Ueber erste Erziehung [Reprint 2021 ed.]
 9783112398487, 9783112398470

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Aeber erste Erziehung.

Ueöer

(Lrste (Lr^Lehung von der

Fürstin M. Ouroustow.

Das Kind — bes lHannee Vater, Vorbsworth.

Klraßßurg 1890.

Verlag von Aar Ü I. Trübner am Alünsterptatz.

Druck der Union Deutsche Berlagsgesellschqft in Stuttgart,

Ach erhebe nicht den Anspruch, etwas ganz Eigenartiges geliefert zu haben, wenn eigenartig gleichbedeutend sein sollte mit „neu". Es scheint mir nur, daß die Bücher, welche die hochwichtige Frage des ersten Kindesalters behandeln, für die große Mehrzahl nicht verständlich genug sind, und daher habe ich versucht, auf einigen Seiten das wirklich unerläßliche Maß befielt zusammenzufafien, was man über diesen Gegenstand kennen muß. Indem ich mich auf ein so geringes Maß beschränkt und von allem ferngehallen habe, was wissenschaftliche Vorkenntnifie zu seinem Verständnis erfordert, hoffe ich, daß man diese Blätter in die Hände aller jungen Mädchen und Mütter, welches auch ihre Bildung oder gesell­ schaftliche Stellung sein mag, wird legen können.

Ich wende mich besonders an die breiten Schichten, die sich in vollständiger Unkenntnis über diesen Gegenstand befinden. Es ist Zeit, dieser Unkenntnis abzuhelfen.

F. W. O.

ZrchattsverMchnis. Seite

Einleitung.........................................................................

9

Kap. 1. Was ist das Kind? — Vererbung. — Wichtig­ keit der ersten Pflege. — Wärme. — Luft

19

Kap. 2. Nahrung. — Schlaf. — Kleidung im ersten Lebensjahr............................................................... 33 Kap. 3. Das Entwöhnen. — Man soll die Kinder

nicht auf dem Arm tragen oder allein lasten. — Gehorsam. — Das gute Betragen. —

Von der Wiege an sind die Kinder zu ge­

wöhnen. — Macht der Gewohnheit ...

48

Kap. 4. Strafen. — Kinder soll man nicht fürchten machen. — Die Kinderwärterinnen ... Kap. 5. Achtung vor der Eigenart. — Die Fehler

63

sollen als Krankheiten behandelt werden. — Heftigkeit.—Trotz. — Anspruchsvolles Wesen.

— Vom Nutzen der Zurückhaltung ... Kap. 6. Die Eindrücke der ersten Jahre sind rein

79

äußerlicher Art. — Wie man aus der Lebhaf­

tigkeit dieser Eindrücke auf den Sinn des Kin­ des Nutzen zieht, um den Sinn für das Schöne

zu entwickeln. — Einfache Wege zu diesem Ziel Kap. 7. Das Spielzeug. — Kleideraufwand. — Schäd­

lichkeit des Luxus. — Das richtige Maß. —

96

Seite Geld und Wohlthätigkeit. — Gemeinsame Spiele. — Lob und Tadel der körperlichen

oder geistigen Anlagen sind zu vermeiden

Kap. 8.

110

Erziehung und Unterricht. — In welchen

Fällen soll man ein Kind für den höheren Unterricht vorbereiten? — Leibesübungen.

— Beweglichkeit. — Geschicklichkeit. — Wie man sich der Sinne zur Beobachtung be­ dienen soll. — Grundzüge der Musik und

des Zeichnens sind unentbehrlich für alle .

Kap. 9.

126

Die Beobachtungsfähigkeit ist durch das Jnteresse an

den Dingen der umgebenden

Natur zu entwickeln.



Man vermeide

jede nicht unbedingt wahre Mitteilung. — Das Wunderbare. — Vaterland. — Familie. —

Religion.



Bekanntschaft

mit

der

Poesie. — Die Bücher....................................

Kap. 10. Die für jedermann unerläßliche Gesund­ heitspflege. — Die Medizin der Vorsorge. — Welche Ergebnisse muß die wahre Er­ ziehung haben? — Schluß........................

145

An unsere Arauen und Jungfrauen. Ich will euch von der einfachsten, der gewöhn­ lichsten, der notwendigsten Sache im Leben einer jeden von euch sprechen, von einer Sache, deren Nutzen viel

weniger bestritten werden kann als der aller Studien,

denen ihr euch widmet.

Ich behaupte sogar, daß diese

Studien hauptsächlich dazu

dienen sollen, euch die

Aufgabe zu erleichtern, die einer jeden von euch wartet: die Pflege der Kinder.

Wenn ihr euch nach der natürlichen Ordnung verheiratet und Mütter werdet, dann wird euch die

Bedeutung dieser Frage klar werden.

Ueberhaupt ist

jedes weibliche Wesen bestimmt, sich mit Kindern zu

beschäftigen; es ist dies der natürliche Beruf und das wahre Interesse seines Lebens.

Als ältere Schwestern

in einer zahlreichen Familie, als Verwandte da, wo

Tod, Krankheit oder Ueberlast der Arbeit eure kleinen Angehörigen der Mutter berauben,

endlich in der

weiten Welt, wo Tausende von Waisen,

von Ver-

[offenen der mütterlichen Pflege bedürfen, werdet ihr

bald erkenn en, daß immer eher Mangel als Ueberfluß an solchen obwaltet, die sich der Kinderwelt widmen.

Es ist der schönste Traum einer jeden edlen Seele,

den ich trotz alledem und alledem verwirklicht zu sehen

hoffe, daß einmal der Tag kommen wird, an dem es keine Waisen mehr geben wird in dem Sinne der Verlassenheit,

den

dieses Wort ausdrückt.

Wenn

Jesus Christus durch die Lehre, daß wir uns alle als Brüder betrachten sollen, ausdrücken wollte, es

dürfe keinem unter uns an Pflege, Liebe, Barmherzig­

keit fehlen: wer bedarf denn dessen mehr, als die

unzähligen kleinen Wesen rings um uns her, von

denen Tausende täglich zu Grunde gehen, weil es ihnen an ein wenig Liebe und Pflege mangelt?

Wie viele

Frauen verbringen ein trauriges, einsames, zweckloses Leben, während es doch in der Welt so viele Kinder zu retten giebt!

Mit der Sorge für diese Kinder

würden sie gewiß ein oft unnützes und ihnen selber

lästiges Dasein

ausfüllen können.

Aber sie haben

nicht von Jugend auf die Wichtigkeit dieser Frage verstanden; sie haben nicht gesehen, daß hier eine wirklich fruchtbare Arbeit zu thun ist, eine Quelle

unversieglichen Glückes sprudelt:

darum wende ich

mich an euch, die ihr in das Leben eintretet, die ihr keine alten Gewohnheiten zu überwinden habt, denen es ein natürliches Bedürfnis ist, zu lernen, und für

die noch die Möglichkeit besteht, sich zu überwinden

und sich zu entwickeln.

Denn je mehr ich über diese

Frage nachdenke, desto klarer sehe ich, daß es nur ein einziges Mittel giebt, sie richtig zu lösen, das ist die

Selbsterziehung.

Sie fällt eurer Generation zu, die

heutige Jugend allein wird im stände sein, die Kinder

von morgen aufzuziehen. Auf diese Aufgabe also gilt

es sich vorzubereiten, und um euch dabei zu helfen, will ich euch meine Beobachtungen und Erfahrungen auf diesem Gebiete mitteilen. Es klingt seltsam, daß die Erziehung eine der wenigst gekannten Aufgaben ist, über welche die größte Unkenntnis herrscht, und doch ist es die interessanteste von allen. Das Wesen, das heute noch Kind ist, wird es nicht in der Zukunft Wohlthäter oder Geißel

der Gesellschaft, Quelle der Freuden oder der Schmerzen für viele andere sein, die Ursache der Gestaltung für viele noch ungeborene Geschlechter, welche alle von seiner körperlichen und geistigen Gesundheit abhängen? Diese Gesundheit also muß das Ziel aller unserer Sorgen, aller unserer Anstrengungen sein, und da jedes gerettete Kind ein wirklich unberechenbares Gut ist, so ist die Arbeit nicht verloren, mag sie auch mit­ unter noch so entmutigend scheinen. Achtet wohl dar­ auf, daß ich unter Gesundheit geistige und leibliche

Gesundheit verstehe, ohne sie zu trennen.

In alten

Zeiten sagte man schon, daß nur in einem gesunden

Leibe eine gesunde Seele wohne.

Nichts ist richtiger

als dieser Satz; die Ueberzeugung, die ich mir auf Grund vielfacher Nachforschung und Erfahrung darüber

gebildet habe, ist mir so wertvoll, daß ich euch vor

allem andern daran teilnehmen lassen möchte. Nimmt man diese Wahrheit einmal als Grund­ lage an, so muß man zu der Erkenntnis dessen ge­ langen, was denn einen gesunden Zustand im Men­ schenwesen bedingt und wie man es anstellen muß, um so viel Kinder als möglich zu einem solchen Zu­ stand zu bringen. Die Gefängnisse sind mit Leuten gefüllt, die alle einmal Kinder gewesen sind, und die Mehrzahl von ihnen dankt ihr trauriges Geschick der Vererbung, der Vernachlässigung oder der Krankheit. Wie viele dieser Unglücklichen hätten gerettet werden können, wenn ihre Kindheit anders gewesen wäre! Darum sage ich: wendet euch nie von einem Kinde ab! Abgesehen von den gar seltenen Fällen von Krankheiten (so nenne ich auch die durch Vererbung

übertragenen Fehler), welche so tief in der Persön­ lichkeit verankert sind, daß das Opfer daran sterben muß, giebt es kein unbedingt verlorenes Kind. Die Umbildung eines fertigen Menschen ist eine sehr schwere und gewöhnliche Kräfte übersteigende Aufgabe

— die Erziehung des Kindes liegt im Bereich der Kräfte einer jeden von euch und von allen sozialen Reformen ist sie die einzige, die ein sicheres Ergebnis

verheißt.

Gesetze, Unterricht, Kultur sind machtlos

im Vergleich mit der ersten Erziehung, mit der Pflege, die der Gesundheit eines Menschenwesens von seiner Wiege an gewidmet wird.

Ihr seht, wie hoch dies Ziel gesteckt ist, wie

nahe es uns berührt.

Nicht wahr, ihr alle wollt

Gutes thun in dieser Welt, ihr seit bereit, eure Kraft dieser Aufgabe zu widmen, besonders wenn sie zu

sicherem Ergebnis führt?

Nun wohl, ihr braucht nicht

zu suchen, das Gute liegt so nahe, bei jedem Schritt, in jedem Augenblick.

Was auch immer eure gesell­

schaftliche Stellung sein mag, ihr könnt, ihr müßt diese Pflicht erfüllen.

Pflegt die Kinder! setzt euer

Herz, eure Einsicht, eure Kraft daran und ihr werdet es wohl empfinden, daß ihr nicht ohne Segen im

weitesten Sinne des Wortes in dieser Welt gelebt habt.

Ihr werdet immer das Herz voll lebendiger

Teilnahme haben, niemals ohne Familie, ohne Gegen­ stand eurer Zuneigung sein.

Es verschafft euch innere

Genugthuung, ein Hündlein, das man ertränken wollte, aufzulesen und bei euch zu füttern.

Wie wird es erst

mit jedem menschlichen Wesen sein, das ihr dem Kerker, der Krankheit, der Verzweiflung entrissen habt, um es zu einem

machen!

gesunden Gliede

der Gesellschaft zu

Und diese Art der Hingebung wird dadurch

noch wertvoller, daß ihr nicht bloß das Einzelwesen

rettet, indem ihr die Kleinen pflegt, es ist eine Wohl-

that ohne Ende, die sich von Jahrhundert zu Jahr­ hundert fortpflanzt, und ich bin überzeugt, daß nichts in gleichem Maße die unserer Menschennatur inne­ wohnenden geheimnisvollen Wünsche so sehr erfüllt, wie das Bewußtsein, so viel als möglich zu dieser künftigen Entwickelung - beizutragen, die wir nicht sehen werden. Denn es ist eine klare Thatsache, an die man nicht genug denkt, daß alle menschlichen Wesen in festem Zusammenhang miteinander stehen. Jede Hand­ lung, jedes Wort irgend eines von ihnen hat seine Gegenwirkung in der Gegenwart und oft auch in der Zukunft, und diese Zusammengehörigkeit kommt her von dem festen Bande, das uns alle in einer unlösbaren Kette aneinander fesselt. Diese Zusammen­ gehörigkeit beweist die Wichtigkeit jedes Einzelwesens, nicht an und für sich, sondern in seinem Zusammen­ hang mit den andern. Es ist nicht bloß eine abstrakte Idee, weiln Christus sagt: ihr seid alle Brüder, nicht bloß das Gesetz einer erhabenen Sittlichkeit, welches er verkündet, sondern eine unbestreitbare natürliche Thatsache. Ein Beweis dafür, an den wenige denken, ist die uner­ meßliche Zahl von Einzelwesen, deren Blut in unsern Adern rinnt. Wie steht es denn damit? Jede von euch weiß, daß sie zwei Großväter und zwei Großmütter hat; giebt es denn viele, die sich ihrer acht Urgroßeltern

und ihrer sechzehn Ur-Urgroßeltern erinnern? Nehmt

«einfach die nächsten Verwandten, Brüder und Schwestern dieser Vorfahren und ihr seht, welche Menge von Einzelwesen sich in thatsächlicher Verwandtschaft mit

uns befindet.

Ihr seht, daß alle untereinander in

natürlicher Verwandtschaft stehen und daß nur die Unwissenheit in Verbindung mit der rohen Selbstsucht

den Gedanken erzeugen konnte, daß es Fremde unter Die Kinder dessen, der heute euer Nach­

uns gebe.

bar ist, sind unabweisbar bestimmt, sich eines Tages

mit den eurigen zu vereinen oder mit ihnen im All­ tagsleben in Berührung zu kommen: glaubt also nicht,

daß ihr der Zukunftswelt einen ganz selbstlosen Dienst

leistet, wenn ihr euch mit der Kinderwelt überhaupt beschäftigt. Ihr werdet eure Abkömmlinge lieben und

ihnen Gutes wünschen, wie dies das allgemeine Natur­

gesetz ist; ihr Wohl wird von ihrer Umgebung ab­

hängen.

Wenn sie in eine Gesellschaft von Kranke::

oder Verbrechern geschleudert werden, wird keine per­ sönliche Tüchtigkeit sie vom Untergang retten:

die

Vereinzelung, selbst in der Tüchtigkeit, ist nutzlos.

In erschreckender Weise hängen wir alle einer vom andern ab.

Jede schlechte Handlung wird beinahe

immer an einem Unschuldigen gestraft. Jedes Menschen­ wesen, dem man nicht zur rechten Zeit die rettende

Hand reicht, wird die unmittelbare Ursache endloser Uebel für uns und vor allem für unsere Nachfahren.

Wenn das Nachbarhaus brennt, ist deines bedroht, glaube es nur, und unter dieser Bedingung sind wir

in diese Welt geworfen, daß Vereinzelung und Gleich­ gültigkeit gegen die Nächsten unmöglich ist.

Es heißt

also in der That am eigenen Glücke arbeiten, wenn man beim Unglück des Nächsten nicht glücklich sein kann, denn so sind die Fäden unserer Geschicke wechsel­

seitig verwoben, daß wir nicht ohne einander existieren

können, was wir auch beginnen. Dieser Zustand wird

dauern, solange es eine Menschheit giebt; je mehr wir also dahin kommen, denen Gutes zu thun, die künftig ihre Glieder sein werden, um so mehr werden wir unsern nächsten Angehörigen einen Dienst leisten, und

ich sage unbedenklich, daß wir unsern Kindern nütz­ licher sein werden, wenn wir ihnen eine gesunde und

glückliche gesellschaftliche Umgebung vorbereiten

als

wenn unser Dichten und Trachten dahin geht, ihnen ein großes Vermögen zu hinterlasien. ein zweifelhaftes und jedenfalls

Vermögen ist

sehr

zerbrechliches

Glück, das gesellschaftliche Wohlsein ein gewisies und dauerhaftes Gut.

Aber zur Erreichung eines Zieles

genügt der

gute Wille nicht, auch nicht eine edle und erhabene

Gesinnung. Es ist unerläßlich damit ein eingehendes Studium der Sache, der man sich weiht, und eine

bis ins Kleine gehende Erforschung alles desien zu verbinden, was uns bei dieser Arbeit leiten kann.

Man muß alles, was man gethan hat, berechnen,

um sich nicht von seiner Einbildungskraft oder seiner Unkenntnis fortreißen zu lassen, man

muß so viel

als möglich Einsicht in den Gegenstand

gewinnen.

Ich werde mich also nicht darauf beschränken, euch anzudeuten, was ihr zu thun habt, ich lege Wert

darauf, euch zu sagen, warum und wie ihr es meiner Meinung nach thun müßt, und jeden Rat werde ich möglichst durch Beobachtungen und Beispiele aus der Welt der Thatsachen unterstützen.

Wenn es mir geglückt ist, euch den Wert der vorliegenden Frage begreiflich zu machen, so bin ich

ruhig über das Ergebnis meiner Ratschläge, wäre es

auch nur, daß euch das Auge zu richtigem Blick ge­ öffnet wird auf einem Gebiete, auf dem bis heute

die gröbsten Irrtümer als Gesetz gelten.

Klar wie

das Sonnenlicht scheint mir die Lösung der großen sozialen Aufgabe, welche euch jetzt so nahe angeht,

mit der ihr alle, eure Brüder, eure Söhne, ob ihr

es nun wollt oder nicht, befaßt werdet. Die Lösung heißt: Pflegt das Kind von seiner Geburt an!

Es

giebt keine Wissenschaft in der Welt, die man nicht

in ihren ersten Anfängen studieren und vollkommen ver­

stehen müßte, um zu den schwersten Problemen zu gelangen.

Es giebt kein Gebäude, welches der Zeit

und dem Zufall widerstehen kann, wenn sein Grund nicht sicher gelegt und sorgfältiger als der ganze OberOuroussow, Ueber erste Erziehung.

2

bau errichtet ist.

seinem Anfang

So auch im Menschenleben. hängt

seine ganze Gestaltung

Von ab.

Also muß diese Arbeit vom ersten Tage an unter­

nommen werden. Ich weiß wohl, daß es Zeit braucht, um die einfachste Idee zu verbreiten, aber das ent­

mutigt mich nicht.

Wenn nur einige von euch diese Idee in Herz und Kopf aufnehmen, so sage ich ihnen: Mut, Aus­

dauer bis zum Aeußersten, so schwer das auch scheinen mag!

Jede von euch, der es gelingt, drei oder vier

Kinder in den von mir als gesund angesehenen Be­ dingungen aufzuziehen, rettet Tausende von Zukunfts­

wesen.

Diese meine Mitarbeiterinnen

werden sich

vielleicht zuerst vereinsamt fühlen in ihrem Werke der Welterneuerung, aber ihre Leitidee ist richtig, sie wird

sich endlich ausbreiten und triumphieren, denn was

ewig wahr ist, behält doch endlich den Sieg.

Nur

braucht es lange Zeit, um die einfachsten Arbeiten zum Gemeingut zu machen, und dafür zähle ich auf euch.

Zwei oder drei Generationen in diesen Ideen

aufgezogen werden ihnen zur Herrschaft verhelfen und dazu braucht es keine Gelehrten oder Philosophen, sondern die ganze Frauenjugend unserer Tage, ohne

Ausnahme, ohne Unterschied.

Was ich euch sagen

will, ist für jedermann verständlich, und wenn ihr es wollt, so kann, ich bin davon überzeugt, ein großer

Fortschritt aus diesen einfachen Studien hervorgehen.

I. Mit der Kinderwelt wollen wir uns also beschäf­

tigen, d. h. mit der ganzen Menschheit, insofern sie verbesserungsfähig ist.

Was ist denn das Kind? Es ist die Frucht, das notwendige Ergebnis der vorangehenden Generationen,

es ist der sichtbare Kettenring, der die Bergangenheit an die Zukunft anknüpft.

Es trägt in sich die Folgen

von allem dem, was vor ihm war; in diesem Saat­

gut giebt es gute und schlechte Körner.

Das einzige

Ziel der Erziehung ist die Entwickelung des guten Samens und der Kampf mit dem Unkraut.

Das Kind

wird seinen Nachfolgern den Kern seines Wesens über­

liefern, und unsere Arbeit ist es nur, in ihm das Ge­ deihen der wohlthätigen Kraft möglichst zu fördern. Gerade wie in der Heilkunst jedes Mittel versucht werden muß, um die Kraft der Natur in ihrem Kampfe

gegen ein Uebel zu stärken, welches auf gewaltsamem

Wege nicht entfernt werden kann, so muß auch die Erziehung alle ihre Anstrengungen darauf richten, das Gute in der menschlichen Natur zu stützen, die auch immer gegen das Ueble zu kämpfen hat.

Das Werk

der Erziehung läßt sich nicht in feste Grenzen ein­

schließen, es beginnt von der Wiege an mit der Vor­ bereitung des Körpers auf den Kampf, den jedes

Menschenwesen von seiner Geburt an zu bestehen hat. Vernünftigerweise wird die Erziehung in einer plan­

vollen Verwendung der Hilfsmittel bestehen müssen,

welche sie in der Natur selber findet, und besonders darf sie nicht ein Werkzeug für die Willkür oder die Lieb­

haberei des Erziehers sein.

Weiln man ui Erziehungs­

fragen zum Ziele kommen will, muß man jeden rein persönlichen Wunsch, jedes Vorurteil beiseite lassen

und nur das Wohl des Kindes ohne jede Nebenbe­

dingung ins Auge fasien.

Es ist eine kindische und

selbstsüchtige Art der Beschäftigung mit der Jugend,

wenn man einem Kinde den eigenen Geschmack, die

eigene Beschäftigung, die eigenen Gedanken aufdrängen will.

Sie führt bald zll Kämpfen, die sehr gefährlich

für den Charakter und die Beziehungen des Kindes zu andern werden.

Die erste unerläßliche Bedingung

ist also die, daß man das Ich mit allen seinen Irr­

tümern, seinen Vorurteilen und seinen oft recht un­ vernünftigen Wünschen vergißt unb nur das unbe­ zweifelbare Wohl des Kindes selbst ins Auge faßt. Gleich von Anfang an werden wir sehen, daß wir selber Entsagung üben müsien, um dahin zu gelangen.

Das einzige Gut ist, wie gesagt, die Gesundheit. Wir

werden also damit anfangen, uns mit dem zu be-

schuftigen, was im stände ist, sie uns zu geben, und

später werden wir die greifbaren Ergebnisse dieser Pflege sehen, die trotz ihrer scheinbaren Geringfügig­ keit der höchsten künftigen Entwickelung dient.

Körperliche und sittliche Gesundheit sind.nach meiner Ansicht untrennbare Dinge.

Ich bitte diesen

Grundsatz festzuhalten, denn die meisten Erziehungs­ fehler kommen von der Meinung her, daß jene beiden

getrennt werden könnten. Beide müssen also von der Geburt des Kindes an gleicherweise gepflegt werden;

aber in den ersten Jahren bereitet man die gesunde Seele vor, indem man den Körper pflegt.

Was der

Gesundheit schadet, schadet auch dem Charakter und somit der Sittlichkeit. Wenn man einem ganz kleinen Kinde (von vier oder sechs Monaten) irgend ein Ding giebt, weil es

danach schreit, so ist es klar, daß es dieses Mittel jedesmal anwenden wird, weiln es nach etwas ver­

langt.

Wenn man eines schönen Tages thatsächlich

außer stände sein wird, ihm den Gegenstand seines

Wunsches zrl geben, so wird es sich krank schreien, bis es die Stimme, den Schlaf imb den Appetit verliert.

Das kleine Gesicht wird von Zorn und Heftigkeit gallz entstellt sein und sein überreiztes Nervensystem wird das Böse in seiner sittlichen Natur entwickeln, wenn

sie auch mir in den ersten Anfängen liegt.

Hat man

aber einem Kinde nein gesagt und giebt in dieser Hin-

sicht nicht nach, so wird es schnell, überraschend schnell das Nutzlose seines Schreiens einsehen, weil die ihm gegenüberstehende Gewalt konsequent bleibt. Uebrigens ist es bei der staunenswerten Beweglichkeit des KindeSalters sehr leicht, die Aufmerksamkeit des Kindes von dem begehrten Gegenstände abzulenken, aber immer nur, wenn man es daran gewöhnt hat, daß seinen Launen nie nachgegeben wird. Ohne diese Gewöhnung ist die Hartnäckigkeit, mit der eS das Unmögliche will, in der That bemerkenswert und stellt sich sehr früh ein. Wenn man ihm nachgiebt, stört man seine ersten Vorstellungen von Moral und es fühlt nicht die für seine Ruhe notwendige Autorität. Ich habe dieses Beispiel angeführt, um zu beweisen, daß die Erziehung in der That von der Wiege an und nach allen Richtungen hin gleichzeitig beginnt. Von allen Wesen der Schöpfung ist der Mensch bei seiner Geburt daS ohnmächtigste. Alle andern wisien wenigstens sogleich ihre Nahrung zu finden. Für ihn muß vom Anbeginn deS Lebens alles von andern gethan werden. Man lasie das Neugeborene an der Seite her Mutter: wenn diese ihm nicht die Brust reicht, würde es sie nicht suchen können, es würde nicht einmal in eine warme Ecke des Bettes kriechen können und würde an seinem ersten Lebens­ lage umkommen. Ich nehme an, daß die Natur es so gewollt hat, weil der Mensch bei seiner geistige»

Ueberlegenheit über alle andern Wesen eigenen Antrieb genug besitzt, um sich seiner Nachkommenschaft voll­

ständig anzunehmen. Die ersten Bedürfnisse derselben

sind rein tierischer Art, aber es ist von äußerster Wichtigkeit, daß ein vernünftiges Wesen, und zwar

mit aller Kraft der Einsicht und des Herzens sie ihm stillt. Nackt, zitternd, schwach, hungrig, so kommt das Kind in dieser Welt des Elends an: so muß sie ihm wenigstens bei seinem Eintritt in dieselbe vorkommen.

Sein Leben ist in diesem Augenblick sehr in Frage gestellt und fordert die gewisienhafteste Sorge.

Die

Hälfte der menschlichen Nachkommenschaft stirbt im ersten Lebensjahre infolge der Unwisienheit der Pfleger und aus Mangel an Pflege.

Je ärmer, je weniger

zivilisiert ein Land ist, um so mehr kommen um.

In

Europa weist Rußland die größte Zahl der Geburten auf und in den ärmeren Schichten, in denen Mütter von zwanzig Kindern keine Ausnahme bilden, kommen

selten mehr als drei oder vier zu Jahren, oft sterben sie alle in zartem Alter. Mit dem Wachstum des Wohl­

standes mindert sich diese Sterblichkeit und sie würde

noch geringer sein, wenn man die Neugeborenen ver­ nünftiger behandelte.

Aber auch in hoch zivilisierten

Ländern wie Frankreich ist die Sorglosigkeit in dieser

Hinsicht unbegreiflich. Ich habe diese hohe Sterblichkeits­ ziffer oft als ein Glück für einen Staat preisen hören.

24

Hinfälligkeit der Rinder.

Die Starken allein überleben, sagt man, und es ist

besser, daß die Schwachen verschwinden.

Ich halte

diese Betrachtungsweise für unbedingt thöricht; sie be­

ruht nicht auf einem Gedanken, sondern auf einem trügerischen Schein, wie

er so oft in menschlichen

Glaubenssätzen bestimmend wirkt.

Wenn ein Kind in

den Anfängen seines Lebens schwach scheint, so ist das

erstens keineswegs ein Grund, daß es für den Nest

seiner Tage kränklich bleibe, und dann fehlt viel daran, daß die, welche den schrecklichen Anfechtungen ihrer Kindheit widerstehen, immer gesunde und starke Indi­

viduen werden.

Oft kränkeln sie jämmerlich dahin während einer

Reihe von Jahren und hinterlassen kränkliche Kinder.

Diese Pflänzlinge des Elends gewähren einen be­ dauernswerten Anblick.

Ein allgemeines Verkümmern

scheint diejenigen zu treffen, welche die ersten Jahre überleben und die nach dem von mir bekämpften Satze hätten Diesen werden und starke und gesunde Kinder

zeugen sollen.

Ansteckende Krankheiten werfen sich

durchaus nicht bloß auf kränkliche Kinder; oft werden die kräftigen reißend schnell dahingerafft, während die

andern für ein schmerzvolles Dasein aufbewahrt bleiben.

Beispiele sind in Fülle vorhanden, daß durch die Pflege ein Kind dem Tode entriffen wurde, der es bei der

Geburt zu bedrohen schien, und daß solche Kinder stark wurden und Hervorragendes leisteten.

Viktor Hugo,

der große französische Dichter, dessen Greisenalter von

Leiden ganz frei und blühender war als die Jugend

vieler. anderer ist, erreichte das dreiundachtzigste Jahr und doch hielt man i()ii bei seiner Geburt für tot,

rang ihn seine Mutter in den ersten Monaten seines Lebens Stunde für Stunde dem unvermeidlich schei­

nenden Tode ab.

Die Geschichte ist voll von Bei­

spielen dieser Art.

Es ist also unsere Pflicht, jedes

Neugeborene auf das sorglichste zu pflegen, denn vor ihm finden wir uns gegenüber dem großen Geheim­

nis, dem Reiz der unbekannten Größe. dieses künftige Wesen werden?

Was wird

Wir wissen es nicht.

Darum nicht gespart, um es zu erhalten, denn es ge­

hört vielleicht zu denen, deren Andenken die Zukunft segnet. Nur in einem Fall möchte man wünschen, daß die Kinder nicht am Leben bleiben: wenn sie von brustkranken oder dem Trünke ergebenen Eltern ge­

boren werden.

Ich

möchte es niemand

wünschen,

solche Kinder zu pflegen: man würde es nicht können.

In solchem Falle bedarf es der Ueberwachung biird) Männer von bester wissenschaftlicher Bildung

und

trotzdem zeigen sich bis auf diesen Augenblick diese erblichen Anlagen stärker als alle Mittel, welche die Heilkunde zu ihrer Bekämpfung ersonnen hat. Unter

allen Krankheiten der Welt fordert die Schwindsucht die meisten Opfer: sie verschlingt ganze Nassen.

Hin-

sichtlich der dem Trünke ergebenen zeigt die Statistik,

daß ihre Abkömmlinge den größten Teil der Ver­ brecher, der Epileptischen und Irrsinnigen stellen. Erst

wenn die Menschen einmal so erzogen sein werden, daß sie im Trünke nicht mehr den verdummenden

Genuß suchen, den sie so gern darin finden, wird

man die Verminderung all dieses Elends erleben. Ich habe die Schwindsucht und die Trunksucht hier berührt, um auf die bündigste Art zu beweisen,

welche Rolle die Vererbung in der Natur des Kindes spielt. Die Vererbung existiert in der ganzen Schöpfung: das Gesetz der Vererbung vermag allein zu erklären,

warum der Apfelbaum immer Aepfel,

die

Stute

Füllen, die Kuh Kälber hervorbringt und nmrum jeder

Artunterschied sich bei den Abkömmlingen wiederholt. Schwieriger ist eS,

in der menschlichen Natur die

Unabänderlichkeit dieses Gesetzes zu erkennen, weil sie viel künstlicher geartet ist als alles andere

auf der

Erde, und weil die erblichen Einflüsie bei ihr besonders zahlreich find.

Beispielsweise besitzt der Mensch, was

den Tieren abgeht, die Ueberlieferung, d. h. die in

Worte gefaßte Erinnerung an die Thaten und Er­ lebnisse

früherer Geschlechter

und

infolgedessen

ist

die Fülle der Ursachen, die seine Persönlichkeit bedingen,

unberechenbar groß.

Es ist uns

warum ein Neufundländer Hund

leicht

begreiflich,

seinen Eltern so

gleicht, daß er unmittelbar nach dem Abschluß der

Entwickelung ihnen in allen wesentlichen Stücken, in Neigungen, Gewohnheiten, Aussehen u. s. w. ähnlich wird; wenn seine Eltern ihm die für ihn als Neufnndländer unentbehrlichen Dinge

haben beibringen

können, so haben sie ihm doch nichts darüber hinaus mitteilen können und lassen ihn im Stich, sobald er

stark genug ist, um unabhängig von ihnen zu leben,

da sie sich selber nicht einmal erinnern, daß sie Eltern gehabt haben.

Der Kreis ihres Gedächtnisses, ihrer

Eindrücke, Erinnerungen ist eng begrenzt, und nur

ein Flecken, eine Form, ein natürlicher Trieb zum Jagen oder Rennen, der uns das Dasein erblicher

Besonderheiten

bei den Tieren

beweist,

zeigt

uns

Menschen (denn die Tiere kümmern sich nicht darum), daß ein Pferd oder ein Hund von dem oder jenem berühmten Ahnen abstammt.

Ganz anders der Mensch. Jeder hat einen Vater

und eine Mutter von ganz verschiedenem Charakter, Aussehen, Gesundheit; in jedem finden sich die Naturen

von Vater und Mutter vereinigt.

In den Eltern

findet sich wieder der doppelte Einfluß Eltern itnb so fort.

von deren

Wie viel unmittelbare und oft

einander entgegenarbeitende Einflüsse wirken zusammen,

um einen Menschen zu bilden! Es ist also vollständig

unmöglich, den Ursprung aller Eigenheiten eines Kin­ des wiederzufinden, denn diese Arbeit übersteigt die Kraft

eines einzelnen;

aber was auch die Fehler,

Vorzüge oder Eigenheiten sein mögen, die man an

ihm findet, sicherlich ist alles dies ererbt und hat seine

Berechtigung in den Ahnen, von denen es abstammt. Ist dieser Grundsatz einmal reiflich erwogen und an­

genommen, so ist er uns eine treffliche Hilfe, um allerlei Fehler zu vermeiden und zu erkennen, daß

alle die Verschiedenheiten der Charaktere nicht als persönliche oder willkürliche Unregelmäßigkeiten zu be­

trachten sind. Einige Andeutungen über die körperliche Gesund­ heit und den Charakter der Eltern und sogar der Großeltern sind ja leicht zu erhalten und werden uns

von erheblichem Nutzen sein.

Wer Kinder hat, dem

empfehle ich, daß er sich selbst wohl beobachte, um zu

wiffen, was er wahrscheinlich an seinen Kindern zu

bekämpfen oder zu unterstützen hat.

Wer aufrichtig

seine eigene Natur studiert, wird sehen, wie verwickelt sie ist; das trifft für jeden zu. Verschiedenartige An­

lagen stoßen und kreuzen sich maffenhaft, und wenn

niemand von sich rühmen kann, daß er unbedingt gut sei,

so darf auch niemand klagen, daß er vollständig schlecht sei.

Diese Menge verschiedenartiger Keime ist in der

That ein Glück.

Sie läßt die Hoffnung zu, daß

man bei verständigem Verfahren immer ein paar gute Keime zu pflegen

findet.

So werden wir

dahin

kommen, nicht mehr allzusehr zu erschrecken über das,

was wir als Erbe von uns in den Kindern sehen,

und wir werden hoffen, daß sich das gute Erbteil

auch entwickeln wird.

Man beginne also dem Neugeborenen die ein­ fachste, aber ganz gewissenhafte und zu seiner Erhal­

tung notwendige Pflege angedeihen zu lassen.

Es

friert zunächst beständig, denn es kommt aus einem

warmen Heim und gewöhnt sich nur nach xitib nach

an die verhältnismäßig kalte Luft sogar eines warmen Zimmers.

Alles an ihm ist zerbrechlich und zart:

Glieder, Organe, Haut.

Das Geschrei, das es bei

seinem Eintritt in die Welt ertönen läßt, ist

ein

Zeichen von Kraft und eine ausgezeichnete Uebung,

um seine Lungen an die neue Aufgabe zu gewöhnen,

Luft einzuatmen,

ohne darunter zu leiden.

Wenn

das Kind sehr zart ist, muß man ohne Zaudern zur

künstlichen Erwärmung schreiten: sein Leben hängt da­ von ab.

Ich habe selbst in meiner Familie Zwillinge

gesehen, die äußerst zart waren.

Später wurden sie

sehr starke Kinder. Weiln sie sich bis zu diesem Grade

entwickelt haben, so verdanken wir das der Sorgfalt

eines ausgezeichneten Arztes,

der ihnen bei einer

Zimmerwärme von 160 Wärmflaschen (Steinkruken) von 30° N. ins Bett legen ließ.

Man ließ ihnen

das Gesicht unbedeckt, um sie an die Einatmung nor­ maler Luft zu gewöhnen.

lang fortgefahren.

Damit wurde sechs Wochen

Dann wurde die Wasserwärme

allmählich verringert, aber bis nahezu zum vollendeten

zweiten Jahre wurden sie nur sehr warm gebadet, was nicht verhindert hat, daß sie sich hinterdrein ans kalte Wasser und seinen

beständigen Gebrauch

gewöhnt

haben. Es wäre also großes Unrecht, die Abhärtung des

Neugeborenen zu überstürzen.

Man gebe ihm erst

Kräfte und es wird alles aushalten können.

Nichts

ist leichter, als ihm Wärme zuzuführen, denn man

kann es immer einhüllen, müßte man ihm auch den

eigenen Mantel opfern, und ihm Wärmkrüge an die

Seite legen. Unglücklicherweise

ist es schwerer, der zweiten

ebenso unentbehrlichen Lebensbedingung zu genügen.

Reine und frische Luft ist der Luxus einiger wenigen Bevorzugten.

Beinahe das ganze Menschengeschlecht

ist verurteilt in einer von allen möglichen schädlichen Keimen verderbten Luft herumzuschleichen. Der Mangel

an Geld macht sich besonders darin bemerklich, daß es um seinetwillen an Luft, Licht und Spielraum

fehlt.

Aber die Sorglosigkeit ist ebensosehr schuld

an diesem Uebel wie die Armut. Die Unbekanntschaft mit den notwendigsten Lebensbedingungen kann allein

die abscheuliche Vergiftung erklären, welcher die armen

Schichten der Bevölkerung in ihren Heimstätten unterliegen.

Dieselben sind ein wahrer Pestherd, an dem

die Krankheitskeime sich unter ganz besonders günsti­ gen Bedingungen entwickeln.

Die Fenster auf"!

Die

frische, selbst die kalte Luft schadet nie, vorausgesetzt, daß der Körper genügend bedeckt ist.

Im Gegenteil,

sie ist die große Wohlthäterin, die Gesundheit selbst. Es werden Vorhänge und Teppiche,

die nicht be­

ständig geklopft und gewaschen werden, zu einer be­

ständigen Krankheitsquelle — man lasse sie doch ver­ schwinden, das wird in vielen Fällen leichter sein als sie

zu reinigen. Die Sterblichkeit der Dorskinder ist ebenso groß wie die der Stadtkinder.

Man sollte erwarten,

daß sie geringer sei, aber dieselben Feinde, die Nicht­ erwärmung hier und die verdorbene Luft da verfolgen die Kinder auch auf dem Lande.

Wenn in nördlichen

Ländern eine Familie von sechs oder sieben Köpfen

(oft mit den Haustieren obendrein) im selben Zimmer lebt, in dem ganze Monate hindurch die Luft nie erneuert wird, so darf man sich nicht wundern, wenn

sich Epidemien auf diese allzubereite Beute stürzen, und die jüngsten, d. h. die schwächsten zuerst weg­

raffen.

Aber selbst da, wo der Wohlstand eine an­

dere Lebensweise gestattet, wacht man nicht im ent­ ferntesten hinreichend über die Luft im Kinderzimmer

und doch möchte ich ohne alles Bedenken an den

Schluß dieses Kapitels die Behauptung setzen, daß

die Warmhaltung des Körpers und die Reinheit der

Luft viel mehr Kinder retten würden, als die Aerzte in Krankheitsfällen es können.

Wenn man die Leute

überzeugen könnte, daß es viel leichter ist, Krankheiten

zuvorzukommen,

als sie zu heilen, so würde man

sicherlich alle über diese einfachen sundheitslehre unterrichten.

Gesetze

der Ge­

Die Unbekanntschaft mit

dieser ersten Pflege kann ein schlimmeres Uebel er­ zeugen, als den Tod: sie kann das Kind während

seiner ganzen Jugend, vielleicht während seines ganzen

Lebens

kränklich machen, und sicherlich besteht das

Glück doch

Leben.

nicht im Leben,

sondern im

gesunden

Gebt den Kindern diese Wohlthat, es ist die

einzig wahre Wohlthat.

Spart nichts für diesen Zweck

von seiner Geburt an, das ist besser, als ihm ein Ver­ mögen zu hinterlassen, welches nie über eine wankende

Gesundheit tröstet.

Und man glaube nicht, daß für

die hier empfohlene Pflege viel Geld nötig ist.

Geld

ist im ganzen nicht so mächtig wie man denkt: Pflege, Liebe und Kenntnis der notwendigen Lebensbedingungen,

das sind die unerläßlichen Voraussetzungen.

Die Luft

zu erneuern, die Stube zu reinigen, sie frei zu machen

von den Gegenständen, in denen verderbenbringende

Keime sich angehäuft haben, das fordert keine Kosten, wohl aber spart es große und viele Kosten, die noch dazu keineslvegs ein ebenso sicheres Ergebnis herbei­

führen dürften.

II. Wenn dem Kinde Wärme imb Luft, seine beiden besten Schutzwächter in der ersten Lebenszeit, gesichert

sind, muß man. gleich an seine Nahrung denken.

Die einzige ihm vollkommen zuträgliche ist die

Muttermilch.

Jede Frau, die sich ohne zwingende

Notwendigkeit diesem natürlichen Dienste entzieht, ver­

ursacht ihrem Kinde erheblichen Schaden.

Auf jeden

Fall ist die Muttermilch immer besser als alle Saug­

flaschen

und

letzteren

erheischen

künstlichen

eine

Ernährungsmittel.

nur

schwer

zu

Diese

erzielende

Sorgfalt der Behandlung, während die Milch der

Mutter in der regelmäßigen Wärme und Zusammen­ setzung sich findet, wie sie für das Wesen, das sie

geboren hat, erforderlich sind.

Wenn die Mutter sehr

leidend ist oder nicht die hinreichende Menge Milch

besitzt, so wird man sie offenbar das Stillen des Kindes nicht fortsetzen lassen, aber sie wird es beinahe

immer wenigstens für die erste Zeit thun können und, wenn es ein Arzt für unmöglich erklären sollte, so

wird eine gesunde Amme zu suchen sein. Ouroussow, Ueber erste Erziehung.

Besonders

darf man nie das Kind zum Aufziehen weit von sich geben; auf diese Weise gehen bekanntlich alljährlich

in Frankreich Tausende von Kindern zu Grunde.

Ist

es ganz unmöglich, eine gute Amme im eigenen Hause zu halten, so wird man allerdings zur künstlichen

Ernährung greifen müssen, aber das ist doch immer

ein Notbehelf.

Tie größte Reinlichkeit, die peinlichste

Einhaltung der Zeit, die beständige Gleichheit des

Wärmegrades sind in diesem Falle Tag und Nacht zu beobachten, und ich gebe zu bedenken, daß es in den meisten Fällen sehr schwer ist, alle diese Bedin­

gungen zu erfüllen, denn hier kann nur der Wohl­

stand alle die unbedingt erforderlichen Vorkehrungen

schaffen.

Jede Mutter möge also versuchen selbst zu

nähren.

Wenn das Stillen in unserer Zeit eine so

unangenehme Sache geworden ist, so ist es dazu nur durch die unrichtige Art geworden, mit der man bei

der Ernährung des Kindes verfährt.

Abgesehen von

der allerersten Zeit, in der die Schwäche mitunter

das Kind hindert, sich auf einmal satt zu trinken,

darf man ihm die Brust nicht öfter als alle zwei Stunden reichen, und wenn es ungefähr drei Monate alt ist, alle drei Stunden und es auch niemals bei

Nacht wecken, um sie ihm zu reichen.

Das Sprich­

wort vom Schlaf, der so viel wert ist wie Nahrung, ist vor allem auf dieses Alter anzuwenden.

Bald

wird man ihm überhaupt (abgesehen von KrankheitS-

fällen) in der Nacht von Mitternacht bis 7 Uhr die Brust nicht mehr reichen.

Eine Mutter oder eine

Amme muß auch selber gut schlafen sowohl im In­

teresse des Kindes wie in ihrem eigenen.

Die Milch

einer immer müden, von Schlaflosigkeit entkräfteten

Frau wird ungesund und unverdaulich.

Die Natur

hat aus der Ernährung des Kindes keineswegs eine

Quelle der Erschöpfung für die Mutter machen wollen. Im Gegenteil, weiln sie gut geregelt ist, muß sie der Gesundheit zuträglich sein, weil sie ein ganz iinb gar natürlicher Vorgang ist.

Es handelt sich nicht allein

darum, das Neugeborene zu nähren und zu pflegen.

Es wird seiner Mutter später noch ganz allders be­ dürfen und überdies ist es nicht das einzige Kind: alle haben sie nötig.

Für die Mutter ist es eine ge­

bieterische Pflicht, ihre Gesundheit zil pflegen und sie nicht durch eine falsche Auffassung von Mutterpflicht zu gefährden.

Da gilt es, die ruhige Vernunft an

die Stelle der weichen Empfindsamkeit treten zil lassen

und der Lust zu widerstehen, jeden Schrei des Kindes dadurch zu stillen, daß man es alle Augenblicke an die Brust legt. Mit gleicher Sorgfalt wie über Wärme, Luft

und Nahrung muß man über die Reinlichkeit des

Kindes wachen.

Man muß es nie in schmutzigen oder

nasien Windeln lassen, und wenn man von Anfang

an nie verfehlt, sie im Bedürfnisfalle gleich zll wechseln,

so wird es nicht nur selber schreien, uni diese Wohl­

that zu fordern, sondern seine Erziehung wird sich

auch in dieser Beziehung viel leichter machen, wäh­ rend dem in Hinsicht auf die Reinlichkeit vernach­

lässigten Kinde unsaubere Gewohnheiten oft sehr schwer abzugewöhnen sind.

Dann wird man ärgerlich und

nimmt seine Zuflucht zu Strafen, während man selber die Ursache dieser Fehler ist.

Tägliches Baden ist

ausgezeichnet, aber man muß sich dabei sehr in acht

nehmen, um Erkältungen zu vermeiden; darum möchte

ich unmittelbar nach dem Bad eine sanfte, aber ziem­ lich anhaltende Abreibung mit Flanell empfehlen, bis

der ganze Körper rot wird.

Ueberhaupt möchte ich

die Abreibung als die beste Kur für alle Lebensalter, besonders aber für Kinder empfehlen. Leibweh, Schnup­

fen, alle diese bei Kindern allgemeinen Unpäßlichkeiten müssen durch Abreibung mit trockenem Flanell be­

handelt werden.

Alle Krankheiten beginnen mit einem

Sinken der inneren Temperatur; durch die Abreibung wird dem Blute seine regelmäßige Bewegungsschnellig­

keit wiedergegeben, und da bekanntlich Wärme und

Bewegung dasselbe ist, so ist leicht ersichtlich, wie kostbar und wie leicht erreichbar für jedermann dieses

Mittel, sei es als Vorsichtsmaßregel, sei es als Heil­ mittel, ist. Sobald man kalte Waschungen anwendet,

was man beiläufig gesagt nicht vor dem ersten Zahnen und nur bei sehr kräftigen Kindern thun sollte, ist es

unumgänglich nötig, den ganzen Körper rasch mit einem

rauhen Stoffe oder einer Bürste zu reiben. Was für Kleidung man auch immer dem Neu­

geborenen anlegt, sie muß weit, bequem und leicht auszuziehen sein und darf in keiner Weise seine Be­

wegungen hindern.

Das Kind muß Arme und Beine

nach Belieben bewegen können.

Muskeln und Glieder

entwickeln sich auf diese Weise ganz natürlich und die Idee, sie mit Wickelbändern zu umhüllen, ist thöricht,

denn man nimmt dem Kinde das einzige natürliche

Mittel, den Blutumlauf wiederherzustellen und sich zu stärken.

Das in den unteren Klassen so häufige enge

Einschnüren der Kinder, das jetzt noch überall ebenso

verbreitet ist, wie es uns die Bilder aus den letzten Jahrhunderten zeigen, ist eine Gewohnheit, die sich

zäh erhalten hat aus der Zeit, in der unsere Väter Nomaden waren und in der man gezwungen war, die

Kinder weit zu transportieren.

In diesem Fall ist

es sicherlich viel bequemer, sie gut eingeschnürt zu haben, aber die Glieder verkümmern und verkrüppeln.

Ich mißbillige auch alle eleganten Moden für Kinder,

jene mit Agraffen und Knöpfen besetzten Kleider. Man hat sie zur Befriedigung unserer eigenen Eitelkeit er­ funden.

Ein kleines Hemd aus altem Leinen, an der

Seite mit einem oder zwei Bändern gebunden, ein weiter und langer Flanellrock, den man leicht aus-

und anziehen kann, recht viele Windeln, welche die

Beinchen frei lassen, das scheint mir der Anzug, der

dem Kleinen selber am besten gefallen wird-, in seiner

Wiege eine große Gummiunterlage, welche die Feuch­ tigkeit von der Matratze abhält, das wird die für sein Gedeihen wirklich notwendige Bequemlichkeit vervoll­

ständigen.

Wenn das Zimmer nicht zu feucht ist,

kann man es bald gewöhnen, mit bloßem Kopf zu

liegen, auf jeden Fall muß der Kopf immer weniger bedeckt sein als der übrige Körper, denn das Blut

steigt ihm beim Schreien leicht zu Kopf.

Doch möchte

ich für die ersten Monate eine sehr leichte Mütze aus alter Leinwand vorziehen, welche verhindert, daß die

Ohren, wenn es auf der Seite liegt, sich vorbiegen und dann wie Fledermausflügel aussehen, was sehr

häßlich ist und vielleicht einen Einfluß auf die Ent­ wickelung des Gehörs und sogar des Gehirns hat. Augen und Ohren sind bei der Geburt äußerst

zart und müsien stufenweise für ihre Thätigkeit vor­

bereitet werden.

Still muß es sein um das Neuge­

borene, besonders während seines Schlafes, und ebenso vollkommen dunkel.

Man muß sich hüten, selbst leise

zu ihm zu sprechen und in seiner Nähe während seines Schlafes zu viel zu flüstern.

Wenigstens einen Monat

lang vertragen seine Sinne weder starkes Licht noch starkes Geräusch.

Wenn es also ältere Kinder im

Hause giebt, darf man es nicht im selben Zimmer

mit ihnen halten, denn sie werden es sicher stören.

Lieber läßt man es bei seiner Mutter, die in jener Zeit auch Stille und Dunkel und vor allem unbe­

dingte Ruhe nötig hat.

Eine verständige Frau wird

sich wenigstens drei Wochen so pflegen, und erst nach

dieser Zeit kann man das Neugeborene allmählich an die gewöhnlichen Lebensbedingungen gewöhnen, aber

immer muß man zu starkes Geräusch vermeiden. Seine erste unwillkürliche Bewegung sucht nach dem Lichte.

Dasselbe darf also niemals hinter ihm

oder an der Seite sein, so daß das Kind genötigt wird zu schielen oder das Gesicht zu verziehen, um es zu finden.

Wenn es schläft, wird sein Kopf immer

nach der Seite des Lichtes gewendet sein, dessen Hellig­ keit man vorsorglich durch einen Vorhang oder Licht­ schirm dämpfen wird.

Wenn es sich gegenüber zu

starkes Licht hat, kann es leicht die Sehkraft ver­ lieren, obgleich dieses in den ersten Zeilen nach der

Geburt sehr häufige Unglück am öftesten von einer Erkältung oder von einem Mangel an Reinlichkeit herkommt.

Wenn man ^ihrn die Augen nicht gut aus­

wäscht, setzt sich die Feuchtigkeit dort fest; bei der ge­ ringsten Erkältung giebt das eine Entzündung, eine

Augenkrankheit, und so bildet sich der Zustand der „Blinden von Geburt", wie man sie nennt, die nur in den armen Klassen vorkommen und die fast immer in ihrem ersten Jahre blind geworden sind. Das Bett oder die Wiege muß hoch genug über

dem Zimmerboden sein, um den kalten Luftzug zu

vermeiden, der in dem unteren Teil der Stube immer stärker ist, weil die warme Luft nach oben strebt, so

daß die kälteste Partie die ist, welche den Dielenboden berührt.

Man lege sich nur auf den Boden und

dann in demselben Zimmer auf einen Schrank, um

sich davon zu überzeugen.

Keine Vorhänge um das

Bett, aber warme Decken, die das Kind von allen Seiten einhüllen. Ich bin ganz gegen Schaukelwiegen und gegen jede einschläfernde Bewegung.

Ich weiß,

daß es mit wenigen Ausnahmen keine Amme, keine

Kinderwärterin, keine Mutter giebt, die darin mit

mir übereinstimmt. Das hindert mich nicht, für meine Ansicht das Prädikat der Nichtigkeit in Anspruch zu nehmen, und ich möchte es gern beweisen, denn ich

bin überzeugt, daß das poetische Wort „Wiegen" in der That eine barbarische Handlung bedeutet, eine der verhängnisvollsten auf dem Gebiet der Kinderpflege.

Von allen Organen ist in diesem Alter das Ge­ hirn das reizbarste, demnach das schwächste. ungemein zart.

Es ist

Nun bedenke man, daß in den ersten

Jahren die Schädelnähte nicht einmal geschlossen sind und daß nur der Knorpel die Schädelhälftcn verbindet.

In dieser Zeit ist das Gehirn nur zu unbewußter

Thätigkeit berufen. Andererseits wird es in Zukunft

das wichtigste aller Organe sein, denn ohne daß ich in Erörterungen über die dunkle Frage von der Her-

kunft der Vorstellungen, der Empfindungen, der Leiden­ schaften eintreten möchte, wissen wir doch so viel ganz

genau, daß eine Gehirnkrankheit uns alles das rauben kann, was das menschliche Wesen ausmacht, die Fähig­

keit, zu empfinden und zu denken, das Gedächtnis, das Talent, sogar das Bewußtsein.

Ist dieses In­

strument einmal verstimmt, so stirbt alles das und nur unser tierisches Leben dauert fort, ohne Genuß und ohne Zweck, die schrecklichste aller Lagen, in denen man sich befinden kann, ein essender, schlafender, sich bewegender Leichnam.

Kein Teil unseres ganzen Or­

ganismus muß also mit solcher Sorgfalt behandelt werden, wie dies Zentralorgan.

Wenn man seine

Aufgabe in unserer Persönlichkeit versteht, so wird es

klar, daß wir alles das kennen und vermeiden müssen, was es erschüttern oder verstimmen kann.

Wenn man

nun das Kind in den Armen oder in der Wiege stundenlang schaukelt, so wirken diese wiederholten Stöße auf das Gehirn und ermüden es bis zur Ver­

dummung.

Aber offenbar bringt diese Betäubung eine

angenehme Empfindung hervor, wie später die nar­

kotischen Mittel, die darum doch nicht minder Gift sind, und hat das Kind sie einmal gekostet, so fordert es sie mit lautem Geschrei.

Man lasse sich also nicht

aus Schwäche oder sogenanntem Mitleid zur Anwen­

dung dieses falschen Beruhigungsmittels verleiten, son­ dern wenn das Kind schreit anstatt zu schlafen, so

glaube man mir, daß das seinen Grund in irgend

einer Schmerzempfindung hat, und suche sorgfältig

nach ihrer Ursache.

Der natürliche Zustand des Neugeborenen ist, daß es den größeren Teil seiner Zeit verschläft.

Es

wacht nur auf, um sich zu nähren, sich zu dehnen und

ein wenig mit Armen und Beinen zu spielen.

Es

schreit, weil es Hunger hat oder sich beklagen will;

wenn es gesund ist, so reicht zu seiner Beruhigung hin, daß man es umlegt und ihm seine Nahrung

reicht, und schnell schläft es von neuem ein. Wenn es

schreit, um seine Lungen zu üben, so verzieht sich sein Gesicht nicht und man braucht es nur gewähren zu lassen.

Aber wenn

es trotz scheinbarer Gesundheit

ganze Stunden lang fortfährt zu schreien, so wird es sicher von irgend etwas gequält.

Das Geschrei ist

das einzige Mittel, sein Leiden auszudrücken, es fühlt

sich

unwillkürlich

hilfsbedürftig.

Es

giebt

nichts

Rührenderes und Traurigeres, als zu sehen, wie das arme Kleine sich abquält, diese Hilfe zu fordern und

dabei doch so völlig unfähig ist, ein Zeichen zu geben.

Das Gesicht wird blau, Mund und Kehle werden trocken, dicke Thränen rollen über das kleine Gesicht,

welches dann einen sonderbaren greisenhaften Ausdruck

bekommt.

Niemals schreit ein Kind von diesem Alter

aus Laune.

Man glaube nur in dieser Hinsicht keiner

Wartefrau, die thöricht genug ist, das zu sagen.

Wir

wollen lieber unsere Einsicht in seinen Dienst stellen,

um die Ursache seines Leidens zu finden.

Mit ein

wenig Geduld wird es gelingen. Zuerst sehe man nach, ob es friert, ob es von irgend etwas in seiner Kleidung oder seinem Bettchen

gedrückt oder gekratzt wird.

Wenn seine ganze Hülle

in gutem Stande ist, so kann es unwohl sein, es

kann sich erkältet haben oder auch, und das ist ein sehr häufiges Uebel, es hat Leibschmerzen.

Man be­

geht vielleicht in der Ernährungsweise einen Fehler

oder es ist vielleicht verstopft.

Darüber muß man

sorgsam wachen und es nicht 24 Stunden in diesem

Zustande lassen.

Rur muß man ihm keine Abführ­

mittel geben, sondern schwache Klystiere von lauem Wasser.

Aber wenn nun das Geschrei anhält, nach­

dem man alles in Betracht gezogen hat, was wird man dann thun?

Run, in diesem Falle komme ich

auf das Mittel zurück, das ich schon angedeutet habe,

die Abreibungen.

Man reibe ihm

besonders

den

Unterleib, denn dort muß wohl der Sitz des Uebels sein, einer Blähung oder einer Verdauungsstörung; man reibe es sanft, aber anhaltend, man reibe ihm

den Rücken, die Beine, die Brust.

Man wird sehen,

daß dies zu seiner Beruhigung beiträgt, wenn es sich

um eine vorübergehende Unpäßlichkeit handelt.

Aber

besonders wiege man es nicht und nähre es nicht zu

ungelegener Zeit; es leidet an Magenweh und man

Freie Luft.

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stopft es, gerade als wenn man uns während einer

Verdauungsstörung immer Bonbons

lutschen lassen

wollte, indem man so das Organ immer mehr quält, welches gerade gebieterisch Ruhe verlangt.

Sobald das Wetter es erlaubt, muß man das Kind an die Luft bringen.

Man braucht

es nur

warm einzuhüllen, ihm das Gesicht mit einem Schleier oder einem Tuche zu bedecken und es auf einem Kissen zu tragen, das mit Bändern besetzt ist, welche um seinen Leib gebunden werden, um Stöße oder Unfälle

abzuwehren. Wenn die Sonne scheint, muß man einen

Sonnenschirm über seinem Kopfe aufspannen

und

übrigens das Kind nie nach Sonnenuntergang draußen lassen.

Bei schönem Wetter kann man im Sommer

sein Bettchen in die freie Luft bringen unb es dort

schlafen lassen.

Je mehr es an der Luft ist, um so

mehr wird es zunehmen. Ehe das Kind seinen Kopf nicht aufrecht halten

kann,

muß man

es vorsichtigerweise immer wage­

recht liegen lassen, und wenn die Wirbelsäule sich hin­

reichend gestärkt hat, um den Kopf aufrecht zu halten,

so darf mau es nur unter der Bedingung auf den Schoß setzen, daß das Rückgrat von dem Arm oder

der Brust der tragenden Person hinreichend gestützt ist.

Wenn man den Körper ohne Stütze schwanken

läßt, kann das Rückgrat leicht eine Krümmung oder seitliche Ausbiegung erleiden.

Die Natur ist hierin

45

Ausrecht sitzen.

unsere beste Führerin.

Sobald das Kind die Kraft

hat, aufrecht zu sitzen, thut es dies von selbst, ohne Schwierigkeit, unb wir brauchen es nur gewähren zu lassen.

Wenn man es sich selbst überläßt und es

immer liegen bleibt, so thut es das, weil der Zustand seiner Kräfte und seiner Muskeln es fordert. In dieser Lage wird es anfangen alle möglichen Bewegungen

zu machen, wird sich von einer Seite auf die andere,

auf den Rücken oder auf den Leib drehen. Vermöge

der unglaublichen Biegsamkeit seiner Glieder kann es sie in allen möglichen Arten krümmen:

zum Ver­

gnügen steckt es die große Zehe in den Mund —

alles das ist ihm natürlich, also wohlthätig.

Aber wenn diese Glieder auch biegsam sind, so darf man niemals vergesien, wie sehr zerbrechlich sie

sind.

Armbruch oder Armverrenkung kommt bei einem

Kinde weit öfter vor als man es denkt, sei es beim

Anziehen eines

jener

ausgeschnittenen Kleider, die

eine Marter für das Kind sind, sei es indem man

es auch ohne heftige Absicht bei einem Arme zieht,

und die Folgen eines solchen Unfalls sind sehr schlimm. Lebmslängliche Schwäche oder Verkümmerung eines Gliedes können die Folge davon sein.

Es ist also

besser, es möglichst wenig anzufasien. Stille und Ruhe

in leinet Umgebung wird seine beste Wärterin sein. Schreien, Lachen, heftiges Geräusch jeder Art wirkt viel zu stark auf sein Nervensystem ein.

Aus solcher

Ueberreizung kommt die Heftigkeit, kommen die Launen, welche das Gleichgewicht stören und das Kind, indem sie es schwächen, zur Beute von Krankheiten und allen möglichen Gefahren machen,

die sein

zerbrechliches

Dasein bedrohen. Der Instinkt sagt ihm gar schnell, ob es in den Personen seiner Umgebung die nötige

Stütze hat, der es sich gern überläßt. erste moralische Bedürfnis

Das ist das

seines Lebens

und von

dieser Altersperiode an kann man es dem Gesichtchen ansehen, ob es zufrieden ist. Man sehe doch nur den

fröhlichen

und

lieblichen Ausdruck in

dem Gesicht

eines gesunden kleinen Kindes; es lächelt, es macht Brümmerchen, es schläft mit einer Glückseligkeit, die uns an die alte Erzählung erinnert, nach welcher das

Kind im Schlafe mit den Engeln Zwiesprache hält. Beinahe immer kann man dem Kinde eine glückliche

Zukunft Voraussagen, welches diesen Ausdruck lange beibehält; er ist das Ergebnis des innern Ebenmaßes

und Gleichgewichts, das ihm ein ruhiges und gesundes Dasein verbürgt. Welcher Gegensatz zu der stumpfen,

launischen, leidenden Art des Kindes, Lebenstage unverständigen

oder

dessen

erste

sorglosen Pflegern

überantwortet sind, die da glauben, für dieses Alter gebe es noch nichts Wichtiges.

Aber, ihr Unglücks­

menschen, seine ganze Zukunft hängt ja gerade von

dem Zustand ab, in dem es sich in diesem Lebens­ alter befindet!

Wenn ihr die Wichtigkeit dieser ersten Pflege begreift, werdet ihr diese kleinen Einzelheiten nicht

für kindisch halten. Sie würden uns aufreiben, wenn wir nicht hinter ihrer scheinbaren Wertlosigkeit den großen Zweck sehen, dem sie dienen sollen. Ich glaube

fest, daß jede Frau, welche diese kleinen Handlungen der Hingebung in jeder Stunde neu übt, reichlich be­ lohnt wird durch den Anblick wahrhafter Wunder­

dinge, die aus gar kleinen Mitteln hervorgehen, und durch die Leichtigkeit, mit der sich die angeblich so

furchtbare Aufgabe der Erziehung auf diesem angemesien vorbereiteten Boden lösen läßt.

III. Solange

das Kind

keine Zähne hat,

ist

die

Muttermilch die einzige angemessene Nahrung, aber

sobald sie durchgebrochen sind, muß man anfangen, es an das Ertragen anderer Nahrung zu gewöhnen,

denn ihr Erscheinen ist das Zeichen dafür, daß sie be­

schäftigt werden müssen.

Man wird dem Kinde zuerst

Süppchen und Haferschleim reichen, um es allmählich dahin zu bringen, daß es ißt wie jedermann.

Im

Augenblick der Entwöhnung muß es die Veränderung

der Lebensweise ertragen können, ohne darunter zu

leiden. Sobald es zu kriechen anfängt, muß man es auf

einem Teppich am Boden lassen, indem man alles entfernt, wodurch es sich verletzen könnte, und

möglichst wenig tragen.

es

In vielen ärmeren Haus­

haltungen sieht man die älteren Schwestern zwei- oder

dreijährige Kinder auf den Armen schleppen.

Nichts

kann einem im Wachstum begriffenen jungen Mädchen mehr schaden, als solchergestalt ein so beträchtliches

Gewicht zu tragen; das kann die schwersten Störungen in seinem Organismus bewirken und schadet nicht

minder dem Kinde. Es unterließt dabei hunderterlei Gefahren. Eine der schwersten ist die, daß es fällt; die Mehrzahl der Verwachsenen verdankt ihre traurige Verunstaltung einem derartigen Unfall. Außerdem befindet sich das Rückgrat des Kindes nicht mehr in normaler Lage, wenn das Kind stundenlang auf dem Arm getragen wird. Die Natur zeigt uns hier wie fast immer, was wir zu thun haben. Weil das Kind im stände ist zu kriechen, so laßt es doch sich darin üben. Wenn es am Boden ist, bricht es und ver­ unstaltet es sich kein Glied; wenn es sich legen will, legt es sich, wenn es strampeln will, kann es das thun. Ebenso ist es mit dem Gehen. Wenn eines schönen Tages Rückgrat, Kreuz und Schenkel stark genug sind, um den Körper aufrecht zu halten, dann wird es sicherlich dem Kinde das größte Ver­ gnügen sein, euch zu zeigen, daß es sich seiner Füße bedienen kann. Alle Vorrichtungen, um dem Kinde das Laufen beizubringen, laufen dem gesunden Menschen­ verstand zuwider. Wenn es nicht von selber in der normalen Zeit Anstalten zum Laufen macht, so hängt das mit Gesundheitsursachen zusammen. Dann handelt es sich nicht darum, es zum Laufen zu zwingen, son­ dern dem Uebelstande abzuhelfen, welcher es daran hindert. Sobald das Kind auf allen vieren sich fortzubewegen beginnt, in der Zeit vom sechsten bis neunten Monat, Ouroussow, Ueber erste Erziehung.

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muß man die langen Kleider beiseite lassen, aber darum nur noch sorgfältiger auf warme Kleidung achten, weil die Luftschicht am Boden kälter ist als in Kniehöhe oder in der Höhe des Bettchens. Die thörichte Gewohnheit, dem Kinde Arme und Beine bloß zu lassen, ist die Quelle von tausend Kinder­ krankheiten und besonders von Verdauungsstörungen, welche so oft die Zeit des Zahnens und der Ent­ wöhnung begleiten. Wenn es ein kurzes Kleid von dickem Flanell trägt, das ihm Schultern und Arme gut bedeckt, warme und lange Strümpfe und bequeme Schühchen, so kann es sich vollständig frei so bewegen, wie es seinem Alter zukommt. Man vergesse niemals, daß eine wirkliche Gefahr darin besteht, ein Kind dieses Alters sich selbst oder andern Kindern zu überlassen. Dieser Mangel an Vorsicht, für den freilich die Eltern mitunter nicht ganz verantwortlich sind, weil sie oft ihre Kinder verlassen müssen, um für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten — dieser Mangel an Vorsicht führt zahl­ reiche Unglücksfälle herbei, wie man in den leider viel zu häufig wiederkehrenden Geschichten der ver­ mischten Nachrichten in unsern Zeitungen sehen kann. In einem Dorfe sollte man sich dahin einrichten, daß abwechselnd eine Frau alle Kinder zusammen bewahrt, wie man dies in den Krippen thut. Das ist eine unbedingt zu treffende Einrichtung, denn die Kinder

thun sich nicht nur selber Schaden, wenn sie ohne

Überwachung sind, sondern sie stecken, wie wir es all­ zuoft sehen, ein ganzes Dorf in Brand.

Eine derartige

Einrichtung bietet ein treffendes Beispiel von dem Vorteil der Genossenschaft und der gegenseitigen Hilfe.

Ich warte deine Kinder heute, du die meinigen morgen; so

kann jede die notwendige Arbeit fortsetzen und

nimmt endlich an fremden Kindern ebenso warmen Anteil lvie an den eigenen. Während dieses ersten Jahres vollzieht sich die

Entwickelung des Kindes mit einer in jeder Beziehung unerhörten Schnelligkeit.

Ein einjähriges Kind hat

schon einen großen Erfahrungsvorrat.

Es kennt die

meisten Gegenstände seiner Umgebung und sogar ihre Anwendung.

Wenn seine Erziehung gut geleitet ist,

so weiß es auch, daß es nicht ungestraft ungehorsam sein darf.

Ich habe schon gezeigt, daß es leicht dahin ge­ bracht werden kann, nicht zu schreien, um einen Gegen­

stand seines Verlangens zu erhalten, vorausgesetzt, daß seine Erzieher bei ihrem Grundsatz verharren und dem Kinde nie nachgeben.

Tausendmal lieber ihm

auf der Stelle die unvernünftigsten Dinge geben als

einmal seinem Schreien nachgeben.

Ebenso leicht ist

es an einen augenblicklichen Gehorsam zu gewöhnen, der um so weniger entbehrt werden kann, als das Kind

in diesem Alter sich keine Rechenschaft geben kann

von den Gefahren, welche es umgeben.

Es ist also

völlig unnütz, vor dem Alter von fünf oder sechs Jahren ihm den Grund eines Verbotes, auseinanderzusetzen, vielmehr muß der Gehorsam von feiten des Kindes unbedingt imb wortlos sein, bis es geistig hinreichend

entwickelt ist, um selber den Grund eines Befehls zu

begreifen.

Im allgemeinen entwickelt sich der Unge­

horsam aus der Schuld der Erzieher; entweder hält

man es jeden Augenblick ohne vernünftigen Grund in seinem Thun und Treiben auf oder man lacht und

läßt einen förmlichen Ungehorsam durchschlüpfen.

verwirrt die Vorstellungen des Kindes.

Das

Sobald du

einmal etwas forderst, so setze es auch durch, aber ehe du forderst, überlege dir wohl, ob das Geforderte

für das Kind notwendig ist.

Heute etwas erlauben,

morgen dasselbe verbieten, das kann dem Kinde nur wenig Vertrauen zu dir erwecken; ich bin überrascht gewesen von der Art, mit der das Kind in einem so

zarten Alter den Ton oder den Blick seines Erziehers begreift.

Es versteht wunderbar gut, ob er das Ge­

forderte ernsthaft will; es faßt die leisesten Schattierungen des Tons auf, es versteht den Sinn der

kleinen Komödien, die man mit ihm aufführt, es er­

hascht den bewundernden Blick, das versteckte Lachen,

das man oft heimlicherweise dem Kinde in dem Augen­ blicke zollt, wo es im Begriff steht, irgend ein kleines

Unrecht zu thun, irgend etwas Verbotenes zu nehmen,

hinaufzuklettern, wo es eben herabsteigen sollte u. s. w. Man glaube nur nicht, daß man mit solchem unschul­ digen Doppelspiel gut erziehen könne — es ist nur

eine neue Art, die Vorstellungen des Kindes in allen Stücken zu verwirren und schnell erwächst in seinem Herzen der Zweifel über den Willen seiner Erzieher.

Ost hört man es von recht jungen Kindern:

„Heute

ist Vater oder Mutter oder die Kinderfrau bei schlechter

Laune; ich warte, bis das vorüber ist, um sie um dies oder jenes zu bitten." Oder im Gegenteil: „Vater oder Mutter ist heute guter Laune, wir sönnen lärmen,

in die Speisekammer gehen, Eingemachtes aus dem Schranke essen."

Und wohlgemerkt, alle diese Be­

merkungen sind durchaus wahr und auf eine vollckommene Kenntnis der Erwachsenen begründet.

Wie

sollen sie denn die Ge- und Verbote ernsthaft nehmen,

die aus der wechselnden Laune ihrer Leiter hervor­ gehen, auf welche sie nicht mehr jenes unbeschränkte Zutrauen setzen, das dem, der.es verdient, meiner

festen Ueberzeugung nach nie versagt wird und das jedenfalls das mächtigste Erziehungsmittel ist.

Wenn

man durch ruhige Beharrlichkeit zeigt, daß es ernst

ist mit dem, was man sagt, wenn man sich durch den

Zustand der eigenen Nerven zu keinem Wechsel der Stimmung hinreißen läßt, weder von der Reizbarkeit

zur Schwäche noch von der Strenge zu weichlicher Nachgiebigkeit übergeht, so wird das Kind mit jenem

unbegrenzten Vertrauen antworten, welches ein ge­

rechtes Wesen immer einflößt.

Wenn ich daher auch

den Kindern das reichlichste Maß von Freiheit lasse,

das mit ihrer Gesundheit und mit ihrer Sicherheit vereinbar ist, so klage ich doch wie über ein an den

Kindern begangenes Verbrechen, wenn man sie als

Spielzeuge behandelt und sie in einer Altersperiode, in welcher die Zucht ihre einzige Rettung ist, allen ihren Neigungen folgen läßt.

Man kann einem Kinde nicht früh genug die Achtung vor dem Willen oder dem Eigentume anderer

Leute beibringen; so bereitet man es darauf vor, seine Solidarität mit seiner Umgebung zu verstehen.

Jedes

Kind bildet sich ein, es sei allein auf der Welt, und die Vorstellung, daß andere ebensogut einen Platz

darauf haben, entwickelt sich im jugendlichen Alter nicht von selber.

Das ist der wilde Instinkt aller

Lebewesen; wir sehen auch, daß die Urvölker in ihrer

Gesamtheit diesem sehr beschränkten Erhaltungstriebe

gehorcht haben, auf den sie wie die Einzelwesen eines Tages verzichten müssen, denn die Erfahrung belehrt uns alle, daß man andere leben lassen muß, wenn

man selber leben will.

Die erste Erkenntnisfrucht vom

Baum des Lebens ist also die Lehre, daß man nicht

ausschließlich das thun darf, was uns durch den Kopf schießt, ohne zu überlegen, bis wie weit das andern

Leuten angenehm oder unangenehm sein kann.

Diese

Lehre ist leicht genug einzuprägen, wenn man für

seine eigene Person nicht unter der Schwäche leidet zu fürchten, daß man dem Kinde weh thut.

Es ist

gar kein Unglück, wenn es nicht alles thun kann, was

ihm beliebt, und je eher es diese Erkenntnis gewinnt,

die man ihm in diesem Alter mit Milde zuführen kann, um so weniger wird es später der Schläge und

Püffe bedürfen, um sie ihm einzubläuen, denn es

wird sie auf alle Fälle zu lernen haben, diese Lektion! Sein Glück besteht ebensowenig wie das der erwachsenen

Leute darin, daß es das Glück auf Kosten seiner Nächsten sucht. Es ist weder für die Gesundheit noch für die

Ruhe des Kindes notwendig, daß es alles zerstört und zerbricht, was ihm gehört.

Für den Anfang

muß man aus seinem Bereich entfernen, was es in Versuchung führen könnte; geht das nicht, so muß

man ihm verbieten daran zu rühren, und muß es auf andere Weise beschäftigen.

Man ist so ziemlich

geneigt, an einem ganz kleinen Kinde alles nett zu

finden, und man läßt es Gewohnheiten annehmen, die uns später mit Schrecken erfüllen und strenge Besserung smittel heischen.

Heute quält es eine Fliege

oder einen geduldigen Hund; morgen schlägt es im Zorn nach seiner Wärterin oder sogar nach seiner

Mutter.

Da ist es ein vortreffliches Mittel ihm zu

zeigen, daß die für das Kind so erheiternden Spiele

ihm keineswegs so lustig vorkommen würden, wenn

es selber dabei der leidende Teil sein würde.

Man

kann seine edlen Regungen leicht wach rufen, indem man ihm das Vergnügen verständlich macht, das darin

besteht, andern zuliebe die eigene Laune zu über­ winden. Wenn die Mutter oder die Wärterin krank ist, so muß man es gewöhnen, im Zimmer keinen Lärmen zu machen. Ich habe selber das glückliche und stolze Gesicht eines Kleinen gesehen, dem die Mutter sagte: „Ich habe gut geschlafen, der Kopf thut mir nicht mehr weh; du hast mich schön gepflegt, weil du keinen Lärmen gemacht hast." Das Kind wird

es nie vergessen und die daraus hervorgehende Ge­ nugthuung wird selbst in diesen jungen Jahren unver­ gleichlich größer sein als die Freude an einem unsinnigen Trompeteblasen gewesen wäre, wie ich es von einem andern Kleinen gehört habe, der auf dem Bett seiner kranken Mlltter saß und der sich nicht entschließen konnte, sein geliebtes Spielzeug beiseite zu legen, um der Mutter diese Qual abzukürzen. Besonders muß man sich bei einem Kind ohne Geschwister hüten, daß man nicht ein kleines Unge­ heuer daraus macht, während man es wie einen Götzen behandelt. Sein Schicksal ist besonders beklagenswert,

denn wenn die Eltern nicht verständig genug sind, um den Schaden zu verstehen, den sie ihm anthun, wird

es während seiner Kindheit als eine so wichtige Person

behandelt, daß es in erheblicher Gefahr ist, sein ganzes Leben als Sohn, Gatte, Vater, Bürger u. s. w. uner­ träglich zu werden. In dieser unvorteilhaften Lage gilt es verdoppelte Wachsamkeit, um in ihm den Al­ truismus oder die Rücksicht auf andere zu entwickeln, indem man mit seinen nächsten Verwandten anfängt. Bei mehreren Kindern in einer Familie ist die Aufgabe leichter, die älteren geben den jüngeren nach und man kann sie dahin bringen, daß sie versuchen, ihnen nicht zuwiderzuhandeln, aber sie sind selber zu jung, um sich vollständig den Forderungen der Kleinen aufzuopfern, wie es die Erwachsenen thun, und darin liegt ein Vorteil für die Kleinen. Die Größeren halten auf ihr Spielzeug, ihre Bücher und wollen nicht, daß Brüderchen alles dies zu seinem Vergnügen zerstört, und Brüderchen ist seinerseits gezwungen, nach­ zugeben, damit er keine Klapse bekommt. Wie doch die kleine Welt ein Abbild der großen ist, in die sie eines Tages eintreten wird! Jedes ihrer Glieder sucht nach einem modus vivendi und besorgt so seine Er­ ziehung, und es ist am besten, sie sich untereinander einrichten zu lasten, was um so leichter sein wird, wenn die Größeren schon auf den Weg der kleinen Nachgiebigkeiten und der kleinen Rücksichten gelenkt worden find. Solltet ihr einmal mehrere Kinder zu erziehen haben, so werdet ihr höffentlich nie jene verderbliche

Vorliebe zeigen, die aus ihrem Gegenstände ein selbst­

süchtiges Ungeheuer und aus den andern, welche diesen Vorzug bemerken, eifersüchtige und bisweilen gehässige Naturen macht.

Und doch sage ich unbedenklich, daß

das zurückgesetzte Kind immer mehr Aussicht hat, ein erträgliches Wesen zu werden, als das vorgezogene.

Tas letztere ist künftiger Verwünschung verfallen; es wird sicherlich das herzloseste, das eigensüchtigste,, es

wird das Kind werden, welches den Seinen den meisten Kummer macht, während die Geschichte von Aschen­ brödel, immer aufs neue wahr, sich oft zu Gunsten

der Enterbten wiederholen wird. Es ist ja unmöglich,

bisweilen nicht eine stärkere Neigung für das eine Kind wie für das andere zu empfinden, aber alle haben das Anrecht auf die gleiche Pflege in jeder Art und da die Jüngeren die Schwächeren sind, so müssen sie

in dem Kinderstaate geschützt werden, in dem das „Recht des Stärkeren" im allgemeinen das besiere ist.

So besteht jede erste Erziehung in der Begrün­ dung von Gewohnheiten : der Gewohnheit der Rein­ lichkeit, der Gelehrigkeit, vor allem des guten Betragens

bis zu dem Grade, daß das schlechte Betragen für eine Krankheit gilt, daß es den Kindern unmöglich ist, zufrieden zu sein, wenn ihre Umgebung nicht zu-

.frieden ist.

Es ist tausendmal richtig, daß die Ge­

wohnheit eine zweite Natur ist. Alles in uns ist nur Gewohnheit.

Glaubt ihr etwa, daß wir in unserer

Zeit andere, bessere Naturen haben, als die unserer Väter waren, die uns der Zeit nach so nahe stehen? Gewiß nicht, denn sie waren edler Handlungen, mannig­ faltiger Regungen, großer Thaten fähig, die wir selten unter unseren Zeitgenossen wiederfinden, aber sie er­ trugen beständig den Anblick von Dingen, die wir nicht mehr ertragen können, weil bei ihnen die Ge­ wohnheit so stark war, daß sie, ohne weiter nachzu­ denken, sich wahre Unbilligkeiten gefallen ließen. So schienen bis auf dieses Zeitalter Sklaverei, Leibeigen­ schaft, Folter, Verfolgung des Andersgläubigen oder des wissenschaftlichen Forschers ganz natürliche Dinge. Jetzt könnte der unwissendste und mindest entwickelte Mensch das nicht aushalten, weil die Gewöhnung an den Anblick dieser Dinge verloren gegangen ist und weil das menschliche Gewissen sie verwirft infolge der Verallgemeinerung der Ideen, die früher nur die Mit­ gift einer beschränkten Zahl bevorzugter Wesen waren. Es ist nicht mehr wie früher ein Verdienst, sich schau­ dernd abzuwenden von den Strafen einer ausgesuchten Grausamkeit, einer gesetzlichen Ungerechtigkeit, es ist unsern Zeitgenossen etwas Alltägliches geworden und ein Autodafe zur Verherrlichung des Festes wäre in unseren Tagen unbedingt unmöglich. Da ist denn die zweite Natur für uns die wahre Natur geworden. Wir haben es alle schon einmal gehört: der oder jener sieht aus wie ein Mensch aus guter Familie, er

Macht der ersten Gewöhnung.

verrät durch sein Benehmen eine gute Herkunft. WaS will das sagen? Einfach, daß die Ungezwungenheit, sein höfliches, freundliches, einnehmendes Wesen den Beweis liefern, daß er von seiner Geburt an daran gewöhnt worden ist, daß er es bei allen Personen seiner Umgebung gesehen hat, daß diese Sitten ihm ebenso geläufig geworden sind, wie andern die Roheit und die Anmaßung. Diese Gepflogenheiten sind auf dem Wege der Vererbung so sehr sein Eigentum, so zu seiner Natur geworden, daß es ihm unmöglich sein würde, anders zu sein: Anderssein würde für ihn Kranksein bedeuten. An der Genugthuung und beni Behagen, das jemand infolge der Erziehung empfindet, bemerkt man sehr bald, ob sie ihm zur Natur oder bloß zu einem gesellschaftlichen Firnis geworden ist. Für den einen ist Höflichkeit und Rücksicht eine pein­ liche Anstrengung, der er sich aus gesellschaftlichen Gründen unterzieht, um den Ruf eines wohlerzogenen Menschen zu haben, und dann richtet sich alle Rücksicht, alle Feinheit deS Betragens nur an Fremde, an ober­ flächlich Bekannte. Für die Vertrauten bewahrt er die Unhöflichkeit, die schlechte Laune, und die Redens­ art: „sich keinen Zwang anthun, mit seinen Freunden formlos verkehren" malt vollständig die Art dieses Ver­ kehrs. Sie deutet uns an, daß „die andern", die guten Sitten ein Zwang sind, den man sich aufer­ legt, eine künstliche Natur, die man anzieht, wie einen

Nock für besondere Gelegenheit, während die wahre Natur ungebildet, roh geblieben ist — und man fühlt sich nur wohl in seiner eigenen Natur. Ein Wilder, der an unreinliches Esten gewöhnt ist, giebt sich mit innerlichem Fluchen die Mühe, sich vor den Leuten des Mesters und der Gabel zu bedienen; man kann ihm das wie eine lästige Lektion beibringen, aber wenn er zu Hause ist, wo er sich keinen Zwang anthut, wird es sein wahres Vergnügen sein, das Besteck durch seine zehn Finger zu ersetzen und so schmutzig zu sein, wie sein Herz es ihm befiehlt. So geht es tagtäglich vor unseren Augen zu. Vor den Leuten lächelnd und angestrengt höflich gefällt sich der geleckte Barbar, sobald er nur kann, in Roh­ heit und Unordnung. Wenn also die Gewohnheit eine solche Macht ist, so sieht man, was die ersten Jahre für eine kostbare Zeit sind, um den künftigen Menschen darauf vorzu­ bereiten, daß er seine Ruhe, sein Vergnügen, seine Lust in dem findet, was physisch und moralisch rein, glatt und angenehm ist. Wirket dahin, daß sein Ver­ gnügen in dem Vergnügen seiner Umgebung besteht, denn wir thun nun einmal nur das, was uns ver­ gnügt. Selten kann man längere Zeit eine gezwungene Rolle spielen, während die Art sich zu geben, welche am wenigsten auf die Wirkung sieht, die einzige Ge­ währ der Dauerhaftigkeit bietet. Die Gewohnheit

62

Gewöhnung durch Beispiel.

wird durch das Beispiel eingepftanzt.

Hütet euch also,

vor dem Kinde grob und rauh aufzutreten, und ihr

werdet sehen, wie peinlich ein an Höflichkeit gewöhntes Kind durch das Gegenteil berührt wird. Alle Grund­ sätze, die auf lehrhafte Art, wie durch Predigt oder

Unterricht,

ohne das lebendige Beispiel eingeprägt

werden, sind eher ein Uebel als ein Gewinn.

Das

Kind wird sich immer dem gegenüber zweifelhaft ver­

halten, dessen Thaten das Gegenteil seiner Predigt sind.

IV.

Hat das Kind im frühen Alter sich an den Ge­ horsam gewöhnt, so sind die Eltern vor der Plage der Strafen bewahrt, die übrigens, als Erziehungsmittel

betrachtet, in meinen Augen wenig Wert haben.

Ihre

Notwendigkeit würde mir nur beweisen, daß man. sich ihrer zu spät bedient und daß man unter dem Vor­

wande, das Kind sei zu jung, die Anfänge vernach­

lässigt hat.

Angenommen, daß man dem Kinde nur

die für sein Wohl notwendigen Dinge befiehlt, so

würde die Strafe von selber in den Folgen seines

Fehltritts für das Kind

eintreten.

Aber offenbar

handelt es sich in diesem Alter nicht darum, sondern man will es hindern, sich selber Schaden zuzufügen. In gewissen Fällen muß man mit starker und rascher

Energie handeln.

Angenommen, daß ein Kind aus

Eigensinn schreit, so daß es purpurrot im Gesicht wird und Krämpfe befürchten läßt, so ist das einfachste

Mittel, es herumzudrehen und ihm ein paar derbe Klapse aufzuzählen.

Ich habe diese Art Zugpflaster

oft beinahe augenblicklich wirken sehen; das Blut steigt

nicht mehr zu Kopf und nach ein paar Thränen schläft

der kleine Eigensinn ruhig ein. Man darf nur nicht selber zornig werden, sondern muß mit kaltem Blute schlagen und zwar in dem Augenblick, wo die Uebcrreizung des Kindes gefährlich werden könnte. Das ist keine Strafe, sondern ein Heilmittel und läßt sich nur bei ganz kleinen Kindern anwenden, die sich un­ serem moralischen Einfluß noch entziehen. Sobald sie ein Wort stammeln können, muß das nicht mehr nötig sein. Es ist äußerst gefährlich, Kinder in der finsteren Stube einzusperren, ihnen die Nahrung vorzuent­ halten rc. Die Nahrung ist für ihr Alter das un­ entbehrlichste Ding. Sie soll nie weder als Strafe noch als Belohnung dienen. Im ersten Fall würde es Grausamkeit und Unkenntnis des Grundgesetzes der Gesundheitspflege sein, im zweiten heißt es die Gutschmeckerei entwickeln. Die dunkle Kammer ist erfunden worden, um Furcht vor der Dunkelheit einzuflößen. Diese Erfindung verdanken wir den Kinderwärterinnen, die im Namen des Menschenfressers und des Werwolfs erziehen, der die kleinen Kinder frißt. Welche ungeheuerliche Idee, Furcht vor der Dunkel­ heit einzujagen, während man das gerade Gegenteil thun sollte. Es ist leicht, das Kind für immer daran zu gewöhnen, daß es im dunkeln Zimmer schläft, und diese Gewohnheit ersetzt ihm eine Kerze oder ein un­ bequemes Nachtlicht. Ich kenne erwachsene Leute, die

bis in ihr Alter nicht im Dunkeln schlafen können. Dgs verdanken sie den Gewohnheiten ihrer Jugend.

Ganz abgesehen von der nicht bloß eingebildeten Ge­ fahr einer Feuersbrunst, die

ein brennendes Licht

im Zimmer eines Schlafenden bildet, verrät es eine

unvernünftige Furcht und wovor?

Vor einer ganz

gewöhnlichen, sehr natürlichen Sache, vor der Nacht,

welche kein Tier fürchtet.

Die wichtigste Regel, die man bei der Erziehung zu beobachten hat, wäre die:

zum Fürchten!

Bringe das Kind nie

Von allen menschlichen Empfindungen

ist die Furcht die schlimmste.

Sie ist der Quell der

Lüge, der Feigheit, des Verbrechens, aller Schrecken

aller Zeiten und endlich der unerträglichsten moralischen

Folter.

Ein durch die Furcht erzogener Charakter ist

zu nichts Gutem fähig, zu nichts Hohem und Wahrem! Und doch erkennen wenige, wie viel Uebel sie den Kindern zufügen, indem sie sie zum Fürchten bringen.

Sie zweifeln nicht daran, die beste Erziehungsmethode

bestehe darin, beständig zu lehren, daß man sich vor nichts fürchten müsse, denn wer dahin kommt, in sich dieses gemeine Gefühl auszurotten, der ist wirklich Herr über die Welt und über sich selbst.

Er wird

niemals lügen, niemals hart, knechtisch oder frech sein. Er trägt in sich die zum Leben erforderliche Kraft

und der Tod wird ihm keineswegs die Schrecken ein­ flößen, die so manches Dasein vergiften. Ouroufsow. Ueber erste Erziehung.

5

66

Erziehung zur Unerschrockenheit.

Das ist ein solcher Hauptpunkt für die ganze

Zukunft des Kindes, daß ich darüber ein wenig ins einzelne gehen muß ; es handelt sich um den Grund­

stein des Gesamtcharakters, des ganzen Lebens.

Man

kann es sich in der That, ohne es selbst gesehen zu haben, nicht vorstellen,

wie weit die verderblichen

Folgen aus den thörichten Drohungen - oder Lügen gehen, deren man sich bedient, um die Kinder zu er­ schrecken, angeblich um sie artig zu machen.

Eine An­

wandlung von Furcht überwinden heischt eine große Dosis

persönlichen Mut, eine ruhige Ueberlegung, starke Ner­ ven; die Furcht zu einem beinahe ungekannten Dinge zu

machen ist leicht, wenn man sich die Mühe giebt, vom Anfänge des Kindeslebens an alles zu vermeiden,

was sie hervorrufen könnte.

das Gegenteil davon.

Nun thut man gerade

Man benutzt die Schwäche

seines Geistes, um ihm die Einsamkeit, den Kirchhof, die Dunkelheit oder die Drohung mit dem schwarzen

Mann, der es holen soll, zu Schreckmitteln zu machen. Die Einbildungskraft ist bei dem kleinen Kinde sehr stark und die Ueberlegung gleich Null, so daß es

sogar schwer ist, später das Maß der Leiden zu ver­

stehen, welches diese leeren Schreckbilder erlegen.

ihm auf­

Sie können das Gehirn aus seinem Gange

bringen, Gehirnentzündungen, Krämpfe, Nervenkrank­

heiten hervorrufen.

Sie vergiften den Schlaf, diese

beste Schüssel auf des Lebens Tisch, sie bringen einen

Erziehung durch Liebe.

67

Umsturz in seiner ganzen Natur hervor, der offenbar

auf den Charakter zurückwirkt. Aber ohne geradezu das Verbrechen 311 begehen,

die Kinder durch leere Ausgeburten der Phantasie zu erschrecken, wendet man viel zu oft Furcht erzeugende Strafen an in der Erwartung, das Kind dadurch vom

Ungehorsam zu entwöhnen.

Ich glaube, daß es un­

bedingt schädlich ist, durch Androhung einer Strafe

irgend eine Wirkung, welche es auch immer sei, bei

dem Kinde zu erzielen.

Da wo die Furcht der einzige

Zügel ist, gewöhnt sich das Kind an Doppelzüngig­

keit, an Lüge und benutzt die erste Gelegenheit, wo eS ungestraft ungehorsam sein kann, um sich dieses

Vergnügen zu verschaffen; das Imm man alle Tage sehen.

Immer ist es der Fehler der Erzieher, wenn

sie gezwungen werden zu diesem abscheulichen System ihre Zuflucht zu nehmen; es ist eben nicht gelungen,

dem Kinde durch Festigkeit und Milde hineinreichendes Vertrauen einzuflöhen, um es mit einem Blick oder

Wort zu lenken.

Die Liebe, deren das Kind gewiß

sein sollte, ist eine ganz andere Kraft als die Furcht;

wenn man dem Kinde vernünftige Liebe zeigt, so wird es dieselbe sicherlich erwidern. Alles, was man

durch Furcht bewirkt, ist ohne wirkliches Ergebnis.

Darum haben ja Gesetze die Verbrechen und

und Gendarmen niemals

Uebelthaten ausrotten können,

während die Gewohnheiten, die ein Kind im rechten

Augenblicke annimmt und die später durch Ueberredung und Liebe gestützt werden, das erreichen, was die Gewalt nie und nimmermehr dem Charakter geben kann. Ich weiß, daß beinahe jeder im Prinzip das Wohl seiner Kinder will, aber diesem Willen fehlt zumeist die Stetigkeit und die Unterscheidung des ein­ zelnen Falles. Beides ist nötig, wenn man nicht bloß den Schein des Guten aufprägen, sondern inner­ lich Liebe zum Guten erwecken will. Wenn man nun das Kind fürchten macht, so verdirbt man seine Natur, weil die Furcht feige, vielleicht heuchlerisch macht. Man erkennt es grundsätzlich an, daß Unaufrichtigkeit das schlimmste Unglück ist, welches dem Kind widerfahrerr kann, und doch giebt man sich alle erdenkliche Mühe, um es unaufrichtig zu machen. Man protestiere nicht dagegen. Ich werde den Beweis führen, wie groß die Zahl der Leute ist, die nur infolge ihrer ersten Erziehung Lügner geworden find. Das kleine Kind ist ungehorsam. Man bestraft es und bedroht es mit härterer Strafe, wenn es wieder ungehorsam sein sollte. Sein einziger Gedanke ist, nun das Ver­ botene insgeheim zu thun und dann, wenn es entdeckt wird, zu leugnen. In der Regel ist diese erste Lüge so ungeschickt, daß man sie auf der Stelle entdeckt und dem Kind eine derbe Zurechtweisung angedeihen läßt. Das nächste Mal benimmt es sich schlgun und

geschickter und wenn es dahin kommt, die zu täuschen, welche es fragen, so ist es auf den Weg gebracht, an dessen Ende es vielleicht als eine vollständig herunter­ gekommene Natur steht. Sein einziges Ziel ist, durch die Lüge der Strafe zu entgehen. Es ist noch viel zu jung, um die sittliche Bedeutung der Lüge zu ahnen. Man hält sich vielleicht im Verkehr mit dem Kind nicht allzustreng an die Wahrheit und cs genügt, daß es dies einmal bemerkt, um einer Predigt über die Wahrheitsliebe keinen großen Wert mehr beizu­ messen. Auf jeden Fall ist es ganz unnütz, einem Kinde vorzupredigen. In gewisien Lebensjahren des Kindes ist das vollständig verlorene Zeit. Es hört nicht ein­ mal auf den Predigenden, eskannesnicht. Seine Aufmerksamkeit folgt einer Fliege, einem Lichtstrahl, einem Etwas, das gerade vorgeht, und was man ihm sagt, ist ihm nur ein leerer Schall. Aber man kann das Kind vollständig an Wahrhaftigkeit gewöhnen, wenn man es niemals für eine Sache straft, die es frei heraus gesteht, oder wenn man ihm niemals ver­ bietet gerade heraus zu sagen, was es denkt. Die meisten Leute strafen blindlings darauf los, nicht wegen des Ungehorsams, sondern wegen seiner Folgen. Ein Kind rührt gegen das Verbot an die Uhr. Du wirst dich begnügen, es davon zu entfernen und ihm zu sagen, daß es nicht daran rühren darf. Es zerbricht sie aus

Unachtsamkeit (denn niemals wird es sie absichtlich

zerbrechen) und du schlägst es tüchtig, weil das, was

dich persönlich berührt, höheres Jnteresie für dich hat als seine Erziehung.

Anstatt zu drohen lobe doch

das Kind jedesmal, rocmi es dir sagt, was es gethün hat; wenn die von ihm begangene Handlung schlecht

ist, so zeige ihm, daß bn darüber betrübt bist, und da der stärkste Naturtrieb der Wunsch zu gefallen ist, so

wird es das sehr genau empfinden, besonders wenn

man es durch Strafen und Zornausbrüche nicht ver­ härtet hat.

Solange das Kind ganz klein ist, mußt du es offenbar entschlosien und nötigenfalls mit Gewalt ver­ hindern sich weh zu thun, und selbst wenn es seinen

ganzen Trotzkopf darauf setzt, etwas Verbotenes zu wollen, so laß es aus eigener Erfahrung merken, daß

es gefährlich ist, dir nicht zu gehorchen.

Wenn es

mit Zündhölzern spielen will, so laffe man es sich

ein wenig die Finger verbrennen. Das wird ihm die

Lust benehmen, mit dem Feuer zu spielen. Eine der lästigsten Kindergewohnheiten ist gerade die, alles an-

zufaffen. Man mutz aus dem Bereich des Kindes alles das entfernen, was ihm weh thun oder was es ver­

derben könnte, besonders aber ihm recht einfache und mannigfache Dinge geben, welche seine Hand, sein Auge, seine Aufmerksamkeit beschäftigen.

Während der drei

oder vier ersten Jahre ist jedes Stück Holz, jeder Faden

ein Spielzeug.

Wenn die Kinder nun erst auf den

Tisch reichen können, dann müssen die Grundlagen Es muß also ein

der Erziehung schon gelegt sein.

einfaches Verbot genügen, um

die Idee nicht auf­

kommen zu lassen, daß es ungehorsam sein kann, denn

wenn diese Grundlagen mit Vernunft und Liebe ge­ legt sind, so muß das dem Kinde Achtung einflößen.

Wenn wir jemand achten, so mischt sich mit dieser Achtling eine gewisse Furcht, nicht etwa vor einer

Strafe, sondern die Befürchtung, wir könnten das Mißfallen des Geachteten erregen, und diese Stimmung

läßt uns nach seiner Billigung wie nach der Bestätigung der Gewissensstimme trachten.

Achtung

lassen sich nun nicht erzwingen.

Alle Predigten und

und Liebe

alle Befehle können nur den leeren Schein dieser Em­

pfindungen bewirken. In sich selbst sind sie frei und das Kind weiß recht wohl sie nur da zu zeigen, wo

sie verdient sind.

So steht es nicht mit der Furcht

des Sklaven oder des Hundes, welcher Schläge er­ wartet, weil er das Mißfallen seines Herrn erregt

hat. Dieses erniedrigende Gefühl entwickelt die Furcht

vor einer Person, ihrem Charakter, ihren Drohungen, ihren Strafen. Wie viel Leute machen nicht selbst aus dem lieben Gott einen Popanz!

Und doch ist es eine

Sünde, diesen großen unbekannten Gott wie einen

unseresgleichen,

nur

härter und

grausamer

darzu­

stellen, denn unwissend, wie wir in dieser Hinsicht

sind, sollen wir wenigstens das Vertrauen der Kin­ der nicht mißbrauchen, um ihnen Furcht da einzu­ flößen, wo sie nur Bewunderung und Liebe empfinden sollten!

Die moralische Furcht ist viel verderblicher als die physische. Es ist offenbar notwendig, einem Kinde

von zwei oder drei Jahren zu zeigen, wie gefährlich

es ist, mit dem Feuer zu spielen, sich aus dem Fenster hinauszulegen, in das Wasser zu fallen, nicht bloß

gefährlich für das Kind selbst, sondern auch für seine

Aber indem es sich

kleinen Brüder und Schwestern. davor in

acht nimmt, wird

es

nie

zur Memme.

Memmenhaftigkeit entsteht nur aus eingebildeter Furcht und besonders aus der Furcht vor einer Person.

Will man diese Gefahr vermeiden, so ist beson­

deres Gewicht auf die Wahl der Umgebung des Kindes zu legen.

Während niemand, auch der gewöhnlichste

Mensch nicht, sein Pferd einer Person anvertrauen würde, die nicht mit Pferden umzugehen gelernt hat,

fordert man keine besondere Vorbereitung von den Leuten, die man mit der Wartung seiner Kinder be­ traut.

Man frage doch einen Jäger, ob er einem

unbekannten Jemand die Erziehung seiner Hunde über­

lassen möchte.

Gewiß nicht, wird er antworten, und

wird auseinander setzen, daß man sie von klein auf verhindern muß, Wild zu fressen oder es anzuschneiden,

wenn sie es apportieren sollen.

Diese Leute erkennen

also für die Erziehung des Hundes die Macht der zur rechten Zeit angenommenen Gewohnheit an und für ihre Kinder sind sie in dieser Hinsicht blind. Wenn eine Frau als Köchin oder Nähterin keinen Platz finden kann, so verdingt sie sich als Kinder­ wärterin. So kommt es, daß Eltern, welche einem ins Gesicht lachen würden, wenn man ihnen sagen wollte, sie sollten ihren Garten durch den Kutscher besorgen lassen, dennoch unbedenklich ihre Sprößlinge der Pflege von Leuten anvertrauen, welche nicht den geringsten Begriff von Gesundheitspflege oder Sitte, nicht die geringste eigene Erziehung besitzen und in­ folge davon unfähig sind, selber zu erziehen. Man betrachtet in diesem Falle den Befähigungsnachweis für gar nicht erforderlich, den man sonst für das geistloseste Handwerk fordert. Darf man sich denn noch wundern, wenn eine Kinderwärterin dem Kinde Opium giebt, um es einzuschläfern, oder es schlägt, sobald die Eltern nicht in der Nähe sind, indem sie es durch Drohungen zum Schweigen bringen, oder dem Kinde Geschichten erzählt, an die sie vielleicht selbst glaubt und die es für den Rest seiner Tage zum Hasenfuß machen? Der allgemeine Bildungsstand ist zu niedrig, als daß man nicht die Umgebung des Kindes streng überwachen sollte. Dienstboten sind in dieser Hinsicht eine klägliche Gesellschaft; sie gewöhnen die Kinder an Altweibergeschwätz und rohe Redens-

arten und wie wir es eben gesehen haben, an Lüge und Durchsteckerei.

Man darf ihnen darum kaum

böse sein und kann nicht von Leuten, die selber keinen

Begriff von einem Grundsatz haben, fordern, daß sie andern welche beibringen; aber sind meine Leserinnen nicht mit mir betroffen über die in dieser Hinsicht

allgemein herrschende Nachlässigkeit?

Die einzig mög­

lichen Wärterinnen könnten noch die sein, welche ihr Leben lang sich mit Kindern beschäftigt haben und

nun zu einem gewissen Verständnis von der Sache und zu einer ziemlichen Erfahrung in Sachen der

Gesundheitspflege

gelangt sind;

aber sie

sind gar

selten und es ist schwer, eine zu finden, auf die man sich ganz verlassen kann.

Da

das Bedürfnis sich

mehr imb mehr fühlbar macht, so sieht man, wie

wichtig es ist, daß jede Frau sich mit dem Inhalte dieser Abschnitte beschäftigt, denn wenn jede Frau das

auf die erste Erziehung Bezügliche kennte, so würde

jede je nach Bedarf Mutter oder Wärterin sein können. Was auch ihre Pflichten sein mögen, die Mutterpflicht ist die natürlichste und es ist einfach

eine Schande,

die praktischen Kenntnisse nicht zu haben, die uns be­ fähigen würden, eine Wärterin zu leiten oder im Not­ fall zu ersetzen.

Weit entfernt, die Stellung einer Kinderwärterin als untergeordnet oder erniedrigend anzusehen, möchte

ich, daß viele junge Mädchen dieselbe zu ihrer Lebens-

aufgabe machten.

Das

erste Erfordernis wäre der

innere Beruf, das Interesse für Kinder und die Kraft

sich ihnen zu widmen.

Ueberall giebt es Lehrerinnen

im Ueberfluß; viele Frauen, die ihre Prüfungen glän­ zend bestanden haben, finden keine Stellung, weil das

Angebot größer ist als die Nachfrage und Kinder­

wärterin will man nicht werden, weil man sich dafür zu gut vorkommt.

So weit geht die allgemeine Un­

wissenheit über diese Frage, daß man die Pflege kleiner Kinder unter seiner Würde und die Stellung der Wärterin entehrend findet.

tum!

Welch sonderbarer Irr­

Meiner Meinung nach ist es der höchste und

ansprechendste Beruf, ein Kind von der Wiege an zu beobachten und zu leiten, viel weniger undankbar als

der der Lehrerin.

Diese übernimmt ein bereits der

Verbesserung bedürftiges Kind, dessen ganzer Charakter sich unter Einwirkungen gebildet hat, die von da ab

unzerstörbar sind.

Dagegen ist das neugeborene Kind

bis zu seinen Schuljahren ganz und gar in den Händen

der Wärterin; jede Arbeit für dasselbe belohnt sich selbst, ist interessant und nimmt die Person in An­ spruch.

Je höher eine Frau gebildet ist, desto mehr

paßt sie für diese Stellung.

Die materielle Pflege,

die man diesen kleinen Wesen angedeihen läßt, toim

doch nicht als Dienstbarkeit oder als Erniedrigung er­

scheinen.

Für eine fein gebildete Person besitzt diese

Beschäftigung im Gegenteil solches Interesse und solchen

Wert, daß dieser Broterwerb eigentlich mit Vorliebe

ergriffen werden müßte.

Eine Mutter kann schlechter­

dings nur das Jüngstgeborene pflegen. Sobald mehrere Kinder da sind, bedarf sie der Unterstützung, damit keines derselben vernachlässigt wird. In dieser Weise

sollte eine Kinderwärterin nicht etwa eine untergeordnete

Person, eine Art Dienstbote sein, sondern die Stütze

und bei Gelegenheit die Führerin der Mutter. Uebrigens würde eine nach allen Seiten gebildete Frau durch nichts gehindert werden, als Lehrerin das zu vollenden, was sie als Erzieherin begonnen hat. Die

Aufgabe wird sich für sie um so leichter gestalten,

da sie die Persönlichkeiten kennt, mit denen sie sich

zu beschäftigen hat, und sie wird sich dann nicht auf das Stundengeben beschränken. Die Frauen also, welche sich auf den Erwerb ihres Lebensunterhaltes vorbereiten, lade ich

Ernstes ein, diese Beschäftigung zu wählen.

allen

Je ein­

sichtiger sie sind, desto lieber wird diese Stellring ihnen werden, desto sicherer können sie von der Nützlichkeit

ihrer Arbeit überzeugt fein. So wie sich

heute die Erziehung der kleinen

Kinder vollzieht, sehe ich Mütter und Wärterinnen

im Kampfe mit großen Schwierigkeiten, welche nicht bestehen würden, wenn sie die Dinge in ihrem wahren

Lichte betrachten wollten.

Viele Sente geben sich gar

nicht Rechenschaft über die Natur der Kinder im all-

gemeinen, bevor sie zu ihren Einzelheiten und Be­ sonderheiten

wollen.

kommen,

welche wir später behandeln

Besonders da, wo äußere Umstände Kinder

und Erwachsene

in beständige Berührung

bringen,

finde ich, daß es meistens sehr unschuldige Ursachen

sind, welche ein Scheltwort Hervorrufen.

Die Kleinen

lärmen, sind übermütig, spielen den Hanswurst, quälen

die Erwachsenen, und diese letzteren fordern von ihnen

Ruhe und Unbeweglichkeit, mit einem Wort gerade das Gegenteil von dem, was ihr Alter und ihre

Körperbeschaffenheit gebieterisch fordern.

Man gehe

weg von dem Lärmen, wenn er einem zu viel wird,

aber man soll sich nicht bis zu jener Gereiztheit gehen

lasten, die uns in Sachen, welche uns lästig sind, Anlaß zum Tadel oder zur Strafe giebt.

Die Muster­

kinder, die nie eine Dummheit begehen, die nie aus

Lebhaftigkeit

etwas zerbrechen oder die ein lautes

Spiel nicht lieben, sind entweder krank oder Opfer der Erziehung.

Es klingt vielleicht übertrieben, aber

ich kann sagen, daß es ein Alter giebt, in dem diese

ungeordneten Bewegungen, dieses Schreien und Lärmen ebenso nötig zum Glücke sind, wie später Stille oder Ruhe.

Darum möchte ich junge Wärterinnen bei den

Kindern haben, denn sie leiden weniger unter diesem

Ueberschwang von Jugendmut und können sogar selber mit Vergnügen daran teilnehmen.

Sie stehen dem

Kinde näher als eine durch das Leben schon geschwächte

78 Frau.

Junge Wärterinnen. Sie werden besser verstehen, daß man nur

das abzuwehren braucht, was eine

sein würde,

und

werden

zu

wahre Gefahr

den meisten Dingen

lachen, welche ältere Personen nur widerwillig er-

tragen.

Ich lenke jetzt die ganze Aufmerksamkeit meiner

Leserinnen auf die Eigenart der Kinder.

Diese wunder­

bare Verschiedenheit der menschlichen Wesen unter­

einander wird oft absichtlich in Fesseln gelegt oder erstickt.

Darum erkläre ich alle die pädagogischen

Schriften, die hochwissenschaftlich gehaltenen vor allen, für ganz unnütz, in denen das Kind als eine abstrakte

Erscheinung dargestellt wird, welche unter unabänder­ lichen Bedingungen steht und ebenso unabänderlich geleitet werden soll.

Unsere Unwissenheit wird durch

nichts bester dargethan als durch die Anmaßung, bester

als die Natur selbst misten zu wollen, was sie braucht, und das geheimnisvollste und schwerstverständliche Ding

ändern zu wollen: die Eigenart, bloß weil es uns

beliebt, (m3 einem menschlichen Wesen das zu machen,

was uns selber gut scheint. Du kennst die Neigungen, die Leibesbeschaffenheit, den Zustand des Gehirnes

bei diesem Kinde nicht, und du willst es nach dem

Bilde formen, das du dir nach der von dir gewünschten Zukunft desselben machst!

Unnütze Mühe! Du kannst

es beherrschen, bis zu einem gewissen Grade zwingen,

aber du kannst ihm niemals geben', was die Natur ihm verweigert. Vor allem aber wirst du es unglück­ lich machen, indem du die allmähliche und regelmäßige

Entwickelung dessen hinderst, was dir an dem Kinde

unbekannt ist und was du aus allen möglichen Gründen bekämpfst, die gar nichts zu thun haben mit dem Ziele,

das uns allein leiten soll, nämlich das Kind darauf vorzubereiten, daß es einmal möglichst glücklich wird.

Ich will zu zeigen versuchen, eine wie heilige Sache es um die Eigenart des Kindes ist, wie sehr sie ge­ achtet werden, wie sehr ihr Spielraum gelassen werden muß. Gerade hier bemerken wir, wie sehr wir von Vorurteilen und Irrtümern in allem unseren Thun beschränkt sind. Gewisse Erfordernisse sind allen Menschen ge­ meinsam, aber nur die elementaren und materiellen Erscheinungen sind immer denselben Gesetzen unter­ worfen, auch begegnen wir tausend Fällen des rein physischen Lebens , welche je nach der einzelnen Per­

sönlichkeit verschieden geartet sind. Es giebt keine feste Regel, die für jedermann paßt, und wir werden schweren Fehlern entgehen, wenn wir ohne Vorurteil an viele Fragen herantreten, mit denen Eltern sich ganz um­ sonst abquälen. So ist es ein wirklicher Fehler, ein Kind , zum Die Launen des Magens hängen mit der gesamten Körperbeschaffenheit zusam-

Essen zwingen zu wollen.

men und die Vernunft wird uns dahin bringen, daß wir diese Neigungen oder Abneigungen, statt sie mit

Gewalt zu bezwingen, als wertvollen Aufschluß über die uns unbekannten Bedürfnisse des Körpers be­

trachten.

Die vielen Kindern gemeinsame Abneigung

gegen das Fleisch, die Vorliebe für Gemüse, Milch­ speisen und erfrischende Nahrung sind natürliche Re­

gungen, und wenn den Kindern nicht die wahre Eß­

lust abgeht infolge unverständiger Darbietung von

Leckereien zu jeder Stunde, so ist ihr Widerwille gegen

irgend eine Nahrung ein Symptom, nicht eine Laune. Wenn das Kind sich wohl befindet, braucht man sich

nicht zu beunruhigen, deres ißt.

wenn es weniger als ein an­

Die Verschiedenheit des Nahrungsbedürf­

nisses ist ebenso groß wie in anderen Eigentümlich­

keiten der Kindernatur.

Wenn es krank ist und hin­

siecht, wenn es gar keine Eßlust zeigt, so giebt man

ihm die Gesundheit nicht wieder, indem man es zum Essen zwingt.

Abgesehen von schwerer, rasch vorüber­

gehender Krisis, wie z. B. bei Diphtheritis, wo man

um jeden Preis die Kräfte erhallen muß, wird die gezwungene Ernährung niemals gegen irgend eine der

verborgenen Ursachen des Siechtums helfen, gegen die

man mit einer allgemeinen und dauernden Ordnung der Lebensweise

ankämpfen muß.

Hinsichtlich des

gewöhnlichen Gesundheitsstandes kann ich versichern,

daß jeder von uns, wenn er nicht geradezu ein HungerOuroussow, Ueber erste Erziehung.

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leider ist, mehr Speise zu sich nimmt, als die Natur fordert; starke Gier und Gefräßigkeit sind daher bei einem Kinde viel eher ein Zeichen von Schwäche als

die Zurückhaltung.

Auch hier beharre ich dabei, der

einzelnen Person so viel als möglich selbst zu über­

lassen, weil das natürliche Gesetz für jedes Wesen (und dieses ist bei dem Kinde das stärkste, da ja alle

seine Handlungen viel mehr von der unbewußten Regung abhängen als bei dem Erwachsenen) — weil das natürliche Gesetz für jedes Wesen darin besteht,

die günstigsten Bedingungen für den eigenen Orgams-

mus aufzusuchen.

Die Tiere besitzen diesen Instinkt

im höchsten Grade; bei dem Menschen ist er durch eine

jahrhundertelang

dauernde falsche medizinische

Wissenschaft erstickt worden, welche sich niemals Rechen­

schaft gegeben hat über die wertvoller: Andeutungen, die für uns in unbewußten Liebhabereien oder Ab­

neigungen enthalten sind, und welche immer ihre per­

sönliche Ueberzeugung allgemein hat ausdrängen wollen.

Tie Aerzte fangen jetzt an, ihre Aufmerksamkeit auf diese Eigentümlichkeiten zu lenken.

Bisher glaubten

sie ihre Pflicht zu erfüllen, wenn sie jedermann das vorschrieben, was ihrer eigenen Natur zusagte.

Indes

werden wir, je mehr wir sehen, wie viel uns an uns

selbst unverständlich ist, Bedenken tragen, die Natur eines anderen zu zwingen.

Beispielsweise bekämpft

man mit Eifer die sogenannte Linkshändigkeit^ und

doch bin ich überzeugt, daß auf diese Weise die Natur die teilweise Schwäche gewisser Muskeln ersetzt und

daß aus dieser Gewohnheit keinerlei Nachteil entstehen Es ist überdies Sache des Herkommens und

kann.

zwar eine recht thörichte Sache, daß man, wie es ge­ schieht, ein Glied auf Kosten eines anderen entwickelt.

Darin liegt ein wahres Uebel, denn beide Arme und beide Hände sind wie die beiden Füße zu gleichmäßigem

Gebrauch bestimmt, und die herkömmlichen Thorheiten sind bei uns gar fest eingewurzelt, wenn wir darauf

beharren, ein Glied planmäßig einrosten zu lassen.

Die linke Hand sollte genau dasselbe thun, was die rechte, und ich fasse dies im buchstäblichen Sinne, d. h.

so, daß man alles beiden Händen zugleich lehrt, in­ dem man die mit erblicher Schwäche behaftete linke

Hand ein wenig mehr arbeiten läßt als die rechte; also Schreiben, Zeichnen, Arbeiten aller Art, Zu­ schneiden, Maßnehmen, Nähen u. s. w.

Das würde

etwas klüger sein, als ein Kind darum zu bestrafen, wenn es sich gemäß der Eingebung seiner Natur der linken Hand bedient.

Sobald wir uns mit Geschmacksrichtungen, mit Charakter oder Entwickelung des Kindes beschäftigen,

begegnen wir tausend verschiedenen und individuellen Schattierungen, mit denen wir nicht allein rechnen

müssen, sondern aus denen wir auch Nutzen ziehen

können.

Eine jede Natur fordert nicht radikale Ver-

änderungen, sondern Anpassung an ihre Umgebung

und zwar so, daß man sie so viel als möglich der

eigenen Entschließung überläßt.

Beständig sehen wir

in unserer Umgebung, wie man sorgfältig alles das erstickt, was persönlich oder eigenartig ist,

um sich

dafür einer Dressur hinzugeben, in welcher die Indi­ vidualität nichts bedeutet.

Ehe man verbessert, müßte

man, scheint es mir, beobachten (das ist scheinbar etwas

passiv, aber es ist sehr wichtig), um zu wissen, mit wem man es

zu thun hat und was in Wahrheit

unser Dazwischentreten fordert.

Alles, was unter

diesem unserem doppelten Gesichtspunkt nicht ungesund ist, lohnt die Mühe nicht, die man auf seine Be­

kämpfung verwendet.

Für unser Gewissen ist die

entscheidende Frage: ist dies oder jenes der Gesundheit oder dem Charakter des Kindes schädlich?

Wenn es

schädlich ist, werden wir es mit Energie bekämpfen

und die wahre Energie, das ist die Geduld. Fehler rühren entweder von erblicher Anlage oder von dem körperlichen Befinden

oder auch von der

Umgebung des Kindes her. Es ist allgemein bekannt,

bis zu welchem Grade die Seelenstimmung dem körper­ lichen Zustand entspricht. Es kommt oft vor, daß wir

von erwachsenen Leuten sagen, sie haben ihren guten

oder ihren schlechten Tag, sie sind mit dem linken

Fuße zuerst aufgestanden, um die Abweichung für die

Stimmung zu erklären, die man gewöhnlich an ihnen

kennt.

Man schreibt also diese Veränderungen einem

gewissen Gesundheitszustand zu und wir müssen den Dingen, welche uns an den Kindern sonderbar vor­

kommen, dieselbe Erklärung geben. Jede Mutter einer zahlreichen Kinderschar wird das sagen, daß eines ihrer

Kinder, welches in einem gewissen Alter verdrießlich

war, heiter geworden ist, und umgekehrt, daß der

Faule oder Träge sich in einen fleißigen Arbeiter ver­ wandelt hat, daß das Kind, dessen Laune oft ganz unerträglich war, nunmehr das umgänglichste geworden

ist, oder sie wird sich auch wundern, das Kind, dessen

Charakter vollständig zur Erregbarkeit zu neigen schien, traurig oder scheu zu sehen.

Diese Veränderungen

hängen von gesundheitlichen Ursachen ab.

Unsere ärzt­

lichen Kenntnisse sind noch so sehr in den Anfängen,

daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, den genauen Nachweis der physischen Ursache jeder moralischen Stö­

rung zu führen, aber wenn man diese Erklärung als

die einzig mögliche betrachtet, so werden wir nicht mehr durch Züchtigungen und Drohungen Abhilfe zu

schaffen suchen; wir werden uns aus allen Kräften

anstrengen, die Grundursache des Uebels zu suchen und an dieser Stelle Heilmittel anzuwenden, indem

, wir sie wie eine Krankheit behandeln.

Wir werden

bei diesem langsamen Verfahren viel mehr Geduld nötig haben, als bei dem andern, aber ich halte es

für das einzig vernünftige.

Bei dem kleinen Kinde giebt es keine Bosheit

oder Böswilligkeit.

Sogar bei dem verkommensten

Menschen ist es zweifelhaft, ob er den Vorsatz hat, ein Bösewicht zu sein.

Aber der Mensch in zartem

Alter kennt keine sittliche Erwägung; er folgt den natürlichen Trieben und diese sind rein physischer Natur.

Infolge der Vererbung liegen in dem Menschen gewisse herrschende Neigungen und wenn diese krank­

hafter Natur sind, d. h. den Gesetzen einer harmo­

nischen Anlage zuwiderlaufen, so trachten sie danach, sich zu entwickeln und den guten Samen zu ersticken. Wir vergessen beständig den krankhaften Zustand, in welchem sich die Mehrzahl der Menschen befindet; die Leute von gesunder Naturanlage scheinen sich zu min­

dern unb kranke Eltern sind leider in der Ueberzahl. Wir haben also beinahe alle Tage Unordnung zu be­

kämpfen, die auf Vererbung beruht, mit dem Kinde geboren ist.

Wenn es wahr ist, daß jedes Heilmittel

je nach der Dosis, die von ihm eingegeben wird, nützt

oder schadet, so kann man auch anerkennen, daß jede Anlage ihre gute und ihre schlimme Seite hat, daß

jeder Fehler mit einem Vorzug zusammenhängt, und unsere ganze Aufmerksamkeit muß sich darauf richten,

daß wir diesen entwickeln, indem wir jenen vermindern. So ist die Milde oft mit einer Schüchternheit gepaart,

die bei dem ersten rauhen Wort sich zu einer Lüge

treiben läßt; Großmut geht mit der Heftigkeit; Selbst-

sucht und Liebenswürdigkeit, argwöhnische Scheu und Fülle des Gefühls sind Schwestern.

Wenn die Thatsache zugegeben wird, daß es in der Natur keinen bösen Vorsatz giebt, wenn die Un­

möglichkeit eines solchen Vorsatzes zugegeben wird, so

wird man sich, denke ich, über eine Krankheit nicht ereifern, wenn ich auch zugebe, daß man bisweilen darüber ungeduldig wird.

Die gewöhnlichsten Krank­

heiten können uns ungeduldig machen, wenn sie nicht schnell weichen wollen, aber man wird sich wenigstens

nicht über die Art und Weise täuschen, in der man sie behandeln muß.

Man wird ein Kind nicht darum

strafen, weil es blutarm oder schwach ist, und man

straft es, weil es launenhaft, heftig oder jähzornig

ist.

Demgegenüber behaupte ich auch jetzt, daß es an

diesen Neigungen nicht mehr schuld ist als an der

Zusammensetzung

seines Blutes.

Wenn das Kind

blutarm ist, so wird man versuchen, es durch eine ge­ regelte Lebensweise, durch geeignete Heilmittel zu stärken,

vielleicht durch Luftveränderung, neue Umgebung, kurz,

durch eine oft recht lang fortgesetzte Kur, denn wir

wissen, ohne daß ich es zu sagen brauchte, daß die einmalige Anwendung

eines starken Heilmittels es

nicht stark und vollsäftig macht. müssen

werden.

die krankhaften

Nun wohl, ebenso

Charakteranlagen behandelt

Heftigkeit, launenhaftes Wesen, beständige

Mißvergrmgtheit, Faulheit find Uebel, die durch die

Lebensgewohnheit und durch eine sanfte, feste und

ebenso beharrliche Pflege bekämpft werden wollen wie die, welche man bei einem gewöhnlichen Krankheits­ zustand anwendet.

Wenn ich also Achtung vor der Eigenart fordere,

so will ich damit keineswegs sagen, daß man ihre Fehler nicht bekämpfen soll.

Das wäre ebenso thöricht,

als wenn man ein skrofulöses Kind so wie es ist aufwachsen lassen und sehen wollte, was daraus würde.

Ich sage nur, man soll sich nicht nach schroffen Mitteln

umsehen: grundstürzende Veränderungen sind ganz und

gar unmöglich.

Je früher man die Kur beginnt, desto

größer ist die Aussicht auf Gelingen.

Wenn man

hinsichtlich der Blutarmut, der Gliederschwäche und

anderer konstitutioneller Krankheiten verstanden hat, wie wichtig es ist, sie von dem Augenblick an, wo man sie erkannt hat, zu bekämpfen, so habe ich nicht

nötig, die Größe des Gewinnes darzuthun, wenn man dasselbe System mit dem Charakter befolgt.

Eine

rechtzeitig in Angriff genommene Krankheit ist leicht

besiegt, ein Fehler im Keime leicht erstickt, aber dann darf man auch keine Stunde verlieren!

Heftigkeit z. B. ist eine der am gewöhnlichsten bei ganz kleinen Kindern entwickelten Züge. Das Uebel, welches daraus für Gehirn und Nervensystem erwächst, ist ungemein groß.

Wir haben es beobachten können,

daß die heftigsten kleinen Geschöpfe, sobald der Anfall

vorüber ist, die schwächsten sind.

Warum? Weil ihre

Nerven infolge der soeben erlittenen Ueberreizung ge­

schwächt sind und eine so vollständige Erschlaffung eintritt, daß ihnen keine Willenskraft mehr übrig bleibt. Es ist also ein nervöser Anfall, der durch eine oft sehr geringfügige Ursache hervorgerufen wird.

Bei

nervösen Anfällen, welche von bekannten Gesundheitsstörungen herrühren, bei Krämpfen, Fallsucht oder

Veitstanz empfehlen die Aerzte Heilmittel, wie z. B.

Bäder, beruhigende Mittel und eine vollständige Ruhe, ohne das mindeste Geräusch oder die mindeste Er­

regung.

In derselben Weise muß man die Zorn­

ausbrüche behandeln.

Heftigkeit der Heftigkeit ent­

gegenzusetzen nützt gar nichts.

Wenn sie auch einmal

in einem Falle dem Kinde Halt gebietet, so stehen dem hundert Fälle entgegen, in denen kein Schreck­ mittel und keine Schläge das Kind abhalten, bis zur

äußersten Raserei der Wut zu toben, auf welche höchst­ wahrscheinlich eine tiefe Abspannung folgt.

Sobald

man einmal das Vorhandensein dieser Anlage zur Wut bei dem Kinde bemerkt hat, muß man es ver­

meiden sie hervorzurufen, und muß die Beweglichkeit dieses Alters benutzen, um es mit irgend etwas an­ derem als mit dem, was es reizt, zu beschäftigen. Man soll nie unter dem Vorwande, man wolle den

Charakter des Kindes bilden, an ihm herumnergeln; wenn es zum Zorne neigt, so vermehrt das nur die

Neigung zum Jähzorn.

Die Furcht vor Strafe wird

es auf die Länge dahin bringen, daß es die äußeren Zeichen dieses Zornes verbirgt, aber dieses Doppel­

spiel, das erst nach jahrelanger Uebung erlernt wird, ist im ganzen ein dürftiges Ergebnis, weil es ein Uebel durch ein anderes ersetzt.

Es wütet innerlich

darum nicht minder und oft entwickelt sich in ihm eine Anlage, die sonst niemals mit Heftigkeit gepaart vorkommt: es wird hinterhältig und rachsüchtig.

Ein

verschlossenes, stilles und verdrossenes Kind wird mir

immer mehr Befürchtungen einflößen als das, welches

sich gehen läßt und seinen wahren Charakter zeigt. Wenn man sein wahres Wohl will, so wende man alle Erfindsamkeit an, um jede Gelegenheit, die es in

Aerger versetzen könnte, zu vermeiden, denn Heftigkeit

und Jähzorn entwickeln sich stärker, je häufiger ihre

Anfälle sind.

Diese Anlage gilt es zu bekämpfen,

welche immer eine große Reizbarkeit der Nerven an­ deutet; dazu dienen stärkende Mittel, vor allen Dingen

der Schlaf während zwei oder drei Stunden den Tag über, wenigstens bis zum siebenten Jahre; dann Be­ wegung in freier Luft, Spiele, welche den Körper

entwickeln

und so weit ermüden, bis die Lust zum

Schlafen kommt.

Wenn trotz alledem ein Zornanfall

sich einstellt, so lasse man das Kind allein, streite nicht

mit ihm während der Dauer des Anfalles, schließe es

da ein, wo es sich keinen Schaden thun kann, und

sage ihm, daß es herausgelassen werden wird, sobald es aufhört, die andern mit seinem Schreien zu be­

lästigen.

Sobald es sich beruhigt hat, gebe man ihm

seine Freiheit wieder und lasse es mit einem kurzen Wort der Ermahnung laufen und wieder spielen.

Die

Strafe darf man nicht über die Dauer des Heftigkeits­ anfalls verlängern.

Nach Verlauf von fünf Minuten

(ich spreche immer von den ersten Jahren) erinnert sich das Kind nicht mehr, warum es in Strafe ge­

nommen worden ist, und aus der Langeweile, welche ihm seine Einsamkeit verursacht, kann seine Erregung

wieder erwachen; dann kommt ein neuer Anfall, Thränen,

Heftigkeit, Abgespanntheit und so weiter und so weiter.

Wenn es im Gegenteil gleich wieder in die gewöhnliche Umgebung zurückkommt, sobald es zur Vernunft zurück­

kehrt, so wird es versuchen, die unangenehme Stim­

mung zu vermeiden, welche, wie es wohl weiß, durch

seine Unvernunft verursacht worden ist.

Auf jeden

Fall ist durch eine vorübergehende Isolierung eine

längere Dauer des Anfalles vermieden worden, und das ist ein Hauptpunkt.

Eigensinn wird, abgesehen davon, daß man ihn

durch Nachgiebigkeit ermutigt, am häufigsten durch die aus der Unthätigkeit hervorkommende Langeweile ver­

ursacht, denn:

In müß'ger Weile schafft der böse Geist

und ein englisches Sprichwort sagt: Der Satan findet

immer eine Misiethat für müß'ge Hand zu thun. Von dem ersten Tage des Kindes an muß seine Zeit auf irgend eine Art ausgefüllt sein.

Für das erste

Jahr genügt es ihm, zu schlafen, zu efien und Arme

und Beine zu recken.

Sobald es auf der Erde sitzt,

kann man ihm durch Spiele, die für sein Alter passen, Abwechselung in den Gebrauch seiner Zeit bringen.

Die ersten Gegenstände, die man ihm in die Hand giebt, müssen unbedingt unschädlich sein, denn instinkt­

mäßig bringt es dieselben stets an den Mund.

Das

Zahnen macht ihm dies zum Bedürfnis, denn es ver­ ursacht einen Reiz des Zahnfleisches

und während

dieser Periode muß düs Kind auf irgend etwas beißen,

um den Durchbruch der Zähne zu erleichtern.

Man

gebe ihm ein Stück poliertes Holz, das nicht splittert, einen Gegenstand aus Knochen, kurz irgend etwas,

was die Gefahr einer Verwundung oder Vergiftung nicht mit sich bringt, namentlich aber nichts, was man

ihm später wcgnehmen muß, denn sicherlich will es das einmal erhaltene Ding behalten und eine ganze

Reihe von Launen wird denjenigen strafen, der es durch irgend eine Sache in Versuchung führt, welche er ihm nicht lassen kann.

Man kann ihm Bilder

zeigen, mit ihm Versteck spielen und mit dem Balle

rollen und es besonders in Gesellschaft anderer Kinder sich bewegen lasien, vorausgesetzt daß sie alle über-

Beschäftigung. wacht sind.

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Wenn es so immer beschäftigt ist, wird

es keine Launen haben, die immer durch die Lust nach dem Unerlaubten oder durch die Ermüdung verursacht

werden.

Bei ganz kleiner! Kindern

geht allzuviel

Lachen und lärmendes Spiel über die Kräfte hinaus

und macht sie eigensinnig, d. h. krank und zwar ohne daß sie oder wir uns Rechenschaft darüber geben,

daß das, was wir Eigensinn nennen, oft ein gebie­ terisches Bedürfnis nach Ruhe, bisweilen auch nach

Schlaf ist.

Wenn das Kind trotzt, so kommt dies daher, daß ihm eine gewisse eitle Eigenliebe die Ueberzeugung von seiner eigenen Wichtigkeit beibringt; es denkt die

andern dadurch zu strafen, weil es sich einbildet, eine

unentbehrliche Person zu sein, die man nicht nach Verdienst behandelt.

Man muß nicht darauf achten

und es zerstreuen; einem etwas älteren Bruder oder einer Schwester wird das besser als sonst wem gelingen. Es ist so beweglich, daß es von selber zu lachen und zu spielen anfängt, wenn man seine üble Laune un­

beachtet läßt, aber wenn man ihm zu eifrig entgegen­ kommt, dann schließt es sich ein wie in einer Burg.

Wenn die Laune keine Beachtung findet, dann ver­ gißt es sie selbst; es sieht, wie die andern sich be­

lustigen, und nimmt teil an dem Spiel, dann darf man es aber nicht an den eben verrauchten Trotz erinnern.

Der Trotz gehört unter die Fehler, die

man durch Nichtachtung am besten ausmerzt.

Das

Kind bemerkt gar bald, daß es allein darunter zu leiden hat und daß man seiner sauertöpfischen Miene gar keinen Wert beilegt. Diese scheinbare Enthaltung

von unmittelbarer Einwirkung ist die beste Art, um zn dein gewünschten Ziel zu kommen.

Sobald das Kind zu sprechen anfängt, wird es ein Fragemäulchen und man muß ihm immer ant­

worten, wenn man eben im Augenblick der Frage nicht mit etwas anderem beschäftigt ist. In dem Fall

sage man dem Kind, daß man ihm nachher antworten will, und hüte sich, einer Laune unmittelbar zu ge­

nügen, die vielleicht vorübergeht oder nur eine List

ist, mit der das Kind uns zwingen will, uns mit ihm

abzugeben.

Es soll gewiß die Ueberzeugung haben,

daß man es liebt und liebkost, sogar auch schützt, da­ gegen darf es nicht infolge unseres Verschuldens eine

übertriebene Vorstellung von seinem Werte gewinnen. Ich kann den Anblick eines kleinen Kindes nicht aus­

stehen, das kaum einige Worte lallt und sich erlaubt, einem Erwachsenen etwas zu befehlen.

So sehr ich

es natürlich finde, daß es bittet und daß man, ohne Mißbehagen zu zeigen, ihm giebt, was es braucht, ebenso sehr tadle ich die, welche ihm gestatten, befehlerisch und

anspruchsvoll

aufzutreten oder irgend jemand

etwas aufzutragen. Der ersten derartigen Unbesonnen­ heit muß man eisiges Stillschweigen

entgegensetzen

und ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken. Der Befehl, den das Kind giebt, muß sogar, wenn

er vernünftig ist, sich in eine Bitte umwandeln, um

beachtet zu werden. Alles hängt also von der Art ab, in der wir unsere Aufgabe verstehen —

und wir sind oft an

dem schuld, was uns späte Reue einträgt.

Um ein

befriedigendes Resultat zu erhalten, mußt du, liebe Leserin, die erste Forderung dadurch erfüllen, daß du

selber nie erregt oder ungeduldig bist; in Augenblicken, wo bu schlechter Laune oder empfindlich gereizt bist

(und wir haben solche Augenblicke recht oft,

weil

unsere Kraft nicht jede Prüfung besteht und wir uns von tausend Sorgen bedrückt fühlen), in solchen Augen­

blicken nun ist es besser, gar nichts zu thun, sondern zu warten, bis der regelmäßige Zustand wiederkehrt.

Wenigstens hat man das Kind dann nicht

erschreckt

oder eingeschüchtert und man hat keine Reihe von

neuen Schwierigkeiten, mit denen man noch lange

kämpfen müßte. Ich hoffe meine Leserinnen zu der Ueberzeugung gebracht zu haben, daß in den meisten Fällen Strafe und persönliche Voreingenommenheit eine wahre Plage

sind und daß die Politik der Enthaltung da ange­ bracht ist, wo man nicht ganz und gar sicher ist, ruhig

so zu handeln, daß.man Freundlichkeit und Festigkeit vereinigt.

VI. Während der ersten Jahre richtet sich das Auf­

fassungsvermögen des Kindes nur auf sinnlich wahr­

nehmbare Gegenstände; es wird nur von dem in An­

spruch genommen, was es sieht,

hört,

schmeckt.

ist

höchsten

Der Nachahmungstrieb

Maße

ausgebildet;

fühlt und

bei

ihm im

einzig vermöge dieses

Triebes lernt es gehen, lachen und sprechen.

Die

Taubstummen sind des Vermögens, einen Laut her­ vorzubringen, keineswegs beraubt, aber da bei ihnen das Trommelfell nicht vorhanden oder zufälligerweise zerstört ist, so kommen sie nicht zum Sprechen, welches

auf dem Wege der Nachahmung erlernt wird.

Sogar

bevor es spricht, bezeichnet das Kind die Tiere nach ihren charakteristischen Lauten.

Dies ist der Auf­

merksamkeit meiner Leserinnen sicher nicht entgangen, denn jedes Kind fängt damit an; immer ist es die

Nachahmung, welche es in seinem Lallen die komischen Namen erfinden läßt, die es den Dingen und Personen giebt.

Die Eigentümlichkeiten

fallen ihm auf;

es

sieht jemanden z. B. Gesichter schneiden und auf der Stelle schickt es sich an, die Grimasse nachzuahmen;

es kann sich sogar auf diese Weise entstellen und da­ her muß man auf diese kleinen Kniffe sehr wohl

achten, welche so viele Kinder einfach darum annehmen, weil sie sie gesehen haben.

Die Spiele, welche sie

erfinden, sind ein Spiegelbild dessen, was in ihrer

Umgebung vorgeht. Die Kinder eines Zimmermanns,

einer Näherin, eines Malers spielen die Beschäftigung ihrer Eltern und nichts in der Welt ist amüsanter

als zu sehen, wie die kleinen Mädchen unter sich Be­ such spielen.

Unbewußterweise liefern sie die aller­

gelungenste Parodie der Gebärden, der Redensarten und Gewohnheiten, welche sie um sich sehen.

Die Natur enthüllt sich am besten in den von den Kindern selbst erfundenen Spielen; diese zu be­

obachten ist interessant und unterrichtend.

Sie ge­

stalten durch die Stärke ihrer Einbildungskraft die gewöhnlichen Dinge in solche um, welche ihnen aus­

gefallen sind oder welche ihnen gefallen.

So setzt

sich das Kind unter einen Tisch und bildet sich ein,

auf diese Weise in einem schönen Salon oder im Schatten der Bäume zu sein und endlich glaubt es selber daran.

Ein Stock verwandelt sich ihm in ein

feuriges Roß, auf dem es selber sich als schöner Reiter brüstet;

auf diesem in seinen Augen

leibhaftigen

Renner jagt es durch Wälder, setzt es über Flüffe,

überwindet es tausend Hindernisse. Aber dazu braucht es eine gewisse Erfahrung; entweder hat es Roß und Ouroussow, Ueber erste Erziehung.

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Reiter, dem einige dieser Abenteuer widerfahren sind, gesehen oder es hat die Erzählung gehört und hält sich für ihren Helden. Allein die äußern Thatsachen prägen sich ihm ein, nicht ihr geheimer Sinn, der ihm noch lange entgehen wird. Beispielsweise habe ich ein Kind, dem ein kleiner Bruder gestorben war, ganze Monate lang sich damit unterhalten sehen/ daß es seine Puppe unter Blumen begrub, dazu in traurigem Tollfall sang und sein Gebet am Sarge dieses ge­ dachten Toten verrichtete. Offenbar war die ursprüng­ liche Erinnerung an den Lebenden beinahe vergangen, ebenso die Trauer über seinen geheimnisvollen Fortgallg, aber die Einzelheiten der Leichenfeier hatten in seiner Einbildungskraft einen solchen Eindruck hinter­ lassen, daß es unaufhörlich darauf zurückkam, wie es in jedem Falle versucht haben würde das nachzuahmen, was ihm stark aufgefallen war. Aber da ein von außen kommender Eindruck notwendig ist, um ihm die Vor­ stellung von diesem Spiel zu geben, so kann man sagen, daß es nichts erfindet, daß es sich das, was es sieht, aneignet und je stärker seine Einbildungs­ kraft ist, um so inniger wird es sich selbst mit dem Bilde verschmelzen, welches ihm gefallen hat oder von dem es erschreckt oder beschäftigt worden ist. Wenn man ein kleines Mädchen sieht, das seine Puppe mißhandelt, so kann man sicher sein, daß dies Spiel ein Ergebnis der Art und Weise ist, in der es selbst

behandelt worden ist, und da es die Puppe für eine

Person hält, so ist es in der That ein leidiger An­ blick, zu sehen, daß es eine derartige Gewohnheit an­

Von da bis zur Tierquälerei ist nur ein

nimmt.

Schritt, und wen das Leiden eines Tieres nicht be­ wegt,

der

kommt leicht

dazu,

auch

seinesgleichen

ohne Gewissensbisse zu schädigen. Abstrakte Ideen existieren in diesem Alter nicht,

sie kommen nur in der Folge einer sehr langsamen

geistigen Entwickelung.

Nicht bloß das Kind, sondern

auch der Ungebildete stellt sich jede nicht-materielle Idee in der Form vor, in der sie seinen Sinnen ent­ gegentritt.

Man denke, wie viel Jahre und Beleh­

rung wir gebraucht haben, um uns Gott anders als

den weißbärtigen Greis vorzustellen, welchen die Bil­

der darstellen, und sind wir denn wirklich vollständig

frei geworden von dieser Vorstellung des Schöpfers? Für ein Kind ist gar keine andere Idee möglich; ebenso geht es mit Engeln, Geistern und Feen; das

Volk und die Kinder stellen sie sich mit den durch die

Abbildungen verbreiteten Attributen so gut vor, daß

sie ihnen zu alten Bekannten geworden sind und sie eine sehr bestimmte Vorstellung von denselben haben, in

welcher sie weit mehr als wir über diese geheimnis­ vollen Wesen klar sind. Alles was dem Bereiche des Geheimnisses angehört, gefällt diesem Alter ungemein,

indem sich das Kind von alle dem angezogen fühlt,

wodurch es in eine unbekannte Welt versetzt wird, da es sich alles durch Bilder vergegenwärtigt. Man darf also in dieser Zeit die Einbildungskraft nicht entwickeln; man muß sich ihrer und des Nachahmungs­ triebes vielmehr bedienen, um sie auf Sachen zu lenken, welche bleibender Erinnerung wert sind. Wir können uns diesen Vorgang vorstellen, wenn wir darüber nachdenken, wie sich das Schönheitsgefühl in uns entwickelt hat. Derjenige erwirbt es am schnellsten, der es bei den Personen seiner Umgebung entwickelt vorfindet. Die ersten Eindrücke sind so stark, daß sicherlich jeder von uns den Raum genau beschreiben kann, in dem wir unsere Kindheit verlebt haben, und wenn die Zeit einmal viele merkwürdige Dinge aus unserm Gedächtnisie getilgt haben wird, werden wir von dem Sorgenstuhl aus, in den uns das Alter bannt, das Gesicht der Wärterin wieder­ sehen, welche uns beten gelehrt hat, oder das Bild an der Wand, das wir im Augenblick des Erwachens von unserm Kinderbett aus sahen. Wir werden nur einen Glockenton zu hören oder den Duft einer Blume zu riechen haben, um uns in der Kirche unseres Dorfes wiederzufinden und die geringsten Einzelheiten darin wiederzuerkennen, oder auf der Wiese, auf der wir die Frühlingsblumen suchten und hinterdrein Schelte bekamen, weil wir unsere Kleider schmutzig gemacht hatten. Die Zähigkeit dieser Eindrücke ist ein Beweis

für die überaus starke Kraft, mit der dieselben ent­ standen sind, mit) durch ihre Dauer erklären sie den

Einfluß, den sie auf unsere Art zu fühlen und zu denken ausüben. Wir wollen also gleich die ersten Jahre benutzen,

um sorgfältig dieses unbeschriebene Blatt des Kinder­ gehirns zu füllen, so daß es hohe und reine Eindrücke empfängt, die es für sein ganzes Leben trösten und erheben.

Unsere Bundesgenossen werden die Dinge

sein, welche das Kind umgeben. Der Vater des fran­

zösischen Philosophen Montaigne wollte, daß sein Sohn von klein auf nur gute Musik höre, nur dem Auge

wohlthuende Sachen sehe, und ließ ihn spielend die Hauptwiffenschaft seiner Zeit, das Latein, erlernen.

Ohne irgendwelchen Luxus und ohne große Anstren­

gungen kann in unserer Zeit die niederste Hütte dem frischen

Sinn des Kindes etwas Anziehendes und

Schönes bieten. kann jedermann

Ein paar Feldblumen und Laubwerk erreichen.

Ebenso

bietet uns der

Fortschritt der Industrie Gelegenheiten, die unseren Vorfahren unbekannt waren.

Früher brauchte man

ein großes Vermögen, um mit allem dem, was zur

Kunst gehört, vertraut zu werden.

Heute kann jeder

sein Haus füllen, nicht etwa mit den gesudelten wohl­ feilen Nachbildungen von ehedem, sondern mit den ebenso wohlfeilen Photographien, welche die Meister­

werke der Malerei genau wiedergeben.

Glücklich das

Kind, dem seine Träume die Mutter Gottes mit den Zügen einer Naphaelschen Jungfrau und die Engel in der Gestalt von Cherubim des Correggio darstellen.

Wie ganz anders läßt sich die heilige Geschichte nach diesen Meistern lernen als nach den scheußlichen bunten

Bildern, die den breiten Schichten der Bevölkerung

lieb sind und die doch nur gemacht sind, den Geschmack zu verderben.

Ich kann aus meiner eigenen Erinne­

rung eine Thatsache mitteilen, welche die Untilgbar­ keit des Eindrucks bestätigt, den die in jungen Jahren gesehenen Bilder hinterlaffen.

An den Wänden des

Zimmers, in dem sich meine ersten Jahre abspielten,

hingen eingerahmt Stiche nach Bildern der Münchner Galerie.

Ich kannte sie so gut und bewunderte sie

so sehr, daß ich mir die Scenen der biblischen oder der alten Geschichte nie anders vorstellen konnte, als

diese Bilder sie darstellten, und infolge dieses An­ schauens erkannte ich später andere Werke dieser Maler

nach meinen genauen Erinnerungen an diejenigen ihrer

Bilder, die ich doch nur im Stich gesehen hatte. Ich

möchte es thunlichst vermeiden, den Kindern Karika­ turen zu zeigen.

Sie können ihre feine Bosheit nicht

begreifen und so entwickelt die Karikatur in ihnen

nur den Geschmack an der Verzerrung, der den Sinn

für das Schöne verderben kann. Die Bücher für das

erste Kindesalter werden jetzt mit einer Sorgfalt, so­ gar mit einer Vollkommenheit des Bilderschmucks aus-

gestattet, welche alles das weit übertrifft, was wir in den Händen hatten, um unser Alphabet zu lernen. Ohne außerordentliche Ausgaben kann man den Kindern

so eine Menge von Dingen in genauer Abbildung zeigen: Tiere, Landschaften, Leben und Treiben der

Menschen in fernen Ländern, Dinge, welche ihre Neu­ gier und den Wunsch nach Belehrung erwecken. Alles, was das Kind hört, sei es das gesprochene

Wort oder die Musik, muß harmonisch sein, und so einfach die Lieder sein mögen, die an seine Ohren klingen, so muß man doch, wenn man sie ihm vor­

singt, die größte Tonrichtigkeit beobachten und niemals zu seiner Unterhaltung ihm etwas vorschreien oder

vorgröhlen. Eine Mutter, die ihrem Kinde ein Volkslied leise vorsingt, läßt ihm einen schönen und darum künst­

lerischen Eindruck zukommen, der es für immer von wildem und rohem Lärmen fernhält. Wie ganz anders

wird sich die Natur des Kindes entwickeln, welches von solcher Melodie eingewiegt wird, als desjenigen, welches

durch die Flüche eines Trunkenboldes, durch Gezänk und Schimpfreden aus dem Schlafe aufgeschreckt wird,

die um so manche Wiege laut werden!

Entweder

ist das für die Kinder ein unerträgliches Leiden oder

sie gewöhnen sich, wie das nur zu oft vorkommt, an leidenschaftliche und rohe Ausdrücke.

Dann werden

sie nie singen, sondern eine bedauerliche Freude daran haben aus vollem Halse zu schreien

und Roheiten

zu sagen. Wie man sie jur Reinlichkeit, zur Ordnung

und zu der Empfindung, daß nur da Wohlbehagen

herrscht, wo jene vorhanden sind, gewöhnen kann, so steht es auch durchaus in unserer Macht, ihm alles

das zu verleiden, was häßlich und mißtönend ist,

alles, was in anderem Zusammenhang die Unsauber­ keit darstellt.

Schreiende Farben und unharmonische

Töne sind eine Roheit für Auge und Ohr, und wer sich davon abwendet, wird immer Abneigung davor

empfinden, unter welcher Form sie ihm auch ent­ gegentrete.

Indem wir das Kind mit dem wahrhaft Schönen

vertraut machen, geben wir ihm eine ganze Erziehung, die

wir später

beinahe nicht mehr geben können.

Wenn es nur einen ganz geringen Keim von Talent hat, so erleichtern wir ihm durch diese Pflege des

Schönen die Entwickelung einer Gabe, die vielleicht die beste Mitgift seines Lebens wird.

Eine uner­

schöpfliche Hilfsquelle haben wir dabei in der Natur,

deren Mannigfaltigkeit, deren Zauber und tägliche Wunder denjenigen nicht müde werden lasten, der in ihrer Bewunderung aufgewachsen ist.

Ueberall ist sie

schön, sei es in den dürren Ebenen, sei es in der reichsten Abwechselung herrlicher Thäler. Ueberall kann

man sich am Anblick der Wolken, des Sonnenaufgangs, eines Grases, eines Käfers freuen. Ihre Erscheinungen, ihre Töne,

ihre Veränderungen werden das Kind

immer in Anspruch nehmen, besonders wenn seine

Aufmerksamkeit

auf

diese Vorgänge

gelenkt wird.

Welch reichen Schatz von Vorstellungen kann es auf­

stapeln, ehe die Schule sie ihm zuführt, und wie viel wertvoller, sie aus eigener Neigung als in mechanischer

und langweiliger Art kennen gelernt zu haben! Wer die Natur liebt, kann niemals ein stumpfer Mensch

werden, denn diese Liebe allein genügt, um ihn vor dem Niedrigen oder Gemeinen zu bewahren.

Für

den, der einen Sonnenuntergang genießen kann, der

sich aufhält, um eine Nachtigall zu hören oder eine Pflanze zu suchen, hat das Wirtshaus weit weniger Reiz als für den, dessen Augen sich nie zum An­ schauen des gestirnten Himmels erheben oder der nie

die poetische Trunkenheit eines Sommerabends ge­ fühlt hat.

Wenn wir die Macht haben, die Neigungen des Kindes in den Dingen zu

leiten, welche von den

äußeren Eindrücken seiner Umgebung abhängen, wie groß kann unser Einfluß in allem dem sein, was seinen Geist und sein Herz angeht!

Um zuerst von

dem mechanischen Gebrauch des Wortes zu reden, so kann man das Kind darauf vorbereiten, sich desselben

gut zu bedienen, wenn man selber gut spricht, d. h.

immer die klarste und knappste Ausdrucksweise für seinen Gedanken wählt — in der Regel ist das auch

die einfachste — und jede gemeine oder rohe Redens-

art vermeidet.

Darin liegt einer der Beweise für

die Notwendigkeit, das Kind mit wohlerzogenen Leuten zu umgeben.

Wenn die Umstände es erlauben, so

kann man ihm in den ersten Jahren ohne jede An­

strengung mehrere Sprachen auf einmal spielend bei­

bringen. denn es lernt sie wie ein Papagei, aber mit

einer Schnelligkeit und Geläufigkeit der Aussprache, die man im späteren Leben nicht wieder findet. So­ bald die Kinder nur die Worte verstehen, wollen sie

alle eine Geschichte erzählt haben.

Man wird ihnen

solche erzählen, welche in ihnen den Sinn für das Rechte, die Liebe zum Guten, die Bewunderung für das wahrhaft Schöne in der sittlichen Ordnung der

Dinge und in den menschlichen Handlungen erwecken.

Jesus redete in Gleichnisien zu dem Volke und das Volk ist ein große- Kind, welches auch die Geschichten und die Bilder liebt — seinem Beispiele wollen wir

folgen.

Das Jnteresie hängt von der Art der Er­

zählung ab.

Für ganz kleine Kinder muh sie kurz

und lebhaft sein, um einen Eindruck hervorzubringen.

Es bedarf keiner langatmigen Moral, sondem nur

weniger Worte, in denen der Kem der Erzählung zu Tage tritt.

Auf diese Art ist es leicht die Folgen

des Ungehorsams zu zeigen, die Befriedigung über

unterdrückte Rachlust, über hintangesetzte Selbstsucht. Wenn man selber keine Phantasie hat, so giebt es

doch Gleichnisie im Evangelium, Erzählungen aus der

biblischen Geschichte und rührende Momente der all­ gemeinen Geschichte, welche innerhalb der Fassungs­

kraft kleiner Kinder liegen.

Man kann ja den auf

einem Bilde, auf einer Photographie gewählten Gegen­ stand nehmen, um kurz und bündig seine Geschichte

zu erzählen und diese Ereignisse prägen sich dann mit zäher Haltbarkeit dem Gedächtnisse ein.

Ohne irgend

einen besonderen moralischen Zweck nimmt die Ge­

schichte von Abenteuern, von Leuten, die in schwieriger Lage das Herz auf dem rechten Flecke hatten, von Erinnerungen aus der eigenen Jugend die junge Zu­

hörerschaft immer leidenschaftlich in Anspruch.

Ich

habe mit vielem Erfolg versucht, ihr mit wenig klaren

Worten die bekanntesten Fabeln zu erzählen und sie fand offenbar großes Vergnügen daran.

An den

kleinen Ereignissen ihres täglichen Lebens kann mmi den Kindern den Sinn dieser Lehrsabeln zeigen, ob­ gleich meiner Meinung nach in diesem Alter die Ge­ schichte selber sie ganz und gar in Beschlag nimmt.

Erst später wird ihnen der Gedankeninhalt klar.

Nie­

mals darf man die Erzählung so lange ausdehnen, daß die Aufmerksamkeit erschlafft.

Endlich wollen wir immer und unter allen Um­ ständen dem Kinde das einprägen, was wir für die

Quelle des wahren Glückes halten, des Glückes, welches nicht von anderen Leuten und nicht von äußeren Um­ ständen abhängt, das man nur im Gleichgewichte der

körperlichen und der sittlichen Kräfte und durch die innere Befriedigung und Ruhe, die daraus entspringt, erreichen kann.

Es sind das einfache Wahrheiten,

aber man kann sie den Kindern nur durch zwei Mittel

einprägen, indem man die Liebe zu ihnm erweckt, d. h. indem man sie der jugendlichen Phantasie als

das Schönste und Wünschenswerteste auf der Welt dar­ stellt, und durch das Beispiel, indem man selber daran

glaubt und das, was man lehrt, hochhält. Der per­

sönlichen Einsicht und Initiative bleibt im einzelnen Fall das einzuschlagende Verfahren überlassen, darüber kann ich nur Andeutungen geben.

Meiner Ansicht

nach darf sich keine ©pur von Pedanterie des Erden­ staubes in

dieser Thätigkeit bemerkbar machen.

ES

muß vielmehr eine reine und feine Luft sein, die man

diese jungen Wesen atmen läßt, ohne daß sie es merken.

Nichts Lehrhaftes, keine Aufgabe, nichts was an den Schulmeister erinnert, niemals sie zwingen, sondern dafür das, was ihnen nützt, in anmutiger und inter­ essanter Form.

Gar oft verleidet man ihnen das ®ute, wenn man ihnen unaufhörlich vorpredigt, und das muß man doch vor allem vermeiden.

Meine Leserinnen

haben übrigens, wie ich hoffe, wohl verstanden, wie sehr das Predigen meinem innersten Gedankin zu­

wider ist, und sie werden nur das lehren, nas sie

selbst glauben und lieben; sie wiffen, wie lebhaft und

Vie Persönlichkeit des Erziehers.

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anregend man ist, wenn man von einer Sache spricht, die man wirklich mit ganzem Gemüt erfaßt hat, wie Goethe es ausspricht: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen, wenn es nicht aus der Seele dringt und mit urkräftigem Behagen die Herzen aller Hörer zwingt!

VII. Die Einfachheit des Spielzeugs ist sein wahrer

Vorzug.

Die

herkömmlichen

Bälle,

Springseile,

Schaufeln, Eimer und Bauklötze aus Holz erfreuen sich fortwährend der Gunst aller Generationen und

der Sand, aus dem man Kuchen bäckt und Festungen

baut, ist eine unerschöpfliche Fundgrube der Freuden. Die schönen Spielwaren, welche in den Schaufenstern der Verkaufsläden ausgebreitet sind, gefallen besonders

den Erwachsenen; die Kinder haben in dieser Hinsicht überraschende Neigungen, die dem Preis und dem

äußeren Anschein des Gegenstandes ganz zuwiderlaufen.

Ich habe gesehen, wie Kinder von recht reichen Leuten alles im Stich ließen, um dem Ausschneiden kleiner Papierfiguren zuzusehen, und wie sie sich darum wie um Schätze zankten.

Wenn man vor ihren Augen

einen Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs zeichnet,

so ziehen sie das schauderhafteste Gekritzel, welches sie so haben entstehen sehen, dem schönsten Bilderbuch vor.

Ein Papierdrache, der Stück für Stück unter

ihren Augen fabriziert worden ist, macht ihnen hundert­ mal mehr Vergnügen und beschäftigt sie namentlich

ungleich länger als der glänzendste Papierdrache, den

man fertig kaust.

Sie lieben das, was ein Geräusch

macht und wobei sie sich tummeln können.

Jede

Gartenschiebkarre gefüllt ihnen besser als eine schöne Kutsche; die alte Puppe ohne Kopf und Glieder wird

der Liebling einer ganzen Kindergesellschaft, während ihre eleganten und aufgeputzten Gefährtinnen in irgend einem Winkel verstauben, in dem sie ganz unbeachtet

liegen bleiben.

Oft gestalten die Kinder ein Spiel­

zeug nach ihrem Geschmack 51t einer Bestimmung um,

zu der man es sonst nie anwendet.

Je mehr ein

Kind verwöhnt wird, je mehr man teure und zierliche

Sachen im Bereich seiner Hände aufstapelt, desto

weniger spielt es überhaupt.

Das arme kleine Mädchen,

dem seine Mutter mit vieler Mühe eine Puppe für

ein paar Groschen kaust, hat daran eine dauerhafte Freude und wird sie wie einen kostbaren Schatz ver­ wahren.

Es hat Zeit genug

gehabt,

sie sich

zu

wünschen, von ihr zu träumen, und diese lange Er­ wartung umgiebt ihr teures Kleinod mit allen Schön­

heiten seiner jungen Einbildungskraft.

Im Vergleich

zu diesem Kinde kann man das reiche Kind nur be­

mitleiden.

Die

sprichwörtliche Geschichte

von dem

Kinde, das mit den schönsten Geschenken von der Welt überhäuft

wird und doch weint und schreit:

Ach, ich langweile mich so! ist buchstäblich wahr.

Ich

habe an Festtagen die Austeilung von Geschenken an

Reiche und an Arme gesehen.

Für die Reichen ist

diese unselige Manier, die Kinder mit Geschenken zu überhäufen, ein wahres Unglück. davon

Die Kinder werden

überwältigt und abgespannt und diejenigen

unter ihnen, deren Temperament zu fröhlich und leb­ haft ist, um sich von diesem Uebermaß abstumpfen zu lassen, der für ihr Gehirn ebenso schädlich ist wie

die Süßigkeiten, mit denen sie bei solcher Gelegenheit vollgepfropft werden, für ihren Magen — diese haben

von all den schönen Sachen nur ein einziges Ver­ gnügen, nämlich sie in ihre Bestandteile zu zerlegen, sie so schnell

überreizte und

als möglich zu zertrümmern.

Ihre

gleichgültige Haltung würde komisch

sein, wenn man sich des Gedankens erwehren könnte,

daß diesen Kindern unrecht gethan wird.

Den armen,

den wirklich armen Kindern giebt man einfache Spiel­

zeuge, weil sie an allem ihre Freude haben — die

Glücklichen! — in Wahrheit sagen ihre leuchtenden Augen und ihre überströmende Freude genug, um uns

von ihrem Glück zu überzeugen! Man sieht also, wie tadelnswert große Ausgaben

für Spielzeug sind.

Zur Freude oder zur Unter­

haltung der Kinder trägt diese Verschleuderung nicht

das

geringste bei.

bedauerliche Folgen.

Auf der anderen Seite hat sie Abgesehen von der Uebersät-

tigung entwickelt sie im höchsten Grade eine Selbst­ sucht, von der wir selber recht sehr durchdrungen sein

müssen,

wenn wir und solchergestalt Ausgaben ge­

statten , die das tägliche Brot von manchem unter unseren Nächsten

Später wundern

darstellen.

wir

uns, wenn wir sehen, wie die Kinder hoffärtig und

gleichgültig gegen andere nur ihrem eigenen Vergnügen nachlaufen und die Zeit mit leichtsinnigen Ausgaben

totschlagen: wen haben wir für dieses Ergebnis ver­ antwortlich zu machen?

Auf welcher Grundlage haben

wir sie erzogen, wir, die wir über Hilfsquellen, Kennt­ nisse und Mittel verfügten, um ihnen ein würdiges

und glückliches Leben zu bereiten? Von ihrer Geburt an bringen wir es ihnen bei, daß das Glück im Luxus

besteht, und die gute Natur in ihnen mag dieser Doktrin noch so sehr widerstreben, endlich wird dieselbe

doch zum Glaubenssatz.

Ganze Vermögen geben wir

ihnen unter der Form von unnützem Zeug — ein

Bild von dem, was ihnen ihr ganzes Leben lang das Wünschenswerteste scheinen wird —, das Unnütze, das

sehr teuer zu stehen kommt.

Wir bringen den Kindern

mit Gewalt die Vorstellung von der überlegenen Ge­ walt des Geldes bei, nicht des Geldes, das durch die

Arbeit erworben wird, sondern das ohne Mühe und Schwierigkeit Gott weiß woher kommt.

Unsere Unter­

weisung in der Mildthätigkeit geben wir ihnen mit den paar Pfennigen, die wir in ihre Hand legen, um

sie den Bettlern zu geben, oder indem wir ihnen er­ lauben, ihre zerbrochenen Spielsachen oder ihre abgeOuroussow, Ueber erste Erziehung.

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tragenen Kleider zu verschenken und bei dieser Ge­ legenheit schmeichlerische Danksagungen von denen ein­ zuernten, denen sie ein Almosen geben, welches sie

selbst nichts kostet.

Nein, wir wollen uns selber für

die Zukunft dieser jungen Herzen verantwortlich machen, die wir durch unsere eigenen Fehler verdorben und verblendet und denen wir niemals die Dinge in ihrem

wahren Licht gezeigt haben.

Man kann die Kinder

nicht früh genug über den wahren Wert des Geldes

belehren, dieser furchtbaren Macht, in der sich die

Arbeit und die Entbehrungen unserer gesamten Um­ gebung darstellen.

Unter diesem Gesichtspunkt muß

man sie lehren das Geld zu achten als das, was so viel, anderen den Wohlstand, ja das Leben selber er­

möglicht; wir wollen ihnen durch das eigene Beispiel

die gebieterische Pflicht zeigen, daß man sparsam mit dem Geld umgeht, sobald es sich um eine persönliche

Laune Handelt.

Kein Kind, in welcher Lage es sich

auch befinde, darf über den Wert des Geldes in Unkunde bleiben.

Kein Kind darf Almosen geben,

bis es sich die Freude des Gebens durch eine kleine

eigene Entbehrung verdient hat.

Nur auf diese Weise

kann das wahre Vorrecht des Wohlstandes und des

Reichtums gelehrt werden, daß er nämlich das Mittel ist, um viele andere glücklich zu machen.

Aber das

ist eine Belohnung, kein Verdienst und es ist nur

dann ein wahres Vergnügen, wenn man es selber

wenigstens zum Teil sich erarbeitet; so können Arme

und Reiche das unvergleichliche Vergnügen genießen, welches eine Handlung wahrer Barmherzigkeit herbei­ führt.

Wenn es sich um eine Belohnung handelte,

so hätte ich den einen wie den anderen eine Teilung

mit den Schwächeren, Verlasseneren, Unglücklicheren

vorgeschlagen.

Aber um nichts in der Welt möchte

ich das als eine verdienstvolle Handlung oder als

einen Akt der Herablassung oder als einen Anlaß

zum Lobe darstellen.

Wer kein Geld hat, kann dem

Reichen doch ebensoviel geben als er empfängt, denn von allen Lehrsätzen ist der, den wir, beinahe ohne

es zu merken, den Kindern beibringen, der falscheste

und der beklagenswerteste, daß das Vermögen eine persönliche Ueberlegenheit bedingt.

Ich weiß wohl,

daß wir in Worten, in schönen langen Reden das

Gegenteil predigen, aber unsere Handlungen, unser Leben, die Gedankenlosigkeit, mit der wir auf dieser

Grundlage die einen zum Hochmut, die anderen zum Neid erziehen, beweisen nur 311 sehr die Richtigkeit meiner Ansicht.

Ebensowenig wie teure Spielsachen machen reiche Kleider die Kinder glücklich. Ihr wahres Vergnügen

ist so angezogen zu sein, daß sie nicht an die Kleider zu denken brauchen; ihr eigener Geschmack würde also

die einfachsten, bequemsten und dauerhaftesten wählen. Wir befriedigen nur unsere eigene Eitelkeit, wenn wir

sie mit Spitzen und Tand bedecken, unter dem die

künftige Salonpuppe ihre Lehrzeit in Leichtsinn und Gefallsucht durchmacht. Weit entfernt, daß diese bar­ barische Liebe für den Aufputz bekämpft wird, sieht

man sie in allen Klassen der Gesellschaft entwickelt

unb ich bedaure sagen zu müssen, daß die Mütter, welche infolge ihrer Erziehung über diese Thorheit

erhaben sein sollten, im Gegenteil die Führerinnen dabei sind.

Und doch entwickelt diese Neigung in der

Frau im höchsten Grade den Neid und die Selbst­

sucht und bedingt ihre wahre Sklaverei.

Wir wissen

also, was es zu bedeuten hat, wenn wir dieselbe er­

mutigen.

Ganz besonders ist das Sonntagskleid zu ver­ bannen, das man den Kindern mit einer Menge Er­

mahnungen anzieht, sie möchten sich ruhig verhalten, um es nicht zu zerreißen. Ich möchte lieber, daß die

Eltern, wenn ihr Vermögen es ihnen erlaubt, ihre Kinder Tag für Tag wie kleine abgerichtete Affen

anziehen, als daß sie ihnen für einen bestimmten Tag, an dem sie sich hervorthun sollen, einen Gürtel oder ein Geschmeide vorbehalten. Wie soll man aber diese Ueberzeugung einer Mutter beibringen, die es

wie einen Schimpf betrachtet, wenn

anderer Leute

Kinder eleganter gekleidet sind als das ihre?

was für Thränen,

Und

was für Scheltscenen habe ich

schon wegen solcher Flitter gesehen! wie viel fröhliche

Spiele verdorben durch die Furcht, das Kleid könnte

beschmutzt oder zerrissen werden! Tage

Wenn ich früh am

ein kleines Mädchen feierlich spazieren gehen

sehe, wie es sich in jedem Spiegel, den es antrifft,

fröhlich beguckt, und damit später die traurige Hal­ tung desselben Kindes vergleiche, das durch die be­

ständige Anstrengung,

die

natürliche Beweglichkeit

seines Alters zurückzudrängen, etwas Gezwungenes

erhält, so kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, daß man gar nicht an das wahre Vergnügen

des Kindes gedacht hat, als man es so herausstaffierte.

Die Gefahr ist ziemlich stark, daß wir durch diesen Toilettenkram in seinem jungen Herzen

eine

recht

niedrige Regung wachrufen: den Wunsch, durch die Entfaltung dieses Luxus irgend jemand in den Schatten zu stellen.

Die verächtlichen oder neidischen Blicke,

welche ans solchen Kinderaugen auf die Kleidung der

Altersgenossen geworfen werden, haben mich oft be­

schäftigt. — Schon! sagte ich mir.

Wenn man ein Kind an Ordnung gewöhnt hat, was man auch gleich von Anfang an thun muß, indem man das Kind lehrt seine Sachen immer selbst in

Ordnung zu bringen, so wird es sicherlich aus freien

Stücken seine Kleider nicht beschmutzen oder zerreißen, und wenn es die Reinlichkeit liebt, wird es ihm un­ angenehm sein, sie befleckt zu sehen.

Wir wollen ihm

also niemals erlauben, mit schmutzigen Händen oder

mit zerzaustem Haar oder mit Schmutz bespritzt in

unsere Nähe zu kommen; wenn es uns lieb hat, wird es die Dinge vermeiden, die es von unserer Gesell­

schaft fernhalten und die uns unangenehm sind.

Aber Spielzeug, Kleider und alles, was zu dem Kinde in Beziehung steht, muß ohne alle Neben­

gedanken lediglich Gegenstand des Bedürfnisies, der

Bequemlichkeit oder des Vergnügens sein.

Von dem

wahren Luxus habe ich oben gesprochen, der in Lust,

Reinlichkeit, Bewegungsfreiheit, Nahrung nügender Wärme besteht.

So reichlich

und ge­ man dem

Kinde diesen Luxus auch geben mag, so wird es doch

darum niemals eitel werden, denn diese so kleinliche Regung kommt nur von den Dingen, die seine kleine

Person besonders angehen. Um sich in dieser ernsten Frage nicht zll täuschen, muß man wisien, was man für seine Kinder wünscht.

Es kann dabei keine doppelte Moral, keinen doppel­ ten Weg geben. Von beti ersten Schritten an werden sie in die eine oder die andere Richtung gebracht.

Ost habe ich die bittere Täuschung wohlmeinender Eltern erlebt, welche naiv gestanden, daß trotz aller

ihrer Erziehung ihr Kind gerade das Gegenteil ihrer

Absichten geworden sei. ziehung" denken.

Ich kann mir diese „Er­

Weyn das Kind 15 oder 16 Jahre

alt geworden ist, werden sie wohl, vor Schrecken

über seine Eitelkeit, seine Selbstsucht, seine Nichtigkeit,

heftig gegen das zu Felde gezogen sein, was sie selbst ermutigt hatten.

Predigten und sogar Strafen wer­

den sie dann nicht gespart haben.

Aber wie war

denn die Aussaat beschaffen, aus der ein hochsinniges,

hingebendes,

liebevolles Wesen

hervorgehen sollte?

Was hat man denn das Kind gelehrt höher als alles zu schätzen?

Was hat man ihm denn gezeigt als

Ziel für all sein Streben?

Darum Minute ab.

also

keine Täuschung

von

der ersten

Was ist besser, Selbstsucht, Eitelkeit,

Herzenshärtigkeit, oder Hochsinn, Hingebung, Liebe? Welcher von diesen beiden so verschiedenen Wegen ist

der Weg zum Glück?

Darüber muß jeder, der sich

mit Kindern beschäftigt, ernsthaft nachdenken, ehe er

diese Aufgabe unternimmt, und man muß in dieser Hinsicht einen unwiderruflichen Entschluß fassen, denn man

kann später das nicht wieder zerstören, was

man von Anfang an gebaut hat.

Gar schnell ist die

Saat eingesenkt und trägt Samen.

Ich für meinen

Teil, überzeugt wie ich bin, daß der mindest Selbst­

süchtige oder Eitle die meisten Aussichten auf Glück hat, halte es für meine Pflicht, meine Leserinnen auf

die Wichtigkeit ihrer Entscheidung hinzuweisen.

Aber

man darf sich keiner Täuschung über die rings um

uns

herrschende Stimmung

Arme,

hingeben;

Reiche und

sie unterliegen alle der Möglichkeit dieses

Irrtums.

Man unterstützt durch die Wertschätzung,

welche man vor den Augen des Kindes den äußern Zeichen des Reichtums beimißt, die Begehrlichkeit und die Eitelkeit.

Das Kind fängt also an, falsch über

diese Dinge zu denken und doch kommt es darauf an,

richtig zu denken.

Nur wenn es die Dinge ihrem

wahren Werte nach schätzt, d. h. insoweit sie zur Her­ stellung des inneren Glückes beitragen, wird es künftig

einmal, was auch sonst seine Lage sein mag, zu der unvergänglichen und glorreichen Schar der Diener

der Wahrheit zählen, welche jetzt und immerdar stärker

sind als alle andern. Statt also dem Kinde zu gestatten, daß es alle seine Vorstellungen auf sich selber, seine Neigungen und seine Launen konzentriert, wollen wir es sobald

als möglich für seine Umgebung interessieren, welche

so viel Leute ihr ganzes Leben lang weder bemerken

noch kennen.

Während der schönen Jahreszeit wird

es mit Vergnügen graben, jäten und pflanzen, aber während der ersten Jahre ohne große Ausdauer, denn es vergißt den Zweck seiner Arbeit und möchte Ab­

wechselung haben.

Man muß es nun nicht zwingen

eine Beschäftigung fortzusetzen, welche es langweilt; es sucht infolge der Beweglichkeit des Leibes und der Eindrücke Neues. Indessen kann es vom fünften Jahre

an genug Interesse für eine Sache haben, um eine

Pflanze zu pflegen und sich in dem Gedanken zu freuen, daß es ihre Entwickelung gefördert habe.

Aber die allerbeste Unterhaltung sind gemein­ schaftliche Spiele.

Eine Kinderschar, die dem eigenen

Beginnen überlassen ist, bietet Gelegenheit zu dem anregendsten Studium.

Da enthüllt sich Geschmack,

Neigung, Fähigkeit eines jeden und unter ihnen sieht man immer eines, welches den Ton angiebt; ihm ge­

horchen alle übrigen und zwar ist es das Klügste, dem dieses Los bei der Teilung zufällt.

Niemals

erlangt es diesen Einfluß durch körperliche Stärke,

denn von der Wiege an gehorcht der Mensch instinkt­ mäßig der geistigen Ueberlegenheit. Der kleine Däum­

ling ist ein anmutiges Beispiel für dieses Gesetz. Wie oft habe ich mich über die Geschicklichkeit gefreut,

mit welcher das Klügste sich der Leitung der andern bemächtigt,

sie in Anspruch

nimmt und befehligt.

Diese Spiele sind der Beweis dafür, daß die Men­ schen von Natur in Herrschende und Gehorchende zer­

fallen.

Es giebt keine Gleichheit unter uns, was

man auch darüber träumen möge, und der Kinder­

staat ist der einzige, welcher sein Oberhaupt nach der

einzigen wahren Ueberlegenheit wählt, der des Cha­ rakters.

Denn unter den Begabten findet immer

noch der den meisten Gehorsam, der sich selbst am

besten beherrscht.

Das Kind, welches gleichgültig ist

gegen Neckerei, welches ohne Furcht oder Berechnung die Wahrheit sagt, welches eine Regung des Zorns zu unterdrücken und leicht nachzugeben versteht, weil

es den für seine Altersgenossen schrecklichen Dingen keinen Wert bewußt, das Kind endlich, welches sich

selbst vergißt, um den andern zu helfen oder sie zu erheitern, das wird immer von den Kameraden ge­

achtet.

Diese Achtung ist der Beweis eines uns an­

geborenen Gerechtigkeitssinnes. Die künstlichen Kastenund Standesunterschiede können verschwinden, — diese

Ueberlegenheit wird immer von allen anerkannt.

Es

braucht uns nicht allzusehr zu kränken, wenn das

Kind, für welches wir uns persönlich interessieren, sich unter den Gehorchenden befindet. Das ist bester,

als wenn wir es voll Neid sich absondern sehen aus Aerger darüber, daß es nicht den ersten Platz hat. Das Kind ist verständig; der unanfechtbare Beweis

dafür ist, daß es sich durch einen Ueberlegenen leiten laßt, ohne ihm böse zu werden.

Wenn uns ein Kind schwach begabt scheint, wollen wir uns sehr hüten, es dumm zu nennen; wir wollen es vielmehr für jede kleine Anstrengung loben, denn

das Lob wird zu seiner Entwickelung dienlicher sein, als alle tadelnden Bemerkungen, die wir ihm im

Aerger über seine Beschränktheit machen.

Zunächst

kommt ein etwas schüchternes Kind uns andern, die

wir nicht misten, was in ihm vorgeht, oft viel thö­ richter vor als es in Wirklichkeit ist; wenn es sodann bemerkt, daß man es für dumm hält, so wächst seine

Schüchternheit,

denn es ahnt seine Schwäche und

steigert sie sogar oft.

Das kann eine Quelle wahr­

hafter Leiden werden und seine Entwickelung wirklich

aufhalten, indem es verschlosien und still wird.

An

ein solches Kind muß man also Ermutigungen wen­ den, denn alles, was man von einem fordern kann,

ist eine Anstrengung und für den einen ist es ebenso­

viel Verdienst, daß er lesen lernt, wie für den andern, daß er Schwierigkeiten spielend überwindet.

Reich­

begabte Kinder bedürfen der Ermutigung weit weniger.

Jedermann spendet sie ihnen und fügt ihnen großen

Schaden zu, wenn er über die Beweise ihres Witzes

oder Talentes in Verzückung gerät.

Diese unver­

ständigen Lobeserhebungen hindern ihre Entwickelung

durch die Eitelkeit, deren Weihrauchwolken ihnen den

Kopf benebeln, der selbst beim Erwachsenen noch von

Komplimenten eingenommen wird.

Im allgemeinen

ist nichts unheilvoller als Bemerkungen über Häß­ lichkeit und Dummheit, über Schönheit und Klugheit der Kinder.

Nur über das, was der persönlichen

Initiative entstammt, braucht es der Bemerkungen; sie sind ganz und gar zu vermeiden, wenn sie sich auf Dinge beziehen, die so sehr vom Willen des Kindes unabhängig sind, wie physische und geistige

Beschaffenheit. Sie veranlassen das Kind sich zu sehr

mit sich selber zu beschäftigen und machen ein Ver­ dienst oder ein Verbrechen aus rein zufälligen Dingen;

im Gegenteil muß man das Kind gerade mit allem

dem beschäftigen, waS es von sich selber abziehen

Durch anerkennende

kann.

oder mißbilligende Be­

merkungen entwickeln wir die Ansprüche der einen

oder die krankhaften Vorurteile der andern.

Ich hege die feste Ueberzeugung, daß jeder von uns in That und Wahrheit nur unter dem leidet, was ihn persönlich berührt.

Alles was darüber hin-

allsgeht, kann ihn erregen und in Anspruch nehmen, aber wird bei ihm niemals Gefühle der Bitterkeit

oder der Eitelkeit erregen. Möglichkeit des Glückes:

Tarin liegt eine reiche

laßt uns in diesem Sinne

arbeiten.

Wenn man nun auch den gemeinsamen Spielen die möglichste Freiheit läßt, so darf man doch nie­

mals kleinere Kinder allein lassen, denn selbst wenn die Roheit ganz

dem Spiele bleibt, könnten sie

doch unwissentlich den Kleinen oder Schwachen einen Schaden zufügen.

nicht einmischen.

Darüber hinaus dürfen wir uns

Ich finde es äußerst anziehend, die

Verschiedenheit ihrer Charaktere in ihren wechselseiti­ gen Beziehungen und sogar in ihren kindischen Ge­

sprächen zu verfolgen.

Man kann darin schreckliche

Wahrheiten für ihre Erzieher entdecken und wird oft

über die Stärke des Gedächtnisses erstaunt sein, mit welcher sie das in ihrer Gegenwart Gesagte festhalten,

wenn man gar nicht daran dachte, daß sie ganz Ohr waren.

Also Vorsicht, in dem was wir sagen, und

Zurückhaltung.

125

wenn wir dann ein unwiderstehliches Bedürfnis zu klatschen, andere durchzuhecheln oder Thorheiten zu sagen haben, so wollen wir es wenigstens an einem Orte thun, wo uns die Kinder nicht hören. Dieser Nat ist auf eine sichere Vertrautheit mit dem Gehör und dem Gedächtnis dieser lieben Kleinen begründet.

VIII. Wenn mir der Nachweis gelungen ist, daß die

ersten erziehlichen Elemente in der Umgebung des Kindes und nicht etwa in einem eigentlichen Unter­ richt liegen, so wird man anerkennen, daß die Er­

ziehung von der Wiege an beginnt und daß sie allen

Kindern notwendig ist, während der höhere Schul­ unterricht keineswegs jedermanns Sache ist.

Die Er­

ziehung muß in gewissem Sinne beinahe vollendet

sein, wenn die Schularbeiten beginnen.

Nicht die

Schulstudien bilden die Gesundheit des Leibes oder

den Charakter; wenn der Boden, auf welchen sie ge­ pflanzt werden, nicht vorbereitet ist, so sind sie nutz­ los und können sogar gefährlich werden, wie etwa

ein unrichtig angewendetes Heilmittel oder ein spitzes Messer in den Händen eines Kindes gefährlich werden kann.

Sehr mit Unrecht wendet man also die Be­

zeichnung „Erziehungsperiode" auf die auf den Schul­

bänken zugebrachte Zeit an.

Dafür ist Unterrichtszeit

die rechte Benennung; die Kinderstube macht aus

dieser Unterrichtszeit eine Wohlthat oder ein Uebel.

Erziehung und Unterricht.

127

Ein Beweis dafür liegt darin, daß in der ganzen

Welt die heftigen Umstürzler meist unterrichtete, bis­ weilen sogar gelehrte Leute sind, aber Leute ohne

Erziehung, und unter den ärmsten Proletariern können die im Besitze einer gewissen Schulbildung befindlichen

am allerschwersten ihr Brot verdienen; das sind die

Leute, unter denen sich der Selbstmord oder die Ent­ mutigung die meisten Opfer holt. Von Anfang an wollen wir also dem Unterricht

nicht etwa einen Wert beimessen, den er an und für

sich nicht besitzt; er wird ein kostbares Werkzeug zu Kraft und Unabhängigkeit für denjenigen, dem eine vernünftige Erziehung das rechte Gleichmaß verliehen

hat.'

Durch die Erziehung gilt es also das Kind so

vorzubereiten, daß der Unterricht nicht zu einer Jagd nach dem ersten Platz in der Klasse oder in der Prü­

fung wird, sondern zn einer Quelle der Genugthuung, zu einer wahren Erleuchtung und Hilfe in den Auf­

gaben,

welche das Leben stellt.

Maschinenmäßiger

Unterricht ist eine fruchtlose, erschlaffende und ab­ stoßende Arbeit.

Und doch wird er in den Anfangs­

jahren meistenteils so geübt.

auf der Hand.

Der Grund dafür liegt

Die Schulstudien beginnen für die

Kinder im allgemeinen zu früh.

Vor der Zeit über­

häuft man sie mit einer Menge von Begriffen, die sich untereinander verwirren, weil keiner ganz ver­ standen- wird, und

die Gehirnarbeit übersteigt bei

weitem die Fähigkeit dieses zarten Organs, dem man keine Zeit läßt, sich in regelmäßigem Fortschritt zu

entwickeln.

Diese Hast kommt daher, daß man weder

Zeit noch Mittel zu langsamem Verfahren besitzt,

und in der zwingenden Eile, mit der man das Kind zum Einschlagen einer Laufbahn befähigen muß, über­ häuft man es in der möglichst kurzen Zeit mit mög­

lichst vielen Dingen. Nur in folgenden Fällen, scheint es mir, dürfen

die Eltern für ihre Kinder an höheren Unterricht denken: Erstens, wenn ihre Mittel ihnen erlauben,

die Schularbeit auf längere Zeit zu verteilen und

das Kind durch eine

gleichmäßige und stufenweise

fortschreitende Entwickelung seiner leiblichen, geistigen

und sittlichen Kräfte darauf

vorzubereiten.

Diese

Kräfte sind so untrennbar verbunden, daß man die eine nicht ausschließlich pflegen kann, ohne den an­

dern zu schaden.

Sodann wenn ein Kind auffallend

begabt ist, aus eigenem Antriebe und mit Lust ar­ beitet und sich stark von der Arbeit angezogen fühlt. Die

höhere Begabung überwindet alle Hindernisie,

die Geschichte der großen Männer beweist es uns. Man rede also nicht von Ausnahmsfällen, wie die

der genialen Menschen, vielmehr giebt es glücklicher­ weise oft starke und thätige Naturen, denen die gei­ stige Arbeit eine Freude ist und mehr als jede andere

paßt.

Die muß man kühnlich dazu ermutigen.

Die schwächeren Naturen, welche das Studium ermüdet und langweilt, dazu zu zwingen, scheint mir unvernünftig. Ihre Trägheit ist der natürliche Widerstand eines für die zugemutete Arbeit zu schwachen Menschen. Für diese ist die Stärkung der geistigen Kraft erste Pflicht, und zwar bedarf es dabei der Milde und der Geduld, denn alle mit Gewalt ver­ suchten Aenderungen könnten nur ihre Abneigung gegen die Arbeit vermehren. Dauert diese Unlust zum Schulstudium an, so gilt es den Versuch, die natürliche Fähigkeit des Kindes zu entdecken; jedes hat die seine; welche es auch sei, man tafle das Kind ihr folgen. Keine Art der Arbeit ist an sich ehren­ rührig. In unserem kurzen Leben kommt es darauf an, das, was man thut, gut zu. thun und vor allen Dingen nicht müßig zu gehen. Alles andre ist Vor­ urteil, Eigenliebe der Eltern, und wenn man die Ab­ sicht hat, damit das Glück eines Menschen zu machen, so endet es, fürchte ich, mit einer Niederlage. Ich bin überzeugt, daß, wenn sich angesichts der allge­ mein in diesem Sinne bei uns herrschenden Bewe­ gung der Wunsch nach ernsthafter geistiger Arbeit bei einem Kinde nicht in gewissem Alter sich regt, der Beweis für eine vollständige Unfähigkeit in dieser Hinsicht gegeben ist unb infolgedessen der Beweis für eine natürliche Schwäche, die schwer beseitigt werden kann. Wer keine Fähigkeiten für eine bestimmte ArOuroussow, Neber erste Erziehung.

9

beit hat, den machen auch die glänzendsten Examina nicht zu einem Menschen, der das ihm Beigebrachte zu verwerten weiß. Den Beweis dafür sehen wir in der überaus großen Zahl von Leuten der höheren Stände, die nach langen Studien auf Schulen und Universitäten doch, sobald sie einmal von dort weg­ kommen, Müßiggänger im vollsten Sinne des Wortes werden, die Zeit im Kartellspiel, an der Roulette, auf der Jagd totschlagen. Man fragt sich in der That, warum man sie in der Jugend so sehr gequält hat, um Dinge zu lernen, die ihnen nie irgend etwas nützen. Die Mannigfaltigkeit der Individuen ist so groß, daß es unmöglich ist, allgemein das Alter festzusetzen, in welchem man mit den Schlllstudien beginnen kann. Ein Aufschub ist in dieser Hinsicht kein Unglück, jeden­ falls ist er weit weniger nachteilig als nnzeitige Hast. Selbst bei einem begabtell Kinde ist es ein Fehler, seine glückliche Leichtigkeit zu Studien zu benutzen, die über den Bereich seines Alters hinausgehen. In seiner Selbstbiographie erzählt John Stuart Mill, einer der größten Geister dieses Jahrhunderts, wie fehl Vater die frühreifen Talente des Knaben be­ nutzte, um ihn vom dritten oder vierten Jahre an Griechisch und Lateinisch lernen zu lasten und ihn in einem Alter, in welchem andere ihre ersten Wörter buchstabieren, zu einem Wunder des Mistens machte;

ausnahmsweise haben seine späteren Studien nicht darunter gelitten, der reife Mann hielt, was der

Knabe versprochen hatte, aber über seinem ganzen Leben lag ein Schatten, weil er keine Kindheit ge­ kannt hatte; er erinnerte sich dieser Zeit nur mit

Trauer und Unlust, er war nicht glücklich.

Sogar

in diesem Ausnahmsfalle sieht man, wie sehr Glück und Gleichgewicht seines Wesens von dieser gezwun­

genen Bildung beeinträchtigt wurden, die nur schein­ bar keine nachteiligen Folgen hatte: für gewöhnliche Köpfe wäre Krankheit oder Wahnsinn die Folge da­

von gewesen.

Wunderkinder sind allgemein

dafür

bekannt, daß sie mittelmäßige Männer werden oder jung sterben.

Wer weiß, ob Mozart den Uebeln,

denen er leider so früh unterlag, nicht besser wider­

standen hätte, wenn er in seiner Jugend die Abende nicht damit verbracht hätte, seine Zuhörer in den

Salons zu bezaubern und in Erstaunen zu setzen.

Zwar schien ihm alles leicht, aber diese Ueberan-

firengung war an sich seiner Lebenskraft schädlich, denn in dem Alter, wo alles sich kräftigen muß, wo sich der . Vorgang des Wachstums vollzieht, welcher

einen großen Teil der später nur zur Erhaltung des Organismus verwendeten Kräfte in Anspruch nimmt, in diesem Alter verbrauchte er mehr Lebenskraft, als

er erwarb.

Nahrung, Schlaf und Ruhe sind wäh­

rend der Zeit,

in

der

die Natur

alles

für

die

leibliche Entwickelung fordert, in größerer Dosis er­

forderlich. Wenn man sich gegenüber so ausnahmsweise be­ gabten Personen, wie die eben erwähnten, fragt, was

für sie die schweren Folgen einer verfrühten Arbeit gewesen sind, wie sehr wird man da in gewöhnlichen

Fällen, in denen das Lernen große Mühe und An­ strengung kostet, fürchten müssen, ein Kind zu über­

bürden!

Deswegen muß man die Persönlichkeit gut

kennen und sich darauf beschränken, das Gehirn nie­ mals zu ermüden und nie etwas maschinenmäßig zu lehren.

Ein gut verstandener, und wohl durchdachter

Gedanke bringt als überraschendes Ergebnis die Leich­ tigkeit weiteren Denkens hervor, wenn er auch selber

gar lange Zeit gekostet hat.

Wenn man über die

Zukunft eines KindeS noch keinen Entschluß gefaßt hat, so wird man es nach seinen natürlichen Nei­

gungen arbeiten lassen.

Man kann die Kräfte, welche

die Natur ihm gegeben hat, ersticken und wäre doch nicht im stände, ihm Ersatz zu schaffen, ebenso wie

man einen Menschen töten,

aber der Höhe seines

Wuchses nicht einen Zoll zusetzen kann.

Ehe wir also von künftigen Schulerfolgen träu­ men, wollen wir lieber an allgemein nötige Dinge denken.

Wie sich auch die Zukunft des Kindes ge­

staltet, ob es Gelehrter, Arbeiter, Künstler, Land­ mann u. s. w. wird, so braucht es für künftiges Ge-

lingen im Leben die möglichste Entwickelung seiner Glieder, seiner Denkthätigkeit, seiner Geschicklichkeit

Dazu kann die ganze Zeit seiner

und seiner Kräfte.

ersten Jahre ausgenützt werden; das übrige hat ge­

ringere Bedeutung.

Alle Leibesübungen sind vor­

trefflich und sollten bis zum zehnten Lebensjahre, wo­ möglich noch darüber hinaus, bei Knaben und Mäd­ chen den größten Teil der Zeit in Anspruch nehmen.

Mit vollem Rechte wachten die Griechen, so wie sie

thaten, darüber, daß ihre Jugend in Kämpfen, Reigen­ tänzen, Geschicklichkeitsspielcn und Uebungen aller Art

erstarkte.

Besonders nützlich sind die Uebungen, welche

die Brust entwickeln.

Uebungen, bei denen man in

Hockstellung bleibt, sind zu vermeiden.

Schwimmen,

Rudern, Klettern, Tischlerei, Feldarbeit, Hausarbeit, wie Fegen, Bettenmachen u. s. w. entwickeln, sobald es sich nicht um das Heben schwerer Lasten handelt,

die Beweglichkeit und Gelenkigkeit und sind für jeder­ mann erreichbar,

während Reiten und Fechten ein

kostspieliger Zeitvertreib und nur für den Reichen da sind.

Davon

wollen wir also

nicht sprechen, die

besten Mittel sind immer noch die, welche in jeder­

manns Bereich liegen.

Ich möchte von jedem Kinde,

in welcher Lebenslage es auch geboren sein mag, for­

dern, daß es jeden Morgen sein Bett und seine Stube

selbst zurecht macht; das ist zugleich eine Gewöhnung zur Ordnung und eine notwendige Uebung für die

Muskeln, und indem wir das Kind gewöhnen, sich selber zu bedienen, verleihen wir ihm eine bedeutende

Selbständigkeit, welche ihm gestatten wird, sich in den

Wechselfällen des Lebens leicht zu bewegen. Wenig­

stens wird Reinlichkeit und Bequemlichkeit seines Lebens nicht mehr von der Gnade eines Dienstboten

abhängen, den man doch nicht immer bei der Hand

haben kann. Unter den Spielen dienen Wettlauf, Ballspiel und Federball demselben Zweck. Die Geschicktesten, die, welche sich ihrer zehn Finger gut bedienen, wer­

den auch in jeder Hinsicht die besten Arbeiter abgeben und am fleißigsten sich bemühen. Man beachte- daß die Geschicklichkeit zugleich ein Zeichen von Intelligenz ist; die rohe Kraft verhilft nicht dazu. Bis zu welcher wunderbaren Gelenkigkeit kommen nicht die Leute, die ihren Lebensunterhalt als Akrobaten, Jockeys oder Tänzer verdienen wollen. Die tägliche Schulung, früh begonnen, verleiht diesen Leuten die Gabe, mit Leichtigkeit Dinge zu thun, welche uns wunderbar er scheinen. Für wichtiger als alle Studien möchte ich die höchstmögliche Entfaltung der Gelenkigkeit, Be­

weglichkeit und Geschicklichkeit halten und jedermann sollte die tausend Hilfsmittel kennen, die wir in unsern Gliedern und unsern Muskeln besitzen, um einer Gefahr zu entgehen und der in unserem Be­ reich liegenden Gelegenheit uns zu bedienen. Des-

wegen braucht man weder zu quälen noch zu schelten.

Um diese Dinge zu lehren, bedarf es einer großen Dosis Geduld und beständiger Wiederholung

selben Sache.

der­

daher jedes Kind vor

Ich möchte

seinem siebenten Jahre daran gewöhnt wissen, auf einem Seile zu gehen, sich ohne Furcht am Seil aus einem Fenster oder von einem Dach herabzulassen,

auf das erste beste Pferd zu springen, eine Halfter überzuwerfen, kurz, seinen

Körper

dahin

zu

ent­

wickeln, daß es den Gefahren, welche im Gefolge der Schwerfälligkeit

und

Ungeschicklichkeit kommen,

viel weniger ausgesetzt ist. Der erste Pädagog müßte

also ein

dem

Clown sein.

Wort.

Wieviel

Man

ärgere

Unfälle

sich

würden

werden, wenn man dem Worte folgte.

nicht

an

vermieden Und wenn

man dem Kinde zu gleicher Zeit die beste der Vor­

bereitungen zu jeder künftig 311 wählenden Laufbahn geben will, so lehre man cd seine fünf Sinne recht zu gebrauchen. Beim ersten Anblick scheint das ein Scherz, denn

man wird mir einwerfen, jedermann sieht, hört, schmeckt und fühlt, ohne einen besondern Unterricht dazu nötig

zu haben.

Sicherlich bedient sich jeder seiner Sinnes­

organe, aber sehr wenige bedienen sich derselben wie Menschen, welche vor dem Tier die Vernunft voraus­ haben, die diesen Sinnen eine Kraft verleiht, von

welcher man sich kaum eine Vorstellung macht und

welche ihre vollständige Anwendung gestattet.

Man

sagt, eine geistig wohl begabte Person hat einen rich­ tigen Blick, d. h. in ihrem Geiste vollzieht sich rasch

die Berechnung des Verhältnisies zwischen dem, was existiert und dem, was scheinbar in ihrer Umgebung vorhanden ist. Für den einen geht alles unbeachtet vorüber, für den andern ist alles Anlaß zum Nach­ denken und diesen letzteren nennen wir ein Genie; Leute dieser Art haben die Beobachtungsfähigkeil über die gewöhnlichen Grenzen hinaus entwickelt und haben so eine Menge Dinge entdeckt, welche zwar schon be­

standen, für die sie aber doch die Schöpfer geworden

sind, weil sie diese Dinge durch die Kraft ihres Ge­ dankens angeschaut haben. Es giebt also zwei Arten, sich seiner Sinneswerkzeuge zu bedienen, die eine, rein tierisch, ist. am weitesten verbreitet, die andere Art, welche sich des menschlichen Vorrechtes des Gedankens bedient und damit in den Erscheinungen der uns um­ gebenden Welt das feste Gesetz, den inneren Sinn, den philosophischen Zusammenhang, wenn man will, erkennt, ist die richtige. In ihrer Ausbreitung und Verallgemeinerung wird sie das, was wir Zivilisation neunen. Je weniger der Mensch gebildet ist, um so mehr sieht er bloß den äußeren Anschein der Dinge, nicht ihr wahres Wesen. So ist es noch gar nicht so lange her, daß man die Erde für den unbeweg­ lichen Mittelpunkt des Raumes hielt, um den das

Himmelsgewölbe mit seinen Sternen sich drehe; so hatten die Erde alle menschlichen Augen angeschaut, die in ihrer Bildung und ihrem Vermögen denen des

Galilei ähnlich waren, und doch ist erst dieser durch die vernunftgemäße Erwägung des von seinen Sinnen

Angeschauten zur Wahrheit über die Erdbewegung

gelangt.

Alle Tage können wir uns überzeugen, wie

wenig wir uns auf unsere Sinne verlassen können.

Unser Auge hat den Eindruck, als ob die Landschaft

vor ihm fliehe, wenn wir in

einem Eisenbahnzug

fahren; wir wissen, daß es nicht so ist, aber wir wissen

es durch den Gedanken, nicht durch das Gesicht.

Von

allen Sinnen dient dieser am meisten zur Entwicke­ lung des Beobachtnngsvermögens; er ist den andern so gar sehr überlegen, daß wir die Leistungsfähigkeit

derselben erst dann erkennen, wenn wir uns mit Blinden

beschäftigen.

Durch die Beobachtung der letzteren er­

kennen wir, welche Menge von Dingen das Gehör

und der Tastsinn uns enthüllen können und ich halte eS für sehr nötig, diese Hilfstruppen nicht zu ver­

nachlässigen.

Die Beobachtungsgabe wird in gewisien

Klaffen erblich so weit entwickelt, daß sie einen wirk­ lichen Unterschied in der Summe der Fähigkeiten dieser Leute im Vergleich zu den in anderer Lage geborenen

darstellt.

So werden ungebildete Leute selbst im reifen

Alter ein Porträt nicht erkennen können, während ein von einsichtigen Eltern abstammendes kleines Kind

ohne Zaudern die dargestellte Person nennt.

Um

also die Beobachtungsgabe des Kindes zu entwickeln, wollen wir seine Sinne an alle dem, was es umgiebt, üben und wollen seine Aufmerksamkeit beständig

hinlenken auf das, was cs sieht und hört, zuerst in der Natur, dann in Industrie imb Kunst.

Ein Kind,

welches die Tageszeit an der Richtung oder der Länge

der Schatten erkennt, welches einen Vogel an seinem Schrei leicht von einem andern unterscheidet, welches

Früchte und Pilze an Zeichen, die es hat beobachten müssen, erkennt, hat sich sicher gewöhnt, nicht bloß

einen leeren und zerstreuten Blick über die Dinge gleiten zu lassen, wie es so viele Leute thun, welche

unfähig sind, von ihren Sinnen einen vernünftigen

Gebrauch zu machen. Nichts hilft der Entwickelung des Ohres und des

Auges so sehr wie Musik- und Zeichenunterricht. erscheint mir unentbehrlich für jedes Kind.

Er

Beson­

ders die Musik kann sehr früh und ohne jede An­ strengung, beinahe spielend begonnen werden.

Man

müßte gleichzeitig eine Taste auf dem Klavier an­

schlagen, den Ton singen lassen und die Note auf

eine mit Systemen versehene große Wandtafel schrei­ ben; das Kind wird unmittelbar die Note singen. Man schreibt dann die anderen dazu, aber so, daß

man sie jedesmal anschlägt und singt, so daß der Name der Note nie eine leere Bezeichnung bleibt,

sondern wirklich einen bestimmten Ton darstellt. Nach und nach würde man so alle Tonzeichen vorführen,

indem man auf dem Instrument den Ton begleitet, aber immer das Ohr zwingt, die Töne zu unterschei­ den.

Mit dieser Uebung würde ich sehr früh an­

fangen, ein oder zwei Jahre, ehe man sich an das Klavier giebt, denn der Hauptpunkt für die musika­ lische Erziehung ist die Feinheit des Gehörs, desien

Beobachtungsfähigkeit man auf diese Weise übt.

Es

giebt kaum ein Ohr, welches sich gegen diese Unter­

scheidungen unbedingt widerspenstig verhielte; es ist also sehr selten, daß ein Organ mit unüberwindlichem

Fehler vorkäme.

Singen ist uns

ebenso

natürlich

wie Sprechen und (ms irgend eine Weise wendet ein

jeder diese Fähigkeit

an, oft allerdings nur zum

Schreien, Gröhlen und Schimpfen.

Ganze Völker

singen richtig, andere stoßen nur unzusammenhängen­ des Geschrei aus.

Diese Verschiedenheit im Gebrauch

derselben Organe wird nicht durch einen Unterschied der körperlichen Organisation hervorgebracht; es treten

darin ererbte Gewohnheiten zu Tage, was man von frühester Jugend an gehört hat, das nimmt man un­

willkürlich

an.

Die

oben

dargestellte

planmäßige

Unterweisung im Gesang weicht von dem in unseren

Tagen, so weit verbreiteten Klavierunterricht vollstän­ dig ab, den man oft erteilt, ohne die geringste Vor­

stellung von dem Wesen der Musik zu geben.

Ein

Kind antwortet wie ein Papagei:

„Musik ist die

Kunst, die Töne in Beziehung zu einander zu setzen," weil es das aus seinem Buche gelernt hat, aber eS

wird möglicherweise viele Stücke heruntertrommeln,

ohne sich über den Sinn dieses Satzes klar zu wer­ den.

Dagegen kommt es bei dem oben angedeuteten

einfachen Verfahren zum Unterricht im Notenlesen

von selber zur Verbindung der Töne, weil es weiß, was ein Ton im Verhältnis zum andern ist.

Je

härter dem Menschen das Leben wird, um so mehr

wird er Trost in einen: bißchen Musik finden.

Freude

an der Musik ist für die breiten Schichten eine vor­

treffliche Sache und kann sie von Trunk und Spiel abhallen, den beiden Abgründen, welche die Ersparnisse

des armen Arbeiters verschlingen.

Schon in frühem

Alter kann man die Kinder an Chorsingen gewöhnen und ich möchte gern in jedem Dorf und jedem Stadt­ viertel Kindergesangvereine entstehen sehen, in denen ohne irgend welche politische oder dergleichen Absicht

ein Freundschaftsband sich um die Teilnehmer aus allen Ständen schlänge. Daraus entwickeln sich später

die Liedertafeln und Gesangvereine, wie sie in Deutsch­ land einen so glücklichen Einfluß geübt haben.

braucht nur eine gewandte Person,

Musik versteht,

Es

die ein wenig

um diese Kinderchöre

einzurichten.

Die in deutschen, schwedischen, dänischen Familien ge­ machte Erfahrung zeigt, daß es leicht sein würde,

die einzelnen Familienglieder zur Durchführung ihrer

Stimme zu gewöhnen.

Die ärmlichste Hütte wird durch solche edle und unschuldige Vergnügung wohnlicher, lichter und höher.

Die Musik, deren wohlthätiger Einfluß auf Sitte und Charakter noch längst nicht genügend geschätzt

ist, fordert, daß das Gehör so früh als möglich ent­

wickelt wird, sie fordert weniger Verstandesarbeit als

eine gewisse plastische Bildung.

Alle Kinder fassen

ohne Anstrengung den Zauber eines Volksliedes und

beginnen nach der Melodie eines Walzers zu tanzen, alle ohne Ausnahme sind also empfänglich für Musik.

Folglich ist dieselbe von allgemeinem Nutzen, nicht

wegen der Fähigkeit ein Instrument zu spielen — das ist Sache des besonderen Entschluffes — sondern

wegen ihres EinflusieS auf die beiden so wertvollen Werkzeuge des OhreS und der Stimme.

WaS für sie die Musik, das ist das Zeichnen für das Auge, nur will es etwas später gelehrt sein, denn

der Gebrauch des Zeichenstiftes setzt weniger Natur­ trieb und dafür mehr Nachdenken voraus. Wenn man dem Kinde den Stift in die Hand giebt, so wird man

eS veranlasien, das Angeschaute wiederzugeben.

Mit

Notwendigkeit wird eS dann die Dinge aufmerksamer

als vorher betrachten und damit die bei zahlreichen

Gelegenheiten gar nützliche Gabe gewinnen, das mit dem Auge Gesehene festzuhalten.

Üeberdies giebt es

kein Handwerk und keine Wissenschaft, bei der die Gabe des Zeichnens nicht ein vortreffliches Hilfs­ mittel wäre, sie ist so viel wie ein sechster Sinn. Nur wenn man die Dinge in der Absicht sie wieder dar­ zustellen, anschaut, sieht man sie mit der Genauigkeit und Schärfe, von der die, welche die Dinge zwecklos betrachten, sich gar feine Vorstellung machen. Viele Leute, die eine Menge Dinge gelernt zu haben schei­ nen, fiiib nicht recht im stände, sich ihrer Augen zu bedienen, ich habe darüber merkwürdige Beobachtungen gemacht. Man frage sie nur, ob eine Person, mit der sie eben gesprochen haben, blond oder brünett ist oder ob auf dem Gemälde, das sie soeben bewundert haben, mehrere Personen dargestellt sind: sie können nicht antworten. Das kommt einem Zeichner nie vor, vorausgesetzt, daß er so wie es sich gehört das Gesehene zeichnet und daß er sich infolgedessen Rechen­ schaft giebt über die Art, in der sich die Dinge unse­ rem Auge darstellen und die so ganz verschieden ist von ihrem wahren Aussehen. Wie falsch es ist, Kin­ der nach Vorlagen zeichnen zu laffen, davon hier ein Beispiel. Ein Kind kopierte eine Lithographie, welche ein Pferd darstellte, von dem man infolge seiner Stellung nur zwei Hufe sah. Ich fragte das Kind, wieviel Hufe das Pferd hätte, und erhielt die Antwort: „Zwei, die andern beiden hat man ihm abgeschnilten." Das Kind hatte also nie darauf

Rechte Methode.

143

geachtet, daß man nie das Ganze eines Dinges auf einmal sieht. Allein die Beobachtung der Natur kann die Kenntnis dieser einfachen Thatsache geben. Ich erachte es also für notwendig, daß Zeich­ nen vor dem Schreiben gelehrt wird, welches in der Reihenfolge menschlicher Erfindungen viel jünger ist. Jedes Kind kann schließlich einen Gegenstand dar­ stellen, welcher beständig unter feinen Augen ist. Mit großem Unrecht bezeichnet man also Musikund Zeichenunterricht als „Annehmlichkeitsunterricht". So wie er im allgemeinen geübt wird, möchte ich ihn lieber Unannehmlichkeitsunterricht nennen, denn nichts widerspricht dem künstlerischen Gefühl mehr als die kleinen Klavierstücke oder die kleinen Zeichnungen, welche ein Fräulein verübt, die ihre soge­ nannte Erziehmlg vollendet hat. Wenn auf einsich­ tige Art gelehrt, sind diese beiden Künste köstliche Hilfsmittel zur allgemeinen Entwickelung sowohl der Denkkraft wie der Sinne und ich messe ihnen einen viel wesentlicheren Nutzen im praktischen Leben bei, als den unzähligen Geschichtszahlen und geographischen Einzelheiten, mit denen man die Schuljahre belastet. Sie sind jedermann ohne Unterschied nützlich und bringen eine Helle und anmutende Partie auch in die tiefsten Schatten eines von Entbehrungen und Schwierig­ keiten verdüsterten Lebens. Den Neichen sind sie ein

144

Günstiger Erfolg.

Schutz gegen niedere Vergnügungen, welche der Ge­ sundheit und dem Charakter schaden, den Armen

geben sie die unentbehrliche Seelennahrung, denn das Evangelium sagt: Der Mensch lebt nicht von Brot

allein.

IX.

Indem wir versuchen, bei unseren Kindern den Beobachtungstrieb zu entwickeln, können wir zugleich

ihrer Neugierde die gewünschte Nahrung geben.

soll nun

keineswegs heißen,

Das

daß man ihnen eine

fortlaufende naturwissenschaftliche Vorlesung hält oder daß man sich an ihnen einen ermüdenden geistigen Drill gestaltet.

Ich möchte nur, daß sie durch eigene

verständig geleitete Beobachtung richtige Begriffe ge­ winnen von dem, was im Alltagsleben und in der Natur um sie her vorgeht und was ihnen eines Tags

eine wertvolle Vorbereitung für die schwersten Studien werden kann.

Man kann zunächst ihre Aufmerksam­

keit auf die Blumen, Käfer, den Schnee, die Stürme,

auf die tausenderlei gewöhnlichen Vorkommnisse len­ ken.

Ganz kurze und einfache Erzählungen über die

vierfüßigen Tiere und • die Insekten, ihre Lebensge­ wohnheiten und ihre Arbeiten würden sie ebenso sehr

wie ein Märchen interessieren. Probe machen.

Man kann ja eine

Sobald sich die Langeweile merkbar

macht, höre man auf, aber für das Kind, welches Ouroussow. Ueber erste Erziehung.

10

mit uns den Farbenschmuck oder den Gliederbau eines

Vogels oder eines Insektes bewundert hat, über den ihm nun Einzelheiten erzählt werden, für das Kind,

welches selber bei der Pflege der und jener Blume

geholfen hat, deren Aufblühen es mit Spannung verfolgt, für diese Kinder werden solche Erzählungen

nie langweilig sein.

Der

Trieb sich irgend

Sache hinzugeben, welche unsere

einer

beständige Pflege

heischt, ist so stark in uns, daß ein Kind, welches

sich ein wenig für Gärtnerei interessiert, schließlich die Pflanze wirklich liebt, an welche es seine jungen Sorgen gewendet hat.

Auf diese Weise giebt man

ihm ein unfehlbares Mittel, Gedanken, Herz und Hände stets mit etwas anderem als seinem lieben

Ich zu beschäftigen, und darin liegt ja das wahre Neuerdings hat

sich in

Amerika eine Kindergenossenschaft gebildet,

die ich

Geheimnis

zu

des

Glückes.

allseitiger Nachahmung

Agassizbund.

empfehlen

möchte, der

Die Kinder, welche daran teilnehmen,

bilden an jedem Ort eine Gruppe und die Gruppen stehen miteinander in Briefwechsel.

Ihr Zweck ist

botanische, zoologische, mineralogische, geologische u.f.ro.

Sammlungen herzustellen.

Sie teilen sich ihre Be­

obachtungen, ihre Entdeckungen mit und spinnen so Fäden zwischen einer Menge von Personen an, welche

sich für die gleichen Objekte interessieren.

Das er­

weitert den Kreis ihrer Beziehungen, das treibt sie

147

Handfertigkeit.

an einer Menge Leute von verschiedenem Stande und verschiedener Herkunft Anteil zu nehmen.

Es ist dies

eine gute Art, die Sympathie zu entwickeln, die unter allen Gleichgesinnten bestehen sollte.

Von dem frühe­

sten Alter an gewinnen dabei die Spaziergänge ein lebhaftes Interesse, auf denen man irgend eine neue Merkwürdigkeit sucht.

für seine Sammlung zu

und eine Anstrengung. ihren

und

entdecken

Zwecklose Spaziergänge sind eine Langeweile

Die Lust, die Freude mit

glücklichen Folgen,

reichlichen

dem

Appetit

dem ruhigen Schlaf, werden durch eine dem

Körper nützliche Uebung herbeigeführt, welche den

Geist

und den Gedanken nicht

unbeschäftigt läßt.

Diese haben ebensogut wie ihre Diener, die Sinnes­ werkzeuge, Bewegung und Beschäftigung nötig. Wenn

die Rauheit der Jahreszeit Spaziergänge uiib Gärt­ nerarbeit nicht gestattet, so möchte es gut sein, daß

jeder, wie schon I. I. Rousseau lehrte, ein Hand­ werk lernte: Drechsler, Schreiner, Schuhmacher, Buch­

binder, werde was du willst, nur treibe dies Hand­ werk mit Konsequenz.

Es giebt dir noch einen sicheren

Broterwerb, wenn die anderen uns im Stich lasten, und die Geschicklichkeit entwickelt sich durch die Voll­ endung einer Arbeit, von welcher Natur diese letztere auch sein mag.

Ich möchte, daß

diese Handwerke

auch gemeinsam gelernt würden, in einer Genossen­ schaft, wenn das möglich wäre.

Abgesehen von Nach-

eiferung und Fröhlichkeit, die

daraus hervorgehen

würden, ist das ein ganz ausgezeichnetes Mittel, um

die künstlichen Schranken der Kaste und der Nation

ohne Gewalt zu

beseitigen.

Seite an

in

Seite

Zwei Kinder, welche

derselben Werkstatt

gearbeitet

haben, sind fürs Leben in die Brüderschaft eingetreten,

welche uns alle vereinigen muß, wenn wir in Wahr­ heit zivilisiert sind.

Und bei dieser Gelegenheit fordere ich vor jeder

anderen Unterweisung meine Leserinnen auf, die mas­

senhaften falschen Unterweisungen zu vermeiden, die sich unaufhörlich um uns breit machen und welche mehr Uebel anstiften, als die besten Lehrstunden wie­

der gut machen können. Vor allem lehre man auf keinen Fall, unter keinerlei Umständen den Haß.

Zu dem Ende darf

man nie mit Geringschätzung oder Abneigung von einem Land, von einer Rasse,

Religion reden.

Das

was du sonst lehrst.

einer Klasse, einer

hieße alles Gute zerstören,

Und gerade das ist es, was

man von klein auf den Kindern von Generation zu

Generation einprägt: Verachtung und Haß auf der

Grundlage

unnatürlicher

Unterscheidungen!

Wenn

die Zivilisation, als deren Träger wir uns betrachten, der Welt irgend etwas Schönes und Neues gebracht

hat, so ist es die Idee der allgemeinen Brüderlichkeit. Es ist unmöglich, an diese Idee zu glauben, wenn

man Menschen, die man nicht kennt, verwünscht, die

geboren werden, leiden, arbeiten, denken und sterben wie wir, welche eine vorübergehende Form des Glaubens oder eine Verschiedenheit der Sprache uns als Fremde

und Feinde betrachten läßt.

Wenn wir unter dem

Vorwand von Pflichten der Vaterlandsliebe, der Re­ ligion oder der Familie diese abscheulichen Stimmun­

gen lehren, so töten wir den Gedanken und die Ver­ nunft, denn die Grundlage dieses Hasses ist die blinde

von Vätern her ererbte Leidenschaft, die Barbarei der Jahrhunderte, welche noch über das Licht trium­ phiert und aus einer so niedrigen Selbstsucht und

Eitelkeit herstammt, daß man sie nicht offen genug an den Pranger stellen kann.

Wenn die Vorstellungen von Familie und Vater­ landsliebe sich mit den Empfindungen der Verachtung

und des Hasses gegen den Nächsten gesellen, so sind sie eine Erscheinungsform dieser persönlichen Eitelkeit,

nach deren Willen alles was uns angeht den Inter­

essen anderer vorangehen soll.

Das ist das kindische

Element in der Menschennatur.

Das kleine Kind

bildet sich ein, allein zu sein, der Mittelpunkt der Welt zu sein, und behauptet, daß alles nur um seinet­

willen da ist.

Der barbarische Mensch betrachtet das,

was ihn körperlich angeht (denn das allein zählt für seine

kaum

vorhandenen Gedanken), als außerhalb

und über allem anderen stehend.

Er dehnt diese Be-

trachtung, indem er sie in dem Verhältnis mildert, in welchem sie sich von der unmittelbaren Berührung

mit seiner Person entfernt, aus auf diejenigen, welche

dieselbe Sprache sprechen und denselben Götzen an­ beten wie er.

Ueber die anderen lacht er oder ver­

flucht sie.

Die natürliche Vorliebe, welche wir für die uns nahe Stehenden empfinden, weil wir ihnen besonders ähnlich sind, ist ein so allgemein verbreitetes Gefühl,

daß wir es nicht durch gehässige Unterweisung in betreff anderer zu verstärken brauchen.

unter der Herrschaft des

Je mehr wir

Gedankens stehen,

desto

mehr werden wir Familie und Vaterland in der Ver­

einigung derer finden, die mit uns das gleiche denken

und lieben.

Und wenn wir uns über die Vorurteile

erheben, so finden wir, daß wir eines fühlen, denken und sind mit allem dem, was die Menschheit Großes, Edles und Ewiges hervorgebracht hat. der Familie und

des Vaterlandes

Die Fragen

gehen vorüber,

weil diese Dinge vergänglich sind; es bleibt die Ein­

heit mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in dem, was unvergänglich ist, und wenn es uns für den Augenblick gleichgültig ist, was Per­

sonen und sogar Völker für Schicksale gehabt haben, so findet doch ihre Art zu denken und zu empfinden

in unseren Herzen eine lebendige Fortsetzung.

In­

dem wir also wie diejenigen denken, welche allen wert

und verständlich sind, finden wir uns vereinigt in

der lichten Schar der großen Geister, welche vor uns gelebt haben; wir haben an ihnen eine Familie, an

welche wir in der Gegenwart alle diejenigen gliedern

können,

mit uns diese

welche

Trennungen verwerfen.

an­

künstlichen

Wenn wir danach trachten,

die Menschen möglichst zu lieben, werden wir uns

nie täuschen, aber immer, wenn wir sie hassen. Wir haben alle die Neigung, das für lächerlich, oder thöricht zu finden, was uns unge­

erschreckend

wöhnlich ist, aber das ist eine instinktmäßige und tierische Neigung. bringen.

Was uns natürlich und gut scheint,

andere eine

kann auf

abstoßende Wirkung hervor­

Der Unterschied zwischen den Schnürbrettern

für die Füße der Chinesinnen und unseren Schnür­ leibern ist nicht sehr groß; denen, welche sich beim

Begegnen die Nasen reiben, müssen unsere europäi­ schen Begrüßungsarten äußerst lächerlich vorkommen.

Natürlich ziehen wir unsere eigene Gewohnheit vor, nur möchte ich den Kleinen nicht den Wahn beibrin­ gen, als ob vorübergehende Unterschiede etwas Wich­

tiges seien.

Der Zufall allein hat sie entstehen lassen

und dies beweist, daß sie nur eingebildeter Art sind. Zwei oder drei Generationen in

gebung versetzt, genügen, zu bringen.

eine andere Um­

um sie in Vergessenheit

Ich kenne keine deutscheren Deutschen

als die Abkömmlinge der Hugenotten, die im 17. Jahr-

hundert nach Deutschland auswanderten.

Das Chri­

stentum hatte den Sah des allgemeinen Brüdertums ausgesprochen, aber er ist nicht angewendet worden,

weil man bis auf diesen Tag sich selbst das Unrecht

anthut, sich nach der Nationalität oder nach der Reli­ gion zu nennen, der man angehört: Deutscher, Pole,

Franzose, Christ, Jude.

Das wahre Mittel, um die­

sen schönen Grundsatz in die Vorstellungen und die Sitten eindringen zu lassen, besteht darin, daß man dem Heranwachsenden Geschlechte zeigt, was auf jeden

Fall bewundernswert oder verächtlich in jeder Klasse,

jeder Familie, jedem Vaterlande ist. Sodann würde ich nie, wie es doch unaufhörlich geschieht, die Geringschätzung eines Geschlechtes durch

das

andere

lehren.

Sobald

ein Junge schüchtern

oder feige ist, sagt man ihm, als wäre es das ent­

ehrendste von der Welt, daß er ein kleines Mädchen

sei, als wenn diese Fehler wirklich das traurige Vor­ recht unseres Geschlechtes wären.

Diese Vorstellung

kommt auch aus dem erzbarbarischen Grundsatz von der Ueberlegenheit der brutalen Gewalt.

Der Unter­

schied der Geschlechter ist im Kindesalter gleich Null,

und ich halte es für unerläßlich, Mädchen und Knaben

an dieselben Uebungen zur Stärkung ihres Leibes und zur Entwickelung ihrer Geschicklichkeit zu gewöh­

nen.

Die Thatsache, daß eines ein Knabe oder ein

Mädchen ist, bedeutet weder eine Ueberlegenheit noch

eine Schwäche; obgleich es eine

sehr abgestandene

Wahrheit ist, so muß ich doch daran erinnern, daß

die einen wie die anderen auf der Welt gleich nötig und nützlich sind und daß ihre Kraft gleich ist, wenn

sie sich auch auf verschiedene Weise bekundet.

Dank

dieser Unterweisung in der Mißachtung des Geschlech­ tes, dem der Knabe seine Mutter verdankt, gewöhnt er sich von klein auf die Nadelarbeit mit Verachtung anzusehen. 9tun scheint es mir aber, daß jeder Mensch,

gleichgültig von welchem Geschlecht, das Nähen lernen könnte und sollte.

Eine ganze Klasse von Männern,

denen man sicher weibisches Wesen nicht vorwerfen kann, die Seeleute, versteht vortrefflich mit der Nadel

umzugehen und kein Forschungsreisender, kein Jäger

oder Soldat kann auf Zügen in entlegene Länder ohne Nähen, Schneidern, Stopfen und Stricken aus­

kommen.

Ich frage mich, durch welche sonderbaren

Schlüsse man dazu gekommen ist, die möglichste Ge­ schicklichkeit der zehn Finger als etwas Verächtliches zu betrachten.

Wenn ich die

kleinen Mädchen an

allen Handwerksbeschäftigungen und Uebungen ihrer Brüder teilnehmen lassen möchte, so ist es hoffentlich

verständlich,

daß diese dafür die Näherei und die

Küchenarbeit wie ihre Schwestern kennen lernen sollen. Unabhängigkeit, Geschicklichkeit und Kraft für die einen

wie für die anderen. Diese Bemerkung über die Nadelarbeit knüpft sich

an die Erwähnung der fehlerhaften Art, Dinge, die an und für sich durchaus ehrenwert sind, als un­

ehrenhaft betrachten zu lassen.

Auf die so hervor­

gerufene falsche Scham gründen sich die meisten Vor­

urteile und nichts verwirrt so sehr das Urteil über gut und böse.

So treibt man ein Kind von klein

auf viel zu viel darauf zu achten, was die anderen

von ihm denken, die gemeiniglich unbekannt oder gleich­ gültig sind.

Man stellt es ihm als das größte Un­

glück dar, daß es in den Augen dieser Leute sich

lächerlich mache, während sich im wirklichen Leben niemand lange um Worte oder Thaten eines anderen

kümmert.

Es ist also unbedingt irrig, sich an die

Eigenliebe des Kindes zu wenden, seine Eitelkeit in Mitleidenschaft zu

ziehen,

um es

zu bessern:

das

Schlechte ist es, was ihm Schaden thut! — unter diesem Gesichtspunkt muß man es ihm zeigen.

Wenn

unser Leben durch unsere eigenen Fehler verdorben und gebrochen ist, denken die anderen nicht lange daran,

aber für uns selber sind die Folgen untilgbar. Das,

was die Leute sagen, ist so veränderlich und so wenig

haltbar, daß man ihm eine vollständig übertriebene Wichtigkeit beimißt, wenn man es zur Grundlage seiner Handlungsweise macht.

Endlich wollen wir uns hüten, dem Kinde eine falsche Wundergeschichte in Beziehung auf die wahr­ haften Wunder unserer Umgebung zu erzählen.

Wir

wollen nichts lehren, was wir später etwa zurücknehmen müssen, indem wir ihm sagen, das damals Gesagte

sei eben gut für sein Alter gewesen.

Es ist besser,

jede Art von Erklärung abzulehnen, als sich zu den

phantastischen Erzählungen zu versteigen, durch welche

man den Kindern angeblich auf eine in ihrem Ge­

dankenkreise liegende Art die natürlichsten Erscheinungen

erklären will.

Ich finde es gegenüber diesen jungen

Gemütern, die uns ihr ganzes Vertrauen schenken, im

höchsten Grade illoyal, so zu verfahren. Ich bin eine Gegnerin

der phantastischen Erzählungen aus

dem

Bereich des Übernatürlichen, weil sie die Furcht und die Nervosität großziehen, während das Geheimnis­

volle in der Natur der Einbildungskraft freien Spiel­ raum läßt und doch nur bezaubert und beruhigt. Was

braucht man die Einbildungskraft durch Erzählungen zu reizen, in denen alles falsch ist, welche, was man

auch anwenden möge, langdauernde Spuren in dem

Geiste zurücklassen und später mit vieler Mühe be­ kämpft werden müssen. Als Kind glaubt man blind­

lings an jede Geschichte, so dumm oder unwahrschein­ lich sie sein mag.

Wenn ich nicht den Nahmen zu

überschreiten fürchtete, innerhalb dessen ich glaube mich halten zu müssen, so würde ich mich über die uner­ hörte Lebenskraft der thörichten Vorstellungen ver­

breiten, welche von der Wiege an durch Feenmärchen, durch

Geistergeschichten

und

Gespenstererscheinungen

den Kindern eingeprägt werden.

Die Leute ahnen

nicht, was diese Dinge für eine zähe Lebenskraft haben, und doch leiden sie unter ihren Folgen.

Ahnungen,

Aberglaube jeder Art, Wahrsagerei, Tischrücken und Unterhaltungen zwischen Lebenden und Toten, alles

dieses Zeug wurzelt in den Ammenmärchen.

Nichts

wird in diesen Geschichten so oft verwertet als der

Tod und seine Schrecken; man macht ihn von der Wiege an zum Schreckbild und man beschäftigt da­

mit vorzugsweise

die jugendlichen Gemüter, deren

ganze Aufmerksamkeit sich auf das Leben richten sollte, in welches sie eintreten. Es giebt eine Art, die begehrliche Phantasie der kleinen Kinder zu befriedigen, wodurch dieselbe nicht

krankhaft überreizt, sondern zu nützlichem Gebrauch

verwertet wird.

Die Griechen, unser aller Meister,

halten sie angewendet und wir brauchen nur ihrem Beispiel zu folgen, um zu lernen, wie man durch die Bewunderung des Ewig-Wahren die Seele kräftigt. Neben den Leibesübungen, von denen ich gesprochen

habe, hatten sie den musischen Unterricht: die Seele sollte mit den Dichtern und den heiligen Ueberliefe­

rungen leben; was schön ist, ist gesund, das wußten sie sehr wohl.

Die edelste Poesie entwickelt den Ein­

klang der Gedanken und der Form und nichts ist besser, als frühzeitig den Geist mit den ewigen Meister­ werken vertraut zu machen.

Die wahre Poesie hat

Die Dichtung. einen solchen Reiz,

157

daß ich bei Kindern von sehr

zartem Alter leidenschaftliche Teilnahme dafür habe

erwecken können; zuerst wird ihr Ohr befriedigt, dann prägt sich nach und nach der edle, lebendige Gedanke

unauslöschlich in ihre Erinnerung eiti und zwar so

vollkommen, daß nichts Gemeines und nichts Schlechtes ihnen künftig Vergnügen machen kann.

Mit dieser

Nahrung wollen wir kühnlich die jugendliche Phan­ tasie nähren, welche sich bei der Berührung mit dem

göttlichen Feuer entzündet, dessen Hohepriester, scheint es, die Dichter von Jahrhundert zu Jahrhundert ge­

wesen sind.

Die heilige Geschichte und die Geschichte

des Menschengeschlechtes sind ja die anziehendsten Dich­ tungen, die wunderbarsten und geheimnisvollsten Epen!

Sicherlich ist die auf die genaue Kenntnis der Bibel,

dies bewundernswerte Buch der Dichtung und der

Geschichte, begründete Erziehung eine mächtige Quelle der Kraft für die ganze angelsächsische Rasse. In der eigentlichen Kinderlitteratur ist es schwer,

für unsere Betrachtungsweise die Stütze zu finden, welche wir darin suchen möchten.

Man wird gut thun,

in der Wahl der Bücher ebenso vorsichtig zu sein wie

in der Wahl der eigenen Worte.

Die ganze Welt

lebt in Vorstellungen, die durch Bücher gefälscht sind. Man beginnt mit Feenmärchen und Geistergeschichten,

später kommen Romane, die nicht minder lügenhaft

sind und so das Gift in den Geist träufeln, dessen

Wirkung sich von der Wiege bis zum Grabe erstreckt.

Also Vorsicht mit den Büchern!

Sie müssen für uns

sein, wenn wir nicht wollen, daß sie wider uns sind.

Für die kleinsten Kinder kenne ich in der That nichts

anderes Empfehlenswertes als das erste Lesebuch des Grafen Tolstoy.

Der größte russische Schriftsteller

hat es nicht unter seiner Würde gehalten, eine Reihe kleiner Meisterwerke zu schreiben, welche vierjährige Kinder verstehen können. Diese Erzählungen bestehen

in einigen Zeilen, die zu hören und dann zu buch­

stabieren die künftigen Leser von „Krieg und Frieden" nicht müde werden.

Das Buch vereinigt alle Eigen­

schaften, die ich von einem ersten Kinderbuche fordere. Der Stil ist einfach und klar, aber vollkommen, der

Stoff ist mit solcher Gedrungenheit und Wahrheit

aus dem wirklichen Leben entnommen, daß die be­

ständig richtige,

erhabene und nützliche

Grundidee

deutlich hervortritt und daß in den kurzen Fabeln und

Parabeln das Gute uns liebenswert und anziehend

erscheint.

Aber das Buch ist leider eine Ausnahme

und ich bin weit entfernt, in dieser Hinsicht die all­

gemein verbreiteten Meinungen zu teilen. Eine Menge englischer Erzählungen, die in alle Sprachen übersetzt

worden sind, verbrämt mit Bibelstellen und kirchlichen Liedern,

sind meiner Meinung nach schädlicher als

viele Bücher von minder reiner Außenseite. In diesen Werken ist alles falsch: die Kinder werden entweder

wie kleine Vollkommenheiten oder wie Opfer darge­

stellt; das ist die Vorschule der unverstandenen und gefühlsseligen Fräuleins; die Eltern werden darin als

Ungeheuer abgebildet, wenn sie ihre Kinder nicht zu

ihren Götzen machen, oder der Luxus wird in einer Weise beschrieben, daß er bei denen, die ihn nicht kennen, die Lust danach wachruft, oder soziale Vor­

teile werden als begehrenswert und anziehend geschil­ dert, kurz, diese Erzählungen können nur eine falsche Sentimentalität groß ziehen,

sie führen auf einen

vollständig irrigen Standpunkt, roemi es sich um die

Beurteilung der Dinge dieses Lebens, so wie sie sind, handelt, sie bewirken bei den Kindern einen krankhaften

Pietismus mit Ansprüchen, welche über die gewöhn­ lichen Forderungen ihres Alters hinausgehen. Dichter­

werke, welche für das Kindesalter passen, giebt es so wenige, weil die Schriftsteller das Kindesalter schlecht kennen und weit entfernt sind, das Publikum zu ver­

stehen, an welches sie sich wenden wollen.

Tolstoy

hat vollständig die Fähigkeit, die Kinder zu begreifen, als ob er selber eines wäre.

von berühmten Kindern,

Zu den Erzählungen

zu den klassischen Sagen

mögen als gesunde Geislesnahrung die Reisen hinzu­

kommen.

Alle Kinder lieben den Robinson Crusoe

und sicherlich richtet diese Lektüre keinen Schaden an. Von wissenschaftlichen Dingen kann man nm: echte Ergebnisse lehren; in dem Lebensabschnitt, von

dem wir hier handeln, kann also nicht davon die Rede

sein und nichts ist mir verhaßter, als die Bücher, in

beiicn man das Wunder der Natur so nebenbei ein­ mischt, um angeblich die naturwissenschaftlichen Begriffe

annehmlicher zu machen.

Das Kind unterscheidet diese

Feinheiten nicht und hält eine Reise nach dem Mond

oder ein anderes Phantasiegebilde in der That für möglich.

Der Rest des Buches langweilt die Kinder,

weil sie ihn nicht verstehen können.

Wenn wir von den Dingen der uns umgebenden

Welt sprechen, so wollen wir überhaupt uns unserer eigenen Unwissenheit erinnern und uns vor einem

bestimmten Ja oder Nein hüten, das auf überlieferten"

aber unbeweisbaren Sätzen beruht. Warum will man z. B. einem Kinde sagen, daß es eine Seele hat, daß

aber der Hund keine Seele hat? denn davon?

Was wissen wir

Wir bereiten auf diese Weise bei dem

Kinde eine Stimmung vor, in der es die Tiere miß­

handelt, für die ich vielmehr stets seine Liebe erwecken möchte, denn das wünschenswerteste der Gefühle ist

das Mitleid in möglichst weiter Ausdehnung.

Wer

kein Mitleid mit den Tieren hat, der wird es wahr­ scheinlich auch mit seinesgleichen nicht haben. Ehe wir

also irgend etwas lehren, müssen wir sicher sein, daß

wir auch wissen, was wir sagen.

Diese Grundbegriffe, welche, wie man sieht, zu­ meist davon handeln, wie man es nicht machen soll,

müssen vollständig ausreichen, um das ganze Leben eines Kindes bis zu seinem Eintritt in die Schule auszufüllen.

Das ist eine kostbare Zeit für uns,

denn wenn die Schule gezwungen ist, feste Regeln an­ zunehmen, welche auf alle gleichmäßig Anwendung finden, so können wir in den ersten Jahren des Kindes

seine Persönlichkeit studieren, verstehen und entwickeln. Wir können ihn: Dank dieser unserer Kenntnis Frei­ heit in der Wahl seiner Studien oder seines Berufs lassen und wir können ihm jene Erziehung zum Schönen angedeihen lassen, welche für jeden einzelnen in jeder

Lage den köstlichsten Schatz ausmacht, den einzigen, den nichts ihm rauben kann.

X.

Ich habe wenig von Krankheiten im allgemeinen gesprochen, weil ich so wenig in der Lage bin, Heil­ mittel anzuraten, da ich nur ein sehr mäßiges Ver­ trauen zu sämtlichen bekannten Systemen der Medizin

habe. Den Armen möchte ich zu ihrem Troste sagen, daß die Befragung vieler Aerzte ein Zeitvertreib der Neichen ist, von dem sie doch nicht gesund werden. Jedenfalls ist es viel bester, sich stets an denjenigen

Arzt zu wenden, der die von ihm behandelte Persön­ lichkeit genau kennt und desten einsichtiger Rat als­ dann der Rat eines llugen Freundes ist. Aber das einzig wahre Heilmittel, das für jedermann erreichbar

ist, besteht darin, dem Uebel vorzubeugen. Von dieser Kunst habe ich versucht, meinen Leserinnen eine Vor­ stellung zu geben, als ich Andeutungen über die bei gewöhnlichem Gesundheitszustand zu befolgende Lebens­ weise machte und sie aufforderte, jede örtliche Schwäche von ihrem Anfang an zu bekämpfen und jede erbliche Anlage von der Wiege an in Betracht zu ziehen. Ohne zu warten, daß sie hervortrete, wollen wir sie als

einen Feind ins Auge fassen, der bekämpft werden will. Da der allgemeine Zustand der Menschheit weit ent­

fernt ist ein gesunder zu sein, so haben wir für jeden etwas zu fürchten, und ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß man das leiseste Unwohlsein wie

eine Krankheit behandeln muß. Zeit,

Das fordert wenig

selten das Dazwischentreten des Arztes und

beugt langen Beschwerlichkeiten vor, die oft die schreck­ lichsten Folgen haben.

Von allem Unterricht ist un­

bestreitbar der über die Gesundheitspflege der nützlichste und man wird wohl daran thun, dem Kinde dies von klein auf aufs nachdrücklichste einzuprägen, indem man es ihm zur Pflicht gegen andere wie gegen sich selber

macht,

die Gesundheitspflege niemals

zu vernach­

lässigen. Ich füge hier, einige Ratschläge über diesen Gegen­ stand bei.

Wenn wir das Kind an Reinlichkeit und

Lufterneuerung gewöhnen,

Schutzmittel

so

gegen Seuchen.

geben wir

ihm ein

Ich habe davon ge­

legentlich der Wartung unmittelbar nach der Geburt gesprochen, beide Dinge sind notwendig für das ganze

Leben.

Es ist möglich, daß man dahin kommt, das

Vorhandensein verdorbener Luft gar nicht mehr zu

merken; das ist also Gewohnheitssache.

Der Staub

vom Ausfegen oder Abwischen braucht nur auf uns oder irgend einen Gegenstand zu fallen und dieser Staub enthält den Keim zu allen Krankheiten. Also

so wenig wie möglich Stoffe und Teppiche, welche ein Sammelplatz für den Staub werden könnten; das

Kind aber gewöhne man, sein Zimmer mit einem feuchten Lappen aufzunehmen und jede Unsauberkeit zu beseitigen.

Um Erkältungen zu vermeiden, denen die zar­

testen Konstitutionen am meisten unterworfen sind, lasse man das Kind sich niemals nach einer heftigen Anstrengung der kalten Lust aussetzen. Es mag einige

Minuten sich ruhig verhalten, ehe es das Zimmer verläßt, und besonders in einem kalten Klima warte

man, bis jede Spur der Erhitzung verschwunden ist. Man ziehe dem Kinde keine zu schweren Kleider an,

selbst wenn die Kälte strenger wird, denn die vom Gewicht der Kleider verursachte Anstrengung bringt es zum Schwitzen und demnach in Gefahr, sich zu er­ kälten. Ebenso muß man im Sommer vor dem Bade

die Temperatur der Haut sorgfältig in acht nehmen, die auf den normalen Stand gesunken sein muß, ehe das Kind ins Waffer geht.

In südlichen Klimaten

hüte man das Kind sorgfältig vor der Stunde des

Sonnenunterganges; sie kann unter Umständen tödlich

werden, denn der Wechsel in der Temperatur der uns umgebenden Luft vollzieht sich dort so schnell, daß es

uns vorkommt, als würden wir aus einem Treibhaus in einen Eiskeller versetzt. Die schädlichen Ausdünstungen

werden dann heftig aus dem Boden in die Atmosphäre

gezogen und so erklären sich Malaria, Wechselsieber und typhöse Fieber, welche in warmen Klimaten so

häufig sind. Eine vortreffliche Sache ist es in allen Ländern, das Kind an den Wechsel des Schuhwerks zu ge-

möhuen, sobald es nach Hause kommt, wäre es auch nur um ein Paar alte Hausschuhe anzuziehen.

Ist

es warm, so ist dies das beste Mittel zur Erfrischung

und zur Erholung; wenn es im Feuchten gewesen ist, so

wird ihm

beim Wechsel der Fußbekleidung die

Nässe keinen Schaden thun, denn sie macht sich nur

in der Ruhe bemerklich und erkältet dann die Haut, wirkt auf den Blutumlauf und bringt endlich eine allgemeine Senkung der Körperwärme hervor.

Es ist

dieser Wechsel also eine ausgezeichnete Gewohnheit,

die sich jedermann aneignen sollte. Den Schlaf muß

man immer heilig halten und ich möchte, daß diese Regel während der ganzen Wachstumsperiode befolgt

würde.

Leider ist das unmöglich, aber wenigstens

so lange wir das Leben der Kinder leiten können, wollen wir uns in acht nehmen, sie dieses besten aller Stärkungsmittel, dieser wunderbaren Hilfe der Natur,

zu berauben.

Sie gehören früh ins Bett, um acht Uhr

im Winter, niemals, wenigstens so lange als es geht,

später als neun Uhr, und dann lasse man sie zehn, zwölf Stunden, mehr noch, wenn es nötig ist, schlafen.

Aber sobald das Kind wach ist, lasse man es keine

Minute mehr im Bett; auf der Stelle muß es auf­

stehen und mit einer Leibesübung beginnen.

Nichts

schwächt mehr, nichts ist nachteiliger für das Nerven­

system, als wach im Bett liegen zu bleiben.

Je nach der Temperatur muß man das Kind

zudecken und darüber wachen, daß es warm ist. Im Augenblick, wo man es zu Bett bringt, lege man ihm

die Hände unter den Pfühl, damit es nicht friert,

wenn sie draußen bleiben, und damit es sich nicht

auf die Hände legt um sich zu wärmen. Man wache darüber, daß es jeden Tag zur selben

Stunde auf den Abort gehe.

Man zwinge es dazu

von seinem ersten Jahre an. Diese eine Gewöhnung ist sein ganzes Leben lang ein Schutz gegen lausend Krankheiten.

Man beobachte die größte Regelmäßigkeit in Ein­ haltung

der Stunden.

Aufstehen,

Schlafengehen,

Essen, Arbeiten, alles muß zu bestimmter Zeit vor sich gehen, denn Ordnung im Leben ist ein Stärkungs­ mittel für die Nerven, die durch zu oft erneute Ein­

drücke in Verwirrlmg gebracht werden.

Das Kind

muß alle drei Stunden essen und ich rate den Er­ wachsenen es ebenso zu machen, wenn ihnen der Magen

weder überladen sein noch

knurren soll.

In der

Zwischenzeit gestatte man keine Knusperei. Wie schäd­

lich ist doch diese allgemein

verbreitete Gewöhnung,

den Kindern dadurch Freude zu bereiten, daß man

ihnen zur Unzeit Leckereien giebt!

Wenn sie Hunger

haben, muß man ihnen offenbar zu essen geben, aber zu ihrer Zeit und sorgfältig dabei Süßigkeiten und

Kuchenwaren vermeiden, mit denen man ihnen niemals

den Magen vollstopfen soll.

Ein wenig Kompott und

Zucker in der Milch reicht hin für die Nolle, welche dieser Stoff in der Ernährung zu spielen hat.

Alle Welt sagt, daß Zuckeresien die Zähne ver­ dirbt.

Aber nicht die Zähne werden durch den Zucker

zuerst verdorben, sondern der Magen.

Der Speichel

wird scharf, roemi der Magen überladen ist, besonders von Zuckerwerk, welches Säuren entwickelt, und so werden die Zähne angegriffen.

Die Zeit des ersten

Zahnens bedarf besonderer Wartung, denn sie ist die Vorbereitung der zweiten Zahnperiode und dabei ist

die Ueberwachung der Verdauung die einzig wirksame Pflege.

Da die Zähne oft trotz aller Pflege schlecht

sind, vielfach aus Gründen der Erblichkeit, so muß man das Kind zum Zahnarzt führen, sobald die zweiten

Zähne sich einstellen.

Das ist dann eine sehr kleine

Ausgabe, welche später bedeutendere erspart und vor Zahnschmerzen, dieser wahren Geißel des Lebens, be­

hütet. Es ist von äußerster Wichtigkeit, seine Zähne, auch wenn sie sehr'schlecht sein sollten, so lange als

möglich zu behalten.

Das künstliche Gebiß kann sie

im natürlichen Haushalt nicht ersetzen: ein Augenblick der Ueberlegung genügt um das zu begreifen.

Das

Kauen mit den natürlichen Zähnen bewirkt eine Thätig­

keit der Speicheldrüsen, welche eine unmittelbare Wir­ kung auf die Verdauung ausüben; sie können nur

durch die natürlichen Zähne in Thätigkeit gesetzt wer­

den. Um seinen Magen in gutem Stande zu erhalten, muß man mit Regelmäßigkeit und Einfachheit der

Ernährung so viel Abwechselung in der Nahrung ver­

binden, daß diese dem Blute die verschiedenen chemischen Bestandteile zuführt, die zur Blutbereitung nötig sind.

Milchspeisen, Mehl, Gemüse, Fisch, Eier, Fleisch, Salz

und Zucker muß so dem menschlichen Körper über­

mittelt werden.

Zum Troste derer, denen ihre be­

schränkten Mittel den reichlichen Genuß von frischem

Fleische nicht gestatten, füge ich hier bei, daß frische Gemüse viel Stickstoff enthalten, den wir im Fleische

suchen.

Pilze enthalten denselben sogar in größerer

Menge als Filet.

Alle diese Bestandteile der Nah­

rung sind unentbehrlich, aber keiner darf übermäßig

oder ausschließlich verabreicht werden. Unreifes Obst ist

ein wahres Gift. Im allgemeinen verdaut sich rohes Obst schwerer — folglich ist es für einen schwachen

Magen zu vermeiden. Trinken soll man nach dem Effen — Waffer mit Wein gemischt, Bier oder andere'Flüssigkeit, je nach

Landessitte, etwa eine Viertelstunde nach der Mahl­

zeit. Ueberall in der Natur sehen wir die Tiere feste Speise besonders und hinterdrein besonders flüssige

Nahrung nehmen.

Unsere Speisen sind in sich schon

für die Arbeit der Verdauung hinreichend mit Wasser

gemischt.

Durch ein Uebermaß desselben wird

die

Verdauung nur aufgehalten; nur durch die Gewohn­

heit, beim Essen auch zu trinken, verfällt man dem

Bielesien, denn ohne zu trinken kann man unmög­ lich über das Bedürfnis hinaus essen und das Ueber­ maß der Getränke bringt eine Erschwerung der Ver­ dauung mit partieller Fettanhäufung und Blähungen hervor, unter denen wir so viele Kinder leiden sehen.

Die Kurzsichtigkeit ist ein allgemein verbreitetes

Uebel geworden infolge der den Augen zugemuteten starken Anstrengung, besonders in den Schulen, in

denen die Beleuchtung im allgemeinen sehr mangel­ haft

ist.

Im Falle der Kurzsichtigkeit bildet die

Körperhaltung eine wahre Gefahr.

Ter Kurzsichtige

braucht einen abgeschrägten Arbeitstisch,

der seiner

Sehkraft angemessene Dimensionen hat, damit er nicht

beim Lesen oder Schreiben eine Schulter höher hält als die andre, die Brust zusammenpreßt und den

Rücken wölbt, indem er sich über seine Arbeit krümmt. Wenn die Kurzsichtigkeit in hohem Grade vorhanden

ist, so ist es besser, dem Kinde eine gut gewählte Brille aufzusetzen, als zu gestatten, daß es sich mit

der Nase auf dem Tisch zusammenduckt.

Den Beweis

dafür, daß der Ursprung dieser Schwäche in der un­

vernünftigen Art liegt, in der wir unsere Augen ge-

brauchen, finde ich in folgender Thatsache:

beinahe

kein Kind wird kurzsichtig geboren, obgleich viele durch

vererbte Anlage dazu geneigt sind. Man bekämpft das Stottern, indem man das

Kind an sehr langsames Sprechen gewöhnt, die Silben

mit Energie ausspricht und nach jeder Atem holen läßt.

Wenn man diese Uebung beginnt, sobald man

den Fehler merkt, so verhindert man, daß die Anlage

zum eingerosteten Uebel wird. Gegen Abzehrung oder verhältnismäßige Schwäche eines Gliedes

muß man seine Zuflucht zur Heil­

gymnastik nehmen, welche alle Folgen der Muskel­ schwäche beseitigen und in zartem Alter des Patienten

sogar die Knochenverkrümmungen wegschaffen kann,

welche später nicht mehr geheilt werden können. Noch wenige Worte über einige Forderungen der

Pflege in unausweichbaren Krankheiten, wie sie jede meiner Leserinnen leicht anwenden und behalten kann. Sobald man irgend

ein Unwohlsein bemerkt,

nehme man es gleich in Behandlung, als wenn es eine schwere Krankheit wäre.

Es handelt sich darum,

mit Heilungsversuchen nicht erst zu warten bis die

Krankheit sich des Körpers bemächtigt hat. besteht die wahre Heilkunst.

also

energisch behandelt

Darin

Jede Erkältung muß

werden.

Wieviel

Qualen

erspart man sich nicht durch Vorsichtsmaßregeln, welche

zur rechten Zeit angewendet nur für einige Stunden

nötig sind.

Ein oder zwei Tage im Bett, dann noch

ein paar Tage das Zimmer hüten und die streng

überwachte Diät gewinnt leicht den Sieg über einen

Schnupfen, der uns im Falle der Bernachlässigung

töten kann. Wenn man

bei Hautkrankheiten,

wie Röteln

und Scharlach, welche bei Kindern so

häufig vor­

kommen, einen Arzt nicht gleich bei der Hand hat, so braucht man sich darum doch nicht zu ängstigen, so lange man das Kind recht warm hält.

Das ist

dann eine Gelegenheit, zu erproben, ob man es recht erzogen hat, ob es gelehrig ist; der Eigensinn, mit dem sie sich bloßdecken, läßt die Kinder in großer

Zahl zu Grunde gehen.

So milde diese Krankheiten

auch aufzutreten scheinen, so behandle man sie doch als eine sehr ernste Sache; das Eintreten irgend eines Zufalls in diesen Augenblicken kann die Gefahr auf den

höchsten Grad steigern.

Abgesehen von

einer

strengen und lange eingehaltenen Diät — wenigstens neun Tage Hühnerbouillon,

eine Tasse

alle zwei

Stunden, kein Brot, keine feste Nahrung — verlasse

man

sich nicht mif Aeußerlichkeiten; dafür fordere

man Bettwärme und Ruhe drei Wochen lang.

Wenn

die Krankheit im Winter eintritt oder in einem schlecht gelegenen Zimmer überstanden werden muß, so ver­ längere man die im Bett zuzubringende Zeit:

im

Winter kann man vor sechs Wochen gar nicht vom

Aufstehen reden. Im Sommer kann offenbar die Zeit der Absperrung beträchtlich vermindert werden. Die Launenhaftigkeit, welche die Genesung be­

gleitet, darf uns nicht anfechten. Krankheiten bringen

die Nerven in Unordnung imb machen reizbar.

Man

muß den Mut haben, ihr so zu widerstehen, daß es unbarmherzig scheinen würde, wenn man nicht wüßte,

daß

eine Erkältung

oder

eine Verdauungsstörung

unter diesen Umständen wirklich eine Todesursache sein können.

Für jedes andre bei Kindern häufig eintretende Unwohlsein,

Leibschmerzen, Halsschmerzen,

Husten,

nenne ich das in dem Abschnitt über die erste Pflege gepriesene Mittel: die Abreibungen. Wenn man durch dieses einfache Mittel den Schlaf wiederherstellt, hin­

dert man einen Schnupfen sich zur Lungenentzündung zu entwickeln.

Kleine Unfälle infolge von Stoß oder Schlag imb Wunden behandle man, die ersteren, indem man

ein Metallstück auf die getroffene Stelle drückt; das wird die blauen Flecke und Beulen verhindern. Wenn

die Haut abgeschunden und das Fleisch bloßliegt, muß man reichlich mit kaltem Wasser waschen.

Schnitt­

wunden laffe man ein wenig ausbluten, halte das verwundete Glied ins Waffer und umwickele es dann mit altem Leinen, so daß weder Luft noch Schmutz

zur Wunde gelangen können.

Wenn der Schnitt mit

einem Instrument gemacht worden ist, das möglicher­ weise mit einer Unreinigkeit behaftet war, so mische

man das Wasser mit ein wenig Karbol und wasche die Stelle mit besonderer Sorgfalt. man

Brandwunden behandeln

Ebenso muß

und die verbrannte

Stelle mit Watte bedecken, welche die Berührung mit

Wunden werden nur durch Un­

der Luft verhindert.

reinigkeit, durch die Luft oder durch die Berührung

verschlimmert; man sollte also immer ein Fläschchen

Karbol bei sich tragen, welches jede Verschlimmerung durch äußere Einflüsse hindert.

Um also

eine

Erziehung zweckentsprechend zu

leiten, muß man alles, was damit in Zusammenhang steht, überlegen und sich klare Rechenschaft geben über das, was herkömmlich und was notwendig ist, über

das, was wahr und was falsch ist in dem, was wir

um uns sehen und hören, denn wir dürfen uns nur durch das Nützliche und Wahre leiten lassen.

Aber

bei der Menge einander widersprechender Ideen, von

welchen diese Welt geleitet wird, müssen wir eine mittlere Richtung wählen, in welcher uns die gesunde

Vernunft leiten muß.

Wir wollen weder Märtyrer

noch Einsiedler bilden, welche immer der Gefahr zu Grunde zu gehen ausgesetzt sind.

Der bestgebildete

Geist ist derjenige, welcher zwar die volle Wahrheit klar erkennt, aber sich den Forderungen seiner Zeit

anbequemt, welche nur ein gewisses Maß von Wahr­

heit erreichen kann.

Aber schon die Thatsache, daß

ein Einzelwesen ein erhabenes Ideal im Herzen birgt,

führt dazu, daß alle seine Handlungen zum Fortschritt

der Gattung beitragen.

Es ist allgemein

bekannt,

daß wir von einer Menge Mißbräuche umgeben sind

und daß es verlorene Mühe wäre, dieselben unmittel­ bar zerstören oder bekämpfen zu wollen.

Daß wir

zu gleicher Zeit den Menschen sagen, es sei eine Sünde zu töten, niib kriegerische Ruhmesthaten verherrlichen, ist eines der tausend Beispiele der üblichen Wider­

sprüche.

Unter diesen Umständen können wir nicht

hoffen, gezwungen wie wir sind, dem unvermeidlichen

Herkommen uns zu fügen, daß wir je eine unbedingte Folgerichtigkeit in das was wir lehren bringen.

Es

giebt kein anderes Mittel zur Bekämpfung der Miß­ bräuche, als nach Kräften die Ideen zu verbreiten, welche sie ihrer wahren Natur nach darstellen, und den Versuch zu wagen, daß wir unsere Handlungen

mehr als es geschieht der abstrakten Moral anpaffen,

welche wir lehren, ohne sie in unserem Leben anzu­ wenden.

Aus- dieser Doppelströmung, welche unauf­

hörliche Reibungen veranlaßt und die man gar nicht so sehr gewahr wurde, als die physische Gewalt in der Welt herrschte, kommt die allgemeine Zweifelsucht

hervor. Die Menschheit als Ganzes verfolgt denselben

Gang wie das

Leben des einzelnen.

Im Anfang

erregen äußere Eindrücke unsere Aufmerksamkeit mehr

als alles andere; später werden wir mehr von dem,

was aus der Gedankenwelt kommt, in Anspruch ge­ nommen, und da wir zu dem Ergebnis gekommen fitib,

daß das, was wir denken, das wahrhaft Wertvolle ist,

so finden wir uns auf dem Punkte, wo es für unser Glück unerläßlich wird, unsere Handlungen mit unsern

Gedanken in Einklang zu setzen.

Indessen sind wir

von einer Menge Einzelwesen umgeben, die nicht in

dem gleicher: Falle sind; für sie müssen wir unsere Sitten an viele Dinge anbequemen, die mit unserem Gewissen nicht übereinstimmen. Machen wir also die richtigen Vorstellungen zum Gemeingut, beim dies ver­

leiht ihnen unwiderstehliche Kraft, so daß das beste

Mittel, um möglichst viel Gutes zu thun, darin be­ steht, daß wir diese Ideen möglichst ausbreiten.

Ich

möchte unbedenklich sagen, daß, wenn die Gesamtheit

wirklich so dächte, wie es die christliche Moral lehrt, mit welcher die Lehren ernster Philosophen immer im Einklang stehen, die meisten Mißbräuche und Wider­

sprüche verschwinden würden.

Die Grundlage dieser

Lehre besteht in der Nichtanwendung der Gewalt, in

der Anwendung der Ueberredung als einziger Waffe, mit der wir uns an die gesunde Vernunft und an

das Herz wenden.

Auf solcher Grundlage können

wir sicher sein, keinen Mißgriff zu begehen, wenn wir

diese Lehre Befolgen und verbreiten. Indem nur diese Welterziehung der Kinder unter­

nehmen, wollen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß jedes Gelingen von unseren eigenen Gedanken und von der Art, wie unsere Handlungen sich danach

forlnen, abhängt.

Es muß Einheit zwischen unseren:

inneren und unserem äußeren Leben bestehen, so gut wie es der gesunden Seele im gesunden Körper be­ darf, um die Harmonie zu besitzen, in welcher wir

allein Befriedigung finden.

Ich schließe mit diesem

alten Spruche, wie ich mit ihm angefangen habe. Seine Richtigkeit habe ich hoffentlich gezeigt.

Mögen

diese wenigen Ratschläge einige Frucht tragen!

weiß?

Wer

Vielleicht veranlassen sie, wäre es auch nur

eine oder zwei meiner Leserinnen, zum Nachdenken über die ernsteste Tagesfrage. Ich nehme von ihnen Abschied mit dem herzlichen Wunsche:

Geduld und Ausdauer!