichts ist besser, als frühzeitig den Geist mit den ewigen Meister
werken vertraut zu machen.
Die wahre Poesie hat
einen solchen Reiz,
daß ich bei Kindern von sehr
zartem Alter leidenschaftliche Teilnahme dafür habe erwecken können; zuerst wird ihr Ohr befriedigt, dann
prägt sich nach und nach der edle, lebendige Gedanke unauslöschlich in ihre Erinnerung ein und zwar so
vollkommen, daß nichts Gemeines und nichts Schlechtes ihnen künftig Vergnügen machen kann.
Mit dieser
Nahrung wollen wir kühnlich die jugendliche Phan tasie nähren, welche sich bei der Berührung mit dem
göttlichen Feuer entzündet, dessen Hohepriester, scheint es, die Dichter von Jahrhundert zu Jahrhundert ge wesen sind.
Die heilige Geschichte und die Geschichte
des Menschengeschlechtes sind ja die anziehendsten Dich tungen, die wunderbarsten und geheimnisvollsten Epen!
Sicherlich ist die auf die genaue Kenntnis der Bibel,
dies bewundernswerte Buch der Dichtung und der Geschichte, begründete Erziehung eine mächtige Quelle
der Kraft für die ganze angelsächsische Nasse. In der eigentlichen Kinderlitteratur ist es schwer,
für unsere Betrachtungsweise die Stütze zu finden, welche wir darin suchen möchten.
Man wird gut thun,
in der Wahl der Bücher ebenso vorsichtig zu sein wie in der Wahl der eigenen Worte.
Die ganze Welt
lebt in Vorstellungen, die durch Bücher gefälscht sind. Man beginnt mit Feenmärchen und Geistergeschichten, später kommen Romane, die nicht minder lügenhaft
sind und so das Gift in den Geist träufeln, dessen
Wirkung sich von der Wiege bis zum Grabe erstreckt.
Also Vorsicht mit den Büchern!
Sie müssen für uns
sein, wenn wir nicht wollen, daß sie wider uns sind. Für die kleinsten Kinder kenne ich in der That nichts anderes Empfehlenswertes als das erste Lesebuch des
Grafen Tolstoy.
Der größte russische Schriftsteller
hat es nicht unter seiner Würde gehalten, eine Reihe
kleiner Meisterwerke zu schreiben, welche vierjährige Kinder verstehen können. Diese Erzählungen bestehen
in einigen Zeilen, die zu hören und dann zu buch stabieren die künftigen Leser von „Krieg und Frieden"
nicht müde werden.
Das Buch vereinigt alle Eigen
schaften, die ich von einem ersten Kinderbuche fordere. Der Stil ist einfach und klar, aber vollkommen, der Stoff ist mit solcher Gedrungenheit und Wahrheit
aus dem wirklichen Leben entnommen, daß die be ständig richtige,
erhabene und
nützliche Grundidee
deutlich hervortritt und daß in den kurzen Fabeln und
Parabeln das Gute uns liebenswert und anziehend
erscheint.
Aber das Buch ist leider eine Ausnahme
und ich bin weit entfernt, in dieser Hinsicht die all
gemein verbreiteten Meinungen zu teilen. Eine Menge englischer Erzählungen, die in alle Sprachen übersetzt worden sind, verbrämt mit Bibelstellen und kirchlichen
Liedern,
sind meiner Meinung nach schädlicher als
viele Bücher von minder reiner Außenseite.
In diesen
Werken ist alles falsch: die Kinder werden entweder
wie kleine Vollkommenheiten oder wie Opfer darge stellt; das ist die Vorschule der unverstandenen und
gefühlsseligen Fräuleins; die Eltern werden darin als
Ungeheuer abgebildet, wenn sie ihre Kinder nicht zu ihren Götzen machen, oder der Luxus wird in einer Weise beschrieben, daß er bei denen, die ihn nicht
kennen, die Lust danach wachruft, oder soziale Vor teile werden als begehrenswert und anziehend geschil
dert, kurz, diese Erzählungen können nur eine falsche
Sentimentalität groß ziehen,
sie führen auf einen
vollständig irrigen Standpunkt, wenn es sich um die
Beurteilung der Dinge dieses Lebens, so wie sie sind, handelt, sie bewirken bei den Kindern einen krankhaften Pietismus mit Ansprüchen, welche über die gewöhn
lichen Forderungen ihres Alters hinausgehen. Dichter
werke, welche für das Kindesalter passen, giebt es so wenige, weil die Schriftsteller das Kindesalter schlecht
kennen und weit entfernt sind, das Publikum zu ver
stehen, an welches sie sich wenden wollen.
Tolstoy
hat vollständig die Fähigkeit, die Kinder zu begreifen, als ob er selber eines wäre. von berühmten Kindern,
Zu den Erzählungen
zu den klassischen Sagen
mögen als gesunde Geistesnahrung die Reisen hinzu
kommen.
Alle Kinder lieben den Robinson Crusoe
und sicherlich richtet diese Lektüre keinen Schaden an.
Von wissenschaftlichen Dingen kann man nur echte Ergebnisse lehren; in dem Lebensabschnitt, von
dem wir hier handeln, kann also nicht davon die Rede sein und nichts ist mir verhaßter, als die Bücher, in
denen man das Wunder der Natur so nebenbei ein mischt, um angeblich die naturwissenschaftlichen Begriffe
annehmlicher zu machen.
Das Kind unterscheidet diese
Feinheiten nicht und hält eine Reise nach dem Mond oder ein anderes Phantasiegebilde in der That für
möglich.
Der Nest des Buches langweilt die Kinder,
weil sie ihn nicht verstehen können. Wenn wir von den Dingen der uns umgebenden Welt sprechen, so wollen wir überhaupt uns unserer eigenen Unwissenheit erinnern und uns vor einem
bestimmten Ja oder Nein hüten, das auf überlieferten aber unbeweisbaren Sätzen beruht. Warum will man
z. B. einem Kinde sagen, daß es eine Seele hat, daß aber der Hund keine Seele hat? denn davon?
Was wissen wir
Wir bereiten auf diese Weise bei dem
Kinde eine Stimmung vor, in der es die Tiere miß
handelt, für die ich vielmehr stets seine Liebe erwecken möchte, denn das wünschenswerteste der Gefühle ist
das Mitleid in möglichst weiter Ausdehnung.
Wer
kein Mitleid mit den Tieren hat, der wird es wahr
scheinlich auch mit seinesgleichen nicht haben.
Ehe wir
also irgend etwas lehren, müssen wir sicher sein, daß wir auch wissen, was wir sagen.
Diese Grundbegriffe, welche, wie man sieht, zu meist davon handeln, wie man es nicht machen soll,
müssen vollständig ausreichen, um das ganze Leben eines Kindes bis zu seinem Eintritt in die Schule
auszufüllen.
Das ist
eine kostbare Zeit für uns,
denn wenn die Schule gezwungen ist, feste Regeln an
zunehmen, welche auf alle gleichmäßig Anwendung finden, so können wir in den ersten Jahren des Kindes
seine Persönlichkeit studieren, verstehen und entwickeln.
Wir können ihm Dank dieser unserer Kenntnis Frei heit in der Wahl seiner Studien oder seines Berufs lassen und wir können ihm jene Erziehung zum Schönen
angcdeihen lassen, welche für jeden einzelnen in jeder Lage den köstlichsten Schatz ausmacht, den einzigen, den nichts ihm rauben kann.
Ouxoussow, Ueber erste Erziehung.
11
X.
Ich habe wenig von Krankheiten im allgemeinen
gesprochen, weil ich so wenig in der Lage bin, Heil mittel anzuraten, da ich nur ein sehr mäßiges Ver
trauen zu sämtlichen bekannten Systemen der Medizin habe.
Den Armen möchte ich zu ihrem Troste sagen,
daß die Befragung vieler Aerzte ein Zeitvertreib der
Reichen ist, von dem sie doch nicht gesund werden.
Jedenfalls ist es viel besser, sich stets an denjenigen Arzt zu wenden, der die von ihm behandelte Persön
lichkeit genau kennt und dessen einsichtiger Rat als
dann der Rat eines klugen Freundes ist.
Aber das
einzig wahre Heilmittel, das für jedermann erreichbar
ist, besteht darin, dem Uebel vorzubeugen.
Von dieser
Kunst habe ich versucht, meinen Leserinnen eine Vor
stellung zu geben, als ich Andeutungen über die bei gewöhnlichem Gesundheitszustand zu befolgende Lebens weise machte und sie aufforderte, jede örtliche Schwäche
von ihrem Anfang an zu bekämpfen und jede erbliche Anlage von der Wiege an in Betracht zu ziehen. Ohne
zu warten, daß sie hervortrete, wollen wir sie als
einen Feind ins Auge fassen, der bekämpft werden will. Da der allgemeine Zustand der Menschheit weit ent
fernt ist ein gesunder zu sein, so haben wir für jeden etwas zu fürchten, und ich kann es nicht oft genug
wiederholen, daß man das leiseste Unwohlsein wie eine Krankheit behandeln muß.
selten
Zeit,
Das fordert wenig
das Dazwischentreten des Arztes und
beugt langen Beschwerlichkeiten vor, die oft die schreck
lichsten Folgen haben.
Von allem Unterricht ist un
bestreitbar der über die Gesundheitspflege der nützlichste und man wird wohl daran thun, dem Kinde dies von
klein auf aufs nachdrücklichste einzuprägen, indem man es ihm zur Pflicht gegen andere wie gegen sich selber
macht,
die
Gesundheitspflege niemals
zu vernach
lässigen. Ich füge hier einige Ratschläge über diesen Gegen stand bei.
Wenn wir das Kind an Reinlichkeit unb
Lufterneuerung Schutzmittel
gewöhnen,
so
gegen Seuchen.
geben wir
ihm ein
Ich habe davon ge
legentlich der Wartung unmittelbar nach der Geburt
gesprochen, beide Dinge sind notwendig für das ganze Leben.
Es ist möglich, daß man dahin kommt, das
Vorhandensein verdorbener Luft gar nicht mehr zu merken; das ist also Gewohnheitssache.
Der Staub
vom Ausfegen oder Abwischen braucht nur auf uns oder irgend einen Gegenstand zu fallen und dieser
Staub enthält den Keim zu allen Krankheiten.
Also
so wenig wie möglich Stoffe und Teppiche, welche ein
Sammelplatz für den Staub werden könnten; das
Kind aber gewöhne man, sein Zimmer mit einem feuchten Lappen aufzunehmen und jede Unsauberkeit zu beseitigen.
Um Erkältungen zu vermeiden, denen die zar
testen Konstitutionen mit meisten unterworfen sind, lasse man das Kind sich niemals nach einer heftigen Anstrengung der kalten Luft aussetzen.
Es mag einige
Minuten sich ruhig verhalten, ehe es das Zimmer
verläßt, und besonders in einem kalten Klima warte man, bis jede Spur der Erhitzung verschwunden ist. Man ziehe dem Kinde keine zu schweren Kleider an,
selbst wenn die Kälte strenger wird, denn die vom Gewicht der Kleider verursachte Anstrengung bringt es zum Schwitzen und demnach in Gefahr, sich zu er
kälten.
Ebenso muß man im Sommer vor dem Bade
die Temperatur der Haut sorgfältig in acht nehmen,
die auf den normalen Stand gesunken sein muß, ehe das Kind ins Wasser geht.
In südlichen Klimaten
hüte man das Kind sorgfältig vor der Stunde des
Sonnenunterganges; sie kann unter Umständen tödlich werden, denn der Wechsel in der Temperatur der uns
umgebenden Luft vollzieht sich dort so schnell, daß es uns vorkommt, als würden wir aus einem Treibhaus in
einen Eiskeller versetzt. Die schädlichen Ausdünstungen
werden dann heftig aus dem Boden ip die Atmosphäre
gezogen und so erklären sich Malaria, Wechselsieber und typhöse Fieber, welche in warmen Klimaten so
häufig sind. Eine vortreffliche Sache ist es in allen Ländern, das Kind an den Wechsel des Schuhwerks zu ge wöhnen, sobald es nach Hause kommt, wäre es auch
nur um ein Paar alte Hausschuhe anzuziehen.
Ist
es warm, so ist dies das beste Mittel zur Erfrischung und zur Erholung; wenn es im Feuchten gewesen ist,
so
wird ihm
beim Wechsel der Fußbekleidung die
Nässe keinen Schaden thun, denn sie macht sich nur in der Ruhe bemerklich und erkältet dann die Haut,
wirkt auf den Blutumlauf und bringt endlich eine
allgemeine Senkung der Körperwärme hervor.
Es ist
dieser Wechsel also eine ausgezeichnete Gewohnheit,
die sich jedermann aneignen sollte.
Den Schlaf muß
man immer heilig halten und ich möchte, daß diese Regel während der ganzen Wachsturnsperiode befolgt würde.
Leider ist das unmöglich, aber wenigstens
so lange wir das Leben der Kinder leiten können,
wollen wir uns in acht nehmen, sie dieses besten aller
Stärkungsmittel, dieser wunderbaren Hilfe der Natur, zu berauben.
Sie gehören früh ins Bett, um acht Uhr
im Winter, niemals, wenigstens so lange als es geht, später als neun Uhr, und dann lasse man sie zehn, zwölf Stunden, mehr noch, wenn es nötig ist, schlafen.
Aber sobald das Kind wach ist, lasse man es keine
Einhalten der Zeiten.
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Minute mehr im Bett; auf der Stelle muß es auf' stehen und mit einer Leibesübung beginnen.
Nichts
schwächt mehr, nichts ist nachteiliger für das Nerven system, als wach im Bett liegen zu bleiben.
Je nach der Temperatur muß man das Kind
zudecken und darüber wachen, daß es warm ist. Im Augenblick, wo man es zu Bett bringt, lege man ihm
die Hände unter den Pfühl, damit es nicht friert,
wenn sie draußen bleiben, und damit es sich nicht auf die Hände legt um sich zu wärmen.
Man wache darüber, daß es jeden Tag zur selben
Stunde auf den Abort gehe.
Man zwinge es dazu
von seinem ersten Jahre an.
Diese eine Gewöhnung
ist sein ganzes Leben lang ein Schutz gegen tausend Krankheiten.
Man beobachte die größte Regelmäßigkeit in Ein haltung
der Stunden.
Aufstehen,
Schlafengehen,
Essen, Arbeiten, alles muß zu bestimmter Zeit vor sich gehen, denn Ordnung im Leben ist ein Stärkungs
mittel für die Nerven, die durch zu oft erneute Ein drücke in Verwirrung
gebracht werden.
Das Kind
muß alle drei Stunden essen und ich rate ben Er
wachsenen es ebenso zu machen, wenn ihnen der Magen
weder überladen sein noch
knurren soll.
Zwischenzeit gestatte man keine Knusperei.
In der Wie schäd
lich ist doch diese allgemein verbreitete Gewöhnung, den Kindern dadurch Freude zu bereiten, daß man
ihnen zur Unzeit Leckereien giebt!
Wenn sie Hunger
haben, muß man ihnen offenbar zu essen geben, aber zu ihrer Zeit und sorgfältig dabei Süßigkeiten und
Kuchenwaren vermeiden, mit denen man ihnen niemals den Magen vollstopfen soll.
Ein wenig Kompott und
Zucker in der Milch reicht hin für die Rolle, welche
dieser Stoff in der Ernährung zu spielen hat. Alle Welt sagt, daß Zuckeressen die Zähne ver dirbt.
Aber nicht die Zähne werden durch den Zucker
zuerst verdorben, sondern der Magen.
Der Speichel
wird scharf, wenn der Magen überladen ist, besonders von Zuckerwerk, welches Säuren entwickelt, und so werden die Zähne angegriffen.
Die Zeit des ersten
Zahnens bedarf besonderer Wartung, denn sie ist die Vorbereitung der zweiten Zahnperiode und dabei ist
die Ueberwachung der Verdauung die einzig wirksame
Pflege.
Da die Zähne oft trotz aller Pflege schlecht
sind, vielfach aus Gründen der Erblichkeit, so muß man das Kind zum Zahnarzt führen, sobald die zweiten
Zähne sich einstellen.
Das ist dann eine sehr kleine
Ausgabe, welche später bedeutendere erspart und vor Zahnschmerzen, dieser wahren Geißel des Lebens, be
hütet.
Es ist von äußerster Wichtigkeit, seine Zähne,
auch wenn sie sehr schlecht sein sollten, so lange als möglich zu behalten.
Das künstliche Gebiß kann sie
im natürlichen Haushalt nicht ersetzen: ein Augenblick der Ueberlegung genügt um das zu begreifen.
Das
Kauen mit den natürlichen Zähnen bewirkt eine Thätig keit der Speicheldrüsen, welche eine unmittelbare Wir kung auf die Verdauung ausüben; sie können nur
durch die natürlichen Zähne in Thätigkeit gesetzt wer den.
Um seinen Magen in gutem Stande zu erhalten,
muß man mit Regelmäßigkeit und Einfachheit der
Ernährung so viel Abwechselung in der Nahrung ver binden, daß diese dem Blute die verschiedenen chemischen Bestandteile zusührt, die zur Blutbereitung nötig sind.
Milchspeisen, Mehl, Gemüse, Fisch, Eier, Fleisch, Salz und Zucker muß so dem menschlichen Körper über
mittelt werden.
Zum Troste derer, denen ihre be
schränkten Mittel den reichlichen Genuß von frischem
Fleische nicht gestatten, füge ich hier bei, daß frische
Gemüse viel Stickstoff enthalten, den wir im Fleische
suchen.
Pilze enthalten
Menge als Filet.
denselben sogar in größerer
Alle diese Bestandteile der Nah
rung sind unentbehrlich, aber keiner darf übermäßig oder ausschließlich verabreicht werden. Unreifes Obst ist
ein wahres Gift. Im allgemeinen verdaut sich rohes Obst schwerer — folglich ist es für einen schwachen
Magen zu vermeiden. Trinken soll man nach dem Essen — Wasser mit Wein gemischt, Bier oder andere Flüssigkeit, je nach
Landessitte, etwa eine Viertelstunde nach der Mahl zeit. Ueberall in der Natur sehen wir die Tiere feste Speise besonders und hinterdrein besonders flüssige
Nahrung nehmen.
Unsere Speisen sind in sich schon
für die Arbeit der Verdauung hinreichend mit Wasser gemischt.
Durch ein Uebermaß desselben wird die
Verdauung nur aufgehalten; nur durch die Gewohn heit, beim Essen auch zu trinken, verfällt man dem Vielessen, denn ohne zu trinken kann man unmög
lich über das Bedürfnis hinaus essen und das Ueber
maß der Getränke bringt eine Erschwerung der Ver dauung mit partieller Fettanhäufung und Blähungen
hervor, unter denen wir so viele Kinder leiden sehen. Die Kurzsichtigkeit ist ein allgemein verbreitetes
Uebel geworden infolge der den Augen zugemuteten starken Anstrengung, besonders in den Schulen, in denen die Beleuchtung im allgemeinen sehr mangel haft ist.
Im Falle
der Kurzsichtigkeit bildet die
Körperhaltung eine wahre Gefahr.
Der Kurzsichtige
braucht einen abgeschrägten Arbeitstisch,
der seiner
Sehkraft angemessene Dimensionen hat, damit er nicht beim Lesen oder Schreiben eine Schulter höher hält
als die andre, die Brust zusammenpreßt und den Rücken wölbt, indem er sich über seine Arbeit krümmt.
Wenn die Kurzsichtigkeit in hohem Grade vorhanden ist,
so ist es besser, dem Kinde eine gut gewählte
Brille aufzusetzen, als zu gestatten, daß es sich mit
der Nase auf dem Tisch zusammenduckt.
Den Beweis
dafür, daß der Ursprung dieser Schwäche in der un
vernünftigen Art liegt, in der wir unsere Augen ge-
brauchen, finde ich in folgender Thatsache:
beinahe
kein Kind wird kurzsichtig geboren, obgleich viele durch vererbte Anlage dazu geneigt sind.
Man bekämpft das Stottern, indem man das
Kind an sehr langsames Sprechen gewöhnt, die Silben mit Energie ausspricht und nach jeder Atem holen läßt.
Wenn man diese Uebung beginnt, sobald nmii
den Fehler merkt, so verhindert man, daß die Anlage zum eingerosteten Uebel wird.
Gegen Abzehrung oder verhältnismäßige Schwäche
eines Gliedes
muß man seine Zuflucht zur Heil
gymnastik nehmen, welche alle Folgen der Muskel schwäche beseitigen und in zartem Alter des Patienten sogar die Knochenverkrümmungen wegschaffen kann, welche später nicht mehr geheilt werden können. Noch wenige Worte über einige Forderungen der
Pflege in unausweichbaren Krankheiten, wie sie jede
meiner Leserinnen leicht anwenden und behalten kann. Sobald
man irgend
ein
Unwohlsein bemerkt,
nehme man es gleich in Behandlung, als wenn es
eine schwere Krankheit wäre.
Es handelt sich darum,
mit Heilungsversuchen nicht erst zu warten bis die Krankheit sich des Körpers bemächtigt hat. besteht die wahre Heilkunst.
also
energisch behandelt
Darin
Jede Erkältung muß
werden.
Wieviel
Qualen
erspart man sich nicht durch Vorsichtsmaßregeln, welche
zur rechten Zeit angewendet nur für einige Stunden
nötig sind.
Ein oder zwei Tage im Bett, dann noch
ein paar Tage das Zimmer hüten und die streng
überwachte Diät gewinnt leicht den Sieg über einen Schnupfen, der uns im Falle der Vernachlässigung töten kann.
Wenn man
bei Hautkrankheiten,
wie Röteln
und Scharlach, welche bei Kindern so häufig vor
kommen, einen Arzt nicht gleich bei der Hand hat, so braucht man sich darum doch nicht zu ängstigen, so lange man das Kind recht warm hält.
Das ist
dann eine Gelegenheit, zu erproben, ob man es recht erzogen hat, ob es gelehrig ist; der Eigensinn, mit dem sie sich bloßdecken, läßt die Kinder in großer
Zahl zu Grunde gehen.
So milde diese Krankheiten
auch aufzutreten scheinen, so behandle man sie doch als eine sehr ernste Sache; das Eintreten irgend eines
Zufalls in diesen Augenblicken kann die Gefahr auf den
höchsten Grad steigern.
Abgesehen von
einer
strengen und lange eingehaltenen Diät — wenigstens
nenn Tage
Hühnerbouillon,
eine Tasse
alle zwei
Stunden, kein Brot, keine feste Nahrung — verlasse
man
sich nicht auf Aeußerlichkeiten; dafür fordere
man Bettwärme imb Ruhe drei Wochen lang.
Wenn
die Krankheit im Winter eintritt oder in einem schlecht gelegenen Zimmer überstanden werden muß, so ver längere inan die im Bett zuzubringende Zeit: im
Winter kann man vor sechs Wochen gar nicht vom
Aufstehen reden. Im Sommer kann offenbar die Zeit der Absperrung beträchtlich vermindert werden.
Die Launenhaftigkeit, welche die Genesung be gleitet, darf uns nicht anfechten. Krankheiten bringen
die Nerven in Unordnung und machen reizbar.
Man
muß den Mut haben, ihr so zu widerstehen, daß es
unbarmherzig scheinen würde, wenn man nicht wüßte,
daß eine Erkältung
oder
eine Verdauungsstörung
unter diesen Umständen wirklich eine Todesursache sein können.
Für jedes andre bei Kindern häufig eintretende Unwohlsein, Leibschmerzen, Halsschmerzen,
Husten,
nenne ich das in dem Abschnitt über die erste Pflege gepriesene Mittel: die Abreibungen. Wenn man durch
dieses einfache Mittel den Schlaf wiederherstellt, hin
dert man einen Schnupfen sich zur Lungenentzündung
zu entwickeln. Kleine Unfälle infolge von Stoß oder Schlag
und Wunden behandle man, die ersteren, indem man ein Metallstück auf die getroffene Stelle drückt; das wird die blauen Flecke und Beulen verhindern. Wenn
die Haut abgeschunden und das Fleisch bloßliegt, muß man reichlich mit kaltem Wasser waschen.
Schnitt
wunden lasse man ein wenig ausbluten, halte das verwundete Glied ins Wasser und umwickele es dann mit altem Leinen, so daß weder Luft noch Schmutz
zur Wunde gelangen können.
Wenn der Schnitt mit
einem Instrument gemacht worden ist, das möglicher
weise mit einer Unreinigkeit behaftet war, so mische
man das Wasser mit ein wenig Karbol und wasche die Stelle
mit besonderer Sorgfalt.
man Brandwunden behandeln
Ebenso muß
und die verbrannte
Stelle mit Watte bedecken, welche die Berührung mit der Luft verhindert.
Wunden werden nur durch Un
reinigkeit, durch die Luft oder durch die Berührung
verschlimmert; man sollte also immer ein Fläschchen Karbol bei sich tragen, welches jede Verschlimmerung durch äußere Einflüsse hindert.
Um also
eine
Erziehung zweckentsprechend zu
leiten, muß man alles, was damit in Zusammenhang
steht, überlegen und sich klare Rechenschaft geben über
das, was herkömmlich und was notwendig ist, über das, was wahr und was falsch ist in dem, was wir
um uns sehen und hören, denn wir dürfen uns nur
durch das Nützliche und Wahre leiten lassen.
Aber
bei der Menge einander widersprechender Ideen, von
welchen diese Welt geleitet wird, müssen wir eine
mittlere Richtung wählen, in welcher uns die gesunde Vernunft leiten muß.
Wir wollen weder Märtyrer
noch Einsiedler bilden, welche immer der Gefahr zu
Gxunde zu gehen ausgesetzt sind.
Der bestgebildete
Geist ist derjenige, welcher zwar die volle Wahrheit
klar erkennt, aber sich den Forderungen seiner Zeit
anbequemt, welche nur ein gewisses Maß von Wahr heit erreichen kann.
Aber schon die Thatsache, daß
ein Einzelwesen ein erhabenes Ideal im Herzen birgt,
führt dazu, daß alle seine Handlungen zum Fortschritt der Gattung beitragen.
Es ist allgemein
bekannt,
daß wir von einer Menge Mißbräuche umgeben sind und daß es verlorene Mühe wäre, dieselben unmittel
bar zerstören oder bekämpfen zu wollen.
Daß wir
zu gleicher Zeit den Menschen sagen, es sei eine Sünde zu töten, und kriegerische Ruhmesthaten verherrlichen,
ist eines der tausend Beispiele der üblichen Wider sprüche.
Unter diesen Umständen können wir nicht
hoffen, gezwungen wie wir sind, dem unvermeidlichen Herkommen uns zu fügen, daß wir je eine unbedingte
Folgerichtigkeit in das was wir lehren bringen.
Es
giebt kein anderes Mittel zur Bekämpfung der Miß
bräuche, als nach Kräften die Ideen zu verbreiten, welche sie ihrer wahren Natur nach darstellen, und den Versuch zu wagen, daß wir unsere Handlungen mehr als es geschieht der abstrakten Moral anpassen,
welche wir lehren, ohne sie in unserem Leben anzu wenden.
Aus dieser Doppelströmung, welche unauf
hörliche Reibungen veranlaßt und die man gar nicht so sehr gewahr wurde, als die physische Gewalt in
der Welt herrschte, kommt die allgemeine Zweifelsucht
hervor.
Die Menschheit als Ganzes verfolgt denselben
Gang wie das
Leben des einzelnen.
Im Anfang
erregen äußere Eindrücke unsere Aufmerksamkeit mehr
als alles andere; später werden wir mehr von dem, was aus der Gedankenwelt kommt, in Anspruch ge
nommen, und da wir zu dem Ergebnis gekommen sind,
daß das, was wir denken, das wahrhaft Wertvolle ist, so finden wir uns auf dem Punkte, wo es für unser
Glück unerläßlich wird, unsere Handlungen mit unsern Gedanken in Einklang zu setzen.
Indessen sind wir
von einer Menge Einzelwesen umgeben, die nicht in dem gleichen Falle sind; für sie müssen wir unsere
Sitten an viele Dinge anbequemen, die mit unserem Gewissen nicht übereinstimmen. Machen wir also die
richtigen Vorstellungen zum Gemeingut, denn dies ver
leiht ihnen unwiderstehliche Kraft, so daß das beste Mittel, um möglichst viel Gutes zu thun, darin be steht, daß wir diese Ideen möglichst ausbreiten.
Ich
möchte unbedenklich sagen, daß, wenn die Gesamtheit wirklich so dächte, wie es die christliche Moral lehrt,
mit welcher die Lehren ernster Philosophen immer im Einklang stehen, die meisten Mißbräuche und Wider sprüche verschwinden würden.
Die Grundlage dieser
Lehre besteht in der Nichtanwendung der Gewalt, in
der Anwendung der Ueberredung als einziger Waffe,
mit der wir uns an die gesunde Vernunft und an das Herz wenden.
Auf solcher Grundlage können
wir sicher sein, keinen Mißgriff zu begehen, wenn wir
diese Lehre befolgen und verbreiten.
Indem wir diese Welterziehung der Kinder unter nehmen, wollen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß jedes Gelingen von unseren eigenen Gedanken und von der Art, wie unsere Handlungen sich danach
formen, abhängt.
Es muß Einheit zwischen unserem
inneren und unserem äußeren Leben bestehen, so gut wie es der gesunden Seele im gesunden Körper be
darf,
um die Harmonie zu besitzen, in welcher wir
allein Befriedigung finden.
Ich schließe mit diesem
alten Spruche, wie ich mit ihm angefangen habe.
Seine Richtigkeit habe ich hoffentlich gezeigt.
Mögen
diese wenigen Ratschläge einige Frucht tragen! weiß?
Wer
Vielleicht veranlassen sie, wäre es auch nur
eine oder zwei meiner Leserinnen, zum Nachdenken über die ernsteste Tagesfrage.
Ich nehme von ihnen Abschied mit dem herzlichen Wunsche:
Geduld und Ausdauer!