Ubergange. Zeitgeschichte Zwischen Utopie Und Machbarkeit: Beitrage Zu Philosophie, Gesellschaft Und Politik. Hellmuth G. Butow Zum 65. Geburtstag (German Edition) 3428067851, 9783428067855

Text: German

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German Pages 419 [420] Year 1990

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Ubergange. Zeitgeschichte Zwischen Utopie Und Machbarkeit: Beitrage Zu Philosophie, Gesellschaft Und Politik. Hellmuth G. Butow Zum 65. Geburtstag (German Edition)
 3428067851, 9783428067855

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Übergänge Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag

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Ubergänge Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit Beiträge zu Philosophie, Gesellschaft und Politik Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag . Herausgegeben von

Werner Süß

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Übergänge, Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit:

Beiträge zu Philosophie, Gesellschaft und Politik; Hellmuth G . Bütow zum 65. Geburtstag I hrsg. von Wemer Süss. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06785-1 NE: Süss, Wemer [Hrsg.]; Bütow, Hellmuth G.: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06785-1

Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag Am 24. Januar 1990 begeht Hellmuth G. Bütow seinen 65. Geburtstag. Mit dem vorliegenden Band gratulieren ihm Kollegen der unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen, die ihm fachlich und freundschaftlich verbunden sind. Hellmuth G. Bütow hat in Forschung und Lehre zu einem breiten Themenspektrum auf den Gebieten der Philosophie, der Soziologie, der Geschichte und der Politologie gearbeitet. Während seiner langjährigen Tätigkeit an der Freien Universität Berlin warer-in zumeist leitenden Funktionen - Mitglied der Fachbereiche Philosophie und Sozialwissenschaften und der Politischen Wissenschaft sowie des Zentralinstitutes für sozialwissenschaftliehe Forschung und des Osteuropa-Institutes. Seit 1983 ist er Vizepräsident der Freien Universität Berlin und als solcher zuständig für die Fachbereiche Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Politische Wissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philosophie- und Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften, für die Zentralinstitute Osteuropa-Institut, Lateinamerika-Institut und Institut für sozialwissenschaftliche Forschung sowie für studentische Angelegenheiten. Hellmuth G. Bütow hat mit großem Engagement den bis heute anhaltenden Prozeß der Reform der Universität vor allem während der 60er und frühen 70er Jahre mitgestaltet Er war stets und ist ein nachdenklicher hochschulpolitischer Streiter, der es nicht nur seinen Gegnern schwer, sondern vor allem auch den ihm Nahestehenden nicht leicht gemacht hat. Er ist ein, in einem zutiefst positiven Wortsinn, eigensinniger Denker, dessen Wirken sich aus vielfältigen wissenschaftlichen und lebensgeschichtlichen Wurzeln speist und dessen Urteil gerade für diejenigen, die ihn genauer zu kennen vermeinen, fast immer "unerwartet" und umso "treffsicherer" ausgefallen ist. Hellmuth G. Bütow läßt sich für vermeintlich "letzte Wahrheiten" nicht vereinnahmen; er ist in diesem Sinne weder intellektuell noch politisch zurechenbar. Er hat sich gleichermaßen dem zielgerichteten Denken und Handeln wie dem Zusammenhang von Wünschen und Hoffen verschrieben. Er hat als erster in der Bundesrepublik über das Werk Ernst Blochs promoviert. Das Denken Blochs ist Zeit seines Lebens ein Bezugspunkt in seinem Wirken geblieben. Ob als Hochschullehrer oder Hochschulpolitiker - sein Interesse galt immer der sich auflösenden Gegenwart in ihren Vergangenheitsbezügen

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und in dem, was antizipierendes Denken in den Prozeß der sich wandelnden Gegenwart hineinträgt. Geschichte wird als Prozeß von Übergängen verstehbar. Der Blick auf die Gegenwart legt frei, was an Möglichem im Schnittfeld von Vergangenheit und von antizipierter Zukunft in Geschichte steckte. Dabei ist das Motiv, dem Möglichen als konkreter Utopie nachzuspüren und von der Wirklichkeit des Gegebenen her den Zustand einer je besseren, weil humaneren Welt herauszufinden, für Hellmuth G. Bütow erkenntnis- und handlungsleitend. Die Humanitätsversprechen der Aufklärung im Kontext utopischer Diskurse der Moderne sowie die Schubkräfte der Säkularisation und Industrialisierung bezeichnen Ausgangspunkte, von denen her sich die Kategorie des Übergangs erschließt. Sie aufzuschlüsseln, bedeutete für Hellmuth G. Bütow gleichermaßen die Fundierung gesellschaftlicher und politischer Strukturen und Ereignisse in dem Studium der Geschichte, wie das Studium der geschichtlich-konkret dem Utopischen sich widersetzenden Momente. Seiner Neigung zu Bloch und zu verwandten Denkern entspricht sein Interesse an der empirischen und historiographischen Beschreibung der Gesellschaft. Er ist einer zutiefst geschichtsoffenen Sicht verpflichtet, von der aus sich auch seine große Aufmerksamkeit sowohl für Gesellschaften, die sich selbst als im Übergang befindlich definieren, als auch für Phänomene politischer und gesellschaftlicher Devianz erklärt, in denen sich oft genug Neues anmeldet, das erst allmählich Gestalt annimmt oder das abgedrängt wird. Mit besonderem Interesse hat sich Hellmuth G. Bütow dem Studium der Geschichte und der Gegenwart der Sowjetunion gewidmet. Neben Studien zur Ideologie und zum politischen System der Sowjetunion hat er sich vor allem mit der Bedeutung des Industrialisierungsprozesses für den Herrschaftscharakter des Sowjetsystems wissenschaftlich auseinandergesetzt Von dieser Frage her erklärt sich auch das Forschungsinteresse an der herrschaftlichen Seite des kapitalistischen Industrialisierungsprozesses, an dem Zusammenhang von Industrialismus, Demokratie und Sozialismus, wie er seit Saint-Sirnon von den Kritikern der kapitalistischen Industrialisierung thematisiert wird. Dies hat ihn zu einer kritischen Wahrnehmung auch der Gesellschaft der Bundesrepublik gebracht. Er hat stets auf der Seite der Reformer gestanden im Wissen darum, daß die "bestmögliche parlamentarische Demokratie" noch erst zu erringen ist. Aus diesem Wissen heraus hat Hellmuth G. Bütow eine kämpferische Toleranz entwickelt, die ihn im Verlauf seiner akademischen Karriere zu einem Gesprächspartner gerade auch für diejenigen gemacht hat, die seine politische Auffassung nicht unbedingt teilten.

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Alle, die an diesem Band mitgearbeitet haben, verbinden ihre Glückwünsche und ihre Widmung mit der Hoffnung, daß Hellmuth G. Bütow der Freien Universität Berlin weiterhin als der Ansprechpartner, der er vielen war, verbunden bleibt. Für ihre engagierte Mitarbeit an dieser Festschrift möchte ich an dieser Stelle Frau Cornelia Wassmann meinen besonderen Dank aussprechen. Berlin, Oktober 1989

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Inhalt H ellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag ............................................................. 5 Zur Einführung. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit Von Werner Süß ............................................................................................... 13 Erster Teil

Vom Geist der Utopie Die Suche nach dem Nirgendwo und die europäische Moderne Von Michael Erbe ............................................................................................ 27 "Geschichtszeichen". Kants Utopie Von Hartmut Zinser ........................................................................................ 35 Gibt es einen anarchistischen Diskurs in der klassischen Utopietradition? Von Richard Saage ........................................................................................... 41 Zu Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" (1960) Von Hans-Joachim Lieber .............................................................................. 57 Das Utopische zwischen Konsens und Abweichung in der soziologischen Handlungstheorie Von Dieter Geulen ........................................................................................... 71 Zur Kritik am Subjektbegriff der Moderne Von Milan Prucha ............................................................................................ 83

Zweiter Teil

Industrialisierung und politische Systeme Industrialisierung in Preußen. Eine staatliche Veranstaltung? Von Wolfram Fischer und Adelheid Simsch .............................................. 103

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Inhalt

Wahrnehmungen der Industrialisierung. Die französische Gesellschaft im Bild der Deutschen zwischen 1891 und 1914 Von Hartmut Kaelble .................................................................................... 123 Massen, charismatische Führer und Industrialismus. Erklärungspotentiale eines Denktypus Von Erhard Stölting ....................................................................................... 139 Revolte und Vermittlung. Zur Aufgabenbestimmung der revolutionären Intelligenz in der russischen "Ökonomismusdebatte" um die Jahrhundertwende Von Walter Süß .............................................................................................. 155 Zum Handlungsspielraum der Sozialdemokratie in der Frühphase der Weimarer Republik Von Klaus Megerle ........................................................................................ 177 Nationalsozialismus und Moderne. Eine Zwischenbilanz Von Rainer Zitelmann ................................................................................... 195 Stalinismus und Industrialisierung. Sozialgeschichte versus Totalitarismustheorie aus aktueller sowjetischer Perspektive Von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi .............................................................. 225 Glasnost - contra Perestroika? Alternative Entwicklungsmöglichkeiten im sowjetischen Reformmodell Von Klaus von Beyme .................................................................................... 241 Dritter Teil

Die Utopie der Machbarkeil Politische Stabilität durch demokratischen Etatismus? Von Werner Süß ............................................................................................. 255 Faszination Technik Von Theo Pirker ............................................................................................. 275 Mythos Wirtschaftswunder. Eine geldtheoretische Entzauberung Von Mathilde Lüken-Klaßen und Jens Hälseher ...................................... 281 Der kurze Sommer der Revolte Von Klaus Schroeder ..................................................................................... 307 Sozio-ökonomische Ungleichheit und Klassenbewußtsein in westlichen Industriegesellschaften Von Hans-Dieter Klingemann ...................................................................... 317

Inhalt

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Paziftzierung der Ehrgeizigen? -Zu strukturellen Vorbedingungen von friedfertiger Demokratie Von Dieter Claessens .................................................................................... 331 Zeit der politischen Skandale Von Rolf Ebbighausen .................................................................................. 343 Die Gewalt in den Wohlstandsgesellschaften Von Jürgen Fijalkowski ................................................................................. 359 Über Politik und Wissenschaft. Zum Verhältnis von Loyalität, Verantwortung und Rationalität Von Dieter Heckelmann ............................................................................... 371 Vierter Teil

Ausblicke Was wird künftig "links" sein? Thesen zur sozialistischen Neuorientierung ·Von Fritz Vilmar ............................................................................................ 385 Die Futurologie und der Fortschritt Von Ossip K. Flechtheim .............................................................................. 393 Fünfter Teil

Anhang

Leben und Werk. Biographische und bibliographische Daten von Hellmuth G. Bütow ............................................................................................. 411 Verzeichnis der Autoren ................................................... ,................................ 417

Zur Einführung. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeil Von Werner Süß Das breite Themenspektrum, zu dem Hellmuth G. Bütow in der Forschung und vor allem auch als Lehrer im Seminarbetrieb sowie in der Betreuung von Diplomanden und Doktoranden gearbeitet hat, spiegelt sich in der Konzeption dieser Festschrift wider. I.

Es geht zum ersten um den Geist der Utopie, um die utopischen Diskurse der Moderne, die die neuzeitliche Geschichte bis auf den heutigen Tag durchziehen. Dabei ist die Kennzeichnung von Bloch nur entliehen, um dessen Werk es hier zentral nicht gehen soll. Das Blochsehe Paradoxon von der konkreten Utopie bezeichnet zweifellos einen bedeutsamen Schritt in der Interpretations- und Wirkungsgeschichte des Utopiebegriffs, der sich indessen mit einer bis auf den heutigen Tag nachwirkenden ideologisch motivierten Denkhaltung verbunden hat: der der Demonstration des geschichtsnotwendigen Untergangs der westlich-bürgerlich-demokratischen Gesellschaften. In dem hier abgedruckten und für diese Festschrift überarbeiteten Text von Hans-Joachim Lieber aus dem Jahre 1960, der unter maßgeblicher Mitwirkung von Hellmuth G. Bütow entstand, wird diese ideologische Begrenzung im Blochsehen Gebrauch des Utopiebegriffs unmißverständlich herausgestellt. Lieber und Bütow insistieren demgegenüber auf einen Utopiebegriff "als Potenz radikaler Aufklärung in der Gesellschaft"; sie halten an einer Denkfigur von Utopie als "aktivierender Möglichkeit einer menschenwürdigen Zukunft" fest. Vielleicht scheint im Hinweis auf diese Denkfigur der wahre "Geist der Utopie" am klarsten auf, jenseits der Bedeutungseinfärbungen des Utopiebegriffs im einzelnen und auch jenseits der Ideologieproblematik. Utopie ist zunächst nichts anderes als eine Distanzkategorie zur Wirklichkeit. Sie bezieht sich auf Projekte gesellschaftlicher Umgestaltung, die für unmöglich gehalten werden. Es ist das Nirgendwo, das keinen Ort in der Wirklichkeit hat, der Roman, die ästhetische Überhöhung, der Traum fiktiver Wunscherfül-

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lung, das Abstraktum idealer menschlicher Verhältnisse, das Traumland. Der utopische Gegenentwurf schreibt sich kritisch in die Wirklichkeit ein, an die er den Maßstab des "Unmöglichen" heranträgt, um einen neuen Möglichkeitshorizont abzustecken. Das Utopische hält so die Erinnerung an eine andere Gegenwart als ihre Zukunft wach. Der Gegenwarts- und Wirklichkeitsbezug erweist sich als die eigentliche Energiequelle des Utopischen, wenigstens unter der Voraussetzung, daß es dem geschichtlichen und kulturellen Kontinuum verhaftet bleibt, von dem es herrührt und dem es zugehört. Utopie ist in der Tat ein historischer Begriff, der dem Fortschrittsparadigma der Moderne und seinen subjektivistischen und instrumentellen Implikationen verbunden ist. Marxens Wissenschaftskritik an der bloßen Utopie hat diesen Zusammenhang so wenig erschüttert wie etwa Landauers Abgrenzung zur Topik hin oder Mannheims Ideologiereflexion. Im Gegenteil: Es hat den Anschein, als habe die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts den "Geist der Utopie" nur noch enger an den Begriff des "Kontinuums des Fortschritts" und insbesondere an die geistige Bewegung der Aufklärung herangebracht, die bis heute als ideeller Treibsatz der Moderne dient. Aufklärung steht für einen Denkansatz, für den öffentliche Kritik, selbstbestimmter Vernunftgebrauch, das Streben nach Emanzipation und das Vertrauen in die Lenkbarkeil des eigenen Schicksals kennzeichnend sind (vgl. Jürgen Kocka, Geschichte und Aufklärung, 1989, S. 140 f.). Es sind dies zugleich Merkmale, die als Konstituen der Gesellschaft der Moderne gelten. Die Aufklärung hat dem Utopiebegriff in der Figur des zwar normativ Anwesenden, aber faktisch wie geschichtsvermittelt nicht Eingelösten einen zu allererst positiven Bedeutungsgehalt verliehen. Die Utopie der Aufklärung lebt von der Behauptung der Anwesenheit des Ideals menschlicher Verhältnisse in der Wirklichkeit der Moderne selbst. Aufklärung zielt auf die Realisierung der Utopie einer sich vernünftig und friedlich selbst regulierenden Gesellschaft, aber sie tut dies in dem bereits bei Thomas Morus grundgelegten Sinne der Positivierung einer Norm- und Institutionenordnung, die Utopie als Sozialutopie überhaupt erst hervorbringt. Utopie in der Verbindung mit Aufklärung ist mehr als ein positives Programm; sie steht für die "Entdeckung", für das Bewußtsein und für die Bestimmung der Ordnung der Moderne in ihren fundamentalen Prinzipien selbst. Utopie als aktivierende Möglichkeit ergibt sich erst aus dieser "lmmanenzerklärung des Unmöglichen". Der Rest wäre Dezision, Sprung aus dem Geschichtskontinuum, wie dies etwa Herbert Marcuse nahegelegt hat. Aber Marcuse hat diese Möglichkeit der Geschichte selbst entnommen und konsequent für diesen Fall vom "Ende der Utopie" als Sozialutopie gesprochen (vgl. Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, 1980, S. 9 ff.), denn in der entfalteten Industriegesellschaft erscheint das Mögliche als prinzipiell

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machbar, so daß sich die Distanz- oder Denunziationskategorie des Utopischen erübrigt. Nun ist der "Sprung aus der Geschichte" als mit der Utopie verbundene Hoffnung schon immer aus der Kritik des Topischen, der Gegenwart in ihren Konstitutionsmomenten und den dazugehörenden Rechtfertigungsmustern, behauptet worden. Der "Geist der Utopie" ist vor allem an Grundlegungen der Aufklärungsphilosophie und genereller in der Zugehörigkeit des Utopischen zum Fortschrittskontinuum stets in Zweifel gezogen worden. Es ist das Thema der Ambivalenz der Moderne, gerade in ihren.utopischen und humanistischen Aspekten der gattungsgeschichtlichen Selbstverwirklichung und der planerischen Herstellung der dazu für notwendig erachteten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Im ersten Teil der Festschrift wird das Utopiethema mit Beiträgen sowohl zu den Grundlegungen utopischer Diskurse der Moderne wie zu ihrer kritischen Infragestellung behandelt. Michael Erbe zeigt die frühneuzeitliche Utopie als typische Literaturform im Zeitalter der Krise und des Übergangs vom europäischen Mittelalter zur Industrialisierungsepoche. Dabei erweist sich, daß sie im wesentlichen Ideen des organisierten Zusammenlebens aus der Zeit vor 1500 übernimmt und sich als durchaus mögliche, wenn auch nicht realisierbare Alternative zur damaligen Gegenwart versteht. Erbe arbeitet dabei als das spezifisch Moderne des Utopiediskurses seit Thomas Morus die Interdependenz zwischen Politik, Gesellschaft und Ökonomie in den "Modellstaaten" heraus. Mit den Umwälzungen um 1800 wird die Utopie entweder zur konkreten Handlungsanleitung gesellschaftskritischen Denkens oder zur in die Zukunft transponierten Schimäre. Hartmut Zinser geht der Frage nach, worauf Kant die Utopie oder Idee vom "beständigen Fortschreiten zum Besseren" gründet. Kant sieht eine solche Begründung nicht in äußerlichen Fortschritten oder Entwicklungen, sondern in der Änderung der Denkungsart der Öffentlichkeit. Dafür steht z.B. die Beteiligung des europäischen Publikums an der französischen Revolution als Geschichtszeichen ein. Richard Saage stellt die Frage, ob es "einen anarchistischen Diskurs in der klassischen Utopietradition" gibt. Er prüft, inwieweit in der Geistesgeschichte der Moderne eine andere Utopietradition vorzufinden ist, die dann in einigen europäischen Ländern im 20. Jahrhundert bedeutsam geworden ist. Auf der Grundlage eines tragfähigen Anarchismusbegriffs diskutiert Saage staatsfreie utopische Fiktionen in ihrem Verhältnis zum anarchistischen Programm. Er zeigt die zahlreichen Berührungspunkte und Übereinstimmungen zwischen dem Anarchismus und den staatsfreien Utopien auf und hebt als die eigentliche Differenz die jeweilige Transformationsperspektive hervor. Hans-Joachim Lieber arbeitet die Umdeutung im Sinngehalt des Utopiebegriffs von einem auf Vollkommenheit zielenden Entwurf zu einem in der Hoffnung gründenden Denken als Überschreiten, in diesem Sinne zu einem dynamischen Ent-

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wurf heraus, der in der Trieb- und Affektstruktur des Menschen fundiert ist. Utopie wird bei Bloch als Prozeß der "Humanisierung der Natur" und der "Naturalisierung des Menschen" gefaßt, der im Tagtraum als konkrete Utopie gründet. Das wissend-konkrete Träumen weist auf das Verändernwollen der Gegenwart, auf eine Zukunft, die die Totalität des geschichtlichen Prozesses nach vorwärts wie nach rückwärts für den Fortschritt, für die Antizipation einer besseren Welt öffnet. Lieber diskutiert die Voraussetzungen und Folgen dieses Utopiebegriffs für die philosophiehistorischen Studien Blochs und insbesondere für dessen Marxismusrezeption und Verhältnis zum dogmatisierten Marxismus. Dieter Geulen geht der Frage nach dem utopischen Moment in der herrschenden soziologisch-funktionalistischen Handlungstheorie nach und kommt zu der These, daß das im Modell vom Gesellschaftsvertrag in der Aufklärung enthaltene utopische Moment in der Weiterentwicklung zur soziologisch-funktionalistischen Handlungstheorie verloren gegangen ist. Die Hoffnung, es im Begriff vom "abweichenden Verhalten" wieder einführen zu können, ist zumindest ambivalent, wenn nicht trügerisch. Im Aufsatz zur "Kritik am Subjektbegriff der Moderne" setzt sich Milan Prucha mit der paradoxen Tatsache auseinander, daß der Humanismus heute zwar weitgehend als zivilisatorisches Programm anerkannt, philosophisch aber immer radikaler infrage gestellt wird. Michel Foucaults, Jacques Derridas, Jean-Fran~ois Lyotards Angriff auf die Philosophie der menschlichen Subjektivität und die ganze mit ihr verbundene Wirklichkeitsauffassung, auf die sich auch die Postmodernisten so oft stützen, wird von Prucha eher als eine unkritische Anpassung an die bestehenden Gesellschaftsformen dargestellt. II.

Die Utopiethematik wird im zweiten Teil der Festschrift mit Beiträgen zur Realgeschichte konfrontiert. Es geht am Beispiel von Stationen deutscher und russisch-so\\jetischer Geschichte um den Zusammenhang zwischen dem Prozeß industrieller Umwälzungen der Gesellschaft auf ihrem Weg zur Moderne und dem damit verbundenen politischen Handeln, um das Thema des Verhältnisses von Industrialisierung und Politik. Das Utopiethema wird damit nicht verlassen, aber es weicht doch einer eher pragmatisch an Prozessen der materiellen Grundstruktur und der Sphäre von Interessen, Macht und Entscheidungshandeln orientierten Sicht. Im Vordergrund steht die Frage nach der "Machbarkeit" von Geschichte, nach den Bedingungszusammenhängen, in denen sie sich ereignet und denen die Kalküle und Denkhaltungen ihrer "Macher" zugehören. Der Übergang von der Agrar- in die industrielle Massengesellschaft und der darin eingeschlossene sozialstruktureile Wandlungsprozeß stellt den pragmatischen Treibsatz der Moderne dar. Die Heraufkunft und Verallge-

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meinerung der industriellen Produktionsweise wälzt die Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an ihrer Basis um. Man muß nicht Anhänger einer materialistischen Geschiehtsauffassung sein um anzuerkennen, daß die "Geschichte des Fortschritts" in den Potenzen der Industriegesellschaft, - der Akkumulation von Kapital, der Fabrikorganisation, der vermehrten Anwendung von Technik, der Herstellung von Massenprodukten, der Marktöffnung, der Ausbildung neuer Infrastrukturen, der städtischen Agglomerationen etc. ihren effektiven Katalysator hat. Die Rede von der "industriellen Revolution" verweist auf den eminenten geschichtlichen Bedeutungsgehalt der Industrialisierung. Der Gebrauch des Revolutionstopos macht aber zugleich auf die Gefahr aufmerksam, die in einer den Ökonomiekomplex zum Primat erhebenden und die gesellschaftlichen wie politischen Bedingungen vernachlässigenden Betrachtung liegt, denn der Weg von der Industrie zur "Revolution", zur geschichtlich-konkreten Form gesellschaftlicher Umgestaltung, hat sich weder aus der Eigendynamik der Ökonomie ergeben, noch ist er eine Einbahnstraße gewesen. Die im Industriesystem fundierte Ökonomie kennzeichnet einen neuen Horizont dessen, was seither als machbar gilt, was technisch zu militärischen, sozialen oder gesellschaftlich-organisatorischen Zwecken möglich erscheint, was verwirklicht werden kann; sie ist zu einer irreversiblen geschichtsmächtigen Potenz geworden, die der Geschichte eine neue Bühne bereitgestellt hat. Doch die "Stücke" galt es weiterhin, unter den gegebenen Umständen, von der Gesellschaft in ihren Mitgliedern zu inszenieren und zu spielen. Sie mochten sie in den Dienst des Geistes der Aufklärung und der Utopie oder in den einer beides negierenden Denkhaltung oder Interessensdefinition stellen. Der hier thematisierte zeitgeschichtliche Abschnitt sowie die Begrenzung auf Aspekte der deutschen und der russisch-sowjetischen Geschichte läßt "die Wirklichkeit" in ihrer Faktizität weniger als "Energiequelle des Utopischen", denn als eine desillusionierende Instanz erscheinen, die die aufklärerische Denkfigur und die utopische Haltung einer grundlegenden Anfechtung aussetzt. Die Zeitgeschichte Deutschlands und der Sowjetunion ist unlöslich und je auf ihre Weise verschieden mit der Totalitarismusthematik verbunden. Von dieser Zuspitzung her stellt die realgeschichtliche Entwicklung beider, dem modernen Fortschrittskontinuum zuzurechenden Gesellschaften, vor allem die des faschistischen Deutschland, die größte Negation des Selbstverständnisses der Moderne dar und gehört doch zu ihrer Geschichte. Realgeschichte wird zum Dementi des Utopiediskurses, zur Widerlegung des Freiheits- und Fortschrittspostulats der Moderne, des Humanitätsversprechens der Aufklärung. Indessen haben sich weder Nationalsozialismus noch Stalinismus mit innerer Geschichtsnotwendigkeit als zwangsläufige Erscheinungen von Realgeschichte ergeben. Die geschichtsoffene Betrachtung, der Hellmuth G. Bütow

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verpflichtet ist, sowie sein primäres Interesse an dem Zusammenspiel von konkretem Handeln und antizipierendem Denken, verbietet jede deterministische Lesart von Geschichte, die aus der Perspektive des Nachhinein zu einem teleologisch sicheren Urteil kommt. Gerade aus der Rückschau wird Geschichte als widerspruchsvolle Gegenwart verstehbar, als ein Handlungsfeld von Optionen, von unterschiedlich gelagerten Interessen, von nebeneinander herlaufenden Realitätswahrnehmungen, von miteinander in Streit liegenden Gestaltungskonzeptionen und in allem von einem "Bewußtsein", das die reale Zukunft, den Gang der Ereignisse mit seinen Brüchen und Wendungen und mithin die Folgen jeweiligen Handeins in seinem ganzen Ausmaß nicht kennt. Die rückschauende Betrachtung macht deutlich, wie sehr sich Selbstvergewisserungen des Gegenwärtigen gegenüber den in ihr wirkenden Übergangspotentialen, vor allem aber auch gegenüber den in ihr vordergründig wie ideologisch verborgenen Macht- und Herrschaftsimplikationen als trügerisch erweisen können. Geschichte ist nicht allein aus den sie konstituierenden Ereignissen und Resultaten verstehbar, obgleich es die Ereignisse und die Resultate sind, die sich am nachhaltigsten in der Erfahrungsdimension festsetzen und die entsprechende Wirkungen auf die Zukunft zeitigen. Ergiebiger aber ist die Rekonstruktion von Geschichte von ihren realisierten und auch nicht realisierten Möglichkeiten aus, denn erst sie liefern den Maßstab dafür, daß es nicht nur hätte anders und besser kommen können, sondern vor allem auch sollen. Die Rekonstruktion im Nachhinein unterwirft Geschichte der Bewertung, dem moralischen und ideellen Urteil. Der Geschichte gegenüber ist das Webersehe Postulat von der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht ohne Zwang durchzuhalten; es kann nur in dem Sinne behauptet werden, daß das gegenwärtig mit Blick auf eine offene Zukunft je Mögliche gewissermaßen jenseits der schließlich obsiegenden Faktizität gekennzeichnet wird. Von dem Boden der inzwischen Vergangenheit gewordenen Gegenwart aus läßt sich in mancherlei Hinsicht durchaus entscheiden, ob und was hätte anders werden sollen. Klaus Megerle arbeitet in seinem Beitrag diesen Sachverhalt am Beispiel des koalitionspolitischen Verhaltens der Sozialdemokratie während der ersten Hälfte der Weimarer Republik unmißverständlich heraus. Er zeigt auf, daß sich Friedrich Ebert und der rechte Flügel der SPD besonderer obrigkeitsstaatlicher Belastungen in Deutschland bewußt waren, daß sie daher vor allem die Demokratie als Wert an sich zu verteidigen suchten. Aber an Megerles Ausführungen wird zugleich das Unabsehbare geschichtlichen Handeins verdeutlicht: Erst die weitere Entwicklung der Weimarer Demokratie gibt dieser prinzipiellen Haltung ihre Rechtfertigung. Die Sozialdemokratie hatte Machtpositionen aufgegeben, um nicht vom Kapitalismus und vom deutschen obrigkeitsstaatlich-militaristisch geprägten politischen System ver-

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einnahmt zu werden; sie hatte sich in der Einschätzung der Machtverhältnisse und der Wirkungen des Machtgebrauchs, der Relevanz staatlicher Machtausübung, getäuscht und so ihr eigenes Schicksal und das der Demokratie mitbesiegelt, um das sie nicht wissen konnte. Kann die Industrialisierung als pragmatischer Treibsatz der Zeitgeschichte gelten, so muß die Sphäre der Politik, die politische Auseinandersetzung, das zielgerichtete politische Handeln und der politische Machtgebrauch, als Ort und Potenz angesehen werden, an denen sich Geschichte entscheidet. Dabei ist Politik aus ihrem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang heraus zu begreifen, in ihrer Verbindung mit sozialen Machtverhältnissen sowie mit dem Gestaltungswillen sozialer Gruppierungen. Der soziale Hintergrund erst erhellt, unter welchen Bedingungszusammenhängen Politik stattfmdet, vor allem aber, welchen Fakten und Bedingungen sie sich fügt, welchen Inhalts sie daher ist und welche sozialgeschichtliche Rolle sie erfüllt. Politisches Handeln steht unter den Zwängen der Verhältnisse, der Machtgegebenheit; es kommt ohne Orientierung daran, was als machbar erscheint, nie aus. Dieser prinzipielle Realitätsbezug läßt die Narrnativität und Parteilichkeit politischen Handeins und seinen dezisionistischen Gehalt um so deutlicher hervortreten: Denn ob die Politik auf die aufklärerisch gemeinte Sozialutopie Bezug genommen hat, dies läßt sich an den Wirkungen ihrer Maßnahmen weit mehr als am ideellen Gehalt ihrer Begründungen und Rechtfertigungen ablesen. Die Beiträge des zweiten Teils der Festschrift nehmen auf die Frage nach der Gestaltungskraft und dem Sozialgehalt des Politischen aus unterschiedlicher Perspektive Bezug. Adelheid Simsch und Wolfram Fischer werfen die Frage auf, ob und inwieweit der preußische (Obrigkeits-)Staat den Prozeß der Industrialisierung und der marktvermittelten Liberalisierung behindert oder aber gefördert hat. Sie kommen zu einer regional differenzierten Aussage, die sich vereinfachend grobschlächtigen Interpretationen widersetzt. Helmut Kaelble nähert sich der Politikthematik aus der Perspektive einer vergleichenden politischen Kulturforschung; er fragt, wie "die Deutschen" in der Zeit zwischen 1871 bis 1914, inmitten der tiefgreifenden Umbruchssituation der Industrialisierung, die französische Gesellschaft wahrgenommen haben. Die Wahrnehmungen der Nachbargesellschaft geben zugleich Auskunft über das Selbstverständnis der Deutschen dem Prozeß der Modernisierung gegenüber. Erhard Stölting geht der geistesgeschichtlichen Verortung des Begriffs der Masse nach und zeigt dessen Verhältnis zu Massenkonstellationen im 20. Jahrhundert auf. Thema des Beitrages von Walter Süß ist eine folgenreiche Debatte aus der Frühgeschichte der russischen Sozialdemokratie. Es ging um die Rolle der revolutionären Intelligenz im geschichtlichen Prozeß. Seine Kernthese ist, daß sich diese Debatte nur dann angemessen beurteilen läßt, wenn man die vorgetragenen Positionen im Kontext der jeweiligen revolutionstheoretischen Gesamtentwürfe interpretiert und deutlich unterscheidet

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zwischen der Intelligenz als sozialer Schicht und als Träger eines bestimmten Wissenstypus. Klaus Megerle thematisiert den Handlungsspielraum der Sozialdemokratie in der Frühphase der Weimarer Republik. Am Beispiel des koalitionspolitischen Verhaltens der Sozialdemokratie macht er die "Machbarkeil der Politik" in ihrer ganzen Widersprüchlichkeil zwischen ideellen Grundlegungen und Machtkalkülen explizit zu seinem Thema. Rainer Zitelmann wirft die Frage nach der Einordnung des Nationalsozialismus in den Prozeß der Moderne auf. Seine These ist, daß trotz des ideologischen und politisch-kulturellen Bruchs des Faschismus mit Grundprinzipien der Moderne die deutsche Gesellschaft in ihren sozialen und politischen Strukturen im Faschismus effektiv modernisiert worden ist, d.h. aus ihren noch halbfeudalen Strukturen herausgelöst wurde. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi behandelt in ihrem Beitrag den Stand der westlichen Stalinismusforschung, die von der Totalitarismustheorie gerade Abstand genommen hat, um die Perspektiven der Reform sozialistischer Gesellschaften nachvollziehen zu können. Dagegen verfährt die gegenwärtige sowjetische Diskussion um die "Ursprünge des Stalinismus" gerade umgekehrt. Sie lehnt das Modell der Sozialgeschichte, der Erforschung von Umständen und Wirkungen historischen Handelns, ab, um eine radikale Kritik des sowjetischen Sozialismusmodells einzuleiten. Unter der Fragestellung, "Glasnost contra Perestroika" diskutiert Klaus von Beyme alternative Entwicklungsmöglichkeiten im sowjetischen Reformmodell. Die Perestroika wird im Lichte der Erforschung von Reform-, Revolutions- und Modernisierungsbewegungen gesehen und in ihrer möglichen inneren Dynamik eingeschätzt. III.

Während die Geschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von der Herausbildung einer neuen Weltordnung dramatisch gekennzeichnet ist, steht die Gegenwart - als Geschichte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - wenigstens in Westeuropa im Zeichen einer ungeahnten Entfaltung ihrer Fortschrittspotenzen. Aus heutiger Sicht läßt sich die Gegenwart unter bewußt ironischer Anspielung auf den "Geist der Utopie" als von der Utopie der Machbarkeit inspirierter Geschichtsprozeß charakterisieren. Der Begriff der Machbarkeil soll dabei nicht in dem bloßen Sinne der Realpolitik verstanden sein; er nimmt im Gegenteil auf das Projekt der technischen Ausweitung des Möglichkeitshorizontes und auf die Idee der planerischen Gestaltbarkeil der Gesellschaft direkt Bezug und erhält so einen euphorisch-ironisierenden Bedeutungsgehalt Fortschritt manifestiert sich heute auf allen Ebenen der Gesellschaft: ökonomisch im Wachstum des materiellen Reichtums, sozial in breiter Reichtumsstreuung, politisch in der Herstellung staatsbürgerlicher Freiheit und

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Gleichheit sowie in gewachsenen staatlichen Regulierungs- und Planungskapazitäten, kulturell in einer exponentiell angestiegenen Angebotsvielfalt, individuell in erweiterten Selbstverwirklichungsmöglichkeiten. Die Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik ist durch ein Optionsniveau gekennzeichnet, das sie als "Realutopie" im Kontinuum der Geschichte erscheinen läßt und das insofern das Ideologische am Utopischen überwindet. So haben Helmut Schelsky (Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961) und Ernst Forsthoff (Der Staat der Industriegesellschaft, 1970) argumentiert; aber es ist bezeichnend, daß beide den Zustand der "Realutopie" am Siegeszug der Technik, der Industrialisierung des gesellschaftlichen Lebens und seiner staatlich-technokratischen Regulierung festmachten. Sie haben damit auf den instrumentellen Gehalt des Fortschritts der Gegenwart hingewiesen und seinen politischen Preis unfreiwillig benannt: die Relativierung des Politischen und der Demokratie im Namen der Aufrechterhaltung eines Funktionsganzen. Von der Machbarkeit führt in der Tat kein Weg zur Selbstgefälligkeit in der Einschätzung der Gegenwart. So soll die diesem dritten Teil vorangestellte Begrifflichkeil dazu dienen, am Beispiel der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf problematische Aspekte der gegenwärtigen Wirklichkeit aufmerksam zu machen und die Kehrseiten und Folgen der Machbarkeil stärker in den Vordergrund zu stellen. Die Konzentration auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland folgt einem weiteren Schwerpunkt im Wirken Hellmuth G. Bütows. Als jemand, der sich politisch auf dem Feld der Hochschulpolitik eingelassen hat und hier für die Idee einer Reform der Universität im Sinne der Demokratisierung ihrer Strukturen und einer Öffnung ihres inhaltlichen Angebots eingetreten ist, hat auch sein wissenschaftliches Interesse vorrangig der Demokratiefrage gegolten. Für eine "radikale Demokratie" war er ebenso wenig zu haben wie für eine Demokratie, die sich in den Dienst einer radikalen Verteidigung der Machtverhältnisse stellt. Demokratie ist für Hellmuth G. Bütow die vitale und sozial durchlässige Anwendung ihrer Normen und Institutionen in der Praxis, was erst erlaubt, geschichtlichen Änderungsimpulsen, und seien sie von Minderheiten vorgetragen, gesellschaftlich wie politisch Rechnung zu tragen. Die offene, der Übergangsthematik verpflichtete Sicht sperrt sich gegen einen Pragmatismus, der allein schon die Machbarkeit, die Realität des Status quo, zur Utopie erhebt, eine Haltung, die die Gesellschaft der Bundesrepublik in vielerlei Hinsicht kennzeichnet. In erster Linie ist hier die ökonomische und die private Orientierung der Deutschen der Bundesrepublik zu nennen, ihr Vertrauen in das individuelle, an den Symbolen des Konsums orientierte Fortkommen. Der \\ßgeheure Wachstumsprozeß der Wirtschaft wäh-

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rend der ersten zwei Jahrzehnte der Bundesrepublik, das sogenannte Wirtschaftswunder, hat den privat verstandenen Pragmatismus zu einer die Sozialkultur der Bundesrepublik prägenden Antriebskraft werden lassen. Der Rückzug auf die Wirtschaft, auf Teilhabe an materiellen Statussymbolen und das darin zum Vorschein kommende DesinteresseamIdellen muß zwar als eine Antwort auf die faschistische Vergangenheit verstanden werden, auf ideologische und politische Versprechungen, die in den Abgrund geführt haben, aber die kulturprägende Ökonomiezentrierung kennzeichnet auch und gerade die Haltung politischer und sozialer Eliten, die wirtschaftliches Wachstum, seine staatliche Beförderung und ordnungspolitische Absicherung, zum Leitmotiv ihres Gestaltungsauftrages erhoben haben und erheben. Fortschritt wird in dieser Perspektive zur bloßen Reichtumsansammlung, die sich kaum mehr auf die Idee der Aufklärung und der Emanzipation zurückführenläßt Der derart ordnungsgesättigte "Geist der Machbarkeit" fmdet in einem Staatsgeist seine Entsprechung, der auf den starken Staat vertraut und die gesellschaftlichen Bedingungen der Fortschrittsverwirklichung "von oben" reguliert. Der "Geist der Machbarkeit" wurde allzu oft und, wenig pragmatisch gedacht, in einer wehrhaften Demokratievorstellung konkretisiert. Ihr liegt die Idee politischer Gestaltung ohne fundamentale Störung zugrunde, die Idee von einer funktionierenden Staatsmaschinerie, die die Widersacher des Status quo gesellschaftlicher Stabilität und staatlicher Souveränität in den Rang von Feinden erhebt. An der verfassungspolitischen Streitbarkeitsprogrammatik wird augenscheinlich, wie sehr sich auch die Staatsund Demokratiekonzeption der Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik dem Pragmatismus der Stabilitätsicherung des Gegebenen verschrieben hat. Welchen Gefährdungen die "Utopie der Machbarkeit" und mit ihr die Stabilität der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik ausgesetzt ist, und was andererseits die Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung sind - darum kreisen die Beiträge dieses dritten Teils der Festschrift. Wemer Süß wirft die Frage nach den Instabilitätsmomenten im Ionern der Stabilitätsvorkehrungen des gesellschaftlichen und politischen Systems der Bundesrepublik auf. Theo Pirker nimmt zur industriesoziologischen Technikdebatte der Bundesrepublik Stellung. In einem sehr persönlich gehaltenen Beitrag betont er den bloßen Mittelcharakter der Technik. Mathilde Lüken-Klaßen und Jens Hölscher thematisieren am "Wirtschaftswunder" den Mythos der Freiheit. Sie hinterfragen die Marktversprechungen der Freiheit, indem sie mit Nachdruck auf das hohe Maß an staatlicher Intervention in die Wirtschaft hinweisen. Das Wirtschaftswunder ist ein Ausnahmefall in der ökonomischen Entwicklung; es eignet sich daher kaum für eine identitätsstiftende Interpretation der westdeutschen Gesellschaft. Vor allem kann es nicht als Referenzpunkt für die wirtschaftspolitische Diskussion dienen. Einen solchen Punkt sehen Lüken-

Zur Einführung

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Klaßen und Höls::!ter in einer geldwirtschaftlichen Interpretation der Marktwirtschaft. Klaus Schroeder setzt sich mit den Entstehungsgründen sowie mit den inneren Widersprüchen der APO von 1968 auseinander. Er geht der Frage nach der Wende von einem antiautoritären Politikverständnis zu einer parteikommunistischen Ausrichtung nach, die das kulturrevolutionäre Versprechen der APO hat zur Karikatur werden lassen. Hans-Dieter Klingemann befaßt sich mit Aspekten sozio-ökonomischer Ungleichheit in westlichen Industriegesellschaften und fragt nach ihren Konsequenzen für das politische Verhalten. Er kommt zu dem Ergebnis, daß ein sozio-ökonomisch konzipiertes Konfliktmodell für die Beschreibung der politischen Wirklichkeit der westlichen Industriegesellschaft nicht hinreicht. Dieter Claessens sieht in der strukturellen Durchlässigkeit für Ehrgeizige eine wesentliche Vorbedingung von friedfertiger Demokratie. Erst ein System selbstverantwortlicher attraktiver Positionen als tragendes Element des wirtschaftlichen und politischen Wettstreits, der die Demokratie charakterisiert, sichert ihre Friedfertigkeit. Vor dem Hintergrund der sich im Verlauf der 80er Jahre häufenden Skandale fragt Rolf Ebbighausen nach den Wurzeln, zeitspezifischen Tendenzen sowie gesellschaftlichen Ursachen ihrer Massierung. Er weist mit Nachdruck darauf hin, daß die Interpretation des Skandals als reinigende Bekräftigung der Normalität zur Erklärung der Massierung politischer Skandale nicht ausreicht. Jedes Übermaß an Abweichung deutet auf Anomie. lürgen Fijalkowski fragt nach den Gründen der Zunahme von Gewalt und Vandalismus. Er macht mangelnde Integration von Veränderungsbewegungen in das politische und gesellschaftliche System für den Gewaltzuwachs letztlich verantwortlich. Dieter Hecke/mann thematisiert das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Unterschiedlichkeit ihrer Reflexionsmuster und Handlungsmodi. IV.

Im vierten und abschließenden Teil der Festschrift wird die Utopiethematik unter zwei Gesichtspunkten ausblickend noch einmal aufgenommen: Vor dem Hintergrund der Ökologie-, Risiko- und Krisendebatten der letzten Jahre und Jahrzehnte thematisieren Fritz Vilmar und Ossip K Flechtheim die Bedingungen und Anforderungen an Politik und Wissenschaft, die die Utopie einer humanen Zukunft heute zu tragen in der Lage wären. Fritz Vilmar plädiert für eine öko-sozialistische Neuorientierung der Linken, für ein alternatives Sozialismuskonzept, mit dessen Hilfe die ideologische und politische Zersplitterung der Linken überwunden werden kann. Dabei hält er daran fest, daß die Begriffe links und rechts ihren Inhalt beibehalten haben, so daß sich aß dem gültigen Grundgehalt linker Theorie und Praxis, nämlich ausbeuterische Herrschaft von Menschen über Menschen aufzuheben, auch für die Zukunft nichts ändern wird. Nur muß dieser Grundgehalt, so Vilmar, heute auf

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eine breitere Basis gestellt werden, auf die der Bewahrung einer humanen Menschheitsexistenz. Denn neben die Fortschrittsutopie ist die Schreckensutopie einer schleichenden Zivilisationskrise getreten. Sie abzuwenden - dazu bedarf es nach Vilmar einer mühsamen Reformarbeit jenseits aller revolutionären Prophetie und auf der Grundlage eines breiten politischen Bündnisses sowie vor allem einer moralischen, sozial-ethischen Anstrengung, der politischen Eigeninitiative aller statt eines Organisations-Sozialismus, der die Einzelnen nur passiv an der Umgestaltung der Gesellschaft teilnehmen läßt. Ossip K Flechtheim tritt in seinem die Festschrift abschließenden Beitrag für eine systematische und kritische Beschäftigung mit der Zukunft, für eine kritische Futurologie ein. Um die Probleme der Zukunft erfolgreich zu lösen, ist für ihn zugleich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart unverzichtbar, denn Zukunft ist nicht eine abstrakt-unverbindliche Vorwegnahme dessen, was später einmal sein wird, sondern eine praktische Herausforderung, die es jetzt zu bestehen gilt. Zukunft ist nicht verlängerte Gegenwart in ihrem Status quo; die kritische Futurologie konzipiert Zukunft vielmehr aus der Gesamtschau möglicher, wahrscheinlicher, vor allem aber wünschbarer Entwicklungen. Insofern bildet die Auseinandersetzung mit der Utopie und der Ideologie den Ausgangspunkt der Zukunftsphilosophie, die es ebenfalls mit der Scheidelinie zwischen Unmöglichem und Möglichem zu tun hat. Flechtheim tritt dafür ein, sich im Sinne einer humanen Zukunft verstärkt dem Unmöglichen zuzuwenden, denn auch das Mögliche wäre nicht erreicht worden, "wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre." Es gilt, die Phantasie der Menschheit rasch zu mobilisieren, eine Umkehr zu bewirken, bevor es zu spät ist, was in erster Linie die Bereitschaft zum Umdenken und Andershandeln bei Vielen voraussetzt.

Erster Teil

Vom Geist der Utopie

Die Suche nach dem Nirgendwo und die europäische Moderne Von Michael Erbe Das menschliche Sein bestimmt sich nicht allein dadurch, daß unsere Spezies sich für die Vergangenheit interessiert und die Fragen nach dem eigenen Woher, dem Werden von Gattung und Individuum immer wieder neu stellt und zu beantworten versucht. Vielmehr schaut der Mensch als planendes und den Mangel an Lebeasnotwendigem bewirtschaftendes Wesen auch in die Zukunft, in die nähere wie in die fernere, und wirft für sich stets wieder aufs neue das Problem nach dem Wohin auf. Dem Bedürfnis nach Rekonstruktion der Vergangenheit entspricht so der Wunsch, auch die Zukunft möglichst weithin überschaubar zu machen, entspricht demnach auch der Traum von einem mach- oder zumindest wünschbarem "Morgen". Dabei mag es sich um Dies- oder um Jenseitshoffnungen handeln - fest steht auf jeden Fall, daß es nicht im menschlichen Wesen liegt, sich mit der Flüchtigkeit des GegenwartsAugenblicks zu begnügen, sondern Rück- und Vorschau in eins zu fügen. Dem Historiker ist beides interessant und Gegenstand der Forschung. Über eine Gesellschaft und über die in sie verwobenen Individuen erfahren wir hinsichtlich eines bestimmten Zeitabschnitts ihrer Entwicklung fast mehr aus der Art und Weise, wie sie über ihre jeweilige Vergangenheit und Zukunft dachten, als aus ihren Handlungen; zumindest lassen sich aufgrund der jeweiligen Vergangenheitssicht und der jeweiligen Zukunftsvision viele ihrer Handlungen besser verstehen, als wenn wir uns nur auf diese selbst beschränken. Zur heute immer intensiver betriebenen Mentalitätsgeschichte gehört auch, und nicht zum geringsten Teil, eine "Geschichte der Zukunft". Sie stellt sich dem Betrachter der verschiedenen Gesellschaftstransformationen und Epochen der Weltgeschichte sehr unterschiedlich dar. Im mittelmeerisch-abendländischen Kulturkreis beobachtet man einen fortlaufenden Wechsel zwischen kollektiven Zukunftsvorstellungen, die auf die jenseitige Welt nach dem Tode, und solchen, die auf handlungsorientierte Modelle im Bereich des eventuell noch derzeit Möglichen bezogen sind. Dabei erscheinen uns Visionen von einem allseits glückhaften Dasein nach dem physischen Ableben eher in geschlossenen Großgesellschaften beheimatet zu sein, in denen die Religion fest verankert ist und ein sowohl institutionell organisier-

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tes als auch konstitutives Binde- und Herrschaftsmittel darstellt. Pragmatischere Vorstellungen von einer u.U. leicht noch in diesem Leben erreichbaren Vervollkommnung der sozialen und staatlichen Verhältnisse sind dagegen vor allem dort anzutreffen, wo die politischen Verhältnisse sich überschaubarer gestalten und die Bedeutung des Religiösen für das öffentliche Bewußtsein im Rückgang begriffen bzw. zur bloßen Äußerlichkeit degeneriert ist. Ein Drittes kommt aber für die Entstehung von Diesseits-Träumen und eher gegenwartsbezogenen Zukunftsvisionen hinzu. Sie mehren sich in solchen Zeiten, in denen das allgemeine Bewußtsein das Überkommene in eine Krise geraten, die Traditionen im Wandel begriffen sieht und nach neuen Leitbildern sucht. Die Entwürfe von einem besseren, vollkommenen Staatsund damit auch Gesellschaftswesen im antiken Griechenland (wo man beides in eins dachte) zur Zeit Platons sind daher kein Zufall. Und ebensowenig ist dies zur Zeit des frühen 16. Jahrhunderts im westlichen und mittleren Europa der Fall, als nach dem Auftakt durch die "Utopia" des Thomas Morus von 1516 zahlreiche "Staatsromane" ähnlicher Art entstehen und zum Teil bis auf den heutigen Tag immer wieder neue Schriften dieses Genres verfaßt worden sind. Sicherlich lassen sich die eher intellektuellen Spielen gleichenden Utopien zwischen Humanismus und Aufklärung kaum mit den als Handlungsanleitungen zu "konkreten" Utopien konzipierten Schriften der frühen Sozialisten und schon gar nicht mit den funktionalen Entwürfen teilweise von Schreckenswelten vergleichen, wie sie seit der letzten Jahrhundertwende aufgekommen sind und überband nehmen. Aber allen ist doch gemeinsam, daß sie sich in Krisenzeiten, in denen überkommene Maßstäbe verloren gehen, mit dem scheinbar Machbaren hinsichtlich der staatlichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse auseinandersetzen. Hierbei soll uns die sogenannte Frühe Neuzeit als lange Zeit des Übergangs vom mittelalterlichen zum modernen Europa in erster Linie beschäftigen. Es überrascht zunächst, daß die Schrift "Vom besten Zustand des Staates und von der neuen Insel Utopia" des englischen Juristen und Diplomaten Sir Thomas More praktisch keine Vorläufer ausweist und, nachdem sie 1516 erschienen war, sogleich Epoche machte und zum Vorbild einer ganzen Gattung von Schriften über das "Nirgendwo" wurde. Beispiellos war die "Utopia" freilich nicht ganz. Auch das Mittelalter kannte "alternative" Lebenswelten, im Diesseits in der Form der Klostergemeinschaften wie im Jenseits in der Hoffnung auf einen idealen Daseinszustand nach dem Tode und dem jüngsten Gericht bei Gott. Dem englischen Humanisten schwebte bei der Beschreibung der Gesellschaft auf seiner imaginären Insel zweifellos die streng geregelte, auf dem Gleichheitsprinzip beruhende, der Arbeit ebenso wie geistigen Übungen gewidmete Ordnung des klösterlichen Lebens vor. Dies ist deswegen keineswegs verwunderlich, weil Morus selbst in seiner Jugend die Nei-

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gung verspürt hat, Mönch zu werden, und Zeit seines Lebens trotz aller Aufgeschlossenheit für Frohsinn und Bequemlichkeit unter seiner normalen Kleidung ein härenes Hemd trug. Die "utopische" Gesellschaft lebt allerdings nicht zölibatär, und sie ist diesseitsbezogen und in diesem Sinne völlig durchrationalisiert. Sie verharrt keineswegs in selbstgewählter Armut, sondern verfügt über ein Wirtschaftssystem, daß durchaus auf eine gewisse Überschußproduktion und die Erlangung bzw. den Erhalt eines wenigstens bescheidenen Wohlstands für alle ausgelegt ist. Hier scheint das System der mittelalterlichen Zünfte durch, die ihren Mitgliedern eben diesen zu sichern bestrebt waren. Was die rationale Durchorganisation der Institutionen des Utopiestaates schließlich betrifft, so erkennt man hier die zu Morus' Zeiten schon länger anhaltende Tendenz, den Gang der Staatsgeschäfte vernünftig zu ordnen, überschaubarer zu machen und Behörden mit möglichst klaren Kompetenzen zuzuweisen. Insofern war, was Morus in seinem Idealstaat beschrieb, zu einem erheblichen Teil nicht neu. Etwas Neues war aber der Gesamtentwurf, und neu war auch die Lokalisierung im scheinbaren Nirgendwo, "utopisch" genug, um nicht zu real, konkret genug, um nicht als bloße Phantasmagorie zu wirken. Die Idee zu einem Gesamtentwurf hängt sicherlich mit der Wiederentdeckung der Originalschriften Platons und vor allem mit dessen "Politeia" zusammen. Anklänge an dieses Werk sind vor allem in der Dialogführung des ersten Buches und in der Überleitung zum eigentlichen Werk, der Beschreibung des Staats- und Gesellschaftswesens der Utopier deutlich. Dies und die Verschlüsselung der Namen von Personen und Örtlichkeiten fußt auf der Tradition des von Italien her seit dem 14. Jahrhundert auf das übrige Europa ausstrahlenden Humanismus. Neu ist auch die Lokalisierung des Landes "Nirgendw~" auf einer fernen Insel - nach allgemeiner Auffassung ein Reflex auf die Entdeckung der "Neuen Welt" durch die Europäer und eine direkte Beeinflussung durch.die Reiseberichte des Amerigo Vespucci. Thomas Morus greift also die verschiedensten Elemente des damaligen Diskurses um das Ideal von Gesellschaft und Staat auf und verdichtet sie zur Beschreibung einer fmgierten Organisation eines isoliert lebenden menschlichen Verbandes. Er tut dies in einer Schrift, die er als gedankliches Experiment verstanden wissen will, bei dem er den Zeitgenossen, welche die Mißstände ihrer Gegenwart beklagen, gewissermaßen einen positiven Zerrspiegel vorhalten will. Derin der Ausgangspunkt der Schrift ist die im ersten - wie man weiß erst nachträglich verfaßten - Buch der "Utopia" aufgeworfene Frage, warum Bettelei und Diebstahl in letzter Zeit in England dermaßen überband genommen hätten, und die zunächst verblüffende Antwort, daß die Einhegungen von Bauernland und die darauf neuerdings betriebene Schafzucht die Schuld daran trügeri, weil sie die Landleute freisetzten und in Armut wie Kriminalität trieben. Von daher entspinnt sich automatisch die

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Diskussion um bessere Lebensverhältnisse für alle von einer vernünftigen Gesamtbasis aus. Diese Fragestellung - das Problematisieren von Mißständen aus ökonomischen Gründen - ist nun allerdings durchaus modern, d.h. neuzeitlich im Sinne der üblichen Periodisierung der europäischen Geschichte, und gleiches gilt von der Auffassung der Gesellschaft als Genossenschaftsorganismus, dem das Modell der städtischen Bürgerschaft als gemeinsam agierendem Körper zugrunde liegt. "Utopia" ist ähnlich wie die antiken Poleis oder die mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtstaaten wie etwa die deutschen Reichsstädte kein ländliches, sondern ein städtisches Gebilde, nicht nur mit handwerklich-gewerblicher Wirtschaft, sondern auch mit Landbesitz und Landnutzung durch "Ackerbürger". Als Staats- und Gesellschaftsideal verstanden, bedeutet dies, daß Morus die hergebrachte Feudalordnung hinter sich läßt. Die "Utopia" stellt sich mithin in ihrer ganzen Ambivalenz als typisches Produkt einer Zeitenwende dar, einer Übergangsepoche zwischen zwei Perioden der Entwicklung des abendländischen Europas, die wir als "Frühe Neuzeit", als "Early modern period" oder "Histoire moderne" (im Gegensatz zur "Histoire contemporaine" seit 1789) bezeichnen. In ihr mag das 16. Jahrhundert im großen und ganzen noch mehr zum Mittelalter gehören, das klassische Werk des Thomas Morus jedoch richtet den Blick nach vorne. Dies erhellt am ehesten daraus, daß es bis zum heutigen Tag immer wieder Nachahmer gefunden hat, während andere Formen der Darstellung besserer möglicher Welten wie Fürstenspiegel oder Vatizinien heute nur noch Gegenstand literaturhistorischer Forschung sind. Im folgenden ist der Frage nachzugehen, wie lange die Verfasser von Utopien sich dem Grundsatz des Thomas Morus verpflichtet fühlten, ein immerhin denk-, wenn auch unter dem obwaltenden Gegebenheiten kaum realisierbares Gegenmodell zur bestehenden Gesellschafts- und Staatsordnung zu entwerfen, halb gedankliches Spiel, halb ernsthaftes Anliegen, die Welt, wie sie sich leider darstellt, zu verbessern. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Mit der Aufklärung und mehr noch mit den revolutionären Vorgängen in der atlantischen Welt des späten 18. Jahrhunderts wird aus dem Gedankenexperiment, eine ideale Lebensgemeinschaft zu konstruieren, die Möglichkeit, ein vernunftgeleitetes Staats- und Gesellschaftswesen wirklich zu schaffen. Die amerikaDisehe Unabhängigkeitserklärung propagiert u.a. das Grundrecht auf "the pursuit of happiness" für jeden Einzelnen, die französische Bürger- und Menschenrechtserklärung geht von der Gleichheit aller von Geburt an und ihrer Gleichstellung vor Recht und Gesetz ebenso wie von der Berechtigung aller auf Eigentumserwerb aus (auch wenn gerade das auf Benachteiligung der meisten Menschen hinausläuft). Vorbereitet durch Naturrechtsdebatte ebenso wie durch die Staatstheorien seit dem späten 17. Jahrhundert, setzt sich die Auffassung durch, Verbesserungen seien nicht nur vorstellbar, son-

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dern auch praktisch zu verwirklichen. Die Utopie tendiert damit zur Handlungsanleitung, und das beste Beispiel dafür sind die bekannten Vertreter des utopischen Sozialismus. Die Utopie der Übergangsepoche der Frühneuzeit stößt sich dagegen stets an den realen Gegebenheiten eines Gesellschaftssystems, das noch in ständischen Binnenschranken verharrt und dem Aufbruch zur Moderne die Hemmnisse der Traditionen des Feudalzeitalters entgegensetzt. Sie beschreibt Gegenwelten mit dem Anspruch, daß sie real sein könnten, ja daß sie eigentlich geschaffen werden sollten, bleibt aber trotz dieses Anspruchs letztlich ergebnislose Kritik am Bestehenden, auch wenn sie auf Grundideen der Gesellschaftstheorien- etwa das Gleichheitspostulat- positiv einwirkt. Es ist nun schlechterdings unmöglich, auf die Hunderte utopischer Schriften, die zwischen dem Zeitalter des Späthumanismus und dem der Aufklärung verfaßt worden sind, im einzelnen einzugehen. Vielmehr soll versucht werden, trotz aller Vielfalt der zahlreichen Werke im einzelnen einige gemeinsame Grundzüge herauszuarbeiten, welche die Ambivalenz der Utopie als einer literarischen Gattung mit sowohl überkommenen als auch modernen Elementen in einer Zeit des verhältnismäßig langen Übergangs zwischen "Mittelalter" und "Neuzeit" verdeutlichen. Wie schon bei Morus fällt vor allem die Ambivalenz zwischen Traditionsgut und Neuansätzen ins Auge. Durchaus modern gedacht wird die gegenseitige Vernetzung der wesentlichen Lebensbereiche: Staatswesen, Wirtschaft und Gesellschaft stehen untereinander in steter Wechselbeziehung, und dem liegt zweifellos die Erkenntnis zugrunde, daß auch im wirklichen Leben diese Bereiche in einem engeren Zusammenhang zu sehen sind. Dem mittelalterlichen Denken war dies eher fremd. Die Einheit der Welt symbolisierte sich in Gottes Existenz und Allmacht, während die Welt sich in weitgehend autonomen Bereichen darstellte. Daß wirtschaftlicher Fortschritt auch Auswirkungen auf Gesellschaftsaufbau und staatliche Organisationsformen haben könnte, wäre einem von der Scholastik geprägten Denker kaum in den Sinn gekommen. Er brauchte auch kein Gesellschaftswesen in seinen Gedanken zu konstruieren, weil er sich mit der Unvollkommenheit alles Irdischen angesichtsder Erwartung des Heils im Jenseits abzufmden vermochte. Die Utopie jedoch, die eine Art Gegenbild zur realen Welt entwirft, muß- um glaubwürdig zu sein - eine funktionierende Alternative bieten. Das Postulat der Punktionstüchtigkeit des ersonnenen menschlichen Verbandes erzwingt aber die Herstellung eines schlüssigen Modells für das Zusammenspiel von behördlicher Organisation, sozialer Ordnung und Wirtschaften, zumal vom Anspruch ausgegangen wird, daß im "Nirgendwo" mehr Gerechtigkeit, stärker verankerter innerer Frieden und erhöhter Wohlstand herrschen. Daher die durchaus interessanten Überlegungen über die Abläufe von Wirtschaftssystemen in utopischen Schriften, Reflexionen, die wir, auf die Realität komplexer Ver-

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bände bezogen, erst mit dem kameralistischen Schrifttum seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorfinden. Doch zugleich stoßen wir auf einen traditionalistichen Zug in jenen Schriften, den sie im Grunde bis heute nicht abgestreift haben. Das konstruierte Modell, in dem wie in einem Uhrwerk Staat, Gesellschaft und Wirtschaft aufeinander abgestimmt sind, bleibt notwendigerweise statisch, weil eine Evolution zu höheren, besseren Formen der einmal, wenn auch nur scheinbar, so perfekt gelungenen Konstruktion widerspricht und außerdem die Verfasser utopischer Schriften in den eigenen Vorstellungen einer weitgehend bewegungslosen Weltordnung befangen bleiben, welche die Anschauung ihrer Gegenwart - man denke nur an das Staatsideal der "guten Policey'' ihnen einprägt. Eine Fortentwicklung, gleichgültig in welche Richtung, einzuplanen, hätte das gedankliche Konstrukt alsbald zerstört, und zugleich lieferte die Anschauung der realen Welt Europas bis weit ins 18. Jahrhundert hinein kaum Anhaltspunkte für eine Wendung des Verhältnisses zum Besseren, sondern eher zum Schlechteren hin. So bleibt der Mensch eingebunden in eine Zwangswelt, schöner und materiell gesicherter vielleicht als in der rauben Wirklichkeit, aber ohne Möglichkeit, sich selbst, seine Persönlichkeit voll zu entfalten. Er ist wie ein gut genährtes Arbeitstier in einem Insektenstaat, mit gewissen Aufstiegsmöglichkeiten, aber im Grunde ohne jegliche individuelle Freiheit. Eingezwängt in eine rigide Sozial- und Wirtschaftsordnung, verbringen fast alle ihr Leben, zwar ohne sich ständig überarbeiten und um Nahrung, Behausung und Kleidung sich sorgen zu müssen, jedoch in Eintönigkeit. Dabei fällt auf, daß der große Lebensbereich Kultur mit den genannten übrigen in der Regel kaum vernetzt ist oder sogar eine Art Sonderdasein fristet. Bildung im höheren Sinne bleibt oft - man denke etwa an Campanellas "Sonnenstaat" - nur wenigen vorbehalten, auch wenn auf Bildung an sich viel Wert gelegt wird. Es bleibt allerdings im großen und ganzen beim formalen Kanon der herkömmlichen Bildungsinhalte, wie sie das Mittelalter überliefert und der Humanismus ausgestaltet hat. Zwar unterhält der Idealstaat Neu-Atlantis des Francis Bacon eigene Forschungs- und Technikinstitute, doch dienen deren Erkenntnisse keineswegs der ökonomischen Transformation, wenn man einmal von den Anwendungsmöglichkeiten der Heilkunst absieht, sondern sind Selbstzweck unabhängiger Individuen, die ein eher abgehobenes Sonderdasein führen. Bezeichnend ist auch, daß die Stellung der Frauen in der Gesellschaft verglichen mit der Wirklichkeit kaum eine Verbesserung erfährt. Selbst das relativ liberale System des Tbomas Morus kennt keine Führungspositionen für Frauen, auch wenn die Mädchen die gleiche Ausbildung wie die Jungen erbalten und der weibliche Teil der Bevölkerung genauso wie der männliche

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zur Arbeit herangezogen wird. Herrscht bei Morus noch eine gewisse Freizügigkeit bei der Wahl des Lebenspartners, so sind viele der Utopisten nach ihm der Auffassung, daß es dabei vor allem auf gesunden Nachwuchs anko.mme. Eugenik wird wichtiger als Zuneigung, die allerdings erst in neuester Zeit allgemein als notwendige Basis für eine Lebenspartnerschaft angesehen wird. In der Mentalität des frühneuzeitlichen Europäers spielte sie dagegen hierfür eine weitaus weniger bedeutende Rolle. Das utopische Schrifttum ist eher an den sozialen Heiratsnormen der damaligen als an den Vorstellungen über die Basis von Lebensgemeinschaften von Sexualpartnern der heutigen Gegenwart orientiert. Ebenso herrscht das traditionelle Bild von den Geschlechterrollen vor. Ausnahme wie die nur von Frauen bewohnte "Federinsel" im indischen Ozean, welche Fanny de Beauharnais 1786 beschrieb, bestätigen eher die Regel, und gleiches gilt von der verkehrten Welt des Amazonenstaates aus der griechischen Mythologie, der auch von utopischen Schriftstellern nach Morus aufgegriffen wurde und in dem die Männer die unterdrückte Rolle spielen, die sonst den Frauen zugewiesen wird. Mit dem Ende der Aufklärungszeit tritt hinsichtlich der zeitlichen Verortung des Nirgendwo eine Wende ein, und sie kennzeichnet Sebastien Merciers berühmter Roman "L'An 2440. Reve s'il en fut jamais", der zuerst 1770 erschien und in dem der Autor fast vierhundert Jahre später in einem zum Teil stark veränderten Paris erwacht. Er beschreibt freilich ein Neu-Paris, das doch stark an das 18. Jahrhundert erinnert, auch im Hinblick auf die erhofften Veränderungen, die inzwischen eingetreten sind. Dennoch beginnt mit diesem Werk ein neues Kapitel des utopischen Schrifttums. Blickt man in alten Zeiten auf weit zurückliegende Epochen des Glücks zurück, auf Paradies und Goldenes Zeitalter, und hoffte, im Jenseits mit entsprechend seligen Zuständen für gutes Verhalten im irdischen Dasein belohnt zu werden, so hatte die Utopie seit Morus eine durchaus gegenwärtige, jedenfalls potentiell mögliche Alternativwelt konstruiert, an der man die Trübsal der Gegenwart utopisch messen konnte. Guillaume Bude, der große Dritte im Humanistengestirn des Erasmus und Morus zu Beginn des 16. Jahrhunderts, hatte daher Unrecht, wenn er die Outopfa, das "Nirgendwo", als Oudepotfa, als das "Niemalsland", bezeichnete. Der Phantasie des Lesers bleibt es im Zeitalter der Entdeckungen durchaus zumutbar, wenn die andere Welt auf einer entlegenen Insel plaziert wurde. Reinhart Kaselleck weist völlig zu Recht darauf hin, daß dieser literarische Trick mit den letzten großen Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts unglaubwürdig wurde (auch wenn ein "ShangriLa" irgendwo in Tibet noch im 20. Jahrhundert erfunden werden konnte). Der Zeitsprung in die Zukunft und damit der erste Zukunftsroman lag nahe, und er sollte seinerseits in den verschiedensten Formen, angelehnt auch an vereinzelte frühneuzeitliche·Dystopfai bis hin zu Horrorvisionen eines Huxley,

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Samjatin oder Orwell Epoche machen. Damit spaltet sich die Utopie auf in Planen für konkrete Umsetzung, wie sie den Frühsozialisten des beginnenden 19. Jahrhunderts, die Jesuiten in Paraguay oder die Digger im England der Puritanischen Revolution vorexerziert haben mögen, und in die Ouchronia einer eher vagen Ansiedlung alternativer Daseinsformen in unbestimmter Zukunft. Hier nun drückt sich die Spannung zwischen Wollen und Können in der eigentlichen Moderne aus, dem Zeitalter von Industrialisierung und Massengesellschaft. Denn erst jetzt wird vieles bisher als "utopisch", als unrealistische Belächelte plötzlich in das Blickfeld des Machbaren gerückt, bekommt der Traum vom eigentlich Besseren eine neue Qualität. Unrealistisch zwar, aber doch von prinzipieller Hoffnung auf Realisierung genährt, wird es zum Movens neuer politischer Bewegungen, ob deren Führer nun echt daran glauben, den erweckten Hoffnungen gerecht werden zu können, ober ob sie das, was sie ingang setzten, lediglich mißbrauchen. Seit etwa 1800 leben wir einen fortwährenden Traum. Die Gegenwart dagegen erscheint uns als durch unser Planen und Handeln grundsätzlich bewältigbar, auch wenn man sich stets fragen muß, um welchen Preis das der Fall ist.

Anmerkung Ich sehe hier von einem Anmerkungsapparat ab und verweise innerhalb der reichhaltigen Literatur lediglich auf einige Standardwerke. Umfassend unterrichten die Beiträge in Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bände, Stuttgart 1982, ND Ffm 1985. Hilfreich ist auch die kommentierte Bibliographie bei Grieg, Hiltrud, Der utopische Roman. Eine Einführung, München/Zürich 1983; vgl. auch dies. (Hg.), Literarische Utopie-Entwürfe, Ffm 1982. Zu Thomas Morus vgl. Baumann, Uwe; Heinrich, Hans-Peter, Thomas Morus, Humanistische Schriften, Darmstadt 1986. Vom Standpunkt der historischen Wertung aus bleibt unübertroffen Nipperdey, Thomas, Die Utopie des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, zuerst 1966, überarbeitet in: Ders., Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert. Göttingen 1975, sowie ders., Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, zuerst 1962, jetzt in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, Seite 74-88.

"Geschichtszeichen" Kants Utopie Von Hartmut Zinser Immanuel Kants Utopie ist eingeschlossen in der Idee einer "vollkommen bürgerlichen Verfassung" (41), die in einem Staate die Bedingung der Möglichkeit bietet, daß ein jeder von seiner Freiheit Gebrauch machen kann, "seine Glückseligkeit auf dem Wege (zu) suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, nicht Abbruch tut," (145). Eine vollkommen bürgerliche Verfassung nach innen, die auch ein "Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)" nach Kants hyperbolischer Bemerkung (224) zustande bringen können, ist für Kant zugleich abhängig von einem gesetzmäßigen "äußeren Staatenverhältnis", also einem "weltbürgerlichen Zustand", der in einem "Völkerbund", von dem jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und seine Rechte erwarten könnte, verwirklicht werde (42). Kant weiß, daß diese Idee "schwärmerisch" erscheint und bei Rousseau, weil er eine solche bereits der Ausführung zu nahe glaubt, verlacht werden würde (42). Allein, er hält an dieser Idee fest und fährt an späterer Stelle fort: "Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben, aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee ... selbst beförderlich werden kann" (45). Gerade darum aber handle es sich nicht um Schwärmertum, ein Begriff, der seit Luther auf die protestantischen Utopisten in den verschiedenen Sektenbewegungen angewandt wird. Heute würden wir solche Leute Ekstatiker nennen. Damit aber sind Leute gemeint, die aus der physischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit austreten und andere Wirklichkeiten suchen oder versprechen, ohne daß sie die Übergänge angeben oder auch nur über diese sich Rechenschaft ablegen. Ekstatiker erwarten den Geist ohne Körper, den Leib ohne Reflexion, den Genuß ohne Arbeit. Kants Utopie einer vollkommen bürgerlichen Verfassung enthält die Momente der Rechtsstaatlichkeit, der Ordnung nach "Rechtsprinzipien" nach innen und außen, der Freiheit jedes Einzelnen als Mensch, der Gleichheit und der Selbständigkeit und den "ewigen Frieden", da ihm der Krieg, "als trauriges Notmittel im Naturzustand" (200), als der "Zerstörer alles Guten" (364)

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schlechthin gilt. Der Krieg führe nicht nur zu einer Verschwendung der Mittel, richte unsägliche Verwüstungen an und hemme durch die Rüstung "die völlige Entwicklung der Naturanlagen in ihrem Fortgange" (44), er hindere auch die "Weltregierer" daran, für die "öffentlichen Erziehungsanstalten, und überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft", Geld zu haben, "weil alles auf den künftigen Krieg schon zum voraus verrechnet ist" (47). Den Ausgang aus diesem rohen Naturzustand und der Unmündigkeit zu befördern, aber war sein utopisches Programm. Es war aber I. Kant ein Realist und alles Schwärmerturn ist ihm fremd und die bisherige Geschichte mochte ihm widersprechen. Er stellte sich deshalb immer wieder die Frage, aufgrundwelcher "Aspekte und Vorzeichen" (361) denn eine solche Idee dereinst realisiert werden könne oder "ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?" (351), wie er im "Streit der Fakultäten" den Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen betitelt. Daß das "Fortschreiten zur Vollkommenheit" die "Bestimmung" der menschlichen Gattungsgeschichte sei, ist Kant dabei völlig unzweifelhaft (92) und ebenso, daß in diesem Entwicklungsgange schon etliches erreicht sei. "Wir sind", schreibt er (44), "im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultivien. Wir sind zivilisien, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisien zu halten, daran fehlt noch sehr viel."

Damit ist zugleich viel gesagt, worin Kant das Fortschreiten der menschlichen Gattung nicht sieht, auch wenn er deren Fortschritt nicht verneint: in einem Fortschritt des Wissens und der Technik, um es modern auszudrücken. Der wahre Fortschritt, an dem man nach den Erfahrungen der Geschichte der letzten 200 Jahre bisweilen verzweifeln möchte, besteht nach Kant in einem Fortschritt des moralischen Gesetzes und dessen Entfaltung in uns. Moral ist Kant dabei nichts Kleinbürgerliches, Moralisierendes oder die Freiheit des Einzelnen nach abstrakten Regeln Einschränkendes, sondern besteht in dem Grundsatz: "handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle)." (239). Wie kann man aber etwas über den Fortschritt der Moralität wissen, da man doch hier Aussagen über die Zukunft macht und somit ins Gebiet des Wahrsagensund Weissagens, der Prophetie hineinkommt? Dies hält Kant für möglich, "weil es eine Begebenheit beträfe, die (der Mensch) selber machen kann" (356). Eine "wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden in der künftigen Zeit" sei möglich, wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, "die er zum voraus verkündigt" (351). Die jüdischen Propheten hätten in alten Zeiten, die Politiker und Geistlichen in neueren den Menschen den Niedergang weisgesagt, und hätten dies tun können, weil sie den Menschen "durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der

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Regierung an die Hand gegebene, Anschläge (zu dem) gemacht haben" (352), was die vermeintlich-klugen Staatsmänner immer vorausgesehen haben. Drei Auffassungen über die menschliche Gattungsgeschichte gebe es: den "moralischen Terrorismus", der einen ständigen Verfall ins Ärgere annehme, den "Abderitismus", der ein ewiges Auf und Ab konstatiere, und schließlich den "Eudämonismus", der auch Chiliasmus genannt werden könne. Abderitismus und moralischen Terrorismus weist Kant als nicht begründbar zurück, aber worauf soll sich ein "Chiliasmus" gründen? Durch Erfahrung etwa aus der vergangeneo Geschichte sei diese Aufgabe unmittelbar nicht zu lösen. Selbst wenn man in die bisherige Geschichte einen wie immer unterbrochenen, doch zugleich ständigen Fortschritt einschreiben könne, so sei daraus kaum zu schließen, daß wir uns nicht am Ende dieses Fortschreitensund dem Beginn des Verfalls befinden. Sich an die erscheinende Erfahrung zu halten, könne sehr in die Irre führen, denn die Wahl des Standpunktes, von dem aus wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, mag die menschliche Gattungsgeschichte als widersinnig erscheinen lassen, so wie der Lauf der Gestirne, von der Erde aus gesehen, bisweilen als rückläufig, stillstehend oder bald als fortgängig, d.h. bar jeder Vernunft erscheint, hingegen von der Sonne aus gesehen, wie es Kopernikus tat, in ihrem regelmäßigen Gang erkannt werden kann. Nicht an einzelnen Taten und Untaten, "wodurch, was groß war, unter Menschen klein, oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen "(357), ist das Fortschreiten der menschlichen Gattung zu erkennen, überhaupt nicht an einzelnen Ereignissen, denn dies würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben. Aber an irgendeine Erfahrung im Menschengeschlechte, die auf ein Vermögen verweist, welches Ursache des Fortrückens zum Besseren sein kann, muß die Idee eines Fortschritts anknüpfen können. Eine solche Erfahrung und Begebenheit nennt Kant Geschichtszeichen. Solche Geschichtszeichen sieht Kant nun nicht in einzelnen Taten, materiellen oder gesellschaftlichen-organisatorischen Entwicklungen, wie es von verschiedeneo Autoren in der Aufklärung und nach ihr, im vorigen Jahrhundert, vor allem in Entwicklungen des technischen Vermögens, in welchem aber übersehen wurde, daß die technische Entwicklung nicht nur die Möglichkeiten der Linderung der materiellen Not, der Beseitigung des Hungers und der Befriedigung von immer raffinierteren Bedürfnissen, sondern auch eine damals kaum geahnte Zerstörungsmacht zugleich mit hervorbrachte, in diesem Jahrhundert in einer Umgestaltung der Organisation der Gesellschaft gesucht wurde, vielmehr siebt Kant die Geschicbtszeichen des Fortschritts allein in der "Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät" (357). Nicht die französische Revolution selber, die in diesen Tagl(n ihren 200. Jahrestag feiert, mit ihrem Elend

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Hartmut Zinser

und Greueltaten, die einen "wohldenkenden Menschen" vielleicht abhalten könnte, ein solches Experiment erneut zu versuchen, sondern die "Teilnehmung (des allgemeinen Publikums) dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war," offenbare "eine moralische Anlage im Menschengeschlecht" (358). Dieser Enthusiamus, der als Affekt bei Kant nicht ohne Tadel bleibt, geht immer aufs Idealische und ist nicht käuflich. Durch Geldbelohnungen hätten die Gegner der Revolution nicht zu dem Eifer und der Seelengröße gespannt werden können, auch der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels sei vor den Waffen derer, welche das Recht des Volkes ins Auge gefaßt hatten, verblaßt Moral ist nicht käuflich, allenfalls kann sie durch Geld und andere Belohnungen korrumpiert werden, wie wir dies in unseren Tagen immer wieder erleben und was als "Anschlag" der Obrigkeit, wie Kant es nennt, auf die Integrität der Menschen betrachtet werden muß, mit dem sie sich rechtfertigen und zugleich die Kritik zum Verstummen bringen will. Die Teilnahme am Moralischen mit Affekt "vergißt sich nicht mehr". Kants Hoffnung gründet sich auf diesen moralischen Enthusiasmus, der eine "Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat" (361), von dem man freilich nicht sagen könne, wann es in der Menschengeschichte eine vollkommen bürgerliche Verfassung herbeiführe, da dies unbestimmt und eine Begebenheit aus Zufall einschließe. Allein auf dieser Grundlage schließt Kant allen Ungläubigen zum Trotz und für die "strengste Theorie" haltbar: "daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortfahren werde" (362). Das größte Hindernis des Fortschreitens sieht Kant neben dem Krieg in dem "Verbot der Publizität" (363), er forderte deshalb immer wieder, daß der "öffentliche Gebrauch" der Vernunft uneingeschränkt und frei sein müsse (57). Nun hat Kant sich kaum vorstellen können, welche Unsummen heute für den Krieg, die Rüstung und Nachrüstung von den Regierungen der Staaten in aller Welt aufgewendet werden und damit der Eintritt in einen "wahrhaft menschlichen Zustand" verzögert oder gar verhindert wird. Ebensowenig wird er vielleicht das Ausmaß an Manipulationsmöglichkeiten von Öffentlichkeit, die einmal zutreffend mit "Aufklärung als Massenbetrug" charakterisiert wurde, auch nur geahnt haben können. Und es erhebt sich die Frage, ob seiner Idee und Analyse einer Änderung der Denkungsart des mit Enthusiasmus am Weltgeschehen beteiligten Publikums, das als Geschichtszeichen legitimerweise zu deuten wäre, noch Wirklichkeit zukommt. Allein, so schwarz, wie die "schwärzesten Schriftsteller" uns unsere Zeit vorstellen, scheint sie denn doch nicht zu sein. Noch immer scheuen sich die Regierungen, ihre Verbrechen öffentlich zu begehen und suchen für diese zumindest eine legale Rechtfertigung. Die schlimmsten Verbrechen dieses Jahrhunderts wurden

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unter strengster Geheimhaltung begangen (was niemanden entschuldigt, denn es war bereits ein großes Maß an Verdrängung und Nichtwahrnehmen-Wollen der sichtbaren Vorbereitungen dieser Verbrechen vorhanden) und wurden nachher verleugnet, verdrängt und vertuscht und genau darin, in der Geheimhaltung und der Verleugnung, dem Nicht-Wissen-Wollen, könnte sich ein Zeichen dessen fmden, wonach Kant gesucht hat und worauf er seine Hoffnung gründet. Denn in den schier unermeßlichen Veranstaltungen der Geheimhaltung, des Leugnens und Verdrängens offenbart sich das schlechte Gewissen der Herrschenden wie Beherrschten und in diesem schlechten Ge. wissen das, was Kant die moralischen Anlagen des Menschen genannt hätte. In einem hatte Kant aber bestimmt recht, aller Fortschritt in der Technik der Naturbeherrschung, in der Aufhäufung von Wissen und in der sozialen Organisation, ohne daß damit deren Bedeutung unterschätzt werden soll, bleibt ohne einen Fortschritt in der inneren Moral, der Ausbildung der "moralischen Anlagen" des Menschen hoffnungslos. Nun können wir heute die von Kant vorausgesetzten "moralischen Anlagen" nicht mehr teilen, wir würden eine solche Fähigkeit nicht als irgendwie biologisch oder anders dem Menschen mitgegeben anerkennen, vielmehr würden wir die moralischen Anlagen des Menschen selber als Resultat von sozialen und geschichtlichen Prozessen ansehen, die aber, nachdem sie einmal in der Gattungsgeschichte stattgefunden haben, sich nicht mehr vergessen, und, da sie in dem Erfordernis des Zusammenlebens der Menschen ein fundamenturn in re haben, auch nicht aufgegeben werden können, vielmehr der weiteren Entwicklung bedürfen. Vielleicht ist es sinnvoll, nachdem so viele verschiedene Versuche, einen wahrhaft menschlichen Zustand herzustellen, in individuellen oder gesellschaftlichen Katastrophen gescheitert sind, die Kantische Vorstellung des Fortschritts und der Politik, die seiner Geschichtskonstruktion eingeschrieben ist, erneut zu erwägen. Literatur Kant, 1.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); Was ist Aufklärung (1784); Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793); Zum ewigen Frieden (1796); Der Streit der Fakultäten (1798); zitiert nach der Ausgabe von W. Weischedel, Frankfurt a.M., Suhrkamp-Verlag 1968, Bd. XI. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diesen Band.

Gibt es einen anarchistischen Diskurs in der klassischen Utopietradition? Von Richard Saage I. "In beinahe jeder Utopie", schrieb Herbert George Wells 1905, "sieht man stattliche, aber eintönige Gebäude, symmetrische und perfekte Bebauungen und eine Menge Leute, gesund, glücklich, gut gekleidet, aber ohne irgendein persönliches Merkma1." 1

Das utopische Szenario gleiche einem der großen Repräsentationsbilder des viktorianischen Zeitalters, auf denen Krönungen, königliche Hochzeiten, Parlamente, Konferenzen und Versammlungen dargestellt werden: Sein charakteristisches Signum bestehe darin, daß auf ihm jede Figur anstelle eines Gesichtes ein bloßes Oval trage, in das eine Index-Nummer lesbar eingetragen sei.2 "Für die klassische Utopie", so faßte Wells sein Urteil zusammen, "war Freiheit relativ nebensächlich. Tugend und Glück waren für sie offensichtlich vollkommen von der Freiheit ablösbar und darüber hinaus viel bedeutender als diese."3

Tatsächlich haben die Institutionen der meisten neuzeitlichen Utopien von Morus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts absoluten Vorrang gegenüber der individuellen Freiheit. Den einzelnen steht nur zu, in ihrem Rahmen zu funktionieren. Zwar beruhen die Institutionen auf gemeinsamer Vereinbarung. Doch einmal konstituiert, bilden sie gleichsam eine staatliche Superstruktur, in deren Rahmen die Vernunft der einzelnen ohne Rest aufgeht. Glück und Freiheit ist die Erfüllung dessen, was die Institutionen dem einzelnen vorschreiben. Eingebunden in das lückenlose Netzwerk sozialer und staatlicher Kontrollen erscheint individuelle Spontaneität, die sich ihren Imperativen zu entziehen sucht, perseins Unrecht gesetzt. Der einzelne, in der Regel seiner Privatheit weitgehend beraubt, gleicht einem gläsernen Menschen, dessen Verhalten fast vollständig vom Auge der Obrigkeit erfaßt wird. Gab es zu den utopischen Leviathanen keine Alternative? Ging der Denktypus der Sozialutopien seit Morus ohne Rest in jenem Arrangement starker 1 Wells, Herbert George, A Modern Utopie. Introduction by Mark R Hillegas, Lincoln 1967,

s. 9.

2 A.a.O.,

S. 9 f. 32.

3 A.a.O., S.

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Richard Saage

Institutionen auf, die das Elend der einzelnen nur um den Preis ihrer individuellen Freiheit beseitigen zu können meinte? Hatte die eigentliche Leistung der Renaissance, die Entdeckung des Individuums, nur die Auswirkung auf das utopische Muster selbst noch des 19. Jahrhunderts, daß es sich negativ von ihm abgrenzte? Mit diesen Fragen ist übergeleitet zum Thema meines Aufsatzes. Ihm liegt im wesentlichen ein zweifaches Erkenntnisinteresse zugrunde. Einerseits möchte ich den Nachweis führen, daß es trotzdes schulemachenden Konstruktes der Utopia des Thomas Morus, das an den Institutionalismus der Politeia Platons anknüpfte,4 innerhalb der Utopie-Tradition prägnante Ausnahmen gab, die über den herrschenden Typus in wesentlichen Aspekten hinausgingen: Gemeint sind die staatsfreien utopischen Fiktionen, wie sie im 16. Jahrhundert von Fran~ois Rabelais in seiner Abtei Thelema,5 von Gabriel des Foigny in seiner 1676 erschienenen Nouveau Voyage de Ia Terre Australe,6 von Denis Diderot in seinem um 1775 entstandenen Nachtrag zu Bougainvilles' Reise1 und in William Morris' 1890 erschienenen Roman Kunde vom Nirgendwo 8 entwickelt wurden. Andererseits geht es mir nicht um die Klärung der Frage, ob diese Utopien tatsächlich vom modernen Anarchismus rezipiert worden sind. Vielmehr möchte ich prüfen, ob sie als ideengeschichtliche Vorläufer der anarchistischen Bewegung gelten können, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung konstituierte und in einigen europäischen Ländern noch im 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielte. Vgl. Saage, Richard, Utopia als Leviathan. Platons Politeia in ihrem Verhältnis zu den frühneuzeitlichen Utopien, in: ders., Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1989, S. 9-45. 5 Rabelais, Fran~ois, Gargantua und Pantagruel. Mit Illustrationen von Gustav Dore. Hrsg. von Horst und Edith Heintze. Erläutert von Horst Heintze und Rolf Müller, Bd. 1, 1. Auflage, Frankfurt a.M. 1974, S. 170-184. Im folgenden beziehe ich mich auf diese Edition. Die deutsche Übersetzung wurde freilich am französischen Text überprüft. Dabei legte ich folgende Edition zugrunde: Rabelais, Fran~ois, L'Abbaye de Theleme. Publ. par Raoul Mor~ay, 2. ed. rev. et augm., Geneve 1949. De Foigny, Gabriel, Nouveau Voyage de Ia Terre Australe etc., Paris 1663. 7 Diderot, Denis, Nachtrag zu 'Bougainvilles Reise' oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen, in: ders., Philosophische Schriften. Hrsg. von Theodor Lücke, Berlin West 1984, S. 195237. Nach dieser Edition wird im folgenden zitiert. Allerdings wurde die deutsche Übersetzung am französischen Text überprüft. Dabei legte ich folgende Edition zugrunde: Diderot, Denis, Supplement au voyage de Bougainville ou dialogue entre A. et B., in: ders., Oeuvres philosophiques, Paris 1961 (Editions Gamier Freres), S. 455-516. 8 Morris, William, Kunde von Nirgendwo. Eine Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Wilhelm Liebknecht Neu hrsg. von Gert Seile, 2. Auflage, Reuttingen 1981. Die deutsche Übersetzung, nach der im folgenden zitiert wird, wurde mit dem englischen Text verglichen. Dabei legte ich folgende Edition zugrunde: Morris, William, News from Nowhere or an epoch of rest being some chapters from a utopian romance. Edited by James Redmond, London 1970.

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Wer diese Fragen zu beantworten sucht, steht vor zwei Problemen. Zunächst läßt der Untersuchungsgegenstand eine Analyse, die Hermeneutik und Ideologiekritik verbindet, dringend geboten erscheinen. Die Folie, auf der die unverwechselbare Signatur der staatsfreien Utopie zu dechiffrieren versucht wird, hat genau jenes Modell fiktiver Gegenwelten zu sein, von der sie sich absetzt: die etatistische Sozialutopie. Dies vorausgesetzt, ist klar, daß Autoren wie Morus, Campanella, Andreae, Bacon, aber auch Mably, Morelly und Mercier ebenso im Verlauf der folgenden Darstellung präsent sind wie Cabet und Bellamy, auch wenn auf sie nicht ausdrücklich Bezug genommen wird. Zum anderen ist die Frage, inwiefern der behauptete Antiinstitutionalismus dieser Utopien anarchistisch sei, nur dann beantwortbar, wenn auf einen tragfähigen Begriff des Anarchismus zurückgegriffen werden kann. Mit diesem Schluß ist das zentrale methodologische Problem meiner Ausführungen angesprochen. Wie Peter Lösche überzeugend dargelegt hat, sind insbesondere die geistesgeschichtlichen Definitionsangebote äußerst problematisch: Sie drohen, wenn sie den Anarchismus aus seiner jeweiligen sozia-politischen Verankerung lösen, leicht zu Leerformeln zu verkommen, die mehr über die subjektive Wertung ihres Autors als über den Gegenstand selbst aussagen, oder zu inhaltsleeren und damit sinnlosen Typologien zu führen.9 Ohne den Anspruch auf einen sozialgeschichtlich tragfähigen AnarchismusBegriff erheben zu wollen, erscheint es mir dennoch im Sinne meiner Fragestellung erlaubt, folgende Dimensionen eines überschießenden Gehaltes des anarchistischen Selbstverständnisses herauszustellen, der seine gesellschaftliche Gebundenheit sprengt und die übergreifende Identität des Anarchismus überhaupt erst stiftet. In Anlehnung an Lösche10 möchte ich vier Kriterien nennen, "die zusammengenommen es u.U. ermöglichen, ihn von anderen sozialen und politischen Bewegungen zu unterscheiden."11 1. Der Anarchismus lehnt konsequent Institutionen ab, sofern sie willkürlich oder mittels gesatzter Normen Herrschaft ausüben. Diesem Verdikt verfallen alle Einrichtungen, die im Dienst ideologischer, politischer oder ökonomischer sowie sozialer Zwänge stehen: Mag es sich um den Staat, um Bürokratien, um Parteien und Verbände oder um Kirchen handeln.

2. Der Anarchismus geht von der Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft aus. Die Herrschaft des Menschen über den Menschen im Arbeits- und Vgl. hierzug Lösche, Peter, Anarchismus, 2. unveränderte Auflage, Darmstadt 1987, S. 19 ff. Zur umfangreichen Literatur über den Anarchismus verweise ich auf diese Arbeit Lösches. Ihr Verdienst besteht darin, nicht nur die wichtigsten Resultate der neueren Anarchismus-Forschung systematisch dargestellt, sond,e rn zugleich auch ihre Defizite aufgezeigt und weiterführende Fragestellungen formuliert zu haben. 10 Lösche, Peter, Anarchismus - Versuch einer Definition und Historischen Typologie, in: PVS, Bd. 15 (1974), S. 55 f. sowie ders. (Anm. 9), S. 17 f. 11 Lösche, Anarchismus-Versuch (Anm. 10), S. 55.

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Produktionsprozeß ist abgeschafft. Die Reproduktion der Gesellschaft fmdet in dezentralisierten Assoziationen statt, die auf freiwilliger Abrede der Individuen untereinander beruhen. In diesen basisnahen Einrichtungen werden unter Gleichen alle für das Gemeinwesen notwendigen Entscheidungen getroffen.

3. Ideologien und gesellschaftliche Praxis anleitende Theorien werden vom Anarchismus als Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs derjenigen abgelehnt, die sie propagieren. "1beorielosigkeit wird deswegen(...) zum Prinzip erhoben, weil eine Theorie zur Autorität gerinnen und die Freiheit des einzelnen und damit auch der Gesellschaft einschränken könnte" .12

4. Die Transformationsperspektive des Anarchismus beruht auf einem voluntaristischen Revolutionsbegriff: Sie lebt von der unerschütterlichen Überzeugung, daß die herrschaftsfreie Gesellschaft zu verwirklichen ist, wenn die Akteure dies nur entschieden genug wollen. Die in den politischen und ökonomischen Kräfteverhältnissen verankerten restriktiven Bedingungen einer revolutionären Umwälzung werden von ihm ebenso als irrelevant ausgeblendet wie ein langwieriger gradualistischer Übergang zur herrschaftsfreien Assoziation. Diese vier Kriterien sind zugleich die analytischen Ebenen, auf denen ich die oben genannten Utopien diskutieren möchte.

II. Die schulemachenden utopischen Fiktionen im Zeitalter der Renaissance und der Reformation knüpften, wie schon angedeutet wurde, bewußt oder unbewußt an den Antiindividualismus und den Institutionalismus der Politeia des Platon an.13 Doch darf eine prägnante Ausnahme nicht verschwiegen werden, die über den herrschenden Utopietypus hinausging: Ich meine die Abtei Thelema, die Fran~ois Rabelais in den Kapiteln 52 bis 57 seines Romans Gargantua und Pantagruel beschrieben hat. Der Institutionalismus der klassischen Utopie reglementierte das Leben der einzelnen bis in die alltäglichen Details. In Thelema reduziert sich dagegen die Ordensregel der fiktiven Klostergemeinschaft auf einen einzigen Paragraphen: "Tu, was Dir gefällt!"14 Ein institutionalisiertes Reglement, das begrenzt, ahmißt und nach Stunden unterteilt, existiert nicht. Es gilt als etwas außerordentlich Törichtes, "sich vom Schlag der Glocke statt vom Verstand und Überlegungen leiten zu

Ebd.

13 Vgl. hierzu Saage, Utopia (Anm. 4). 14 Rabelais, Gargantua (Anm. 5), S. 180.

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lassen."15 Freie Menschen, so wird argumentiert, handeln von sich aus tugendhaft. Erst wenn durch Institutionen vermittelte Gewalt sie niederdrücken und knechten, depraviere der freie und edle Hang zur Tugend in die Begierde, "das Joch der Dienstbarkeit abzuschütteln und zu zerbrechen." 16 In den klassischen Utopien der Renaissance waren selbst in der politischen Elite klare Befehlshierarchien vorgesehen. Dieses Joch der Dienstbarkeit ist in Thelema zerbrochen. Da es kein Motiv mehr gibt, nach dem zu streben, was einem vorenthalten wird, sind die Thelemiten frei: "Diese Freiheit", so heißt es, "feuert sie zu löblichem Wetteifer an, nur immer das zu tun, was dem anderen angenehm war." 17

Dies vorausgesetzt, sind selbst die ehelichen Bindungen von allen institutionellen Zwängen entlastet: Sie beruhen ausschließlich auf der gegenseitigen Zuneigung der Partner. Zwar ist der Zutritt zur Abtei Thelema an bestimmte Kriterien gebunden; im Gegensatz zu den Renaissance-Utopien jedoch steht es jedem frei, "die Abtei( ...) nach freiem Willen" zu verlassen.18 Auch Gabriel de Foignys Australien-Utopie, in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden, lebt von der Vision eines Gemeinwesens ohne Gesetze, in der es einen Staat, der auf Unter- und Überordnung beruht, nicht mehr gibt: Die Entscheidungen werden strikt föderalistisch auf lokaler Ebene getroffen. "Wenn irgend etwas von Bedeutung dargelegt worden ist," charakterisiert de Foigny den politischen Willensbildungsprozeß der Australier, "schreiben sie es am Ende des Gesprächs in das öffentliche Buch und jeder überträgt es sorgfältig auch in sein eigenes. Wenn irgend jemand etwas weiß, das ihnen mißfällt oder wovon er meint, daß es seinem Land von Vorteil sein könnte, legt er es seinen Brüdern dar, woraufhin sie solcher Art Beschlüsse fassen, die sie für die vernünftigsten halten, ohne dabei an etwas anderes zu denken als an das öffentliche Woh1."19

Zwar hat die utopische Tradition die Funktionen des Rechts schon immer auf ein Mindestmaß reduziert, weil es nur wenige Konflikte zu regeln und selten Delikte zu ahnden gab. De Foigny steht zweifellos in dieser Tradition; doch er denkt sie radikal zu Ende. In dem Maß nämlich, wie jeder Australier den Imperativen der Vernunft und des Gesetzes der Natur folgt, bedarf es keiner positiven Gesetze, die mit unwiderstehlicher Zwangsgewalt ausgestattet sind, um das verletzte Recht wiederherzustellen. Daher sind Anwälte, Richter und Gesetzesbücher unbekannt. Selbst die Armee ist von jeglicher staatlicher Autorität abgekoppelt. Die Soldaten sorgen nicht nur selbst für A.a.O., S. 170. S. 180. 17Ebd.

16 A.a.O .,

18 A.a.O., 19

S. 171.

De Foigny, Nouveau Voyage (Anm. 6), S. 108.

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ihre Ernährung; noch wichtiger erscheint, daß die Armee ohne Befehlshierarchien auskommt. Ohne eine Anweisung erhalten zu haben, so heißt es, wissen die Australier, "wie sie sich aufstellen müssen," und zwar "mit einer solchen Ordnung und Disziplin, daß man meinen könnte, sie wären alle eben so viele erfahrene Hauptmänner, die alle von demselben Plan beflügelt sind und sich über die Mittel verständigt haben, wie er durchzuführen sei.•20

Allerdings tritt de Foigny noch nicht ganz aus dem Schatten Platons und Morus': Er hielt nicht nur am strikten Ideal gesellschaftlicher Homogenität, die individuelle Abweichungen nicht zuläßt, fest, sondern auch an bestimmten Institutionen, wie einem in sich gegliederten Erziehungswesen.21 Etwa hundert Jahre später verabschiedete Diderot in seiner Tahiti-Utopie auch diese Reminiszenz an die klassische Utopie. Wir müssen Diderots Sozialkritik der europäischen Verhältnisse seiner Zeit so interpretieren, daß der politische Überbau mit seinen zentralen Institutionen Staat und Kirche der persönlichen Bereicherung der weltlichen und kirchlichen Machthaber dient. Ihre Gesetzgebung, mit der sie die Herrschaftsunterworfenen formen und modeln, dient ihnen "allein zum eigenen Vorteil. Ich berufe mich dabei," läßt Diderot einen der Dialogpartner sagen, "auf alle staatlichen, bürgerlichen und religiösen Einrichtungen . ... Ich müßte mich sehr täuschen, wenn sie dabei nicht fänden, daß die Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert immer wieder in jenes Joch gezwängt wird, das ihr aufzuerlegen eine Handvoll Schurken beschlossen hat. Mißtrauen sie demjenigen, der Ordnung schaffen will. Ordnung schaffen heißt immer, sich zum Herren der anderen machen, indem man ihnen Schranken setzt.•22

Die institutionellen Konsequenzen, die Diderot aus dieser Kritik für das Gemeinwesen seiner Tahiti-Utopie zieht, sind an Radikalität kaum zu überbieten. Von einem politischen System im herkömmlichen Sinn kann keine Rede sein: Mit Repressionsgewalt ausgestattete zentrale Institutionen fehlen. Das Gemeinwesen der Tahitianer gleicht einer wohlgeordneten Anarchie, die sich durch das Gesetz der Natur selbst reguliert. Deren charakteristisches Merkmal besteht selbstverständlich in der Abwesenheit staatlicher Gesetze. Damit ist zugleich einer regulären Justiz, die man zumindest in rudimentärer Form in den meisten anderen Utopien beobachten kann, der Boden entzogen. Eine gewisse sanktionierende Gewalt geht lediglich von den herrschenden Sitten und Gebräuchen aus. Und die Erziehung der Jugend ist nicht, wie in den klasischen Utopien, durch staatlichen Eingriff reguliert und kontrolliert, wenngleich ihnen gewisse Regeln, denen jeder freiwillig folgt, zugrunde A.a.O., S. 135. A.a.O., S. 92 f. 22 Diderot, Nachtrag (Anm. 7), S. 234. 21

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liegen.23 Zwar gibt es Ehen auf Tahiti. Doch sie haben ihr ausschließliches Fundament in der freiwilligen Zustimmung der Partner, die dieselbe Hütte bewohnen und in denselben Betten schlafen, "solange sie sich dort wohlfühlen."24 Am Ende des 19. Jahrhunderts erneuerte William Morris in seinem utopischen Roman Kunde von Nirgendwo das Szenario eines von institutionellen Zwängen befreiten Gemeinwesens. Es läßt sich durch vier Aspekte charakterisieren: 1. Es gibt zwar gewisse Regeln, die die Allgemeinheit betreffen, aber sie sind keine Gesetze in dem Sinne, daß hinter ihnen die sanktionierende Gewalt des Staates steht. 2. Eine zentrale Regierung, die aus einem Parlament hervorgeht, existiert nicht. Die Gesellschaft organisiert sich autonom. Sie beruht auf der Prämisse, daß ein Mensch weder Armee noch Kriegsflotte und Polizei braucht, um sich dem Willen der Mehrheit zu beugen.25 3. Konflikte sind ohne politische Brisanz; zu ihrer Austragung bilden sich daher auch keine politischen Parteien, die sich konkurierrend gegenüberstehen. Konflikte betreffen lediglich Meinungsverschiedenheiten in technischen Fragen, die sich rasch bereinigen lassen. 4. Die politische Willensbildung ist vollständig dezentralisiert: Die Entscheidungen werden in den basisnahen Volksversammlungen der Gemeinde, Bezirke und des Kirchspiels vorbereitet und getroffen.26 Gleichzeitig sind die Beziehungen zwischen den Geschlechtern vollständig entinstitutionalisiert. Da der Ehe kein vom Staat sanktioniertes Vertragsverhältnis mehr zugrunde liegt, ist eine Scheidung überflüssig: Die Partner trennen sich, sobald ihre Gefühle füreinander erloschen sind. 27 Selbstverständlich fällt der Entinstitutionalisierung auch und vor allem die Justiz zum Opfer. Außer einigen allgemeinen, von allen akzeptierten Regeln gibt es kein kodifiziertes Rechtssystem. 28 In Morris' utopischer Gesellschaft werden Strafen durch Gewissensbisse, Reue und Zerknirschung ersetzt, und die Gesellschaft weiß dies "dem Täter klarzumachen, wenn er abgestumpft sein sollte."29 Völlig entinstitutionalisiert ist auch die Erziehung. Körperliche, handwerkliche und geistige Fähigkeiten erwerben die Kinder gleichsam spielend. Natürlich fehlt eine autoritäre Festsetzung des Bildungsund Lernzieles: Die Kinder entwickeln sich ganz nach ihrer Begabung und ihren Neigungen.30

A.a.O., S. 218.

24 A.a.O., S. 216. 25 Morris, Kunde (Anm. 8), S. 109. 26 A.a.O., S. 117 f.

27 A.a.O.,

S. 89. S. 111. 29 A.a.O., S. 114. 30 A.a.O., S. 64 f. 28 A.a.O.,

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Es besteht kein Zweifel, daß zentrale Strukturmerkmale der hier diskutierten Utopien dem anarchistischen Programm weitgehend herrschaftsfreier politischer Gemeinwesen mit strikt föderalistischer Struktur, direkt demokratischer Willensbildung sowie dem tendenziellen Abbau gesetzlicher Reglementierung der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Erziehungswesens entspricht. Doch die Frage ist, inwieweit sie dem zweiten Kriterium genügen, nämlich einer gesellschaftlichen Reproduktion, die auf dem von äußeren Zwängen entlasteten Konsens aller gegründet ist. III.

Man könnte das Wirtschaftssystem der klassischen Utopietradition von Moros bis Bellamy eine in ihrer Dynamik gebremste Staatsökonomie nennen: Die Gütererzeugung und -Verteilung sowie die Organisation der Arbeit wird von zentralisierten Bürokratien übernommen, die den Markt ersetzen und jedem das Seine zuteilen. Die hier diskutierten staatsfreien Utopien gehen andere Wege: Sie antizipieren das anarchistische Modell der Kommune als der "Basis der Produktion, Distribution und Dienstleistung"31 in wesentlichen Aspekten. Allerdings macht Rabelais' Abtei 17zelema eine signifikante Ausnahme: Die ideale Klostergemeinschaft lebt, von den Zwängen des Broterwerbs entlastet, ihren Individualismus voll aus, während die große Masse der Bediensteten und Handwerker für die materiellen Voraussetzungen dieser unbeschränkten Entfaltung weniger zu sorgen hat. Es besteht kein Zweifel: Rabelais' Utopie ist herrschaftsfrei nur in einem eingeschränkten Sinn. Die Autonomie des Individuums verbleibt im Medium der höfischen Gesellschaft und erstreckt sich nur auf eine kleine adlige Elite. Die große Masse der Bevölkerung dagegen verharrt weiterhin in sozialökonomischer Abhängigkeit.32 Doch schon hundert Jahre später sollte diese elitäre Konzeption auf eine egalitäre Grundlage gestellt werden. Sie hat in Gabriel de Foignys AustralienUtopie zur materiellen Voraussetzung, daß eine durch Arbeit vermittelte Auseinandersetzung mit der Natur nicht stattzufinden braucht, weil diese ihnen alles zum Leben Notwendige liefert. "Jeder kann sich im Überfluß ernähren," so heißt es, "ohne das Feld zu beackern oder die Bäume zu kultivieren."33

Die Entlastung des utopischen Entwurfs von den Zwängen der materiellen Reproduktion zeigt - wie in einem Brennspiegel konzentriert - das Neue auf, durch das sich de Foignys Fiktion eines vollkommenen Gemeinwesens von seinen Vorgängern unterscheidet: Die Versorgung der einzelnen durch den 31 Lösche, Anarchismus (Anm. 10), S. 56. 32 33

Rabelais, Gargantua (Anm. 5.), S. 179. De Foigny, Nouveau Voyage (Anm. 6), S. 131.

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Staat, die so charakteristisch für die Utopien vor und natürlich nach de Foigny ist, entfällt. Eine vom Staat organisierte Vorratswirtschaft, wie sie die ältere Utopietradition vorsah, etwa in Form von Speichern für Notzeiten, kennen sie nicht. Da sie jederzeit versorgt sind, wissen die Australier nicht, was sie selbst für den morgigen Tag anhäufen sollten.34 Auch die normale Distribution der lebensnotwendigen Güter erfolgt nicht, wie die utopische Tradition von Morus bis Bellamy es vorsieht, durch staatliche Magazine. Vielmehr kommt jedes Wohnviertel selbst für seine Versorgung auf, indem jeden Morgen von Mitgliedern des jeweiligen Bezirkes Nahrungsmittel mitgebracht werden, wenn sie sich zu ihren morgendlichen Versammlungen treffen.35 Das Konzept der staatsfreien Ökonomie fmdet sich auch in Diderots Tahiti-Utöpie. Offenbar erwirtschaften die Tahitianer ihren Lebensunterhalt in landwirtschaftlichen Assoziationen auf der Grundlage des Gemeineigentums, in denen es eine Hierarchie der Arbeit und aus ihr folgende Abhängigkeiten nicht gibt: Nicht nur vom "Pflügen des Bodens"36 ist die Rede, sondern auch davon, daß gemeinsam die Arbeiten zu bewältigen sind und die Ernten eingebracht werden.37 Auch der Luxusverzicht, dem eine gemäßigte Lebensweise entspricht,38 ist eine Selbstverständlichkeit: "Alles, was wir brauchen und was gut ist, besitzen wir ja ( ...). Wenn wir hungrig sind, haben wir etwas zu essen, wenn wir frieren, haben wir etwas, womit wir uns kleiden können."39

Und doch setzt Diderot gegenüber der älteren Utopietradition insofern neue Akzente, als er das Konzept der staatlich organisierten Arbeit - ähnlich wie de Foigny - verabschiedet. Zwar zählt der Fleiß neben der Gesundheit, der Schönheit, der Kraft und dem Mut40 zu den höchsten Werten der Tahitianer. Doch entscheidend ist, daß er für das Überleben der Eingeborenen eher peripher erscheint, weil die natürliche Fruchtbarkeit des Landes ausreicht, "für die Befriedigung der unbedingt notwendigen Lebensbedürfnisse zu sorgen.'t41 De Foignys und Diderots Konzepten einer Enthierarchisierung der gesellschaftlichen Reproduktion lag die Annahme zugrunde, daß der Natur nur mit minimaler Anstrengung das zum Leben Notwendige abgerungen werden A.a.O., S. 79. S. 51. 36 Diderot, Nachtrag (Anm. 7), S. 227. 37 A.a.O., S. 227. 38 Ebd. 39 A.a.O., S. 205. 40 A.a.O., S. 220. 41 A.a.O., S. 227. 35 A.a.O.,

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kann: William Morris' Rekurs auf eine ästhetisierte Variante des Mittelalters als Vorbild seines besten Gemeinwesens vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß jene Funktion am Ende des 19. Jahrhunderts von modernster Technik erfüllt wird; sie erst stellt die Freiräume zur Verfügung, innerhalb derer jeder die Arbeit tut, die seinen Neigungen und Fähigkeiten entspriche2 Tatsächlich sind die Fabriken des industriellen Zeitalters des 19. Jahrhunderts längst abgeschafft und durch Vereinigte Werkstätten, d.h. freiwillige Assoziation, ersetzt. In ihnen kommen Menschen zusammen, die gemeinschaftlich z.B. Töpfer- und Glaswaren herstellen wollen.43 Vielseitigkeit der Arbeit, handwerkliche Produktion und kontrollierter Umgang mit der Technik sind die Stichwörter, mit denen die Wirtschaft der vollendeten kommunistischen Gesellschaft bei William Morris charakterisiert werden kann. Allerdings wird, wie schon angedeutet, auf Maschinen und damit auf Technik keineswegs ganz verzichtet: "Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre, wird mit außerordentlich verbesserten Maschinen gemacht, und alle Arbeiten, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschinen angefertigt."44

Morris' häufiger Rekurs auf das Mittelalter bezieht sich nur auf die ästhetischen Formen des Lebens. Dessen materielle Voraussetzung in ihrem soziapolitischen und ökonomischen Kontext verweist auf ein utopisches Gemeinwesen, das man nachindustriell in dem präzisen Sinne nennen kann, daß sie zwar die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts mit ihrer hierarchisierten Arbeitswelt negiert und durch egalitäre Assoziationen gleichberechtigt Arbeitender ersetzt. Doch geschieht dies unter der Annahme der Anwesenheit modernster Technik, auch wenn sie "hinter den Horizont der Erzählung't45 verlagert wird und sich "auf ein gesellschaftlich notwendiges Maß beschränkt.'.-~6

IV.

Dies vorausgesetzt, kann auch vom zweiten Kriterium des anarchistischen Selbstverständnisses, der solidarischen Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion innerhalb herrschaftsfreier Assoziationen und eines föderalistisclJ.en Aufbaues des politischen Gemeinwesens, zusammenfassend gesagt werden, daß die hier vorgestellten Utopien - sieht man einmal von der Thelema-Utopie Rabelais' ab- entweder mit ihm konvergieren, wie bei de Foigny und Diderot, oder mit ihm weitgehend übereinstimmen, wie im Fall von Morris, Kunde (Anm. 8), S. 126. f. 44 A.a.O., S. 126. 45 Seile, Gert, William Morris und sein Roman, in: Morris, Kunde (Anm. 8), S. 19. 46 A.a.O., S. 10. 43 A.a.O., S. 79

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William Morris' Kunde von Nirgendwo. Genügen sie aber auch den beiden anderen Kriterien, nämlich der Ideologie- und Theoriefeindschaft einerseits und dem voluntaristischen Revolutionsbegriff andererseits? Wenn unter Ideologie bzw. Theorie eine mehr oder weniger geschlossene Doktrin verstanden wird, die bewußt oder unbewußt der Legitimation rational nicht zu rechtfertigender politischer und sozialer Herrschaftsstrukturen dient, so sucht man nach ihnen in den utopischen Entwürfen Rabelais', de Foignys, Diderots und Morris' vergebens. In der Abtei Thelema wird zwar, wie gezeigt, Herrschaft qua Herrschaft, bezogen auf die Gesamtgesellschaft, nicht in Frage gestellt. Dennoch vermag diese Übereinstimmung mit dem herrschenden Utopietypus nicht zu verdecken, daß die Utopie bei Rabelais ihre normative Kraft nicht aus Ideologien und Theorien gewinnt, mit deren Hilfe eine konfliktfreie Gesellschaft verwirklicht werden soll. Rabelais verfährt in seiner Abtei Thelema vielmehr umgekehrt: Erst müssen alle herrschaftslegitimierenden Doktrinen fallen, bevor sich die vom äußeren Zwang emanzipierte Individualität "nach eigenem freien Beschluß'"'7 eigene Regeln setzt. Zwar redet Rabelais keineswegs der Abschaffung der Normen des zwischenmenschlichen Verhaltens das Wort. Doch die Chance, individuelles Verhalten zu beeinflussen, haben sie erst dann, wenn sie ihren Zwangscharakter abstreifen und von den einzelnen als Ausfluß ihrer eigenen Freiheit verstanden werden. Eine ähnliche Linie verfolgte de Foigny in seiner Australien-Utopie. Noch konsequenter als seine Vorgänger seit Morus transformierte er den christlichen Offenbarungsglauben in einen konsequenten Deismus: "Sie glauben, daß das unfaßbare Wesen überall ist(...). Ihre große Religion ist es, nicht von der Religion zu sprechen."48

Dieses Verdikt reflektiert sicherlich die Erfahrung der Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert, als theologische Meinungsverschiedenheiten dafür herhalten mußten, um die blutige Gewaltanwendung im Austrag handfester politischer und sozialer Machtansprüche zu legitimieren. Der Dogmatismus der herkömmlichen Religion wird bei de Foigny ersetzt durch das Gebot der radikalen Gleichheit aller, aus der die absolute Freiheit eines jeden einzelnen folgt, weil ein Egalitarismus, der den Individuen unterschiedliche Freiheitsräume zubilligte, nicht seinem Begriff entspräche. Diese Schlußfolgerung wird naturrechtlich begründet. De Foigny geht nämlich davon aus, daß es in der Natur des Menschen liegt, nicht nur als Gleiche geboren zu werden, sondern auch frei, d.h. autonom, zu leben. Diese Freiheit als durch keine Fremdbestimmung eingeschränkte Autonomie ist sein Wesen; aus ihm folgt, daß

48

Rabelais, Gargantua (Anm. 5), S. 177. De Foigny, Nouveau Voyage (Anm. 6), S. 83.

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sich der einzelne einer staatlichen Autorität nur um den Preis seiner Selbstzerstörung unterwerfen kann.49 Da aber seine Freiheit, als autonomes Handeln verstanden, darin besteht, nur das zu tun, was ihm seine Vernunft eingibt, sind seine Handlungen mit denen aller anderen in dem Maße konform, wie die universalen Regeln der Vernunft für alle gleichermaßen verbindlich sind.50 Äußerste Gleichheit und Freiheit konvergieren nicht nur; sie sind, so gesehen, die normativen Garanten einer kaum noch zu überbietenden gesellschaftlichen Harmonie. Auch in Diderots Tahiti-Utopie dominiert die Normativierung der Natur, die sich allen Herrschaftsansprüchen einer Ideologie widersetzt. Die entscheidende Prämisse lautet: "Die Tahitianer folgten dem reinen Trieb der Natur.•51

Aus dieser Feststellung folgt ein Sozialverhalten, das Unterwerfung nicht kennt: "Derjenige, den Du in Besitz nehmen willst wie ein Stück Vieh, der Tahitianer, ist dein Bruder,"

- läßt Diderot den alten Häuptling der Tahitianer sagen, als der Eroberer Bougainville die Insel verläßt. "Beide seid Ihr Söhne der Natur."52

Diese ursprüngliche Gleichheit und Freiheit vorausgesetzt, leben die Tahitianer in einem Zustand, in dem das Religionsgesetz überflüssig wird, weil man die Moral auf die ewigen Beziehungen zurückführt, die zwischen den Menschen bestehen und in deren Kontext das Staatsgesetz nur der Ausdruck des Naturgesetzes ist.53 Vom Staat und von der Kirche erlassene oder von ideologischen Doktrinen legitimierte Gesetze werden in dem Maße gegenstandslos, wie die Tahitianer autonom das in ihnen verankerte Gesetz der Natur befolgen; sie vermögen zwischen gut und böse zu unterscheiden, weil sie sich an die Natur der Dinge und der Handlungen sowie an den Einfluß des individuellen Verhaltens auf den eigenen besonderen Nutzen und auf das allgemeine Wohl halten.54 Dabei wirkt das wohlverstandene Interesse des einzelnen, das mit dem Gesetz der Natur übereinstimmt, wie ein unauflöslicher sozialer Kitt.55

A.a.O., S. 79 f.. De Foigny, Gabriel, La Terre Australe connue etc., o.O. 1676, S. 108. 51 Diderot, Nachtrag (Anm. 7), S. 204. 52 A.a.O., S. 205. 53 A.a.O., S. 228. 54 A.a.O., S. 214 f. 55 A.a.O., S. 223 f. 50

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Die der ideologischen Indoktrination entgegengesetzte Normativierung der Natur bei de Foigny und Diderot ersetzt William Morris am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Ästhetik. Durch den Wegfall der von außen wirkenden Zwänge auf die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur motiviert, die Arbeit so gut wie möglich zu verrichten, erwacht ihm zufolge allmählich ein Sehnen nach Schönheit im Geist der Menschen. Sie fangen an, die Gegenstände, die sie herstellen, zu verzieren, bis sie die Vollkommenheit von Kunstwerken erreicht haben und die physische und geistige Fron vollständig durch das bewußte Vergnügen an der Arbeit ersetzt worden ist.56 Diese Utopie der nichtentfremdeten Arbeit läuft auf eine Kultur für alle hinaus "ohne quälenden Gedanken an die Ungerechtigkeit und die elende Sklavenarbeit", der die wenigen ihre Muße verdanken, um Kunst überhaupt wahrnehmen zu können.57 Vor allem aber hebt sie die Trennung zwischen der Arbeit als dem Reich der Notwendigkeit und der Muße als dem Reich der Freiheit auf, wodurch die eigentliche Selbstentfaltung des Menschen erst beginnt.58 Morris' Vision einer nichtentfremdeten Arbeitswelt erhebt die Ästhetik, die keiner ideologischen Regulative bedarf, zum Medium der Emanzipation der einzelnen ebenso wie die der Gattung Mensch: Das gesamte Leben der vollendeten kommunistischen Gesellschaft, von der physischen Verfassung der Menschen über ihre Kleidung und ihre Eßgewohnheiten bis hin zur Architektur, der Ausstattung der Wohnungen und den Gartenstädten und Iandschaften gleicht einem Gesamtkunstwerk: Aus ihm sind die letzten Reste einer ideologisierten Vernunft im Dienste übermächtiger Institutionen getilgt.

V. Die eigentliche Differenz der hier diskutierten Utopien zum anarchistischen Muster wird erst auf der Folie des vierten Kriteriums sichtbar, nämlich der voluntaristischen Transformationsstrategie. Sie brachte Gustav Landauer auf einen prägnanten Begriff, als er schrieb: "Wollen- wirklich wollen, ist dasselbe wie tun ..s'J

Hat der Kern dieses Ansatzes, nämlich "die Wege und Übergänge zugunsten einer unmittelbaren Vergegenwärtigung der Endziele"60 auszublenden, eine Entsprechung in den hier vorgestellten Utopien? Ohne Zweifel teilt Rabelais' Abtei Thelema den Geltungsanspruch der klassischen Raum-Utopie: Als ein eher spielerisch gemeintes Modell idealen Zusammenlebens wird von 56 Morris, Kunde (Anm. 8), S. 164 f., 212. 57 A.a.O., S. 171.

58 Ebd .. 59

Landauer, Gustav, Treten wir aus dem Kapitalismus aus, in: Oberländer, Erwin (Hrsg.), Der Anarchismus. Dokumente d~r Weltrevolution, Freiburg im Breisgau 1972, S. 124. 60 Lenk, Kurt, Theorien der Revolution, München 1973, S. 84.

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ihr nicht die anarchistische Forderung der grundlegenden Umwälzung der sozio-politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse abgeleitet; entsprechend sucht man vergebens nach Hinweisen, wie diese utopische Fiktion verwirklicht werden soll. Auch de Foigny ist sich mit Morus einig, daß die in seiner Utopie vorgeführten vollkommenen Sitten, Gebräuche und Einrichtungen der Australier nicht auf die Europäer übertragbar sind: Während jene auf der Höhe der Aufklärung und der Humanität stehen, verharren diese auf halbem Wege.61 Als vollendete Perfektion, die sich selbst genügt, weil sie alle ihre Möglichkeiten realisiert hat, in einem geschichtslosen Raum angesiedelt, will sein utopischer Entwurf lediglich im Bewußtsein der Europäer bessere Alternativen zum schlechten sozia-politischen status quo als denkmöglich erscheinen lassen. Weit davon entfernt, zur direkten Aktion aufzurufen, bleibt de Foignys Utopie auf die Herausbildung eines zeitkritischen Problembewußtseins beschränkt.

In weit stärkerem Maße als die utopischen Konstrukte Rabelais' und de Foignys verbindet Diderot in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seiner Tahiti-Utopie einen praktischen Anspruch auf Gesellschaftsveränderung. Doch auch für ihn steht nicht eine Totalrevision der europäischen Wirklichkeit, die Übergänge und Zwischenstadien nicht anerkennt, im Sinne einer schlichten Denaturalisierung auf der politischen Tagesordnung. Vielmehr orientierte er den politischen Imperativ seiner Utopie so, daß deren Stoßrichtung auf die schleichende Unterminierung des absoluten Staates und seiner gesellschaftlichen Stützmächte abzielte: Sie im Brennspiegel einer moralisierenden Kritik, die sich auf eine vorstaatliche Natur beruft, zu zersetzen, ist das eigentliche Ziel seiner Tahiti-Utopie: "Wir werden gegen die unvernünftigen Gesetze reden," so heißt es, "bis man sie ändert, und uns ihnen in der Zwischenzeit unterwerfen. Wer eigenmächtig ein schlechtes Gesetz übertritt, ermächtigt jeden anderen, auch gute Gesetze zu übertreten. Ist man mit Verrückten verrückt, so hat man weniger Unannehmlichkeiten, als wenn man ganz allein vernünftig ist. Rufen wir uns selbst und den anderen immer wieder zu, daß man Schande, Strafe und Schmach an Handlungen geknüpft hat, die an sich bannlos sind; aber begehen wir sie nicht; denn Schande, Strafe und Schmach sind die allergrößten Übel."62

Diese dem anarchistischen Transformationskonzept gänzlich entgegengesetzte Handlungsoption wird gut hundert Jahre später von William Morris nicht geteilt. Er kommt dem anarchistischen Revolutionsbegriff wesentlich näher, unterscheidet sich aber gleichfalls von ihm in signifikanter Weise. Die Struktur der Umwälzung, wie sie in Kunde von Nirgendwo propagiert wird, unterscheidet sich gravierend von dem Transformationskonzept der übrigen Utopisten des 19. Jahrhunderts. Von Saint-Sirnon bis Bellamy waren sie sich 62

De Foigny, Nouveau Voyage (Anm. 6), S. 81 f. Diderot, Nachtrag (Anm. 7), S. 236.

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darin einig, daß nur gewaltlose Reformen, gegründet auch auf dem Konsens der ehemals herrschenden Schichten, das einzig angemessene Mittel des utopischen Imperativs sei. Ganz anders Morris. Vehement lehnte er die reformistische, auf Gewaltlosigkeit und Legalität setzende Strategie ab. Eine solche Transformation verlasse nicht den Weg der Sklaverei. Sie lebe vielmehr von der Möglichkeit, "aus der Hölle der Unterdrückten in den Himmel der Unterdrücker emporzuklettern"; im Ergebnis würden die Arbeiter damit abgespeist werden, "bessere Sklaven-Rationen zu bekommen."63 Der reformistische Gradualismus sei viel zu stark dem Kapitalismus verhaftet, um zum Erfolg zu führen. Im Gegensatz zum Anarchismus aber war für Morris die Vorstellung kein Thema, mit der bloßen Zerschlagung der ökonomischen und politischen Institutionen der Ausbeutergesellschaft sei das herrschaftslose Gemeinwesen vollendet: Bis zu dessen Erreichung rechnete er vielmehr mit einer längeren Übergangsphase. Auch begründete er - im Gegensatz zu den Anarchisten - die Umwälzung geschichtsphilosophisch. Sie erleben sie als etwas Unvermeidliches und Selbstverständliches zugleich: "So selbstverständlich," heißt es an einer Stelle, "wie die Sonne auf- und untergeht. "64

Eine Entwicklungsdynamik, so könnte man meinen, von der Kraft eines Naturgesetzes.

VI. Es gibt berechtigte Zweifel, ob diese Transformationsperspektiven den komplexen Kräfteverhältnissen, Interdependenzen und Machtstrukturen entwickelter Industriegesellschaften besser gerecht werden als das anarchistische Konzept der Propaganda der Tat. Während die utopischen Ansätze sich mit dem Status eines regulativen Prinzips praktischen Handeins oder der Hoffnung auf eine geschichtsphilosophisch begründete Dynamik revolutionärer Massenbewegungen begnügen, droht der anarchistische Zugriff regelmäßig an den in der sozia-politischen Realität verankerten restriktiven Bedingungen politischen Handeins zu scheitern, die härter sind als der bloße Voluntarismus gesellschaftlicher Umwälzungsphantasien. Doch auch das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft, so kann abschließend gesagt werden, das die von dem vorherrschenden Utopie-Typus abweichenden Vertreter einklagten, ist in sich ambivalent. Einerseits verkennen sie, daß das von Morus geprägte Muster mit vollem Recht von der Annahme ausging, gesellschaftliches Elend sei ohne verbindliche institutionelle Regelungen nicht zu beseitigen. Sie nehmen ferner die Tatsache nicht zur Kenntnis, daß ein großer Teil der persönlichen Freiheit institutionalisierter Konfliktregelung und Entscheidungsfindung 63 Morris, Kunde (Anm. 8), S. 135. 64 A.a.O., S. 133.

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zu verdanken ist, die den einzelnen in seinem alltäglichen Leben entlastet. Aber andererseits haben Institutionen die Tendenz, sich von denen, die sie schufen, zu verselbständigen: Sie treiben Superstrukturen aus sich heraus, die die persönliche Freiheit bedrohen. Diese Gefahr nehmen die staatsfreien Utopien ernst. Ihr Protest gegen den vorherrschenden Utopie-Typus der klassischen Tradition ist dann berechtigt, wenn erkennbar wird, daß Institutionen sich anschicken, die individuelle Freiheit zu konsumieren. So gesehen, kann kaum bestritten werden, daß die hier diskutierten staatsfreien Utopien, die über weite Strecken mit dem anarchistischen Selbstverständnis konvergieren, ohne mit ihm identisch zu sein, dem Projekt eines demokratischen Sozialismus überlebenswichtige Impulse vermitteln können. Sie sind geeignet, ihn daran zu erinnern, was er in seinen Anfängen unter dem Einfluß eines vorwiegend dogmatisch argumentierenden Marxismus und heute im Schatten einer verwalteten Welt zu verlieren droht: seine Sinnlichkeit, seine Sensibilität für das individuelle Freiheits- und Glücksverlangen und den Willen zum konsequenten Abbau gesellschaftlich überflüssig gewordener Herrschaft.

Zu Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" (1960)* Von Hans-Joachim Lieber Nach einer kleinen Skizze Bloch's über sich selbst ist Das Prinzip Hoffnung ein enzyklopädischer Entwurf über die utopischen Gehalte in Bewußtsein, Gesellschaft, Kultur und Welt. Das Buch bringt - so wenig es zunächst den Eindruck der Systematik erweckt - zu systemischem Abschluß, was seit je für Bloch's Philosophieren den Gegenstand abgab: das Noch-Nicht-Bewußte als Träumen nach vorwärts, als dynamische Potenz zum Neuen, Noch-Nicht-Dagewesenen, als psychische Vorwegnahme des Noch-Nicht-Gewordenen, das jedoch gerade in dieser Vorwegnahme seine reale Möglichkeit erschließt. Was bei Bloch seit dem ersten größeren Werk von 1918 über den Geist der Utopie, was in den Spuren von 1930 und in der Erbschaft unserer Zeit von 1933 Utopie heißt und eben damit jenes Träumen nach vom als hoffendes Erschließen von Zukunft thematfsch anzielt, ist demzufolge etwas anderes und weiteres als das gemeinhin unter diesem Begriff Verstandene. Utopie meint hier nicht jenen abstrakt-spekulativen Entwurf eines vollkommenen Staates oder einer vollkommenen Gesellschaft, der, zumal in den Sozialutopien, seine bekanntesten Ausprägungen erfuhr, sondern Utopie meint ein in der Hoffnung - der ehrlichsten und fundamentalsten menschlichen Eigenschaft gründendes Denken als Überschreiten. Von diesem heißt es im Prinzip Hoffnung: "Denken heißt überschreiten. So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin heranreift. Deshalb geht wirkliches Überschreiten auch nie ins bloß Luftleere eines Voruns, bloß schwärmend, bloß abstrakt ausmalend. Sondern es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vern1ittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs äußerste Nachfolgend abgedruckter Text ist die gekürzte Fassung einer Rezension der westdeutschen Ausgabe von Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung", die im Rias Berlin 1960 gesendet wurde. Sie dokumentiert den Beginn einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Hellmuth G. Bütow, die über Jahre anhielt und für die ich mit dieser Publikation Dank sagen möchte. Für Bütow selbst war sie Vorarbeit zu seiner Dissertation. Der Sache nach ist sie heute noch lesenswert, weil sie - freilich in Zeitbezügen von 1960 und der vorangehenden Jahre - für uns beide als gemeinsame Verfasser die Faszination, aber auch kritische Distanz von und zu einem an Utopie sich orientierenden Philosphieren belegt.

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Hans-Joachim Lieber den Willen zu ihm verlangt. Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte ausgelegte, dialektisch verlaufende Tendenz."

Ist das so gekennzeichnete Denken als die das Da-sein überschreitende Utopie in der Hoffnung begründet, so gilt es, dieser als fundamentalem menschlichem Erwartungsaffekt ihren philosophischen Begriff zu geben oder, wie es bei Bloch auch heißt, "an die Hoffnung Philosophie zu bringen". Indem die Hoffnung auf solche Weise philosophisch begriffen zur docta spes, zur begriffenen Hoffnung sich wandelt und erhöht, ist die Hoffnungsphilosophie Bloch's Hermeneutik der Hoffnung, ihres Gehaltes und ihrer Funktion, und sie ist zugleich mehr als dies. Sie erhebt den Anspruch, durch die philosophische Reflexion der Hoffnung das Hoffen selbst zu lehren. Sie will als Theorie zugleich praktisch sein. Die philosophische Analyse der Hoffnung beginnt Bloch zwar mit einer Darstellung dessen, was er die kleinen Tagträume nennt, - das sind jene kleinen oder größeren Wünsche des Alltags, die von der Jugend bis ins hohe Alter teils durchgehalten werden, teils sich wandeln; an denen sich jedoch selbst in ihrer ungezielten Gestalt - eben Hoffen unmittelbar als Träumen nach vorn, als Leben von der Zukunft her und zur Zukunft hin, in seiner Funktion für den Menschen erschließt. Ihr zentrales Thema und damit zugleich ihren eigentlichen Gegenstand fmdet die Philosophie der Hoffnung jedoch erst dort, wo sie - über solchen Bericht hinwegschreitend - die Funktion des antizipierenden oder utopischen Bewußtseins als in einer Trieb- und Affektstruktur des Menschen begründet erkennt. Der Mensch ist Triebwesen; Bewußtsein, Denken schlechthin ist in den Trieben fundiert und erscheint als deren Funktion. Solche Aussage Bloch's führt jedoch nicht zu einer triebnaturalistischen Menschenlehre, sondern soll nur die Besonderheit menschlicher Triebstruktur deutlich machen, die nicht mechanisch im Wechselspiel von Reiz und Reaktion als einfache Anpassung an eine daseiende Natur sich erschöpft. Der Mensch ist vielmehr das einzige Wesen auf dieser Welt, das zu gezieltem Treiben fähig ist. Sein aus dem Inneren hervorbrechender Trieb hat Richtung, er ist intentional. Zwar ist auch der Trieb des Menschen, wie jeder Trieb, auf ein äußeres Etwas bezogen. Aber dieses muß nicht notwendig da sein, fertig schon vorgegeben sein. Es kann auch bloße Tendenz zum Einmalda-sein zum Inhalt haben. Trieb des Menschen ist nicht Reaktion, sondern Aktion; wie er selbst nicht eindeutig determiniert ist, so ist auch Natur, Dasein für ihn offen und unfertig. Seine Aktion ist bearbeitende Veränderung des bloß Daseienden, ist Erhöhung und Läuterung des bloß Daseienden, der Natur, zu ihrer eigenen Möglichkeit; sein Resultat ist Humanisierung der Natur. Die triebgebundene Anpassung ist als Anpassung des Menschen an die Natur immer zugleich auch Anpasung der Natur an den Menschen. Schon diese Argumentation Bloch's verweist auf die Nähe seines Denkansatzes zum Werk von Marx. Wo dieser jedoch von Begriff und Phänomen

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der Arbeit ausgeht, greift Bloch hinter sie zurück und versteht sie als Triebrationalisierung, als bewußte Triebgestaltung. Auch diese Begriffe wollen jedoch bei Bloch recht verstanden werden. Sie meinen nicht jene, an den psychischen Phänomenen von Verdrängung und Kompensation aufgezeigte Triebrationalisierung der Psychoanalyse, wie sie von Freud und anderen analysiert wurde. In eindeutiger Abgrenzung gegen die psychoanalytische Theorie, die das Unbewußte immer nur als ein Nicht-Mehr-Bewußtes anzusehen vermag, geht es bei Bloch um das Noch-Nicht-Bewußte. Dieses jedoch erschließt sich ihm nicht vom Sexual- oder Machttrieb, sondern nur vom Selbsterhaltungstrieb her. Der Hunger gewinnt hier zentrale Bedeutung als Agens, als Antriebskraft menschlichen Lebens. Denn Hunger ist objektbezogener, erlebter Mangel, ist Entbehrung. Trieb zur Selbsterhaltung ist subjektive Verneinung solcher Entbehrung. Er formt sich im Menschen zum Erwartungsaffekt der Hoffnung aus. Abgegrenzt gegen die sogenannten gefüllten Affekte wie etwa Neid und Habsucht, die an ihrem konkreten Gegenstand kleben und als bloße Reaktion eigentlich keine Zukunft haben oder erschließen, steht Hoffnung als Erwartungsaffekt nach Bloch formal neben Furcht und Angst, die gleichartige Erwartungsaffekte darstellen. Sie alle sind in ihrer Triebintention weitsinnig, haben einen Zukunft antizipierenden Charakter, wenngleich sie als solche in ihrer offenen Tendenz zunächst relativ unbestimmt und in diesem Sinne abstrakt oder ziellos bleiben. Gegenüber Angst und Furcht jedoch vermag eben Hoffnung zur gezielten sich zu verwandeln, vermöge der in ihr enthaltenen und aus ihr geborenen utopischen Funktion. Bloßes zielloses Begehren wird hier als Wunsch konkret, indem es sich die Vorstellung eines besseren Etwas zulegt. Hier an dieser Nahtstelle der Triebstruktur, wo Hoffnung zu solcher Vorstellung von Besserem sich erhebt, setzt das Rationalwerden von bloßem Trieb ein, ist der Weg von der Hoffnung als Affekt über den Wunsch hinweg zur begriffenen Hoffnung, zur docta spes, beschritten. Wünschen nämlich als in Vorstellung konkretisiertes Hoffen enthält in sich immer schon die Einsicht in Mängel am Jetzt. Aus solcher Einsicht gehen die Tag- oder Wachträume hervor, in denen sich konkrete Utopie ausformt Sie sind demzufolge mehr als bloßer Traum, sowohl mehr als der das Nicht-Mehr-Bewußte erschließende Nachttraum der Psychoanalyse, als auch mehr als bloßes Schwärmen oder Phantasterei: der Tagtraum besitzt Erweiterungswillen. Er entwirft eine bessere Welt, wobei dieser Entwurf über ein Sinnen und Planen geht, das vom konkreten Da-sein zum konkret Erhofften schreitet. Der Tagtraum als konkrete Utopie, als Objekt und Inhalt der bewußten Hoffnung, ist so der psychische Geburtsort des Neuen. "Das Noch-Nicht-Bewußte ist so einzig das Vorbewußte des Kommenden, der psychische Geburtsort des Neuen. Und es hält sich vor allem deshalb vorbewußt, weil eben in ihm selber ein noch nicht ganz manifest gewordener, ein aus der Zukunft erst heraufdämmernder Bewußtseinsinhalt vorliegt. Gegebenenfalls sogar ein erst objektiv in der Welt entstehender; so in allen produktiven Zuständen, die mit nie Dagewesenem in

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Hans-Joachim Lieber Geburt entstehen. Dazu ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht· Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft. •

Hoffnung, wird sie durch philosophische Analyse in dieser ihrer Trieb- und Bewußtseinsstruktur erkannt, ist wissend-konkretes Träumen, das dem Menschen das Transzendieren der puren, schlechten Gegenwärtigkeit ermöglicht. Sie ist Fundament eines Denkens, das Welt als zu-verändernde begreift. Zu· kunft bleibt in solchem das Verändernwollen informierenden Denkens nicht Verlegenheit, und Vergangenheit bleibt nicht Bann. Vielmehr wird gerade in solchem Denken als begriffene Hoffnung oder konkrete Utopie das Verhältnis des Menschen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft· gemessen an herkömmlicher Vorstellung · radikal verwandelt. Damit aber verwandelt sich zugleich geschichtliche Zeit selbst. Gegenwart bleibt nicht punkthaftes Jetzt als Schwelle zu einer Zukunft, die bloße Offenheit ist. Vergangenheit bleibt nicht bloße in sich abgeschlossene und ruhende Determination. Vielmehr erhalten Vergangenheit wie Gegenwart ihre wahre Wirklichkeit aus der in der konkreten Utopie entworfenen Zukunft. Die Zukunft selbst als konkret vorbewußte wird zum Kriterium dessen, was Vergangenheit und Gegenwart heißen kann. Es ist das Zukunftsträchtige in Vergangenheit und Gegenwart, was ihnen ihre wahre Qualität verleiht. Totalität des geschichtlichen Prozesses ist damit nach vorwärts wie nach rückwärts unabgeschlossen. Gerade diese Unabgeschlossenheit aber ermöglicht es, von der konkreten Utopie, also von der Zukunft her, Vergangenheit und Gegenwart kritisch zu reflektieren und zu dem zu befreien, was an progressiver Tendenz oder Potenz sich in ihnen verbirgt. Konkrete Utopie ist daher jenes Agens, das die Kontinuität des Geschichtsprozesses herstellt und zugleich der Idee von Fortschritt in der Geschichte praktische Qualität verleiht. Und die Instanz, in der sich und durch die sich solche Kontinuität der Geschichte als Fortschritt in ihr herstellt, ist der Mensch · nicht als Gat· tungswesen und nicht nur als Gesellschaftswesen, sondern als Einzelner, als Individuum; denn nur im so begriffenen Menschen hat konkrete Utopie als kritische Potenz ihren funktionalen Ort. Wenn Bloch auch vom Genie, dem Erfmder, den großen Persönlichkeiten

als Gestaltungen oder Repräsentanten desfortgeschrittensten Bewußtseins vom Umschlagpunkte in der Zeit spricht, wenn sich daher auch bei ihm mit diesem

Glauben an die geschichtsgestaltende und -erfüllende Möglichkeit und Kraft der Individualität gleichsam so etwas wie die Hegeische Theorie der welthi· storischen Individuen verbindet, so ist damit sein Indiviudualismus zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Und wie auf diese Individualismen in ~ei­ nen Bedeutungen für die gesamte Konzeption der Hoffnungsphilosophie ver· wiesen werden muß, so werden auch die weiteren zentralen Begriffe der Blochsehen Philosophie vom Phänomen konkreter Utopie und begriffener

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Hoffnung her verständlich: Novum, Front, Zeitwende, Produktivität. "Front, das ist der vorderste Abschnitt der Zeit, wo die nächste entschieden wird", heißt es wörtlich; Front also ist Wende der Zeit, Zeitwende; und "Novum, das ist die reale Möglichkeit des Noch-Nicht-Bewußten, des Noch-Nicht-Gewordenen, mit dem Akzent des guten Novum, wenn die Tendenz daraufhin aktiviert wird"; solche Aktivierung ist Produktivität an der Front als Entwurf des Neuen. Es ist jedoch in der bisher gebotenen Skizze der Blochsehen Hoffnungsphilosophie ein Begriff noch unerwähnt geblieben, der dem Ganzen dieser Philosophie erst seine abschließende Gestalt gibt: der Begriff der Materie, verstanden als dialektischer Prozeß. Erst dieser Begriff erschließt, warum Bloch seine Hoffnungsphilosophie als Explikation des dialektischen Materialismus ausgeben kann, und warum er zugleich - bei aller Differenz zur offiziellen Dogmatik dieser kommunistischen Philosophie - ihr dennoch nicht nur philosophisch, sondern gerade auch politisch fundamental verbunden bleibt. "Materie, das ist nicht der mechanische Klotz, sondern - gemäß dem implizierten Sinn der Aristotelischen Materie-Definition - sowohl das Nach-Möglichkeit-Seiende, also das, was das jeweils historische Erscheinen-Könnende bedingungsmäßig bestimmt, wie das In-Möglichkeit-Seiende, also das reale Möglichkeitssubstrat des dialektischen Prozesses. Gerade als bewegtes Sein ist die Materie ein noch unausgetragenes Sein; sie ist der Boden und die Substanz, worin unsere Zukunft, als ihre ebenso eigene, ausgetragen wird. Probleme in Fülle liegen derart vor der gegenwärtigen Philosophie; dem jetzigen Westen sind sie, obwohl überfällig, noch nicht im Oberstieg parat. Ex oriente Iux, dieses alte Wort aus Geographie und Christentum zugleich, bekommt bei solchem Anblick eine frische, umfunktionierte Wahrheit; aus dem Ostpunkt der gegenwärtigen Menschheit kommt das Licht. Die deutsche Philosophie, von Hege! zu Marx, artikuliert es zuerst, die deutsche Philosophie hat sich dieser Verpflichtung wert zu halten.•

Klammert man die den Schluß des Zitats bildende, philosophisch-politische Apologie des Ostens als Wahrheitsquelle für den Menschen und die daraus abgeleitete Verpflichtung vorerst einmal aus, um später darauf zurückzukommen, und bedenkt man nur, was der Rückgriff auf den aristotelischen Materiebegriff eigentlich bedeutet, so ergibt sich folgende Ergänzung des bisher Dargestellten: Bloch's Philosophie ist nicht nur eine am Phänomen Hoffnung orientierte und in ihm gründende Anthropologie. Sie ist vielmehr umfassende Philsophie des Seins; sie ist Ontologie. Es ist das Seiende, die als Materie bezeichnete Wirklichkeit selbst, die die Dynamik von Möglichkeit und Wirklichkeit in sich enthält und zwar so, daß es in der Materie selbst ein treibendes Agens gibt, das sie über sich und ihre bloß naturale Gestalt hinausführt. Dem zukunftsoffenen Wesen des Menschen korrespondiert ein Sein, eine Welt, die ebenfalls offen ist und in der ein Willenhaft-Intensives - gleichsam ein Interesse - wirkt und treibt, denn:

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Hans-Joachim Lieber "Kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll ftxer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse, das heißt dynamische Beziehungen, in denen das Gewordene nicht völlig gesiegt hat. Das Wirkliche ist Prozeß..."

Und dieser Prozeß ist dialektische Tendenz vom Nichts zum Alles. Sein, Materie, ist - in der Realität der Subjekt-Objekt-Spaltung - zugleich Anlage zur Aufhebung dieser Spaltung, als Aufhebung einer Selbstentfremdung des Seins in der Identität von Subjekt und Objekt. Gleicherweise an Aristoteles wie vor allem an Hegel anknüpfend, meint Bloch's dialektischer Materiebegriff eine Potentialität des Seins als Anlage und Drang, über sich selbst in seiner konkreten und unvermittelten Gestalt des bloß Natürlich-Kreatürlichen, des Ding- und Objekthaften hinaus zu sich selbst als Einheit oder Totum von Natur und Geist zu kommen. Der Mensch fällt als Hoffender aus diesem materiell-dialektischen Zusammenhang nicht heraus, im Gegenteil: im Menschen hat das Treibende in dieser Welt, das in der dialektischen Materie als dem Ort realer Möglichkeiten liegt, allein seine höchste Blüte und seine bewußte Gestalt gefunden. Im Menschen wird das Treibende der Welt zum bewußten Handeln auf ein Besserwerden gelenkt. Die allein im Menschen mögliche Erfassung des Nicht als Noch-Nicht bringt, über den Hunger als horror vacui wirkend, die Welt in Gang. Er, der Mensch, hat allein die Fähigkeit, die noch unfertige Welt, damit zugleich aber auch sich selbst, zu Ende zu bilden. So kommt mit dem Menschen ein subjektiver Faktor in die Welt, der jedoch als Potenz in der Welt selbst angelegt ist, aber eben mit dem Ziel, die Differenz von Subjekt und Objekt aufzuheben. Was die Welt sein kann und sein will, hängt so nicht nur vom Menschen ab, sondern erschließt sich auch nur vom Menschen her. Der Mensch aber ist in seinem Wollen gebunden an den Endzweck des Seins; seine je konkrete Utopie hat ihr seinsgebundenes Fundament im Ziel der Verwirklichung des summum bonum als der Einheit von Mensch und Welt. Prozeß des Seins, dialektische Dynamik der Materie, ist deshalb bei Bloch nicht ahistorischer Verlauf, sondern unabdingbar im Element der Geschichte als Prozeß eines Ringens des Menschen um Selbstverwirklichung als Weltverwirklichung. Sinn der Geschichte und Endzweck der Welt sind eins. Geschichts- und Weltsinn, auf den Menschen angewiesen und durch den Menschen vermittelt, gipfelt daher in dem, was allein Ende der Dialektik, nämlich Naturalisienmg des Menschen als Humanisierung der Natur, heißen kann. Auf den Menschen und sein Weltbewußtsein als Geschichtsbewußtsein kommt dabei alles an, denn: "...erst wenn das Subjekt der Geschichte: der arbeitende Mensch, sich als Hersteller der Geschichte aufgehoben hat, könnte er auch dem Produktionsherd in der Naturwelt nähertreten."

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Wenn Bloch's Philosophie Hoffen lehren will, so will sie damit zugleich dem Menschen zu einem Geschichtsbewußtsein verhelfen, das dem dialektisch-dynamischen Seinsgesetz korrespondiert, das Vollendung der Welt als Aufgabe eigener geschichtlicher Tat begreift. Utopie als menschlich-geschichtliche Antizipation der besseren, vollkommenen Welt hat ihr Korrelat, ja ihren realen Grund im Sein der Welt selbst. Das Sein selbst, von Bloch als Materie bezeichnet, ist nicht bloßes dinghaftes, naturhaftes Objekt; vielmehr ist es ebenfalls dynamische Potenz und Energie, über seine pure Materialität und Dinghaftigkeit hinauszukommen zur Einheit von Geist und Materie. Materie als solcher Prozeß ist offen, sie hat utopische Ränder. In ihr ist, ja, sie selbst ist Drang zur Überwindung dieses Mangels, dieser Offenheit, sie trägt in sich ein Element von Hoffnung. Der Mensch als höchste Blüte der Materie ist der reale Ort im Seienden, an dem sich solche Hoffnung als Seinsprinzip in Aktualität, in Praxis, umsetzt. Der Mensch, und zwar der Mensch als einzelner, ist Medium und Instanz solcher Vollendung des Seins. In seinem in Hoffnung wurzelnden, weltverändernden Planen und Wirken kommt Sein zu sich selbst, hört es auf, bloßes Sein zu sein. Entmaterialisierung der Materie als ihre eigene Verwirklichung, als ein auf ein Endziel bezogener Qualiftzierungsprozeß bedarf des Menschen; Prozeß der Welt ist Prozeß menschlicher Geschichte als Prozeß des Bemühens um solche dialektische Aufhebung und Vermittlung von Subjekt und Objekt. Der Zentralbegriff eines solchen philosophischen Verstehens von Hoffnung als Gestaltungsprinzip von Welt, Mensch und Geschichte ist damit der Begriff der Entfremdung und ihrer Aufhebung. Dies aber rückt Bloch nicht nur in eine äußerliche Nähe zu Marx, sondern läßt ihn aus der inneren Konsequenz seines Denkansatzes zum bewußten Marxisten werden. Wie Bloch nämlich vermöge seiner Analyse der Hoffnung Zukunft als dasjenige bestimmt, was allein der Vergangenheit und Gegenwart Sinn und konkrete Realität verleiht, und wie er von da auch einen Begriff des verpflichtenden Erbes der Vergangenheit bildet, so hat das Konsequenzen für sein eigenes Philosophieren. Wenn es sich in diesem Philosophieren nämlich darum handelt, Hoffnung auf ihren Begriff zu bringen und dadurch zu lehren, wenn damit Bloch selbst einen Beitrag zur Bewältigung der Zukunft leisten will, so zwingt ihn das seinem Begriff von Erbe gemäß zur Reflexion der Geschichte als zu beerbender, das heißt zukunftsträchtiger, die Zukunft in sich bergender Vergangenheit. Weite Partien des Blochsehen Werkes dienen solcher erhellenden und verpflichtenden Reflexion der Geschichte. In Theater, Musik, Malerei, Literatur, Magie, Religion und Philosophie wird nach dem verpflichtenden Erbe, nach der Zukunft in der Vergangenheit gesucht und gefragt. Die philosophiehistorischen Partien sind dabei besonders aufschlußreich und bezeichnend, soll sich in ihnen doch gleichsam dialektischmaterialistisch begriffene Hoffnung in ihren Anfängen suchen und finden.

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Philosophiehistorische Besinnung steht damit unter der Perspektive, wo in der Philosophie das Wissen um die die Funktion der Zukunft erschließende Hoffnung aufbrach, sich durcharbeitete und Gestalt gewann. "Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Faktum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses, materialistische Dialektik wird das Instrument zur Beherrschung dieses Prozesses, zum vermittelt-beherrschten Novum. Dafür ist die Ratio des noch fortschrittlich gewesenen bürgerlichen Zeitalters das nächste Erbe (minus der standortgebundenen Ideologie und der wachsenden Entleerung von Inhalten). Aber diese Ratio ist nicht das einzige Erbe, vielmehr, auch die vorhergehenden Gesellschaften und selbst mancher Mythos in ihnen (wieder minus bloßer Ideologie und erst recht minus vorwissenschaftlich erhaltenem Aberglauben) gehen einer Philosophie, die die bürgerliche Erkenntnisschranke überwunden hat, gegebenenfalls fortschrittliches Erbmaterial ab, wenn auch wie sich von selbst versteht, besonders aufzuklärendes, kritisch anzueignendes, umzufunktionierendes. •

Zumal Aristoteles, Leonardo, Giordano Bruno, die Sozialutopisten, Leibniz, Schelling, Hegel, die romantische Naturphilosophie sind gemäß solcher Perspektive lebendiges und verpflichtendes Erbe. Und Bloch vertritt mit allem Nachdruck die Meinung, daß an solche Namen geknüpftes Philosophieren idealistischer Provenienz mehr für ein dialektisch-materialistisches Erfassen von Welt, Mensch und Geschichte geleistet hat als jeder mechanische Materialismus. Und dennoch ist solches Philosophieren immer begrenzt und unwahr geblieben. Erst Marx hat mit seinem Denken die radikale Wende, den endgültigen Durchbruch einer dem Werdenden, der Zukunft als Vollendung von Mensch und Welt zugewandten Philosophie vollzogen. Vormarxistische Philosophie bleibt - bei aller Bedeutung im einzelnen - schauendes, betrachtendes Wissen des Gewordenen und je Seienden als eines Objektiven. "Erst Marx setzte statt dessen das Pathos des Verändern& als den Beginn einer Theorie, die sich nicht auf Schauung und Auslegung resigniert. Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft. • "Die marxistische Philosophie als diejenige, welche sich endlich adäquat zum Werden und zum Heraufkommenden verhält, kennt auch die ganze Vergangenheit in schöpferischer Breite, weil sie überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen, kennt. Marxistische Philosophie ist die der Zukunft, also auch der Zukunft in der Vergangenheit; so ist sie, in diesem versammelten Frontbewußtsein, lebendige, dem Geschehen vertraute, dem Novum verschworene Theorie-Praxis der begriffenen Tendenz.• "Alles an den Hoffnungsbildern Nicht-Illusionäre, Real-Mögliche, geht zu Marx, arbeitete - wie immer jeweils variiert, situationsgemäß rationiert - in der sozialistischen Weltveränderung.• "Marxistisches Wissen bedeutet: die schweren Vorgänge des Heraufkommens treten in Begriff und Praxis".

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Es ist evident, daß solche historische Heraushebung der Maneschen Philosophie als eines endgültigen Durchbruchs philosophisch bewußter Zukunft vor allem an den Partien des Maneschen Denkens sich orientiert, in denen erfüllende Weltveränderung das Thema bildet. Die Thesen über Feuerbach gewinnen deshalb auch zentrale Bedeutung für Bloch. Ein ganzes Kapitel seines Buches ist ihrer Analyse gewidmet, denn er fmdet in diesen Thesen am prägnantesten seine eigene philosophische Position vorgeformt das Bewußtsein von der Gebundenheit des Denkens an Sinnlichkeit, die Interpretation der Sinnlichkeit als konkrete Praxis, die pragmatische Wahrheitskonzeption und das Verstehen der Philosophie als Element der Weltveränderung. Zugespitzt ließe sich ohne Verfälschung des Blochsehen Anliegens sagen: sein Marxismus ist ein von den Feuerbach-Thesen herkommender, der zudem diese Thesen im Sinne der Hoffnungsphilosophie interpretiert. Alles, was darüber hinaus im Werke von Marx an deterministischen Vorstellungen des Geschichtsverlaufes enthalten ist, verliert für Bloch an Bedeutung. Marxismus ist für ihn aktive Tendenzkunde, das heißt, er kann Freiheit nicht als aus objektiver Gesetzlichkeit erwachsend garantieren, sondern nur aus dem offenen Zukunftsenwurf heraus anzielen. Man muß- gerade im rechten Verständnis von Marx - das ganze Weltgeschehen auf den Menschen beziehen, auf ein humanistisches Eschaton im Zielpunkt des Fortschritts, um der puren Determination durch das bloße Objekt zu entgehen und Freiheit realisieren zu können. "Marxismus ist einzig auf jenes positive, keiner Entzauberung unterliegende In-Möglichkeit-Sein bezogen, das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden, zunächst im menschlichen Umkreis, erfaßt. Und das innerhalb dieses Umkreises utopische Totum bedeutet eben jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden. Der Weg öffnet sich als Substanz im Weg, in dem auf seine Offenheit visierten. In dieser Offenheit ist Materie nach Richtung ihrer objektiv-realen Hoffnungsinhalte latent: als Ende der Entfremdung. Auf dem Weg dazu hin geschieht das objektive Übersteigen des Vorhandenen in Geschichte und Welt, welches Prozeß heißt und durch die menschliche Arbeit so gewaltig auf der Erde beschleunigt wird. Materialismus nach vorwärts, Marxismus ist derart Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener Objektivierung; die Welt wird dadurch zur Nicht-mehr-Entfremdung ihrer Subjekte-Objekte, also zur Freiheit entwickelt. Das Freiheitsziel selber wird zweifeiles erst vom Standort einer klassenlosen Geseiischaft her als bestimmtes ln-Möglichkeit-Sein deutlich visierbar."

Die klassenlose Gesellschaft ist für Bloch also nicht zwangsläufiges Resultat einer eigengesetzlichen Genesis der Geschichte, sondern sie ist antizipierender Entwurf einer heilen, den Begriff vom Menschen erfüllenden Heimat. Wirkliche Genesis ist nicht im Anfang, sondern am Ende, sie hängt vom antizipierten Ziel ab. Wenn dabei die ökonomischen Realitäten als dasjenige verdinglichte und verdinglichende Objektive erscheinen, das von der Utopie vor allem angezielt werden muß und aus dem sie ihre revolutionären Impulse

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zieht, so hat auch dies sein Fundament im Selbsterhaltungstrieb und seiner Dialektik von Hunger, Verneinung und Hoffnung. Hunger nämlich und Selbsterhaltungstrieb sind gesellschaftlich gewordene und gesteigerte Bedürfnisse der Wechselwirkung und bleiben als solche letztlich auf das wirtschaftliche Interesse bezogen. "Der Entschluß zur Aufhebung der Klassengesellschaft kommt aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger", heißt es wörtlich, das heißt aus einem Hunger, der in der Klassengesellschaft aufbrechend als Appetit auf angemessene Zustände diese Gesellschaft verneint. Wenn Bloch sich dabei zum Proletariat als jener sozialen Kraft bekennt, die solche Utopie in revolutionäre Praxis umzusetzen vermag, so sucht er doch darin einem Kollektivismus zu entgehen und seinem Glauben an die Potenz bewußter Individualität treuzubleiben. "Das Kollektiv des kämpfenden Proletariates ist Protest gegen die privatkapitalistische Aneignung seiner Produktion. Eben dieser Protest kommt daher, als subjektiver Widerspruch, ohne die allemal individuellen Daseins- und Wirkungsfaktoren der Subjektivität nicht aus. Individuum und Kollektiv, beide umfunktioniert, sind mithin im revolutionären Klassenbewußtsein eigenartig verschlungen."

Aus solchen und ähnlichen Interpretationen des Marxschen Werkes, nach deren Stringenz und Stimmigkeit hier nicht gefragt werden kann, ergibt sich, warum für Bloch Marx der größte Träumer nach vorn ist und eben damit die Wende in der Philosophie bezeichnet. Es ergibt sich aus dieser Marx-Interpretation weiter, daß Bloch - wie jeden bürgerlich-positivistischen, sozialkonformistischen Fortschrittsglauben - so auch jeden Vulgärmarxismus radikal ablehnt. Vulgärmarxismus ist ihm dabei jede mechanische, deterministische Deutung des Marxismus, die - mit Engels schon beginnend - einem erstarrten Realitäts-, Materie- und Dialektikbegriff verfällt. Von solchen Interpretationen aus muß Bloch dann schließlich auch zum entschiedenen Kritiker jenes dogmatisierten Marxismus werden, der sich als dialektischer Materialismus versteht und ausgibt, und zwar trotz des Gebundenbleibens an die Begriffswelt dieser Ideologie. Die Reaktion der östlichen Ideologie auf Bloch's utopischen Marxismus hat denn auch in den erwähnten Interpretationen ihren sachlichen und politisch-ideologischen Grund. Allein die zentrale Stellung des Themas Aufhebung der Entfremdung von Mensch und Welt in Bloch's Philosophie macht sie für die offizielle Parteikonzeption des dialektischen Materialismus unannehmbar, denn gerade dieses Thema und damit der junge Marx in seiner konkreten gesellschaftskritischen Perspektive ist aus dem heutigen"Marxismus-Leninismus so gut wie ausgeklammert. Wenn Bloch dennoch lange Zeit in Leipzig als philosophischer Lehrer wirken durfte und das Ketzerische seiner Philosophie erst nach den politischen Erschütterungen im Herbst 1956 radikal angegriffen wurde, so hat man heute dafür eine einfache Erklärung: erst nach den sogenannten konterrevolutionären Ereignissen sei völlig offenbar geworden, welche gefährlichen

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Konsequenzen eine philosophisch falsch verstandene Koexistenzpraxis in sich berge, die sich nicht entschieden genug zur Parteilichkeit in der Philosophie bekenne. Aus solchem Argument wird dabei besonders offenbar, was sich im Kern hinter dem Kampf gegen Bloch verbirgt: die Unsicherheit und Angst des Systems gegenüber einer Philosophie, die durch den Rückgriff auf Marx den ideologischen Allmachtsanspruch der Partei zu unterminieren in der Lage ist. In der Tat: Bloch spricht zwar davon, daß Marxismus Parteilichkeit für die Zukunft heiße, und d.h. er vermeidet den Begriff der Parteilichkeit als Fundament von Wahrheitsfmdung in Theorie und Praxis nicht. Er entspricht damit formal der offiziellen Doktrin. Aber sein erwähnter Begriff von Parteilichkeit ist viel zu unbestimmt, als daß er einem ideologisierten Herrschaftssystem ausreichen könnte, das mit Parteilichkeit eine politisch höchst konkrete und unmittelbar institutionelle Bindung meint. Bloch's Begriff der Parteilichkeit läßt, so wie er gemeint ist, autonome individuelle Geistigkeit als Instanz von konkreter und dogmatisch ungebundener Kritik noch zu. Seine solchen Begriff von Parteilichkeit stützende Philosophie fügt sich - insbesondere wegen ihres Versuches einer Vermittlung zwischen Kollektivismus und Individualismus- nicht oder doch nur im Verstoß gegen ihren eigenen Anspruch der totalitären Identifikation von Partei und Proletariat sowie der daraus sich ergebenden Forderung nach Aufgeben der Individualität im parteigelenkten Kollektiv als einziger Realität von Menschlichkeit. Es nimmt daher nicht wunder, daß der Kampf gegen Bloch's Philosophie parteigesteuert vor allem im Vorwurf eines mystischen, irrationalistischen, metaphysisch-religiösen und somit unwissenschaftlichen Subjektivismus gipfelt. Formal lassen sich etwa drei Gruppen von kritischen Positionen gegen Bloch unterscheiden. Die eine Gruppe kritisiert sein philosophisches System als Ganzes; eine zweite Gruppe kritisiert einzelne philosophische Kategorien seines Systems; und eine dritte Gruppe schließlich erhebt gegen Bloch - sicher nicht ganz zu Unrecht- den Vorwurf, daß er auf dem Wege über den Kampf gegen den mechanischen Materialismus und die bürgerliche Weltauffassung den dialektischen Materialismus selbst desavouiere. Den Argumenten innerhalb dieser Gruppen im einzelnen nachzugehen, ist für ein eigenes kritisches Urteil über die philosophische Leistung Bloch's kaum ergiebig. Lediglich folgende Argumentationsreihe, die sich in vielfachen Variationen immer wieder fmdet, verdient eine gewisse Beachtung: Bloch sähe den Menschen primär psychologisch und nicht als Gesellschaftswesen. Habe schon dies allein die Konsequenz einer marxistischen Geschichtsauffassung, die im Subjektivismus ende, so gelte dieses vollends von seiner ontologischen Ausweitung des subjektivistischen Prinzips. Nicht nur müsse Bloch - so argumentiert man - einen subjektiv-willenhaften Weltgrund annehmen, der

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über die Spaltung von Subjekt und Objekt hinweg zu deren Aufbebung als seiner eigenen Erlösung dränge, was fmster-unmaterialistischer und damit eben idealistischer Metaphysik religiösen Ursprungs entspräche. Bloch müsse zugleich fmalistisch denken; d.h. das Ziel der Geschichts- und Weltbewegung müsse für ihn wichtiger werden als die Bewegung selbst. Werde damit die Bewegung zum bloßen Mittel für das Ziel, so müsse das Ziel am Ende der Geschichte und Vollkommenheit der Welt zugleich ein Zustand der Bewegungslosigkeit und Ruhe sein, und so Ende jeder Dialektik. Da aber Leben nur in Bewegung und Spannung ist, bedeute das: nach Bloch muß das Ziel der Bewegung als deren absolutes Ende, als Bewegungslosigkeit zugleich Tod und Nichts sein. Bloch lande so - und das ist das abschließende Argument dieser Gedankenreihe-in dem Versuch, die einzelnen Mängel der Welt aufzuheben, beim totalen Mangel, dem Nichts schlechthin, das auch dann ein solches bleibe, wenn es als Alles deklariert werde. Der ganze utopische Optimismus Bloch's sei deshalb im Kern Pessimismus, er sei optimistische Variante des Existentialismus als der hervorstechendsten Form des gegenwärtigen Nihilismus. Wie bei diesem deklassiere die Bewertung des Subjektiven das Objektive zur bloßen Kulisse. Aufschlußreich ist diese Argumentation der offiziellen Philosophie des dialektischen Materialimus gegen Bloch vor allem deshalb, weil sie unterstreicht, welche innere Gefährdung das System in einer Philosophie erblicken muß, die Welt, Natur und Geschichte nur in Bezug auf den Menschen zu denken vermag und im Menschen als einem utopischen Wesen die welterschließende und weltvollendende Instanz erblickt. Dieser Gefährdung vermag man nur zu entgehen, indem man - mit Hilfe welcher dialektischen und rhetorischen Kunstgriffe auch immer - den an die Aktivität des Individuums gebundenen Fortschrittsoptimismus Bloch's als Pessimismus und Nihilismus darstellt. Man verdächtigt Bloch einer philosophischen Position, die er selbst nachdrücklich ablehnt und bekämpft, und wenn dabei der Begriff der Existenzphilosophie fällt, so ist das nicht zufällig. Insofern nämlich, als nach der offiziellen kommunistischen Ideologie der philosophische Existentialismus der Nihilismus schlechthin ist, ist die Deklaration Bloch's als Existenzphilosophie mit veränderten Vorzeichen zugleich ausreichender Grund für seine Abstempelung als antikommunistisch, zivilisations- und fortschrittsfeindlich. Es scheint sinn- und verdienstvoll, wenn diese Philosophie solcher Denunziation entrissen wird. Im Blochsehen Hauptwerk begegnet man einer Philosophie, die mit aller Radikalität den verbreiteten Thesen von Untergang, Angst, Scheitern und Tod das Hoffen als Prinzip menschlicher Existenz in Welt, Geschichte und Gesellschaft entgegenhält. Der unvoreingenommene Leser wird sich von dem Ernst und der Leidenschaft beeindrucken lassen müssen, mit der hier philosophisch um die Hoffnung, um das Utopische ge-

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rungen wird. Er wird aber dennoch nicht umhin können zu fragen: Bleibt Bloch eigentlich seinem eigenen Anspruch treu und bewahrt er jenes konkrete Träumen nach vorn, das in ebenso konkreter, gesellschaftsbezogener Kritik und zukunftsweisender Selbstaufklärung sich darstellen müßte? Diese Fragen aufwerfen heißt, sie nur schwer mit einem uneingeschränkten Ja beantworten zu können. Da ist z.B. die Auseinandersetzung Bloch's mit der Existenzphilosophie und vor allem mit Heidegger und seiner Lehre von der Angst als der das Inder-Welt-Sein erschließenden Grundbefindlichkeit Auf eine solche Auseinandersetzung scheint die ganze Hoffnungsphilosophie Bloch's sachnotwendig zu drängen. Entsprechend dem eigenen Anliegen Bloch's und seiner Herkunft von Marx dürfte jedoch eine Auseinandersetzung solcher Art nicht nur in der Deklaration der Angst als eines der Hoffnung entgegenstehenden negativen Erwartungsaffektes sich erschöpfen. Es müßte vielmehr entsprechend dem, was bei Bloch selbst konkrete Utopie heißt, die existenzphilosophische Position Heidegger's auf ihre sozialen Motivationen und Konsequenzen hin detailliert untersucht werden. Heidegger böte dafür nicht nur hinreichend Anlaß, die Blochsehe Hoffnungsphilosophie selbst stellt auch die Fundamente und Bedingungen für ein solches Vorhaben bereit. Was Bloch jedoch an tatsächlicher Heidegger-Kritik vorlegt, drängt sich in die lapidaren Sätze zusammen: "Heidegger also reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die Grundbefindlichkeit einer untergehenden Gesellschaft. Er reflektiert vom Kleinbürgertum her die Gesellschaft des Monopolkapitals, mit Dauerkrise als normalem Zustand; einzige Alternative zur Dauerkrise sind Krieg und Kriegsproduktion."

Mit solcher Argumentation wird nicht nur die Fülle philosophie- und sozialkritischer Möglichkeiten vertan, die in Bloch's Analysen über die Rolle und Funktion des Utopischen in Geschichte und Gesellschaft bereitgestellt ist. Bloch bleibt auch weit hinter dem zurück, was an ideologienkritischer Aussage zur Existenzphilosophie heute schon vorliegt, man denke etwa an Adorno. Und nicht nur dies. Was für Bloch's Auseinandersetzung mit Heidegger gilt, zeichnet leider sein ganzes Werk in allden Passagen aus, die Gesellschaftskritisches ausmachen. Wo der Begriff konkreter Utopie und philosophisch erhellter Hoffnung die Chance böte, Philosophie überhaupt auf ihren sozialkritischen Aspekt festzulegen und sich als Potenz radikaler Aufklärung in der Gesellschaft zu bewähren, da fällt Bloch nur allzu oft hinter diese seine eigenen Möglichkeiten zurück. Er bindet sich bedingungslos an ein Denkmodell von notwendig untergehenden und ebenso notwendig aufsteigenden Gesellschaften. Gemäß seiner schon zitierten Interpretation des ex oriente Iux liegt alle Möglichkeit zu menschenwürdiger Zukunft allein in dem, was gegenwärtiger Ostpunkt der

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Menschheit heißt; westlich-bürgerlich-demokratische Lebensordnung ist notwendig niedergehende Gesellschaft schlechthin. Konkrete Utopie als aktivierende Möglichkeit einer menschenwürdigen Zukunft hat in ihr keine Chance. Was an sozialkritischer Aussage zur westlichen Gesellschaft bei Bloch sich fmdet - wie etwa die verdienstvolle und bemerkenswerte Dekuvrierung der Vergnügungsindustrie als Utopieersatz- ist demzufolge bei Bloch auch nicht als Medium der Selbstaufklärung dieser Gesellschaft über ihre eigenen Möglichkeiten zu einer besseren Zukunft gemeint, sondern als Demonstration ihres geschichtsnotwendigen Unterganges. Ob gewollt oder nicht, zeitigt aber dies die Apologie kommunistischer Sozialordnung. So diskreditiert Bloch sein eigenes Beginnen bedauerlicherweise immer wieder durch eine vorlaufende ideologische und politische Option für den kommunistischen Osten, die trotz aller beachtlichen Kritik an dessen dogmatisierter Ideologie - doch gesellschaftlich unreflektiert, naiv und kaum weniger dogmatisch ist. Konnte diese Apologie des Kommunismus, verbunden mit einer Untergangsapotheosedes Westens, noch als eine mehr oder weniger glaubwürdige oder ernstzunehmende Verbeugung vor dem System gelten, solange das philosophische Hauptwerk Bloch's nur in der ostdeutschen Ausgabe vorlag, so zwingt doch wohl die im wesentlichen unveränderte westdeutsche Ausgabe dazu, das politisch-ideologische Glaubensbekenntnis so beim Wort zu nehmen, wie es ausgesagt ist. Auch die in dieser westdeutschen Ausgabe noch unverändert enthaltenen Stalin-Zitate erscheinen dann in anderem Licht. Die Hoffnung, die Bloch den Westen lehrt, ist und bleibt die Gewißheit seines unabdingbaren Unterganges, die sich mit einer Apologie des Kommunismus verbindet und diesen nicht nur als utopische Zukunftsvision meint, sondern eben auch als politisch soziale Realität. Wo der das Anliegen von Bloch kennzeichnende Rückgriff auf das Utopische und Sozialkritische im Denken von Marx zu einer die moderne Gesellschaft überhaupt aus ihren Verdinglichungsmechanismus befreienden philosophischen Tat hätte führen können, wird diese Möglichkeit und Chance durch die erwähnte ideologische Option verbogen. Und eben deshalb wird der Leser der westdeutschen Ausgabe des Prinzip Hoffnung, der sich Bloch's Anliegen im Grunde zubekennt, gerade um der Sache willen, um die es philosophisch und gesellschaftlich geht, hinter die Frage nach dem Sinn solcher Ausgabe gerade dieses Buches zumindest ein Fragezeichen setzen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die früheren ideologisch ungebundenen Schriften Bloch's wie etwa die Spuren im Westen durchaus zugänglich sind.

Das Utopische zwischen Konsens und Abweichung in der soziologischen Handlungstheorie von Dieter Geulen

I.

Einleitung In den Sozialwissenschaften spielt der intentionalistische, auf der subjektiven Ebene angelegte handlungstheoretische Ansatz zumindest seit der durch Max Weber begründeten und bei Talcott Parsans zusammengeführten soziologischen Theorietradition unseres Jahrhunderts eine grundlegende Rolle. Das zeigt sich auch in den der Soziologie benachbarten Gebieten, etwa der Philosophie, Psychologie, Linguistik, Politologie oder Ökonomie, in denen das Handlungskonzept verwendet und weiterentwickelt wird. 1 Handeln wird dabei gefaßt als zielgerichtete Tätigkeit menschlicher Individuen, die durch subjektive Vorstellungen bestimmt bzw. gesteuert wird. Diese Auffassung steht der rationalistisch-idealistischen Position in der Anthropologie näher als z.B. der Auffassung, Handeln sei nur eine von äußeren Reizen determinierte Reaktion von Organismen oder sei von vornherein nur auf der Ebene anonymer Systemprozesse ohne Subjekte zu konzipieren. Da der Handlungsbegriff auf der Ebene der subjektiven Orientierung angelegt ist, bietet er grundsätzlich Raum für die utopische Dimension, für eine gedankliche Antizipation noch nicht verwirklichter Realität; ja in der Kategorie des Handlungszieles ist diese Dimension direkt impliziert.'· Das wird deutlich z.B. bei Max Weber, der etwa in seinen Arbeiten über protestantischen Geist und Kapitalismus gezeigt hat, in welchem Ausmaß die, wenn nicht utopische, so auf jeden Fall fiktionale Komponente in der Handlungsorientierung auch das wirkliche Handeln bestimmen kann. Man darf daher sagen, daß zwischen dem handlungstheoretischen und dem Utopistischen Ansatz in den Sozialwissenschaften an dieser Stelle eine systematische Verbindung beVgl. Lenk, H. (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär, 4 Bände, München 1m ff., sowie Geulen, D. (Hg.), Soziales Handeln und Perspektivenübernahme, in: Geulen, D. (Hg.), Perspektivenübernahme und soziales Handeln, Frankfurt 1982, bes. S. 24 ff. 2 Vgl. auch Geulen, D., Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie, Frankfurt 1977, 1989, S. 202 ff.

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steht, ja daß jeder dieser Ansätze der Ergänzung durch den anderen bedarf: Handlungsziele liegen immer jenseits des Gegebenen und sind insofern "utopisch", Utopien bedürfen, sollen sie überhaupt wirksam werden, immer des Handelns. Die Bedeutung dieses Zusammenhanges für gesellschaftliche Entwicklung liegt auf der Hand. In der soziologischen Theoriebildung tritt nun - wie sich an der Entwicklung des Parsons'schen Werkes ablesen läße - eine weitere Dimension zunehmend in den Vordergrund, die der Orientierung an sozialen Normen bzw. der Konformität. Diese Wendung, bei der Parsans sich stärker auf Durkheim stützt, erscheint notwendig, wenn man Handeln programmatisch als soziales Handeln in der Gesellschaft und nicht bloß als Handeln eines einsamen Subjekts fassen will. Soziales Handeln wird nun begriffen als an Verhaltensnormen orientiert, die intersubjektiv gültig und in diesem Sinne institutionalisiert sind. Es wird "erwartet", daß ein Akteur sich diesen Normen entsprechend verhält. Andererseits hat dieser jedoch immer auch die Chance, sich nicht so, sondern "abweichend" zu verhalten; üblicherweise zieht das allerdings negative Sanktionen nach sich. Die Tatsache abweichenden Verhaltens wird bei Parsans keineswegs geleugnet, ja er widmet ihr verschiedene Erörterungen. Aber das von ihm angenommene Modell von sozialem Handeln und damit auch das darauf gegründete Modell des sozialen Systems basiert auf der Annahme der Konformität des Handeins mit den institutionalisierten Rollenerwartungen; "abweichendes Verhalten" ist - wie ja schon der von Parsans gewählte Terminus selbst zeigt - kein konstitutiver Bestandteil dieses Handlungsbegriffs, sondern seine Negation. Der Handlungsbegriff zeigt nun allerdings ein anderes Gesicht. Handeln erscheint jetzt als durch Normen determiniert, die sowohl die Konzeptualisierung der relevanten Objekte als auch die Ziele und Mittel des Handeins festlegen. Gleichgültig, ob der Handelnde selbst dies als Zwang, als ärgerliche Tatsache wahrnimmt oder sich freudig damit identifiziert hat, in jedem Fall muß man sich nun fragen, wo der Raum für Utopisches geblieben ist, den wir oben festgestellt hatten. Wenn dieser Raum nun ausgefüllt ist mit Normen, die Handeln auf die gegebenen Umstände und unter der Prämisse ihrer Stabilität festlegen, so ist dies keine utopische, sondern eine nur auf das schon Gegebene zurückgebogene, insofern eher ideologische Orientierung.4 So liegt es nahe, den Raum für das Utopische, das phantasierte Neue und Bessere, auf der anderen Seite, im abweichenden Verhalten zu suchen. Es scheint dies eine auch theoretisch befriedigende Lösung zu sein, denn das 3 Vgl. Parsons, T., The structure of social action, Glencoe 1937, 1949; sowie The social system, London 1952. 4 Zur Kritik an Parsons' Handlungstheorie vgl. Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt, a.a.O., S. 141 ff.

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Utopische wäre befreit von den Konformitätszwängen der Gegenwart, bliebe aber in einem handlungstheoretischen Kontext angesiedelt, der mit der Perspektive einer Theorie gesellschaftlicher Veränderung erweitert werden könnte. Ich möchte im folgenden einige Gedanken verfolgen, die eher gegen eine solche Konsequenz sprechen, denn was auf den ersten Blick plausibel zu sein scheint, erweist sich bei näherer Analyse als problematisch. Ich vertrete die Thesen, 1. daß die ursprüngliche Utopie gerade in dem Konsens-Modell steckt, aus dem die soziologische Handlungstheorie hervorgegangen ist, das aber in der Entwicklung dieser zu einem Konformitätsmodell verloren gegangen ist, und

2. daß "abweichendes Verhalten", sofern es überhaupt einer utopischen Perspektive folgt, nicht als privates politisch relevant werden kann, sondern nur wieder als soziales, auf Intersubjektivität bzw. Konsens setzendes Handeln in der gegebenen Realität. II.

Wandlungen des Konsens-Paradigmas Bevor wir die Frage einer Allianz von Utopie mit abweichendem Verhalten erörtern, sei fairerweise die Frage zuerst an das der soziologischen Handlungstheorie selbst zugrunde liegende Konsens-Paradigma gestellt. Schließt es Utopie tatsächlich und prinzipiell aus oder scheint dies nur in der vorliegenden, insbesondere Parsons'schen Version der Handlungstheorie so zu sein? Eine entscheidende Station in der Entwicklung dieser Theorie ist Emile Durkheim. Sehen wir uns an, wie Parsons diese Entwicklung selbst rekonstruiert hat.5 Der Weg führt zurück bis zu Hobbes und umfaßt zwei Schritte. Hobbes hatte das Problem gestellt, wie Gesellschaft im Sinne friedlichen Zusammenlebens möglich sei, wenn im Naturzustand die Menschen egoistisch nur ihren individuellen Vorteil verfolgen und dabei zwangsläufig in einen ruinösen Kampf aller gegen alle geraten. Hobbes' Antwort lautet bekanntlich, daß dies nur dadurch überwunden werden kann, daß die Individuen in einer freiwilligen, vertraglichen Übereinkunft auf ihre "natürlichen Rechte auf alles" soweit verzichten als notwendig ist, um auch den anderen die Realisierung eben dieser Rechte zu ermöglichen. Dies entspricht durchaus kluger Berechnung, trotzdem hält Hobbes die Einrichtung einer zentralen Instanz für erforderlich, die mit Sanktionsgewalt die Einhaltung dieses Gesellschaftsvertrages garantiert. Bei Locke wird später die Tätigkeit der Regierung selber in den Verfassungsvertrag einbezogen und durch Einführung der GewaltenteiParsons, The structure of social action. a.a.O., Ch. III und VIII ff.

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lung auf ein Mindestmaß beschränkt. Auch Rousseau greift den Gedanken des Gesellschaftsvertrages auf, geht aber noch weiter, indem er einerseits fordert, daß jeder Einzelne auch Subjekt der Gesetzgebung und der ausführenden Staatsgewalt sei und andererseits sich an einem überindividuellen Gesamtinteresse, der volonte generale, orientieren müsse. Es ist deutlich genug, daß das Modell des Gesellschaftsvertrages im politischen Denken der Aufklärung gründet und dort einen zentralen, ja konstitutiven Platz einnimmt. Im Hinblick auf unsere Fragestellung sind dabei nun zwei Aspekte hervorzuheben. Zum ersten impliziert das Vertragsmodell als wesentliche Bestandteile (1) einen Konsens im Sinne einer (2) autonomen Willensentscheidung aller Beteiligten, die (3) aufgrund ihrer eigenen vernünftigen Überlegungen zustande kommt. Diese Momente hängen im Verständnis der Aufklärung eng miteinander zusammen, ja bedingen einander. Weil eine Entscheidung in der eigenen Vernunft begründet ist, ist sie autonom und nicht diktiert durch irgendwelche Herrschaftsverhältnisse, und weil Vernunft allen Menschen eignet, können sie in Vernunft übereinstimmen, d.h. zu einem Konsens gelangen, der ipso facto autonom ist, auch wenn er sie zu bestimmten Handeln verpflichtet. Der Konsens-Begriff der bürgerlichen Moderne dürfte auf diesen historischen Entstehungszusammenhang zurückgehen, unbeschadet noch älterer Wurzeln im christlichen und antiken Denken. Zum zweiten ist zu sehen und zu sagen, daß die von Hobbes und Locke, am deutlichsten wohl bei Rousseau entworfenen Gesellschaftsordnungen auf der Grundlage eines solchen Vertrages Utopien sind, ganz sicher zur Zeit ihrer Artikulierung und - denkt man etwa an Marx' Sicht der ja ebenfalls durch Verträge legitimierten Produktionsverhältnisse oder an die Aktualität der Idee herrschaftsfreier Interaktion - großenteils wohl auch noch heute. Sie sind aus den politischen Postulaten der Freiheit und Gleichheit aller abgeleitete Konstruktionen, die nicht etwa die gegebene Realität der feudalen Gesellschaft wiedergeben oder theoretisch legitimieren, sondern ihr gerade sehr bewußt und bestimmt als die notwendige Alternative kritisch gegenüber gestellt werden. Ich meine also, daß im politischen Denken der Aufklärung der Konsensbegriff eine Utopie bezeichnet. In der soziologischen Handlungstheorie der Gegenwart, insbesondere bei Parsons, wird die Vokabel des Konsenses nun offensichtlich nicht mehr in diesem ursprünglichen Sinne verwendet, insbesondere scheint das utopische Moment verloren gegangen zu sein oder sich an einer ganz anderen Stelle angelagert zu haben. Um diese Entwicklung zu verfolgen, müssen wir zu Durkheim zurückkehren, der den zweiten Schritt einleitet und damit eine entscheidende Voraussetzung für dieneuere soziologische Handlungstheorie schafft.

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Schon in seinem ersten Hauptwerk über die Arbeitsteilung (1892t stellt Durkheim sich das Problem, wie soziale Integration bei arbeitsteiliger Differenzierung zu erklären sei. Die liberalistische englische Gesellschaftstheorie hatte dies durch die Annahme zu erklären versucht, daß die Individuen in Verfolgung ihrer partikularen Interessen Tauschbeziehungen auf Vertragsbasis miteinander eingehen. Die Idee des Gesellschaftsvertrages lebt hier durchaus noch in säkularisierter Gestalt fort, wenn auch eine egoistisch-utilitaristische Anthropologie wieder stärker hervortritt. Durkheims theoretischer Ausgangspunkt ist nun eine Kritik des Vertragsmodells in der zeitgenössischen Variante bei Herbert Spencer. Durkheim zeigt, daß zur Erklärung vertraglicher Beziehungen die Annahme eines nur am eigenen Nutzen orientierten Wirtschaftssubjekts nicht ausreicht, sondern daß der Vertrag eine soziale Institution ist, die selbst auf außervertraglichen, immer schon vorausgesetzten moralischen Bedingungen beruht. Durkheim bringt hier den Begriff der solidarite ins Spiel und erklärt das Funktionieren sozialer Interaktionsbeziehungen dadurch, daß wir schon vor jeder individuellen Willensbildung soziale Normen, Wertvorstellungen und Glaubensinhalte verinnerlicht haben, die uns phänomenal als objektive und unantastbare Tatsachen mit einem moralischen Zwangscharakter gegenübertreten und unser Handeln bestimmen. Ihre Gesamtheit bildet die conscience collective, das gemeinschaftliche Gewissen. Scheinbar klingt hier Rousseau, über den Durkheim eine Dissertation geschrieben hatte, mit seinem Begriff der volonte generate an; tatsächlich rekurriert Durkheim jedoch auf die Hobbes'sche Vorstellung einer zentralen Zwangsinstanz, mit der genialen Wendung, daß diese Instanz in uns selbst als Produkt unserer Sozialisation in Familie und besonders Schule liege. An dieser Stelle kommt Durkheim übrigens der erst ein Vierteljahrhundert später formulierten Über-Ich-Theorie Freuds nahe, eine Koinzidenz, die Parsans erfreut aufgegriffen hat. Durkheims Punkt gegen Spencer ist zweifellos zutreffend, dennoch kann man sich fragen, ob er für eine vernichtende Kritik am Paradigma des Gesellschaftsvertrages ausreicht, welche Implikationen Durkheims eigene Theorie enthält und ob nicht auch Entscheidendes verloren geht. Es geht praktisch alles verloren, was wir als Errungenschaft der Aufklärung festgehalten hatten. Erstens wird der Anspruch einer Begründung der Normen bzw. des normgemäßen Handeins in der Vernunft, ja einer Begründung überhaupt fallengelassen. Statt dessen verweist Durkheim immer wieder auf die pure Faktizität der conscience collective bzw. ihrer Gebote ("faits sociaux''). Diese entbehren auch tatsächlich einer irgendwie vernünftigen Grundlage, sondern sind historisch kontingent im Sinne etwa einer historistischen oder historisch-materialistischen Auffassung. Nebenbei folgt daraus Durkheim, E., De Ia division du travail social, Paris 1892, 1960.

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auch, daß Durkheims Begriff von Moral - eine zentrale Kategorie in seinem Werk- konventionalistisch bzw. relativistisch ist. Zweitens wird die Autonomie der Handelnden preisgegeben. Durkheim hebt immer wieder den moralischen Zwang ("contrainte"), das unumstößlichObligatorische der sozialen Verhaltensnormen hervor und sieht auch den Gegensatz zur Freiheit des Individuums, ohne diesen Widerspruch auflösen zu können. Man muß sich fragen, wie es für einen Autoren, zumal einen französischen, möglich ist, nach der Aufklärung und bürgerlichen Revolution wieder eine Gesellschaftsordnung zu akzeptieren, die auf Zwang basiert. Wie ist es möglich, daß am Ende des 19. Jahrhunderts der utopische Elan verschwunden ist und sich die Individuen wieder mehr als Abhängige begreifen? Folgende Bedingungskonstellation könnte eine Rolle spielen. Die Menschen des 19. Jahrhunderts erfahren in zunehmendem Maße, daß die Gesellschaft eine ökonomisch-technische und eine politisch-soziale Eigendynamik entfaltet, der sie ausgeliefert sind und in der sie sich immer mehr nur als fremdbestimmte und abhängige einordnen können. Zum zweiten handelt es sich hier aber genau um die Gesellschaftsordnung, die sie politisch gewollt und durchgesetzt haben. Die Option, sich dieser Gesellschaft in der gleichen Weise wie einst der feudalen als politisches Subjekt gegenüber zu stellen, war im bürgerlichen Denken nicht mehr gegeben, vielmehr waren die Subjekte nun mit ihrer Gesellschaft identifiziert. Hier liegt der historische Sinn der Tatsache, daß in dieser Zeit die psychologische These der Verinnerlichung von Gesellschaft durch Sozialisation auftaucht, die schmerzvolle Widersprüche im Individuum aufreißt, aus der man aber nicht mehr heraustreten kann. Drittens geht der Begriff des Konsenses verloren, diesen verstanden als autonome Zustimmung aufgrund eigener Einsicht, die sich außerdem ihrer Intersubjektivität mit konkreten anderen bzw. einer Allgemeinheit bewußt ist. Was nun statt dessen herrscht (und später von Parsons wieder völlig zu Unrecht mit der Vokabel des Konsenses belegt wird), ist eine mehr oder weniger weitreichende faktische empirische Gemeinsamkeit der verinnerlichten Werte und Normen bei den Mitgliedern einer Gruppe bzw. Gesellschaft, so wie etwa eine gleiche Hautfarbe. Das ist aber nicht Konsens. Viertens wandelt sich die Theorie von einer Utopie, die der einst bestehenden feudalen Gesellschaftsordnung kritisch entgegengesetzt worden war, zu einer Ideologie, die die am Jahrhundertende bestehende bürgerliche Gesellschaftsordnung legitimiert. Fünftens schließlich läßt sich feststellen, daß auch der seit Decartes in der idealistischen Tradition entwickelte emphatische Subjektbegriff, der etwa bei Kant eng mit dem oben skizzierten Verständnis einer moralischen Gesellschaftsordnung verknüpft ist, aufgegeben wird. Durkheim sieht im Individuum nurmehr zwei Instanzen, eine naturhaft-egoistische, die zu zähmen ist,

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und die verinnerlichte conscience collective, die das Verhalten bestimmt. Nicht mehr Subjekte handeln, sondern das unpersönliche gesellschaftliche Normensystem, das sich der Individuen nur bedient. So sind wesentliche Annahmen der soziologischen Handlungstheorie, wie sie später von Parsans ausformuliert und systematisiert worden ist, schon bei Durkheim entwickelt, ja Durkheim ist es auch, der die Wende vom KonsensParadigma der Aufklärung, wie es im Modell vom Gesellschaftsvertrag enthalten war, zum postmodernen Konformitätsparadigma vollzieht, eine Wende, bei der die einst utopischen Momente verschwinden bzw. in ideologische umgebogen werden. Sehen wir uns nun an, ob die im Konformitätsmodell verlorengegangene utopische Dimension in dessen Negation, d.h. im "abweichenden Verhalten", wieder eingeholt werden kann. III.

Utopie und "abweichendes Verhalten" Beide Begriffe, besonders der zweite, sind so vieldeutig, ja ungenau, daß zunächst wenigstens einige Abgrenzungen und Klärungen vorgenommen werden müssen. Ich werde dann in loser Systematik verschiedene Möglichkeiten, dieses Verhältnis zu fassen, beleuchten, wobei sich gewisse theoretische Schwierigkeiten herausstellen werden, die zeigen, daß Utopie und abweichendes Verhalten nicht in einen konsistenten und politisch relevanten Zusammenhang zu bringen sind. Der Begriff der Utopie bzw. des Utopischen ist, wie Neusüß mit dem von

ihm herausgegebenen Standardwerk zeigt,7 mehrdeutig. So werden z.B. neben

einer bestimmten Literaturgattung, dem utopischen Roman, auch Vorstellungen von einer fiktiven Gesellschaft, die ihren Bezug zur Gegenwart selber noch nicht reflektiert haben, als utopisch bezeichnet. Ich möchte mich hier dem auf Horkheimer zurückgehenden Vorschlag anschließen, Utopien als Vorstellungen von einer glücklicheren Zukunft in einer wahren, gerechteren Gesellschaft aufzufassen, die der Gegenwart in kritischer Negation entgegengesetzt sind.8 Unbeschadet der auch in dieser Definition enthaltenen Ungenauigkeiten sind als wesentliche Züge hervorzuheben, (1) daß es sich um Vorstellungen über die ganze Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Realität handelt, nicht bloß um solche der individuellen Lebenssituation, (2) daß es sich um Phantasien von einem zukünftigen, bisher nicht realisierten Zustand handelt - was psychologisch gesehen selbstverständlich nicht ausschließt, daß Neusüß, A. (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt u.a. 1986. M., Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland, Stuttgart 1930, zit. nach Neusüß, a.a.O., S. 15 ff. 8 Horkheimer,

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sie aus bereits gewonnenen sinnlichen Erfahrungen konstruiert werden -, (3) daß die Utopie in einem mehr oder weniger bewußten, zumindest potentiell explizierbaren bestimmten und zwar kritischen Bezug zur gegenwärtigen Realität steht. Das bedeutet keineswegs, daß in einer gegebenen Gesellschaft nur eine bestimmte Utopie möglich oder verbindlich sein könne; eher ist empirisch ein Pluralismus der Utopien anzunehmen. Unter handlungstheoretischer Perspektive ließe sich hinzufügen, daß die Utopie als wenigstens prinzipiell erreichbare Zielvorstellung politischen Handelns, als politische Intention gesehen wird und insofern einen handlungsmotivierenden "Aufforderungscharakter" zeigt. Dieser Zusammenhang ist hier wichtig, weil wir ja den Bezug zu Verhalten untersuchen wollen und Utopien nur über Handeln Realität werden können. Allerdings verlieren sie gerade dann ihren Charakter als Utopien; zwischen beiden Seiten besteht ein dialektischer Bezug. Dagegen interessieren uns hier weder Utopien nur als geistige Gebilde noch Subjekte, die Utopien im Kopf haben mögen, in deren Handeln dies aber nicht erkennbar wird. Der Begriff des "abweichenden Verhaltens" ist noch vieldeutiger. Abgesehen davon, daß er dem theoretischen Kontext des Konformitätsparadigmas entstammt und entsprechend vorbelastet ist, bezeichnet er eigentlich nur eine Residualkategorie, nämlich all das Verhalten, das nicht bestimmten, für den jeweiligen Akteur als verbindlich geltenden Normen entspricht. Empirisch umfaßt er ein wahres Sammelsurium höchst unterschiedlicher Verhaltensweisen, vom kaum merklichen Fauxpas bis zum Kapitalverbrechen, das zu systematisieren ich erst gar nicht versuchen will. Vorschläge dazu wurden bereits von Parsans und Merton unternommen.9 Statt dessen ist auf einige allgemeine Dimensionen hinzuweisen, die im Zusammenhang unserer Fragestellung bei der Konzeptualisierung abweichenden Verhaltens von Bedeutung sein könnten: Von welchen Normen wird überhaupt abgewichen, handelt es sich um oberflächliche Übertretungen, um zentrale Verletzungen oder gar um Aufkündigung grundlegender Prinzipien menschlichen Zusammenlebens? Welches sind die motivierenden und/oder begleitenden Vorstellungen, sind sie politisch, auf das gesellschaftliche Ganze bezogen oder ausschließlich privatistisch? Wie weit sind sie explizit bzw. lassen sich unter der Perspektive einer Utopie interpretieren, eventuell auch erst mit hermeneutischen oder psychologischen (psychoanalytischen) Methoden? Ist das beobachtbare Verhalten subjektiv bzw. objektiv auf Herstellung der Utopie ausgerichtet (wie fragwürdig auch immer diese Beurteilung etwa unter taktischen Gesichtspunkten sein mag) oder nur unspezi.fisches "Symptom" eines Dissenses? Welche und wieviele Menschen in dem jeweiligen Gesellschaftssystem teilen das Verhalten bzw. die Utopie und wie hängt das mit ihrer sozialen Lage zusammen? Ist Parsons, The social system, a.a.O., S. 256 ff.; Merton, RK, Social structure and anomie, in: Social theory and social structure, Clencoe 1957, S. 131 ff.

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das Verhalten nur individuell oder hat es einen gewissen Grad kollektiver Organisiertheit über privates Einzelkämpferturn hinaus erreicht; entspricht dies einem Konsens bzw. entsprechenden Kommunikationsprozessen über die Utopie? Verbinden sich mit einer bestimmten Utopie verschiedene, eventuell widersprüchliche Verhaltensweisen bzw. liegen bei gleichen Verhaltensweisen verschiedene, eventuell konkurrierende Utopien vor? Diese Fragen sollen nur die Richtung unserer weiteren Überlegungen anzeigen. Im folgenden möchte ich einige der vielen Aspekte im Verhältnis von Utopie und abweichendem Verhalten wenigstens kurz anreißen. Dabei wird kein Anspruch auf theoretische Integration oder auch nur Vollständigkeit erhoben, vielmehr soll eher deutlich werden, daß einer theoretischen Verknüpfung dieser beiden Begriffe zahlreiche Schwierigkeiten im Wege stehen. Beginnen wir mit den Korrespondenzen zwischen beiden Begriffen. Der nächstliegende Fall ist wohl, daß abweichendes Verhalten die Realisierung einer bestimmten Utopie ist. Auch Durkheim hat schon darauf hingewiesen, daß eine Funktion des abweichenden Verhaltens darin liegt, die Stärke der conscience collective in Grenzen zu halten, um ihre weitere Entwicklung zu ermöglichen und dieser eine Richtung vorzugeben.10 "Realisierung" heißt hier die gelingende politische Umgestaltung des ganzen Systems; sie setzt eine größere bzw. mehrheitliche Zahl von Individuen voraus, die einen Konsens über ihre Ziele und taktischen Mittel erreicht haben und tatsächlich in dieser Richtung tätig sind. "Abweichung" heißt dann bewußte, nicht notwendig gewaltsame Destruktion nicht bloß einzelner Normen, sondern zentraler Institutionen des bestehenden Systems, insbesondere Institutionen der Herrschaft (z.B. Ersetzen einer patrimonialen Herrschaft durch Basisdemokratie; Aufheben des Privateigentums an Produktionsmitteln; Abschaffen aller die Natur schädigenden technischen Einrichtungen). Im Falle vollkommenen Gelingens, d.h. der Verwirklichung der Utopie, verlöre diese ihre Qualität als Utopie und konsequent die Menschen einen wesentlichen Bestandteil ihrer Handlungsorientierung, damit ihres Charakters als handelnde Subjekte selbst. Im Paradies braucht man nicht mehr zu handeln. Häufig, vielleicht immer, wird jedoch zwischen der handlungsleitenden Utopie und dem realen Ergebnis eine Differenz, ja ein Widerspruch entstehen. Die nur unvollkommen antizipierbare Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Realität trägt so dazu bei, daß die Utopie als Utopie bestehen bleibt. In Bezug auf den "abweichenden" Charakter des entsprechenden Handeins besteht die Gefahr, daß die Akteure den gesellschaftlichen Mechanismen der sozialen Kontrolle bereits zum Opfer fallen, bevor sie überhaupt die Chance Durkheim, E., Les regles de Ia methode sociologique, Paris 1960, S. 70, zuerst 1895.

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hatten, ihr Projekt als für alle relevante Utopie zur Diskussion zu stellen. Die meisten Utopien dürften so bereits im Vorfeld als "Spinnertum" abgewürgt, günstigenfalls auf Subkulturen und Enklaven beschränkt werden. Hier ließen sich kultur- und medienpolitische Erwägungen anschließen. Abweichendes Verhalten dient nicht nur der eigenen Befriedigung und der Veränderung der objektiven Realität, sondern hat direkt oder indirekt auch eine demonstrative Wirkung auf andere, sei es, daß das Verhalten der einen für die anderen bereits die Erfüllung einer Utopie demonstriert, sei es, daß es sie dazu provoziert, sich über ihre eigenen Utopien klar zu werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die ästhetisch-sinnliche Dimension, weil sie Möglichkeiten der Kommunikation bietet, die über die Ebene der begrifflich elaborierten Normalsprache, die als solche ja immer eng mit dem Bestehenden liiert ist, hinausgehen. Die am weitesten reichenden Utopien werden vielleicht immer zuerst in der Kunst artikuliert, und unter repressiven Verhältnissen ist sie sogar das einzige Mittel, weil diese Äußerungsform durch die oben genannten Mechanismen sozialer, insbesondere staatlicher Kontrolle und ihrer bornierten Agenten weniger leicht zu bändigen ist. Zwischen dem Begriff der Utopie und dem des "abweichenden Verhaltens" bestehen aber nicht nur Korrespondenzen, sondern auch Gegensätze. Nicht allem abweichenden Verhalten kann selbst bei gutwilliger Interpretation der Rang einer politisch relevanten Utopie zugesprochen werden, sei es, daß es privatistisch wird wie der Rückzug in die Apathie oder in die Halluzination, sei es, daß es wie im Falle physischer Aggression die Grenze humanen Umgangs mit anderen überschreitet und Gesellschaft als solche negiert. Es scheint eher so zu sein, daß durch solche Formen abweichenden Verhaltens relevante Utopien desavouiert, ihre Artikulation verhindert oder diskreditiert wird. Verhalten wird so zum kurzschlüssigen Ersatz für ein an Utopien orientiertes politisches Handeln mit entweder gar keinen oder nur zufälligen Folgen für das Ganze. Allerdings kann auch der umgekehrte Fall eintreten, daß nämlich das Träumen von Utopien zum Ersatz politisch adäquaten Handeins wird. Es gibt doch genug Hinweise für die These, daß die Phantasie gerade dort - und umso wilder - wuchert, wo die Realität besonders unlustvoll und die Chancen einer realen Veränderung besonders gering sind. Die Konsequenz wäre ein resignativer Quietismus. Einmal mehr stoßen wir auf den dialektischen Bezug zwischen Realität und Utopie, der es so schwierig macht, beide Begriffe handlungstheoretisch zu verknüpfen. Ein Gegensatz wird auch deutlich im Typus des überangepaßten oder auch zwanghaften Konformisten. Dieser Fall ließe sich psychologisch so interpretieren, daß hier sich das Verhalten an einer Utopie orientiert, die eine Idealisierung der bestehenden Gesellschaft selbst ist. Das Bestehende wird gleich-

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sam in der Ebene des Utopischen wieder abgebildet, der Platz für Utopie ist ausgefüllt, der Handelnde wähnt sich in der besten aller Welten bzw. strebt ihrer allerletzten Vervollkommnung nach. Hier fällt Utopie und Ideologie unmittelbar zusammen, das System ist lückenlos, und für abweichendes Verhalten besteht selbst im Denken keine Chance. Ergeben sich so verschiedene Probleme aus der Tatsache, daß der Begriff des abweichenden Verhaltens so unbestimmt und ambivalent ist, so folgt ein theoretisches Problem gerade aus einer grundlegenden Bestimmung dieses Begriffs. Was "abweichendes Verhalten" ist, ist per Definition bzw. Exklusion festgelegt durch das, was als konformes Verhalten definiert wurde. Auf der empirischen Ebene wird dies bekanntlich auch so formuliert: "Abweichung" ist das, was die anderen als Abweichung definieren. "Abweichendes Verhalten" ist also nicht primär eine unabhängig gegebene empirische Tatsache, sondern eine in weiten Grenzen beliebige Definition, üblicherweise durch die sogenannten Herrschenden. Wenn wir nun in der Theorie abweichendes Verhalten mit Utopie verknüpfen, so kann dies erstens als Zusammenhang zwischen zwei empirischen Größen gemeint sein, den wir untersuchen wollen. Dies macht viel Sinn, wenn es sich tatsächlich um empirische Größen handelt. Wie wir aber sahen, ist "abweichendes Verhalten" in erster Linie eine willkürliche Definition, eben kein unabhängig gegebener empirischer Gegenstand. Zweitens könnte man - und dies betrachte ich nur der Vervollständigung des Argumentes halber - zutreffend von einem definitorischen Begriff abweichenden Verhaltens ausgehend. Dann wäre aber bei Behauptung eines theoretischen Zusammenhanges mit Utopie jener Begriff zwangsläufig ebenfalls zur Definitionssache gemacht, d.h. was Utopie ist und was nicht, wäre auf diesem Wege ebenfalls durch das herrschende Normensystem definiert. Damit verlöre der Begriff der Utopie aber genau die Unabhängigkeit, derentwegen wir ihn herangezogen haben. IV.

Schluß Wir waren von der Frage ausgegangen, wie der Utopiebegriff, der in einer bestimmten Tradition politischen Denkens entwickelt wurde, mit der soziologischen Handlungstheorie in Verbindung gebracht werden kann. Eine solche Verknüpfung scheint naheliegend und notwendig, insbesondere auch unter dem Aspekt gesellschaftlicher Entwicklung. Nun war festzustellen, daß die soziologische Handlungstheorie bei ihrem Hauptvertreter Talcott Parsans vor allem unter dem Einfluß Duckheims zu einer Theorie normgemäßen Handelns, zu einem Konformitätskonzept degeneriert, das für Utopien keinen Raum bietet. Der Versuch, dieses Problem dadurch zu lösen, daß man einfach die Negation dieses Handlungsbegriffs, nämlich das sogenannte abwei-

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chende Verhalten, zum Raum der Utopie erklärt, führt jedoch in verschiedene Schwierigkeiten. Zwar ließe sich jedes utopische Handeln schon qua Definition als abweichend bezeichnen, aber umgekehrt kommt nicht jedem abweichenden Verhalten der Rang einer politisch relevanten Utopie bzw. utopischen Orientierung zu. Der Begriff des abweichenden Verhaltens ist nicht nur als Residualkategorie und Sammelbegriff für höchst unterschiedliche Phänomene theoretisch wenig brauchbar, er bleibt auch logisch und semantisch an das Konformitätsparadigma fixiert und taugt deshalb nicht dazu, dieses Paradigma zu transzendieren, was aber gerade die Intention einer Utopistischen Perspektive ist. Das Problem, das theoretisch zu lösen wäre, liegt in dem dialektischen Verhältnis von Realität und Utopie. Einerseits soll die Utopie eine Perspektive der realen Veränderung der Gesellschaft bieten, andererseits verliert sie in dem Maße der Annäherung an dieses Ziel ihren utopischen Charakter und ihre Funktion. Umgekehrt bleibt die schönste Utopie bestenfalls irrelevant, wenn sie nicht auf den Weg des Handeins gebracht wird. Faßt man Utopien in einem allgemeineren handlungstheoretischen Rahmen unter der Kategorie der (politischen) Ziele, so könnte ihre gesellschaftliche Funktion dadurch näher bestimmt werden, daß sie den Gegenstand grundsätzlicher geistig-politischer Auseinandersetzungen und kollektiver Willensbildung über den weiteren Verlauf der gesell~chaftlichen Entwicklung darstellen. Wir hatten gesehen, daß das Modell konformen Handeins eine ideologische Verkürzung und Umgestaltung eines ganz anderen Modells gesellschaftlichen Handeins ist, das die Aufklärung entwickelt hatte, nämlich das des Gesellschaftsvertrages, den alle Subjekte autonom, qua vernünftiger Einsicht und im Konsens eingehen und dem sie sich aus eben diesen Gründen loyal verpflichtet fühlen. Dieses Modell ist nicht eingelöste Utopie geblieben. Vielleicht sollten wir uns an seine wesentlichen Bestandteile auch unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart als Utopie besinnen.

Zur Kritik am Subjektbegriff der Moderne Von Milan Prucha Der europäische Kontinent und gewissermaßen auch Nordamerika scheinen durch einen Widerspruch belastet zu sein, der ebenso flagrant ist, wie er mit Schweigen übergangen wird: die offizielle Politik, aber auch die Persönlichkeiten der Kultur und sogar die Kirchen machen in Bezug zu den totalitaristischen Regimen, repressiven Institutionen oder Aktionen die Menschenrechte zu ihrer Devise. In der Philosophie jedoch - wenigstens bei den Repräsentanten, die die Kulturöffentlichkeit und die Medien im Laufe der letzten zwanzig Jahre in den Vordergrund gestellt haben- wird der Mensch nicht nur als ein veraltetes, unfruchtbares und überwindungswürdiges Prinzip aufgefaßt, sondern sogar als ein Prinzip, das letzten Endes zum Totalitarismus führt. Muß man wegen dieses Konfliktes bloß den Kopf schütteln und in ihm nur einen neuen Beleg dafür sehen, daß die Popularität der politischen und philosophischen Ideen nur wenig mit ihrem Gehalt zu tun hat, daß die Erscheinung des einen oder anderen Philosophen auf der Sonnenseite des öffentlichen Lebens zu seinen wichtigen Aussagen nur eine vage Beziehung hat und weitgehend Angelegenheit der Mode ist, die sich nach eigenen Kriterien ihre Ideale und Idole wählt? In Wahrheit stellen wir diese Frage hauptsächlich deswegen, um den Respekt, den wir im weiteren der Philosophie erweisen wollen (die Überzeugung, daß sie an der Bestimmung der historischen Orientierung der Menschheit teilnimmt, dabei in ihrer spezifischen Leistung kaum ersetzbar ist, so daß die Abwendung von ihr die Menschheit im Kern ihrer Existenz berühren würde), nicht mit der Illusion verwechselt zu sehen, daß sich die entscheidenden Schlachten der menschlichen Geschichte am Schreibtisch abspielen. Obwohl unbescheiden in ihren Themen, ist die Philosophie verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, wie bescheiden das unmittelbare Echo und die Wirkung der Thesen sind, die sie vorträgt. In der philosophischen Disputation, die in diesem Aufsatz geführt werden soll, geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob der Mensch, seine Subjektivität und Freiheit, weiter als Leitbegriffe der Philosophie und entscheidende Orientierungsprinzipien der gesellschaftlichen Praxis gelten können. Daß es sich um keinen Kampf gegen Windmühlen handelt, belegt gut -

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auch dem Kriterium der Publizität nach- ein Zitat der Meinung von J. Habermas, dementsprechend M. Foucault "in dem eindrucksvollen Schlußkapitel der Ordnung der Dinge eine Kritik der Subjektivität entwickelt, der man wohl kaum anderes als mit einem Wechsel des Paradigmas selbst dürfte begegnen können." (Habermas, J., Nachmetaphysischen Denken, Frankfurt a.M. 1988, s. 275-6). Foucault ist tatsächlich der Denker, der schon seit mehr als zwanzig Jahren in der Sache Mensch in Frankreich weitgehend den Ton angibt. Er hat zunächst sehr viel zum Bruch der Vorherrschaft des phänomenologisch-existenzialistisch-hegelianisch-marxistisch-christlich gefärbten humanistischen Trends beigetragen, was schon - wenn wir die denkerischen Potenzen und das Echo von Philosophen wie z.B. Sartre oder Merleau-Ponty berücksichtigeneine beträchtliche Leistung war. Zusätzlich ist er zum Inspirator einer ganzen Plejade von hervorragenden Philosophen geworden- Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Jean-Francois Lyotard sind in diesem Zusammenhang vor allem zu erwähnen -, die auf eine originelle Weise Foucault's Theorien nahesteben oder parallele Gedanken entwickelt haben. So richtet Derrida seine Kritik nicht bloß auf den Menschen oder das Subjekt, sondern auf alle dem Subjekt analoge Begriffe der Metaphysik, mit deren Hilfe man immer noch und auch außerhalb der Philosophie die verbindliche Präsenz der Dinge thematisiert. Die Substanz, das Wesen, die Existenz, die Kausalität, ebenso wie das Bewußtsein oder die Intersubjektivität werden als Manifestation des "Logozentrismus" aufgefaßt und der wieder als "ein ursprünglicher und machtvoller Ethnozentrismus, der Aussicht hat, die Herrschaft über unseren Planeten anzutreten." (Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 11). Lyotard, der in eigenständiger Manier besonders die Impulse des "linguistic turn" der analytischen Philosophie verarbeitet hat, stellt sich nicht nur das Ziel, das durch die Jahrhunderte des Humanismus und der Humanwissenschaften zementierte Vorurteil zu widerlegen, daß es "Mensch" und "Sprache" gibt, sondern vor allem den ''Totalitarismus" anzufechten, der seiner Meinung nach in der Vorstellung besteht, daß es möglich ist, die Heterogenität von unterschiedlichen Satzregimen und Diskursarten zu überwinden und den fatalen Widerstreit hinsichtlich der Realität der Dinge und Gültigkeit der Urteile zu eliminieren. Gilles Deleuze bietet in dem Buch "Difference et repetition" eine besonders ausgearbeitete Formulierung des methodologischen Prinzips, das diese philosophische Strömung orientiert: Es ist die Differenz und nicht mehr die Einheit oder Identität, die Differenz an sich selbst, nicht aus der Einheit gedacht, das reine Verhältnis des Differenten zum Differenten. Lassen wir das Echo der "Differenzphilosophie" in Nordamerika außer acht, so können wir diese Strömung als Ausdruck eines intensiven Gedanken-

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austausches zwischen der deutschen und der französischen Philosophie verstehen. Obwohl wir der Meinung sind, daß den besten Schlüssel zur "Differenzphilosophie" letzten Endes Kant bietet, wirkt die französische Rezeption des späten Heideggers viel spektakulärer, wie auch die Übertragung des neu gewonnenen Produktes auf deutschen Boden. Das Echo der "Differenzphilosophie" ist besonders gewachsen im Zusammenhang mit der Diskussion über die Postmoderne. Wir müssen uns gleich am Anfang beim Leser dafür entschuldigen, nicht modern genug zu sein, um an dieser Diskussion explizit teilzunehmen. Das Zentralproblem stellt sich uns etwas anders: erstens, ob die dramatischen und folgenreichen Widersprüche des Prinzips der Subjektivität, das die Moderne anwendete, zu seiner Ablehnung und Ersetzung durch ein anderes führen soll, oder ob sich im Gegenteil dieses Prinzip so weiterentwickeln läßt, daß in ihm die Grenzen überwunden werden, die seine Verbindung mit der Gewalt und mit dem Totalitarismus möglich gemacht hat. Zweitens, ob man das bisher geltende Prinzip der Subjektivität kritisieren kann, ohne auf den Standpunkt des Menschen und seiner Befreiung verzichten zu müssen. Schließlich drittens, ob eine Möglichkeit besteht, dem Humanismus eine andere als metaphysische Grundlage zu geben, den Humanismus anders als mit Hilfe von metaphysischen Mitteln auszuweisen und das Schicksal des Humanismus von der Metaphysik zu trennen. In diesem Zusammenhang werden die vom Leser sicherlich schon festgestellten Schwankungen zwischen den Themen "Subjekt", "Subjektivität" und "Mensch" verständlich: Diese Begriffe treten in unserem Text zusammen mit den diskutierten Konzeptionen auf, und erst später wird es möglich sein, die Verantwortung für ihre Verwendung zu übernehmen. Wenn Deleuze in seinem Buch "Differance et repetition" über den Menschen schreibt, der in der modernen Welt zusammen mit Gott sterben muß, erscheint es vielleicht als eine Dramatisierung, eher Literatur als Philosphie. Mit welchem Ernst aber das "Ende des Menschen" intendiert wird, aus welchen Gründen, und daß dabei auch die politischen Konsequenzen direkt mitgedacht werden, all das zeigt sich ursprünglich und deutlich in Foucaults Buch "Die Ordnung der Dinge" (frz. 1966; dt. 1971). Foucault kommt hier mit einer Frage, "die zweifellos abwegig erscheint, in solchem Maße ist sie in Diskordanz mit dem befmdlich, was historisch unser ganzes Denken möglich gemacht hat. Diese Frage bestünde darin, ob der Mensch wirklich existiert. Man glaubt, daß es ein Paradox ist, wenn man einen Augenblick lang annimmt, was die Welt und das Denken und die Wahrheit sein könnten, wenn der Mensch nicht existierte. Wir sind nämlich so durch die frische Evidenz des Menschen verblendet, daß wir nicht einmal die Zeit, die jedoch nicht allzu fern ist, in der die Welt, ihre Ordnung, die menschlichen Wesen, abt!\r nicht der Mensch existierten, in unserer Erinne-

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rung bewahrt haben." (Foucault, M., Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, S. 388). Die Erklärung ist aber bei weitem nicht so einfach, wie Foucault meint. Warum hält er die Frage, ob der Mensch existiert, nur für scheinbar paradox und nur infolge von Vorurteilen? Weil er den Menschen als ein Prinzip versteht, das den Charakter des Wissens in einer bestimmten Epoche prägt, während der Mensch normalerweise als ein konkretes Etwas aufgefaßt wird, dem aus guten Gründen die Existenz zugestanden wird? Entsteht also das Paradoxon nur aus Foucaults ungewöhnlichem, aber kaum untersagbarem Gebrauch des Terminus Mensch? Es ist kaum vorstellbar, daß Foucault ein so banales Mißverständnis nicht mit einem einzigen Satz erledigt hätte. Daß er es nicht gemacht hat und auch nicht machen konnte, hat einen ernsten Grund: Das Paradoxon entsteht, weil Foucault den Menschen zwar als Prinzip des Wissens einer bestimmten Epoche interpretiert, gleichzeitig aber außerstande ist, aus diesem Prinzip die Entität Mensch zu eliminieren. Das Auftreten der Entität als Prinzip, des Ontischen als Logischen, das ist die vorläufige Diagnose dessen, was Foucaults Humanismuskritik grundsätzlich falsch macht. Foucault hat sicherlich recht, wenn er den Anthropologismus in der Philosophie bekämpft, wenn er auf eine Reihe von Widersprüchen hinweist, die der Anthropologismus generiert. Wenn er aber aus der Mangelhaftigkeit des Prinzips Mensch die Argumente gegen die Existenz des Menschen, seine Befreiung und gegen seine Bejahung als Mensch ableitet, dann verbleibt Foucault selbst in dem Paradoxon gefangen, das er als bloß Scheinbares darstellen wollte: " ... ist das Ende des Menschen dagegen die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken .... Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen sollen ... kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen -das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen" (a.a.O., S. 412).

Die Widerlegung der philosophischen Grundlagen von Foucaults Attacke gegen den Humanismus wird eine Reihe von Argumentationsschritten benötigen. Letztendlich wird dabei sogar die Stellungnahme zur Metaphysik als solcher kaum zu vermeiden sein, was Foucaults Mitstreiter sehr deutlich gesehen haben, wie auch schon vorher Martin Heidegger in seiner Humanismuskritik. Im Augenblick sind wir aber noch nicht soweit, eher auf einem Niveau, wo die Klarheit ebenso über die Position von Foucault wie über die Weise, auf die sie in Frage gestellt werden sollte, noch fehlt. Deswegen wollen wir zuerst den Haupteinwand - Konfusion der Auffassung des Menschen als Prinzip, als ein historisches Apriori mit seiner Auffassung als konkretes Etwas - verdeutlichen, um dann seine Tragfähigkeit zu belegen: und zwar durch eine nähere Erörterung von Foucaults Auffassung des Menschen als "eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende" (a.a.O., S. 462).

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Wir wollen also zeigen, daß Foucault, weil er in den modernen Wissenschaften, insbesondere in den Humanwissenschaften und der ihnen entsprechenden Philosophie, weder die Möglichkeit sieht, den Menschen als reines Prinzip aufzufassen noch als Seiendes unter den Seienden, als ein empirisch Gegebenes, also nur die unauflösbaren Antinomien der beiden Betrachtungsweisen, deswegen ein notwendiges Ende des Menschen proklamiert: nicht nur die Ersetzung des Menschen durch ein anderes historisches Apriori, sondern auch die Ablehnung des Humanismus und des politischen Projektes der Emanzipation des Menschen. Unsere Antithese besagt dann, daß nicht spezifisch das historische Apriori "Mensch" die Antinomien verursacht, sondern auch jedes andere, der Apriorismus als solcher, womit Foucaults Hauptargument gegen den Humanismus hinfällig wird. Gleichzeitig sind wir dadurch vor die Aufgabe gestellt, der philosophischen Betrachtung des Menschen als konkretes Etwas und Prinzip, seine onto-logische Auffassung, auch positiv zu überwinden. In der Philosophie bedeutet für Foucault Kant die Schwelle zur Moderne, den er als ursprünglichen Denker der Konstellation versteht, aus der sich letzten Endes alle chrakteristischen Strömungen der modernen Philosophie ableiten lassen. Wie bekannt, gründet sich die Kantische Philosophie als Transzendentalismus in einer rigorosen Unterscheidung zwischen den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis einerseits und dem aposteriorischen empirischen Erkennen andererseits. Das Apriori prägt das empirische Erkennen maßgeblich, obwohl es selbst unantastbar bleibt für alles, was empirisch festgestellt werden kann. So scheint das Apriori die Verwirklichung des philosophischen Anspruchs auf die Erreichung eines festen Ausgangspunktes zu bieten, obwohl nur um den Preis der Entwertung des empirischen Erkennens als unfähig, die Dinge, wie sie an sich sind, zu erreichen. Es ist gerade dieser Widerspruch und diese Endlichkeit der Erkenntnis, die die Transformationen des Kantianismus stimulieren, bis zu den Extremen, für die einerseits der Positivismus, andererseits Heideggers Denken des Seins gehalten werden können. Schon in der Vorrede zur ersten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft" betont Kant, das "die Hauptfrage immer bleibt, was und wieviel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?" Und in der Einleitung zur zweiten Ausgabe sagt er weiter, daß es "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns die Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden." Gerade an diesem Punkt fmden die Umgestaltungen nach der kantischen Philosophie ihren Ausgang. Das menschliche Erkenntnisvermögen tritt hier nicht mehr bloß als ein geschlossener Satz von reinen Prinzipien und Formen auf, die über unsere Zu-

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gangsweise zu den Gegenständen vorentscheiden, sondern gewinnt selbst eine gegenständliche Form. Gerade deswegen konnte der frühe Heidegger eine ontologische Lektüre und Vertiefung der "Kritik der reinen Vernunft" versuchen: Kants Analyse der Endlichkeit des Erkennens radikalisiert er in eine Analyse der Endlichkeit des ganzen menschlichen Daseins, um dann auf diesem Wege in seiner Fundamentalontologie Aussagen machen zu können, die mit den Aussagen der Metaphysik verwandt sind, die ihr Kant verboten hatte. Man darf ungefähr sagen, daß das, was für Kant hinter den Grenzen des philosophischen Erkennens liegt, Heidegger für die Philosophie zurückgewinnt indem er die fundamentale Unzugänglichkeit, die die Bedingung von allem Zugänglichen ist, ontologisiert, als das Sein selbst nimmt, d.h. als "Etwas", das sich von allen profanen Etwas so tief unterscheidet (die "ontologische Differenz"), daß es in Bezug zu ihnen eher den Namen "das Nichts" verdient. Für die Beurteilung der Kritik Foucaults am Humanismus ist die Feststellung interessant, daß es Heidegger gewissermaßen gelingen konnte, die Kantischen Prinzipien zu ontologisieren, sie auf ein Seiendes, d.h. das Dasein zu überführen und sie im Sein zu fundieren versuchen. Zu dem, was Heidegger aus Kants Auffassung der reinen Prinzipien und Formen auf dem Wege der Philosophie gemacht hat, steht am anderen Extrem parallel die positivistisch inspirierte Kantrezeption. Die reinen Prinzipien und Formen werden hier ebenfalls in die Sphäre des "Seienden" verschoben - diesmal aber nicht mehr als eines philosophisch verstandenen, sondern eines ebenso empirisch aufgefaßten wie alle Gegenstände. An der Stelle des Transzendentalismus tritt jetzt ein Quasi-Transzendentalismus auf: Die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens werden in ihrer Rolle als ebenso empirisch angesehen wie die von ihnen bedingten Erkenntnisse. Nicht mehr die Beziehung von reinen und unaufhebbaren Prinzipien und Formen einerseits und den empirischen Fakten andererseits, sondern ein nie abschließbares Hin und Her zwischen der Erkenntnis von Etwas und der Erkenntnis dessen, warum es gerade auf diese Weise erkannt worden ist, charakterisiert in unserem "postmetaphysischen" und positiv wissendem Zeitalter oft die Überreste des philosophischen Erbes. Wenn Foucault die Humanwissenschaften ausgehend von dieser Denkfigur bestimmt - die Psychologie, die Soziologie, die Kulturgeschichte, die Geschichte der Ideen oder der Wissenschaften, und sie z.B. von der Ökonomie und Linguistik unterscheidet, dann tut er den Ersteren Unrecht: faktisch, mit einer pauschalisierenden Beschreibung des Zustandes von diesen Wissenschaften, aber auch grundsätzlich, weil diese Wissenschaften zwar dem Quasi-Transzendentalismus eine außerordentlich günstige Gelegenheit bieten, aber dennoch nicht aufgrund ihres bloßen Gegenstandes mit ihm zur Symbiose verurteilt sind.

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Wenn Foucault "die Seinsweise des Menschen" als Prinzip der "episteme" der Moderne beschreibt, dann fällt für ihn der Mensch mit den Gegensätzen der transzendentalistischen philosophischen Position zusammen. Die Seinsweise des Menschen bedeutet: 1. seine Determinierung durch äußerliche Positivitäten, gleichzeitig aber, daß dieses endliche Seiende das wahre Hervortreten von den postivien Determinationen bedingt; 2. die Seinsweise des Menschen impliziert eine empirisch-transzendentale Verdoppelung auf die Gegebenheiten der Erfahrung und das, was die Erfahrung ermöglicht; 3. für die Seinsweise des Menschen ist weiter charakteristisch, daß das Nichtgedachte immer schon von dem cogito bewohnt wird, obwohl gleichzeitig jeder Gedanke im Nichtgedachten schwebt; 4. die Seinsweise des Menschen bleibt von sich selbst entfernt, auf Distanz, was für die Seinsweise konstitutiv ist. Die Darstellung der Seinsweise des Menschen ist verwurzelt in Foucaults fruchtbaren "archäologischen" Untersuchungen, die in der modernen "episteme" etwas Ähnliches nachzuweisen versuchen, was der junge Hegel "Entzweiung" nannte, und was er in der "Phänomenologie des Geistes" als den "Gegensatz des Bewußtseins" behandelt hat, der im Namen eines tieferen Wissens und von höheren Freiheitsformen überwunden werden sollte. Foucault bekämpft das Prinzip Mensch aktiv: "Die anthropologische Konfiguration der modernen Philosophie besteht in der Spaltung des Dogmatismus ...: Die präkritische Analyse dessen, was der Mensch in seiner Essenz ist, wird zur Analytik all dessen, was sich im allgemeinen der Erfahrung des Menschen geben kann. Um das Denken aus einem solchen Schlaf zu wecken ..., um es an seine ursprünglichsten Möglichkeiten zu erinnern, gilt es, kein anderes Mittel als das anthropologische 'Viereck' bis in seine Grundlagen hin zu zerstören.• (a.a.O., S. 411; gemeint sind die vier angeführten Bestimmungen der Seinsweise des Menschen).

Trotzdem wäre es mindestens einseitig, wenn nicht falsch, die letztere Aussage als Stellungnahme eines Theoretikers zu verstehen, der eine unwahre Konzeption angreift, um eine wahre vorzuschlagen. Foucault tendiert eher dazu, die Unterschiede der Konzeptionen festzustellen, ohne sie in der einen richtigen zu verbinden. Wie die Rede über das historische Apriori an mehreren Stellen in der "Ordnung der Dinge" zeigt, ist Foucault sehr weit entfernt, den Transzendentalismus einfach wegzuwerfen. Foucault benutzt ihn eher, um als die letzte Instanz seines Diskurses über die Diskurse statt des Prinzips der Einheit die Differenz zur Geltung zu bringen und eine Dezentrierung einzuleiten, die die Privilegierung von jedem Zentrum ausschließt: "Es wird also nicht die Frage in ihrem Fortschritt zu einer Objektivität beschriebener

Erkenntnisse behandelt werden, in der unsere heutige Wissenschaft sich schließlich wiedererkennen könnte. Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemologische Feld, die episteme, in der die Erkenntnisse, außerhalb jedes auf ihren rationalen Wert oder ihre objektiven Forp1en bezogenen Kriteriums betrachtet, ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die nicht die ihrer wachsenden Perfektion,

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Milan Prucha sondern eher die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden. In diesem Bericht muß das erscheinen, was im Raum der Gelehrsamkeit die Konfigurationen sind, die den verschiedenen Formen der empirischen Erkenntnis Raum gegeben haben.• (a.a.O., s. 24/25)

Wir übersehen jetzt die Problemlage: Wenn es möglich ist, im großen und ganzen mit Foucault einverstanden zu sein hinsichtlich der Konstation der Widersprüche und der Grenzen des transzendentalistischen Standpunktes, so endet doch die Übereinstimmung an dem Punkt, an dem es um ihre Erklärung geht. Wir halten, wie schon gesagt, die Ambiguität zwischen dem Auftreten des Menschen einerseits als Entität, andererseits als Prinzip für ihre Quelle. Mit der Überwindung dieser Ambiguität wird Foucaults Extrapolation der Verwerfung des Prinzips Mensch auf den Menschen als Entität, die die philosophische Basis von Foucaults Angriff gegen den Humanismus und gegen die Forderung der Emanzipation des Menschen bietet, außer Kraft gesetzt. Dadurch stellt sich aber auch die Aufgabe, das Verhältnis des Ontischen und des Logischen zu klären - was den Menschen angeht, aber ebenso allgemein -, um in einer Entgegenung auf Foucault auch zeigen zu können, was sich vom Standpunkt der Philosophie zum Problem des Menschen positiv sagen läßt. Der transzendentalistische Gegensatz des Bewußtseins und seines Gegenstandes, den Foucault in seinen wissenschaftlichen und philosophischen Erscheinungsformen oft brillant erfaßt und als das Grundproblem der modernen 'episteme' dargestellt hat, überlebt bei ihm selbst in der Trennung unterschiedlicher historischer Apriori von der Wahrheit und Effizienz der wissenschaftlichen Forschung. Wenn wir es methodologisch oder kategoriell ausdrücken: im Verzicht auf die Frage nach der Einheit von diesem Apriori, nach der Einheit der Wissenschaft, und in der Verwandlung der Kategorie der Differenz in die höchst theoretische Instanz. Nach dem Problem des Ontischen und des Logischen ist das zweite Zentralthema unserer Auseinandersetzung mit Foucault und der ihm nahestehenden Philosophen deswegen folgendes. Bedeutet die Hervorhebung der Kategorie der Differenz als philosophischer Leitbegriff eine angemessene Reaktion auf die Antinomien der anthropologischen Konfiguration der modernen Philosophie, sogar auf den Grundfehler der ganzen philosophischen Tradition, und vor allem auf Hegels Versuch, die Entzweiung oder den Gegensatz des Bewußtseins durch die Einschließung der Differenz in die Identität als unterordnendes Moment zu überwinden durch die Konzeption des Seins als Allumfassendheit, in deren Rahmen sich erst die Bestimmtheiten profilieren, die nie eine größere Bedeutung erhalten können, als in der Rolle der Besonderungen des Allgemeinen aufzutreten und durch die Selbstaufhebung in ihm ihre Wahrheit zu erreichen?

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Auf diesem Niveau ist es nicht mehr zweckmäßig, die Diskussion auf die Thesen des Meisters der "Differenzphilosophen" zu begrenzen. Die Berücksichtigung (mindestens) der Texte von Derrida, Deleuze und Lyotard wird unabdingbar. Obwohl jeder von diesen originellen Denkern mehr oder weniger die ganze Problematik reflektiert, setzen sie dabei - wie schon gesagt unterschiedliche Akzente und knüpfen zum Teil an unterschiedliche philosophische Tendenzen und Traditionen an. Wir werden uns vor allem mit der Frage beschäftigen, ob die Differenz das Prinzip unserer Zeit bedeutet, einen Ersatz der Einheit, Identität oder Totalität, die entscheidend für das Denken der Moderne gewesen sein sollten, wogegen die Differenz als Quintessenz der Postmoderne oder "unserer postmodernen Moderne" (Welsch, W.) zu verstehen wäre. Unsere These, daß Foucaults Angriff auf den Humanismus philosophisch gesehen auf der schlechten Grundlage der transzendentalistischen Vermengung des Prinzips und des Seienden Menschen beruht, ist nicht ohne Ähnlichkeit mit Heideggers Kritik der Metaphysik als Vernachlässigung der ontologischen Differenz, der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden, und der Auffassung des Seins als eines besonderen Seienden, das alle anderen begründet: Wasser, Feuer usw. bei den Vorsokratikern, viel raffinierter, aber nicht prinzipiell anders heute. Die "Differenzphilosophen" selbst schenken diesem Thema große Aufmerksamkeit: weil sie, wie Deleuze es formuliert, in der ontologischen Differenz ein Zeugnis sehen, daß die Differenz in unserer Zeit im Aufwind ist: Noch mehr aber, um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Metaphysik führen zu können, wie es Heidegger vor ihnen schon versucht hat. Wir orientieren uns vor allem an zwei der wichtigsten Gestalten der Geschichte der Metaphysik, Aristoteles und Kant, um in der größten Kürze thesenhaft ein Metaphysikverständnis anzudeuten, das wir allgemein und auch für die Erörterung des Problems der ontologischen Differenz und der Differenz schlechthin für relevant halten. Die Metaphysik, wie sie in Anknüpfung an frühere Gestalten des Geistes, aber auch als Extrapolation der neuen Auffassung des Hervorbringens und des Handeins entstanden ist, hat sich nicht damit zufriedengestellt, das menschliche Leben aufgrund der Beziehung des Menschen zur Gesamtheit der Dinge zu besinnen (wie es für den Mythos besonders Durkheim und UviStrauss nachgewiesen haben), oder auch durch die Einbildung von den Wesen, die dem Menschen ähnlich, aber grenzenlos mächtiger sind. Sie hat eine wissenschaftliche Untersuchung dessen eingeleitet, was die Dinge zu den Dingen macht, die Frage nach den Dingen als solchen, nach dem Sein des Seienden. Die Metaphysik hat diese Frage teilweise durch die Ausarbeitung der Prinzipien, der Kategorien (Subjekt-hypokeimenon, Wesen, Qualität,

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Quantität usw.) gelöst, die aussagen, wie Etwas überhaupt erfaßt werden muß, um Etwas zu sein. Sie untersuchte weiter, welche unter den seienden Etwas so vollkommen sind, daß sich das Sein von weniger Vollkommenen aufgrund der Ersteren erklären läßt. Aber auch die vollkommen seienden Etwas konzipierte die Metaphysik in einem neuen Stil: Sie waren nicht bloß eingebildet, sondern als solche Seiende konstruiert, die am besten den Prinzipien des Seins, den Kategorien entsprechen können. Kants Grundeinwand gegen die ganze vorherige Metaphysik besagte, daß mit den Kategorien allein keine Seiende konstruiert werden dürfen. Im Sinne seiner Kritik erscheint dann die vormalige Metaphysik als keine echte Wissenschaft: Sie bestimmt zwar die Prinzipien von Etwas als solchen, des Seienden als Seienden, aber nimmt entweder die Prinzipien auch als seiende Etwas, oder konstruiert mit Hilfe von Prinzipien die Seienden, die zusammen mit Prinzipien alles Seiende erklären können. Als eine Theorie der Prinzipien, die mit dem Seienden vermengt werden, als diese Vermengung des Logischen mit dem Ontischen verdient sie den Namen Ontologie und metaphysica generalis; als eine Konzeption von vollkommen Seienden bedeutet sie eine metaphysica specialis. Wenn das kritische Metaphysikverständnis (auch unseres) Kant so viel verdankt, ist es dann noch erlaubt, Kant als einen Metaphysiker zu nehmen und zu sagen, daß auch Kant die ontologische Differenz vernachlässigt hat? Die Antwort haben hier Foucaults Analysen weitgehend vorbereitet: Obwohl Kant die theoretischen Beweise von solchen Entitäten wie der Seele, des absolut aufgefaßten Kosmos oder Gottes ablehnt, führt er ein hybrides EntitätsPrinzip ein, das das erkennende Subjekt bedeutet. Diese Feststellung behält ihre Bedeutung auch für die späteren Formen des Transzendentalismus, inclusive der transzendentalen Phänomenologie. Die Lage der analytischen Philosophie ist aber kaum besser. So wirft Carnap dem frühen Wittgenstein vor, daß er die Sätze des "Tractatus logico-philosophicus" unzulässig als Sätze über die Welt verfaßt, obwohl sie bloß Sätze über die Sprache sein dürften. Lyotard, der Willgensteins "Philosophische Untersuchungen" als "Epilog auf die Modernität" und "Prolog zu einer ehrlichen Postmodernität", als ein Behaupten des Verfalls von universalistischen Doktrinen, insbesondere der Metaphysik von B. Russe}, liest, bedauert, daß Wittgenstein mit der Konzeption des Gebrauchs von Sprache selbst zum Opfer des anthropologischen Empirismus geworden ist. Das ist kein geringer Vorwurf, wenn wir berücksichtigen, mit welcher Leidenschaft die "Differenzphilosophen" den Standpunkt des Menschen und des Subjekts bekämpfen. Auch ein konsequenter "linguistic turn" (wenn wir den modischen Ausdruck anwenden wollen, den sich Richard Rorty als Buchtitel von Gustav Bergmann ausgeliehen hat) schützt aber die analytische Philosophie vor der Metaphysik nicht. Wer darauf stolz ist, daß er das transzendentale Ego durch die Sprache ersetzt hat,

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muß sich die Frage gefallen lassen, ob dann nicht auch die Sprache als ein Seiendes auftritt, gleichzeitig aber als Prinzip oder Ensemble von Prinzipien gilt. Bei Lyotard ist zu schätzen, daß er an vielen Stellen seines Buches "Der Widerstreit" (München 1987) die Parallele zwischen seiner Auffassung des Satzes und dem cogito klar zeigt. Der Satz ist ihm das einzige unbezweifelbare Objekt. Man kann deswegen fragen, ob Heidegger (und mit ihm vielleicht auch Derrida, der in der Sache ontologische Differenz und Abschied von der Metaphysik Heidegger noch übertrumpfen möchte) nicht recht hat, wenn er für sich die Ausschließlichkeit hinsichtlich der Überwindung der Metaphysik reklamiert. Die Antwort hängt davon ab, ob es ihm wirklich gelungen ist, die so sehr in Anspruch genommene Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden auszuarbeiten. Obwohl es uns hier nicht möglich ist, eine zureichende Argumentation anzubieten, werden wir doch die Behauptung wagen, daß Heidegger über das Sein nicht anders als über ein Seiendes zu sprechen wußte, das sich von den vor- und zuhandenen Seienden durch seine prinzipielle Unzugänglichkeit unterscheidet und auch von diesen prosaischen Seienden "lebt": entweder negativ, aufgrund seiner Absetzung von ihnen als etwas ganz Anderes, oder wieder positiv, als das, was die Anwesenheit von diesen Seienden ermöglicht. Der Terminus "negative Metaphysik" für Heideggers Philosophie, der auch für die von Derrida gebraucht worden ist, läßt sich als Versuch einer angemesenen Bezeichnung ganz gut diskutieren. Derridas Neologismus "Ia differ~nce" (statt "Ia differ~nce" laut Rechtschreibung) zeigt, daß Derrida einen Terminus braucht für ein Etwas, das allen Etwas den Status gibt, und daß ihm die Kategorie der Differenz nicht genügt, die ein Prinzip bedeutet, aber kein spezielles Etwas, kein Seiendes. Bemüht man sich um die Überwindung der metaphysischen Vermengung des Ontischen mit dem Logischen, die als Verwechslung des Prinzips Mensch mit dem seienden Menschen der Ablehnung des Humanismus dient, kommt man nicht an dem Problem vorbei, wie sich dieser wunde Punkt der Metaphysik besser als mit Hilfe der "ontologischen Differenz" behandeln läßt. Eine solche Möglichkeit und eine echte Überwindung der Metaphysik suchen wir in der Dialektik. Die letztere hat sieb in dieser Hinsicht schon am Anfang ihrer Geschichte eine gute Ausgangsposition gesichert. Platon verbindet die Dialektik mit dem Durchgeben der Rede (dia ton logon), das zeigt, "welche von den Begriffen zusammenklingen und welche einander nicht aufnehmen". "Und ob es also auch durch alle hindurch zusammenhaltende Begriffe gibt, so daß sie sich verbinden können, und wiederum bei Trennungen, ob da andere durch die Einheiten hindurch Gründe der Trennung sind" (Platon, Der Sophist 253 b, c übersetzt von 0. Apelt, Harnburg 1985). Dank Kants "transzendentaler Dialektik", die die Einsicht der Unzulässigkeit der

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Vermengung von Prinzipien und Seienden nahelegt, können wir Platons Worte als einen Impuls für die Unterscheidung von zwei Begriffsarten verstehen: 1. Begriffe für die konkreten Etwas als Ausdruck von dem selektiven Verbinden und Trennen der Bestimmungen, die die konkreten Etwas in ihrer Verschiedenheit bilden;

2. Begriffe, die die Prinzipien des Verbindens und des Trennens erfassen, die konstitutiv mit allen Begriffen für konkrete Etwas verbunden sind, ohne aber dabei selbst irgendein konkretes Etwas zu bedeuten. Die zweite Art von Begriffen, die wir gewöhnlich mit dem Terminus "Kategorien" bezeichnen, sind als die zu verstehen, die auf dialektische Weise die Frage nach dem Etwas als Etwas, Etwas als solchem zu beantworten helfen. Im Unterschied zur Metaphysik tritt hier, als eine Komponente der Frage nach dem Sein des Seienden, nicht mehr die Ableitung des in wahrem Sinne Seienden auf, aus dem das andere erklärt wird. Nicht die Suche nach dem Absoluten im Sinne des Seienden, sondern das kategorial aufgefaßte Studium der Absolutheit von profanen, der Erfahrung zugänglichen Seienden ist das Thema der dialektischen Philosophie der Wirklichkeit: Sie untersucht, welchen kategorialen Konstellationen die einzelnen Etwas entsprechen, in welchem Maße dieses oder jenes konkrete Etwas mit den Prinzipien von Etwas schlechthin übereinstimmt. Als Philosophie der Wirklichkeit beruht die Dialektik nicht auf der an den Kategorien orientierten Konstruktion von Seiendem, gleichzeitig aber schreibt sie den konkreten Seienden keine Grenzen nach "oben" oder nach "unten" vor, sondern verlangt die Beschäftigung mit den Realitäten. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen für konkrete Etwas und den Kategorien, die sich auf solche Etwas nicht zurückführen lassen, qualifiziert die Dialektik für mehr als für die leere Insistenz, daß es die ontologische Differenz zwischem dem Sein und dem Seienden gibt. Nicht nur das Sein, sondern alle anderen Kategorien werden hier in einem klar umgrenzten Sinne in Betracht gezogen: als Begriffe für die Absolutheit von Etwas. Sie weisen sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe in der Sphäre des konkreten Seienden aus und können nur in Bezug zu ihm als Prinzipien entdeckt und konzipiert werden. Als sich mit allen anderen verbindende Begriffe verbinden sich die Kategorien vor allem miteinander. Obwohl jede von ihnen ihre eigene Bedeutung hat, läßt sich diese Bedeutung nur mit Hilfe von anderen Kategorien aussprechen und ist nur in ihrer Bedeutungssimultaneität gegeben. Die Bedeutungsverschiebung von irgendeiner Kategorie oder die Einführung von neuen Kategorien modifiziert selbstverständlich auch die Bedeutung von allen anderen.

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Die Dialektik verstehen wir als eine philosophische Disziplin, die die Erfahrung mit den Dingen als solchen, die in allen Sphären der menschlichen gesellschaftlichen Existenz gemacht und auch in verschiedenen institutionell fixierten Formen des Umgangs mit ihnen gestaltet wird, auf das Niveau der Theorie erhebt. Zu den Aufgaben der Dialektik gehört systematisches Studium der Verbindungen zwischen den Kategorien wie auch Ausarbeitung und Einführung von neuen. Die Dialektik entdeckt so weitere Wege, wie die Absolutheit von den konkreten Etwas zu erkennen ist und wie man dann eventuell diese Etwas im Sinne der Absolutheit umgestalten kann. Die Diskussion mit den "Differenzphilosophen" gewinnt einen präzisen Sinn, wenn man sie auf den Boden der Dialektik überführt. Wie es auch immer mit den Unterschieden ihrer Metaphysikauffassung steht, so sind die "Differenzphilosophen" sehr eng dadurch miteinander verbunden, was vom dialektischen Standpunkt der Kern der Philosophie in ihrer gesellschaftlichen Relevanz, als "ihre Zeit in Gedanken" ausmacht: durch das kategoriale Prinzip, das sie aus verschiedenen Symptomen und Ansätzen als das Prinzip unserer Gegenwart ableiten und zur Befolgung empfehlen wollen: das Prinzip der Differenz. Es ist sicherlich überflüssig, an die wohlbekannte Tatsache zu erinnern, daß der Kampf der "Differenzphilosophen" gegen die totalitaristischen Tendenzen der Moderne philosophisch sehr oft im Zusammenhang der Hegelkritik geführt wird: Die Einheit, die Identität, die Totalität, die Vermittlung, der Widerspruch, absolutes Wissen und Subjekt sind dabei die wichtigsten Schlachtfelder. Derrida kritisiert den "Logozentrismus", den er für solidarisch mit der Auffassung des Seins als Präsenz hält. Auf den letzteren Begriff werden alle metaphysischen Prinzipien vom Anfang der Metaphysik überführt: eidos, ousia, hypokeimenon als Begriffe für die "urspüngliche" Präsenz, die Substanz als gleichgültige Präsenz unter den Akzidentien, Präsenz bei sich, die das Subjekt in seiner unterschiedlichen Version von Descartes und Kant bis Husserl charakterisiert und sogar die metaphysischen Präsuppositionen der Sprachtheorie, die die Grammatologie überwinden möchte. Statt der Präsenz führt Derrida die Auffassung der Dinge im Sinne der Spur ein: Es ist ein simulacrum der Präsenz, eine Präsenz, die sich zerlegt, sich verschiebt, eigentlich nicht stattfmdet und zu deren Struktur ihre Auslöschung gehört. Das Präsente wird zum Zeichen des Zeichens (die Schrift!), eine Spur der Spur. Es gibt nichts mehr, worauf letztendlieb jeder Verweis verweist. Das Präsente ist nichts anderes als eine Funktion in der generalisierten Struktur des Verweisens, eine Spur und die Auslöschung der Spur. Die Spur ist Ia differ~ce. Bei Lyotard könnte man eine ähnliche Hervorbebung der Differenz leicht demonstrieren aufgrundseiner Theorie der Satz-Regime und der Diskursarten, bei Deleuze in der direkten Behandlung der Kategorie der Differenz

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selbst. Obwohl es die Diskussion nützlich bereichert hätte, müssen wir das alles auslassen und die Aufmerksamkeit jetzt der Frage widmen, ob die Hervorhebung der Differenz als Zentralbegriff (die Vertreter der "Dezentrierung" wird dieser Ausdruck natürlich provozieren) logisch haltbar und wie die Philosophie, die das tut, gesellschaftlich einzuordnen ist. Die Haltbarkeit der Hypostasierung der Kategorie der Differenz ist zuerst danach zu beurteilen, ob sie sich in der Trennung von den anderen Kategorien (insbesondere in der Trennung von der Einheit oder Identität) denken läßt oder welche Folgen ihr Primat für den kategorialen Bereich hat. Besonders aber dann danach, ob die Kategorie der Differenz als Hauptbegriff für das Denken von Etwas als solchem tatsächlich die Möglichkeit bietet, ein konkretes Etwas zu denken, und zusätzlich eine bessere als andere Konstellationen von Kategorien. Es ist bemerkenswert, daß vor mehr als 2000 Jahren eine ähnliche Untersuchung durchgeführt worden ist, und gerade für die Kategorie, die die "Differenzphilosophen" heute als Leitbegriff eliminieren wollen - die der Einheit. In Platons "Parmenides" wird überprüft, ob man die These "Eins ist" als "Eins ist" lesen kann, d.h. das Sein als Einheit verstehen und die Einheit ohne Differenz denken. Die Konklusion besagt, daß dies nicht möglich ist, weil dann "ist das Eins weder Eins noch ist es" (141 e). Nach Platon beinhaltet "Eins ist" die Differenz: sonst könnte man stattdessen auch "Eins Eins" sagen. Wie steht es aber mit der Differenz, wenn sie - wie es Deleuze versucht "an ihr selbst" gedacht und nicht "unter der Identität des Begriffes und des denkenden Subjekts repräsentiert" wird? (Deleuze, G., Difference et repetition, Paris 1968, S. 342). Seine Lösung besteht im großen und ganzen in der Ablehnung der seit Aristoteles häufig vertretenen Konzeption, daß das Sein analog, in verschiedenen Bedeutungen nach Kategorien (Substanz, Qualität, Quantität usw.) ausgesagt wird, und in der Einführung der "Univozität des Seins": "Das gleiche Sein ist allen Dingen unmittelbar präsent, ohne Vermittelndes und Vermittlung - kein (Ding) nimmt am Sein teil mehr oder weniger, oder erhält es nach Analogie" (a.a.O., S. 55).

Wenn auf diese Weise die Möglichkeit eliminiert worden ist, die Dinge mit Hilfe von Kategorien zu unterscheiden und auszuweisen, kann dies nur aufgrund von ihren konkreten, partikulären Differenzen geschehen. Kein Ding gibt es dann schlechthin, alles ist disparat ("different") in Beziehung zu sich selbst wie zum Anderen. Man könnte also Platon paraphrasieren: Wenn Differenz ist, dann ist die Differenz weder Differenz noch ist sie. Das Primat der Differenz soll nach Deleuze für die Dinge die Aura der Zugehörigkeit zu dem sichern, was als Singuläres ewig wiederkehrt, zur Re-

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petition. Es ist aber zu fragen, ob diese Auffassung der Dinge nicht eher einen konformistischen Ultrapositivismus einführt: die univok seienden Dinge bedeuten noch weniger als die positivistischen Fakten - nämlich simulacra. Diese Konsequenz des Primats der Differenz haben wir schon bei Derrida gesehen: Sie können nicht mehr als simulacra bedeuten. Wenn Heidegger den "neuzeitlichen Subjektivismus" deswegen kritisiert, daß der letztere eine Wirklichkeitsauffassung eingeleitet hat, derentsprechend alles Seiende als bloßes Material für menschliche Zwecke erscheint, müßte man sich fragen, ob die Differenzphilosophie nicht noch mehr die Dignität von allen Dingen, von allem Existierenden verleugnet. Die Formulierung von Deleuze: "Die moderne Welt ist die Welt der simulacra" (a.a.O., S. 1) ließe sich als Diagnose ihres Grundübels verstehen. Weil aber bei Derrida das Prinzip der Differenz (oder la differ,l!nce) als eine Befreiung von Logozentrismus vorgetragen wird und bei Deleuze als "Zusammenbruch der Repräsentation", derer Welt durch das Primat der Identität bestimmt war, ist es schwer, diese Philosophie anders zu lesen als eine Bejahung der Welt der simulacra. Die Reflexion über die gesellschaftliche Einordnung der "Differenzphilosophie" ist für ihre Beurteilung sicherlich nicht ausreichend. Sie hat das Recht, entsprechend der Kraft ihrer Argumente als eine Theorie genommen zu werden, ob uns dann die Konsequenzen dessen, was festgestellt waren ist, gefallen oder nicht. Gerade deswegen sind aber ihre begrenzten Möglichkeiten, Etwas als solches zu konzipieren, für jede Philosophie enttäuschend, die sich hinsichtlich dieses Grundproblems auf die Errungenschaften der mehr als zweitausend Jahre dauernden Philosophiegeschichte stützen möchte. Wir haben schon angedeutet und vom dialektischen Standpunkt kritisiert, wie die Differenz der "Differenzphilosophen" die Präsenz als ursprüngliche oder Präsenz bei sich zerstört. Daß die "Differenzphilosophen" auf diese Weise die ganze Metaphysik in Frage stellen wollen, gibt einen hinreichend deutlichen Hinweis dafür, wo die Quelle der Argumentation zu suchen ist. Kant will die vormalige Metaphysik in ihrem Grundanliegen, der Wissenschaft vom Sein des Seienden, vom Seienden als solchem, mit Hilfe der These erschüttern, daß als eine Bedingung der Dinge an sich selbst die Idee der absoluten Totalität gilt. Diese These kann man umkehren, um dann von ihr abzuleiten, daß die Anerkennung der Dinge als an sich seiend, in der vollen Präsenz, den Standpunkt der Totalität mit sich bringt. Andererseits läßt sich Kants Gedanke der Unmöglichkeit, die Totalität von Bedingungen zu erreichen, so umgestalten, daß man davon nicht mehr die Begrenzung unserer Erkenntnis auf die Erscheinungen (im Unterschied von den Dingen an sich) ableitet, sondern daß man die Zugehörigkeit zu einer unabschließbaren Reihe der Bedingungen ootologisiert, sie als Sein der Dinge selbst auffaßt; auch dann verlieren die Dinge ihre volle Präsenz und verwandeln sich in Spu-

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ren oder simulacra. Sehr deutlich ist die Rolle dieser Theorie in ihrer sprachphilosophischen Fassung bei Lyotard; es gibt keinen ersten Satz, es gibt keinen letzten Satz, an jeden Satz muß angeknüpft werden, es gibt keine verbindliche Anknüpfung usw.. Damit wird aber auch eine Voraussetzung der "Differenzphilosophie" festgestellt - nämlich, daß Kants Kritik der Totalität der Bedingungen und der abgeschlossenen Reihe für den Beweis der Unmöglichkeit der Dinge an sich ausreicht, für die Zerstörung ihrer Präsenz. Oder wenigstens: daß es keinen anderen und vielleicht auch effizienteren Weg gibt, die Präsenz der Dinge zu sichern. So kann man auch erklären, warum die Differenzphilosophen das Subjekt als Präsenz bei sich attackieren und warum sie Hilfe bei Fichte, Schelling, Kierkegaard und Nietzsche als Philosophen suchen, die auch diesen Typus der Präsenz zu kritisieren wußten, in einem Sinne, den J. Habermas auf folgende Weise resümiert: "Das Subjekt, das sich erkennend auf sich bezieht, trifft das Selbst, daß es als Objekt erfaßt, unter dieser Kategorie als ein bereits Abgeleitetes an und nicht als Es-Selbst in der Originalität des Urhebers der spontanen Selbstbeziehung" (Habermas, J., ob. cit., S. 33).

Sollte diese Überlegung das letzte Wort der Theorie der Subjektivität bedeuten, wäre die "Differenzphilosophie" vor der Theorie der Präsenz als "Präsenz bei sich" gerettet. Dadurch wird wieder der Kampf der "Differenzphilosophie" gegen Hegel verständlich, bei dem die Überwindung der Entzweiung von Subjekt und Objekt das philosophische Hauptanliegen vorstellt. Weil wir uns mit dem letzteren Problem (mit Hegels Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt und einer nichtidealistischen Alternative dazu) in drei Texten beschäftigt haben ("Materialistische Gesellschaftsauffassung angesichts der aktuellen Zivilisationskrise", in: Arbeit, Handlung, Normalität, hg. von Honneth, J aeggi, Frankfurt 1980; "Freie Assoziation oder höchstes Wesen", in: Marxismus und Christentum, hg. von Reisinger, F., Linz 1983; "Zu den Möglichkeiten einer philosophischen Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Gewalteskalation", in: Friedensinitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg, hg. von Schulte, Ch., Darmstadt 1987), fassen wir uns hier nur äußerst kurz. Wir sind weder der Meinung, daß der angeführte Einwand gegen das Subjekt als Präsenz bei sich die Position der "Differenzphilosophen" rechtfertigen könnte, noch halten wir das Hegeische Grundschema für den geeigneten Weg der Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt: das Subjekt, das in seinem Verhältnis zum Objekt eine Seite und das ganze Verhältnis bedeutet; das Objekt, das das Subjekt deswegen vor kein unlösbare Problem stellt, weil es, als vom Subjekt unterschieden, nicht bloß durch das letztere aufgehoben wird, sondern sich selbst aufhebt. Der Schlüs-

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sei zu diesem Schema besteht in der die ganze Hegeische Dialektikauffassung prägenden Unterstellung, daß Absolutheil nur dem zugestanden werden darf, was kein Anderes hat: nur dann kann es selbstbestimmend sein und nicht fremdbestimmt In ihrer festen Bindung auf die allumfassende absolute Entität, verstanden als geschlossenes System von reinen formalen Bestimmungen, ist die Dialektik bei Hegel der Metaphysik untergeordnet und ihre Kategorien sind für diese Rolle adaptiert, d.h. als dialektische entstellt. Ist aber diese dialektische Hegetkritik letzten Endes nicht dem ähnlich, was auch die "Differenzphilosophen" Hegel vorwerfen? Und gibt es etwas anderes als Differenz, das die Dialektik anbieten kann, wenn sie einmal Hegels allumfassendes Absolutes zerstört hat? Es ist zuerst daran zu erinnern, was über die Sache der Dialektik als kategoriell verfaßte Theorie der Absolutheil von konkreten Etwas, über die Vermengung der Entitäten und der Prinzipien bei den "Differenzphilosophen" und über die Degradation der Dinge auf simulacra oben schon gesagt worden ist. Darüber hinaus möchten wir aber die Auseinandersetzung mit den Differenzphilosophen und mit Hegel genau an dem Punkt der "Wissenschaft der Logik" aufnehmen, wo Hegel über die Kategorien für die Totalität der Bedingungen, die in der "differenzphilosophischen" Destruktion der Präsenz der Dinge im Vordergrund steht, hinausgeht und höhere Formen der "Präsenz" einführt. Die "Präsenz" von einem konkreten Etwas bricht nicht deswegen zusammen, weil es aufgrund der Totalität seiner Bedingungen gedacht werden muß, aber nicht gedacht werden kann. Die Kategorien der Modalität (die Wirklichkeit, die Möglichkeit, die Zufälligkeit, die Notwendigkeit) und die des absoluten Verhältnisses (die Substantialität, die Kausalität, die Wechselwirkung) bringen zwar eine Version der Absolutheil zum Ausdruck, in der sich das Etwas nicht mehr auf ein Anderes stützt (z.B. auf einen Grund), sondern auf die Totalität von Anderen. Als Überwindung dieser Stufe wird aber eine weitere Version der Absolutheil eingeführt: das Subjekt. Nicht mehr die unmittelbare Angewiesenheil auf die Bedingungen und ihre Totalität, sondern die Einheit des Allgemeinen mit dem Besonderen und Einzelnen trägt jetzt die "Präsenz". Bei Hegel bedeutet diese Einheit letzten Endes immer die Unterordnung, ja Aufopferung des Einzelnen für das Allgemeine. Der Monolithismus des Hegeischen Subjektbegriffes ist offensichtlich zu brechen - im Sinne einer noch radikaleren Durchführung dessen, was die Dialektik grundsätzlich sucht und anstrebt: die Absolutheil von konkreten Etwas. Das verspricht der Begriff der Assoziativität, den wir auf das Niveau einer dialektischen Kategorie erhoben sehen möchten. Anstatt der Einheit des Einzelnen und des Allgemeine, die letztlich im einzigen Subjekt mündet, kann die Assoziativität als gegenseitige Affirmation von konkreten Etwas zwar nicht in ihrer

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bloßen Unmittelbarkeit, sondern in der Weise und in dem Maße wie diese Konkretion den Prinzipien der Absolutheit von Etwas überhaupt entspricht, verstanden werden. Der Sinn der eben versuchten, übermäßig knappen dialektischen Skizze ist sehr einfach: anzudeuten, daß es andere Wege der Totalitarismuskritik gibt, als die "differenzphilosophische" Reduktion der Dinge auf die simulacra: Respekt vor der Absolutheit, die den Dingen immanent ist und die Suche nach Anknüpfung an diese Absolutheit. Wir schließen mit einer Bemerkung zum Problem des Menschen. Er ist kein Subjekt, sondern ein konkretes Seiendes, dem in dem einen oder anderen Maße die Subjektivität zusteht. Die Mangelhaftigkeit des Prinzips der endlichen Subjektivität bietet einen Angriffspunkt für die Humanismuskritiker nur, wenn man das Seiende "Mensch" mit dem Prinzip Mensch verwechselt. Die Bejahung des Menschen, wie er als konkretes Etwas den Prinzipien von Etwas als solches entspricht, überwindet den Anthropozentrismus und die mit ihm verbundene Gewalt. Sie eröffnet die Wege der Assoziation des Menschen mit dem, was ihm begegnet, die sich auf gleiche Prinzipien stützt. Das ist die Richtung, in der die Erneuerung und Weiterentwicklung des Subjektivitätsbegriffes der Moderne zu suchen ist.

Zweiter Teil

Industrialisierung und politische Systeme

Industrialisierung in Preussen. Eine staatliche Veranstaltung? Von Wolfram Fischer und Adelheid Simsch

I. Einleitung Industrialisierung in Preußen- eine staatliche Veranstaltung? Die Frage ist präzise gestellt. Die Antwort kann nicht gleich präzise ausfallen. Die ältere Forschung von Gustav Schmoller bis William 0. Henderson, die im wesentlichen auf staatlichen Akten beruhte und Preußen als Vorläufer des Deutschen Reiches und Modernisierer Deutschlands ansah, hat diese Frage im wesentlichen positiv beantwortet. Zweifel sind zuerst den Regionalforschern gekommen wie Barkhausen, der die frühe Industrialisierung im Rheinland im 18.Jahrhundert in preußischen und nichtpreußischen Gebieten verglich und zu dem Ergebnis kam, daß dort, wo die Industrialisierung keine staatliche Veranstaltung war, sie schneller voranging. Auf diesen Forschungen aufbauend, haben Herbert Kisch und Richard Tilly eher die gegenteilige Antwort gegeben: Der preußische Staat hat das wirtschaftliche Wachstum zumindest im frühen 19. Jahrhundert eher gebremst als gefördert.1 Zwei wesentliche Argumente wurden dabei vorgebracht: Einmal hat der Staat durch seine strenge Regulierung die Unternehmerischen Kräfte behindert, die sich anderswo, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft, freier entfalten konnten, zum anderen hat der Preußische Staat nach 1815 durch eine restriktive Fiskalpolitik, die vor allem darauf abzielte, die Schulden aus der napoleonischen Zeit abzuzahlen und daher einen Budget- Überschuß zu erzielen, das an sich mögliche Wachstum verlangsamt. Dieses Argument, das vor allen Dingen Richard Tilly entfaltet hat, ist keynesianisch. Tilly setzt volkswirtschaftliche Argumentation gegen den Glauben an das, was in den Quellen der staatlichen Verwaltung steht. Was immer die Motive des Preußischen Staates gewesen sein mögen, seine Politik war so, daß er die Entfaltung der individu1 Kisch, Herbert, The Textile lndustry in Silesia and the Thineland: A comparative Study in lndustrialization. In: Journal of Economic History XIX (1950), S. 541 ff. Dep.: Die hausindustriellen Textilgewerbe am Niederrhein vor der industriellen Revolution. Tilly, Richard, Kapital, Staat und Sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1980.

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Wotrram Fischer/Adelheid Simsch

eilen Kräfte nicht eben begünstigte und Wachstumsspielräume eher begrenzte als ausschöpfte. Ein hervorstechendes Beispiel dafür ist die preußische Bergbaupolitik Während der Staat im 18. Jahrhundert glaubte, die Unternehmer dazu antreiben zu müssen, Bergbau zu betreiben, und ein Bergrecht schuf, indem der Staat die unternehmerische Leitung privateigener Gruben in die Hand nahm, so daß den Eigentümern nur übrig blieb, Gewinne entgegenzunehmen bzw. Verluste zu ersetzen, hat nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erst das Miteigentümergesetz und dann das preußische Bergrecht von 1865 die Unternehmer aus diesen Fesseln befreit. Erst dann ist der Bergbau im Ruhrgebiet wirklich vorangeschritten, wobei auch der Faktor Technik eine wichtige Rolle spielte. Im folgenden soll nun für das 18. Jahrhundert bis 1815 und für das 19. Jahrhundert - im wesentlichen bis 1870 - dieser Frage etwas näher nachgegangen werden. Dabei wird sich zeigen, daß sehr viel davon abhängt, welche Zeit, das 18. oder 19. Jahrhundert, und welches Preußen man meint: Das ostelbische oder das rheinisch-westfälische oder die preußische Hauptstadt Berlin und ihre unmittelbare Umgebung. Preußens Wirtschaftspolitik war nämlich für einen rückständigen Agrarstaat konzipiert, sie wurde zuerst in Schlesien und in den neuerworbenen polnischen Provinzen wirklich angewandt. Für eine alte Gewerbelandschaft, wie sie das Rheinland darstellte, für eine Landschaft, in der neue Ressourcen zur Verfügung standen- dem Ruhrgebiet - und für eine schnell wachsende Hauptstadt war sie offenbar weniger geeignet. Diese wuchsen gegen, ohne oder trotz der preußischen Wirtschaftspolitik zu dem Zentrum der Industrie, die sie um 1870 oder gar um 1914 waren. Die preußischen Ostprovinzen aber blieben demgegenüber rückständig trotz der Aufmerksamkeit, die die staatliche Wirtschaftspolitik ihnen widmete. Dazwischen liegt das ehemals Österreichische Schlesien, in dem ähnlich wie in Böhmen und Ungarn der Hochadel als Grundbesitzer und Bergbautreibender vor und neben dem Staat, vor und neben bürgerlichen Unternehmern eine wesentliche Rolle spielte. II.

Das 18. Jahrhundert Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates im 18. Jahrhundert stand ganz im Zeichen seines Aufstiegs zur europäischen Großmacht. Die friderizianische Staatskonzeption hatte den mächtepolitischen Aspekt als höchstes Staatsziel formuliert und damit die Anpassung aller Lebensbereiche, insbesondere auch der Wirtschaft, an die militärischen und fmanziellen Erfordernisse des Staates unumgänglich gemacht.2 Die den allgemeinen Schmoller, Gustav, Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Großen und

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Grundsätzen des Merkantilismus folgende Politik der preußischen Herrscher bezog die Wirtschaft voll in den Aufgabenbereich des absolutistischen Staates ein und sicherte ihm durch entsprechende Maßnahmen wachsende Einkünfte, die seine wirtschaftliche und damit auch politische Kraft stärkten und so die Annexion ausgedehnter Gebiete erlaubten. Dazu zählten die Österreichische Provinz Schlesien, die 1740 an Preußen fiel, und die polnischen Territorien, die als West-, Süd- und Neuostpreußen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 im Verlauf der Teilungen Polens der Hohenzollernmonarchie einverleibt wurden? · Industrialisierung mußte demnach in Preußen während des 18. Jahrhunderts, solange die merkantilistische Staatswirtschaft vorherrschte, in erster Linie eine staatliche Veranstaltung sein, die den politischen und fiskalischen Interessen der Monarchie diente. Läßt sich nicht aber auf den zweiten Blick auch schon im 18. Jahrhundert, der Frühphase preußischer Industrialisierung, ein privates Unternehmerpotential nachweisen, das zum Teil unabhängig vom Staat wirtschaftete, zum anderen Teil eine Interessenkoalition mit dem Staat einging und Industrialisierung, zumindest in einigen Landesteilen, zu einer staatlich-privaten Veranstaltung machte? In diesem Falle wäre weiterzufragen, ob allein der Staat, wie bisher in der Forschung behauptet wurde, wirtschaftliches Wachstum durch Reglementierung privater Initiativen gehemmt hat oder ob sich nicht umgekehrt gerade auch private Unternehmer staatlichen Modernisierungsbestrebungen - sofern es sie im 18.Jahrhundert gab - entgegengestellt und damit ihrerseits die frühindustrielle Entwicklung in Preußen gebremst haben. Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zu berücksichtigen, daß Preußen im 18. Jahrhundert über kein zusammenhängendes Staatsgebiet verfügte, sondern aus einer Reihe von Provinzen bestand, die eine unterschiedliche historische Entwicklung durchlaufen hatten und jeweils besondere Sozial- und Wirtschaftsstrukturen aufwiesen, denen die Politik Rechnung tragen mußte. Die Industrialisierung ist daher in den einzelnen Regionen auch ganz unterschiedlich verlaufen. 1. Die preußische Winschaftspolitik in den altpreußischen Gebieten

Altpreußen - darunter versteht man die bis 1740 unter der preußischen Krone vereinigten Territorien, deren Erwerb ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Neben den mittleren Provinzen, deren Zentrum die Kurmark mit der Residenzstadt Berlin war, gehörten im rheinisch-westfälischen Raum die Preußens überhaupt 1680-1786, in: Schmollers Jahrbuch, 8. Jg., 1884, S. 43; Rachel, Hugo, Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 40.Jg., 1927, S. 238 f. 3 Simsch, Adelheid, Entwurf eines Modells zur Erforschung preußischer Geschichte. Staat und Wirtschaft in Preußen 1740-1786, in: Miedzy Historia a Teoria, Festschrift für Jerzy Topolski, hg. von Marian Drozdowski, Poznan 1988, S. 275 ff.

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Herzogtümer Kleve und Geldern, die Grafschaften Mark, Ravensberg, Lingen und Teekienburg sowie die Fürstentümer Minden und Moers dazu, im Nordosten das außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches gelegene Herzogtum Preußen (das spätere Ostpreußen).4 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren die mittleren und östlichen Landesteile Brandenburg-Preußens im Vergleich zu England und Frankreich, aber auch zu Österreich und Sachsen ein rückständiges Agrarland mit einer wenig entwickelten kleingewerblichen Struktur. Die Verwüstungen (Bevölkerungs- und Wirtschaftsverluste), die der Dreißigjährige Krieg vor allem in der Mark Brandenburg und Hinterpommern angerichtet hatte, veranlaßten den Staat zu einer intensiven Peuplierungspolitik, die der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640-1688) in die Wege leitete. Dabei wurde die Einwanderung zum wichtigsten Instrument. Der Große Kurfürst rief die Hugenotten aus Frankreich ins Land, die der französische König Ludwig XIV. durch Aufhebung des Toleranzedikts 1685 vertrieben hatte. Etwa 20.000 Menschen mit vielfältigen Kenntnissen und einer hohen beruflichen Qualiftkation kamen damals nach Brandenburg und trugen über mehrere Generationen erheblich zur Erweiterung der gewerblichen Produktion und der frühen Industrialisierung Preußens im 18. Jahrhundert bei.5 Die unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) erfolgte Etablierung des preußischen Militär- und Beamtenstaates bestimmte fortan den Charakter der Wirtschaftspolitik, die nunmehr ganz auf die finanziellen und praktischen Bedürfnisse der Armee ausgerichtet war und Wirtschaftswachstum als solches erst in zweiter Linie anstrebte. Die Maßnahmen dieser Politik orientierten sich an den theoretischen Leitsätzen der Merkantilisten: im Inland Steigerung der Produktion durch Förderung von Manufakturen, Handel und Landwirtschaft; nach außen Erzielen einer positiven Handelsbilanz. Friedrich der Große betonte 1768 in seinem zweiten politischen Testament ausdrücklich, daß die Gründung von Manufakturen deshalb von großer Wichtigkeit sei, weil sie das Geld im Lande hielten und erst so eine positive Handelsbilanz angestrebt werden könne. Importe sollten vermieden, alles, was möglich, im Lande selbst produziert und ein Exportüberschuß erzielt werden.6 In diese Politik der zentralen Staats4 Treue, Wilhelm, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 56. Bd., Berlin-New York 1984, S.4; Baumgart, Peter, Wie absolut war der preußische Absolutismus, in: Preußen- Versuch einer Bilanz, Ausstellungs-Katalo~ 2. Bd., Berlin 1981, S. 94 f. Kaufhold, Kar! Heinrich, Leistungen und Grenzen der Staatswirtschaft, in: Preußen -Versuch einer Bilanz, Ausstellungskatalog 2. Bd., Berlin 1981, S. 108; Simsch, Adelheid, Wirtschaft und Gesellschaft im vordindustriellen Deutschland 800-1800, in: Deutschland - Porträt einer Nation, 3. Bd., hg. vom Bertelsmann-Lexikothek-Verlag, Gütersloh 1985, S. 66. 6 Friedrich der Große, Die politischen Testamente von 1752 und 1768, in: Politische Testamente der Hohenzollern, hg. von Richard Dietrich, München 1981, S.133; Simsch, Entwurf, S. 276.

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und Wirtschaftslenkung konnten die westlichen Provinzen auf Grund ihrer großen Entfernung vom preußischen Kernland und ihrer geringen territorialen Ausdehnung nicht einbezogen werden. Sie wurden daher folgerichtig beim Aufbau der merkantilistischen Wirtschaft als Ausland behandelt - wenn auch von Berlin aus verwaltet- und gingen ihren eigenen Weg.7

2. Industrialisie!UIIg im preußischen Kernland Die gewerbliche Entwicklung in Brandenburg-Preußen wurde erstmals planmäßig vom Großen Kurfürsten in Gang gesetzt. Mit dem Edikt von Potsdam 1685 versuchte er, "capable Leute", d.h. fmanzkräftige Gewerbetreibende aller Art zur Errichtung von handwerklichen Betrieben und Manufakturen nach Berlin und in die Kurmark zu ziehen. Besondere Unterstützung gewährte er Seiden- und Tuchfabrikanten, die den Hofstaat und die Armee mit ihren Produkten versorgten, wie z.B. der französische Unternehmer Desaiguillier aus La Rochelle, der sich verpflichten mußte, innerhalb von 6 Monaten Seide herzustellen und VerJoursarbeiten für die Innenausstattung von Karossen und für Livreen der Diener auszuführen.8 Die vorteilhaften Aufnahmebedingungen, z.B. Befreiung von Einquartierung und Abgaben, Bereitstellung von Krediten und Häusern usw., waren für die Refugies Anreiz, eine neue Existenz aufzubauen. Auch unter den Nachfolgern des Großen Kurfürsten war die Textilindustrie (Seiden- und Wolltuchproduktion) der wichtigste Wirtschaftszweig in Preußen. Die Förderung der Seidenindustrie spielte aus fiskalischen Gründen eine besondere Rolle, vor allem unter Friedeich dem Großen, der die Seidenproduktion zur Unterbindung französischer Importe zu einer geachteten Industrie entwickelte und der Seidenraupenzucht größte Aufmerksamkeit schenkte. Auf allen Plätzen und Friedhöfen, in öffentlichen Gärten und Anlagen ließ er Maulbeerbäume anpflanzen. Prämien für die besten Seideoraupenzüchter dienten als Ansporn für immer bessere Zuchterfolge. Von den insgesamt 2,8 Millionen Talern direkter Subventionen, die unter Friedrich dem Großen den Manufakturen gewährt wurden, erhielt das Seidengewerbe etwa 1,6 Millionen. Trotz vieler Aktivitäten, besonders seitens der Hugenotten, blieben jedoch Rückschläge nicht aus. Kalte Winter, aber auch Nachfrageschwankungen auf dem Seidenmarkt führten zum Rückgang der Maulbeer7 Barkhausen, Max, Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum Im westdeut· sehen und im nord- und südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 45. Jg. 19~8, s. 112 f. Wilke, Jürgen, Der Einfluß der Hugenotten auf die gewerbliche Entwicklung, in: Hugenotten in Berlin, hg. v. Gottfried Bregulla, (Ost)Berlin 1988, S. 235.

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kulturen und nach dem Tode Friedrichs des Großen 1786 schließlich zum Rückgang dieses Zweiges der Textilwirtschaft Zu den großen Seidenfabrikanten gehörten Mitte des 18. Jahrhunderts neben Johann Ernst Gotzkowski und Wilhelm Schütz, die Gehrüder Michelet und David Girard, die noch 1795 zusammen 292 Seidenstühle besaßen. Sie erwarben ansehnliche Häuser in Berlin, so 1732 das sogenannte Fischerhaus auf dem Spittelmarkt und 1764 das Grumkowsche Haus in der Königsstraße 60 (heute Rathausstraße), wo die Gesamtfirma untergebracht wurde. Ihre unternehmerischen Aktivitäten standen ganz unter dem Einfluß und im Interesse des Staates, wie das auch bei den zahlreichen kleineren Betrieben der Seidenbranche der Fall war.9 Der zweite bedeutende Bereich der preußischen Textilindustrie, der im 18. Jahrhundert staatlich gelenkt wurde, war die Tuchproduktion. Sie hatte innerhalb der preußischen Militärwirtschaft mehrere Aufgaben zu erfüllen: 1. Belieferung des gesamten Heeres mit Wollbekleidung, 2. die Beschäftigung von Soldaten in deren dienstfreier Zeit beim Wollspinnen, um den kärglichen Sold aufzubessern und 3. die Bereitstellung von Geldern für das Große Militärwaisenhaus zu Potsdam. Dieser dreifachen Verknüpfung von Tuchproduktion und Armee entsprach geradezu in beispielhafter Weise das 1713 von Johann Andreas Kraut gegründete und 1723 nach seinem Tod faktisch verstaatlichte "Königliche Lagerhaus" zu Berlin, eine große Wollstoffmanufaktur. Schon 1716 konnte die Armee mit preußischem Tuch eingekleidet werden, woran das Lagerhaus den größten Anteil hatte. Zu den vielen neu entstehenden Tuchfabriken und Färbereien gehörte auch die Manufaktur des 1702 nach Berlin gekommenen Schweizers Johann Georg Wegely, die an der Fischerbrücke etabliert war und sich auf das Färben von Tuchen spezialisiert hatte. Die königliche Verwaltung unterstützte nicht nur die Anlage neuer Manufakturen, sondern schützte die Produzenten auch durch hohe Besteuerung fremder Waren. Der staatliche Einfluß auf die entstehende Industrie zeigte sich außer in der Textilproduktion auch in anderen Bereichen. So wurde z.B. 1722 die Gewehrfabrik in Potsdam und Spandau gegründet, die mit Unterstützung des Staates von der Firma Splitgerber und Daum betrieben wurde.10 Die Zeit der Schlesischen Kriege (1740-1763) wirkte eher stimulierend als hemmend auf die Entwicklung der Manufakturen, da der Heeresbedarf während der Feldzüge und in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1763 zu immer neuen Eingriffen des Staates führte. Dennoch erschütterten sehr bald Krisen in der Textilindustrie (Absatzstockung im Seidengewerbe 1775, Lohnkrise 9 Wilke, Einfluß, S. 239 f., 247; Escher, Felix, Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in: Geschichte Berlins, 1. Bd., München 1987, S. 3n; Kaufhold, Leistungen, S. 112. 10 Escher, Residenz, S. 3n f.

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1789) nicht nur die Manufakturbetriebe, sondern auch die Spinnerdörfer rund um Berlin. So mußte sich die Firma Wegely 1789 aufgrundeines Gerichtsbeschlusses verpflichten, die Spinner in dem abhängigen Spinnerdorf Neu-Zittau wieder regelmäßig zu beliefern.11 Es zeigte sich damals, daß die Textilindustrie, die hier als Beispiel für einen staatlich gelenkten Gewerbezweig näher besprochen wurde, ähnlich wie alle anderen Gewerbezweige auf keiner wirtschaftlich sicheren Grundlage arbeiten konnte, weil für private Initiativen kein Entscheidungsraum blieb. Auch standen Kapital sowie Arbeitskräfte nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, so daß die privaten Unternehmer nicht ohne staatliche Subventionen und staatlichen Schutz auskommen konnten. Das aber bedeutete: Abhängigkeit von staatlichen Entscheidungen, zugleich in bescheidenem Maße jedoch auch Wahrnehmung eigener Interessen, und sei es nur der soziale und wirtschaftliche Aufstieg in der Gesellschaft. Insofern läßt sich durchaus von einer Interessenkoalition mit dem Staat sprechen. Erst mit dem Zusammenbruch des absolutistischen Systems im Preußen 1806/07 wurde die Industrialisierung auf eine neue Basis gestellt: Der Staat selbst schuf unter dem Druck der politischen Ereignisse und der neuen liberalen Wirtschaftsideen durch Aufhebung der Erbuntertänigkeit (9.0kt. 1807, bzw. 11. November 1810) sowie durch Einführung der Gewerbefreiheit (11. Okt. 1807 bzw. 1811) die gesetzlichen Voraussetzungen für freien unternehmerischen Wettbewerb und Freizügigkeit der Arbeitskräfte. 12 Er leitete damit die Phase der eigentlichen Industrialisierung Preußens im 19. Jahrhundert ein. 3. Industrialisierung in den westlichen preußischen Provinzen

Die westlichen Provinzen Preußens entzogen sich schon allein auf Grund ihrer Entfernung zum Kernland der merkantilistischen Wirtschaftspolitik der preußischen Herrscher. Diese Gebiete machten nur etwa 7 % der Gesamtfläche des Staates einschließlich Schlesiens aus. Nur etwa 12 % der Gesamtbevölkerung Preußens lebte hier. Verglichen mit den östlichen Provinzen wurden sie als Nebenschauplatz angesehen und waren zudem noch geographisch voneinander getrennt. Seiner wirtschaftlichen Struktur nach war der preußische Westen nicht nur eine alte Gewerbelandschaft, sondern ein Agrargebiet, in dem insbesondere auch Hanf und Flachs angebaut wurden, so daß ein ländliches Nebengewerbe entstehen konnte. Einen Sonderfall bildete die Grafschaft Mark, die neben landwirtschaftlicher Produktion über ergiebige Bergwerke für Steinkohlen, Eisen-, Blei-, Kupfer- und Silbererz verfügte, und dadurch zum Ansatzpunkt Escher, Reside02, S. 400. Ilja, Vom Merkantilismus zum Liberalismus, in: Modeme preußische Geschichte, 2. Bd., hg. von Büsch, Otto und Neugebauer, Wolfgang, Berlin-New York 1981, S. 1007, 1008. 12 Mieck,

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für wirtschaftspolitische Maßnahmen des preußischen Staates wurde. Auch Minden gehörte auf Grund seiner Bodenschätze (Steinkohle, Salz und Torf) zu den reicheren Gebieten der Region. Krefeld entwickelte sich dank der Initiative mennonitischer Unternehmer zum Zentrum der Leinen- und Seidenherstellung. Die Seidenfabrikation ist im 18. Jahrhundert durch die Unternehmerfamilie von der Leyen, deren geschäftliche Tradition bis ins 17.Jahrhundert zurückreicht, international bekannt geworden.13 Die industrielle Entwicklung im Westen vollzog sich ohne staatliche Unterstützung und auch viel schneller als die im Osten. Das hing damit zusammen, daß es hier keine grundherrliehen und staatlichen Hemmnisse gab, die die wirtschaftliche Entfaltung beeinträchtigten. Außerdem spielte die enge Nachbarschaft zu den großen europäischen Handels- und Industrienationen mit Sicherheit eine entscheidene Rolle, ein Faktor, der den mittleren und östlichen Provinzen fehlte. Die Krefelder Seidenindustrie kann demnach als Beispiel dafür angeführt werden, daß Industrialisierung in Preußen im 18. Jahrhundert keineswegs immer eine staatliche Veranstaltung sein mußte. Otto Hintze stellt sie der staatlich dirigierten Berliner Seidenindustrie, die Friedrich der Große ins Leben gerufen hatte, mit folgenden Worten gegenüber: "Es war eine Industrie, die sich völlig unabhängig von staatlichen Einflüssen, fern von dem großen Strom der merkantilistischen Praxis entwickelt hatte ... In Berlin bürokratisches Prinzip, in Krefeld schrankenlose Autonomie des Unternehmers... Sie bedurfte nicht der staatlichen Unterstützung, deshalb unterblieb sie".14

Hintze erklärt sich den Erfolg der Krefelder Firma durch die herausragende Leistung und Unabhängigkeit ihrer Unternehmer sowie die Nähe des holländischen Vorbilds, und Barkhausen zieht daraus den allgemeinen Schluß: "Unabhängigkeit der Unternehmer ist das Merkmal der westdeutschen Industrie überhaupt, und nur wo sie gegeben war, ist diese aufgeblüht". Er sieht "hier ein frühes Beispiel der von freien Unternehmern geleiteten industriellen Wirtschaft, die sich damals schon so großartig in England entfaltete" .15 Nun wird man auch den Berliner Unternehmern des 17. und 18. Jahrhunderts herausragende Leistungen nicht absprechen können und muß daher zur Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung auch den historischen Faktor stärker heranziehen: Berliner Unternehmer konnten eben aufgrund der fast 100 Jahre andauernden Nachwirkungen des 30jährigen Krieges nicht die kaufBarkhausen, Wirtschaftslenkung, S. 199. von Looz-Corswarem, Oemens, Preußen. Die westlichen Landesteile, in: Panorama der Fridericianischen Zeit, hg. von Jiirgen Ziechmann, Bremen 1985, S. 695, 698. 14 Hintze, Otto, Acta Borussica, Seidenindustrie, 3. Teil, Darstellung, S. 102, 273. 15 Barkhausen, Wirtschaftslenkung, S. 174.

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männischen Traditionen ausbilden und so große Kapitalmengen erwerben wie die rheinischen Unternehmer, die aus den Kreisen reicher Fernkaufleute und Verleger hervorgegangen waren. An einigen Zahlen kann dieser Reichtum - wiederum für die Firma von der Leyen - verdeutlicht werden. Bei Gründung der Seidenfabrik 1731 durch die Brüder Friedrich und Heinrich von der Leyen, deren Vorfahren in Verlag, Fernhandel, Leinen- und Tuchfabrikation tätig waren, betrug das Startkapital insgesamt 27.800 Taler. 1756 war das Eigenkapital schon auf 317.000 Taler angewachsen und die Zahl der Beschäftigten betrug um 1763 etwa 2.800 Personen. Wie gering erscheint dagegen die Summe von 1,6 Millionen Talern, die Friedrich der Große während seiner gesamten Regierungszeit von 174086 in die preußische Seidenindustrie investiert hat.16 Der preußische König hat von einer Reglementierung der Leyen'schen Seidenfabrik aufgrund ihrer hervorragenden Kapitalbasis abgesehen und strittige Fragen immer zu ihren Gunsten entschieden. Aber, so führt Barkhausen aus: "Die wiederholten Anträge der großen Firma auf Zulassung ihrer Waren im Ostteil der Monarchie hat der König abschlägig beschieden und sie aufgefordert, durch Errichtung eines Zweigunternehmens sich dieses Absatzgebiet zu erschließen. Die Inhaber entschuldigten sich mit dem Hinweis auf ihr Alter, berichteten in langen Ausführungen, wie sie in jahrzehntelanger Arbeit ihr Unternehmen zu der stolzen Höhe heraufgeführt hatten und betonten, daß jeder Eingriff in ihre Betriebsweise schädlich sein würde. Der Sinn der Darlegungen war, daß ihre Schöpfung unübertragbar sei. Auch von den anderen Firmen hat sich keine zur Übersiedlung bereit gefunden".17 Das Fabrikenreglement von 1766, das die Manufakturen in den preußischen Provinzen unter strenge Staatsaufsicht stellte, lehnten die Brüder von der Leyen erfolgreich und selbstbewußt wie folgt ab: "Auf unsere eigene und alleinige Unkosten, Bemühungen, Erfindungen und Einrichtungen sind diese Fabriken in dieser Stadt zustande und in ihren gegenwärtigen vollkommenen und blühenden Zustand gekommen, woraus sie aber alle Veränderungen und Erneuerungen gewißlich wieder vertreiben und versetzen würden. Wir bitten demnach alleruntertänigst gehorsamst, uns doch ja damit allergnädigst zu verschonen und bei der bisher genossenen Freiheit fernerhin zu erhalten, indem dieses denen Fabriken und Fabrikanten, wie der ganzen Stadt Krefeld zum besten gereicht".18

Diese Argumentation macht deutlich, daß Kapitalmangel - wie im Falle der brandenborgiseben Unternehmer - ein entscheidender Faktor für die Abhängigkeit von staatlichen Direktiven sein mußte. 16 Rache!, Merkantilismus, S. 252; Barkhausen, Wirtschaftslenk"ung, S. 199 f.

17 Barkhausen,

18 Barkhausen,

Wirtschaftslenkung, S. 205. Wirtschaftslenkung, S. 205.

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Nicht nur die Firma von der Leyen, sondern auch andere Krefelder Unternehmen konnten sich den Versuchen des preußischen Staates, die gewerbliche Entwicklung zu reglementieren und damit unter den gegebenen Umständen zu hemmen, widersetzen. Neben der Textilindustrie war der Steinkohlenbergbau im 18. Jahrhundert ein wichtiger Wirtschaftszweig in den westlichen preußischen Provinzen. Das staatliche Interesse richtete sich hier besonders auf die märkische Steinkohle, deren Absatz der Staatskasse im Sinne merkantilistischer Politik erhebliche Einkünfte bringen konnte. Zwar befanden sich die Steinkohlengruben im privaten Besitz der Gewerken- obwohl Preußen schon seit dem 17. Jahrhundert versucht hatte, das für Brandenburg geltende Kohlenregal auf die Mark auszudehnen - aber dennoch profitierte der Staat an der Steinkohlenförderung: er erhob den Zehnten und gewann auch am Steinkohlenhandel.19 Aus staatlicher Sicht war die Einführung und Durchsetzung der Steinkohlenfeuerung eine fiskalisch wichtige wirtschaftspolitische Maßnahme, die gleichzeitig einen starken Modernisierungseffekt hatte wie die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert an Rhein und Ruhr zeigte. Aus der Sicht der Bevölkerung, d.h. sowohl der privaten Haushalte als auch der Gewerbetreibenden sprach vieles gegen die Substitution von Holz durch Kohle. Für die Bauern z.B. bedeutete der Verkauf von Holz die Möglichkeit, an Geld zu kommen, um ihre Abgaben zahlen zu können, während die Steinkohle, nur zur Wärmenutzung geeignet, gekauft werden mußte und damit zusätzliche Kosten verursachte. Mit Holzasche konnte zudem Leinwand geblichen werden, der Holzrauch diente der Haltbarmachung von Lebensmitteln. Für viele kleine und mittlere Gewerbetreibende, wie z.B. Brauer, Branntweinbrenner und Bauhandwerker (Kalkbrenner) war die Umstellung auf Steinkohle mit objektiven technischen und fmanziellen Schwierigkeiten verbunden. Z.B. mußten die Kessel, wenn mit Steinkohle geheizt wurde, umgerüstet und auf Roste gesetzt werden, die eine zusätzliche Anschaffung bedeuteten, d.h. Kosten verursachten. So reagierten 1767 die Einwohner verschiedener Städte mit partieller Verweigerung auf den Zwang, von nun an märkische Steinkohle zu benutzen. Für größere Unternehmer war die Umstellung auf Steinkohle nur dann interessant, wenn ihnen staatliche Vergünstigungen zwecks Kostensenkung zugesagt wurden. In diesem Falle konnte es durchaus zu einem Zusammenspiel von staatlichen und privaten Interessen kommen. Die Verweigerung der Steinkohlenfeuerung in den westlichen preußischen Provinzen, die für Schlesien ebenfalls belegt ist, kann in weite-

19 Betzhold, Uta, Zur Rationalität der Verweigerung der Steinkohlenfeuerung in den westlichen preußischen Provinzen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Scripta Mercaturae, 17. Jg., 2. Heft, 1983, S.48.

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stem Sinne als Beispiel dafür angesehen werden, daß private Unternehmer sich staatlichen Modernisierungsbestrebungen entgegenstellten. 4. Die preußische Wirtschaftspolitik in Schlesien im 18. Jahrhundert

Mit dem Erwerb Schlesiens 1740 eröffnete sich für den preußischen Staat die Möglichkeit, seine merkantilistisch konzipierte Wirtschaftspolitik praktisch anzuwenden. Die neue Provinz wurde daher zwar politisch in den Gesamtstaat eingegliedert, erhielt aber verwaltungsmäßig und wirtschaftlich zumindest bis 1806 - einen Sonderstatus: Sie wurde nicht dem Generaldirektorium unterstellt, sondern einem Provinzialminister, der wiederum dem König direkt untergeben war.20 Auf diese Weise gelang es Friedrich dem Großen in kurzer Zeit, unter Zurückdrängung des schlesischen Hochadels, seine Neuerwerbung auf "preußischen Fuß" zu setzen, d.h. nach dem Vorbild der Kernprovinzen umzuorganisieren. Schlesien wurde in zwei Departements eingeteilt, mit je einer Kriegs- und Domänenkammer in Breslau und Glogau. Hauptaufgabe der neuen Kammerverwaltung war es, dafür zu sorgen, daß sich die Einnahmen aus der Provinz zugunsten des Gesamtstaates erhöhten. Die Einführung des preußischen Steuersystems (Akzise und Kontribution) verlief ohne nennenswerte Widerstände seitens der Bevölkerung und brachte in kurzer Zeit den gewünschten Erfolg. Dagegen wurde das preußische Kantonsystem nur widerwillig akzeptiert.21 Im wirtschaftlichen Leben Preußens wurde Schlesien zunächst die Rolle eines Entwicklungslandes zugewiesen, das als Absatzmarkt und billige Rohstoffquelle für Berlin und Brandenburg genutzt werden sollte. "Sein potentieller, aber nicht erschlossener Reichtum war groß, sein praktischer Wert 1740 infolge von Vernachlässigung und falscher Handelspolitik weit geringer".22

Schlesien war seit dem Mittelalter eine Agrarregion, die mit ihrer südwestlieh von Breslau gelegenen "Kornkammer" zwar ihre wachsende Bevölkerung ernähren, jedoch keinen umfänglichen Getreideexport leisten konnte. Dagegen produzierte das Wolltuch- und Leinengewerbe seit jeher für den Export und hatte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts europäische Bedeutung gewonnen. Schafzucht und Flachsanbau waren die Grundlagen dafür. Friedrich der Große förderte gleich seit Beginn seiner Herrschaft in Schlesien besonders die Leinenfabrikation, mit der er die gewerbliche Beschäftigung der schlesischen Gebirgsbevölkerung sicherstellen wollte. Hauptzentren der städtischen Leinenproduktion waren die Städte Sagan, Liegnitz und 20 Treue, Wirtschaftsgeschichte,S. 54. 21

Baumgart, Schlesien,S. 711, 712. Wirtschaftsgeschichte, S. 54; Fuchs, Dirigismus, S. 28.

22 Treue,

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Lauban.23 Schon während des Ersten Schlesischen Krieges konnte der Leinenexport durch "direkte Vermittlung" des Amtes für auswärtige Angelegenheiten als auch durch ermäßigte Wasserzölle erhöht werden. Weitere Förderungsmaßnahmen galten den im Spinnstoffgewerbe Beschäftigten: sie wurden in zahlreichen Fällen von Frondiensten, Truppeneinquartierungen und vom Militärdienst befreit. Auf gesetzgeberischem Wege wurden durch Erlaß einer "Leinwand- und Schleierordung" im Jahre 1742 die verschiedenen Websysteme vereinheitlicht und damit die Exportchancen der schlesischen Leinwand erhöht.24 Die eigentliche Förderung des Textilsektors begann erst nach dem Siebenjährigen Krieg. Im Zeitraum von 1763 bis 1786 ließ Friedrich der Große insgesamt 1302 Industriebetriebe errichten, zwei Drittel davon entfielen auf den textilen Bereich.25 Diese "Fabriken" sollten dem Handelskrieg Preußens mit Sachsen und Österreich gewachsen sein. Die besten Absatzjahre für schlesische Leinwand, die im In- und Ausland einen ausgezeichneten Ruf genoß, lagen zwischen 1783 und 1786. Dann machte sich die Konkurrenz der englischen Baumwollindustrie auf dem Weltmarkt stärker bemerkbar und zollpolitische Maßnahmen, z.B. Österreichs und Rußlands gegen schlesisches Leinen, verringerten die Absatzmöglichkeiten auch auf diesen nahegelegenen Märkten. 26 Fast zeitlich parallel mit dem Niedergang des schlesischen Textilgewerbes ging der Aufstieg von Bergbau und Hüttenindustrie einher. Im Jahre 1768 hatte Friedrich der Große das Bergwerks- und Hüttendepartement gegründet als selbständige siebente Abteilung des Generaldirektoriums für den gesamten preußischen Staat, d.h. unter Einschluß Schlesiens. Da Schlesien grundsätzlich nicht dem Generaldirektorium, sondern einem selbständigen Provinzialminister unterstand, war damit eine komplizierte Situation entstanden, weil der Minister den Bergwerks- und Hüttenbereich dem Generaldirektorium überlassen mußte. Der eigentliche Aufstieg Schlesiens zur wichtigsten Bergbau- und Industrieregion Deutschlands begann unter Friedrich Anton von Heynitz, der 1777 Chef des Bergbau- und Hüttendepartements wurde. Im Unterschied zu seinem Neffen Friedrich Wilhelm von Reden, den er zum Direktor des Bergund Hüttenwesens in Schlesien ernannte, schwebte Heynitz die Heranziehung auch privater Unternehmer bei der Industrialisierung Schlesiens vor. Reden dagegen wollte die Industrialisierung in staatlichen Händen lassen und konnte sich damit in einer Reihe von Fällen auch durchsetzen. Als staatliche UnterZ3 Fuchs, Beiträge, S. 52, 54. 24 Fuchs, Beiträge,S. 55. 25 Fechner, Hermann, Fabrikgründungen in Schlesien nach dem Siebenjährigen Krieg unter Friedrich dem Großen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 57. Jg., 1901, S. 637. 26 Fuchs, Beiträge,S. 59.

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nehmen wurden z.B. die "Friedrichsgrube" und "Friedrichshütte" gegründet.n Die Schaffung solcher modernen Staatsbetriebe sollte auch die Initiative privater Unternehmer wecken. Zu ihnen gehörte der bei Tarnowitz lebende Johann Ferdinand Koulhaas, der von der brandenburgischen Familie des Michael Kohlbaas abstammte und seit 1777 auf der Suche nach Methoden zur Stahlherstellung war. Der Staat unterstützte seine Versuche durch Bereitstellung eines Stahlhammers und gewährte ihm 1781 ein Fabrikprivileg für die erste Stahlerzeugung in Oberschlesien. Neben engagierten bürgerlichen Unternehmern trat auch der Typ des hochadligen Unternehmers auf, wie z.B. der Graf Lazarus Renekel von Donnersmarck oder Philipp Graf Colonna.28 Der allgemeine Aufstieg von Bergbau und Hüttenindustrie in Oberschlesien in den letzten Regierungsjahren Friedrichs des Großen ist nicht allein staatlicher Initiative zu verdanken, sondern auch hochadligen und bürgerlichen Privatunternehmern, die unabhängig vom Staat versuchten, Schlesiens Bergbau und Eisenindustrie zu entwickeln. Auch hier war es in vielen Fällen der Kapitalmangel, der sie zu einer Interessenkoalition mit dem Staat zwang.

5. Die preußische Wirtschaftspolitik in den neuerworbenen polnischen Provinzen Die weiträumigen polnischen Territorien, die 1772, 1793 und 1795 an Preußen fielen, machten zusammen über 50 % der bisherigen Gesamtfläche der Monarchie aus. Ihre politische und wirtschaftliche Integration stellte Preußen vor erhebliche Probleme, allein schon was die Behördenorganisation anbetraf. Wirtschaftspolitisch konnte der preußische Staat hier seine merkantilistischen Grundsätze vor dem Zusammenbruch von 1806 noch einmal praktizieren: Unverändert stand die Erhöhung der staatlichen Einkünfte im Mittelpunkt aller Maßnahmen. Dieses Ziel wurde in allen drei Provinzen West-, Süd- und Neuostpreußen durch die im Vergleich zur polnischen Verwaltung effizienter arbeitenden preußischen Behörden, durch Steuererhöhungen und die Einführung des Salzmonopols erreicht. Die Einnahmen der Provinzialetats mußten jedoch zum größten Teil für Verwaltungs- und Militärzwecke innerhalb der Provinzen verwendet werden, so daß für staatliche Investitionen im wirtschaftlichen Bereich nur geringfügige Mittel zur Verfügung standen.29 t7 Treue, Wirtschaftsgeschichte, S. 120. 28 Treue, Wirtschaftsgeschichte, S. 121, 124; Dlugoborski, Ekonomika,S. 51. 29 Simsch, Adelheid, Die Wirtschaftspolitik des preußischen Staates in der Provinz Südpreußen 1793-1806/07, Berlin 1983, S. 233, 241; Wasicki, Jan, Ziernie polskie pod zaborem Pruskim. Prusy Nowoschodnie 1795-1806, Poznan 1963, S.276.

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Da es sich bei den neuerworbenen Provinzen um überwiegend agrarisch strukturierte Gebiete handelte, konnte Industrialisierung hier nur ein langfristiges Ziel preußischer Politik sein. Es ging dem Staat daher zunächst um die Erschließung neuer Rohstoffe und Absatzmärkte für seine Kernprovinzen. Dennoch gab es eine Reihe von staatlichen Maßnahmen zur Entwicklung von Handwerk und Manufakturen, die jedoch durch die alltäglich anfallenden Probleme bestimmt waren. So wurden z.B. neueinwandernde Handwerksmeister, sofern ihr Metier in den Provinzen fehlte, von der Regierung mit besonderen Konzessionen ausgestattet oder es wurden Handwerkszweige etabliert, die bisher noch nicht vertreten waren.30 Wichtigster Gewerbezweig in den polnischen Gebieten war die Textilbranche, die freilich regional unterschiedlich entwickelt war. Den höchsten Stand hatte die Tuchproduktion in den westpreußischen Städten Konitz, Marienburg, Kulm, Thorn (erst 1793 pr.), Elbing und Danzig (erst 1793 pr.) erreicht, wo sich seit dem Mittelalter ein wohlhabendes Bürgertum etabliert hatte. Zur Zeit Friedrichs des Großen nahm vor allem Elbing durch die handelspolitischen Maßnahmen gegen Danzig und Thorn einen Aufschwung als Getreidemarkt und Gewerbezentrum für Leinen-, Tuch- und Baumwollmanufakturen.31 Im Vergleich mit Westpreußen, wo Friedrich der Große in den Jahren 1772 bis 1786 eine Reihe von Fabriken mit staatlichen Geldern einrichten ließ, ist eine deutliche Veränderung der preußischen Gewerbepolitik aufgrund der verschlechterten Finanzlage des Staates in den aus der zweiten und dritten Teilung Polens stammenden Gebieten, also Süd- und Neuostpreußen, zu beobachten. Hier ging die Gründung von Manufakturen, die selten mehr als 4 Personen beschäftigten, also praktisch kleine Handwerksbetriebe waren, auf die Initiative von Privatleuten, z.T. Adligen, zurück. Sie mußten dazu allerdings staatliche Kredite in Anspruch nehmen wegen des allgemeinen Kapitalmangels in diesen Gebieten.32 Die königliche Bank und die Seehandlung stellten in erstaunlichem Umfang Kreditmittel, vor allem für den Adel zur Verfügung, der damit jedoch weniger Investitionen als seinen aufwendigen Lebensstil fmanzierte. Das war möglich, weil die Kredite nicht zweckgebunden vergeben wurden. Es ist daher nicht erstaunlich, wenn die preußischen Beamten, die 1805 mit der Untersuchung des Manufakturwesens in Süd- und Neuostpreußen beauftragt waren, nach Berlin berichteten, daß das Gewerbe seit 1793 bzw. 1795 keine wesentlichen Fortschritte gemacht hätte. Erst nach 1815 kam es in den bei Preußen verbliebenen Gebieten Südpreußens 30 Simsch, Südpreußen, S. 160.

31 Wojtowicz, Jerzy, Zur Gestaltung neuer Wirtschaftsformen in Westpreußen in den Städten

Westpreußens im 18. Jahrhundert, in: Wirtschaft, Technik und Geschichte. Festschrift für Albrecht Timm, hg. von Schmidtchen, Volkerund Jäger, Eckhard, Berlin 1980, S. 190. 32 Simsch, Südpreußen, S. 179.

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( = Großherzogtum Posen) infolge des Zustroms von deutschem Kapital zu einer deutlichen Entwicklung auf dem gewerblichen Sektor.

Von Industrialisierung im 18. Jahrhundert kann in den polnischen Provinzen Preußens nicht die Rede sein. Obwohl der Staat hier sehr aufmerksam die Entwicklung verfolgte, blieben diese Gebiete im Vergleich mit anderen preußischen Provinzen und westeuropäischen Wirtschaftsregionen bis weit zur Mitte des 19. Jahrhunderts rückständige Agrarlandschaften?3 III.

Das 19. Jahrhundert (bis 1870) 6. Die preußischen Westprovinzen nach 1815 Der Wiener Kongreß brachte dem Königreich Preußen einen erheblichen territorialen Zugewinn im Westen Deutschlands. Damit wurden alte Gewerbelandschaften wie das Großherzogtum Berg oder die Aachener Kohle- und Wolltuchregion und die Handelsstadt Köln neben landwirtschaftlich domininierte Regionen wie Westfalen in das Königreich integriert. Erzbistümer wie Köln und Trier, Stiftslande wie Essen, Reichsstädte wie Dortmund und das früher zum Fürstentum (seit 1806 Herzogtum) Nassau gehörige Saarrevier waren nun in einem geographisch zusammenhängenden Komplex mit den alten preußischen Gebieten Cleve und Mark vereint. Die Bevölkerung dieser Gebiete war vorwiegend katholisch, in einigen Gegenden wie dem Bergischen Land aber auch protestantisch-pietistisch und von sehr unterschiedlichen gewerblichen und wirtschaftspolitischen Traditionen geprägt. Während der napoleonischen Zeit hatte sie meist unter französischer Herrschaft gestanden, und Preußen ließ hier die liberale Gewerbeverfassung, die Napoleon eingeführt hatte, bestehen. Sie konnte sich daher frei von staatlicher Bevormundung entwickeln. Einige der am frühesten vorindustrialisierten Gewerbelandschaften befanden sich hier: Das hergisehe Wuppertal, ein Zentrum der Baumwollindustrie, die unmittelbar benachbarten Kleineisen- und Eisenerzereviere zwischen Ruhr, Wupper und Sieg, Aachen und sein Umland, das zusammen mit dem belgiseben Verviers ein altes Zentrum der Wolltuchproduktion bildete, oder die Zuckerraffmerien Kölns. Das selbstbewußte einheimische Bürgertum stellte eine unabhängige, auch politisch aktive Unternehmerschaft, die nicht an die Bevormundung durch den Staat gewöhnt war wie die der preußischen Kernprovinzen. 33

Eine der Hauptursachen dafür sieht die neuere polnische Forschung in der Ausbildung des wirtschaftlichen und sozialen Dualismus im frühneuzeitlichen Europa, d.h. des Kapitalismus im Westen und die Refeudalisierung im Osten, s. Topolski, Jerzy, Narodziny Kapitalizmu w Europie XIV-XVII wieku, Warszawa 1965, S. 125.

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Einen Sonderfall bildete der Bergbau. Er war in den altpreußischen Territorien nach dem Direktorialprinzip organisiert worden, d.h. der Staat dirigierte auch die privateigenen Zechen. Nun aber kamen Kohlereviere, die bisher so gut wie unreguliert gearbeitet hatten, z.B. im Hochstift Essen oder um Aachen, unter die preußische Herrschaft, und es entspann sich ein langes, zähes Ringen zwischen der preußischen Bergbauverwaltung und den oft aus dem Kohlenhandel stammenden Unternehmerfamilien wie Haniel um die zukünftige Ordnung des Bergbaus. Die staatliche Direktion wurde mehr und mehr als Fessel empfunden, nicht nur von den Unternehmern, sondern auch von liberalen Beamten. Der Gesetzgebungsprozeß begann 1826 und zog sich bis zur Mitte des Jahrhunderts hin. 1851 sprach das Miteigentümergesetz den Eigentümern wesentliche Unternehmerrechte zu, und 1865 gliederte schließlich das preußische Berggesetz den Bergbau in eine liberale WirtSchaftsordnung ein. Der Staat behielt nur noch die Sicherheitskontrolle und die Aufsicht über die Knappschaft. Der Ausbau der Ruhrbergbaus konnte erst größere Dimensionen annehmen, als um die Mitte des Jahrhunderts die unternehmecisehe Freiheit hergestellt war, wenngleich auch schon vorher Bergbeamte festgestellt hatten, daß selten gegen die ausdrücklichen Wünsche der Gewerken entschieden werde. Immerhin hatte es für Pranz Haniel eines jahrelangen Kampfes gegen die Bergbehörden bedurft, den er bis vor den König trug, ehe er 1833 für die Zeche Schölerpad die Betriebsgenehmigung erhielt und damit beginnen konnte, die Mergelschicht zu durchstoßen, um einen Tiefbauschacht einzurichten. Ohne diesen von den Behörden nicht unternommenen Versuch hätten die in größerer Teufe lagernde Ruhrkohlenreviere nicht erschlossen werden können. Das Herzstück des schwerindustriellen Deutschlands wurde also nicht als staatliche Veranstaltung geschaffen, sondern im Kampf gegen staatlichen Dirigismus - wobei sich auf staatlicher Seite konservative Bergbeamte vor Ort und liberale Beamte in den höheren Behörden gegenüberstanden. Diese formulierten schließlich die neuen Gesetze, die dem Berg- und Hüttenbetrieb Unternehmerische Freiheit gestatteten- Perestroika im Preußen des 19.Jahrhunderts.34

7. Die Industrialisierung der Hauptstadt Berlin war um 1815 nicht nur die preußische Residenz, sondern auch eine gewerbereiche Stadt. Es besaß zahlreiche Handwerke, Manufakturen und eine ausgebreitete, noch nicht mechanisierte Textilindustrie, dazu Banken, 34 Fischer, Wolfram, Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851-1865; ders., Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform von 18511865 in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts; ders.: Die Bedeutung der preußischen Bergrechtsreform (1851-1865) für den industriellen Ausbau des Ruhrgebiets. In: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze- Studien- Vorträge. Göttingen 1972, S.139-178.

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Kaufleute und Verlage; aber es besaß noch keine "moderne" Industrie. Dreißig Jahre später sah es anders aus. 1846, ein Jahr ehe Siemens & Halske ihre Werkstatt eröffneten, bezeichnete ein Zeitgenosse Berlin schon als eine "in allen seinen Verhältnisse ... große Stadt." Namentlich seit der "Entfesselung der Gewerbe" habe sie sich "in einem erstaunlichen Umfange zu einer modernen Stadt" entwickelt, "worin Erwerb, Konkurrenz, Handel und Industrie die Schlagadern bilden."35 Nicht zufällig ist hier von der "Entfesselung der Gewerbe" die Rede, die die preußische Regierung gegen vielfältigen Widerstand vieler Gewerbetreibenden seit 1810 allmählich durchgesetzt hatte. Sie hatte es ermöglicht, daß auch "Unzünftige" sich in Berlin und mittleren und östlichen Provinzen des Landes selbständig betätigen konnten, obwohl die Zünfte keineswegs mit einem Schlage verschwanden. "Wie ein roter Faden zog sich die Auseinandersetzung über die Gewerbefreiheit 35 Jahre lang durch alle wirtschaftspolitischen Debatten," und es dauerte "Jahnehnte, bis die Gewerbefreiheit als liberales Prinzip des städtischen Wirtschaftslebens breitere Anerkennung fand. Die fest eingewunelten zünftlerischen Traditionen erwiesen sich als außerordentlich zählebig. Die Innungen oder Gewerke behielten auch nach 1810 großen Einfluß auf das Gewerbeleben Berlins. Unzünftige Gewerbetreibende ... bildeten noch lange die Ausnahme.•36

In solcher Situation ist es kein Wunder, daß preußische Beamte noch einige Jahrzehnte lang glaubten, den neuen Industrien direkte und indirekte Hilfestellungen bieten zu müssen. Andererseits brauchte der Staat die Hilfeleistungen der privaten Unternehmer und Techniker aus dem Ausland oder den westlichen Provinzen. Als der Bau zweier Dampfmaschinen in der Königlichen Gießerei mißglückt war, sandte die Fabrikenkommission 1814 einen Architekten und mehrere Fabrikanten mit staatlichen Mitteln nach Westeuropa, um "an Maschinen, Kunstgriffen und Fabrikgeheimnissen" dasjenige zu erlangen, was den Berliner Fabrikanten bislang unbekannt geblieben war.37 Auf diese Weise holten sie die englischen Brüder Cockerill, die in den südlichen Niederlanden, dem späteren Belgien, eine mechanische Spinnerei, Eisengießerei und Maschinenfabrik aufgebaut hatten, nach Berlin. Der Fiskus stellte ihnen ein Gebäude zu Verfügung, und sie verpflichteten sich, zehn Saß, Friedrich, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung (1846). Nachdruck Berlin 1983. Hier zitiert nach: Fischer, Wolfram, Berlin: Die preußische Residenz auf dem Wege zur Industriestadt. In: Industrie- und Handelskammer zu Berlin (Hg.): Berlin und seine Wirtschaft. Eine Weg aus der Geschichte in die Zukunft. Lehren und Erkenntnisse. Berlin 1987, S59. 36 Mieck, llja, Idee und Wirklichkeit: Die Auswirkungen der Stein-Hardenbergsehen Reformen auf die Berliner Wirtschaft. Ebd., S.41-58; Zitat S.53 f. 37 Fischer, Wolfram, Die preußische Residenz ... Ebd. S.64. Vgl. auch Mieck, llja, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806-1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Berlin 1965.

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Jahre lang nicht nur alle Arten von Maschinen und Geräten zur Wollfabrikation - dem damals wichtigsten Industriezweig Berlins - anzufertigen, sondern auch deren praktische Anwendungen zu demonstrieren. Solche Hilfen wurden auch einheimischen Fabrikanten angeboten, aber nicht alle bedienten sich ihrer. Der Mechaniker Freund baute z.B. zur gleichen Zeit ohne staatliche Subventionen eine kleine Dampfmaschine für eine Silbermanufaktur, die nach dem Urteil der Zeitgenossen mit den besten englischen Maschinen verglichen werden konnte. Staatliche Industrieförderung und eigenständige Unternehmerinitiative liefen also parallel, und sehr bald herrschte die private gerade im Maschinenbau vor. Die direkten Leistungen des Staates nahmen ab und wurden durch indirekte Hilfen, vor allem durch technische Ausbildung, Ausstellungen, gelegentlich auch noch durch Reisestipendien oder das Zurverfügungstellen von Modellen, ersetzt. Borsig hat zwar eine staatliche Technikerausbildung genossen · die er nicht beendete -, dann aber seine Firma, die bald die größte deutsche Lokomotivfabrik wurde, selbständig aufgebaut. Das preußische Gewerbeinstitut unter Beuth konnte bald die auszubildenden Techniker in die einheimischen Fabriken schicken, wenn sie die den neuesten Stand der Technik kennenlernen wollten. An die Stelle der GängeJung war die Kooperation zwischen Staat und Unternehmern getreten. Eine "staatliche Veranstaltung" war dieser von privaten Unternehmern getragene Ausbau Berlins zur Industriestadt insofern, als der Staat mit der Gewerbefreiheit eine neue Wirtschaftsordnung durchgesetzt hatte, die jene "Entfesselung der Gewerbe" erleichterte. Vergessen werden darf auch nicht, daß der Staat mit seinen Behörden ein großer Auftraggeber der Berliner Industrie blieb - aber das war in jeder großen Hauptstadt der Fall, auch in London, Paris, und wichtiger war für den industriellen Aufbau Berlins, daß die Eisenbahnen es zu einem Verkehrsknotenpunkt machten und als Nachfrager nach Lokomotiven und anderem Eisenbahnmaterial auftraten. Die Eisenbahnen wiederum erfreuten sich erst, nachdem sie ihren wirtschaftlichen Erfolg nachgewiesen hatten, der Aufmerksamkeit des preußischen Staates. In der Anfangsphase stand er ihnen eher zurückhaltend gegenüber.

8. Die preußische Wirtschaftspolitik und die östlichen Provinzen nach 1815 Die klassische Gewerbeförderung, wie sie in Preußen die Seehandlung betrieb, konzentrierte sich mehr und mehr auf die östlichen Provinzen. Hier, vor allem in Schlesien, gab man auch in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch Subventionen und andere Hilfestellungen bei Unternehmensgründungen.38 Die Schiffe der staatseigenen preußischen Seehand38 Henderson, William 0., The State and the lndustrial Revolution in Prussia 1740-1870. Liverpool 1958, bes. S.131 ff. Fuchs, Konrad, Neue Beiträge zur Bedeutung der Königlichen Seehandlung für die schlesische Spinnstoff- und Metallindustrie. In: ders.: Beiträge..., S.77-91.

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lung, die bis nach Südamerika liefen, versuchten vor allem die Produkte der schlesischen (und westfälischen) Leinenweberei an den Mann zu bringen. Der Berliner Maschinenbau fand seinen eigenen Markt daheim oder in Rußland. Die traditionellen Textilgewerbe Schlesiens hatten hingegen den Anschluß an die Modernisierung verpaßt Der Weberaufstand in Schlesien 1844 signalisierte weniger die Ausbeutung von Heimarbeitern durch die Verleger als unternehmerisches Unvermögen, im internationalen Konkurrenzkampf mithalten zu können. Erst nach der Mitte des Jahrhunderts setzte hier die Mechanisierung ein und brachte die schlesische Textilindustrie wieder in eine konkurrenzfähige Position. Der Bergbau und die Hüttenindustrien in Oberschlesien waren hingegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich vorangekommen und zwar betrieben von drei Unternehmerischen Gruppen, die miteinander konkurrierten: der staatlichen Bergbauverwaltung, den adeligen Grundherren wie den Fürsten Pleß, den Grafen von Henckel-Donnersmarck und z. T. geadelten, aber ursprünglich bürgerlichen Kaufleuten wie von Giesches Erben oder den Familien Thiele-Winckler. Die staatliche Verwaltung und einige der Grundherren engagierten überdies Berg- und Hüttenfachleute aus den westlichen Bergbauregionen und dem Harz, so daß man die oberschlesische Industrialisierung weder dem Staat allein, noch den Magnaten oder bürgerlichen Unternehmern und Technikern allein zuschreiben kann. Die verschiedenen Gruppen wirkten zusammen, und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts spielten auch Banken eine immer größere Rolle, seitdem sie einige der grundherrliehen Werke in Aktiengesellschaften umzuwandeln geholfen hatten.39 Trotzdem blieb insgesamt das oberschlesische Revier in seiner Produktivität deutlich hinter den westlichen Revieren - mit Ausnahme des Siegerlandes - zurück.40 Ein gutes Beispiel für das Entwicklungsgefälle zwischen den Provinzen ist der Eisenbahnbau. Während er in den westlichen Provinzen und auch in der unmittelbaren Umgebung Berlins und von dort nach Mitteldeutschland sowie in Oberschlesien im wesentlichen von privatem Kapital fmanziert wurde, mußten fast alle Linien nordöstlich von Berlin mit Staatshilfe gebaut bzw. frühzeitig vom Staat übernommen werden. Insgesamt aber hat der preußische Fuchs, Konrad, Vorn Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- und Hüttenrevier. Wiesbaden 1970. Ders., Zur Bedeutung des schlesischen Magnatenturns für die wirtschaftliche Entwicklung Oberschlesiens. In: ders., Beiträge, S.123152. Dlugoborski, Waczlaw, Wirtschaftliche Region und politische Grenzen: Die Industrialisierung des ob.erschlesischen Kohlenbeckens. In: Pollard, Sidney (Hg.), Region und lndustrialisierunK. Göttingen 1980, S.142-174. 4 Martin, Bemd, Industrialisierung und regionale Entwicklung. Die Zentren der Eisen- und Stahlindustrie im Deutschen Zollgebiet, 1850-1914. Diss. FU Berlin 1983, bes. S. 169 f., 248, 276 ff.

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Staat den Eisenbahnbau zunächst eher gebremst, z.T. weil er fürchtete, daß die eben fertiggestellten Chausseebauten sich nicht amortisieren würden, wenn sie Konkurrenz bekämen.41 Trotz der Konzentration der Staatshilfe in den 1830 er und 40 er Jahren auf die östlichen Provinzen, blieben diese industrielle unterentwickelt, ja der Abstand zum Westen, zu Berlin und den mittleren Provinzen verstärkte sich sogar.42 Staatliche Industrieförderung konnte unternehmerische Initiative nur sehr unvollkommen ersetzen. Wo Industrialisierung in Preußen erfolgreich war, ist sie spätestens seit den 1830 er Jahre keine staatliche Veranstaltung mehr gewesen.

41 Statt vieler: Fremdling, Rainer, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 18401879. 2Aufl. Dortmund 1985, S.123 ff. 42 Hohorst, Gerd, Regionale Entwicklungsunterschiede im lndustrialisierungsprozeß Preußens - ein auf Ungleichgewichten basierendes EntwicklungsmodelL In: Pollard, Sidney (Hg.), Region und Industrialisierung, 5.215-235.

Wahrnehmungen der Industrialisierung Die französische Gesellschaft im Bild der Deutschen zwischen 1891 und 1914 Von Hartmut Kaelble Unter den Historikern, die über das Frankreichbild der Deutschen arbeiten, werden damit - ganz ähnlich wie in anderen Arbeiten über Vorstellungen von anderen Ländern - drei sehr unterschiedliche Fragen verbunden: Erstens wird darin eine Art Erforschung der internationalen Beziehungen mit anderen Mitteln gesehen. Die Geschichte des Frankreichbildes der Deutschen hat unter dieser ersten Fragestellung den Zweck, die Beziehungen der beiden Länder nicht nur aus der engen Perspektive der Regierungen und Auswärtigen Ämter zu schreiben, sondern das politischen Frankreichbild in der breiteren, deutschen öffentlichen politischen Meinung zu behandeln, um auf diese Weise den Druck der Öffentlichkeit auf die Außenpolitik, gleichzeitig aber auch fundamentale Einstellungen und Motivationen der entscheidenden Politiker zu erfassen. Die Geschichte des deutschen Frankreichbildes ist in dieser ersten Sicht ein Teilaspekt der Geschichte der deutschen Frankreichpolitik. Eine zweite Richtung von Historikern geht besonders seit dem Zweiten Weltkrieg mit einer ganz anderen Intention an das Frankreichbild der Deutschen heran: Sie befaßt sich vor allem mit den deutschen Vorurteilen gegenüber Frankreich und den Franzosen. Diese Stereotypenforschung versucht im Kern und mit guten Gründen, wichtige historische Hemmnisse und Voraussetzungen für friedliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland zu erforschen, gleichzeitig aufklärerisch zu wirken und auch unter den eigenen Zeitgenossen zum Abbau von Feindbildern auf beiden Seiten des Rheins beizutragen. Ihr ging es in starkem Maße darum, negative Stereotypen aufzuspüren, zu erklären, aber auch vor 1945 meist gescheiterte, historische Gegenbewegungen zu untersuchen und in Erinnerung zurückzurufen. Häufig geht diese historische Stereotypenforschung über das engere politische Frankreichbild der Deutschen hinaus und behandelt auch kulturelle, wirtschaftliche und soziale Stereotypen. Drittens schließlich sehen Historiker die Geschichte des deutschen Frankreichbildes als Teil der fundamentalen, viele Leidenschaften erregenden Diskussion in Deutschland über die Fortschritte und Gefahren der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung des

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Landes. Diese Debatten wurden nicht immer direkt über neue Institutionen, Wirtschaftsformen und Lebensweisen im eigenen Land, sondern oft gleichsam stellvertretend über andere Länder geführt, in denen man die neue Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bereits vor sich zu sehen glaubte. In diesem dritten Sinn ist die Frankreichdiskussion der Deutschen Teil der zeitgenössischen Debatte über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Jeder dieser drei Fragestellungen macht einen Sinn. Dieser Essay verfolgt beschränkt auf die soziale Entwicklung - die dritte, bisher selten aufgeworfene Frage: In der Zeit zwischen 1870 und 1914, mit der sich dieser Essay befaßt, befand sich Deutschland genauso wie Europa als Ganzes mitten in der heftigen Debatte über die tiefgreifende Umbruchsituation der Industrialisierung, die die Deutschen genauso wie die anderen Europäer teils ängstigte und zutiefst verunsicherte, teils begeisterte und zu noch mehr Industrialisierung anspornte. Ganz ohne Zweifel war Frankreich in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts für Deutschland wie für viele andere Länder Europas eine solche doppelsinnige Leitgesellschaft gewesen. In der Entwicklung des Bürgertums, der bürgerlichen Revolution, der Arbeiterbewegung, der Sozialpolitik, der Stadtplanung galt Frankreich für viele Zeitgenossen als eines der wichtigsten sozialen Experimentierfelder der Modernisierung, unabhängig davon, ob sie diese Modernisierung bekämpften oder für das eigene Land wünschten.1 Spielte für die Deutschen die französische Gesellschaft auch noch im Bismarckschen Kaiserreich diese Rolle? In seinem Mitteleuropabuch von 1915 zeichnete Friedeich Naumann für die Zeit nach 1871 ein völlig anderes Bild: 1 Vgl. für das Frankreichbild der Deutschen: Christadler, M., Deutschland und Frankreich. Alte Klischees und neue Bilder, Duisburg 1981; Goubard, Danielle, Das Frankreichbild in der Zeitschrift "Der Türmer" (Jg. 1898-1920). Ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie, Diss. Aachen 1977; Kolboom, 1., Zur Rezeption der französischen Gewerkschaftsbewegung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik. Eine bibliographische Skizze, in: Lendemains 2, Heft 78 (Juni 1977), S. 5-30; Poidevin, R, Bariety, J., Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen, 1915-1975, München 1982; v. Uthemann, J., l..e diable est-il allemand? Paris 1984; Nurdin, J., Images de Ia France en Allemagne 1870-1970, in: Ethno-psychologie 26(4), decembre 1971, 389-414; Badia, G., Das Frankreichbild der Weimarer Zeit. Faszination und Ablehnung in der deutschen Literatur, in: Knipping, F., Weisenfeld, E. (Hg.), Eine ungewöhnliche Geschichte. Deutschland und Frankreich seit 1870, Bonn 1988; Klemperer, V., Das neue deutsche Frankreichbild (1914-1933). Ein historischer Überblick, in: Beiträge zur romanischen Philologie 1961, S. 17-61 und 1963, S. 70-117; Fischer, F., Das Bild Frankreichs in Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in: Revue d'Allemagne 4, 1972, S. 509-519; Simon, D., Das Frankreichbild der deutschen Arbeiterbewegung 1859-1865, Gerlingen, 1984- Diesem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, der am 10.11.1988 auf dem französisch-deutschen Historikertreffen in Banz gehalten wurde. Für eine sehr anregende Diskussion bedanke ich mich bei den Teilnehmern dieser Tagung.

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"Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 bedeutete", schrieb er in der nationalistischen Sprache der Zeit, "die endgültige Befreiung Mitteleuropas von Frankreich.... Unser gegenwärtiges Geschlecht (weiß) kaum mehr, welchen Einfluß Frankreich vor diesem Krieg auf weite Kreise Süd- und Mitteldeutschlands ausübte .... Der französische Zauber mußte", so Naumann weiter in der Sprache der Kriegsnationalismen, "erst einmal gründlich beseitigt werden und wurde glänzend gebrochen. "2

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien wurden in Naumanns Sicht die Länder, die in den Köpfen der Deutschen den Vorrang erhielten. Sicher waren diese Äußerungen primär außenpolitisch und kulturell gemeint. Trotzdem mögen sie gegen den Strich gelesen auch ein Fünkchen gesellschaftshistorischer Realität widerspiegeln: Haben die Deutschen nach 1871 ihren weitaus bedeutendsten westlichen Nachbarn auch als gesellschaftliches Modell vergessen und sich in ihrer Diskussion über sozialen Wandel und Modernisierung im positiven wie im negativen Sinn auf andere Modelle, vor allem auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien konzentriert? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zuerst damalige Vorstellungen der Deutschen von der französischen Gesellschaft beschreiben. Ich werde dann als zweites fragen, ob diese Vorstellungen richtig sind und mit der sozialhistorischen Realität übereinstimmen. Als drittes werde ich kurz versuchen, eine Erklärung für das Bild der Deutschen von der französischen Gesellschaft zu finden. Dabei muß ich den Leser um etwas Geduld bitten. Dieser Aufsatz behandelt ein fast schwarzes Loch, wenig geschichtliches Geschehen. Ich hoffe, der Leser wird mir darin folgen, daß es trotzdem interessant genug ist, um sich darüber Gedanken zu machen.

Naumann, F., Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 52. Noch 1882 schildert ein französischer Reisebericht das Modell Frankreich in Europa so: "Ist nicht Europa fortwährend in Abhängig-_ keit von Frankreich? Obwohl die politischen Zustände dieses Landes schon seit Jahrzehnten nicht weniger als beneidenswerth sind, werden sie allgemein bewundert und nachgeahmt. In der ganzen inneren Politik des Deutschen Reiches ist kaum ein eigener Gedanke zu entdecken, alles ist von Frankreich abgelauscht oder rundweg nachgemacht. Spanien, Italien, Österreich, Belgien und andere Länder bewegen sich in genau denselben von den Franzosen vorgezeichneten Bahnen. In geistiger Hinsicht ist es nicht besser." (Kuhn, H., Französische Zustände der Gegenwart, Freiburg 1882, S. 3); für einen zurückgehenden Einfluß Frankreichs in Deutschland in der Kultur- und Ideengeschichte, allerdings beginnend schon mit dem Sturm und Drang und der Romantik eine zeitgenössische französische Einschätzung: Reynaud, L., Histoire general de l'influence francaise en Allemagne, Paris 1914; zum vorwiegend negativen deutschen Frankreichbild seit 1871 vgl. Klemperer, Frankreichbild, S. 26 ff.; Fischer, Bild Frankreichs; Nurdin, Images; Simon, Frankreichbild; dagegen für ein positives Interesse Spezialisten an französischen Gewerkschaften vgl. Kolboom, Rezeption, S. 6 ff.

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I.

Deutsches Desinteresse und deutsche Negativvorstellungen von der französischen Gesellschaft Die Deutschen des Kaiserreichs scheint die französische Gesellschaft - im Unterschiede zur französischen Politik und Kultur - weitgehend gleichgültig gelassen zu haben. Eine Durchsicht von deutschen Reise- und Erfahrungsberichten über die Gesellschaft Frankreichs stützt Naumanns Sicht unter anderen Vorzeichen durchaus. Es gab zwar viele Deutsche, die in Frankreich reisten und lebten, aber kaum Bücher zu diesem Thema. Trotz intensiven Suchens sind für diesen Artikel nur rund fünfzehn einschlägige Bücher gefunden worden. Einige von ihnen stammen von bekannten Autoren wie dem Historiker Heinrich von Sybel oder dem Publizisten Karl Hillebrand. Andere sind von Unbekannten geschrieben, die meist sehr lange in Frankreich gelebt hatten. Weiteres Suchen wird wahrscheinlich weitere Bücher entdecken lassen. Trotzdem dürfte nicht nur die Zahl bescheiden bleiben: auch ein Frankreichbuch vom epochenübergreifenden Einfluß Friedrich Sieburgs Gott in Frankreich oder Ernst Robert Curtius Französische Kultur brachte das Kaiserreich nicht hervor. Das ist um so erstaunlicher, als es zu dieser Zeit umgekehrt viele Bücher von Franzosen über die deutsche Gesellschaft gab. Ich habe mit dem gleichen Zeitaufwand allein in bundesrepublikanischen Bibliotheken ungefähr fünfzig französische Erfahrungs- und Reisebeschreibungen über die deutsche Gesellschaft erfaßt. Besonders in den 1880er Jahren und unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg stiegen die Publikationen von Franzosen an, die nach Deutschland gereist waren und mit ihren Büchern offensichtlich ein starkes öffentliches Interesse erhofften? Eine eigentümliche Asymmetrie des Interesses an der Gesellschaft auf der jeweils anderen Seite des Rheins! Das französische Interesse an der deutschen Gesellschaft war so stark, daß eine bekannte Studie dazu nach 1945 "La crise allemande de la pensee fran~aise" genannt wurde. Ein Buch über die "crise fran~aise de la pensee allemande" im Kaiserreich ist dagegen nicht vorstellbar.

Soweit wir es in Erfahrung bringen konnten, erschienen von diesen französischen Reiseund Erfahrungsberichten in den 1870er Jahren rund fünf, in den 1880er Jahren über zehn, in den 1890er und in den 1900er Jahren etwas weniger, allein zwischen 1910 und 1914 über fünfzehn. Auch in späteren Epochen der deutschen Geschichte scheinen solche Erfahrungsberichte häufiger publiziert worden zu sein als im Kaiserreich vor 1914. Für die kune Weimarer Republik fanden wir spürbar mehr (23) und für die Zeit seit 1945 um ein Vielfaches mehr (63), selbst für die kunen Epochen des Ersten Weltkrieges (12) und der NS-Zeit (16) etwas mehr. Sicher liegen unsere Zahlen zu niedrig. Von der Proportion zwischen den einzelnen Epochen dürften sie aber doch einen groben Eindruck geben.

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Die wenigen Bücher, die im Kaiserreich über die französische Gesellschaft geschrieben wurden, richteten sich meist - das betonten sie jedenfalls immer wieder - gegen zu negative Vorstellungen der Deutschen.4 Obwohl sie selbst die französische Gesellschaft überwiegend positiv einschätzten, sind sie deshalb indirekt eher ein Beleg für ein negatives Image der französischen Gesellschaft in Deutschland. Vor allem gegen vier deutsche Negativvorstellungen über Frankreich gingen diese Bücher oft an, stützten sie freilich auch manchmal: die wirtschaftliche Leistungsschwäche Frankreichs, die luxuriösen Lebensweisen des französischen Bürgertums, das gefühlskalte, traditionelle französische Familienleben und den Formalismus der französischen sozialen Beziehungen. Im folgenden werde ich mich vor allem auf diese Reise- und Erfahrungsberichte stützen. Sie haben zwei große Vorteile: Sie enthalten eingebaute, erfahrungsgesättigte Beschreibungen der französischen Gesellschaft und geben gleichzeitig meist sehr deutlich den Blickwinkel an, aus dem sie Wertungen fällen. Sie enthalten gleichzeitig nicht selten Vergleiche zwischen Frankreich und Deutschland, wichtig für die Motive des Frankreichbildes. Sie haben allerdings auch Schwächen: Ihre Zahl ist zu klein, als daß man Wandlungen des Frankreichbildes erkennen könnte. Sie müßten ergänzt werden durch ähnliche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, vielleicht auch durch Memoiren, Briefe etc. von Deutschen, die in Frankreich lebten oder reisten. Es ist auch nicht immer leicht, diese Frankreichbilder genau zu datieren, da sie manchmal auf Erfahrungen aus jahrzehntelangen Zeiträumen aufbauen. Sie bieten direkt nur das Frankreichbild einer kleinen Minderheit von Frankreichkennern. Man kann nur indirekt aus dem, wogegen diese Bücher anschreiben, erkennen, was das allgemeine Frankreichbild gewesen sein kann. Umgekehrt sind sie auch keine wirklichen Spezialistenberichte, die ich nicht als Quellen benutzte, weil ihre Arbeiten nur für ein sehr schmales Publikum gedacht waren. Sie und andere Quellen wie Romane oder Schul- und Jugendbücher habe ich primär über Sekundärliteratur zu erschließen versucht. Hier nun einige Proben aus den Reise- und Erfahrungsberichten. Vor einer Unterschätzung der französischen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit warnen diese Bücher immer wieder: "Solche unermüdliche Arbeit und Thätigkeit, solche geizige Ausnutzung der Zeit wie in Paris habe ich", schrieb 1882 ein Deutscher, der mehr als dreißig Jahre in Paris gelebt hatte, "in keiner anderen deutschen Stadt gefunden. In Berlin namentlich führt der Ge-

Allerdings doch überwiegend negativ: S. Kolisch, Auf dem Vulkan. Pariser Schilderungen, Stuttgart 1868; außerdem die im Ersten Weltkrieg erschienenen und wohl schon von der Kriegspropaganda bestimmten Bücher von: Eberhardt, K., Ein Jahr in Paris. Skizzen und Kulturbilder nach den Erinnerungen und Beobachtungen eines Deutschen, Wien 1917; Schäfer, D., Deutschland und Frankreich, Berlin 1914.

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Hartmut Kaelble schäftsstand ein so behagliches, bequemes Leben, daß ein Vergleich mit Paris gar nicht anzustellen ist.,.s

Ebenso ein unbekannter schwäbischer Arzt in einem 1877 erschienenen Buch: "Und machen uns Fremden nicht die Pariser selbst dieses GenuGleben vor, ... thun sie etwas anderes als genießen? lrrthum, ungeheurer Irrthum! ... In Paris wird ... ungeheuer viel gethan, gearbeitet, tüchtig, schnell, flink gearbeitet von Morgen bis zum Abend und in allen möglichen Handwerken und geistigen Thätigkeiten. Ja, ich behaupte es dreist, der Pariser ist der fleißigste Mensch von der Welt."6

Der Historiker Heinrich von Sybel warnte in einem unmittelbar nach dem Krieg von 1870/71 gehaltenen und um "Verständniß" und "richtige Erkenntniß" Frankreichs werbenden Vortrag vor einer Unterschätzung Frankreichs im allgemeinen und auch in wirtschaftlicher Hinsicht. "Wir könnten das tüchtigste Volk der Erde werden", sagte Sybel im Reichsgründungspathos der 1870er Jahren, "wenn wir im wirtschaftlichen Verkehr, in Ackerbau und Industrie, in Wissenschaft und Kunst von den starken Seiten der Franzosen lernen."7 Auch andere Bücher warnten vor einer zu negativen Einschätzung der französischen Wirtschaft, die damals in Deutschland verbreitet gewesen sein muß. Allerdings darf man diese Diskussion nicht zu modern sehen. Ihr fehlt noch ein ganz wesentliches Element der Debatte der Wirtschaftshistoriker nach dem Zweiten Weltkrieg über Frankreichs Wirtschaft des 19. Jahrhunderts: der Vorwurf des zu malthusianischen, zu sehr an Sicherheit orientierten, zu wenig innovations- und risikobereiten französischen Unternehmers. Zwar sprechen die Erfahrungsberichte über Frankreich diesen Unternehmer immer wieder an. Aber er wird von ihnen gebilligt und gutgeheißen. Nicht nur die Unternehmer in Frankreich, sondern auch diese deutschen Schriftsteller dachten malthusianisch. Der Schumpetersche Unternehmer ist für sie immer noch "amerikanische Verderbnis".8

5 Kuhn, H., Französische Zustände der Gegenwart, Freiburg 1882, S. 47; ähnlich 1886 der Publizist Karl Hillebrand, der rund zwanzig Jahre in Paris gelebt hatte: "Viele Ausländer halten die Franzosen jeder anstrengenden, regelmäßig fortgesetzten Arbeit unfähig. Das ist ein großer lrrthum. Nirgends wird mehr gearbeitet als in Frankreich.• (Hillebrand, K., Frankreich und die Franzosen, Straßburg 1886, S. 33). 6 Ave.Lallemant, R, Wanderungen durch Paris aus alter und neuer Zeit, Gotha 18n, S. 307 f. 7 Sybel, Frankreich, S. 16. Sybel mußte offensichtlich von massiven Negativvorstellungen über Frankreich in Deutschland ausgehen, wenn er schrieb: "Es wäre sehr verkehrt, (die Franzosen) gering zu schätzen und sie als verkommenes Volk zu verachten. Sie sind fleißig, geschmackvoll, und übertreffen uns heute auf manchen Gebieten; es wäre die größte Wohlthat der Welt, wenn sie es uns möglich machten, uns widerum wie vor dem Kriege, im Austausch der beiderseitigen Vorzüge zu ergänzen." (Ebd., S. 15 f.) 8 Schmitz, OA.H., Das Land der Wirklichkeit der französischen Gesellschaftszustände, 3. Aufl., München 1914, S. 268.

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Ein zweites deutsches Negativurteil, das die Bücher bekämpften (manchmal auch massiv stützten), war das Bild von den galanten französischen Ehebeziehungen und vom kalten französischen Familienleben. Einer der wenigen deutschen Negativberichte noch aus den 1860er Jahren stützt dieses Urteil durchaus. "Was weiß der Pariser von dem harmlosen Glück der Familie, das bescheiden im engen Kreise sich einschließt und scheu von der Bewegung und dem Geräusch des Marktes sich zurückzieht. Die Kinder sind nicht im Hause, sie sind meilenweit entfernt von dem Herzen der Eltern, in Confikten, bei Ammen und Pflegern, damit sie beim Erwerben und Genießen nicht stören."9

Der Publizist Karl Rillebrand dagegen 1886 nach rund zwanzig Jahren Leben in Frankreich: "Niemandem ist es unbekannt, wie die französische Familie auf die Vernunftehe gegründet ist, doch pflegt man im Auslande das Verhältniß oft viel zu roh aufzufassen .... Die meisten französischen Ehen sind glücklich - glücklicher oft als unsere Neigungsheirathen.... Untreue und Ehebruch sind in den Mittelständen äußerst selten, und das Familienleben ist durchschnittlich ein herzliches, beinahe inniges.... Kinder, gewöhnlich zwei bis drei an der Zahl, bilden ... das einzige Interesse, die einzige Sorge der Eltern, deren Zärtlichkeit die Grenzen der besonnenen Liebe weit übersteigt."10

Ganz ähnlich 1882 ein Deutscher, der rund dreißig Jahre in Paris gelebt hatte: "Im Uebrigen steht es um die Familienverhältnisse unendlich besser, als man nach gewissen Bühnenstücken glauben könnte, welche in Deutschland mit Vorliebe übersetzt und aufgeführt werden. Die meisten Ehen weisen ein sehr befriedigendes, ja musterhaftes Familienleben auf, wozu freilich auch der sehr verträgliche, zuvorkommende und immer ritterliche Charakter der Franzosen viel beiträgt. Selbst Arbeiter erheben keine Hand gef,en ihre Frauen, wenn diese, was ja auch vorkommt, sich thätlich an ihnen vergreifen." 1

Auch die Häuslichkeit der französischen Familie erschien diesen Deutschen stärker entwickelt als in Deutschland. "Das Wirthshausgehen der Gatten" schrieb einer der deutschen Beobachter der französischen Gesellschaft, "ist unbekannt."12 Ebenso wurde die starke Stellung der Frau in der französischen Familie und der französischen Gesellschaft, ihren - wie sich ein Autor erstaunt ausdrückt - "so hervorragenden Antheil und Einfluß im gesellschaftlichen Leben, in Kunst, Literatur und Politik" immer wieder herausgestrichen.13 Gleichzeitig treten diese Bücher der deutschen Vorstellung von der Kolisch, S., Auf dem Vulkan, Stuttgart 1868, S. 278. Hillebrand, K, Frankreich und die Franzosen, ?? Auflage, Straßburg 1886, S. 13-16; ebenso: Eberhardt, K, Ein Jahr in Paris, Wien 1917, S. 32. 11 Kuhn, H., Französische Z~stände der Gegenwart, Freiburg 1882, S. 155. 12 Hillebrand, Frankreich, S. 15. 13 Kuhn,H., Französische Zustände, S. 156; in die gleiche Richtung: Hillebrand, Frankreich, S. 10

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puren Pariser Gesellschaftsdame entgegen, die für Haushaltsarbeit weder Sinn noch Kenntnisse besaß. "Es gibt", schreibt ein anderer Erfahrungsbericht etwas bissig, "keine trefflicheren Haushälterinnen als die Französinnen, die, ohne mit der Haushälterei auf deutsche Weise zu prahlen, den Hausstand mit umsichtiger und fester Hand zu leiten wissen."14

Insgesamt wird man freilich auch diese Texte eher als Indikator für ein skeptisches deutsches Bild von der französischen Familie ansehen müssen: Die französische Familie galt offensichtlich in Deutschland als traditional, da die Ehepartner immer noch zu sehr von ihren Familien ausgesucht und zusammengebracht wurden und Ehen daher zu wenig aus Zuneigung der Ehepartner zustandekamen: als traditional wurde die französische Familie selbst in diesen ansonsten positiven Berichten angesehen, weil die Mädchen in Frankreich immer noch zu behütet, zu stark abgeschirmt, zu wenig auf Selbständigkeit hin erzogen wurden; als traditional galt die französische Familie schließlich auch, weil junge Männer in Frankreich weniger als in Deutschland von ihrer Herkunftsfamilie familiär und wirtschaftlich selbständig werden wollten und auch als längst Erwachsene in ihren Karrieren und familiären Entscheidungen zu sehr auf Familienbeziehungen bauten. Wieder einer der Berichte: "Während die germanische (englische wie deutsche) Familie ... mit der Emancipation der Kinder und der Gründung neuer Herde sich naturgemäß auflöst, oder doch nur noch an schwachen Fäden zusammenhängt, dauert die französische Familie ... noch lange nachher in gleicher Geschlossenheit fort. Rührend ist oft die Liebe der erwachsenen Söhne für ihre Mutter anzusehen, und nicht allein Bruder und Schwester, auch Vetter und Vettersvetter halten zusammen ..., bilden eine dauernde Association."15

Ein drittes negatives Urteil der Deutschen über die französische Gesellschaft, das diese Bücher zu revidieren versuchten, war der luxuriöse bürgerliche Lebensstil vor allem in Paris. "Sparsamkeit und Genügsamkeit", schrieb ein Berichterstatter 1917 über seine Erfahrungen vor dem Weltkrieg, "sind treffliche Eigenschaften weiter französischer Bevölkerungskreise."16 Ähnlich wiederum Karl Rillebrand 1886: 55 f.; ähnlich auch der erstaunte Bericht eines schwäbischen Antes: "Und dazu haben auch Frauen und Töchter des Handwerkerstandes seltsam fleißige Hände. Alle helfen mit, in Stände hinein, in denen die Cooperation von Frauenhänden gar nicht vermuthet werden sollte. Das männliche Geschlecht ist fast überall Producent; es arbeitet hinten im Hause. Die Frauen und Töchter bringen die Waren dann an den Mann. In unglaublich vielen Läden, was auch immer in ihnen verkauft werden mag, verkaufen nur junge Mädchen, während die ältere Dame an der Thür in dem 'comptoir' sitzt und die Controle, besonders das Verkaufsbuch führt." (Ab~­ Lallemant, Paris, S. 105 f.); ähnlich: Femau, H., Die französische Demokratie. Sozialpolitische Studien aus Frankreichs Kulturwerkstatt, München 1914, S. 268-279. 14 Hillebrand, Frankreich, S. 55 f. 15 Hillebrand, Frankreich, S. 22. 16 Eberhard, Paris, S. 47.

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"Wie sparsam der Franzose ist, beginnt man allgemein auch im Ausland anzuerkennen. Nie gibt der Franzose des Mittelstandes sein Einkommen ganz aus.... Wir arbeiten gern viel, um viel auszugeben; die Verschwendung des reichen Amerikaners namentlich grenzt an das Unglaubliche. Der Franzose gibt nie etwas Unnöthiges aus. Sehr selten trifft man einen Franzosen, der, wie der deutsche Familienvater, eine Flasche Champagner springen läßt, Landpartien organisiert, Reisen untemimmt." 17 "Der amerikanischen Verderbnis (d.h. "Geld verdienen und Vergnügen")", schrieb ein Autor in einem in mehreren Auflagen erschienenen Frankreichbuch direkt vor dem Ersten Weltkrieg, "erliegen nur einige ziemlich eng begrenzt pariserGasthofviertel und Vergnügungsorte. Im übrigen erscheinen die alten Formen der französischen Wohlhabenheit und des Lebensgenusses in würdevoller Einfachheit gegenüber dem, was man bei uns 'Aufmachung' nennt. Noch immer kostet man in fast schlichten, mit ein paar Spiegeln ausgestatteten Räumen die sorgfältigen Werke der französischen Kochkunst."18

Gleichzeitig streichen diese Berichte die aus der deutschen Perspektive erstaunliche Wirkung des bürgerlichen sozialen Modells in der französischen Gesellschaft heraus. Besonders die Wirkungen dieses Modells auf den Adel und auf die proletarisch gesinnten Arbeiter war für deutsche Beobachter keine Selbstverständlichkeit: "Die Gleichheit", schrieb ein deutscher Frankreichreisender 1881 über die französische Aristokratie, "besteht nun einmal und mit allem ihrem Luxus ist die reaktionäre Aristokratie nicht im Stande, im heutigen Paris eine 'erste Gesellschaft' zu bilden. Eine solche ist unmöglich in einer Gemeinschaft, die an ihrer Spitze keinen Hof kennt. Der unglücklichste Einfall, auf den die Reaktion gerathen konnte, war der, durch Verschwendung ihren Rang zu wahren. In der Verschwendung kann es ihr die Welt der Börse und ... Bourgeoisie gleich thun. •19

Ein anderer Bericht beschreibt die Wirkung des bürgerlichen Lebensmodells auf die unteren Schichten in einem Bild: "Der französische gesellschaftliche Bau zeichnet sich durch eine Unzahl Balkone aus, auf denen die Gutwohnenden sich zeigen, um dem, was um sie herum geschieht, jeden Augenblick Beifall zu spenden. Dadurch bleiben denen unten Sitte und Stil jener Begünstigten stets gegenwärtig. Auf den verschiedenen Balkonen bilden sich Meinungen,

17 Hillebrand, Frankreich, S. 29 f.; selbst ein sonst über die französische Gesellschaft negativ urteilender Bericht schreibt: " Weitab die meisten pariser Bourgois haben sich zu ihrer bürgerlichen Existenz mühsam, im Schweiße ihres Angesichts emporgearbeitet. Der Wirth war Kellner, der Kaufmann Ladendiener, der Fabrikant Arbeiter gewesen. Diese Emporgekommenen unterscheiden sich von den in bürgerlichen Verhältnissen Erzogenen durch eine womöglich noch glühendere Liebe zum Gelderwerb, durch eine stoische Enthaltsamkeit von allem kostspieligen Genuß und Zeitvertreib, durch eine Sparsamkeit, die jeder materiellen wie moralischen Versuchung widersteht." (Kolisch, S., Auf dem Vulkan, Stuttgart 1868, S. m). 18 Schmitz, Französische Gesellschaftszustände, S. 269 f. (das in Klammem eingesetzte Zitat kurz davor S. 268). 19 Nordau, M., Paris unter der Dritten Republik, 2. Aufl., Leipzig 1881, S. 28 f.

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Hartmut Kaelble und schließlich wird die Meinung des ersten Stocks (also der Belle Etage, des feinsten Stockwerks, H.K.) angenommen.•:w

Ein viertes deutsches Negativurteil hatte mit den französischen Umgangsformen zu tun. Offensichtlich gab es in Deutschland eine verbreitete Vorstellung von artifiziellen, rein rethorischen, gefühlsarmen, wenig dauerhaften gesellschaftlichen Beziehungen der Franzosen. Auch gegen dieses Urteil gingen die Berichte über die französische Gesellschaft an und widmen ihm lange Passagen. "Natur und Bildung haben aus dem Franzosen•, schrieb ein deutscher Autor enthusiastisch, "das vollendetsie Gesellschaftswesen geschaffen, das die Menschheit kennt." Er verteidigt die französischen Formen des sozialen Umgangs gegen die deutschen Vorwürfe. "Wir Deutschen nehmen die Dinge ... gleich gar ernst .... Die 'Bekanntschaft', dieses angenehm reizende gesellige Verhältnis, genügt dem empfindsamen Deutschen nicht; entweder stehen ihm Menschen fern oder sie werden Busenfreunde.... Die Wahrung der individuellen Freiheit in Freundschaftsverhältnissen scheint ihm Egoismus oder Mangel an Vertrauen."21

Hier greift der Autor zu kurz. Für die bürgerlichen, sich vom Adel absetzenden, deshalb ursprünglich emanzipatorisch verstandenen Lebensweisen des 19. Jahrhunderts in Deutschland war neben der Intimfamilie, auf die wir soeben kamen, die intensive, dauerhafte, lebenslang gedachte Männerfreundschaft ein zentrales liberales Ideal menschlichen Zusammenlebens, das in Studentenverbindungen ebenso wie an Stammtischen und in Turnvereinen praktiziert wurde. In Autobiographien gerade auch von Liberalen oder Sozialisten spielen solche Freundschaften, manchmal in einsamen Landschaften auf langen, philosophischen Nachtgesprächen zelebriert, eine große Rolle. Der französische soziale Umgang wurde aus diesem Blickwinkel als zu aristokratisch, zu höfisch, zu traditionell eingestuft - sicher ein grobes Mißverständnis, aber wichtig für das damalige deutsche Verständnis der französischen Gesellschaft. In einigen Punkten waren allerdings auch die deutschen Reiseberichte über die französische Gesellschaft negativ und versuchten, zu positive Urteile der Deutschen zu korrigieren. Das gilt vor allem für die angeblich größere gesellschaftliche Gleichheit in der Dritten Republik. "Die soziale Gleichheit", schrieb ein Deutscher, der dreißig Jahre in Frankreich gelebt hatte, " ... beschränkt sich tatsächlich darauf, daß der letzte wie der erste Franzose seine Mahlzeiten mit Dejeuner, Diner, Souper bezeichnet, gleichviel, aus was dieselben

20 Schmitz, Französische Gesellschaftszustände, S. 151.

21 Hillebrand, Frankreich, S. 42 f.; ähnlich über die französischen Umgangsformen: Eberhard, Paris, S. 112; Kolisch, S., Auf dem Vulkan, Stuttgart 1868, S. 21 ff; über die "rethorischen Übertreibungen" der Franzosen: Schmitz, Französische Gesellschaftszustände, S. 22 f.

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bestehen. ... Sonst ist die Scheidung der einzelnen Klassen, Stände und Berufsarten meist so scharf als irgendwo. •22

Ähnliche der schon mehrfach zitierte Karl Hillebrand: "Das den Franzosen fälschlich zugeschriebene Gleichheitsbedürfnis verträgt sich sehr wohl mit Auszeichnungen aller Art, und es gibt deren so viele, daß es jedem vergönnt ist, wenigstens einer derselben zu genießen: Kreuze und Bändchen, Preise und Würden, Adelstitelehen und akademische Sessel sind in solcher Anzahl vorhanden, daß auch der bescheidenste Verdienst etwas abzubekommen hoffen darf."23

Drei Themen, die man aus der Retrospektive des Historikers erwarten würde, tauchen dagegen in diesen Frankreichberichten nicht sehr breit und auch nicht als französischer Rückstand auf: das Erziehungssystem, die Sozialpolitik und die Arbeiterbewegung. Fast nur Spezialisten berichten darüber für Spezialisten.24 Selbst in diesen meist ausgewogenen Spezialistenberichten tauchen manchmal Pauschalurteile wie etwa die "Rückständigkeit der Franzosen auf sozialpolitischen Gebieten"25 oder französische "Mängel in der Jugendbildung" auf.26 II.

Der Wirklichkeitsgehalt der deutschen Vorstellungen War an diesem eher ins Negative gehende Desinteresse der Deutschen an der französischen Gesellschaft etwas Richtiges? Hatte sich der einstige Modernitätsvorsprung der französischen Gesellschaft gegenüber Deutschland seit 1871 immer mehr in einen Rückstand verkehrt und suchten sich die Deutschen aus diesem Grund ihre Leitbilder in anderen entwickelten Gesellschaften wie den USA oder Großbritannien? Die Antwort ist nicht eindeutig. Es gibt Argumente dafür und dagegen. Ich möchte das Für und Wider kurz Revue passieren lassen. Dabei beschränke ich mich exemplarisch auf Themen, die in den Erfahrungs- und Reiseberichten der Deutschen angesprochen wurden: auf die wirtschaftliche Entwicklung, auf die Familie und auf das Bürgertum. Andere Themen, die aus der Sicht der deutschen Besucher Frankreichs - also auch der Spezialisten - wichtig waren wie das Erziehungssystem, die Stadtplanung, die Sozialpolitik, die Kirchen und die Religiosität 22 Kuhn, H., Französische Zustände der Gegenwart, Freiburg 1882, S. 14.

Hillebrand, Frankreich, S. 47; ähnlich: Eberhard, Paris, S. 128 ff. Vgl. für ein starkes Interesse von deutschen Spezialisten, häufig Sozialisten, an der französischen Gewerkschaftsbewegung Kolboom, Rezeption, S. 6 ff.; eingeschränkter: Simon, Frankreichbild; Bouvier, B., Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung, Bonn 1982. 25 Femau, H., Die französische Demokratie. Sozialpolitische Studien aus Frankreichs Kulturwerkstatt. München 1914, S. 43 (ygl. sein UrteilS. 38 ff.). 26 Femau, H., Französische Demokratie, S. 143 f. 23

24

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oder die autoritären Elemente in der deutschen Gesellschaft, lasse ich hier aus Raumgründen aus. Für einen französischen Rückstand gibt es tatsächlich eine ganze Reihe von Argumenten, die freilich fast alle nicht nur aus historischen Fakten bestehen, sondern in die meist auch starke Bewertungen eingehen. Umgekehrt gibt es allerdings immer auch gewichtige Gegenargumente. Zuerst zur wirtschaftlichen Entwicklung und hierbei widerum zuerst die Argumente für das wirtschaftliche Zurückfallen Frankreichs: Frankreichs Wirtschaft und vor allem Frankreichs Industrieproduktion, die in den 1860er Jahren noch eher über der deutschen lag, fiel bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs nach heutigen wirtschaftshistorischen Berechnungen und auch in der Einschätzung der deutschen und französischen Zeitgenossen weit hinter Deutschland zurück. Besonders in den Führungssektoren der damaligen wirtschaftlichen Entwicklung, in der Eisen- und Stahlindustrie, in der chemischen und Elektroindustrie, überstieg die deutsche Produktion die französische bald weit. Die Gesamtzahl der Industriearbeiter, die in den 1860er Jahren in beiden Ländern noch ungefähr gleich gewesen war, lag um 1910 in Deutschland fast doppelt so hoch wie in Frankreich. Die deutschen Unternehmer waren größer, waren nicht mehr so häufig Familienunternehmen, nutzten weit häufiger die modernen Formen der Unternehmensintegration und -diversifikation und konnten sich auf eine der modernsten Betriebswirtschaftslehren stützen. Die Kapazitäten für die Ausbildung nicht nur von Ingenieuren, Naturwissenschaftlern und Betriebswirten, sondern auch von Facharbeitern, waren in Deutschland erheblich größer. Dynamischer war Deutschland - so weiter das Argument - vor allem auch in den technologischen Innovationen und im Außenhandel. Die französisch-deutsche Patentbilanz war stark positiv für Deutschland. Der Export Deutschlands auf dem Weltmarkt hatte sich seit den 1860er Jahren weit über den französischen Export hinausentwickelt Bei genauerem Hinsehen stimmt dieses Schwarz-Weiß-Bild allerdings so nicht ganz. Der deutsche Vorsprung wird überschätzt. Das wirtschaftliche Wachstumper capita lag in Frankreich nur während der 1870er und 1880er Jahre erheblich niedriger als Deutschland, nicht mehr dagegen ab den 1890er Jahren. In den nachträglichen Berechnungen der Wirtschaftshistoriker ist es keineswegs eindeutig, daß am Vorabend des Ersten Weltkrieges die preisbereinigte Wirtschaftsleistung per capita in Frankreich niedriger war als in Deutschland. Die französische Industrie hatte durchaus ebenfalls ihre Stärken, nicht nur in den eher traditionellen Luxus- und Konsumgüterindustrien, sondern auch in sehr modernen Industrien wie dem Automobil- oder Flugzeugbau. Auch die preisbereinigten Wachstumsraten der Industrieper capita waren in den letzten beiden Jahrzehnten vor 1914 in Deutschland nicht eindeutig höher als in Frankreich. Der Bildungsvorsprung Deutschlands - ein

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Thema, das das zeitgenössische Frankreich sehr bewegte - war in den für die Wirtschaft wichtigen Berufen nicht so eindeutig, wohl für Ingenieure, aber nicht für Naturwissenschaftler und für Betriebswirte. Vor allem beruhte das raschere Wachstum der jährlichen wirtschaftlichen Produktion in Deutschland nicht so sehr auf Produktionsfortschritten, sondern vor allem auch auf einem weit höheren Bevölkerungswachstum, das zu einem weit größeren deutschen Arbeitskräftereservoir, aber auch zu einer weit größeren Nachfrage vor allem im deutschen Bausektor und in der deutschen Konsumgüterproduktion führte. Insgesamt ist es deshalb irreführend, von einem globalen deutschen wirtschaftlichen Vorsprung zu sprechen. Gerade der deutsche Weg einer raschen wirtschaftlichen Expansion in raschem Bevölkerungswachstum führte auch zu deutlichen Krisenerscheinungen, zu einer kürzeren Lebenserwartung, zu mehr erzwungener räumlicher Mobilität, in den Ballungsgebieten auch meist zu einer angespannteren Situation in den schulischen und medizinischen Versorgungsleistungen. Insgesamt wurde der Leistungszuwachs der deutschen Wirtschaft überschätzt und gleichzeitig die negativen Auswirkungen des deutschen Wachstumspfades unterschätzt.27 Auch die Entwicklung der französischen Familie kann man als einen Rückstand hinter Deutschland und den angelsächsischen Ländern ansehen. Die moderne Zwei-Generationen-Familie setzte sich in Deutschland ähnlich wie in Nordeuropa und England erheblich früher durch als in Frankreich. Die modernen, auf bloßer Zuneigung beruhende Auswahl des Ehepartners begann auch nach Ansicht von französischen Zeitgenossen in Deutschland früher als in Frankreich; auch nach französischen Quellen war schon um 1900 die Erziehung der Mädchen in Deutschland ähnlich wie in den angelsächsischen Ländern freizügiger, weniger abgeschirmt gegenüber gleichaltrigen Männern; auch französische Quellen registrieren die erheblieb frühere wirtschaftliche Selbständigkeit junger deutscher Männer gegenüber ihren Eltern und betonen wiederum die Ähnlichkeit Deutschlands mit angelsächsischen Ländern. Man kann deshalb davon ausgehen, daß sich die heute übliche Eigenständigkeit junger Erwachsener tatsächlich in Frankreich langsamer durchsetzte. Rechtshistoriker glauben sogar, daß das Familienrecht des 1900 in Kraft getretenen BGB's erbeblich moderner war als der um 1900 im wesentlichen noch gültige Code Napoleon. Trotzdem wäre auch hier ein pauschales Urteil über ein rückständigeres Frankreich falsch. In einigen wesentlichen Hinsiebten scheint die französische Familie moderner gewesen zu sein als die deutsche- modern nicht als Wertung, sondern einfach als Nähe zum heutigen Zustand. Nach Aussagen, die Ausführlicher auch mit Hinweisen auf die lange Debatte hierüber: Kaelble, H., Industrialisierung in Frankreich und Deutschland, in: Treue, W., Hg., Geschichte als Aufgabe. Festschrift für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1968, S. 323-355.

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von beiden Seiten des Rheins stammen, war das Verhältnis der französischen Eltern zu ihren Kindern vorsorglicher, zärtlicher, stärker auf gesundheitliche Sicherheit, auf sorgfältige individuelle Erziehung bedacht. Was wir vorher von Rillebrand hörten, ist keine vereinzelte Stimme. Darüber hinaus war auch die Situation der Frau in Frankreich der heutigen näher: ihre Lage in der Familie war gleichberechtigter; darüber hinaus war sie besonders als verheiratete Frau weit häufiger außer Haus berufstätig und besaß in Frankreich in halbakademischen und akademischen Berufen erheblich bessere Ausbildungs- und Berufschancen. Auch in der Familiengeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wäre es deshalb aus der Sicht des heutigen Historikers vorschnell und verkehrt, von mehr Modernität in Deutschland zu sprechen.28 Selbst in der Geschichte des Bürgertums gibt es Argumente für einen deutschen Vorsprung, die allerdings unter den Zeitgenossen noch selten auftauchten. Das deutsche Bürgertum wird oft als moderner angesehen, weil schon vor 1914 das traditionelle Familienunternehmen zumindest unter den Spitzenunternehmen spürbar zurückging und der moderne Manager schon damals in der deutschen Wirtschaft mit Figuren wie Kirdorf oder Hugenberg bis in die Politik hinein eine erheblich größere Bedeutung besaß als in Frankreich. Das deutsche Bürgertum wird vor 1914 in ganz anderen Teilen und in einem ganz anderen Sinn auch deshalb als moderner angesehen, weil es sich stärker als die französische Bourgeoisie auf kommunaler wie staatlicher Ebene für Sozialreformen einsetzte und die frühen Anfänge der Sozialgesetzgebung in Deutschland mittrug und intellektuell mit anregte. Schließlich wird das deutsche Bürgertum auch manchmal als weiterentwickelt angesehen, weil es schon vor 1914 weit schlagkräftigere, einflußreichere und weiterverzweigtere Interessengruppen als das französische Bürgertum aufgebaut hatte und darin im Prinzip schon fast den Entwicklungsstand der Gegenwart erreichte. Besonders in der Geschichte des Bürgertums gibt es aber starke Gegenargumente gegen einen deutschen Vorsprung. Das französische Bürgertum war vor allem anderen in der Eroberung der politischen Macht und in der Erreichung einer bürgerlichen Regierung weit erfolgreicher als das deutsche Bürgertum, das vor 1914 die Macht immer noch mit der Land- und Beamtenaristokratie teilte und im Zentrum der politischen Macht, am Hof, den es in Frankreich nicht mehr gab, nur eine inferiore Stellung zugestanden bekam. Das französische Bürgertum war vor 1914 aber auch erfolgreicher in der Durchsetzung eines bürgerlichen Denk- und Lebensmodells. Konkurrierende aristokratische, aber auch proletarische Lebensmodelle waren in Frankreich 28 Vgl. dazu ausführlicher das Kap. 2 meines voraussichtlich 1990 erscheinenden Buches über die "Sozialgeschichte Frankreichs und Deutschlands im 20. Jahrhundert•.

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erheblich schwächer als in Deutschland. Schließlich war das französische Bürgertum in sich auch etwas einheitlicher und eine geschlossenere soziale Klasse als das deutsche Bürgertum. Sicher war auch das französische Bürgertum etwa in der Einstellung zur Kirche gespalten. Das deutsche Bürgertum fiel aber nicht nur in der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kirchen auseinander, sondern war auch in seinen Heiratskreisen, in seinen sozialen Kontakten, in der Berufswahl der Söhne und damit den inneren Verflechtungen stärker in sich zersplittert.29 Im ganzen sind daher die deutschen Entwicklungsvorsprünge so begrenzt und umgekehrt französische Entwicklungsvorsprünge so deutlich, daß sich daraus das damalige deutsche Desinteresse an der französischen Gesellschaft nicht erklären läßt. Sicher war die französische Gesellschaft nicht mehr in jeder Hinsicht weiterentwickelt. Aber es blieben immer noch eine ganze Reihe klarer Vorsprünge, die für die Deutschen ohne Zweifel wichtig gewesen wären und von denen sie hätten lernen können. Darin hatte der anfangs zitierte Heinrich von Sybel nicht nur 1873, sondern auch noch 1913 (übrigens auch noch 1989) recht. III.

Die Erklärung für das deutsche Desinteresse Warum aber dann das deutsche Desinteresse? Deutsche nationalistische Arroganz besonders gegenüber dem Land, gegen das sich die deutsche Nation während der Napoleonischen Ära definierte? Folgen der Erbfeindschaft? Späte Folgen der Verschiebung der Leitregion Europas vom Mittelmeer auf den Nordwesten und im 19. und 20. Jahrhundert auf das angelsächsische Modell? Diese Erklärungen haben manches für sich. Ich möchte eine zusätzliche Erklärung vorschlagen. Im europäischen Gesamtrahmen gingen die französische und deutsche wirtschaftliche und soziale Entwicklung damals sehr unterschiedliche Wege. Die deutsche Industrialisierung war viel zu sehr an der Entwicklung der Produktionsgüterindustrie, der Großunternehmen, der Exportexpansion, der raschen Expansion der modernen Beschäftigungen orientiert, als daß sie noch vom französischen Weg der Industrialisierung, der Konzentration auf Konsumgüter und auf den Binnenmarkt, der langsameren Stadt- und modernen Beschäftigungsexpansion lernen konnte. Die deutsche Familie war zu sehr von der großen Zahl der Kinder, von den extremen Anforderungen einer langen Elternphase, von der schieren Unmöglichkeit, für ihre zahlreichen Kinder lebenslange Sicherheit anbieten zu können, gefangen, 29 Kaelble, H., Französisches und deutsches Bürgertum 1870-1914, in: Kocka, J. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3. Bände, Bd. 1, München 1989" 107-140.

s.

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als daß sie von der französischen Familie das intensive individuelle Eingehen auf die Kinder, die Idee der Großfamilie als lebenslange Absicherung oder die Lebensperspektive von Frauen hätte übernehmen können, in der die Elternphase nur eine begrenzte Phase des Lebens war. Das Kaiserreich mit seinem starken Gewicht von Hof und Aristokratie bot dem Bürgertum so viel wirtschaftlichen Spielraum und wirtschaftliche Wachstumschancen, so viel gesellschaftliche Stabilität, so viel Sicherheit und Prestige für freie Berufe, so viel Verbürgerlichung im Recht, in den Wissenschaften, in den Stadtverwaltungen, in den Interessenorganisationen, daß das weit davon abliegende republikanische und liberale Modell des französischen Bürgertums wenig Anziehungskraft besaß. Ähnliches ließe sich für die Stadtplanung, für die Bildungspolitik, für die Sozialpolitik, für die Organisation der Arbeiterbewegung, für das Verhältnis von Staat und Kirche, sagen.30 In ihrer inneren Logik lagen daher beide Gesellschaften so weit auseinander, daß es nur noch schwer möglich war, Substantielles voneinander zu lernen und Institutionen vom einen in das andere Land zu übernehmen. Insgesamt hatten sich die Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands vor 1914 so weit auseinanderentwickelt, daß die Unterschiede zwischen ihnen fast nur noch Anlaß zu Unverständnis, Konflikten und Ideologiekonstrukten wie etwa Friedrich Naumanns "Mitteleuropa" boten. Ein stimulierendes Modell, das viel besucht, beschrieben und diskutiert wird, war Frankreich dagegen für Deutschland gesellschaftlich nicht mehr. Auch diese Entwicklung hat viel zur französisch-deutschen Entfremdung vor 1914 beigetragen. Aus dem Rückblick erscheint uns diese Situation außergewöhnlich, da beide Gesellschaften heute in ihren Strukturen und Lebensweisen weit weniger verschieden sind und da heute Franzosen und Deutsche durch eigene persönliche Erfahrungen auch weit mehr voneinander wissen, deshalb eher voneinander lernen, seltener Ideologien der wechselseitigen Fremdartigkeit aufbauen. Darin liegen wohl die Gründe dafür, warum seit ungefähr zehn Jahren in den Meinungsumfragen zwischen Franzosen und Deutschen Vertrautheit und daher auch Vertrauen vorherrscht. Noch vor fast sechzig Jahren schrieb ein bekannter deutscher Historiker, Johannes Haller, in seinem Buch über tausend Jahren deutsch-französische Beziehungen: "Daß Deutschland und Frankreich aufeinander angewiesen und im Grunde naturliehe Verbündete seien, ist oft behauptet worden, von Gelehrten und Staatsmännern, deren Urteil etwas wiegt. Die Geschichte hat sich dennoch nie daran gekehrt, sie ist ihren Weg in entgegengesetzter Richtung gegangen.•31

Vielleicht hat sich die Geschichte nicht immer daran gekehrt, was Gelehrte sagen. Aber umgekehrt hat sie sich doch. 31

Argumente, die ich in dem genannten Buch ausführlicher behandeln möchte. Haller, J., Tausend Jahre deutsch-französische Beziehungen, Stuttgart 1936, S. 230.

Massen, charismatische Führer und Industrialismus. Erklärungspotentiale eines Denktypus. Von Erhard Stölting Verschiedene paradigmatische Blicke konstituieren den modernen Massenbegriff. Der erste ist der einer Person von einer erhabenen Stelle aus etwa einem Balkon. "Masse" sind dann zunächst nur die vielen Menschen auf dem Platz oder der Straße. Jeder einzelne von ihnen ist nicht als Individuum erkennbar, sondern wirkt als Partikel einer Gesamtheit. Der Beobachter kann versuchen, die Partikel zu zählen oder ihre Anzahl zu schätzen, also Statistik zu treiben. Er kann auch versuchen zu erschließen was die Menschen unten tun, also ansatzweise empirische Sozialforschung zu unternehmen. Genauere Auskünfte bekäme er erst dann, wenn er hinuntersteigt. Aber dann verlöre er vielleicht das Ganze aus dem Auge. So aber kann die Ununterscheidbarkeit der Partikel im Blick von oben den Schluß nahelegen, daß sie tatsächlich homogenisiert seien. Der Begriff "Massengesellschaft" scheint nicht mehr unplausibel zu sein. Die Menge, die lediglich aus vielen Partikeln besteht, ist jedoch nicht das, was die Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts unter "Masse" verstand. Der Begriff trägt dann, wenn die vielen Partikel etwas gemeinsam tun: einem Redner lauschen, in Sprechchöre ausbrechen, Barrikaden bauen, ein Gebäude plündern oder Menschen lynchen. Alle scheinen zu einer erregten Einheit verschmolzen. Der Beschauer sieht eine Leidenschaft, die er nicht teilen kann, weil er sie nicht versteht. Was sich aber der verstehenden Vernunft entzieht, gilt selbst als unvernünftig. Die durch eine gemeinsame Erregtheit vereinigte Masse ist irrational und gefährlich. Anders ist es, wenn der Beobachter seine Distanz aufgibt. Was er vorher nur bei den anderen sah, nimmt er nun an sich selbst wahr. Er empfmdet seine Individualität als aufgehoben, verwandelt und in einem neuen Ganzen eingeschmolzen. Er ahnt, aus wie vielen Partikeln sich die Masse zusammensetzt, wie groß und stark sie also ist; und indem er nun in ihr aufgegangen ist, ist er selbst groß und stark geworden. Er steht unter einem euphorisierenden Bann. Schließlich ist es möglich, daß die Masse den erhabenen Beobachter ebenfalls anschaut. Wo dieser Blick der Masse nicht feindselig ist, kann der Beobachter versuchen, die Blicke festzuhalten und zu lenken. Dafür aber

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muß er, ohne seine erhabene Stellung aufzugeben, selbst Teil der Masse geworden sein - oder doch zumindest so tun können. Dann erscheint seine Stimme als die der Masse selbst; in ihm als Individuum verkörpert sich die Masse. Das Gefühl der Stärke und die Euphorie, das alle einte, wird auf ihn projiziert. Er wird zum Idol.

Der Blick von oben Der befremdete und besorgte Blick auf die erregte Menge hat die Massenpsychologie des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und damit den Massenbegriff, der noch heute verwendet wird, geprägt. Neu war dieser Blick und die mit ihm verbundene Erfahrungsform nicht. Ihr Widerhall fmdet sich bereits im Begriff der "anarchia" der antiken Staatsphilosophie.1 Der gefährliche Pöbel, der der lenkenden Obrigkeit entglitten ist, ist auch eine mittelalterliche Erfahrung. 2 Seine abschließende Formulierung hat dieser Massenbegriff aber erst im späten 19. Jahrhundert bei Gustave Le Bon gefunden.3 Dieses Werk hat über seine schiere Verbreitung einen ungeheueren Einfluß ausüben können.4 Die Masse fmdet nach Le Bon ihre seelische Einheit (unite mentale) in einer Art "Kollektivseele" (äme collective). Diese Kollektivseele verändere die Einzelindividuen grundlegend; sie ist eine Kraft, "qui les fait sentir, penser, et agir d'une fa~on tout a fait differente de celle dont sentirait, penserait et agirait chacun d'eux isolement".5 Die Wirkung dieser Kraft ist als Ansteckung oder Hypnose zu denken. Sie löscht jene zivilisatorischen Errungenschaften, die das Individuum erst hervorgebracht hatten: die Vernunft und die Moral. Sie führt die Menschen in einen Zustand vorzivilisatorischer Barbarei zurück. Die Massen gleichen daher nicht zufällig den Primitiven, den Kindern und den Frauen.6 Sie sind leichtgläubig, beeindruckbar, intolerant, autoritär und konservativ. Sie sind spontan, gewalttätig, wild, enthusiastisch und heroisch.7 Auf Ideen reagieren sie nur, wenn diese zur äußersten Primitivität vereinfacht und Teil des allgemeinen Gefühlshaushaltes wurden. Die Masse denkt in BilDierse, U., Art. Anarchie, Anarchismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 267 f. 2 Southem, R W., Western Society and the Church in the Middle Ages, Harmondsworth 1970, 304 ff. 3 Le Bon, Gustave, Psychologie des foules, Paris 1904. 4 Nye, Robert A., The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London und Beverly Hills 1975, S. 3 f.; Moscovici, Serge, Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München 1984, 71 ff. s Le Bon, S. 15. 6 Le Bon, S. 27; Vgl.a. Barrows, Susanna, Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late Nineteenth-Century France, New Haven und London 1981, S. 46 ff. 7 Le Bon, S. 20.

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dern oder Symbolen, die keinen logisch konsistenten Zusammenhang haben müssen. Sie allein setzen die Massen in Erregung: "Seules les images les terrifient ou les seduisent, et deviennent des mobiles d'action".8 Indem sich das Individuum in der größeren Einheit auflöst hat es das euphorische Gefühl, Teil einer unbesiegbaren Macht zu sein. Dieses Allmachtsgefühl wird durch keine rationalen und moralischen Hemmungen mehr eingeschränkt, die das zivilisierte Individuum kennzeichneten.9 Das entlastet allerdings auch den distanzierten Beobachter von moralischen Bedenken; zur Not wird er schießen lassen. Denn wenn jetzt eine schlagkräftige Armee oder eine Polizei fehlt, wird sich gesellschaftliche Ordnung auflösen. In dieser Extremsituation zeigt sich, daß jede gesellschaftliche Ordnung auch eine Herrschaftsordnung ist - zumindest insofern sie die in der Masse verkörperte Amoralität und Unvernunft unterdrückt. Der Blick des Massenpsychologen ist zunächst ohne Sympathie für die Masse; er steht auf der anderen Seite der Barrikade. Und er weiß noch aus eigener Anschauung, was Barrikaden sind. So ist die Massenpsychologie eine begriffliche Antwort auf die gesellschaftlichen Umbrüche, auf die Revolutionen und Aufstände des 19. Jahrhunderts.10 Unmittelbarer Anlaß war die Pariser Kommune. 1878 erschien die Neuinterpretation der französischen Revolution von Hippolyte Taine. Die revolutionären Massen von 1789 waten nach ihm nicht das französische Volk, sondern: "contrebandiers, faux-sauniers, braconniers, vagabonds, mendiants, repris de justice".11 Alle großen Aufstände zögen derartige Übeltäter, die zu allem fähig sind, an, hoffnungslose Strolche, die wie die Wölfe sich immer dort einfmden, wo sie Beute wittern.12 Aber sie sind nur der sichtbare und führende Abschaum einer Frenesie, die auch biedere Bürger ergreift, wenn die Dämme von Gesetz und Institution brechen. Dann heben die triebhaften Wünsche auch den Unterschied zwischen Illusionen und Wirklichkeit auf. Der Pöbelläßt sich von Phantasmen und Visionen leiten.13 Schuld an der Katastrophe von 1789 aber tragen die Phantasmen der Aufklärung. Indem ihr abstrakter egalisierender Geist die konkrete differenzierende Vernunft der Geschichte leugnete, habe er auch die institutionellen Dämme zerstört und die Barbarei freigesetzt. Nichts konnte die immer anwesenden aber bislang unterdrückten Triebe nun aufbalten. Le Bon, S. 56. Le Bon, S. 18. 10 Tilly, Charles, Louise Tilly, Richard Tilly, The Rebellious Century, 1830-1930, Cambridge, Mass. 1975. 11 Taine, Hippolyte, Les Origines de Ia France contemporaine, vol. 2, La Revolution, töme 1, Paris 1878, S. 18. • 12 Taine, S. 19 f. 13 Taine, S. 293. 9

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Die dem Massenbegriff zugrunde liegenden begrifflichen Dichotomien Natur gegen Vernunft, Barbarei gegen Zivilisation - verweisen zugleich auf andere, die in Taines Darstellungen zu historischen Realitäten werden: Die rebellischen Massen waren nicht nur triebhaft also weiblich und unvernünftig also berauscht; angeblich stürzten sie sich zunächst auf den Alkohol und angeblich waren es obszön enthemmte Frauen, die die Gewaltorgien ins Extrem trieben. 14 War es bei Taine noch ein vormoderner Pöbel, der die Revolution beging, so gelang es Emile Zola in seinem Roman "Germinal", das Bild der triebhaften und gewalttätigen Masse anschaulich auf die Industriearbeiterschaft zu übertragen. 15 Ein sozialistischer Intellektueller mit den besten Absichten löst hier einen Aufstand aus, dessen zerstörerisches Rasen er nicht mehr kontrollieren kann. Auch hier läßt sich die Masse durch Alkohol enthemmen, auch hier sind es die Frauen, die die grauenhaftesten Verbrechen begehen. 16 Zola war für die Massenpsychologen von nun an zitierbare Quelle, zumal er selbst als Freund der Arbeiter galt. Die Massenpsychologen haben diesem anschaulich entfalteten Begriff eine wissenschaftliche Form gegeben. Wie bei den rassistischen Autoren jener Zeit diente ein naturwissenschaftliches Pathos dabei dazu, das Erbe der Aufklärung - Egalitarismus, Humanität und Demokratie - als gemeingefährliche Illusion zu kennzeichnen. Gemeinsamer heuristischer Bezugspunkt war zunächst ein Kalkül der "emotionalen Resonanz", das Espinas vorgeschlagen hatte. Mit ihm sollte erklärt werden, weshalb die sonst ängstliche Ameise ohne zu zögern ihr Leben opfert, wenn sie von ihresgleichen umgeben ist. 17 "Emotionale Resonanz" war transformierbar in "Suggestion", in "Hypnose" oder "Nachahmung". Strittig war die Frage, ob alle Menschen hypnotisch anfällig seien, ob die Hypnose also eine Theorie der Vergesellschaftung fundieren könne, oder ob es Personen gebe, die sich ihr entziehen können. Die Vertreter der Schule von Nancy, Ambroise Liebault und Hippolyte Bernheim, meinten, daß alle Menschen hypnotisierbar seien. Auf dieser These baute Gabriet Tarde seine Theorie der Vergesellschaftung durch Imitation auf.l 8 Das Massenphänomen war ein gesellschaftlicher Normalzustand, mit dem technisch umzugehen war. JeanMartin Charcot hingegen verstand Hypnotisierbarkeit als Krankheitssymptom. Auf die Massentheorie übertragen hieß das, daß die Masse eine - möglicherweise heilbare - gesellschaftliche Krankheit sei. Allerdings ließ sich die Gesellschaft dann selbst biologisch nach Graden der Suggestibilität in Schwa14 Taine, S. 128 ff., S. 36 ff. und passim. 15 Zola, Emile, Germinal, Paris 1885. 16 Barrows, S. 102 f. 17 Espinas, Alfred, Les Societes animales, Paris 1924 (1876), S. 88 ff. 18 Tarde, Gabriel, Les Lois de l'imitation, Paris 1890.

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ehe und Starke klassifizieren, wie es Scipio Sigbele im Rahmen der Kriminologie tat. Zwar enthalte jede Geselligkeit den Keim einer Massenbildung; aber manche, vor allem Frauen und Kinder, fielen ihr leichter zum Opfer. Da bei der Massenbildung der freie Wille jedoch ausgeschaltet sei, könne man bei Massenverbrechen nicht von Schuld sprechen. Die Mitglieder einer verbrecherischen Masse seien daher von den geborenen Verbrechern auch im strafrechtlichen Sinne zu unterscheiden.19 Natürlich mußte der Aufstand aber erst einmal niedergeschlagen werden. Der Diskurstypus, den die Massenpsychologie geschaffen hatte, blieb ausbaufähig, ohne daß er sich noch grundlegend veränderte. Die Masse konnte, wie bei Canetti, als Urphänomen der Menschheit gedacht werden.20 Sie konnte der Verachtung durch das kultivierte liberale Individuum anheimfallen, das sich seine seelische Tiefe bestätigte.21 Sie konnte Ausgangspunkt machttechnischer Überlegungen werden. Ihr Begriff - besser noch ihre Anschaulichkeit- durchdrang die soziale Imagination und Wahrnehmung. 22 Die wissenschaftliche Qualität des massenpsychologischen Ansatzes muß an dieser Stelle nicht beurteilt werden.23 Aber geradezu aufdringlich scheint dieser Begriff der Masse die Vorurteile seiner Schöpfer zu transportieren. Zumindest in ihren historischen Behauptungen sind die Massenpsychologen auch widerlegt worden.

Massenbegriff und industrielle Gesellschaft Was die neuere sozialgeschichtliche Forschung zeigte, war, daß die soziale Zusammensetzung der gewalttätigen Mengen je nach Zeit und Ort sehr unterschiedlich war. Sie rekrutierten sich keineswegs aus den verbrecherischen oder asozialen Schichten. Ihre Gewalt war immer selektiv und zielgerichtet und ließ die Moral und die Weltbilder der Beteiligten differenziert erkennen. Gegen Taine und Le Bon und ihren Begriff der "Masse" erhellte etwa Georges Lefebvre gerade jene Momente in der französischen Revolution, die sich als massenpsychologische Prozesse hätten deuten lassen.2A Die genaue Sighele, Scipio, Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen (La Folia delinquente), Dresden und Leipzig 1897 (1891); Nye, Robert A., Heredity or Milieu: the Foundation of Modem European Criminological Theory, in: Isis 67, 1976, 335-355. 20 Canetti, Elias, Masse und Macht, Harnburg 1960. 21 Typisch hierfür war etwa Leopold von Wiese, vgl. Stölting, Erhard, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986, S. 299 ff., 312 ff. 22 Theweleit, Klaus, Männerphantasien, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 548 ff., Bd. 2, S. 7 ff. 23 Favre, Pierre, Gabriel Tarde et Ia mauvaise fortune d'un "bapteme sociologique" de Ia science politique, in: Revue Franc;aise de Sociologie 24, 1981, 3-30; Thiec, Yvon J., Jean-Ren~ Tr~anton, La Foule comme objet de "science", in: Revue Franc;aise de Sociologie 26, 1983, 119136. 2A Lefebvre, Georges, La grande peur de 1789, Paris 1988 (1932); Rud~, George, Georges

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Nachzeichnung der kulturhistorischen Voraussetzungen und des Wegs, den Gerüchte nahmen, ließ von "Irrationaljtät" und "Instinktivität" wenig übrig. An ihrer Stelle sah Lefebvre kollektive Mentalitäten und Klassifikationen, die sich langfristig herausbilden und in Kommunikationsprozessen immer wieder aktualisiert werden. Innerhalb so entstehender Weltbilder werden Erfahrungen gemacht und verarbeitet. Geht man davon aus, daß alle rationalen Prozesse unabgeleitete begriffliche Voraussetzungen haben, läßt sich auch das Handeln rebellischer Massen als rationales deuten. Auch antiaristokratischer Haß und Rachedurst französischer Revolutionsmassen erscheinen dann als ihre Reaktion auf eine Verschwörung, die sie für real hielten und vor der sie sich fürchteten. Die Tatsache, daß es diese Verschwörung nicht gab, machte die Reaktion noch nicht zu einer psychotischen; das Weltbild mußte eine Verschwörung erwarten lassen. Selbst das Lynchen kann Lefebvre dann als soziales Handeln fassen: Die lynchende Gruppe habe die kollektive Vorstellung, daß, wer immer einen Teil des sozialen Körpers angreife, bestraft werden müsse.2S In vergleichbarer Weise identifizierten George Rude, Eric Hobsbawm und Richard Cobb Trägerschichten und Motive aufständischer Massen.26 Dabei wurde deutlich, daß weder die entwurzelten, atomisierten Proletarier noch jene Bevölkerungsteile, die von den Marxisten später als "Lumpenproletariat" beschimpft wurden, die Träger des gewaltsamen Protestes waren. Das galt auch für Deutschland.v Viel eher waren es traditionelle, von Deklassierung bedrohte, aber noch nicht zerstörte Unter- und Mittelschichten, die sich mit vertrauten und von ihnen für legitim gehaltenen Methoden zur Wehr setzten. Edward P. Thompson brachte diesen Konflikt auf den Begriff, in dem Bevölkerungen an den Kategorien einer "moralischen Ökonomie" festhielten und

Lefebvre as Historian of Popular Urban Protest in the French Revolution, in: ders., The Face of the Crowd. Studies in Revolution, ldeology and Popular Protest, Atlantic Highlands 1988, 107114. 2S Lefebvre, Georges, Les Foules revolutionnaires, in: ders., Lagrande peur, S. 241-264. 26 Rude, George, The Crowd in the French Revolution, Oxford 1959; ders., The Crowd in History, New York 1964; Hobsbawm, EJ. und George Rude, Captain Swing, New York 1968; Cobb, Richard, The Police and the People, Oxford 1970; Thomis, Maleolm I., Zielsetzung gewaltsamer Protestbewegungen in Großbritannien, 1800-1848, in: W.G. Mommsen und G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, 32-46; Tilly, Richard, Sozialer Protest als Gegenstand historischer Forschung, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1980, 175-196. Z7 Tilly, Richard, Unruhen und Proteste in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest, 143-174; Herzig, Arno, Unterschichtenprotest in Deutschland, Göttingen 1988, Frankfurt a.M., 1981, S. 52 ff.; Wirtz, Rainer, "Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle. Tumulte und Skandale". Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815-1848.

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sich gegen die Durchsetzung durchgängiger Marktbeziehungen und gegen deklassierende Industrialisierung zur Wehr setzten.28 Damit wurde jedoch ein weiterer Erklärungsansatz problematisch, der das Entstehen der Massen - und in ihrer Verallgemeinerung auch der "Massengesellschaft" - auf die Durchsetzung des Kapitalismus und der großen Industrie bezog. "Entwurzelung", "Anonymität", "Entfremdung" im psychologischen Sinne haben diesen Prozeß zweifellos begleitet. Zu kollektiven Massenaktionen führten aber sie gerade nicht. Nicht einmal die These, daß plötzliche Urbanisierung, Übervölkerung und Beziehungslosigkeit Aufstände gefördert habe, läßt sich halten. 29 Sie haben im Gegenteil kurzfristig Konflikte sogar unmöglich gemacht, indem sie in gemeinsamen Begriffen verankerte soziale Gruppen und Milieus zerstörten. Es bedurfte mindestens einer Generation, um neue soziale Netze zu knüpfen und kulturelle Gemeinsamkeiten zu entwickeln, auf deren Basis kollektive Aktionen wieder möglich wurden.30 Es scheint also doch viel eher der befremdete und fremde Blick von oben gewesen zu sein, der dem Massenbegriff seine Plausibilität verlieh. Industrialisierung und U rbanisierung schufen eine neue soziale Klasse, die sichtbar war, aber den Bürgern fremdartig blieb. Der historische Bruch zwischen vorindustriellem "Pöbel" und industriellem "Proletariat" wurde durch psychologische Gleichsetzung gekittet?1 Die sozialistischen und die Arbeiterbewegungen konnten so als Fortsetzung der Sansculotten erscheinen, deren blutige Hände Taine so eindrucksvoll beschrieben hatte. Gegen ihre Manifestationen half nur drakonische Gewalt, die den befürchteten Greueln zuvorkommen sollte. Anders ausgedrückt: Die Massen im Sinne der Massenpsychologie waren eine soziale Realität, weil sie als solche von oben her wahrgenommen wurden und weil sie nicht nur folgenreiche militärische und polizeiliche Aktionen motivierten, sondern dem Individualisierungsstreben der gebildeten Schichten als negativer Bezugspunkt dienten.

28 Thompson, Edward P., Die "moralische Ökonomie der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: ders., Piebeisehe Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1980, 66-130; ders., The Making of the English Working Class, Harmondsworth 1968, S. 66 ff. 29 Chevalier, Louis, Classes Iaborleuses et classes dangereuses a Paris pendant Ia premiere moitic! du XIXe siecle, Paris 1958. 30 Tilly, Charles, Louise Tilly, Richard Tilly, S. 86 ff. 31 Conze, Wemer, Vom Pöbel zum 'Proletariat'. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Wehler, H.-U., (Hg.), Modeme deutsche Sozialgeschichte, Köln und Berlin 1966, S. 111-136.; ders., Proletariat, Pöbel, Pauperismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 127-168.

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Gelenkte Massen Die Furcht vor unvorhersehbaren und unbeherrschbaren gesellschaftlichen Explosionen aber war auch der Arbeiterbewegung nicht fremd. Erst das organisierte Proletariat, das sich von den Tumultuanten, den plündernden und brandschatzenden Menschenmengen, dem "Janhagel" distanzierte, sollte als revolutionäre Kraft verstanden werden?2 Die Sorge vor ungesteuerten Massenaktionen war ebenso stark wie bei den Konservativen. Begrifflich half die Trennung von "Proletariat" und "Lumpenproletariat".33 Das Vorzeigen von Disziplin war zugleich ein Mittel die Arbeiterklasse als vernunftbegabt zu präsentieren. Am 3. März 1910 etwa wartete die Berliner Polizei vergeblich im Treptower Park auf eine verbotene Großdemonstration. Die disziplinierten Massen waren heimlich in den Tiergarten umgeleitet worden. Aber der Polizeipräsident war nicht nur blamiert sondern auch beruhigt. Nun konnte er öffentliche Versammlungen genehmigen.34 Die friedlichen Demonstranten im Sonntagsstaat, die sich von instruierten Ordnern dirigieren ließen, erschienen nur reaktionären Karikaturisten noch als Gefahr.35 In diesem Sinne war die Arbeiterbewegung an der Zivilisierung der Unterschichten beteiligt.36 Mit Diszipliniertheil reagierte die Parteiführung aber nicht nur auf die besorgte Furcht vor dem marodierenden Pöbel, eine Furcht, die immer wieder präventive Blutbäder verursachte. Die Arbeiterklasse sollte durch ihre massenhafte Anwesenheit ihre Kraft zeigen, und dahinter steckte implizit immer auch die Drohung des Aufstandes. Die Berufung auf die Massen und ihre Stärke, die einem weitergehenden martialischen Vokabular nicht entgehen konnte, nahm auch in den sozialistischen Bewegungen Begriffe der Massenpsychologie auf. Daß es sich hierbei nur um das gleiche Wort für vollkommen andere Sachverhalte handeln würde, hieße die geistesgeschichtliche Bedeutung politischer Antagonismen überschätzen. Begriffe überfliegen Barrikaden nicht weniger leicht als Kugeln. Voraussetzung war allerdings eine positive Umwertung der "Masse". Nun hatten sie Subjekt der historischen Entwicklung zu sein. Der Begriff der Masse war als Gegenstück zu dem des "Volkes" entstanden. In der antirevolutionären Darstellung und Deutung der französischen Revolution bei Taine hatte er die Stelle des "peuple" in der bisher kanonischen prorevolutionären Darstellung Michelets eingenommen.37 Negative FoAls die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster "friedliche Straßendemonstration" im preußischen Wahlrechtskampf 1908-1910, hg. vom Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft, Tübingen 1986, 85 ff. 33 Herzig, S. 108 ff. 34 Als die Deutschen demonstrieren lernten, S. 46. 35 Als die Deutschen demonstrieren lernten, S. 42 f., 46 ff. 36 Donzelot, Jacques, La Police des familles, Paris 1977, S. 49 ff., S. 91 ff. 37 Michelet, Jules, Histoire de Ia Revolution franc;aise, Paris 1952; Becher, Ursula-A.J.,

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lie war nun ein ideal gedachtes Ancien Regime, das funktional der Mittelaltersehnsucht der Romantik in Deutschland entsprach. Die moderne bürgerliche Gesellschaft konnte sich als Synonym auch das Etikett "Massengesellschaft" zulegen. Aber nach ihrer ursprünglichen begrifflichen Fassung schon war die Masse nicht nur triebhaft und anarchisch, sondern auch gläubig und stark gewesen. Wie das Volk war sie damit dafür geschaffen, zum Träger der geschichtlichen Entwicklung zu werden. Das praktische Problem bestand dann darin, sie zu zähmen, um dann ihre Kraft zu nutzen. Schon bei Le Bon sind die Massen zwar blind und folgen Illusionen; ihretwegen sind sie ebenso bereit, andere zu massakrieren, wie sich massakrieren zu lassen. Es kommt nur auf die Art der Illusionen an. Denn die Massen sind ebenso fähig zu Verbrechen wie zu jenen heroischen Taten, mit denen Geschichte gemacht wird: "Herolsmes un peu inconscients, sans doute, mais c'est avec ces heroi'smes-la que se fait l'histoire."38 Die Masse wird somit zum eigentlichen Schöpfer der Geschichte. Nicht durch die Vernunft, sondern trotz ihr, hätten Ehre, Opferbereitschaft, Glauben und Patriotismus zu den großen Gestaltungsmächten aller Kulturen werden können.39 An dieser Stelle setzte Georges Sorel mit seinem revolutionären Massenbegriff die von Taine, Zola, Tarde und Sighele inaugurierte Tradition fort.40 Sein Begriff des "Mythos" war ganz im Sinne der "Illusionen" Le Bons aufgebaut. Seine Funktion besteht darin, die Massen in Bewegung, d.h. zum Kampf zu bringen.41 Damit stand der Begriff des Kampfes selbst im Zentrum. Der Mythos war auf ihn hin instrumentalisiert. Es kam darauf an, daß sich - mit einem heutigen Slogan gesprochen - "überhaupt etwas bewegt". So war der Übergang vom kompromißlosen Anarchosyndikalismus zum kompromißlosen Nationalismus theoretisch bruchlos.42 Auch andere Massenpsychologen wie Le Bon und Sighele bezogen rechtsextremistische Positionen, nachdem das gesellschaftlich möglich geworden war.43 Methodenkonzeption und politische Funktionalisierung der Geschichtsschreibung Frankreichs im 19. Jahrhundert, in: C. Meier, J. Rüsen (Hg.), Historische Methode, Beiträge zur Historik 5, München 1988, S. 181-199. 38 Le Bon, S. 21. 39 Le Bon, S. 140. 40 Barrows, 147 ff.; Nye, Robert A., Two Paths to a Psychology of Social Action: Gustave Le Bon and Georges Sore!, in Journal of Modem History45, 1973,411-438. 41 Sore!, Georges, Über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1969.; ders. La Psychologie du socialisme, in: Revue Internationale de Sociologie 7, 1899, S. 153-155. 42 Röhrich, Wilfried, Der Mythos der Gewalt. Sore!: Vom Syndikalismus zum Faschismus, in: Mommsen, Hirschfeld (Hg.), S. 290-302, hier S. 297 ff. 43 Nye, The Origins of Crowd Psychology, S. 83 ff.; Barrows, 126 ff., Geiger, Roger L., Democracy and the Crowd: The Social History of an Idea in France and ltaly, 1890-1914, in: Societas 7, 1977, S. 47-71.

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Die aktivistische Neufassung des Massenbegriffs warf jedoch ein neues Problem auf: das der Aktivierung. Der leidenschaftliche Wille zur gewalttätigen Hingabe mußte bei den Menschen, die es vorzogen, ihren profanen Alltagsverrichtungen nachzugehen, erst geweckt werden. Die Klage über die Verbürgerlichung der sozialistischen Bewegung, die meist von jungen radikalen Intellektuellen vorgetragen wurde, ist so alt wie die sozialistische Bewegung selbst. Die Gestalt des intellektuellen Revolutionärs, der vergeblich nach den revolutionären Massen Ausschau hält und versucht, sie wenigstens auf dem Papier lebendig werden zu lassen, hat seinen Cervantes noch nicht gefunden. Der Massenbegriff scheint sich damit zu spalten. In seiner konservativen Fassung kam es darauf an, die leidenschaftlichen Massen zu dämpfen, zu zerstreuen oder zu disziplinieren; in seiner aktivistischen Fassung galt es, die lethargischen Bevölkerungen in kämpfende Massen zu verwandeln oder, wo sie von selbst in Bewegung geraten waren, ihre Schubkraft zu nutzen. Paradigmatisch für diese Konstellation waren die Diskussionen über den Massenstreik in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg.44 Rosa Luxemburg ging angesichts der Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und des Ruhrstreiks im gleichen Jahre davon aus, daß die Massen sich unabhängig von der Haltung ihrer Führung in Bewegung setzen könnten. Die Sozialdemokratie dürfe diese Bewegung nicht demoralisieren, denn sie sei auf ihre Kraft angewiesen. Die Parteiführung sah jedoch gerade im Massenstreik die Gefahr, daß ihr die Kontrolle entgleiten könne. Die Lösung des Problems hätte darin bestanden, eine disziplinierende Form zu fmden, die nicht abwiegelt, die der Masse ihre blinde Kraft nicht raubt, sondern sie zielgerichtet steuerbar macht. So suchten die Nationalisten nach Mitteln, die eine profane Bevölkerung in eine kämpferische Nation verwandeln könnte.45 Mittel dafür war nicht nur die Herstellung faktischer oder fiktiver Krisensituationen, sondern die religiöse Form. Führer und Symbole

"Masse" war zunächst eine begriffliche Fiktion, die das Handeln leitete, und so die soziale Realität mitgestaltete. Viele totalitäre Bewegungen haben sich ausdrücklich auf die Massenpsychologie bezogen und sie technisch um-

44 Schorske, Carl E., German Social Democracy 1905-1917. The Development of the Great Schism, Cambridge, Mass. 1955, S. 32 ff.; Nett!, Peter, Rosa Luxemburg, Köln und Berlin 1967, 475 ff. 45 Mosse, George L., The"Poet and the Exercise of Political Power: Gabriele D'Annunzio, in: Yeaibook of Comparative and General Literature 22, 1973, S. 32-41.

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gesetzt.46 Wenn die Massen schon in den Aufständen des 18. und 19. Jahrhunderts keine Realität waren, so wurden sie es doch als formierte im 20. Jahrhundert. Es galt nur jene Mythen und Symbole zu fmden, die die Massen nicht nur mobilisieren, sondern sie in Aktionsbereitschaft zu halten. Der den Massenbegriff ursprünglich konstituierende Blick vom Balkon war davon ausgegangen, daß die Versammelten ihre Individualität gleichsam aufgeben und eine höhere und stärkere erwerben. Diese Denkfigur fmdet sich jedoch auch in abstrakteren Konstellationen. Alle individualisierten Kollektive, wie z.B. "Proletariat" oder "Nation", kennen diese Vorstellung eines Aufgehens des Subjekts in einem Höheren. Durch das Identisch-Werden mit einem unsterblichen kollektiven Subjekt wird der sich Opfernde unsterblich.47 Nicht nur nationalistische, auch sozialistische Bewegungen praktizierten ihre Totenkulte. Sie lassen sich insofern auch als religiöse Bewegungen verstehen. Die extatische Massenversammlung, in der sich das Individuum von seiner Individualität zu lösen glaubt, kann damit als Ereignis verstanden werden, in dem die abstrakte Beziehung konkret erlebbar wird. Es gehört zur politischen Kunstfertigkeit, die erst im 20. Jahrhundert voll ausgebildet war, die Versammlungen so zu gestalten, daß die euphorische Extase, die der Massenbegriff unterstellt hatte, aufkam.48 Ein Mittel war es dabei, den Massen eine Form zu geben. Sei es, daß sie uniformiert wurden und im Gleichschritt auftraten, sei es daß sie zu dekorativen Ornamenten gestaltet wurden, immer ging es darum, nach außen und innen hin den Eindruck von disziplinierter Stärke zu vermitteln, die jederzeit in Gewalt umgewandelt werden kann. Als Vorbild diente hier zweifellos die seit dem Absolutismus herausgebildete Formenwelt der Armee. Deren Disziplin sollte die Soldaten in reagierende Automaten verwandeln, die "blind" Befehlen gehorchen und die auf diese Weise zu effizienten Instrumenten der Militärführung wurden. Diese Disziplinierung wurde zum Urbild der Umwandlung von Machtbeziehungen überhaupt, auch in der Fabrik.49 Immer jedoch enthielt diese Art der Disziplinierung auch überschüssige ästhetische Momente. Die wechselseitigen 46 Chakotin, Serge, The Rape of the Masses. The Psychology of Totalitarian Political Propaganda, London 1940, S. 33 ff., S. 160 ff. 47 Stölting, Erhard, Religiousness as a Type of Thinking, in: Sociologia Intemationalis 23, 1985, s. 181-205. 48 Mosse, George L., Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von dem Napoleonischen Krieg bis zum Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1976, S. 240 ff.; Schöps-Potthoff, Martina, Exkurs: Die veranstaltete Masse. Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP, in: Helge Pross, Eugen Buß (Hg.), Soziologie der Masse, Heidetberg 1984, S. 148-170; Elfferding, Wieland, Von der proletarischen Masse zum Kriegsvolk, in: Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin 1987, S. 17-51. 49 Foucault, Michel, Surveiller et punir. Naissance de Ia prison, Paris 1975, S. 137 ff.

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Sinnverweise der Revuen der "Tiller-Girls" und militärischer Paraden ("revues militaires") konnte so auch als sich durchsetzende Form industrieller Verhältnisse gedeutet werden.50 Als politisches Mittel zur Massenbeherrschung aber dient auch die Ornamentierung und Uniformierung dem Zweck, eine urtümliche, spontanen Gewaltsamkeit in disziplinierenden ästhetischen Formen aufzubewahren.51 Das Zeremoniell der Massenversammlung setzte einen Fluchtpunkt aller Blicke voraus. Schon bei Le Bon war derjenige Führer, "meneur", der den Massen Illusionen vorspiegeln kann: "Qui sait les illusionner est aisement leur maitre; qui tente de les desillusionner est toujours leur victime."52 Aber auch der Führer ist aus dem Stoff, aus dem die Massen gemacht sind. Seine hypnotische Kraft setzt Selbsthypnotisierung voraus. Er ist nicht rationaler als seine Anhänger, sondern barbarischer. Nicht umsonst rekrutieren sich die Führer aus jener Gruppe von Neurotikern, Hitzköpfen und Halbirren, die sich am Rande des Wahnsinns bewegen.53 Ein vergleichender Blick auf das demagogische Führungspersonal des Dritten Reiches scheint das zu bestätigen.54 Der große Führer und der verbrecherische Demagoge sind damit schwer zu unterscheiden. Alle Differenzierungsversuche mußten sich auf externe ethische Kriterien berufen. Das zeigen gerade die wissenschaftlichen Versuche jener Zeit, in der die Sehnsucht nach einem rettenden Führer besonders groß war.55 Ethischen oder rationalen Kriterien jedoch können Massen und Führer ihrer begrifflichen Konstitution nach gar nicht zugänglich sein. Die Massen sind damit aus jeder Verantwortlichkeit entlassen. Sie sind Verführte, Opfer von Demagogen und zugleich der Stoff, aus dem tendenziell geisteskranke Heroen Geschichte bilden. Das Band zwischen Führern und Massen ist das gleiche, das die Partikel der Masse zusammenbindet: Hypnose oder Verzauberung. Das "Charisma", das seine religiösen Ursprünge nicht verstecken kann, fmdet sich mit allen lmplikationen schon bei Le Bon, wenn auch unter dem banalen Wort "influ-

50 Kracauer, Siegfried, Das Ornament der Masse, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1962, S. 50-63. 51 Harth, Helene, Erhard Stölting, Ästhetische Faszination und Demagogie. Zur Entstehung des "faschistischen Stils" in Italien, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 10, 1986, s. 119-145. 52 Le Bon, S. 98. 53 Le Bon, S. 106. 54 Fest, Joachim C., Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft München 1963. 55 Geiger, Theodor, Die Masse und ihre Aktion, Stuttgart 1926; Vleugels, Wilhelm, Die Masse, München und Leipzig 1930; Stölting, Akademische Soziologie, S. 355 ff.

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ence": Man sei nicht nur religiös, wenn man eine Gottheit anbetet, sondern schon, wenn man seinen Geist und seinen Willen fanatisch (toutes les ardeurs du fanatisme) einer Sache oder einem Wesen unterwirft, welches Ziel und Lenker des Denkensund Handeins wird.56 Im großen Führer, auf den sich die Blicke aller richten, findet die Masse ihre eigene Verkörperung und Individualisierung.57 Alle Definitionsbemühungen der 20er und 30er Jahre varüeren das gleiche Thema.58 Keine sakrale Situation ist aber ohne die Bestimmung ihres Gegenteils, des Profanen denkbar.59 Die Banalität des Alltags muß daher politischen Bewegungen, die sich implizit religiös formulieren, zum Problem werden. Der Kampf gegen die "Spießigkeit" oder "Verbürgerlichung" war nicht nur ein Anliegen politisierter Bohemiens. Die radikalen Kritiker innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung haben gerade deren Verbürgerlichung beklagt.60 Auch die Vertreter der konservativen Revolution kämpften gegen eine "Spießbürgerlichkeit" in der bürgerlichen Gesellschaft, die sie von privaten Interessen dominiert ansahen. Der schier hoffnungslose Kampf gegen die Profanität ermöglichte selbst einen Wechsel der politischen Fronten.61 In diesem Sinne sind Führerkulte und die symbolhaltige Verwandlung der sichtbaren Umwelt Versuche, die in der sakralen und gesteuerten Massensituation erlebbare Machtbeziehung zu stabilisieren und zu verallgemeinern. Die Bedingungen, unter denen das gelingt oder mißlingt, sind noch wenig erforscht. Die Furcht vor der Masse, die im Massenzeremoniell hergestellt wird, scheint jedoch immer dort am stärksten zu sein, wo die Sakralität am stärksten die Staatsapparate durchdringt. Keiner der großen Führer ist bislang ohne Terror von oben ausgekommen. Und gerade die zentralen Herrschaftssymbole bieten sich den Aufständischen als Objekte an, an denen sie Sakrilege begehen oder die Gesellschaft symbolisch umstürzen können.

Le Bon formulierte seinen Begriff noch nach dem Vorbild des General Boulanger, Le Bon,

s. 61 f.

57 Le Bon, S. 64 f.; Cavalli, Luciano, II Capo carismatico. Per una sociologia weberiana della leadership, Bologna 1981, S. 95 ff. 58 Geiger, Theodor, Führer und Genie, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 6, 1927, S. 232-346; Jünger, Friedrich Georg, Aufmarsch des Nationalismus, Leipzig 1926, S. 47 ff.; Wieser, Friedrich, Art. Masse, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. 6, Jena 1925, S. 513 f. 59 Durkheim, Emile, Les Formes cHementaires de Ia vie religieuse, Paris 51968, S. 50 ff.S. 596. 60 de Man, Hendrik, Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialisten, Stuttgart 1953, s. 81 f. 61 Beetham, Thomas, From Socialism to Fascism: The Relation Between Theory and Practice in the Work of Robert Michels, in: Political Studies 15, 19TI, 161-181.

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Massengesellschaft Als politischer Begriff fand der der Masse seine endgültige Form erst in jenen kultischen Konstellationen, in denen Massen und Führer als einander wechselseitig symbolisierende Einheit verstanden wurden. Der Interpretationsmodus "gebändigte Naturkraft" war in ihr aufgehoben. Die sakrale Form jedoch verwies auch auf das beharrliche Fortbestehen einer banalen Alltäglichkeit und konnte damit die Bedeutung der "Masse" und ihrer Begrifflichkeit zugleich präzisieren und relativieren. Die sakral geführte Masse definierte sich über eine Sondersituation. Der Versuch, die gesamte Gesellschaft zu sakralisieren, gelingt jedoch auch mit dem Mittel des totalitären Terrors nicht -, obwohl dieser bekanntlich tiefgreifende Auswirkungen hat. Aber auch in anderem Sinne ist "Masse" kaum als Konstitutivum moderner Gesellschaften zu fassen. So wurden bestimmte Momente der industriellen Massenfertigung wie Standardisierung, die den Maschinenbau ebenso betraf wie die Konfektionsindustrie, allzu vorschnell in Analogie zu den Sozialbeziehungen gesetzt. Die statistische und bürokratische Erfassung von Bevölkerungen, in der alle innerhalb bestimmter Kategorien klassifikatorisch egalisiert werden, hat zweifellos Rückwirkungen auf das soziale Leben und die Selbstdefmition der Menschen. Sie kann aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden. Den massenhaften Konsum von Produkten der "Kulturindustrie" oder der "Vergnügungsindustrie" als Kennzeichen von Vermassung zu nehmen, heißt nur den ursprünglichen Blick der erhabenen Person vom Balkon zu reproduzieren. Den Verfall der Kultur diagnostiziert die kultivierte Persönlichkeit immer bei den anderen. Der Ekel vor den verführbaren, oberflächlichen, "außengeleiteten" Massenmenschen durchzieht das 19. und das 20. Jahrhundert. Er wird als Dekadenzphänomen an der Gesellschaft diagnostiziert und gibt zu Volkserziehungsprogrammen oder zur vornehmen Massenfeindlichkeit Anlaß. Die eigene Persönlichkeit wird um so erlesener. Auch Sozialisten waren vor dieser Figur nicht gefeit.62 Von Anbeginn wurde zwar versucht, den Begriff der Masse zu verallgemeinern, ihn etwa durch klassiflkatorische Ausdifferenzierungen wie "aktuelle", "virtuelle", "potentielle" usw. Massen transpanierbar zu machen.63 Heuristisch fruchtbar konnte eine solche Transposition aber erst dort sein, wo die Massenerlebnisse und ihre Formen symbolisch aufbewahrt und beschworen wurden.

62 de Man, Hendrik, Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, München 1951, s. 41 ff. 63 Le Bon, S. 142 ff.; Vleugels, S. 23 ff.; Geiger, Die Masse und ihre Aktion, S. 17 ff.; Johannes Papalekas, Art. Masse, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd.7, Stuttgart und Göttingen 1961, S. 220-226.

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Die Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel, vor allem des Fernsehens, hat einen ganz neuen Typus politischer Anteilnahme und neue Wahrnehmungsformen geschaffen. Der vor der Kamera interviewte, an Diskussionen teilnehmende oder zum Zuschauer sprechende Politiker, mag beliebt sein oder Vertrauen wecken. Dennoch ist er eine ganz andere Gestalt als der sich in der Massensituation definierende Führer oder Demagoge. Die Form des Massenerlebnisses ist deswegen allerdings nicht verschwunden. Nachdem die großen politischen Massenversammlungen in Europa selten geworden sind, konzentriert sich die Massenbildung und Idolisierung auf Entwicklungsländer und Rockkonzerte. Für deren Analyse aber kann das von der Massenpsychologie geschaffene Instrumentarium durchaus noch nützlich sem.

Revolte und Vermittlung Zur Aufgabenbestimmung der revolutionären Intelligenz in der russischen "Ökonomismus-Debatte" um die Jahrhundertwende Von Walter Süß I.

Die "Ökonomismus-Debatte", die vom Ende der 90er Jahre des 19.Jahrhunderts bis zum 2.Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) 1903 geführt wurde, hatte als Grundthema die Frage des Verhältnisses von Arbeiterklasse, Partei und revolutionärer Intelligenz im historischen Prozeß.1 In dieser Debatte wurden sowohl die Argumentationsgrundlagen für die "führende Rolle der Partei" theoretisch herausgearbeitet wie eine Funktionsbestimmung der Intelligenz vorgenommen, die sich in späteren Jahren als prägend für das gesellschaftstheoretische Denken der Bolschewiki und ihrer Nachlaßverwalter erweisen sollte. In der westlichen Literatur über die Frühgeschichte der bolschewistischen Partei wird allgemein davon ausgegangen, daß die damalige Debatte letztlich eine Auseinandersetzung um den Dominanzanspruch der revolutionären Intelligenz in der Partei und gegenüber der Arbeiterbewegung gewesen sei. Different sind die Erklärungsmuster, die zur Interpretation dieses Konflikts herangezogen werden. Manche Autoren bescheiden sich mit der Unterstellung bestimmter unlauterer Motive des revolutionären Intellektuellen Lenin, insbesondere seiner ausgeprägten "Machtgier", denen nachzukommen diese Debatte ein Vehikel gewesen sei - ermöglicht durch eine ihm blind ergebene Gefolgschaft.2 Andere betonen die Kontinuität einer politischen Kultur der russischen Intelligenzija, die immer zwischen einem Spontaneitäts-Glauben, durch den das "einfache Volk" verherrlicht wurde, und einem szientifischen Glauben an das "Bewußtsein" geschwankt habe. Ausdruck der ersteren Denkrichtung war das "Narodnitschestwo", der letzteren aber der Bolschewismus. Grundlage beider Auffassungen sei die Isolation der russischen InVgl. zum sozialgeschichtlichen Hintergrund Wildman, A.K., "The Making of a Workers' Revolution: Russian Social Democracy, 1891- 1903", Chicago 1967. 2 Vgl. etwa Keep, J., "The Rise of Social Democracy in Russia", Oxford 1963.

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telligenzija von der Gesellschaft gewesen. Als diese Isolation durch die Entwicklung einer bürgerlieben Gesellschaft in Rußland historisch obsolet wurde, hätten die späteren Menschewiki es vermocht, sieb in der Arbeiterbewegung zu integrieren, während die Bolscbewiki an der Spaltung der Intelligenzija vom Volk festgehalten und damit die Grundlage für ihre Versuebe zur Hegemonisierung der Arbeiterklasse "von außen" gelegt bätten.3 Diese Interpretationen weisen einige bedeutende Schwächen auf: Die Gegenüberstellung von Bolschewismus und Menschewismus als politischer Ausdruck der sozialen Differenz von Intelligenzija und Arbeiterschaft ist- wie D. Lane4 gezeigt bat - weder binsiebtlieb der Parteimitgliedschaft beider Strömungen noch auch binsiebtlieb der Führungsgremien haltbar: beide waren an der Basis "proletarisch" (wobei die Menschewiki noch einen bedeutenden kleinbürgerlieben Sektor aufzuweisen hatten), beide Führungsgremien wurden von revolutionären Intellektuellen dominiert. Auch waren die Menschewiki nicht weniger als die Bolscbewiki davon überzeugt, daß es notwendig sei, die Partei um einen Kern von Berufsrevolutionären herum aufzubauen.5 Und schließlieb war die Parteientwicklung mit dem 2. Parteitag keineswegs strukturell abgeschlossen. Weder konnte sieb Lenin auf diesem Parteitag mit seiner "engen Definition" von Parteizugehörigkeit durcbsetzen,6 noch stand ein so wesentliches Element der späteren bolschewistischen Parteistruktur wie der "Demokratische Zentralismus" auf diesem Parteitag auch nur zur Diskussion? Das entscheidende Manko dieser Interpretationen aber scheint mir darin zu liegen, daß der gesellschaftstheoretische Kontext der konfligierenden politischen Positionen zu wenig mitreflektiert wird. Die Grundfrage der Debatte war nicht: Wer soll die Hegemonie ausüben, die Arbeiterschaft oder die Intelligenzija; sondern diese Problemstellung baute selbst noch auf der Beantwortung anderer Fragen auf: Wie kann der revolutionäre Prozess in Ruß-

3 Vgl. Haimson, L. H., "The Russian Marxist & The Origins of Bolshevism", Cambridge Mass. 1955; Geyer, D., "Lenin in der russischen Sozialdemokratie. Die Arf>eiterbewegung im Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz 1890 - 1903", Köln, Graz 1962; für die 90er Jahre vgl. auch Pipes, R, "Social Democracy and the St. Petcrsburg Labor Movement, 1885 -1897", Cambridge Mass. 1963. 4 Lane, D ., "The Roots of Russian Communism. A Social and Historical Study of Russian Social-Democracy 1898- 1907", London 1975, S. 209ff. s So erläuterte der spätere Führer der Menschewiki, Martov, bei der berühmten Debatte über Artikel I des Parteistatus (Kriterien für Parteimitgliedschaft) auf dem 2. Parteitag 1903, aus der die Partei Bolsehewild und Menschewiki gespalten hervorgehen sollte, seine Konzeption mit den Worten: "Für uns beschränkt sich die Arbeiterpartei nicht auf eine Organisation der Berufsrevolutionäre. Sie besteht aus ihr plus der Gesamlheil der aktiven, fortschrittlichen Elemente des Proletariats." "Vtoroi sezd RSDRP. Yul-avgust 1903 goda. Protokoly", Moskva 1959, S. 271. 6 Vgl. ebda. S. 279. 7 Vgl. Brunner, G., "Das Parteistatut der KPdSU 1903 -1961", Köln 1965, S. 19, III.

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land vorangetrieben werden? Welche soziale Kraft kann für eine konsequente Realisierung dieses Zieles eintreten? Zwischen den damaligen Kontrahenten bestand Einigkeit darin, daß das nächste Stadium gesellschaftlicher Entwicklung in Rußland die Freisetzung eines bürgerlichen Kapitalismus sein müsse. Diese Feststellung mag überraschen, tatsächlich war das aber noch nicht einmal ein Streitpunkt zwischen den späteren Bolschewiki und Menschewiki. Das Parteiprogramm von 1903 ließ daran keinen Zweifel.8 Vielleicht noch überzeugender aber ist die folgende Einschätzung Lenins, die er im März 1905 niederschrieb, in einer historischen Situation also, die von der Bildung der ersten Arbeiterräte in Rußland geprägt war: "Wollte sich die Sozialdemokratie sofort die sozialistische Umwälzung zum Ziel setzen, so würde sie sich in der Tat nur blamieren. Gerade gegen solche verworrenen und unklaren Ideen unserer 'Sozialrevolutionäre' hat jedoch die Sozialdemokratie stets gekämpft. Gerade deshalb betonte sie stets den bürgerlichen Charakter der in Rußland bevorstehenden Revolution, gerade deshalb forderte sie die strenge Trennung des demokratischen Minimalprogramms vom sozialistischen Maximalprogramm.•9

Für Positionen, wie sie etwa von den Sozialisten-Revolutionären in Fortsetzung der Tradition der "Volkstümler" vertreten wurden, daß es möglich sei, auf Basis der gegebenen sozioökonomischen Verhältnisse, insbesondere auf dem Land, direkt zu einer sozialistischen Umwälzung zu gelangen, hatten russische Sozialdemokraten jeglicher Couleur nur Verachtung übrig. Typisch war in dieser Hinsicht wohl die Antwort Lenins auf dem 2. Parteitag, nachdem der berechtigte Einwand kam, die Behandlung der Agrarfrage in dem vorliegenden Programmentwurf sei "dürftig" ausgefallen: Das vom 2. Parteitag, 1903, verabschiedete Parteiprogramm stellte dazu fest: "Auf dem Wege zu ihrem gemeinsamen Endziel (... ) sind die Sozialdemokraten der verschiedenen Länder gezwungen, sich nächste Aufgaben zu stellen, die voneinander verschieden sind, und zwar sowohl weil diese (kapitalistische - WS) Produktionsweise nicht überall in gleichem Maße entwickelt ist, als auch weil ihre Entwicklung sich in den verschiedenen Ländern in verschiedenen sozialen und politischen Verhältnissen vollzieht. In Rußland, wo der Kapitalismus bereits zur herrschenden Produktionsweise geworden ist, haben sich noch sehr zahlreiche Oberreste unserer alten vorl«lpitalistischen Ordnung erhalten ... Diese Oberreste, die den wirtschaftlichen Fortschritt im höchsten Maße hemmen, lassen die allseitige Entwicklung des proletarischen Klassenl«lmpfs nicht zu ... Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands stellt sich darum zur nächsten Aufgabe den Sturz des zaristischen Absolutismus und seine Ersetzung durch die demokratische Republik ... " Der daran anschließende wirtschaftliche Forderungskatalog setzt, etwa wenn den Unternehmern verboten werden soll, die Arbeiter mit Geldstrafen zu belegen, eindeutig die Existenz eines kapitalistischen Systems voraus. Über diese Grundposition gab es bei der Diskussion des Parteiprogrammsauf dem Kongreß keinerlei Auseinandersetzung. Vgl. ebda. S. 174 ff. (Diskussion des Programms), 418-424 (Text des Programms). 9 Revolyutsionnaya demokratil:heskaya diktatura proletariata i krestyanstva" (April 1905), "Polnoe sobranie sochinenii", 5. Auf!., Moskva 1958 (PSS), tom X, S. 20-31. hier S. 22.

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"Er (der Kritiker Lieber - WS) hat nicht gemerkt, daß der sozialistische Teil unseres Agrarprogramms sich an anderer Stelle befindet, nämlich im Abschnitt über die Arbeiter, der sich auch auf die Landwirtschaft bezieht. Nur die Sozialrevolutionäre mit der für sie charakteristischen Prinzipienlosigkeit können demokratische und sozialistische Forderungen in einen Topf werfen, was sie auch ständig tun. •10

Die "sozialistischen" Perspektiven der Bauernschaft zielten demnach (als notwendigem Zwischenschritt) auf ihre Verwandlung in Lohnarbeiter; "demokratische Forderungen" bezogen sich allein auf die Beseitigung feudaler Überreste in den Produktionsverhältnissen auf dem Land. Aber nicht nur im Geschichtsschematismus war man sich einig, sondern auch darin, daß dieses Schema vom russischen Bürgertum nicht eingelöst werden könne. Die Revolution von 1848 in Westeuropa habe ebenso wie das Versagen liberaler Kreise in Rußland nach dem Hungerwinter 1892/93 gezeigt, daß das Bürgertum eingeklemmt zwischen einer wachsenden Arbeiterbewegung und seinen ökonomischen und politischen Bindungen an das herrschende Regime - nicht mehr in der Lage sei, seiner "historischen Aufgabe", dem Sturz des vorbürgerlichen Zarismus und der Errichtung einer bürgerlichen Republik, gerecht zu werden. So lautete die Frage, auf die die russischen Revolutionäre zu Beginn des Jahrhunderts eine Antwort suchten: Kann das Bürgertum zu seinem Glück gezwungen werden, oder muß eine andere soziale Kraft an seine Stelle treten, die hilft, das nächste Stadium gesellschaftlicher Evolution politisch einzuleiten? Zweifellos war diese Problemstellung in hohem Maße widersprüchlich: Die politische Entwicklung wurde als Verlängerung eines determinierten Prozesses gesellschaftlicher Evolution begriffen. Um diese Determination aber möglich zu machen, sollte die politische Entwicklung zugleich von dieser Determination befreit werden. In der Auflösung dieses Dilemmas kristallisierten sich in der weiteren Auseinandersetzung drei Positionen heraus: die menschewistische Position, die die Politik der Partei an das Niveau gesellschaftlicher Entwicklung anzupassen suchte, indem sie die Übernahme einer konsequenten Oppositionsrolle propagierte, die freilich auch wieder nicht so radikal sein durfte, daß sie das Bürgertum, statt es in seine Revolution hineinzutreiben, verschreckt hätte; die Position Trotzkis, der die gesellschaftliche Entwicklung mit der politischen zu versöhnen suchte, indem er die Diktatur des Proletariats als Instrument einer "permanenten Revolution" forderte; die leninistische Position, in der versucht wurde, diesen Widerspruch auszuhalten durch die Organisierung einer streng zentralistischen, prinzipienfesten Partei der Arbeiterklasse, die, unterstützt von der BauernVtoroi sezd ...• S. 214.

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schaft, die politische Macht erobern würde, um als Substitut einer radikalrevolutionären Bourgeoisie den Weg frei zu machen für eine bürgerliche Republik. Es handelt sich hier, wie erwähnt, um Positionen, die in den politischen Kämpfen nach dem 2. Parteitag entwickelt wurden. Ihnen vorausgesetzt war ein je spezifisches Verständnis davon, wie sich proletarisches Bewußtsein entwickelte und damit davon, welche historischen Möglichkeiten die Arbeiterklasse überhaupt wahrnehmen konnte. Als Schüler Plechanows neigten alle Kontrahenten zu einem mechanistischen Verständnis von Bewußtseinsbildung. Daß "das Sein das Bewußtsein bedingt", war ihnen in einem sehr unmittelbaren Sinn eine Selbstverständlichkeit. Wie aber wurde die Verbindung von "proletarischem Sein" und Einsicht in die Notwendigkeit einer bürgerlichen Revolution hergestellt? II.

Lenins fundamentalistischer Gegner: Wladimir Akimow Vor und während des 2. Parteitags der SDAPR war der wichtigste Kontrahent Lenins in dieser Frage der russische Revolutionär Vladimir Petrovic Machnovec, Parteiname: Akimow. Aus späterer Perspektive gesehen, vertrat Akimow gewissermaßen eine "prae-menschewistische Position" zu einem Zeitpunkt, als die späteren Menschewiki selbst die Logik ihrer eigenen politischen Entwicklung noch nicht einmal ahnten. Doch ehe wir seine Position darstellen, einige Worte zur Person: Wladimir Machnowez wurde- ebenso wie Lenin- in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in der russischen Provinz, in Woronesh, geboren. Die Mutter kam aus dem russischen Adel, sein Vater war Landarzt. Die ganze Familie hatte revolutionäre Sympathien. 1891 ging Machnowez nach St. Petersburg, um am Technologischen Institut Ingenieurwissenschaften zu studieren. Später gab er - unter dem Einfluß "volkstümlerischer" Ideen - dieses Studium auf, weil er sich nicht als "Ausbeuter" qualifizieren wollte, und studierte statt dessen Jurisprudenz. Revolutionäre Aktivitäten lenkten die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn. 1897 wurde er verhaftet und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Ein Jahr später floh er - wie so viele andere - und ging in die Schweiz, wo er sich der Union Russischer Sozialdemokraten im Ausland anschloß und zu dem Zirkel um Plechanow gehörte. In den folgenden Jahren war er ein engagierter Mitarbeiter und Organisator der "ökonomistischen" Parteipresse. Als 1905 die Revolution ausbrach, ging er nach St. Petersburg zurück und war in der neu entstehenden Gewerkschaftsbewegung aktiv. Nach der Niederlage der Revolution arbeitete er in der - legalen - Arbeiter-Genossenschaftsbewegung, mußte jedoch nach erneuter Verhaftung und Verurteilung im Jahre

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1911 im darauf folgenden Jahr wieder in die Schweiz fliehen. Von dort aus sprach er sich im gleichen Jahr für eine Allianz zwischen den Sozialdemokraten und dem "liberal-progressiven Block" bei den bevorstehenden DumaWahlen aus. Ein Jahr später- nachdem eine Amnestie verkündet worden war - kehrte er nach Rußland zurück und arbeitete wieder in der Genossenschaftsbewegung. Politisch trat er nicht mehr in Erscheinung. Akimow starb im Jahre 1921 in Rußland.11 Akimow hat seine Position nach dem für seine Fraktion enttäuschend verlaufenden II. Parteitag der SDAPR in zwei Schriften ausführlich dargelegt: "Zur Frage der Arbeit des zweiten Kongresses der SDAPR" und "Materialien zur Entwicklung der SDAPR". Beide wurden 1904 in Genf veröffentlicht.12 Die Auseinandersetzung zwischen Lenin und den "Ökonomisten" konzentrierte sich auf die Frage der Bewußtseinsbildung des Proletariats. In einer Vorbereitungsschrift für den Parteitag, "Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung" (1902), die gegen die "Ökonomisten" gerichtet war, hatte Lenin unter Berufung auf Kautsky argumentiert, daß "das sozialistische Bewußtsein ( ...) etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes" ist.13 Artikulieren konnten dieses "Bewußtsein" nur die Intellektuellen, es "hineintragen" in die Arbeiterklasse nur die Berufsrevolutionäre. Dagegen setzte Akimow eine Auffassung von der Entstehung der "Philosophie des Proletariats", in der Intellektuelle nicht vorkamen: "Die Philosophie des Proletariats wird durch seine Existenzbedingungen geschaffen. In dem Maße wie das Proletariat sich zu einer unabhängigen Klasse entwickelt, formen sich seine Ideen selbst zu einer kohärenten Theorie.•14

Diesen Bewußtwerdungsprozeß begriff Akimow als Akkumulation von Erfahrungen, die - wie die Geschichte der vorangegangenen Jahre gezeigt habe - in bestimmten Stadien ablaufe. Hätte sich die Arbeiterschaft zuerst auch nur für ihre ökonomischen Interessen eingesetzt, so wäre sie doch bald auf die durch den zaristischen Staatsapparat gesetzten Grenzen gestoßen und "die Arbeiter begannen zu realisieren, daß sie jener elementaren bürgerlichen 11 Vgl. Franke!, J.P., "The Polarisation of Russian Marxism (1883- 1903). Plekhanov, Lenin and Akimov", in: ders. (ed.), "VIadimir Akimov on the Dilemmas of Russian Marxism, 18951903", Cambridge 1969, S. 74- 83. 12 "K voprosu o rabotakh vtorogo sezda Rossiiskoi Sotsial-demokraticheskoi Rabochei Partii", Geneva 1904; "Materialy dlya kharakteristiki razvitia Rossiiskoi Sotsialdemokraticheskoj Rabochei Partii", Geneva 1904. Die Originale dieser beiden Schriften waren nicht auffindbar, sie wurden in ungekürzter Fassung in englischer Übersetzung wieder veröffentlicht in dem oben genannten Buch von Franke! (1969), S. 99- 198 bzw. 199 - 363. 13 PSS VI, S. 39. 14 Akimov, V., "The Second Congress of the Russian Social Democratic Labour Party", in Franke! (ed.), S. 120f.

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Rechte beraubt waren, die ihnen geholfen hätten, ihre Kämpfe für bessere wirtschaftliche Bedingungen auszufechten und zu gewinnen. So erhebt sich das Proletariat im Verlauf seines Kampfes vom Bewußtsein seiner materiellen Bedürfnisse zum Bewußtsein seiner legalen Interessen." 15 Akimow geht davon aus, daß dieser Prozeß einer zwingenden inneren Logik folgt. Zum Beleg zitiert er Engels' philosophiegeschichtlichen Ansatz: "Jede Stufe (der Erkenntnis- WS) ist notwendig, also berechtigt für die Zeit und die Bedingungen, denen sie ihren Ursprung verdankt; aber sie wird hinfällig und unberechtigt gegenüber neuen, höhem Bedingungen, die sich allmählich in ihrem eignen Schoß entwickeln; sie muß einer höhem Stufe Platz machen, die ihrerseits wieder an die Reihe des Verfalls und des Untergangs kommt.• 16

Anders ausgedrückt: Evolutionsstufen können nicht einfach übersprungen werden, da sie aufeinander aufbauen; Lernprozesse folgen einer inneren Logik, entfalten sich kumulativ. Wie noch zu zeigen sein wird, steht diese Konzeption in scharfem Gegensatz zu der von Lenin vertretenen Auffassung. Ein weiterer Unterschied ergibt sich hinsichtlich der Perspektiven dieses Lernprozesses. Einer der Hauptvorwürfe gegen die "Ökonomisten" war ja, daß sie den "politischen Kampf' vernachlässigen und die Arbeiterschaft auf der Ebene gewerkschaftlicher Interessenvertretung festhalten würden.17 Daß dieser Vorwurf der tatsächlichen Politik dieser Strömung nicht gerecht wird, ist an anderer Stelle gezeigt worden.18 Systematisch entgegnet Akimow diesem Argument mit Hilfe eines naturgeschichtlichen Evolutionsbegriffs: "Technische Fortschritte, Konzentration der Mittel von Produktion und Verteilung und die Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses in den kapitalistischen Unternehmen schaffen die materielle Basis für die Ersetzung von kapitalistischen durch sozialistische Produktionsverhältnisse. Zur selben Zeit wächst auch die Unzufriedenheit der arbeitenden und ausgebeuteten Massen mit der bestehenden Ordnung. Es findet ein Wachstum in Zahl und Solidarität der Proletarier statt. Das Proletariat kommt zu der Erkenntnis, daß es die natürliche Entwicklung der Gesellschaft befördern und die Heraufkunft der sozialistischen Ordnung beschleunigen muß."19

Im Rahmen dieser Konzeption kann der Partei nur eine untergeordnete Stellung zukommen. Als "der bewußte Teil des Proletariats"20 kann sie dessen Entwicklung zwar beschleunigen, nicht aber qualitativ verändern.21 In seiner 15 Akimov, V., "A Short History of the Social Democratic Movement in Russia", in: ebda. S. 203. 16 Engels, F., "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", in: Marx, K, Engels, F., "Werke", Bd. XXI, Berlin 1973, S. 267, bei Akimov a.a.O., S. 204. 17 Vgl. Lenin, V.I., "Po povodu 'Profession de Foi'", PSS IV, S. 310- 321; "Chto delat? ...", PSS VI, S. 54 - 65. 18 Vgl. Wildman, 1967, S. 191ff. 19 A.a.O., S. 125 (Hervorhebung WS). 20 Ebda., S. 169. 21 Vgl. ebda., S. 122.

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Darstellung der politischen Arbeit der Union der Russischen Sozialdemokraten im Ausland arbeitet Akimow diesen Punkt heraus: "Es ist schon wahr, daß unsere Einstellung zu der Arbeitennassenbewegung sich von der der Orthodoxen (die "lskristen" um Lenin und Plechanow- WS) unterschied: wir sahen sie als eine elementare Aufwallung an, mit der wir uns bewußt zu verschmelzen suchten. Folglich haben wir eine unterschiedliche Auffassung davon, wie die Gesellschaft lebt und funktioniert. Wir konnten und wollten nicht Instinkt und Spontaneität gegen Bewußtsein setzen, da wir hinsichtlich der tatsächlichen Theorie des Erkenntnisvermögens anderer Meinung als die Orthodoxen sind."22

Diese "Theorie des Erkenntnisvermögens" besteht darin, daß Bewußtseinsbildung als Anhäufung von in diesem Konflikt gemachten Erfahrungen über die Gegensätzlichkeit von proletarischen und Unternehmerischen bzw. staatlichen Interessen verstanden wird. Implizit ist in dieser Argumentation enthalten, daß die intellektuelle Fähigkeit zur fortschreitenden Verarbeitung dieser Konflikterfahrung im proletarischen Bewußtsein bereits vorgegeben ist bzw. umgekehrt, daß vom Proletariat politisch kein anderes Bewußtsein gefordert wäre als dieses empirisch erworbene Klassenbewußtsein. Die Einheit von "Spontaneität" und "Bewußtsein" wird als der Entwicklung des Klassenkampfes vorausgesetzt betrachtet, als in der gesellschaftlichen Position des Proletariats vorgegebene Evolutionsstruktur. In diesem Lern-Modell könnte deshalb auf Vermittler verzichtet werden: Sie vermögen diesen Evolutionsprozeß nur zu beschleunigen, indem sie bei der Bewußtwerdung des spontanen Prozesses helfen, fügen ihm aber kein qualitativ neues Element hinzu. Geht Lenin, aus Gründen, auf die noch zurückzukommen sein wird, davon aus, daß die "spontane Entwicklung" des Proletariats unweigerlich zu seiner Unterordnung unter das Bürgertum führt, so setzte etwa Akimows Mitstreiter auf dem 2. Parteitag, Martynow, dagegen die Überzeugung, daß "die Entwicklung des Proletariats mit der spontanen Gewalt von Naturgesetzen in Richtung einer Realisierung unserer (der Sozialdemokratie - WS) theoretischen Prinzipien voranschreiteL "23

"Sozialistische Theorie" ist gemäß dieser Auffassung nicht Reflexion über den Gang gesellschaftlicher Entwicklung, ihre Widersprüche und Perspektiven, ausgehend vom gesellschaftlichen Gesamtprozeß, sondern Zusammenfassung und Zuspitzung von in realen Konflikten erlebten sozialen und politischen Interessen: "Der Sozialismus ist nur der theoretische Ausdruck der Bewegung des Proletariats! ( ...) in der Richtung, die durch die wachsende 'proletarische Bewegung' eingeschlagen wird, in den Zielen, die unvermeidlich früher oder später durch das Proletariat proklamiert werden, in der Bedeutung der einzelnen Aktionen des Proletariats in seinem Klassenkampf - ist diese Bewegung sozialistisch. Sie bewegt sich spontan in Richtung Sozialis-

23

Ebda., S. 360. "Vtoroi sezd ...", S. 117.

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mus und die Sozialdemokratie wählt bloß das bewußt als ihr Ziel aus, was das unvermeidliche Ergebnis der anfangs unbewußten 'proletarischen Bewegung' sein wird. Die Sozialdemokratie hat kein Bedürfnis, das Proletariat von seinem Weg 'abzubringen'; sie kann und muß allein danach streben, diese Bewegung zu beschleunigen. Die Sozialdemokratie hat keinen Grund, dieses spontane Element zu fürchten - es ist unser eigenes Element."24

"Proletarische Politik" wird nach diesem Revolutionsverständnis in einen objektiv determinierten Evolutionsprozeß eingeordnet, der aus sich selbst heraus das gemeinsame Ziel, gesellschaftlichen und politischen Fortschritt, verbürgt. Dieser Konzeption entspricht die explizite Weigerung, die eigene Interessenartikulation als über die Beziehungen zu anderen Klassen und .Schichten vermittelt zu begreifen: Die Sozialdemokratische Partei hat auszusprechen, was proletarisches Interesse ist, darf aber nicht zum Organisator anderer ausgebeuteter und unterdrückter Schichten und Klassen werden,25 denn damit würde die Identität von naturgesetzlicher gesellschaftlicher Evolution, proletarischem Interesse und bewußter Politik aufgelöst. Statt Sprachrohr proletarischer Bewegung zu sein, würde sich damit die Partei und ihre Führung eine Sphäre eigenen Rechts schaffen. Das aber könnte nur zu ihrer Verselbständigung führen. 26 In dieser Konzeption kann die Intelligenz nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zwar ist auch Akimow dafür, daß es in der Partei Berufsrevolutionäre gibt, aber sie haben zu dienen, nicht zu führen.v Diese Forderung erfolgt nicht aus einem anti-intellektualistischen Vorurteil, sondern weil bei diesem Revolutionsverständnis die entscheidende Qualität der Intelligenz, theoretische Vermittlungen herzustellen, nicht nur überflüssig, sondern geradezu gefährlich ist. Akimows Ansatz kann als Versuch der Konzeptionalisierung einer konsequenten proletarischen Interessenpolitik verstanden werden. Gerade deshalb fand er für das eigentliche Dilemma der russischen Marxisten keine Antwort: wie eine bürgerliche Revolution ohne ein revolutionäres Bürgertum möglich wäre. Die politische Perspektive, die sich aus einer Position ergab, war der Sturz des Zarismus und daran anschließend Oppositionspolitik. Die Sozialdemokratie würde bei dieser politischen Revolution mitwirken; die führende Rolle in dieser Revolution aber 24 Akimov, S. 122 (Hv. - WS). 25 Vgl. ebda., S. 164,320. 26 Vgl. ebda., S. 163, 340 f. Ein praktisches Beispiel für dieses Denkmuster ist, daß Akimow trotz seiner sonstigen Orientierung an der westeuropäischen Sozialdemokratie eine Differenzierung der Arbeiterorganisation in Partei und Gewerkschaft ablehnt. Gewerkschaften scheinen ihm bei Realisierung seiner Parteikonzeption schlicht überflüssig, denn der einzige Unterschied zwischen beiden Institutionen bestünde darin, daß die Partei zum Ziel ihrer Tätigkeit den Sozialismus deklariert hat. (Vgl. ebda. S. 129f.) Z7 Ebda., S. 322, 360.

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konnte sie, solange die Arbeiterklasse noch eine relativ kleine Minderheit der Bevölkerung bildete, nicht spielen.28

III.

Lenin: Revolution als Vermittlungsprozeß widerstreitender Ideen Ausgangspunkt der Leninschen Konzeption war der Widerspruch zwischen dem Charakter der anstehenden Revolution und der sie tragenden sozialen Kräfte. Wenn er die Frage stellte: "Wird es eine Revolution vom Typus des Jahres 1789 oder vom Typus des Jahres 1848 sein?"29 - so bedeutete dies zweierlei: Die Annahme, daß die russische Revolution sich im Rahmen einer bürgerlichen Revolution abspielen würde, und daß das entscheidende Kriterium wäre, welche Radikalität in den politischen Maßnahmen dieser Revolution möglich sei. Dem Bürgertum traute er wegen dessen widersprüchlicher Interessenlage zwischen herrschendem Regime und aufbegehrender Arbeiterklasse die notwendige Radikalität nicht zu: "Auch die Bourgeoisie braucht politische Freiheit.(...) Aber die Bourgeoisie als Ganzes ist zum entschiedenen Kampf gegen die Selbstherrschaft unfähig: sie fürchtet in diesem Kampf ihr Eigentum zu verlieren, das sie an die bestehende Gesellschaft kettet; sie fürchtet ein allzu revolutionäres Auftreten der Arbeiter, die niemals bei der demokratischen Revolution allein stehenbleiben, sondern die sozialistische Umwälzung anstreben werden; sie fürchtet den völligen Bruch mit dem Beamtentum, mit der Bürokratie, deren Interessen mit denen der besitzenden Klassen durch tausenderlei Fäden verknüpft sind. Deshalb zeichnet sich der Kampf der Bourgeoisie um die Freiheit durch Ängstlichkeit, Inkonsequenz und Halbheit aus."30

Da es Lenin wegen der "politischen Unentwickeltheil und Unbildung der Bauern" auch "unsinnig" schien, "die Bauernschaft zum Träger der revolutionären Bewegung zu proklamieren",31 blieb als Subjekt der Revolution nur die Arbeiterklasse als "die einzige revolutionäre und dem Absolutismus unwiderruflich feindliche Kraft".32 Freilich- und dies ist der entscheidende Punkt, in dem die ganze Leninsche Revolutionskonzeption gründet - war diese 28 Vgl. ebda., S. 171. Akimow zitiert an dieser Stelle zustimmend eine Äußerung Trotztcis auf dem 2. Parteitag, daß die Diktatur des Proletariats "die politische Herrschaft der organisierten Arbeiterklasse, die die Mehrheit der Nalion bildet" sein wird ( ... rabochego klassa, sostavlyayushchego bolshinstvo natsii) ("Vtoroi sezd ...", S. 136. Sonst geht Akimow auf dieses Problemaußer durch die häufige Wiederholung der Forderung ''Sturz des Zarismus"- nicht ein. 29 "Revolyutsia tipa 1798 ili tipa 1848 goda?" (Män/Apri11905), PSS IX, S. 380-382, hier S. 380. 30 "Demokraticheskiye zadachi revolyutsionnogo proletariata" (Juni 1905), PSS X, S. 270 2n, hier s. 270f. 31 "Proekt programmy nashei partii" (Ende 1899), PSS IV, S. 211 - 239, hier S. 229. 32 "Proekt zayavlenia redaktsii 'lsluy' i 'Zari'" (April1900), PSS IV, S. 322 - 333, hier S. 332.

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Frontstellung der Arbeiterklasse gegen das zaristische System nicht identisch mit der Fähigkeit, die politische Rolle der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution zu übernehmen. Lenin unterscheidet zwischen der politischen Krise des zaristischen Systems, die er für unausweichlich hält, dem Aufbruch sozialer Gegensätze, die bereits über dieses System hinausweisen, und den politischen Perspektiven, die sich aus dieser Krise ergeben. Im Sinne der neueren Entwicklungssoziologie33 kann man sagen, daß Lenin die Einsicht vorwegnimmt, daß zwischen Systemkrise und Krisenlösung keine direkte Kausalität besteht. Lenin ist zu dieser Zeit noch Determinist, da er von der Zwangsläufigkeit der Abfolge bestimmter Gesellschaftsformationen ausgeht, er verläßt aber den Determinismus dadurch, daß er die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaftsformation in Rußland von Kontingenten politischer Entwicklungen abhängig macht.34 So schreibt er zu Beginn der Revolution von 1905: "Man muß eine wahrhaft schülerhafte Auffassung von der Geschichte haben, um sich die Sache ohne 'Sprünge' vorzustellen, als eine allmählich und gleichmäßig aufsteigende gerade Linie: zunächst sei die liberale Großbourgeoisie an der Reihe - Konzessiönchen der Selbstherrschaft, dann das revolutionäre Kleinbürgertum - demokratische Republik, schließlich das Proletariat - sozialistische Umwälzung. Dieses Bild ist richtig im großen und ganzen, ist richtig 'a Ia longue', wie die Franzosen sagen, etwa für ein ganzes Jahrhundert (z.B. für Frankreich von 1789 bis 1905), um aber nach diesem Bild einen Tätigkeitsplan in einer revolutionären Epoche aufzustellen - dazu muß man ein Virtuose des Philistertums sein. Sogar wenn es der russischen Selbstherrschaft jetzt nicht gelingt, sich mit der Gewährung einer kümmerlichen Verfassung herauszuwinden, wenn sie nicht nur erschüttert, sondern tatsächlich gestürzt wird, so wird offenbar eine ungeheure Anspannung der revolutionären Energie aller fortschrittlichen Klassen erforderlich sein, um diese Errungenschaft zu behaupten. ( ...) Je mehr wir jetzt erkämpfen, je energischer wir das Erkämpfte verteidis;n, um so weniger wird später die unausbleibliche Reaktion zurückerobern können...

Demnach würde der Determinismus "a Ia longue" gelten, jedoch nicht jedes konkrete politische Ereignis bestimmen. Weiterhin scheint es Lenin auch zu Beginn der revolutionären Krise 1905 wahrscheinlich, daß es der zaristischen Selbstherrschaft gelingt, sich "herauszuwinden". Aber selbst wenn sie gestürzt und eine revolutionäre Regierung etabliert werden sollte, wäre doch in längerer Sicht ein erneuter Rückschritt unvermeidbar. Gerade deshalb 33 Vgl. Eisenstadt, S.N., "Sozialer Wandel, Differenzierung und Evolution•, in: Zapf, W., (Hji.), "Theorien des sozialen Wandels", Königstein(fs. 1979, S. 75-91. Vgl. dazu auch Jaroslawski, J., "Theorie der sozialistischen Revolution. Von Marx bis Lenin", Hamburg 1973. Meine Interpretation unterscheidet sich von der Jaroslawskis dadurch, daß ich es für einen Anachronismus halte, zu unterstellen, daß Lenin in der Phase, als er seine Parteikonzeption entwickelte, bereits an ein unmittelbares Hinüberwachsen der demokratischen in eine sozialistische Revolution gedacht hätte. Dieser Punkt ist aber entscheidend. 35 "Revolyutsionnaya demokraticheskaya diktatura proletariata i krestjanstva" (April 1905), PSS X, S. 20- 31, hier S. 26f.

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gelte es jetzt, möglichst viel Territorium zu erobern, um später weniger weit zurückgeworfen zu werden. Den "Ökonomisten" wie Akimow hält Lenin vor, daß ihre Konzeption des politischen Kampfes allzu bieder ist, um diesen diffizilen taktischen Manövern von Vorstoß und Rückzug, von Druck auf andere soziale Kräfte und Bündnispolitik eine Orientierung geben zu können. Obwohl in diesem Zusammenhang immer wieder von "Nur-Gewerkschaftlertum" (trade-unionism) die Rede ist, leugnet Lenin doch nicht, daß auch seine Opponenten den politischen Kampf wollen. So schreibt er in "Was tun?",36 jener berühmt gewordenen Polemik, die zu Beginn einer Phase wiedererstarkender politischer Aktivität der Intelligenz und der Arbeiterschaft entstanden ist,37 zu diesem Punkt: "Der Trade-Unionismus schließt keineswegs, wie man manchmal glaubt, jede 'Politik' aus. Die Trade-Unions haben stets eine gewisse (aber nicht sozialdemokratische) politische Agitation und einen gewissen politischen Kampf geführt."38

Das Problem sind die Grenzen, denen diese Art des politischen Kampfes unterliegt: "Der ökonomische Kampf 'stößt' die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, 'dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen', wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng."39

Damit wird gesagt, daß jene Kämpfe und das in diesen Kämpfen sich entwickelnde Bewußtsein keine systemtranszendierende Qualität hätten, gerade weil diese Kämpfe Ausdruck der ökonomischen Stellung der Arbeiterklasse im kapitalistischen Sektor der russischen Gesellschaft seien. Aus dem Stand sozioökonomischer Entwicklung folgte - materialistisch gedacht - die politische Notwendigkeit einer bürgerlichen Republik, nicht aber die - im Sinne historischer Determination - Notwendigkeit einer Führungsrolle der Arbeiterschaft bei der Schaffung dieser Republik. Diese Rolle erschließt sich vielmehr erst bei einer theoretischen Analyse der sozioökonomischen und der politischen Strukturen und bedarf zu ihrer Realisierung der theoretisch informierten Anleitung durch eine politische Organisation. Eben deshalb bestehe der "Grundirrtum aller Ökonomisten" in der Annahme, "daß man das politische Klassenbewußtsein der Arbeiter aus ihrem politischen Kampf sozusagen von innen heraus entwickeln könne ..."40 "Chto delat? Nabolevshiye voprosy nashego dvizhenia" (Herbst 1901 - Februar 1902), PSS VI:\ S. 1 - 192. 7 Vgl. Wildman 1967, S. 213ff. 38 A.a.O., S. 30, vgl. auch S. 73. 39 Ebda., S. 78f. 40 Ebda., S. 79.

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Gegen die unvermittelte Konfrontationspolitik der "Ökonomisten" setzt Lenin zur Auflösung des politischen Dilemmas, in dem er die russische Gesellschaft sieht, eine Konzeption, die geradezu ein Musterbeispiel "elaborierten" Denkens ist. Da es die bürgerliche "Aufgabe" der russischen Sozialdemokratie sei, "das ganze Volk vom Joch der Selbstherrschaft zu befreien",41 bedürfe sie der sozialistischen "revolutionären Theorie":42 "Unsere Sache, die Sache der Sozialdemokratie, ist es, die bürgerliche Revolution soweit wie möglich voranzutreiben, ohne jemals unsere wichtigste Aufgabe zu vergessen: die selbständige Organisation des Proletariats.•43

Worin besteht der Zusammenhang zwischen beiden "Aufgaben"? Allein der Logik der sozioökonomischen Entwicklung folgend, würde die Arbeiterbewegung zwangsläufig "unter die Fittiche der Bourgeoisie't44 geraten. Durch die Übernahme einer sozialistischen, den gegebenen Verhältnissen vorauseilenden Ideologie aber wird die Möglichkeit zur aktuellen Selbständigkeit der Arbeiterklasse und damit auch zum Erfolg der bürgerlichen Revolution gelegt. Deshalb schreibt die bolschewistische Partei auf ihr Banner nicht Interessen, sondern Ideale: "Die Aufgabe der Sozialdemokratie besteht eben darin, durch Organisierung der Arbeiter, durch Propaganda und Agitation unter ihnen, ihren spontanen Kampf gegen die Unterdrücker in einen Kampf der ganzen Klasse, in den Kampf einer bestimmten politischen Partei für bestimmte politische und sozialistische Ideale zu verwandeln."45

Bieten diese das ökonomische System transzendierenden "Ideale" die Legitimation für die Tätigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei und die generelle Orientierung für deren Arbeit, so hilft die "sozialistische Theorie" den aktuellen Tageskampf in diesen, die konkrete Situation überschreitenden, übergeordneten Kontext einzubinden und damit die Hegemonie der Arbeiterschaft im revolutionären Prozeß zu begründen. In dem Entwurf zu einer programmatischen "Ankündigung der Redaktion" des ersten Zentralorgans der sozialdemokratischen Partei im Jahre 1900 hat Lenin die Konsequenzen dieser Herangehensweise erläutert: "Da wir in der russischen Arbeiterklasse und in der russischen Sozialdemokratie die Vorkämpferin für die Demokratie, für die politische Freiheit sehen, halten wir es für notwendig, ( ...) daß wir alle demokratischen Fragen aufrollen und erörtern, ohne uns Ebda., S. 25.

''Es kann keine starke sozialistische Partei geben, wenn es keine revolutionäre Theorie gibt, die alle Sozialisten vereinigt, aus der sie alt ihre Oberzeugungen schöpfen und die sie auf die Metlwden ihres Kampfes und ihrer Tätigkeit anwenden." "Nasa programma" (Ende 1899), PSS IV, S. 182 186, hier S. 183. - "Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben." 42

"Cto delat'? ...", S. 24. 43 PSS IX, S. 381. 44 PSS VI, S. 40. 45 "Nasha blizhaishchaya zadacha" (Ende 1899), PSS IV, S. 187-192, hier S. 188.

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WalterSüß allein auf eng proletarische Fragen zu beschränken, daß wir alle Fälle und Äußerungen der politischen Unterdrückung aufgreifen und erörtern, den Zusammenhang zwischen der Arbeiterbewegung und dem politischen Kampf in allen seinen Formen aufzeigen, alle ehrlichen Kämpfer gegen die Selbstherrschaft heranziehen, welcher Ansicht sie auch seien und welchen Klassen sie auch angehören mögen, daß wir sie heranziehen für die Unterstützung der Arbeiterklasse, als der einzigen revolutionären und dem Absolutismus unwiderruflich feindlichen Kraft. Wenn wir uns in erster Linie an die russischen Sozialisten und klassenbewußten Arbeiter wenden, so wollen wir uns darum doch nicht ausschließlich auf sie beschränken.•46

Das für die Realisierung dieses Hegemonialanspruchs notwendige Bewußtsein aber kann nach allem, was bisher referiert wurde, nicht in der russischen Arbeiterklasse selbst entstehen: "Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus dem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen. "47

Die Leninsche Parteikonzeption steht in Funktion der Entwicklung und Ausbreitung dieses Wissens und der Organisierung und dem möglichst effizienten Einsatz seiner Träger. Der Unterschied zu den "Ökonomisten" liegt demnach sowohl in differierenden Vorstellungen über Bewußtwerdungsprozesse wie in einem unterschiedlichen Begriff vom Inhalt revolutionären Bewußtseins.'48 Diese Konzeption trägt in die russische Arbeiterbewegung einen anderen Denktypus hinein und setzt damit zugleich innerhalb der Arbeiterorganisation eine qualitative Abstufung zwischen ihren Mitgliedern, die mit dem Gegensatz von "Intellektuellen und Arbeitern" nur sehr unzulänglich beschrieben wäre. Die Leninsche Konzeption der Ablösung des Bewußtseins vom sozioökonomischen Entwicklungsniveau ist Ausdruck der russischen Rückständigkeit. Sie ist Ausdruck von Problemen, vor denen die revolutionäre Elite eines Entwicklungslandes in einer Situation struktureller Heterogenität49 steht: Zwar ist - teils von außen induziert, teils durch den Staat organisiert - ein bestimmter gesellschaftlicher "Fortschritt" erreicht worden, aber auf Kosten einer ungleichen, unausgewogenen gesellschaft46

PSS IV, S. 331f. PSS VI, S. 79. 48 Unter dem Eindruck der revolutionären Erhebung der Arbeiter im Jahre 1905 hat Lenin vorübergehend sogar die Position seiner Gegner übernommen. Er erklärte: ''Die Arbeiterklasse ist instinJaiv und spontan sozialdemokratisch. .." (Lenin, Werke, Bd.X, S.17) Wie seine späteren Schriften und seine weitere Politik zeigen, war diese Revision nicht von Dauer (vgl. etwa den "Resolutionsentwurf über die syndikalistische und anarchistische Abweichung• in der KPR vom März 1921, .Lenin, PSS XXXII, S.221-224). 49 Zum Begriff "struktureUer Heterogenität" vgl. D. Senghaas, "Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation", Frankfurt 1977, S. 41-48, 47

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liehen Entwicklung, die in ihren weiteren Perspektiven blockiert scheint, wenn nicht ein neuer historischer Akteur auf die Bühne tritt. Dieser neue Akteur ist weder, wie die sowjetische Geschichtsschreibung glauben machen will, "die Arbeiterklasse" noch, wie viele Kritiker Lenins und der sowjetischen Entwicklung annehmen, "die Intelligenz". Die Originalität des Leninschen Denkens macht vielmehr gerade die Verbindung zwischen beiden Elementen aus: Die Systemkrise bringt ihre Lösungsmöglichkeiten nicht aus sich selbst hervor und deshalb muß eine andere Kraft "von außen" intervenieren. Erfolgreich kann sie dies freilich nur dann, wenn sie an die innersystemischen Widersprüche und Potenzen anknüpft. Diese Kraft ist die revolutionäre Intelligenz. Dabei wird diese Intelligenz nicht etwa als soziale Schicht begriffen, denn der Intelligenz als sozialem Phänomen stand Lenin mit äußerster Skepsis gegenüber,50 sondern als Träger eines bestimmten Wissens. Lenin hat diese Funktion, denn um eine funktionale Bestimmung geht es, mit den Worten eines ftktiven Arbeiters an die Adresse der Intellektuellen zusammengefaßt: "Wir wollen all das wissen, was auch die anderen wissen, wir wollen alle Seiten des politischen Lebens gründlich kennenlernen und aktiv an jedem politischen Geschehnis teilnehmen. Dazu ist es notwendig, daß die Intellektuellen uns weniger das wiederholen, was wir schon selber wissen, dafür aber uns mehr davon vermitteln, was wir noch nicht wissen, was wir aus unserer Fabrikerfahrung und 'ökonomischen' Erfahrung nie lernen können: politisches Wissen. Dieses Wissen könnt ihr, Intellektuelle, erwerben, und ihr seid verpflichtet, es uns in hundert- und tausendfach größerem Ausmaß zu übermitteln, als ihr es bis jetzt getan habt...,.Sl

Die Intelligenz repräsentiert einen bestimmten Typus von Wissen, der allein durch Erfahrung nicht erworben werden kann: wissenschaftliches Wissen.52 Bereits in der 1894 veröffentlichten Schrift "Was sind die 'Volksfreunde"', einer Polemik gegen das populistische "Volkstümlertum" (Narod50 "Die Zusammensetzung der 'Intelligenz' liegt ebenso offen zutage wie die Zusammensetzung der mit der Produktion der materiellen Werte beschäftigten Gesellschaft: herrscht und regiert in dieser der Kapitalist, so gibt in jener der immer größer werdende Haufen von Karrieristen und Mietlingen der Bourgeoisie den Ton an - eine zufriedene und geruhsame, allen Phantastereien abholde 'Intelligenz', die sehr gut weiß, was sie wiU." "Chto takoye 'druzya naroda' i kak oni voyuyut protiv sotsial-demokratov" ,1894, PSS I, S. 305. - "Die Gebildeten, überhaupt 'die Intelligenz; müssen sich gegen die barbarische polizeiliche Unterdrückung durch den Absolutismus auflehnen, der Denken und WISsen verfolgt, die materiellen Interessen dieser Intelligenz binden sie jedoch an den Absolutismus, an die Bourgeoisie, zwingen sie, inkonsequent zu sein, Kompromisse zu schließen, ihren oppositionellen und revolutionären Elan für ein Beamtengehalt oder für eine Beteiligung an Profiten und Dividenden zu verkaufen." "Zadachi russkikh sotsial-demokratov" (Ende 1897), PSS

II, S. 433 - 470, hier S. 454. Vgl. auch "Retsenzia. Kar! Kautsky. Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik", PSS IV, S. 208 f. 51 PSS VI, S. 73f. 52 Zu Lenins Wissenschaftsb~griff vgl. die Einleitung von Meyer, T. zu "W. I. Lenin, Hefte zu Hegels Dialektik", München 1969, S. 33ff.

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nitschestwo), hat Lenin die Funktion der "sozialistischen Intelligenz" mit diesem Typus von Wissen beschrieben: "Ihre (der sozialistischen Intelligenz -WS) Theoretische Arbeit wird dabei in der konkreten Untersuchung aller Formen des wirtschaftlichen Antagonismus in Rußland, in der Untersuchung ihres Zusammenhangs und ihrer folgerichtigen Entwicklung bestehen müssen; sie muß diesen Antagonismus überall bloßlegen, wo er durch die politische Geschichte, durch die Besonderheiten der Rechtsverhältnisse und durch eingewurzelte theoretische Vorurteile verhüllt wird. Sie muß ein in sich geschlossenes Bild unserer Wirklichkeit als eines bestimmten Systems von Produktionsverhältnissen geben, die Notwendigkeit der Exploitation und Expropriation der Werktätigen in diesem System zeigen, sie muß den Ausweg aus diesen Zuständen zeigen, auf den die wirtschaftliche Entwicklung hinweist..,53

So bestünde der Beitrag der sozialistischen Intelligenz gerade darin, durch ihre theoretische Arbeit die "Selbständigkeit der Arbeiterklasse" in einer bürgerlichen Revolution und damit deren Führungsrolle und den schließliehen Erfolg dieser Revolution zu begründen. IV.

Zusammenfassung, Einwände, Ausblick Erstens war die Rolle, die der Intelligenz in der bolschewistischen Revolutionskonzeption zugewiesen wurde, Ergebnis der Annahme einer Disparität von sozioökonomischem Niveau, prognostizierter ökonomischer Entwicklung und den politischen Formen ihrer Durchsetzung. Der bolschewistische Parteiflügel sah keine Möglichkeit, die anvisierte politische Lösung ("demokratische Republik") direkt mit den gegebenen sozioökonomischen Interessen zu verknüpfen: die Bauern schienen kulturell zu unentwickelt, um eine eigenständige politische Rolle spielen zu können; das Bürgertum war in seiner sozioökonomischen Interessenlage zu ambivalent, um eine radikale politische Entwicklung konsequent durchzusetzen; die Arbeiterschaft wurde durch ihre Interessen nur auf einen Kampf gegen das Unternehmertum und für einzelne politische Verbesserungen gestoßen, nicht aber für die von ihr geforderte politische Hegemonie in der Gesamtgesellschaft qualifiziert. Diese Lücke sollte durch die Integration der Intelligenz in den revolutionären Prozeß geschlossen werden. Dabei wurde Intelligenz nicht als soziale Schicht gefaßt (für diese galt das gleiche Verdikt wie für das Bürgertum),54 sondern durch den spezifischen Typus und den Inhalt ihres Wissens: Einsicht in das sich nur S3

PSS I, S. 307. Dem Widerspruch zwischen der Zuschreibung einer funktionalen Rolle im Dienst des Proletariats und der kleinbürgerlichen sozialen Existenz der Intelligenz suchte Lenin damals schon durch die Schaffung einer "Arbeiterintelligenz" beizukommen. Vgl. "Popyatnoye napravleniye v russkoi sotsial-demokratii" (Ende 1899), PSS IV, S. 268f. 54

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"verhüllt" (Lenin) darbietende Wesen gesellschaftlicher und politischer Erscheinungen dank sozialwissenschaftlicher Analyse und darauf basierender gesamtgesellschaftlicher Prognose. Zweitens. Wenn es der spezifische Vorteil dieser Konzeption war, daß sie an die gegebenen sozioökonomischen Verhältnisse zwar anknüpfte, sie aber nicht einfach in den politischen Bereich verlängerte, sondern zu transzendieren suchte, so war ihre speziftsche Schwäche, daß sie für die Frage nach der sozialen Eigendynamik der von ihr in Gang gesetzten politischen Prozesse keine Antwort enthielt. Dies gilt sowohl für den revolutionären Prozeß allgemein wie für die Rolle der revolutionären Intelligenz im besonderen. Als Beleg für diese These sei aus einer Polemik Lenins gegen die Menschewiki zitiert. In dieser Polemik, die in den ersten Monaten des Jahres 1905 abgefaßt wurde, geht es um die Frage einer Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie, die von den Menschewiki abgelehnt, von den Bolschewiki befürwortet wird. Lenin faßt die Position seiner Kontrahenten mit folgenden Worten zusammen: "Wenn wir in der provisorischen Regierung sind, sagt man uns, werde die Sozialdemokratie die Macht in den Händen halten; die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats könne aber die Macht nicht in Händen halten, ohne den Versuch zu machen, unser Maximalprogramm zu verwirklichen, d.h. ohne zu versuchen, die sozialistische Umwälzung durchzuführen. Bei einem solchen Unterfangen aber würde sie heute unvermeidlich eine Niederlage erleiden und sich nur blamieren, nur der Reaktion in die Hände spielen. Darum sei die Teilnahme der Sozialdemokratie an einer provisorischen revolutionären Regierung unzulässig."

In seiner Antwort gesteht Lenin zu, daß die Diagnose zutreffend ist, bestreitet aber, mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen "demokratischem Minimalprogramm" und "sozialistischem Maximalprogramm", daß aus ihr die richtigen Schlußfolgerungen gezogen worden wären - irgendwelche Gefahren aus eitler Regierungsbeteiligung ergäben sich nämlich nicht: "Die Anhänger dieser irrigen Meinung verfallen in eine Anbetung der Spontaneität, wenn sie glauben, der Gang der Dinge werde die Sozialdemokratie zwingen, in einer solchen Lage gegen ihren Willen an die Durchführung der sozialistischen Umwälzung zu gehen. ( ...) Gerade der Gang der Dinge wird uns bei der demokratischen Umwälzung unvermeidlich eine solche Menge von Verbündeten aus dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft aufdrängen, deren reale Bedürfnisse die Durchführung des Minimalprogramms erfordern werden, daß die Befürchtungen eines allzu raschen Übergangs zum Maximalprogramm geradezu lächerlich sind..ss

Gerade diese "lächerlichen Befürchtungen" sollten dreizehn Jahre später Realität werden. Für Lenin war das deshalb nicht voraussehbar, weil er die sozialistische Eigendynamik des revoltierenden Proletariats unterschätzte56 53 56

PSS X, S. 23f. Vgl. dazu meine Arbeit "Der Betrieb in der UdSSR Stellung, Organisation und Manage-

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und mehr noch, weil er aufgrund seiner rein funktionalen Bestimmung der revolutionären Intelligenz deren soziales Interesse an einer weiteren Forderung dieses Prozesses und der Etablierung nicht-bürgerlicher Verhältnisse vernachlässigt hatte. Drittens. Der Preis, den die revolutionäre Intelligenz für diese Reduktion auf ihre funktionale Rolle zahlen mußte bzw. sich selbst abverlangte, war schon damals hoch: Er war das permanente Mißtrauen gegen diese Intellektuellen, ob sie denn ihrer Rolle auch gerecht und nicht zum Vermittler "UDproletarischer" Interessen und Verhaltensweisen würden. Das auf dem 2. Parteitag verabschiedete Statut wurde als das "organisierte Mißtrauen der Partei gegen alle ihre Teile",57 d.h. der Intellektuellen in der Parteiführung gegen die Parteibasis und gegen die Berufsrevolutionäre im mittleren Parteiapparat, verstanden. Durch den 3. Parteitag (1905) wurde eine begrenzte Privilegierung der Arbeiter im innerparteilichen Entscheidungsprozeß beschlossenss - explizit mit dem Ziel, die Intellektuellen unter Kontrolle zu halten.59 Der Partei-Funktionär - dieses Wort ist außerordentlich charakteristisch - darf keine eigenen Interessen und keine eigene soziale Identität außerhalb des zweck-rationalen Organisationsgefüges haben. Viertens. Umgekehrt ist in der durch diese Parteientwicklung gesetzten Tradition Intelligenz "proletarische" Intelligenz auch dadurch, daß sie sich von den "Tagesinteressen" der Arbeiterschaft löst und deren "Gesamtinteresse" vertritt, ist sie "sozialistische" Intelligenz dadurch, daß sie die gegebenen sozioökonomischen Verhältnisse von einer "wissenschaftlich" definierten Zukunft her beleuchtet und verändert. Andere Wissenschaftsrichtungen werden als "bürgerlich" und damit als durch soziale Interessen bestimmt kritisiert. Die eigene Wissenschaft aber scheint durch den Rekurs auf einen künftigen Idealzustand der Menschheit von solcher Beschränkung durch soziale Interessen frei. Die systematische Begründung für diese Annahme ist natürlich die Marxsche These, das Proletariat habe kein besonderes Interesse an der Etablierung einer neuen Klassengesellschaft, sondern verkörpere das allgemeine ment 1917 -1932", Frankfurt, Bem 1981, Kap. I. 57 So Trotzki in einer vielzitierten Rede. "Vtoroi sezd .. .", S. 169. ss Arbeiter konnten mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit die Auflösung eines örtlichen Komitees beschließen, wenn das Zentralkomitee dem ebenfalls mit gleicher Mehrheit zustimmte. Vgl. Brunner 1965, S. 110. 59 Ursprünglich war vorgeschlagen worden, daß zwei Drittel aller Mitglieder vor Ort die Auflösung eines Komitees vom ZK fordern könnten. Lenin brachte den Abänderungsantrag ein, daß nur die Arbeiter-Mitglieder dieses Recht haben sollten und begründete das mit den Worten: ''Wenn dieser Paragraph die Komitees bedroht, die aus Intellektuellen bestehen, bin ich durchaus dafür. Die Intellektuellen müssen immer mit eiserner Faust angepackt werden. (... )Auf eine kleine Intellektuellenperipherie kann man sich nicht verlassen, aber auf Hunderte organisierter Arbeiter kann undsoUman es." 3. Parteitag der RSDRP (April1905), PSS X, S. 167.

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Interesse an einer herrschaftsfreien Gesellschaft.60 Daß diese These auf die revolutionäre Intelligenz in einem halbentwickelten Land übertragbar sei, konnte nur dann angenommen werden, wenn diese Intelligenz so betrachtet wurde, als sei sie in ihrem Denken und Handeln allein durch ihre funktionale Rolle für die revoltierende Arbeiterschaft bestimmt. Gerade in dem Punkt, in dem ihr Beitrag zur revolutionären Bewegung als unverzichtbar erschien, war nämlich (im Unterschied etwa zu einem bestimmten Sozialverhalten) keine "proletarische" Kontrolle möglich, denn die Intelligenz repräsentierte ja einen anderen Typus von Wissen, der zwar einzelnen sozial aufgestiegenen und der Intelligenz assimilierten Arbeiterkadern, nicht aber der Arbeiterschaft in ihrer Masse zugänglich war. Fünftens. Das Ergebnis der "Ökonomismus-Debatte" war für die weitere revolutionäre Entwicklung in Rußland und für die Ausformung des stalinistischen Herrschaftssystems nicht unerheblich. Gewiß sollte die Wirkungskraft ideologischer Kontinuitäten nicht überschätzt werden, denn welche ideologischen Traditionen bewahrt, welche verworfen oder vergessen werden, läßt sich nicht nur aus diesen selbst erklären. Doch bot die Auffasssung von Bewußtseinsbildung, der Rolle der Intelligenz und der Partei, die in dieser Debatte von bolschewistischer Seite ausformuliert worden war, ein vorzügliches Argumentationssystem für die Führung des sich verselbständigenden Partei-Staates. Lassen wir die erste revolutionäre Periode des "Kriegskommunismus" und die ihn ablösende Neue Ökonomische Politik beiseite und konzentrieren wir uns auf den Übergang zum Stalinismus Ende der 20er/Anfang bis Mitte der 30er Jahre. Die Ausgangssituation weist durchaus einige Parallelen zur Lage in Rußland am Beginn des Jahrhunderts auf: Die Sowjetunion befand sich in einer krisenhaften, aber historisch offenen Situation. Aus den Krisenelementen selbst konnte keine unmittelbare Orientierung gewonnen werden; kein Teil der Gesellschaft vertrat sozioökonomische Interessen, deren politische Verallgemeinerung zu einer die Gesamtgesellschaft befriedigenderen Lösung geführt hätte: die Bauernschaft drängte, soweit sie überhaupt innere Dynamik aufzuweisen hatte, auf fortschreitende innere Differenzierung und auf die Durchsetzung unbeschränkter Marktverhältnisse; die Arbeiterschaft wehrte sich gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und kämpfte um eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage;

(,() Vgl. Marx, K., Engels, F., '"Manifest der Kommunistischen Partei", in: dies., "Werke", Bd.

IV, Berlin 1m, s. 482.

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die wissenschaftliche Intelligenz forderte mehr Privilegien und größere Unabhängigkeit von adminstrativen und politischen "Einmischungen"; der administrative und politische Apparat strebte nach Ausweitung seiner Kontrolle über die Gesellschaft. In einer Reihe von Krisen - angefangen bei dem Rückgang der staatlichen Getreidebeschaffung bis hin zu den innerparteilichen Kämpfen - wurden diese Widersprüche manifest. Daß damit aber der Zeitpunkt gekommen sei, an dem die Arbeiterklasse stark genug dazu gewesen wäre und sich gar aus eigenem Antrieb dazu gedrängt hätte, eine sozialistische Assoziation der Produzenten durchzusetzen, kann nicht behauptet werden. War die russische Bourgeoisie zu schwach gewesen, die bürgerliche Revolution zu machen, so war diese Arbeiterklasse zu schwach, um den Sozialismus durchzusetzen.61 Damit stand wieder das Problem auf der Tagesordnung, ob die "nächste historische Etappe" von einer gesellschaftlichen Klasse bzw. Schicht eingeleitet werden könne, deren Interessen mit dem anstehenden Ziel nicht zusammenfielen. Wieder war es die politische Intelligenz, die dieses Ziel propagierte. Dies festzustellen, bedeutet freilich gerade nicht zu postulieren, der schließlich eingeschlagene Weg sei unausweichlich gewesen. Eine modifizierte Weiterführung der "Neuen Ökonomischen Politik" scheint ex-post durchaus im Rahmen des Möglichen gelegen zu haben. Dagegen sprach allerdings, daß nun in Gestalt des sich herausbildenden Partei-Staates eine Schicht bereitstand, die mit diesem "wissenschaftlichen" -jetzt "marxistisch-leninistisch" genannten - Denken ihre Hegemonie begründen und sich der Zielsetzung einer erneuten Systemtransformation als Mittel der eigenen Interessenvertretung bedienen konnte: Sozialismus als Staatsideologie. Diese sich konsolidierende Schicht konnte auf weitere in der "Ökonomismus-Debatte" angelegte Elemente politischer Tradition zurückgreifen: die Vernachlässigung der sozialen Eigendynamik politisch initiativer Trägergruppen, so daß die neue soziale Schicht von Aufsteigern mit eigenen Karriereinteressen und einem eigenständigen Interesse am Erhalt des nun erreichen Status quo hinter der Formel von der "sozialistischen Volksintelligenz" verborgen und deren Interessenpolitik als individuelle "Abweichung" bei der Ausübung staatlich-parteilich definierter Funktionen betrachtet werden konnte; die rationalistische und funktionalistische Definition der Intelligenz als Legitimationsideologie des Staatseigentums; 61 Ein Beleg für diese These ist nicht nur die Interessendivergenz zwischen Arbeiterschaft und Bauemsehaft und auch - natürlich aus anderen Gründen - dem bereits existierenden bürokratischen Apparat, sondern auch die Tatsache, daß die Mobilisierung der Arbeiterschaft Ende der 20er Jahre dem Apparat nur vereinzelt aus den Händen glitt, d.h. von den Arbeitern kaum dazu genutzt wurde, eine nicht-bürokratischen Vergesellschaftungsform durchzusetzen.

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die Definition dieser Intelligenz durch "Wissenschaft" und "sozialistische Zielsetzung", die unmittelbare proletarische Kontrolle eher als hinderlich erscheinen ließ, und damit die "wissenschaftliche" Verklärung der Politik von Partei und Staat wie auch der innerbetrieblichen Verhältnisse; das Mißtrauen von Teilen der Partei und der Arbeiterschaft gegen die Intelligenz als sozialer Erscheinung, das für Fraktionskämpfe innerhalb der Partei wie zwischen Partei und Staat jederzeit mobilisierbar war selbstverständlich auch durch die revolutionäre Intelligenz und ihre politischen Nachfolger selbst. Die Arbeiterklasse selbst schließlich, um derentwillen vorgeblich all diese Transformationsprozesse eingeleitet wurden, konnte in das Prokrustes-Bett ihres "historischen Auftrages" gezwängt werden: Die proletarische Mobilisierung Ende der 20er Jahre ging einher mit der Forderung, daß sich die Arbeiterschaft von ihren "engen" ökonomischen Interessen zu lösen habe, denn ihre "wahren Interessen" würden nicht in den Tageskämpfen sichtbar, sondern existierten bereits in Form der Partei und des "Arbeiterstaates". Diese Argumentation, die den Interessen des Apparates entsprach, war nicht unmittelbar einsichtig; deshalb wurde ihrer Durchsetzung mit der Umorientierung der Gewerkschaften, weg vom "Trade-Unionismus" hin zu einer die Staatsinteressen fördernden Politik, disziplinierend nachgeholfen. Als das nicht genügte, folgte bis Ende der 30er Jahre eine Fülle von immer repressiveren Maßnahmen und Gesetzen. Aber selbst noch da, wo die Arbeiterschaft tatsächlich mobilisiert wurde- etwa Ende der 20er Jahre gegen das Betriebsmanagement oder in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zur Akklamation der "Säuberungen" - war sie nur Bauer im politischen Schach - in zynischer Funktionalisierung ihrer Frontstellung gegen "die da oben". Freilich war auch mit dieser Politik, mit der der Objektstatus der Arbeiterschaft auf die Spitze getrieben wurde, die Aktualität der "Ökonomismus-Debatte" keineswegs ausgeschöpft. Zum einen ist der Gegensatz von Arbeiterschaft und Intelligenz bzw. "proletarischer" Partei nicht aufhebbar, solange diese soziale Differenzierung selbst fortbesteht. Zum anderen reproduziert sich der vorrevolutionäre Gegensatz zwischen revolutionärem Pragmatismus und revolutionärem Fundamentalismus auch in den heutigen Oppositionsbewegungen - gerade in den "sozialistischen Ländern". Ein aktuelles Beispiel dafür ist etwa die Auseinandersetzung im Polen des Jahres 1989 zwischen pragmatischer - "Solidarität" und - fundamentalistischer - "Kämpfender Solidarität" um die Frage einer Beteiligung am herrschenden politischen System unter dem Zeichen einer "Rettung der Nation": In historischen Situationen, in denen die "Machtfrage" zwar auf der Tagesordnung steht, aber keine eindeutige Lösung im Interesse einer der beiden Seiten möglich scheint, sind Vermittlungen und damit auch "Vermittler" notwendig. Ebenso naheliegend ist

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es, daß andere um die Identität der "Klasse" oder der "Bewegung" fürchten und "Elitismus" oder gar "Verrat" wittern. Der Verweis auf die "Machtinteressen" der Intelligenzija, der Parteiführer oder der Sprecher der "Bewegung" hilft zum Verständnis solcher Konstellationen wenig weiter - begriffen werden können sie nur, wenn man sich auf die jeweilige gesellschaftliche Problematik und die innere Logik der widerstreitenden Konzeptionen einläßt.

Zum Handlungsspielraum der Sozialdemokratie in der Frühphase der Weimarer Republik Von Klaus Megerle

I. Am Ende seines eindrucksvollen dreibändigen Werkes über die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik zieht Heinrich A. Winkler ein Fazit bezüglich der Gestaltungsmöglichkeiten der SPD: 1 "Die Sozialdemokraten erstrebten 1918 die parlamentarische Demokratie und damit eine Staatsform, die der deutschen Gesellschaft ein ihrem kulturellen und materiellen Entwicklungsstand entsprechendes Maß an politischer Freiheit zu geben verhieß. Sie verkannten, daß Parlamentarismus nirgendwo nur mit parlamentarischen Mitteln durchgesetzt worden ist. Die Chance, durch Reformen Strukturen zu verändern, die einer Demokratie entgegenstanden, war unmittelbar nach dem 9. November 1918 am größten. Sie wurde nicht genutzt. Die Folge, ein Übermaß an gesellschaftlicher Kontinuität zwischen kaiserlichem Obrigkeitsstaat und demokratischer Republik, hinderte viele Sozialdemokraten daran, sich mit dem neuen Staat zu identifizieren. Die sozialdemokratische Machtscheu schwächte die parlamentarische Demokratie und gab so den ohnehin starken antiparlamentarischen Kräften im Bürgertum zusätzlichen Auftrieb."

Diese Interpretation ist heute in der Geschichtsforschung nahezu unumstritten;2 trotzaller konterkarierenden Rahmenbedingungen und bestehenden Handlungszwängen gilt es als gesichert, daß der Gestaltungsspielraum in der revolutionären Umbruchsphase der Jahrhundertwende 1918/19 weitaus größer war, als er von der damals ausschlaggebenden SPD wahrgenommen wurde. Es wäre jedoch sicherlich verfehlt, in diesem Versäumnis die entscheidende Ursache für das Scheitern der Weimarer Demokratie sehen zu wollen, und es wäre auch voreilig, daraus eine weitgehende (Selbst-)Ausschaltung der Sozialdemokratie aus dem Entscheidungsprozeß der Republik abzuleiten. Selbstverständlich wäre eine von den gesellschaftlichen Belastungen der Kaiserzeit befreite und stärker nach demokratischen Prinzipien ausgerichtete Republik für die anstehenden politischen und sozialen Auseinandersetzungen wesentlich gefestigter und für eine sozialdemokratische Einflußnahme offener 1 Winkler, Heinrich A., Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin, Bann 1987, S. 952. 2 Zum Forschungsstand vgl. Kolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, München 1988, S. 153 ff.

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gewesen. Dennoch hatte die in Weimar konstituierte Form der parlamentarischen Demokratie ihre Chance. Dies galt - unter ausgesprochenen bürgerlichen Vorzeichen- sicherlich für die Mittelphase des Weimarer Staates; angesichts der relativen ökonomischen Stabilisierung und der dadurch erweiterten Verteilungsspielräume sowie der partiellen Annäherung der bisherigen Verfassungsgegner aus dem konservativen Lager schien die Wende zu einer von den bürgerlichen Parteien getragenen Republik eingeleitet. Aber auch die SPD besaß zweifellos noch die Möglichkeit, die Entwicklung der Weimarer Republik mitzubestimmen. Dies galt einmal für die Zeit der sozialdemokratisch geführten Großen Koalition von 1928 bis 1930. Obwohl damals bereits die ersten Symptome der Weltwirtschaftskrise auftraten, gab es zumindest bis Ende 1929 einen außenpolitisch begründeten Maximalkonsens zwischen den Regierungsparteien, der durchaus noch für begrenzte innenpolitische Stabilisierungsmaßnahmen und Reformen hätte genutzt werden können. Zum anderen dürfte dies aber selbst für die Frühphase gelten. Trotz der mehrfachen Aufstands- und Putschversuche, einer vom Trab in den Galopp gefallenen Inflation sowie der außen- und reparationspolitischen Defensive des Reiches, handelte es sich damals wohl nicht nur um eine Zeit defätistischer Zwangsläufigkeit, wie die üblicherweise gewählte Kennzeichnung als Phase des schweren Erbes, der Unsicherheit oder der Selbstbehauptung suggeriert.3 Zumindest ein Blick in die zeitgenössische Presse - die für diese Überlegungen ausgewertet wurde4 - belegt, daß auch nach den Versäumnissen des revolutionären Zwischenspiels noch ein innenpolitischer Handlungsspielraum nicht zuletzt auch für die sozialdemokratische Politik bestand. Ein anschauliches Beispiel dafür gab Georg Bernhard im November 1922 in einem Leitartikel der "Vossischen Zeitung", als er im Zusammenhang mit der anstehenden Regierungsbildung die besondere Bedeutung und Verantwortung der SPD betonte:5 "Die Sozialdemokratie wird jetzt als der widerspenstige Geschäftsteilhaber angeklagt. ... Sie fürchtet innere Widerstände und namentlich Schwierigkeiten bei der Durchführung der Verschmelzung der beiden sozialistischen Parteien. Wenn die Sozialdemokratie eine Partei wie jede andere wäre, so würde die Arbeitsgemeinschaft der Volkspartei, des Zentrums und der Demokraten vielleicht sagen können: was gehen uns eure inneren Schwierigkeiten an. Aber die Sozialdemokratie ist tatsächlich etwas Besonderes. Sie bildet die Scheidewand zwischen organisierter Politik und Politik der Straße. Was sie an Anhängern verliert, gibt sie an die Politik des Unterirdischen, an die Politik der Zerstörung ab. Sie hat eine Verantwortung, die viel größer ist als die Verantwortung der an3 Vgl. Stammes, Thee, Die Weimarer Republik. Band 1: Das schwere Erbe 1918- 1923, München 1987; Krüger, Peter, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985; Kolb, Weimarer Republik. 4 Ausgewertet wurde: "Vorwärts", "Berliner Tageblatt", "Vossische Zeitung", "Gerrnanis" und "Deutsche Allgerneine Zeitung". 5 Bernhard, Georg, Die Unvernunft der Logik, in: "Vossische Zeitung", Nr. 549, 19.11.1922.

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deren Parteien. Und ihre Verantwortlichkeit ist gleichzeitig die Verantwortlichkeit der anderen Parteien. Ihr Schicksal ist bis zu einem gewissen Grade das Schicksal des Reiches.•

Diese und andere Verlautbarungen zeigen, daß der SPD im Lager des gemäßigten Bürgertums noch immer- und sei es nur aus Angst vor neuen sozialen Unruhen- ein großer politischer Einfluß eingeräumt wurde. Andererseits können sie aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Position der Sozialdemokratie seit den Wahlen zur Nationalversammlung erheblich verschlechtert hatte. Die alleinige Regierungsgewalt, die die SPD vor dem 19. Januar 1919 ausübte, war zwar durch den Rückgriff auf bürgerliche Fachminister, die Kontinuität der Verwaltung und die Kooperation mit dem monarchischen Militär bereits erheblich geschmälert worden, aber die Legitimität staatlicher Macht hatte durch Übertragung und kraft revolutionären Akts in doppelter Weise und einzig die Sozialdemokratie besessen. Dies änderte sich mit den Wahlen zur Nationalversammlung. Der für die SPD enttäuschende, nach den vorhergehenden Landtagswahlen allerdings nicht überraschende Wahlausgang6 sah die Sozialdemokratie mit 37,9% der gültigen Stimmen weit von der absoluten Mehrheit entfernt und selbst eine Koalition mit der USPD wäre mit 187 von 423 Mandaten deutlich in der Minderheit geblieben. Damit war die Sozialdemokratie auf die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien angewiesen; die Koalitionsfrage wurde zum entscheidenden Kriterium für die Einflußmöglichkeiten der Partei, ihre Entwicklllll.g bis 1925 soll deshalb in den weiteren Überlegungen eingehender erörtert werden.7 II.

Während der ersten sechs Jahre der Weimarer Republik wurden zwölf Regierungen gebildet.8 Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung bzw. den Reichstagen und aufgrund der politischen Situation kam es dabei nie zur Alleinregierung einer Partei. Vielleicht mit Ausnahme des sogenannten Geschäfts- oder Fachministeriums unter Wilhelm Cuno, dem aber auch Politiker mehrerer Parteien angehörten, handelte es sich stets

Zu den Wahlergebnissen im Reich und in den Ländern siehe: Falter, Jürgen u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986. 7 Dabei greife ich auf meinen Vortrag beim wissenschaftlichen Symposium "Friedrich Ebert und seine Zeit - Bilanz und Perspektiven der Forschung" am 13./14.2.1989 in Heidelberg zurück. 8 Es handelte sich um die Kabinette Scheidemann (13.3.-20.6.1919), Bauer (21.6.191926.3.1920), Müller I (27.3.-8.6.1920), Fehrenbach (25.6.192045.1921), Wirth I (105.-22.10.1921), Stresemann I (13.8.-4.10.1923), Stresemann li (6.10.-23.11.1923), Marx I (30.11.1923-265.1924), Marx li (3.6.-15.12.1924) und Luther I (15.1.-5.12.1925).

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um Koalitionsregierungen oder zumindest um verdeckte Koalitionskabinette.9 In sieben dieser zwölf Regierungen waren auch Sozialdemokraten vertreten.10 Die Häufigkeit des Regierungswechsels und die teilweise heterogene Zusammensetzung der Kabinette deuten bereits darauf hin, daß die Koalitionsfrage in dieser Zeit eine Bedeutung erlangt hatte, die über die übliche Kompromißsuche in einer parlamentarischen Demokratie ohne Mehrheitspartei weit hinausging. Untermauert wird diese Einschätzung durch den Hinweis, daß sechs der zwölf Regierungen zurücktraten oder neu gebildet werden mußten, weil sich die beteiligten Fraktionen über die parteipolitische oder personelle Zusammensetzung der Kabinette zerstritten hatten oder einzelne Parteien eine entsprechende Änderung herbeiführen wollten.11 Auch wenn hinter den Koalitionsauseinandersetzungen vielfach interessenpolitische Erwägungen gestanden haben mögen, ist es doch erstaunlich, welchen Stellenwert die Koalitionsfrage in einer Zeit erlangte, in der der Versailler Vertrag und seine Folgeregelungen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme sowie Putsche und Revolten die Politiker beschäftigten. Das Erstaunen wird noch größer, wenn bedacht wird, daß den Regierungsbildungen teilweise wochenund auch monatelange Rangeleien der Parteien um die Koalitionsfrage vorausgegangen sind.12 Nicht umsonst haben alle Parteien in diesen Regierungskrisen je nach Standort entweder eine Gefährdung des Parlamentarismus oder, wie die Rechtsparteien, den Beweis gesehen, daß der Parlamentarismus ein zumindest für Deutschland ungeeignetes System sei. 13 Ein Blick auf die Koalitionsverhandlungen zeigt, daß die Probleme im Laufe der Zeit tendenziell zunahmen. Die Mehrheitsverhältnisse hatten sich ebenso geändert wie die Rolle der einzelnen Parteien im Parteiensystem. Die Furcht, aufgrund der Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner Anhänger und Wähler zu verlieren, minderte die Kompromiß- und Koalitionsbereitschaft zumindest so lange, als nicht der jeweilige unmittelbare Konkurrent um Wählerstimmen ebenfalls am Kabinettstisch vertreten war. So äugte die SPD nach links; mehrheitlich war sie zwar zum Bündnis mit den Linksliberalen Dem Kabinett Cuno gehörten neben parteilosen Ministern Politiker des Zentrums (3), der DDP (2), der DVP (2) und der BVP (1) an. OffiZiell galten auch die Ministerien Wirth II ("Kabinett der Persönlichkeiten") und Luther I ("Kabinett der Verbindungsmänner") nicht als Koalitionsregierungen. 10 Sozialdemokratische Politiker waren in den Kabinetten Scheidemann, Bauer, Müller, Wirtl und II, Stresemann I und II vertreten. 11 Derartige Momente spielten zumindest teilweise eine Rolle bei der Demission der Regierunyen Bauer, Müller, Wirth II, Stresemann I, Marx I und Marx II. 1 Am längsten dauerte die Krise nach den Reichstagswahlen vom ?.Dezember 1924: Erst am 15.1.1925 konnte die Regierung Luther ernannt werden. 13 Vgl. dazu die Pressekommentare, z.B. "Vorwärts", Nr. 548, 19.11.1922; "Berliner Tageblatt", Nr. 553, 30.11.1923; "Germania", Nr. 217, 3.6.1924; "Deutsche Allgemeine Zeitung", Nr. 499/500, 16.11.1922.

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und dem Zentrum bereit, eine Kooperation mit der DNVP und zunächst auch mit der DVP lehnte sie aber strikt ab. Die DDP wollte zusätzlich zu ihren Partnern von Weimar unbedingt mit der DVP koalieren; ihre Wunschregierung war die Große Koalition. Die Nationalliberalen hingegen bemühten sich - als sie selbst durch kleine und große Koalitionen regierungsfähig geworden waren-, die SPD hinauszudrängen und dafür die Deutschnationalen mit allen Mitteln in die Regierung zu ziehen. Dazu war die DNVP schließlich auch bereit, allerdings selbstverständlich ohne Marxisten und möglichst auch ohne die DDP, dafür aber mit einigen Vorbehalten und einer Einflußnahme, die sich auch auf die preußische Regierungsbildung erstrecken sollte. Das Zentrum, das zunächst an der Weimarer Koalition beteiligt war, plädierte schließlich aus grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Erwägungen, vor allem aber wohl aus Rücksicht auf seine divergierenden Flügel, für eine Volksgemeinschaft von der SPD bis zur bNVP. Da sich diese nicht realisieren ließ, wollte sie mit der SPD nicht ohne DVP und mit der DNVP nicht ohne DDP koalieren. Wahrlich eine verworrene Situation. Schließlich gelang die Regierungsbildung aber doch immer wieder und nicht nur deshalb, weil "eine Regierung sein muß". 14 Bei allen Schwierigkeiten und Ungewißheiten, die die Koalitionsverhandlungen, Parteiführerbesprechungen und Fraktionsbeschlüsse mit sich brachten, ist bis 1925 eine stufenweise Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach rechts zu konstatieren. Vier Schübe sind dabei zu erkennen:

1. Innen- und außenpolitisch konstituiert wurde die Republik durch hegemoniale Koalitionen der SPD.15 Neben dem Reichspräsidenten stellte sie in den ersten drei Kabinetten den Ministerpräsidenten bzw. den Reichskanzler und die Hälfte der Regierungsmitglieder. Die Koalitionspartner. DDP und Zentrum waren nach den Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung prinzipiell austauschbar. Beendet wurde diese Phase durch die Reichstagswahlen von 1920, bei denen SPD und DDP schwere Einbußen hinnehmen mußten und die Weimarer Koalition die Mehrheit verlor, durch den darauf folgenden Rückzug der Sozialdemokraten aus der Regierungsverantwortung und durch die Bildung eines Minderheitskabinetts der bürgerlichen Mittdparteien. 2. Die nächste Stufe der Machtverlagerung stellten die von Joseph Wirth geführten Ministerien dar. Auch hier handelte es sich um Weimarer Koalitionen, aber die Führung und die eindeutige Mehrheit der Kabinettsmitglieder stellten die bürgerlichen Parteien. Da es sich bis zur Vereinigung der beiden 14 "Germania", Nr. 25, 16.1.1925 als Erklärung dafür, daß sich das Zentrum nun doch an der von Luther geführten Regierung mit Politikern der DNVP beteiligt. 15 Dazu Kastning, Alfred, Die deulsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919-1923, Paderborn 1970, S. 153.C.

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sozialdemokratischen Fraktionen um Minderheitskabinette handelte, die bei innenpolitischen Entscheidungen zumeist von der DVP gestützt wurden, waren die Einflußmöglichkeiten der SPD zusätzlich begrenzt. Ihre Stärkung durch die Vereinigung mit der Rest-USPD konnte die Partei koalitionspolitisch nicht umsetzen. Als sie die von ihren Regierungspartnern als Ausgleich angestrebte Erweiterung des Kabinetts nach rechts ablehnte und aus der Regierung ausschied, kam als Zwischenspiel das ebenfalls ohne Mehrheit ausgestattete Ministerium Cuno. 3. Der dritte Schub führte dann doch zur Großen Koalition. Auch hier lag die Führung bei den bürgerlichen Parteien, wobei die DVP als rechte Flügelpartei der Koalition mit Gustav Stresemann auch noch den Kanzler stellte, der zudem gleichzeitig das Außenministerium verwaltete; der SPD blieben vier im 1. bzw. drei der zwölf Ministerien im 2. Kabinett. Auf diese mit nicht ganz acht bzw. vier Wochen kurzlebigsten, aber für die weitere Entwicklung und die Koalitionsfrage doch recht wichtigen Regierungen folgte nach dem Austritt der Sozialdemokraten und dem Sturz des Rumpfkabinetts erneut eine Überbrückung durch Minderheitskabinette der bürgerlichen Mittelsparteien. 4. Die letzte Stufe in der ersten Hälfte der Republik wurde nach langen Auseinandersetzungen im Januar 1925 erreicht: Die bürgerliche Republik bekam - wenig kaschiert - die Regierung des bürgerlichen Blocks. Die SPD war auf Reichsebene erstmals vollständig ausgeschaltet. Da die Demokraten eine Beteiligung ablehnten und auch das Zentrum nur nolens volens zwei Minister ins Kabinett entsandte, lag das Schwergewicht bei DVP und DNVP, also beim großindustriell und großagrarisch ausgerichteten Teil des Bürgertums. Damit hatte sich die Situation völlig umgekehrt. 1925 dominierten gerade die Parteien des Bürgertums, die sechs Jahre zuvor die Republik und ihre Verfassung vehement abgelehnt hatten. Darin kam zwar auch ein gewisses Arrangement mit dem Weimarer Staat zum Ausdruck, ausschlaggebend für die beiden rechtslastigen Volksparteien dürfte aber die Erkenntnis gewesen sein, daß die veränderten politischen Verhältnisse ihnen die Möglichkeit boten, wenigstens auf innenpolitischem Gebiet ihre Ziele großenteils durchzusetzen. Umgekehrt waren mit den Sozialdemokraten und den Demokraten die Kräfte aus der Regierungsgewalt im Reich verdrängt, die 1919 für die demokratische und soziale Republik eingestanden waren. Gewiß, die Stimmung der Bevölkerung hatte sich gewandelt und die Stimmenanteile der SPD waren von 37,9% im Januar 1919 bis auf 20,5% im Mai 1924 gesunken und betrugen im Dezember 1924 schließlich 24,0%, während die DNVP kontinuierlich von 10,3% (1919) auf 20,5% (Dezember 1924) angewachsen war/6 16 Für die DDP lauteten die Stimmenanteile 18,6% (1919), 5,7% (Mai 1924) und 6,4% (Dezember 1924), für die DVP 4,4% (1919) und 10,1% (Dezember 1924).

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aber stets blieb die Sozialdemokratie die stärkste Partei,17 und schließlich war der Reichspräsident ebenfalls Sozialdemokrat. War die weitgehende Ausschaltung der Partei von der Regierungsbeteiligung auf Reichsebene also zwangsläufig?

111. Aufgrund der weitreichenden Befugnisse, die die Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten verlieh, bestand für Friedeich Ebert, den ehemaligen Vorsitzenden der SPD, prinzipiell die Möglichkeit, den sozialdemokratischen Einfluß auf die Rechtspolitik auch nach 1919 aufrecht zu erhalten. Daß hier ein entsprechender Handlungsspielraum durchaus vorhanden war, demonstriert die extensive Handhabung der präsidialen Kompetenzen, mit der später Paul von Hindenburg die Vorstellungen und Interessen der politischen Rechten verfolgte. Dabei dürfte - was bei der Verteidigung der Präsidiallösung zumeist negiert wird - die Situation im Frühjahr 1930 weder auf parlamentarischer Ebene, noch hinsichtlich der sozialpolitischen Auseinandersetzungen wesentlich kritischer gewesen sein als nach dem Sturz der Großen Koalition im Herbst 1923. Die Zurückhaltung bei der präsidialen Einflußnahme beruhte demnach weniger auf konstitutionellen als auf persönlichen und konzeptionellen Vorbehalten. Im Gegensatz zur Umgebung Hindenborgs zielte Ebert nicht auf eine Zähmung oder gar Überwindung des Parlamentarismus.18 Anknüpfend an die Prinzipien des politischen Liberalismus und in der Tradition des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung war es ihm ein grundsätzliches Anliegen, die Befugnisse des Parlaments zu erhalten. Der Einsatz des berühmt berüchtigten Artikels 48 der Reichsverfassung diente mithin nicht zur generellen Ausschaltung des Reichstags, sondern dem Ziel, eine vorübergehende Krisensituation zu überwinden und die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen. Bei der Verfolgung dieser Konzeption versuchte Ebert, zwei aus seiner parteipolitischen Tätigkeit überkommene Vorstellungen zu berücksichtigen, auch wenn sie seinen Handlungsspielraum oder den sozialdemokratischen Einfluß beeinträchtigten. Dabei handelte es sich zunächst um die Realität des Parteienstaates, die bei den Regierungsbildungen darin zum Ausdruck kam, daß die Fraktionen den entscheidenden Faktor bildeten. Dies zeigte sich einDurch Anschluß der Abgeordneten des Landbundes wurde die DNVP aber stärkste Fraktion im 2. Reichtag (Mai-Dez. 1924). 18 Vgl. dazu die grundsätzlichen Positionen von Conze, Werner, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: Historische Zeitschrift 178 (1954) und Bracher, Kar! Dietrich, Demokratie und Machtvakuum: Zum Problem des Parteienstaates in der Auflösung der Weimarer Republik, in: Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute. Hg. von Erdmann, KD., Schulze, H., Düsscldorf 1980.

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mal, wenn- wie bei den Regierungen Scheidemann oder Stresemann I- "die Verteilung der Ministerposten, ja sogar die Persönlichkeiten der kommenden Minister in der Hauptsache durch die zwischen den Parteien gepflogenen Verhandlungen bereits fest(standen)". 19 Zum anderen waren die Fraktionen von einmal gefaßten Beschlüssen kaum wieder abzubringen. Ob es sich dabei um Koalitionsentscheidungen (z.B. die Nichtbeteiligung der DDP an den Kabinetten Bauer und Wirth II oder die Weigerung der SPD, im Juni 1920 allein mit bürgerlichen Parteien eine Regierung zu bilden bzw. im Herbst 1922 in eine Große Koalition einzutreten), um die Durchsetzung eines Kanzlerkandidaten (so etwa Heinrich Albert im November 1923 oder Wilhelm Marx nochmals um die Jahreswende 1924/25), um konkrete Personalentscheidungen (u.a. Verbleiben von Philipp Scheidemann und Gustav Noskeim Amt) oder darum handelte, die SPD vom Mißtrauensvotum gegen Stresemanns Rumpfkabinett im Herbst 1923 abzuhalten, hier nutzte selbst die von Ebert gelegentlich als Druckmittel eingesetzte Rücktrittsdrohung nicht.20 Ebert, der die engen Parteiloyalitäten und Fraktionszwänge aus der SPD kannte, akzeptierte diese Begrenzung seines Handlungsspielraums wohl grundsätzlich; den Vorstoß der DDP/1 den Einfluß der Parteien zurückzudrängen und die Regierungsbildung "aus der verderblichen Atmosphäre der Fraktionen herauszuführen",22 griff Ebert jedenfalls - übrigens in Übereinstimmung mit der sozialdemokratischen Position:n • nicht auf. Die andere von Ebert durchgängig verfolgte Vorstellung betraf die generelle politische Ausrichtung der Republik, die er in der Kontinuität der im Oktober 1918 eingeleiteten demokratischen Reformen zu bestimmen versuchte. Bereits vor der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung hatte Ebert zusammen mit seinen Parteigenossen Philipp Scheidemann und Eduard David, die ebenfalls dem Rat der Volksbeauftragten angehörten, die Weichen gestellt, als sie mit Vertretern der DDP über eine gemeinsame Regierungsbildung verhandelten. Die von der SPD-Fraktion dann zusätzlich beschlossene Anfrage bei der USPD betrachtete die Parteiführung nur noch als Pflichtübung, deren negatives "Ergebnis von vornherein feststand, die aber zur Beruhigung des linken Flügels nützlich schien•.2A Als Reichspräsident hat 19 So "Germania", Nr. 70, 12.2.1919.

20 Zu den erwähnten Details vgl. stellvertretend die entsprechenden Ausführungen bei Kast-

ning, Sozialdemokratie bei Winkler, Heinrich A., Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin, Bonn 1984 und bei Winkler, Heinrich A., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin, Bonn 1988. 21 Vgl. die Erklärung des DDP-Vorsitzenden Carl W. Petersen vom 15.6.1920, abgedruckt in: "Berliner Tageblatt", Nr. 278, 16.6.1920. 22 "Berliner Tageblatt", Nr. 602, 10.12.1924. :n "Vorwärts", Nr. 302, 16.6.1920. 2A Winkler, Revolution, S. 144.

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Ebert diese Linie beibehalten. Versuche der SPD, die Unabhängigen in die Regierungsverantwortung einzubeziehen, fanden bei ihm ebensowenig Unterstützung wie die Bemühungen der sozialdemokratischen Reichsminister und der Parteiführung um eine flexible Vorgehensweise gegen die sozialdemokratisch-kommunistischen Koalitionen in Sachsen und Thüringen im Oktober 1923; die schließlich gegen Sachsen durchgeführte Reichsexekution wurde von Ebert vollkommen gebilligt.25 An Bemühungen des Reichspräsidenten, die Weimarer Republik auf das Bündnis von sozialdemokratischer Arbeiterschaft und mehr oder weniger demokratisch orientiertem Bürgertum zu stützen, fehlte es hingegen nicht. Hierzu zählten zunächst die Pressionen auf SPD und DDP, die Weimarer Koalition weiterzuführen, und das starke Engangement für die als Erfüllungskabinett angetretene Regierung unter Joseph Wirth. Danach - als aufgrund der veränderten Mehrheitsverhältnisse und aus reparationspolitischen Überlegungen eine Erweiterung der Regierungsbasis um die FVP erforderlich schien26 - drängte Ebert auf eine Große Koalition. Die Belege hierfür sind zahlreich; erinnert sei nur an die Unterstützung des noch von Wirth unternommenen Vorstoßes, den gescheiterten Versuch, eine derartige Koalition durch ein "überparteiliches" Kabinett unter Wilhelm Cuno vorzubereiten,Z7 die vielfältigen Bemühungen um die "Rettung" der dann unter Gustav Stresemann tatsächlich zustandegekommenen Großen Koalition und schließlich an die Vorstellung, durch ein Übergangsministerium die Rückkehr zur Großen Koalition offenhalten zu können.

Von dieser Konzeption wollte Ebert nicht abweichen.28 So erhob er einerseits schwere Bedenken gegen die von den Gewerkschaften nach dem KappPutsch geforderte Mitsprache bei der Regierungsbildung, andererseits scheute er doch davor zurück, General Hans von Seeckt mit dem Kanzleramt zu betrauen, obwohl er in falsch verstandener Sorge um die Staatsautorität Seeckts Diktaturbestrebungen zeitweilig durchaus gefördert hatte. Auch die Beauftragung eines DNVP-Politikers mit der Regierungsbildung lehnte Ebert trotz entsprechender Kampagnen der Rechtspresse und der Unterstützung,

25 Ebd. S. 655 ff. In diesem Zusammenhang weist Winkler (S. 655) darauf hin, daß Ebert den Entwurf der Notverordnung zur Rechtsexekution zunächst mit den sozialdemokratischen Ministern des Inneren und der Justiz hätte beraten und damit Zeit gewinnen können. 26 Dadurch sollte die Industrie für eine Unterstützung der Reparationspolitik der Regierung, die auch Vorschläge zur Stabilisierung der Mark beinhaltete, gewonnen werden. Z7 Zu entsprechenden Überlegungen vgl. "Berliner Tagesblatt", Nr. 531, 22.11.1922. 28 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Winkler, Revolution, S. 311 und 678; Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Stresemann I und II. Bearbeitet von K.D. Erdmann und M. Vogt, Bd. 1, S. XXI; Presseberichterstattung zu den Regierungsverhandlungen im November 1923, Mai/Juni 1924 und Dezember 1924/Januar 1925.

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die dieser Gedanke bei der DVP und zeitweilig selbst im Zentrum fand, 29 bis zuletzt ab. Als Fazit kann deshalb festgehalten werden, daß mit der von Ebert verfolgten Koalitionspolitik zwar die Kooperation der sozialdemokratischen Arbeiterschaft mit dem gemäßigten Bürgertum im Rahmen der liberal-demokratischen Republik noch aufrechterhalten, eine Erweiterung des Handlungsspielraums der Sozialdemokratie und anderer demokratischer Kräfte aber nicht erreicht werden konnte. Die politische Macht verschob sich während der ersten Hälfte des Weimarer Staates vielmehr zunehmend auf die Kräfte im Bürgertum, die einer Zusammenarbeit mit der SPD skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstanden. IV.

Die Koalitionspolitik in der Frühphase der Republik beruhte im Grunde genommen auf einer paradoxen Situation. Die Arbeiter, deren sozialistisch ausgerichteter Teil der bürgerlichen Gesellschaftsordnung prinzipiell antagonistisch gegenüberstanden, waren insgesamt gesehen von den bisher erreichten sozialen Errungenschaften enttäuscht. Gleichwohl war es ihr sozialdemokratischer Flügel, der zusammen mit einigen bürgerlichen Dmokraten den politischen Überbau dieser Gesellschaftsordnung am nachhaltigsten gestützt hatte. Gerade umgekehrt verhielt sich der größte Teil der bürgerlichen Gruppen. Obwohl weder eine Sozialisierung eingeleitet noch eine Bodenreform durchgeführt wurde, standen sie der Weimarer Republik grundsätzlich distanziert bis feindselig gegenüber und kooperierten mit der Republik erst allmählich und dies vor allem in Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen. Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, wenn das Verhältnis der SPD zur Koalitionsfrage höchst ambivalent blieb. Zu unterschiedlich waren und blieben die Einschätzungen, Motive und taktischen Vorstellungen, von denen sich die einzelnen Parteiflügel bei der Einschätzung der politischen und sozialen Lage und den darauf fußenden Diskussionen über die Regierungsbildung und die Beteiligung der Sozialdemokratie leiten ließen. Je nach Standort und jeweiliger Situation wurde die grundsätzliche Einstellung zur Weimarer Gesellschaftsordnung, der Wille zur Machtteilhabe in der Republik oder die innerparteiliche Entwicklung in den Vordergrund gerückt. Die Parteilinke, die etwa 30% der Parteimitglieder umfaßte,30 sah in der Weimarer Republiktrotz der Revolution und der von der Sozialdemokratie 29 Vgl. "Deutsche Allgemeine Zeitung", Nr. 248, 27.5.1924 und "Germania", Nr. 324, 27.11.1923. 30 Auf dem Berliner Parteitag im Juni 1924 stimmten fast 30% der Delegierten für ein generelles Verbot von Koalitionen mit bürgerlichen Parteien im Reich und in den Einzelstaaten. Vgl. Kastning, Sozialdemokratie, S. 142, der aufS. 157 die Stärke des linken Flügels auf "maximal ein Drittel der Partei" schätzt.

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im Reich und in den Einzelstaaten teilweise errungenen Machtpositionen den bürgerlichen Klassenstaat; eine Regierungsbeteiligung der SPD konnte diese Verhältnisse nicht ändern. Jede Koalition mit bürgerlichen Parteien war demnach nur ein Mittel, die Herrschaft der Bourgeoisie zu festigen: "Dieser Volksstaat ist desselben ökonomischen Inhalts wie der alte Obrigkeitsstaat" schrieb Paul Levi, einer der Wortführer des linken Parteiflügels, im November 1923 und folgerte: 31 " ... damit ist die grundsätzliche Stelle der sozialdemokratischen Bewegung gegeben. Sie ist oppositionell." In konsequenter Weise war diese Position zunächst von der USPD vertreten worden. Sie teilte im Juni 1920 und Mai 1921 auf entsprechende Anfragen der Mehrheitssozialdemokratie mit, daß für sie allenfalls und auch nur unter gewissen Bedingungen "eine rein sozialistische Regierung in Betracht" komme?2 Bis zur Wiedervereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien rang sich zwar die USPD-Führung zu der Feststellung durch, daß der Klassenkampfgedanke sich durchaus mit einem "gelegentlichen Zusammengehen mit den bürgerlichen Parteien" vereinbaren ließe,33 doch die nach dem Zusammenschluß neu formierte Parteilinke schränkte diese Position alsbald restriktiv ein. Sie lehnte eine derartige Koalition ab, "solange nicht die Partei durch eine klare, selbständige proletarische Politik sich die Macht sichergestellt hat, die ihr das Übergewicht in jeder Koalition sichert".34 Dementsprechend wandten sich im August 1923 43 SPD-Abgeordnete gegen die Bildung der Großen Koalition und "forderten den Kampf gegen die Bourgeoisie statt eines Bundes mit dem Großkapital".35 Im Oktober wurde sogar für den Austritt aus dem Kabinett selbst um den Preis einer "parlamentslosen Zeit a Ia Mussolini" plädiert.36 Nach den leidlichen Erfahrungen mit der Regierung der Großen Koalition stand für die Linke endgültig fest, "daß die Koalition mit bürgerlichen Parteien weder außen- noch innenpolitisch etwas genützt, vielmehr den Interessen der Arbeiterklasse Schaden zugefügt hatte"?7 Ihr Rezept hieß unversöhnlicher Klassenkampf. "Den Linken" - so skizziert Winkler den innerparteilichen Widerpart38 - "stand eine Rechte gegenüber, deren Anhang höchstens ein Fünftel der Gesamtpartei ausmachte. 31 Zitiert bei Winkler, Revolution, S. 699.

32 Schreiben des Vorsitzenden des Zentralkommitees der USPD Artur Crispien vom 11.6.1920. Abgedruckt in: "Deutsche Allgemeine Zeitung", Nr. 276, 19.6.1920. 33 So Artur Crispien auf dem Parteitag der USPD in Gera am 29.9.1921, zitiert bei Winkler, Revolution, S. 492 f. 34 Forderungen der "Sonderkonferenz" der linken SPD-Abgeordenten in Weimar am 29.7.1923, zitiert bei Winkler, Revolution, S. 586. 35 Kastning, Sozialdemokratie, S. 116. 36 Friedrich Seger in der Zeitschrift "Sozialistische Politik und Wirtschaft", zitiert bei Winkler3 Revolution, S. 698. 7 Winkler, Schein, S. 195. Vgl. auch "Vorwärts", Nr. 408, 30.8.1924. 38 Winkler, Revolution, S. 699 (Hervorhebung bei Winkler).

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Klaus Megerle Die Wortführer des rechten Flügels, unter ihnen Friedrich Stampfer, Otto Braun und Eduard Bernstein, rechtfertigten die Koalitionspolitik als Dienst an der Republik und am Ziel des Sozialismus. Da sie in der demokratischen Republik nicht bloß ein Mittel zum Zweck, sondern einen politischen Zweck an sich selbst sahen, war für sie die Koalition mit bürgerlichen Parteien mehr als eine Frage der parteipolitischen Taktik - nämlich eine staatspolitische Notwendigkeit."

Bei ihrem Bekenntnis zur bestehenden Republik und zur parlamentarischen Demokratie verkannten die Politiker des rechten Parteiflügels aber weder die Herrschaftsverhältnisse im Weimarer Staat noch die Nöte der proletarischen Massen. Auch sie sahen die gesellschaftlichen und sozialen Realitäten, glaubten aber, aus der gegebenen Machtverteilung andere Schlüsse ziehen zu müssen.39 Schützenhilfe erhielten sie dabei selbst von Karl Kautsky, dem Parteitheoretiker der Vorkriegszeit. In einer kritischen Stellungnahme zur Haltung der USPD im Juni 1920 wies er darauf hin,40 "daß es für den proletarischen Klassenkampf keinen günstigeren Boden gibt als den der Demokratie". Er hielt zwar "ein Zusammengehen von Sozialisten und bürgerlichen Elementen in einer Regierung für ein gefährliches Experiment", aber angesichts der gegebenen Möglichkeiten doch für das "kleinere Übel", da man dem Gegner keine Machtpositionen ausliefern dürfe. Kautsky hatte damit die beiden Gesichtspunkte angesprochen, die die Vertreter der Rechten bei allen Koalitionserörterungen ins Feld führten: Die Verteidigung der von der Sozialdemokratie errungenen Stellung und das Bemühen, durch Zugeständnisse wenigstens ein Mindestmaß an politischem Einfluß und administrativer Mitsprache zu sichern. Nur teilweise fanden diese Argumente die Unterstützung der Fraktionsmehrheit Dies war im Januar 1920 und im Oktober 1923 der Fall, als die SPD beim Betriebsrätegesetz und in der Arbeitszeitfrage nachgab, um die jeweilige Koalition zu retten,41 sowie im Mai 1921 und im August 1923, als die Partei in die Regierung eintrat, um sich nicht ganz von der Macht verdrängen zu lassen und um die Interessen der Arbeiterschaft bei der Verteilung der Reparationslasten sowie bei der Sanierung der Währung vertreten zu können.42 Demgegenüber gelang es den Verfechtern einer weitergehenden Kompromißbereitschaft nicht, nach den Reichstagswahlen von 1920 eine längerfristige Koalitionsbildung durchzusetzen und auch die grundsätzliche Bereitschaft zur Koalition mit der DVP, zu j} "Die Republik konnte wohl mit bestimmten bürgerlichen Parteien und Klassen, nicht aber mit allen den Kampf aufnehmen, ohne sich in eine unhaltbare Lage zu bringen". Bernstein, Eduard, Die deutsche Revolution. Geschichte 40 Kautsky über Koalitionen, in: "Vorwärts", Nr. 316, 24.6.1920 und Kautsky, Karl, Was tun?, in: "Vorwärts", Nr. 300, 15.6.1920. 41 Vgl. dazu stellvertretend Kastning, Sozialdemokratie, S. 119 f. 42 Zu den Auswirkungen des sozialdemokratischen Machtverlustes in Preußen und zu den übrigen Gründen für den Eintritt der SPD in die Reichsregierung im Mai 1921 siehe ebd., S. 64, zu 1923 vgl. "Vorwärts", Nr. 375, 14.8.1923.

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der sich die SPD auf dem Görlitzer Parteitag im September 1921 durchgerungen hatte,43 war nur von kurzer Dauer. Nach der Wiedervereinigung mit der USPD gelang das Experiment mit der Großen Koalition nur in der Katastrophensituation des August 1923 und war trotz aller Warnungen des rechten Parteiflügels vor dem drohenden Bürgerblock bereits im Oktober und dann für längere Zeit wieder zu Ende.44 Derartige Verhaltensweisen werfen ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis der Sozialdemokratie zur politischen Macht. Die Zurückhaltung eigener Ansprüche, den Rückzug aus Machtpositionen und die Passivität bei Regierungsbildungen brachte Wilhelm Sollmann, 1923 Innenminister der Großen Koalition, auf die Formel: "Während wir Theorie treiben, machen die anderen Politik.'"'5 Sicherlich haben die bedrückenden Probleme und die oft unpopulären Entscheidungen während der ersten Jahre der Republik diese Einstellung der SPD ebenso gefördert wie die starken Stimmenverluste bei den Reichstagswahlen, allein darauf zurückzuführen war sie jedoch nicht. Fehlende Übung beim Umgang mit der Macht, Unzufriedenheit mit Verlauf und Ergebnis der Revolution, eigene Unsicherheit und Überschätzung der Fachkompetenz der alten Bürokratie zeigten sich von Anfang an. So erzwang die Partei nach dem Kapp-Putsch nicht nur den Rücktritt Gustav Noskes; froh darüber, in diesem Zusammenhang das ungeliebte Reichswehrministerium loswerden zu können, räumte sie eine der Schlüsselpositionen der Republik.46 Nach der Niederlage bei den Reichstagswahlen im Juni 1920 verkündete der "Vorwärts", "daß unsere Partei als Ganzes mit einem Freudensprung aus der Regierung herausspringen wird, sobald ihr Pflichtgefühl ihr eine solche Übung erlaubt.'.-~7 Mit dem fünf Tage später getroffenen Beschluß der Parteigremien, sich an keiner Koalition zu beteiligen, hatte sich die SPD schließlich als führende Regierungspartei verabschiedet und eine Position bezogen, die die Parteimehrheit in den nächsten Jahren weitgehend einhielt. Auf dem Berliner Parteitag vom Juni 1924 konnte der Parteivorsitzende Hermann Müller deshalb feststellen: 48 "Wenn wir die Koalitionsbildungen der letzten Jahre überschauen ..., so sind wir nur in der Regierung gewesen, wenn wir in die Regierung mußten. Die Gründe, die uns dazu gezwungen haben, sind fast immer außenpolitische gewesen." 43 Dazu ausführlich Winkler, Revolution, S. 452 ff.

44 Vgl. u.a. Blunck, Jürgen, Der Gedanke der Großen Koalition in den Jahren 1923 - 1928. Phii.Diss. Kiel1961, S. 17 ff. 45 Zitiert bei Kastning, Sozialdemokratie, S. 145. 46 Vgl. Besson, Waldemar, Friedrich Ebert. Verdienst und Grenze, Göttin-

gezf~rlin/Frankfurt 1963,?5.. ~: .. • Stegesfeste-und dann., m. Vorwarts, Nr. 288, 8.6.1920. 48 Die Äußerung Müllers und der Antrag werden zitiert bei Winkler, Revolution, S. 700 (Hervorhebung im Original) und ders., Schein, S. 195 f.

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Dementsprechend hieß es im Antrag des Vorstandes, den der Parteitag mit 262 gegen 105 Stimmen annahm: "Koalitionspolitik ist keine Frage des Prinzips, sondern der Taktik.... Die Teilnahme an der Regierung muß die Durchsetzung der Demokratie und die Erfüllung der bürgerlichen Republik mit sozialem Inhalt zum Ziel haben. Sie darf deshalb nur unter Abwägung aller Vor- und Nachteile für die Interessen der Minderbemittelten erfolgen, damit die Sicherheit gegeben ist, daß die Arbeiterklasse nicht einseitig Opfer zu bringen hat. •

Ausdruck dieser defensiven Haltung der Parteimehrheit zur Koalitionsfrage war die Politik der Tolerierung. Bei ihr handelte es sich um eine zweischneidige - und wie wir aus der Endphase der Republik wissen - recht zweifelhafte Waffe. Sie entließ die Partei aus der Regierungsverantwortung, nicht jedoch aus ihrer Verantwortung für die Regierung. Tolerieren hieß - wie es Waldemar Besson einmal formuliert hat - "nicht dabei sein zu wollen und doch dabei sein zu müssen.'"'9 Andererseits versuchte die Parteiführung, mit dieser Politik zwischen den Positionen der Linken und der Rechten zu lavieren. Parteitaktische Überlegungen erhielten dadurch einen entscheidenden Einfluß auf Koalitionsfragen. Zum ersten Mal galt dies im Juni 1920. Der Rückzug aus der Regierung und die parlamentarische Duldung eines bürgerlichen Minderheitskabinetts schien mit Blick auf die politische Konkurrenz der Unabhängigen nicht nur die bequemste, sondern auch eine unabdingbare Lösung zu sein. Auch bei den meisten anderen ausweichenden Beschlüssen der SPD zu Koalitionsfragen stand die innerparteiliche Integration im Vordergrund, ob es sich um die abwartende Haltung gegenüber dem Kabinett Cuno handelte, um die Abstinenzpolitik bei den Regierungsbildungen durch Marx oder um die Passivität bei den langwierigen Verhandlungen während der Jahreswende 1924/25.50 Daß derartige Rücksichtnahmen durchaus geboten waren, beweist nicht nur das Verständnis, das die SPD teilweise selbst in der liberalen Presse fand. Dies zeigten auch die Begründungsversuche, Beschwichtigungen und Solidaritätsaufrufe der Partei in den Fällen, in denen eine Koalitionsbeteiligung beschlossen worden war. So heißt es im "Vorwärts" zur Wiederherstellung der Regierung Stresemann im Oktober 1923:51 "Die Entscheidung, die von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion heute vormitlag gefallt wurde, wird in Parteikreisen hart umkämpft werden.... Unter den besonnenen, auf das Wohl der Partei bedachten Genossen wird aber, unbeschadet ihrer Stellung zu den taktischen Streitfragen des Augenblicks, Einigkeit darüber herrschen, daß es sich um eine außerordentlich schwere Entscheidung handelte, deren Bedeutung im Augenblick noch nicht vollständig zu übersehen ist. Wer an dieser Entscheidung als Beteiligter schwer mitgerungen hat, der wird es nicht verstehen, wenn da oder dort über den Beschluß der Fraktion leichtfenig abgeurteilt wird . ... Die Fraktion hat als die Besson, Ebert, S. 81. Zu diesen Beispielen sei auf die Berichterstattung in den in Anmerkung 4 genannten Presseorganen verwiesen. 51 "Vorwärts", Nr. 468, 6.10.1923 (Hervorhebung im Original). 50

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dazu berufene Körperschaft ihre Entscheidung gefällt. Auch wer mit ihr nicht einverstanden ist, wird als Parteigenosse ihr zugestehen müssen, daß sie nach bestem Wissen und Gewissen die ihr anvertrauten Interessen verteidigt und wahrgenommen hat. In einer großen Partei geht es gewiß nicht ohne Kritik, aber es geht erst recht nicht ... ohne Einigkeit und Disziplin. Die Gefahren für die Republik und die Arbeiterschaft sind noch nicht beschworen. Gerade jetzt müssen wir fester zusammenhalten denn je!"

Einigkeit der Partei war der eine Gesichtspunkt, die Stärke der Sozialdemokratie der andere. Der Verlust von Mitgliedern und Wählern förderte die Neigung der Partei, sich zur Regeneration in die Opposition zurückzuziehen.52 In der Opposition war die Partei im Kaiserreich gewachsen, von der Opposition - und wenn dies angesichts der Mehrheitsverhältnisse nicht ging von der Tolerierung erwartete die Parteimehrheit den Wiederaufstieg der Sozialdemokratie. Ob der Aufstieg durch eine lediglich taktische Haltung in der Koalitionsfrage erreicht werden konnte, blieb in der Partei umstritten. Unumstritten war, daß die Sozialdemokratie nicht nur "als Bollwerk der Arbeiterklasse" bewahrt und gestärkt werden muß,53 sondern daß "Deutschland ... eine starke, auf dem Boden der demokratischen Republik stehende sozialistische Partei (braucht). Sie zu erhalten, ist" - wie der "Vorwärts" schrieb- "unsere Aufgabe, die wichtiger ist als jede andere." Sie war - so kann ergänzt werden - offensichtlich auch wichtiger als eine verstärkte Einflußnahme auf die Politik und damit die Gestaltung der verschiedenen Bereiche der Weimarer Demokratie.

V. Die Voraussetzungen für eine aktivere Politik der Sozialdemokratie wären jedoch in der Frühphase der Republiktrotz der Versäumnisse in der Revolutionszeit sowie der innen- und außenpolitischen Belastungen der jungen Demokratie zumindest in einer Hinsicht nicht ungünstig: Der politische Handlungsspielraum der Sozialdemokratie im parlamentarischen System war zunächst weitaus größer, als er von der Partei wahrgenommen wurde. Auch weite Teile des Bürgertums hatten dies zu erkennen gegeben. 1919 galt es eher als selbstverständlich,54 daß mit der SPD "immer der Kern der Regierung gegeben (ist), der seinerseits ... die Wahl hat, zu bestimmen, was sich um ihn als weitere Regierungspartei kristallisieren soll. Mit anderen Worten, die Sozialdemokratie wird in der Lage sein, sich ihre Mitarbeiter auszuwählen." ~h~n nach dem Kapp-Putsch hatte Otto Wels die Frage aufgeworfen, ob die SPD ange-

sichtsder Mitglieder- und Anhängerverluste nicht aus der Regierung austreten solle. Vgl. dazu Kastning, Sozialdemokratie, S. 41. 53 "Vorwärts", Nr. 563, 2.12.1923. Zum folgenden Zitat ebd. Nr. 156, 25.3.1920, vgl. auch ebd. Nr. 259, 4.6.1924. 54 Stellvertretend dazu die folgende Auffassung der "Germanis", Nr. 35, 23.1.1919 (Hervorhebungen im Original).

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Aber auch nach der Wahlniederlage von 1920 wurde der SPD noch immer die Schlüsselstellung bei der Regierungsbildung zugebilligt, in diesem Sinne äußerten sich nicht nur mehrere führende Politiker der DDP, des Zentrums, der DVP und in abgeschwächter Form selbst der DNVP, sondern dies belegen auch die auf eine maßgebliche Beteiligung der Sozialdemokratie fixierten Sondierungen von Rudolf Heinze (DVP) und Carl Trimborn (Zentrum) zur Bildung einer Reichsregierung.55 Dabei lag es - um noch einmal aus einem Artikel von Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung zu zitieren56 - weniger an der Zahl der Reichstagsmandate, "daß man meint, man könne nicht ohne oder gar gegen die Sozialdemokratie regieren . ... Ihre wichtige Sonderart empfangen beide sozialdemokratischen Parteien erst aus ihrem Klassencharakter: aus dem Umstand, daß sie allein von allen deutschen Parteien eine in sich klassenmäßig geschlossene Wählerschaft umfassen . ... Aber man täusche sich darüber nicht: zwischen allen Mitgliedern dieser Gesellschaftsschicht, welcher Konfession und welcher rein politischen Grundanschauung sie auch angehören mögen, besteht nach der Revolution in allen Fragen, die den Arbeitsprozeß und die Eingliederung des arbeitenden Menschen in die gesellschaftliche Machtorganisation angehen, unzweifelhaft eine weitgehende Übereinstimmung seelischer Art. Gegen diese Seelenstimmung kann fürderhin niemals regiert werden. •

Die SPD verstand es nicht, aus der ihr zugebilligten Sonderstellung politisches Kapital zu schlagen. Nachdem die Dynamik der revolutionären Bewegung ebensowenig genutzt wurde wie die von Bernhard angesprochene "seelische" Übereinstimmung der arbeitenden Menschen, die von den bürgerlichen Parteien hoch veranschlagten Ordnungsvorstellungen nicht gestaltend umgesetzt und die zuletzt beim Kapp-Putsch demonstrierte politische Macht der Arbeiterbewegung im anschließenden Streit um die zu ziehenden Folgerungen kläglich verspielt wurden, gab die Partei auch auf der parlamentarischen Ebene den Willen zur politischen Führung schnell preis. Infolge dieser defensiven Grundhaltung schwand im Bürgertum allmählich die Überzeugung, daß der Sozialdemokratie in der Republik eine Sonderstellung gebühre. Seit Ende 1923 überwog schließlich die Auffassung, daß die SPD die Entschlossenheit und Fähigkeit nicht nur zur Führung, sondern auch zur Beteiligung an der Regierung verloren habe.57 Die Partei hatte die ihr nach der Revolution zugewachsenen innenpolitischen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten endgültig verspielt; ihre Verdrängung aus der Regierung im Reich ergab sich danach fast zwangsläufig. In der "Deutschen Allgemeinen Zeitung", der ExVgl. dazu die Presseberichterstattung (Anm. 4) sowie Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Fehrenbach. Bearbeitet von Peter Wulf, Boppard 1972, S. XII ff. 56 Bemhard, Georg, Es lebe das Vaterland!, in: "Vossische Zeituung", Nr. 295, 13.6.1920 (Hervorhebung im Original): 57 Vgl. die Berichte und Kommentare in: "Berliner Tageblatt", "Vossische Zeitung", "Germania" und "Deutsche Allgemeine Zeitung" während der Regierungskrise im November 1923, im Mai 1924 und Dezember 1924 bis Januar 1925.

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ponentin des nun auch politisch dominierenden industriellen Bürgertums, hieß es folgerichtig: 58 "Aber wo steht geschrieben, daß die Sozialdemokratische Partei unter allen Umständen an der Regierung beteiligt sein muß?" Nach dem revolutionären Umbruch- so war im Eingangszitat festgestellt worden - hatten die Sozialdemokraten verkannt, daß Parlamentarismus nirgendwo nur mit parlamentarischen Mitteln durchgesetzt worden ist. Die Chance, durch Reformen Strukturen zu verändern, die einer Demokratie entgegenstanden, war unmittelbar nach dem 9. November 1918 am größten. Sie wurde nicht genutzt. Nach der Konstituierung der Weimarer Republik - so kann aus den Darlegungen hinzugefügt werden - hatte die SPD erkannt, daß Parlamentarismus und demokratische Prinzipien nicht nur festgelegt und verkündet, sondern auch durchgesetzt werden müssen. Die Chance, durch den Willen zur konsequenten politischen Führung Demokratie zu gestalten und dabei auch die Interessen der Arbeiter zu berücksichtigen, war in der Frühphase der Weimarer Republik durchaus noch gegeben. Der bestehende Handlungsspielraum wurde nicht genutzt.

58 Klein, Fritz, Kontinuität, in: "Deutsche Allgemeine Zeitung", Nr. 30, 18.1.1925.

Nationalsozialismus und Moderne. Eine Zwischenbilanz Von Rainer Zitelmann

I. Löste die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland einen Modernisierungsschub aus? Und wenn ja: Spiegelten sich in den modernisierenden Wirkungen der NS-Herrschaft genuin "moderne" Intentionen der Nationalsozialisten wider, oder war die Modernisierung ein unbeabsichtigter "Nebeneffekt"? Über diese Fragen wird seit Mitte der 60er Jahre in der NS-Forschung eine intensive Debatte geführt. Ein Schwachpunkt der Diskussion ist, daß die Teilnehmer oft nicht klar sagen, was sie mit den Begriffen "Moderne", "modern", "Modernisierung" meinen. Den widersprüchlichen Thesen über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung liegen oftmals unterschiedliche Modernisierungsbegriffe zugrunde. Auch im vorliegenden Beitrag kann keine "allgemeine" theoretische Klärung des Modernisierungs-Begriffs geleistet werden. Gleichwohl sollen zu Beginn einige kritische Anmerkungen zur Verwendung des "Modernisierungs"-Begriffs vorangestellt werden. Wenn Soziologen und Politikwissenschaftler von "Modernisierung" sprechen, so werden in der Regel drei Dimensionen unterschieden: die ökonomische, die soziale und die politische. Ökonomisch bedeutet "Modernisierung" unter anderem: Technisierung, Industrialisierung, relativer Bedeutungsschwund des primären Sektors (Landwirtschaft) gegenüber dem sekundären (Industrie) und tertiären Sektor (Dienstleistungen). Dem entsprechen soziale Entwicklungen: Erweiterung der Zugangschancen zu materiellen und nichtmateriellen Gütern, Urbanisierung, Erhöhung der sozialen Mobilität. Unter dem Begriff der politischen Modernisierung wird vor allem eine politische Mobilisierung und Erhöhung der Partizipation verstanden. Zu Recht wurde gegen die verschiedenen Modernisierungstheorien der Einwand erhoben, sie enthielten in hohem Maße normative Implikationen, die sich inhaltlich am westlichen, insbesondere am amerikanischen Gesellschaftsmodell orientieren.

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Rainer Zitelmann "Vielen Modernisierungstheorien war die amerikanische Gesellschaft der zwei Nachkriegsjahnehnte seit 1945 zumindest implizit eine realisierte Utopie.•1

Die Berechtigung dieses Einwandes zeigt sich besonders deutlich beim Aspekt der "politischen Modernisierung". Häufig wird Demokratisierung im Sinne des westeuropäischen bzw. amerikanischen Modells als konstitutives Merkmal der Modernisierung genannt. Partizipation muß jedoch "nicht unbedingt staatsbürgerliche Mitentscheidung durch Wahlen westlicher Prägung (bedeuten), sondern jede politische Aktivierung, sei es durch demokratische Willensbildung oder durch totalitäre Massenmanipulation. Es geht also zunächst um Politisierung und erst in zweiter Linie um Demokratisierung."2 Offensichtlich spielt die Frage, was politisch unter Modernisierung zu verstehen sei, in der Debatte um die Anwendbarkeit des Modernisierungsbegriffs auf "Faschismus" und Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Von Autoren, die der Anwendung der Modernisierungstheorie auf den Nationalsozialismus skeptisch gegenüberstehen, wurden vor allem politische Faktoren angeführt, die geeignet erschienen, den antimodernen Charakter der nationalsozialistischen Ideologie und Politik zu bestätigen. Horst Matzerath und Heinrich Volkmann nennen als "antimoderne Elemente" z.B. den "antiparlamentarischen Affekt" und die "Beseitigung demokratischer Strukturen in Staat und Gesellschaft".3 Wenn Parlamentarisierung und Demokratisierung als konstitutive Wesensmerkmale der Modernisierung betrachtet werden, so ist die antimoderne Wirkung des Nationalsozialismus in dieser Hinsicht unbestreitbar. Ein solches Verständnis von "Modernisierung" deutet jedoch auf einen normativen Modernisierungsbegriff hin,4 der augenscheinlich auch die tiefere Ursache für das Unbehagen ist, mit dem sich viele Forscher dagegen aussprechen, den Nationalsozialismus als "modern" zu bezeichnen. Wolfgang Mommsen wies in der Diskussion um die Thesen von Matzerath und Volkmann daraufhin:

1 Wehler, Hans-Ulrich, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, 5.18.

2 Nuscheler, Pranz, Theorien zur politischen Entwicklung, in: CIVITA5. Jahrbuch für Sozialwissenschaften, Bd.B, 1969, 5.67-103, hier 5.80. 3 Matzerath, Horst; Volkmann, Heinrich, Modernisierungstheorie und Nationalsozialismus, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion ( = Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3), Göttingen 1977, 5.86-102, hier 5.96. 4 Die normativen Implikationen des Modernisierungsbegriffes werden am Beispiel der politischen Modernisierung besonders deutlich, doch auch die soziale und die ökonomische Dimension der Modernisierung wird oft allzu selbstverständlich positiv bewertet. Dies erklärt sich aus der historischen "Standortgebundenheit" vieler Wissenschaftler, die den Wertekanon moderner Industriegesellschaften internalisiert haben und als Deutungsmuster für die "Bewertung" historischer Prozesse (oft unausgesprochen) zu Grunde legen.

Nationalsozialismus und Moderne

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"Offensichtlich geht es der Forschungsgruppe darum, dem Nationalsozialismus das für positiv erachtete Epitheton 'Modernisierung' nicht zuzugestehen, aus einsichtigen politisch-moralischen Gründen, wird dieses doch in der gegenwärtigen öffentlichen Meinung als positives Moment angesehen. Ein solcher politisch-moralischer Ansatz ist legitim; doch sollte er bei der Konzipierung des Projekts explizit formuliert werden.,.5

Fragwürdig ist es allerdings, wenn aus politisch-moralischen Gründen nachgewiesen werden soll, daß "nicht sein kann, was nicht sein darf'', daß also der positiv belegte Begriff der "Modernisierung" und das Negativ-Phänomen Nationalsozialismus nicht "zusammengehören" bzw. sich wechselseitig ausschließen. Von der Sache her erscheint es auch 1. weder einsichtig, warum die "Modernität" notwendigerweise als etwas

Positives zu werten sei, noch

2. warum die Modernisierung notwendigerweise mit (gemeinhin als positiv empfundenen) Entwicklungen wie "Demokratisierung" oder "Parlamentarisierung" verknüpft sein soll. Im Bewußtsein vieler Wissenschaftler galt der Begriff des "Modernen" lange Zeit unstrittig als positiv. "Linke" wie "bürgerliche" Wissenschaftler waren Modellen des historischen "Fortschritts" verpflichtet. Heute, da der "Fortschritt" an sich problematisiert und nicht mehr unkritisch von vornherein "positiv'' verstanden wird, wächst die Bereitschaft bei einigen Historikern, die Anwendbarkeit des Modernisierungsbegriffs auf den Nationalsozialismus zu bejahen. So plädiert Detlev Peukert für eine "skeptisch-fragende Entkoppelung von Moderne und Fortschritt".6 Der Nationalsozialismus sei als eine der "pathologischen Entwicklungsformen der Moderne"7 zu begreifen. Ausgehend von einer solchen kritischen Sicht der Moderne entfällt ein politischmoralisches Motiv, das viele Wissenschaftler dazu bewogen hat, die Anwendung des Modernisierungsbegriffs auf den Nationalsozialismus abzulehnen. Unabhängig davon spricht jedoch auch manches dafür, politische Entwicklungen wie "Demokratisierung", "Parlamentarisierung" und "EmanzipaDiskussion zum Referat von MatzerathfVolkmann, Beitrag von Wolfgang Mommsen, in: Kocka (Anm.3), 5.102-116, hier S.107. 6 Peukert, Detlev, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbe;ehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S.15. Ebda., S.296. Peukert will seine kritische Sicht der Moderne allerdings nicht in einem "kulturpessimistischen" Sinne verstanden wissen. Er unterstreicht, "daß eine wache und kritische Wahrnehmung der Pathologien der Moderne nicht in einem allgemeinen Kulturpessimismus enden muß, sondern erst das Terrain für eine wohlverstandene Bewahrung und Fortentwicklung der humanen und emanzipatorischen Aspekte der Moderne klärt". (ebda., 5.300) Zu fragen bliebe, welche Erscheinungen" denn nun als "pathologisch" und welche - im Gegensatz dazu -als "gesund" zu bezeichnen sind.

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tion" nicht als notwendige Begleiterscheinungen oder gar als konstitutive Merkmale der "Modernisierung" zu betrachten. Sicherlich, in den westlich-europäischen Ländern, besonders in England und Frankreich, wurde der Prozeß der Modernisierung durch bürgerlich-demokratische Revolutionen eingeleitet bzw. forciert und war historisch untrennbar mit der Aufklärung, der Forderung nach der Verwirklichung von Menschenrechten, liberaler Freiheit und Toleranz verbunden. Es ist dies jedoch nicht die einzig mögliche und historisch nachweisbare Form der Modernisierung. Als Gegenbeispiel kann nicht nur die Entwicklung in Rußland genannt werden, wo die bolschewistische Revolution und die stalinistische Diktatur unzweifelhaft einen beträchtlichen Modernisierungsschub auslösten und den Sprung in eine moderne, hochtechnisierte Industriegesellschaft ermöglichten, sondern auch die verschiedenen "Entwicklungsdiktaturen" in Ländern der sogenannten "Dritten Welt". Und was Deutschland betrifft, so hat Timothy Mason zu Recht bemerkt, daß sich autoritäre und moderne Konzeptionen wechselseitig keineswegs ausschließen müssen: "Denn den pluralistischen demokratischen Wohlfahrtsstaat kann man gerade in Deutschland nicht als das zwangsläufige Gesamt- und Endergebnis des Modemisierungsprozesses postulieren. Das Gesicht der Modemisierung ist vielmehr ein Janusgesicht. Eine selbstgefällige gegenwartsbezogene Teleologie kann der historischen Forschung nur abträglich sein.•8

Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum haben durch ihre Mitte der 60er Jahre erschienenen Arbeiten die Diskussion über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung ausgelöst. Da ihre Thesen bis heute der Bezugspunkt dieser Debatte geblieben sind, sollen sie knapp referiert werden. Nach Dahrendorf hat der Nationalsozialismus "die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verlorengegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen". Der Inhalt dieser Revolution sei die "Modernität" gewesen.9 Als totalitäre Bewegung habe der Nationalsozialismus die überlieferten antiliberalen Loyalitäten zu Region und Religion, Familie und Korporation zerbrechen müssen. 8 Mason, Timothy W., Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit, vom 20Januar 1934: Ein Versuch über das Verhältnis "archaischer" und "moderner" Momente in der neuesten deutschen Geschichte, in: Mommsen, Hans u.a., Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17Juni 1973, Düsseldorf 1974, S.323-351, hier S.324. Ausgehend von einer Analyse des genannten Gesetzes kommt Mason zu dem Ergebnis, "daß der Schein der rückwärtsgewandten Intentionen bei dieser nationalsozialistischen Maßnahme eben nur Schein war: Es stimmt einfach nicht, daß die Grundlagen nationalsozialistischer Politik in diesem Bereich primär in einer Auflehnung gegen die Modemisierung zu suchen sind; sie entstammten im Gegenteil wesentlichen, latenten Entwicklungstendenzen im Geltungsbereich der 'Modemen' selber." (ebda, S.323). 9 Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S.432.

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"Die Menschen werden dabei aus überlieferten, eigenen, oft besonders engen und intimen Bindungen herausgelöst und einander gleichgemacht.•10

Diese soziale Revolution sei jedoch gleichsam unbeabsichtigt erfolgt: "Man kann nicht sagen, daß Hitler ausgezogen ist, diese Revolution auszulösen und zu vollenden. Im Gegenteil: seine Schriften und Reden wie die ganze verquollene nationalsozialistische Ideologie sprechen dafür, daß die Tradition und die Werte der Vergangenheit wiederhergestellt werden sollten; die Nazis gaben sich gerne dort katonisch, wo sie in Wirklichkeit radikale Neuerer waren ... Hitler brauchte die Modernität, so wenig er sie mochte.•"

Ähnlich argumentierte Schoenbaum: Der Nationalsozialismus habe nicht nur ein "neues soziales Bewußtsein"12 hervorgebracht, sondern auch zu einer echten Erhöhung der sozialen Aufstiegschancen geführt.13 Doch auch Schoenbaum kam zu dem Ergebnis, die modernisierenden und revolutionierenden Wirkungen des Nationalsozialismus hätten den eigentlichen Zielen Hitlers widersprochen. Der Nationalsozialismus war demnach eine "doppelte Revolution", "eine Revolution der Zwecke und der Mittel zugleich. Die Revolution der Zwecke war ideologischer Natur; sie sagte der bürgerlichen und industriellen Gesellschaft den Krieg an. Die Revolution der Mittel war ihre Umkehrung. Sie war bürgerlich und industriell, da ja selbst ein Krieg gegen die industrielle Gesellschaft in einem industriellen Zeitalter mit industriellen Mitteln geführt werden muß und da es des Bürgertums bedarf, um das Bürgertum zu bekämpfen."14 Während Dahrendorf und Schoenbaum sich vor allem für die Wirkungen der NS-Revolution interessierten, beschäftigte sich Henry Turner in einem vielbeachteten Beitrag über "Faschismus und Anti-Modernismus"15 mit den Zielsetzungen der Nationalsozialisten. Das Endziel der Nationalsozialisten sei die Abkehr von der modernen Industriegesellschaft gewesen. Die Eroberung \ '(ln neuem "Lebensraum im Osten", eines der zentralen Ziele Hitlers, sei als Ebda., S.436. Ebda., S.432ff. 12 Schoenbaum, David, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen, München 1980 (eng!.: Hitler's Social Revolution. Oass and Status in Nazi Germany 1933-1939, 1966), S.107. 13 Vgl. ebda., KapitelS: Aufstiegsmöglichkeiten im Dritten Reich. 14 Ebda., S.26. 15 Turner, Henry Ashby, Faschismus und Anti-Modernismus, in: ders., Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 19802, S.157-182. Zum Problem des Verhältnisses von Faschismus und Modemisierung vgl. auch: Organski, A.F.K., Fascism and Modemization, in: Woolf, SJ. (Hg.), The Nature of Fascism, London 1968, S.19-41. Organski beschäftigt sich allerdings nichl mit dem Nationalsozialismus, sondern illustriert seine theoretischen Ausführungen mit Beispielen aus Italien und Argentinien. Die modernen Aspekte "faschistischer• Bewegungen in Frankreich betont Klaus-Jürgen Müller: French Fascism and Modemization, in: Journal of Contemporary History, 11 (1976), 5.75-107. 11

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der erste Schritt auf dem Wege zu einer "Reagrarisierung" der deutschen Gesellschaft verstanden worden. Die Debatte über die Thesen von Dahrendorf, Schoenbaum und Turner kann hier nicht nachgezeichnet werden.16 Wichtig erscheint es jedoch, drei kontrovers diskutierte Fragestellungen genau zu unterscheiden: 1. Erfolgten in den Jahren 1933-1945 objektiv modernisierende Erneuerungen? In welchen Bereichen wirkte der Nationalsozialismus modernisierend, wo befestigte er eher tradierte Strukturen, und wo wirkte er "reaktionär"?

2. Wie sind die Zielvorstellungen der Nationalsozialisten zu charakterisieren? Wie verhalten sich "modernistische" und "anti-modernistische" Elemente in der Ideologie des Nationalsozialismus? 3. Inwiefern erscheint es gerechtfertigt, von einer "revolutionierenden" Wirkung des Nationalsozialismus zu sprechen? Die Forschungsdiskussion der letzten Jahre scheint die These von der modernisierenden Wirkung der NS-Herrschaft zu bestätigen,17 auch wenn es 16 Zur marxistischen Kritik an den Thesen von Dahrendorf und Schoenbaum vgl.: Petzold, Joachim, War Hitler ein Revolutionär? Zum Thema Modemismus und Antimodemismus in der Faschismus-Diskussion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1978, 5.186-204; Hennig, Eike, Thesen zur deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1933 bis 1938, FrankfurtjM. 1973, S.31, 86f. 1 Nicht mehr berücksichtigt werden konnte der nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrages erschienene Aufsatz von Jens Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg.41, 1989, 8.346-365. Im Gegensatz zu den meisten der im folgenden vorgestellten Untersuchungen (die Alber jedoch übelWiegend nicht berücksichtigt), wendet er sich prononciert gegen die These von der Modernisierungswirkung des Nationalsozialismus. Zu fragen ist, ob die von Alber gewählten Indikatoren, z.B. Scheidungsziffern und Selbstmordraten, das messen, was sie messen sollen. Hätte Alber beispielsweise Indikatoren zur Massenmobilisierung der Bevölkerung durch die N5DAP gesucht und formuliert oder nach der Entwicklung der sozialen Zusammensetzung des OffiZierskorps gefragt, hätte er andere Zeitreihen erhalten. Methodisch problematisch ist auch, daß die Kriegsjahre in seinen Zeitreihen unberücksichtigt bleiben (vgl.hierzu auch Anm.90 des vori.Beitrages). Implizit erfolgt zudem eine Gleichsetzung von Modernisierung und Demokratisierung. So bezeichnet Alber "freie Wahlen• als "zentrale(s) Merkmal der Modemisierung•, das die Nationalsozialisten "ausgemerzt haben• (5.358). Nicht ganz unrichtig ist allerdings, wenn er schreibt: "Selbst wenn es richtig sein sollte, daß die neuen Eliten revolutionäre Intentionen hatten, so ließen ihre Bündnispartner eine Realisierung dieser Vorstellungen nicht zu."(5.356) Die Tatsache, daß die Realisierung der modernisierenden und revolutionären Intentionen Hitlers hier immer wieder ihre Grenze fand, ist im übrigen eine der zentralen Thesen der Hitler-5tudie des ~erfassers: Vgl. Zitelmann, Rainer, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, 5tuttgart 1989 , 5.48, 297f., 418f. Wollte man Alber zustimmen, dann hätte sich die von Dahrendorf und Schoenbaum behauptete Paradoxie in ihr Gegenteil verkehrt: die antimodernistischen Wirkungen des Nationalsozialismus wären dann im Widerspruch zu den modernistischen Intentionen

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noch viele Forschungslücken gibt und eine Gesamtdarstellung des Dritten Reiches unter dem Aspekt der "Modernisierung" nach wie vor ein Desiderat ist. Im gegenwärtigen Stadium der Forschung wäre eine solche Gesamtschau auch noch nicht möglich. Eine systematische Forschungsstrategie zur Untersuchung der Modernisierungsfunktion des Dritten Reiches gibt es bislang nicht. Die vorliegenden Ergebnisse, die im folgenden referiert werden, sind oftmals eher "Abfallprodukte" von Untersuchungen, deren eigentliche Thematik nicht das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung ist. Die "Zwischenbilanz" kann demnach weder Anspruch auf Vollständigkeit noch gar auf Systematik erheben. Es handelt sich hier um einzelne "Mosaiksteine", die durch weitere Forschungen ergänzt'8 und später in ein Gesamtbild des Dritten Reiches integriert werden müssen.

II. Der wichtige Bereich der nationalsozialistischen Sozialpolitik blieb lange Zeit ein "weißer Fleck auf der historischen Landkarte".19 Der unorthodoxe marxistische Historiker Timothy Mason war einer der ersten, der sich dieser Thematik annahm. In seinen Arbeiten20 wurde deutlich, daß es verfehlt wäre, der Nationalsozialisten erfolgt. 18 Vgl. zu dieser Thematik demnächst: Prinz, Michael; Zitelmann, Rainer (Hg.), Nationalsozialismus und Modemisierung, Dannstadt 1990. 19 Peukert, Detlev, Zur Erforschung der Sozialpolitik im Dritten Reich, in: Otto, Hans-Uwe; Sünker, Heinz (Hg.), Soziale Arbeit und Faschismus, Taschenbuchausgabe, Frankfurt/M. 1989, 5.36. Peukert nennt die Gründe für diese Vernachlässigung der NS-Sozialpolitik durch die Forschung: "Für orthodoxe marxistische Autoren ist Sozialpolitik ohnehin ein eher unbeliebtes Thema, weil es sich in einem auf den Topos der Ausbeutung konzentrierten sozialökonomischen Ansatz nur unter lnkaufnahme von Widersprüchen plazieren läßt...Eine Hebung des Lebensstandards im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs und der Vollbeschäftigung und gewisse sozialpolitische Verbesserungen ausgerechnet im als primär arbeiterfeindlich definierten Faschismus zu konzedieren konnte nicht zu den gewünschten Resultaten marxistischer Forschung gehören..Jedoch ging es der liberalen, demokratischen Historiographie, der die theoriekonfonnen Beweisnöte der DDR-Forschung fremd waren, nicht viel besser. Sie meinte wohl, sich aus volkspädagogischen Gründen zurückhalten zu müssen, weil im 'totalitären Unrechtsstaat' nicht sein kann, was nicht sein darf, nämlich die Existenz gewisser sozialpolitischer Verbesserungen."(ebda., S.37 f.) Daß zentrale Bereiche der nationalsozialistischen Sozialpolitik bislang von der Forschung vernachlässigt wurden, zeigt die Arbeit von Herwart Vorländer über die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt": Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988. Mit rund siebzehn Millionen Mitgliedern (1943) war die NSV - nach der DAF - die größte nationalsozialistische Massenorganisation, vielleicht auch die populärste. Gleichwohl hat sich die Forschung bis zu Vorländers Studie kaum mit dieser Organisation beschäftigt. 20 Vgl. vor allem: Mason, Timothy W., Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975; ders., Sozialpolitik im

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von einer durchgehend "reaktionären" Orientierung der NS-Sozialpolitik auszugehen. Mason räumte ein, daß die DAF durchaus als "Arbeiterinteressenvertretung"21 fungierte und "zum Verfechter verbesserter Lebens- und Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers in der Industrie geworden" war. 22 Allerdings erklärte er dies mit gewissen ökonomischen Konstellationen (Arbeitskräftemangel) und wirklichen bzw. vermeintlichen innenpolitischen Zwangslagen. Die Tatsache, daß das Regime immer wieder zu Zugeständnissen gegenüber der Arbeiterschaft bereit war, erklärt er aus der Furcht der Nationalsozialisten vor einer Wiederholung der Novemberrevolution.23 In den letzten Jahren stieß die NS-Sozialpolitik auf ein verstärktes Interesse der Forschung, weil sie einen Schlüssel zur Erklärung der (lange Zeit verdrängten) Attraktivität des Nationalsozialismus zu sein scheint. Die Tendenz, die sozialen Versprechungen des Nationalsozialismus als bloße "Demagogie" abzutun und die "Volksgemeinschaft" für ein ideologisches Trugbild zu halten, weicht einer differenzierteren Sichtweise. Eine Dissertation über die DAF-Organisation "Kraft durch Freude" gelangt zu dem Resultat: "Die nationalsozialistische Freizeitorganisation (KdF) läßt sich als eine aus dem bisher gewonnenen moralisch-negativen Pauschalbild des Nationalsozialismus in gewisser Weise herausfallende Einrichtung charakterisieren, die dadurch im besonderen Maße in der Lage war, einen großen Beitrag zum relativ erstaunlichen Erfolg der NS-Arbeiterpolitik zu leisten, und die damit zu einem bedeutenden Instrument der Stabilisierung nationalsozialistischer Herrschaft wurde. •24

Die modernisierende Funktion des Nationalsozialismus sei - ausgehend vom Bereich der Freizeitgestaltung und Sozialpolitik - nicht zu leugnen.15 Die egalisierenden und modernisierenden Wirkungen der nationalsozialistischen Sozialpolitik arbeitete besonders Michael Prinz heraus, der sich mit der Entwicklung des sozialen Status der Angestellten im Dritten Reich befaßt hat. Im Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten sei schon Ende der dreißiger Jahre eine deutliche Wandlung eingetreten. Dies war keineswegs Ergebnis einer Politik der Nivellierung nach unten, sondern einer stärkeren Berücksichtigung von Arbeiterinteressen durch das Regime. Im Unterschied zu den zwanziger Jahren handelte es sich bei den durch den Dritten Reich, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 19782. 21 Mason, Sozialpolitik (Anm.20), S.194. 22 Ebda., S.198. 23 Vgl.ebda., S.17ff. 24 Buchholz, W., Die nationalsozialistische Gemeinschaft 'Kraft durch Freude' Freizeitgestaltung und Arbeiterschaft im Dritten Reich, Diss. München 1976, S.412. Vgl. auch: Vahsen, Friedhelm, Nationalsozialistische Freizeiterziehung als Sozialpolitik, in: Otto/Sünker (Anm.19), 5.63-80. 15 Vgi.Buchholz, S. 793f.

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NS-Staat angeregten Reduzierungen des Arbeiter-Angestellten-Unterschiedes in den meisten Fällen um Anhebungen der Arbeiterschaft. Ansprü-che, die bislang als typische Privilegien der Angestelltenschaft galten, wurden nun auch auf die Arbeiter ausgedehnt. Dies gilt beispielsweise für die Lohnfortzahlung an allgemeinen Feiertagen oder die verbesserte Urlaubsregelung. Ohne daß die Angestellten hier Verschlechterungen hinnehmen mußten, verloren sie doch ihre Privilegien und damit die Grundlage für das ausgeprägte mittelständische Sonderbewußtsein. Das Schwinden dieses Sonderbewußtseins war nicht nur ein Ergebnis materieller und rechtlicher Angleichungen, sondern auch einer veränderten Ideologie. "Indem der NS-Staat dem alten Bedürfnis der Arbeiter nach sozialer Anerkennung entgegenkam, indem er gleichzeitig dem Bürgertum seine historischen Versäumnisse auf diesem Gebiet vorhielt, bewirkte er einen nachhaltigen Wandel im Selbst- und Fremdbild der Arbeiterschaft in der deutschen Gesellschaft."26

Jede Absetzung von der Arbeiterschaft in der Öffentlichkeit wurde sanktioniert bzw. als "Standesdünkel" der Lächerlichkeit preisgegeben. Bisher neigte man dazu, die egalisierenden und modernisierenden Wirkungen des Nationalsozialismus primär aus den Zwängen von Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu erklären. Nach Prinz ist die Angestelltenpolitik des Regimes jedoch nur zum geringen Teil aus Handlungszwängen, die aus der Aufrüstung resultierten, erklärbar.Z7 Die am Ende vollständige Aufgabe von Statusrücksichten, wie die relative Verflüssigung der 'Kragenlinie' durch den vermehrten Aufstieg von Arbeitern ins Angestelltenverhältnis, war nicht allein die Folge 'naturwüchsiger' Zwänge des Kriegseinsatzes. Vielmehr wird sichtbar, daß die Partei und die DAF die verschärften Anforderungen des Kriegseinsatzes "geradezu als Vehikel ihrer gesellschaftspolitischen Forderungen" benutzten.28 Die Untersuchung von Prinz zeigt, daß die modernisierenden Effekte der NS-Herrschaft keineswegs generell "unbeabsichtigt" oder gar entgegen den Intentionen der Nationalsozialisten erfolgten. Die häufig zitierte "Dialektik der modernen Mittel und archaischen Ziele" biete keine überzeugende Erklärung für die Wendung gegen den Angestellten-Sonderstatus,29 die These von

Prinz, Michael, Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986, S.334. V Vgl.ebda., S.322. 28 Ebda., S.280. 29 Ebda., S.325.

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der "Modernisierung wider Willen" könne für diesen Bereich der NS-Politik keine Geltung beanspruchen.30 Dies gilt jedoch nicht nur für die Angestelltenpolitik des Regimes. Die von Dahrendorf und Schoenbaum konstatierte Einebnung traditioneller Klassenschranken im Zeichen der "Volksgemeinschaft" erfolgte durchaus nicht unbeabsichtigt. Der Verfasser hat versucht zu zeigen, daß auch Hitler selbst keineswegs Befürworter einer sozialreaktionären oder anti-modernistischen Politik war.31 Vielmehr bildeten die anti-bürgerlichen, egalitären und modernen Komponenten ein konstitutives Element seiner Weltanschauung. Hitler ging es nicht nur um eine "Paziflzierung" der Arbeiterschaft im Dienste der Kriegsvorbereitung. Die Forderungen nach Erhöhung der sozialen Mobilität und Verbesserung der Aufstiegschancen für Arbeiter und andere sozial unterprivilegierte Gruppen ergaben sich folgerichtig aus den Prämissen seines Weltbildes. Hitler stand hiermit keineswegs allein. Die jüngst erschienene Biographie Robert Leys zeigt, daß es dem DAF-Führer um die Errichtung eines "totalitarian welfare state"32 in Deutschland ging, wobei er für eine "Chancengleichheit" eintrat- allerdings nur für "deutsche Volksgenossen": "By 'socialist Germany' Ley meant the core of the Nazi social revolution: an equal-opportunity revolution whereby ordinary Germans might become upwardly mobile in a society purged of the old dass and caste differences, with their way paved via government action, while at the same time bein:ß protected from many of the vicissitudes of life through an elaborate welfare system. •

Alle sozialpolitischen Modelle der Nationalsozialisten waren selbstverständlich immer nur für die Angehörigen der "deutschen Volksgemeinschaft" konzipiert, aus der "rassisch Minderwertige" - Juden, Zigeuner und andere Gruppen - ausgegrenzt waren. Dies gilt auch für die ambitionierten sozialpolitischen Nachkriegspläne der Arbeitsfront, die Marie-Luise Recker dargestellt hat.34 Die Planungen des "Arbeitswissenschaftlichen Instituts" der DAF für die Zeit "nach dem Endsieg" erstreckten sich auf die Gebiete der Lohnordnung, der beruflichen Bildung, der Altersversorgung, der Gesundheitsversorgung und des sozialen Ebda., S.336. Vgl. Zitelmann (Anm.17) sowie: Zitelmann" Rainer, Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Göttingen-Zürich 19892. 32 Smelser, Ronald, Robert Ley. Hitler's Labor Front Leader, Oxford u.a. 1988, 5.4. 33 Ebda., S.263. Smelser gelangt zu dem Resultat, daß die Ziele Leys und der DAF durchaus als "modern" zu charakterisieren seien, und daß die modernisierenden Wirkungen der NSRevolution auch so intendiert waren, vgi.S.305. 34 Recker, Marie-Luise, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985, Abschnitt III, 5.82-154. 31

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Wohnungsbaus. Was die Nationalsozialisten auf diesen Gebieten konzipierten, war durchaus nicht "archaisch", sondern höchst modern.35 Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik wurde bislang zu wenig unter der Fragestellung ihrer modernisierenden Wirkung untersucht. Anknüpfend an die Arbeiten von Kroll36 und Barkai37 betonen Werner Abelshauser und Anselm Faust zu Recht den innovativen Charakter der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Bekanntlich griffen die Nationalsozialisten die wirtschaftspolitischen Konzepte der "Reformer"38 unter den deutschen Nationalökonomen auf, die eine Reaktion auf das Versagen der liberalen Wirtschaftspolitik darstellten. Die englische Nationalökonomin Joan Robinson stellte fest: "Hitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit kurierte, bevor Keynes mit der Erklärung fertig war, warum sie eintrat.•39

Abelshauser/Faust folgern, das NS-"Wirtschaftswunder" der dreißiger Jahre habe die "Keynesianische Revolution" des Nachkriegskapitalismus in der deutschen Praxis vorweggenommen.40 Inwiefern die von den Nationalsozialisten eingesetzten Instrumentarien der Wirtschaftspolitik als "modern" charakterisiert werden können, wird von der Forschung verstärkt zu analysieren sein. Die ältere Auffassung, wonach die Programmatik wie auch die praktische Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten ein bloßes "Konglomerat konfuser Ideen'o41 dargestellt habe, läßt sich auf jeden Fall nicht mehr aufrechterhalten. Recker selbst betont das "Nebeneinander" moderner und traditionaler Elemente in der nationalsozialistischen Sozialpolitik. Da sie noch der These von der angeblich "anti-modernen" Lebensraurn-Utopie der Nationalsozialisten verhaftet ist, kommt sie zu dem Schluß: "Alle oben konstatierten Elemente einer partiellen Modemisierung waren insgesamt eher ein Mittel zur Steigerung der kriegswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und damit der militärischen Schlagkraft als ein eigenständiges Ziel nationalsozialistischer Politik, deren Blickrichtung in eine ga'!z andere Dimension wies."(ebda., S.300) Eine genauere Analyse der sozial-, wirtschafts-und innenpolitischen Vorstellungen Hitlers zeigt indes, daß sich die "l..ebensraum-Eroberung" und die "progressiven" sozialpolitischen Ziele Hitlers keineswegs widersprachen, sondern sich vielmehr wechselseitig bedingten. 36 Kroll, Gerhard, Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958. 37 Barkai, Avraham, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, erw. Neuausgabe, Frankfurt 1988. 38 Vgl. hierzu: Grotkopp, Wilhelm, Die große Krise. Lehren aus der Überwindung der Wirtschaftskrise 1929/32, Düsseldorf 1954. 39 Robinson, Joan, The Second Crisis of Economic Theory, in: AER, Papers and Proceedings 62 (May 1972), S.S, hier zitiert nach: Abelshauser, Wemer; Faust, Anselm, Wirtschafts- und Sozialpolitik: Eine nationalsozialistische Sozialrevolution? ( = Nationalsozialismus im Unterricht, Studieneinheit 4, hg. vom Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen), Tübingen 1983, S.30. 40 Abelshauser/Faust, S.ll7. 41 Fischer, Wolfram, Die Wirtschaftspolitik des Nationalsozialismus, Hannover 1961, S.7.

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Daß die Zeit der NS-Herrschaft von einer forcierten industriellen und technischen Entwicklung charakterisiert war, ist weithin unbestritten. Alle Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung belegen dies. Nach den Deutungen von Dahrendorf, Schoenbaum und Turner wurde diese Tatsache jedoch als Beleg für den Widerspruch von Intention und Wirkung der NS-Revolution gewertet. Angeblich mußten sich die Nationalsozialisten notgedrungen der modernen Industrie und Technik bedienen, um den Krieg führen zu können, dessen eigentliches Ziel aber die Realisierung einer anti-modernen Utopie gewesen sei.42 "Um die Probleme des hochindustrialisierten Deutschland im 20.Jahrhundert zu heilen, verordneten sie (Hitler, Himmler, Rosenberg und Darre, die Turner gemeinsam einer antimodernistischen Richtung in der NSDAP zuordnet, RZ.) eine Wiederbelebung der kultischen Verehrung von Blut und Boden. Sie wollten einen großen Teil des deutschen Volkes aus der industriellen Welt befreien und ihm eine Rückkehr zum einfachen Leben auf dem Lande ermöglichen."43

Hitler habe während der Jahre, in denen er die Macht in einem der fortgeschrittensten Industrieländern der Welt anstrebte, das Wirtschaftsleben letztlich mit agrarischen Begriffen betrachtet.44 Turner belegt seine These hauptsächlich mit Hitlers "Lebensraum"-Konzept, das im Dienste einer "Reagrarisierung" gestanden habe. Die Gewinnung von Lebensraum im Osten habe für Hitler einen einseitig agrarpolitischen Zweck gehabt. Es fänden sich in Hitlers Schriften keine Hinweise darauf, daß Hitler in diesem Zusammenhang auch umfassendere wirtschaftliche Überlegungen anstellte und z.B. die Möglichkeiten der Energie- und Rohstoffgewinnung berücksichtigte.45 Dies ist jedoch unrichtig.46 Hitler sah den zu erobernden "Lebensraum" im Osten durchaus auch als Rohstoff- und Energiequelle sowie als Absatzmarkt einer expandierenden deutschen Industrie. Hitlers Lebensraurn-Konzeption war nicht Ausdruck einer antimodernistischen Reagrarisierungs-Ideologie. Die Rücksiedlung von Städtern auf das Land zum Zwecke der Bau"Denn wie wäre es möglich gewesen, große Gebiete als neuen 'Lebensraum' zu erlangen, um Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu entindustrialisieren und zu entstädtern, wenn nicht durch Eroberung? Und wie wäre eine solche Eroberung möglich gewesen, wenn nicht mit Hilfe einer riesigen industriellen Kriegsmaschinerie? Mit anderen Worten: die Nationalsozialisten mußten zwangsläufig 'Modernization' praktizieren, um ihre im Grunde fortschrittsfeindlichen Ziele zu verfolgen.• (Turner (Anm.15), S.172) 43 Ebda., S.164. 44 Turner, Henry Ashby, Hitlers Einstellung zu Wirtschaft und Gesellschaft vor 1933, in: Geschichte und Gesellschaft 1/1976, 5.87-117, hier: S.93. 45 Ebda., S.94, ähnlich auch: ders., Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985, S.96. 46 Vgl. hierzu: Zitelmann, Rainer, Zur Begründung des "Lebensraum"-Motivs in Hitlers Weltanschauung, in: Michalka, Wolfgang (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Forschungsbilanz undperspektiven, München 1989; Zitelmann (Anm.17), 5.306-348.

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ernansiedlung lehnte er ausdrücklich ab. Ein solches Unternehmen sei "vergebliche Mühe und herausgeworfenes Geld".47 Zwar war die Bauernansiedlung eine Funktion des Lebensraums im Osten, doch sollte sie nicht die "Reagrarisierung" der deutschen Gesellschaft einleiten, sondern lediglich der Beseitigung der gestörten Proportionalität von Landwirtschaft und Industrie dienen und die Voraussetzung für die Bildung einer relativ autarken großeuropäischen Wirtschaftsordnung bilden. Hitlers Autarkie-Konzept unterschied sich in einem entscheidenden Punkt von zeitgenössischen Autarkievorstellungen: Nicht durch Reagrarisierung und Konsumverzicht, wie sie von Wortführern des Autarkie-Gedankens wie Ferdinand Fried und Werner Sambart empfohlen wurden,48 sollte die wirtschaftliche Unabhängigkeit Deutschlands verwirklicht werden, sondern durch die Eroberung gigantischer Rohstoff- und Energieressourcen. Hitler betrachtete die ständige Steigerung der Lebensstandards als quasi naturgesetzliche Notwendigkeit. Ausdrücklich wandte er sich immer wieder gegen eine Haltung der "Anspruchslosigkeit", die für ihn Ausdruck eines "Primitivitätskults", ja, eines "bolschewistischen Ideals der allmählichen Rückentwicklung der Zivilisationsansprüche" war.49 Hitler bewunderte die technisch-industrielle Potenz der Vereinigten Staaten. Das dort erreichte Niveau der Technik, der Rationalisierung, der Verbreitung des Automobils usw. betrachtete er als vorbildlich. Nicht nur Hitler war von den Möglichkeiten der modernen Technik fasziniert, sondern auch andere führende Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels, Albert Speer, Robert Ley und Fritz Todt. Todt, Leiter des Hauptamtes für Technik der NSDAP, meinte, noch kein deutscher Reichskanzler habe die Technik freudiger begrüßt als Hitler.50 Todt selbst war bestrebt, dem Techniker die ihm zustehende entscheidende Stellung zukommen zu lassen. Während Techniker und Ingenieure im öffentlichen Dienst bisher meist in untergeordneten Funktionen tätig waren- oft war ein Jurist ihr Vorgesetzter-, versprach das technische Entwicklungsprogramm der NSDAP einen Einbruch in die höheren Ämter der Verwaltung.51 Dem Nachfolger Todts, Albert Speer, gab Hitler ausdrücklich den Rat, an der bewährten Methode festzuhalten und Aufzeichnungen des persönlichen Referenten Rosenbergs, Dr.W.Koeppen, über Hitlers Tischgespräche, BA/R/6/34a, Fol.l-82, Bericht Nr.40 vom 4.10.1941, AbendtafeL 48 Vgl. z.B. Fried, Ferdinand, Autarkie, Jena 1932, 5.9,23,44,52; Sombart, Wemer, Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, 5.41, 44. Zu den zeitgenössischen Autarkievorstellungen vgl.: Teichert, Eckart, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984. 49 Vgl. Zitelmann (Anm.17), 5.349-354. 50 Seidler, Pranz W., Fritz Todt. Baumeister des Dritten Reiches, München/Berlin 1986, 5.71. 9 ' Ebda., 5.75.

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vor allem in der Rüstung in erster Linie "Techniker" heranzuziehen. Ende Juli 1942 stimmte Hitler sogar der Vorlage eines Erlasses zu, nach dem die Aufsichtsräte in den Rüstungsfirmen höchstens zu 20-30% aus dem Bankgewerbe oder von Juristen gestellt werden dürften, während der Hauptteil Fachleute aus der Industrie sein sollten.52 Jeffrey Herf hat auf die Affinitäten zwischen den ideologischen Bekenntnissen von Ingenieuren und Technikern einerseits und Nationalsozialisten andererseits hingewiesen.53 "The cultural politicians among the engineers came to believe that National Socialism would silence the critics of technology from the ~IIed cultivated world and would also wrest technical development from control by commercial interests. Nazism's appeal for the engineers was not an antimodemist attack on technology but a promise to unleash modern technology from the constraints the Social Democrals bad placed on it. .,54

Bislang hat man einseitig die "Blut und Boden"-Ideologie Richard Watther Darres55 mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt. Eine einheitliche nationalsozialistische Ideologie gab es jedoch nicht. So lehnten Hitler und Goebbels den "Mystizismus" und Irrationalismus von Ideologen wie Himmler und Rosenberg scharf ab.56 Es bleibt ein Desiderat der Forschung, modernistische und antimodernistische Komponenten im Weltbild führender Nationalsozialisten zu untersuchen. Oftmals vertraten gerade solche Nationalsozialisten antimodernistische "agrarische" Theorien, denen solche Vorstellungen gemeinhin nicht zugeschrieben werden, so z.B. Otto Strasser, der allerdings schon 1930 aus der Partei ausschied.57 Ideologen wie Darre verloren im Dritten Reich an Einfluß, Technokraten wie Backe, Speer und Heydrich drängten erfolgreich in die entscheidenden Machtpositionen. Ein häufig angeführtes Beispiel für den angeblich antimodernistischen Charakter der NS-Ideologie ist ihre "Großstadtfeindlichkeit". Erhard Forndran hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß die Großstadtfeindlichkeit

52 Ludwig, Karl-Heinz, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974, S.200.

53

Vgl. Herf, Jeffrey, Reactionary Modemism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge u.a. 19862, 5.152-188. 54 Ebda., S.161. ss Zu Darr~ vgl. jetzt: Corni, Gustavo, Richard Watther Darr~- Der 'Blut und Boden'-ldeologe, in: Smelser, Ronald; Zitelmann, Rainer (Hg.), Die braune Elite. 22 biographische Skizzen, Darmstadt 1989, 5.15-27. 56 Vgl. Zitelmann (Anm.17), 5.372-378. 57 Die Widersprüche zwischen Hitlers Bejahung der Industriegesellschaft und Otto Straßers Agrarideologie betont Patrick Moreau, Otto Straßer - Nationaler Sozialismus versus Nationalsozialismus, in: Smelser/Zitelmann (Anm55), 5.286-298, besonders 5.295-297.

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der Nationalsozialisten nicht überschätzt werden sollte.58 Selbst ein Ideologe wie Feder, ein Kritiker der "Großstadt", betonte: "Die Großstadt kann also nicht überhaupt abgelehnt werden, sondern sie ist lediglich in der heutigen Form ungenügend und entspricht nicht mehr den modernen Auffassungen, die an eine Gemeinschaft von Menschen gestellt wird, in der jeder ein gleichberechtigtes lebensfähiges Einzelglied der großen Volksgemeinschaft ist...s'J

Farndran meint, zwar habe im Dritten Reich weiterhin eine Ideologie der Reagrarisierung existiert, doch habe die häufig konstatierte Großstadtfeindlichkeit des Nationalsozialismus langsam ihre Bedeutung für die Stadt- und Wohnungsbaupolitik verloren.60 Hitler selbst lehnte die Großstädte keineswegs generell ab, sondern höchstens bestimmte von ihm als negativ empfundene Erscheinungen des Großstadtlebens.61 Was die Siedlungsplanung und die Baupolitik angeht, so ist die Tendenz zur forcierten Industrialisierung und Rationalisierung unverkennbar. In der Zeitschrift Der soziale Wohnungsbau in Deutschland hieß es: "Der Wohnungsbau der Zukunft in Deutschland wird als obersten Grundsatz die Forderung auf Herstellung aller Baustoffe und Bauteile als Massenartikel herausstellen. Die Bauwirtschaft wird in allen ihren Teilen die Entwicklung nachholen müssen, die auf dem Gebiete der Herstellung von anderen Gebrauchsgütern schon lange eingetreten ist. Die Vorstufen hierzu sind Typisierung und Normung, die jedoch erst dann zu voller Auswirkung kommen können, wenn sie mit industriellen Fertigungsmethoden verbunden werden.•62

Der "Soziale Wohnungsbau" wurde bislang gerne als Errungenschaft der Nachkriegszeit dargestellt. Tilman Harlander, Gerhard Fehl und Werner Durth haben jedoch nachgewiesen, daß auch hier die Formel vom "Neubeginn bei Stunde Null" ebenso nur die halbe Wahrheit ist wie die häufig vertretene These vom direkten Anknüpfen an die 20er Jahre. Im Dritten Reich wurden wichtige Weichenstellungen für den deutschen Wohnungsbau der Nachkriegszeit vollzogen. Die Planungen für den sozialen Wohnungsbau blieben "nicht bloß eines der episodischen Beispiele für großmäulig angekündigte nationalsozialistische Utopien", die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erledigten, sondern markierten eine wirkliche Wende, "eine Wende, die in konzeptioneller, bautechnischer und organisatorischer Hinsicht einem Fomdran, Erhard, Die Stadt- und Industriegründungen Wolfsburg und Salzgitter. Entscheidungsprozesse im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Frankfurt/M., New York 1984, S.62. 59 Zitiert nach: ebda., S.62. 60 Ebda., S.64. 61 Zu Hitlers Stellung zur Großstadt: Zitelmann (Anm.17), S.319-322. 62 Schönbein, SWD II, 33, zitiert nach: Harlander, Tilman; Fehl, Gerhard (Hg.), Hitlers Sozialer Wohnungsbau 1940-1945. Wohnungspolitik, Baugestaltung und Siedlungsplanung, Harnburg 1986, S.27.

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Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung und Modernisierung der Wohnungsbaupolitik und Bauwirtschaft zum Durchbruch verhalf und damit erst wesentliche Vorbedingungen des Baubooms im Massenwohnungsbau der 50er und 60er Jahre schuf."63 Die gängige Vorstellung, die Kultur des Dritten Reiches sei von anti-moderner Bauernromantik, engstirnig-völkischer Kunst und primitiven NS-Propagandaparolen dominiert gewesen, wurde nachdrücklich von Hans Dieter Schäfer in Frage gestellt. "Mehr oder weniger gehobene Unterhaltungspoesie, auf jeden Fall tendenzfrei, unter anderen historischen Voraussetzungen der Harmlosigkeit zugerechnet, wurde für die nationalsozialistische Kulturpolitik zur beherrschenden Zweckform."64

Eine ausgesprochene "Konsumorientierung" wurde ebenso kultiviert wie ein ausgeprägter "Amerikanismus" - beides Phänomene, die heute oft der Adenauer-Zeit zugerechnet werden.65 Schwierig zu beantworten ist die Frage nach der Entwicklung der Partizipation im Dritten Reich. Nebeneinander - und sich gegenseitig bedingend können die Versuche zur Massenmobilisierung und Politisierung, zugleich jedoch eine Tendenz zum "Rückzug ins Private" konstatiert werden. Die Beseitigung demokratischer Institutionen und Mitwirkungsmöglichkeiten wird häufig als Ausdruck "anti-moderner" Ziele und Wirkungen des Nationalsozialismus gedeutet. Da dies jedoch implizit von einem fragwürdigen normativen Modernisierungsbegriff ausgeht, dem die westlich-demokratische Gesellschaft als einzig mögliche oder doch höchste Realisierungsform der Moderne gilt, müßte die Frage gestellt werden, ob nicht im "Dritten Reich" andere Formen der Partizipation verwirklicht wurden. Lotbar Kettenacker warnt davor, die in Harlander/Fehl, S.ll. Die Autoren beurteilen diese Kontinuitäten kritisch. Die "Vorleistungen", welche die nationalsozialistische Wohnungsbaupolitik für die Zeit nach dem Krieg erbrachte, dürften "nicht als harmlos angesehen werden. Der Makel des Nationalsozialismus haftet ihnen unlösbar an". Auch wenn sie aus älteren Vorstellungen helVorgingen und sich noch so technisch darstellten, seien diese Vorleistungen "durch die Vereinnahmung in das System des Nationalsozialismus und seine verbrecherischen Zielsetzungen und Maßnahmen" belastet. "Der autoritäre Zug, den wir gerade auch in der Wohnungs- und Siedlungsplanung beobachten werden, leitete sich, ebenso wie die technokratische Grundhaltung der Planer, davon her und wurde ja auch weitgehend ungebrochen als 'basso ostinato' der erwähnten Kontinuität in die Nachkriegszeit eingebracht."(ebda., S.12). Die Modernität der Stadt- und Verkehrsplanung und der Architektur im Dritten Reich betont auch: Durth, Werner, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900-1970, Braunschweig und Wiesbaden 1986. Vgl. auch: Durth, Werner; Gutschow, Niets, Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940- 1950. Bd.1: Konzepte; Bd.2: Städte, Braunschweig 1988. 64 Schäfer, Hans Dieter, Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945, Frankfurt/M. u.a. 1984, S.142. 65 Vgl.hienu demnächst: Schäfer, Hans Dieter, "Amerikanismus" im Dritten Reich, in: Prinz/Zitelmann (Anm.18).

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der deutschen Geschichte einmalige Mobilisierung der Bevölkerung in Friedenszeiten zu immer neuen Massenkundgebungen - von örtlichen Parteiappellen bis zum Reichsparteitag in Nürnberg - als "Zwangsveranstaltungen" abzutun. "Man will heute einfach nicht mehr wahrhaben, daß sich in der nationalsozialistischen 'Volksgemeinschaft' eine zwar schwer begreifliche, irrationale Partizipation manifestierte, gewiß keine politische Meinungsbildung, aber doch eine ernstzunehmende Willensäußerung, nicht bloß plebiszitäre Akklamation.•66

In den Berichten von Zeitgenossen spiegelt sich dieses Gefühl noch heute wider. So schreibt die Psychologin Eva Sternheim-Peters in ihren - wahrlich nicht apologetischen - autobiographischen Erinnerungen, sie habe sich in den "40 Jahren seit dem Ende der Hitler-Diktatur niemals wieder so intensiv als freies, politisch denkendes und handelndes Wesen, als verantwortungsvolle, ständig zur persönlichen Verantwortung herausgeforderte Trägerin politischen Geschehens gefühlt...Das starke Gefühl aktiver politischer Teilhabe stellte sich damals nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Millionen Deutschen älterer Jahrgänge ein, die das Bedürfnis hatten, sich politisch zu betätigen und politische Verantwortung zu übernehmen."67 Natürlich wurde die dauernde Massenmobilisierung keineswegs durchweg als positiv empfunden, sondern erzeugte auch Überdruß und Gegenreaktionen. Detlev Peukert wertet jedoch gerade die Tendenz zum "Rückzug ins Private" als durchaus modernes Phänomen: "Zu diesen teils durch die Politik des Regimes, teils gerade durch die Resistenz gegen dessen Mobilisierung und Inszenierung der Öffentlichkeit geförderten 'Modemisierungen' gehörte vor allem die Atomisierung der traditionellen gesellschaftlichen Integrationsformen und Handlungsweisen, der Rückzug in eine isolierte und entpolitisierte Privatheit, aus der sich jene konsum- und leistungsorientierte Dynamik des 'Wirtschaftswunders' herausbildete."68

Explizit wurde die Frage nach der Modernisierungsfunktion des Nationalsozialismus von Klaus-Jürgen Müller und Bernhard Kroener in ihren Arbeiten über die Armee im Dritten Reich gestellt. Die politische Abdankung der traditionellen Militär-Elite und ihres umfassenden Führungsanspruchs muß im Rahmen der deutschen Militärgeschichte als Prozeß der "Umwandlung einer einst politischen Elite in eine nur noch funktionale Elite"69 gedeutet werKettenacker, Lothar, Sozialpsychologische Aspekte der Führer-Herrschaft, in: Hirschfeld, Gerhard; Kettenacker, Lothar, Der "Führerstaat": Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S.98-132, hier S.l16. 67 Stemheim-Peters, Eva, Die Zeit der großen Täuschungen. Mädchenleben im Faschismus, Bielefeld 1987, S.l06. 68 Peukert (Anm.6), S.294. 69 Müller, Klaus-Jürgen, Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumentation unter Mitarbeit von Ernst Willi Hansen, Paderborn 1987, S.40

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den, sie bedeutete einen grundlegenden Bruch mit der historischen Tradition. Im "Dritten Reich" wurde das preußisch-deutsche Offizierskorps erstmals in seiner Geschichte zu einem rein staatlichen Exekutivorgan der politischen Führung. "Gewiß, nach liberal-demokratischen Verfassungsdenken wäre das seine normale Rolle.. Aber gerade diese 'Normalität' hatte es im preußisch-deutschen Reich, im Grunde auch in der Republik von Weimar, nie gegeben."70

Konflikte wie die zwischen dem Nationalsozialisten Biomberg und dem eher traditionellen Fritsch reflektieren auch den Widerspruch zwischen den modernisierenden Tendenzen des Nationalsozialismus und den traditionellen Beharrungskräften der konservativen Eliten. Biombergs Modernität zeigte sich darin, daß er die soziale Öffnung der Armee befürwortete und bereit war, neue politische 'Eliten' einzubeziehen, während das "traditionalistische Herrentum" Fritschs zwar einerseits Barrieren gegen die nationalsozialistische Indoktrination errichtete, zugleich jedoch auch gegenüber einer modernen Menschenführung.71 "Ich erblicke.. .in der schrittweisen Durchführung des Leistungsprinzips ohne Rücksicht auf Herkunft, Stand und Geldbeutel des Vaters eine der wichtigsten Forderungen des neuen deutschen Sozialismus", erklärte Biomberg in einer Rede Ende April1937. 72

1928 bis 1930 stammten noch 63 Prozent aller Offiziersanwärter des Reichsheeres aus dem gehobenen Bürgertum und dem Adel. In den Jahren 1939/41 hatte sich dieser Anteil auf 25 Prozent verringert. Gleichzeitig stieg der Anteil von Offiziersbewerbern aus der Industriearbeiterschaft und den ländlichen Unterschichten von null Prozent (1936) auf knapp neun Prozent (Ende 1942) an.73 Sicherlich waren die Heeresvermehrung und die Allgemeine Wehrpflicht wichtige Antriebskräfte der sozialen Öffnung der Wehrmacht, jedoch sollte sie nicht als bloß "unbeabsichtigtes" Resultat dieser Prozesse betrachtet werden. Die Nationalsozialisten nutzten die Gunst der Stunde bewußt, um ihre "Volksgemeinschaft"-Ideologie zu verwirklichen. Diese war gegen Ende des Krieges im Offizierskorps des Heeres weitgehend realisiert. "Ohne soziale Exklusivität, ohne funktionsfremde Privilegien und seines traditionellen, auf sich selbst bezogenen Normengefüges entkleidet, war es in der Gesellschaft aufge·

Ebda., S.41f. Vgl. ebda., S55. 72 Rede Biombergs vor Kreisleitern der NSDAP auf der Ordensburg Vogelsang am 27.4.1937, hier zitiert nach: Kroener, Bemhard R, Auf dem Weg zu einer "nationalsozialistischen Volksarmee", in: Broszat, Martin; Henke, Klaus-Dietmar; Woller, Hans (Hg.), Von Stalin~rad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989 , S.651682, hier S.652. 73 Vgl. Kroener, S.679. 71

Nationalsozialismus und Moderne

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gangen. Es hatte sich auch in dem Sinne modernisiert, als es sich den spezifischen Bedingungen des modernen Kriegesangepaßt hatte."74

Die Veränderungen in der Stellung des Offiziers im Dritten Reich ("Volksgenosse in Uniform") ebneten letztlich dem "Staatsbürger in Uniform" den Weg. Daß "Hitlers Politik auf die Förderung sozialer Mobilität gerichtet war"/5 ist eines der Ergebnisse der Untersuchung von Harald Scholtz über die NSAusleseschulen. Die Statistik über die Berufe der Väter von Schülern der nationalpolitischen Erziehungsanstalten und der Adolf-Hitler-Schulen zeigt, daß Arbeiterkinder mit einem Anteil von 13,1 Prozent (NPEA) bzw. 19,5 Prozent (AHS) in den Eliteschulen relativ stark vertreten waren. An den Adolf-Hitler-Schulen bildeten die Kinder von Arbeitern und angestellten Handwerkern immerhin die drittstärkste Gruppe nach denen der Beamten und Angestellten.76 In den Aufnahmebedingungen für die Eliteschulen war ausdrücklich festgelegt worden, daß Schüler aus der sozial schlechter gestellten Bevölkerung besonders berücksichtigt werden sollten.77 Der Anteil der Schüler dieser Eliteschulen an der Gesamtschülerschaft war natürlich sehr klein. Dies relativiert die Bedeutung der sozialen Öffnung in diesen Schulen, zumal sich im traditionellen Schulsystem in dieser Hinsicht wahrscheinlich nicht viel geändert hatte. Dennoch sollte die Bedeutung der Adolf-Hitler-Schulen und der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten nicht unterschätzt werden. Erstens hatten sie eine "Modellfunktion...für die Umgestaltung der weiterführenden Schulen".78 In ihnen konnten die nationalsozialistischen Prinzipien, die später auf das gesamte Schulsystem übertragen werden sollten, in "reinerer" Form praktiziert werden als im traditionellen Schulsystem. Zweitens beabsichtigten die Nationalsozialisten, in diesen Schulen die künftigen politischen "Führer" heranzuziehen. In einer Rede am 10.12.1940 erklärte Hitler, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte seien "grundsätzlich alle gesellschaftlichen Vorurteile in der Stellenbesetzung beseitigt" und "alle Hemmungen gesellschaftlicher Art überwunden" worden. "Und wir bauen ja nun vor allem für die Zukunft auf. Denn Sie wissen, wir haben unzählige Schulen, nationalpolitische Erziehungsanstalten und Adolf-Hitler-Schulen. In diese Schulen, da holen wir die talentierten Kinder herein, die Kinder unserer breiten Masse, Arbeitersöhne, Bauernsöhne, wo die Ellern niemals bezahlen könnten, daß ihre Ebda., S.677. Scholtz, Harald, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates7 Göttingen 1973, 5.257. 6 Ebda., S.133. Der hohe Anteil von Arbeiterkindern in den Eliteschulen wird nach Auskunft von Herrn Prof.Dr.Harald Scholtz, FU Berlin, durch neuere Funde von Klassenbüchern nachdrücklich bestätigt. 77 Ebda., S.170. 78 Scholtz, Harald, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz, Göttingen 1985, S.73. 75

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Rainer Zitelmann Kinder ein höheres Studium mitmachen, die kommen hier allmählich hinein und werden hier weitergebildet, und sie werden später einmal in den Staat hineingeführt, sie kommen später in die Partei, sie kommen in die Ordensburgen, sie werden höchste Stellen einmal einnehmen."79

Noch zu wenig untersucht ist ein anderes Feld, nämlich die Ersatz-Aufstiegsmöglichkeiten - außerhalb des tradierten Schulsystems - die die Nationalsozialisten schufen, so z.B. im beruflichen Bildungswesen. Unter dem Aspekt der "Modernisierung" ist insbesondere wichtig, daß zu Kriegsbeginn eine deutlich größere Nachfrage nach einer weiterführenden Schulausbildung einsetzte.80 Diese Nachfrage betrifft sowohl die Übergänge von der Volksschule zu mittleren und höheren Schulen wie die Bereitschaft der Volksschulabsolventen zum Besuch von Berufsfachschulen. Die Reichsschulstatistik stellte 1931/32 fest, daß nach dem 4.Grundschuljahr in der Regel 87% der Volksschüler auf der Volksschule blieben, 4% auf mittlere und 9% auf höhere Schulen gingen. Diese Regel trifft auch auf 1936 zu, nicht aber auf die Jahre ab 1940. 1942 blieben nur 75,3% der Schüler im "Altreich" im 5.Jahr auf der Volksschule, 9,8% gingen auf gehobene und 14,9% auf höhere Schulen über. 1943 wurde für Kinder aus wenig gegliederten Landschulen die Aufnahmeprüfung für höhere Schulen durch einen 'vorbereitenden Sonderunterricht' ersetzt, also die Nachfrage nach höherer Schulausbildung noch unterstützt. Die egalitären und modernisierenden Impulse des Nationalsozialismus, die auch in der Schulpolitik deutlich wurden, stießen auf vielfältige Widerstände, vor allem von konservativer Seite. So hat Karl Christoph Lingelbach darauf hingewiesen, daß selbst dem Nationalsozialismus grundsätzlich nicht ablehnend gegenüberstehende Pädagogen wie Heinrich Weinstock und Theodor Litt dessen Schulpolitik kritisierten. Sorgen bereiteten ihnen vor allem die 'egalitären' Tendenzen der nationalsozialistischen Massenorganisationen, die den Aufstieg nicht 'wissenschaftlich' qualifizierter 'Eliten' in zunehmenden Maße auch institutionell ermöglichten.81 79 Hitler-Rede vom 10.12.1940, in: Bouhler, Philipp (Hg.), Der großdeutsche Freiheitskampf. Reden Adolf Hitlers. Bd. 1/11: 1.9.1939- 16.3.1941, München 1943, S.350. 80 Zu den folgenden Ausführungen vg!.: Scho!tz (Anm.78), S.106f. 81 Vgl. Lingelbach, Kar! Christoph, Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. Ursprünge und Wandlungen der 1933-1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen; ihre politischen Funktionen und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis des "Dritten Reiches", Weinheim u.a. 1970, S.211f. "Der Realität der modernen, den Bedingungen der Industriegesellschaft angepaßten Parteidiktatur, die breite Volksschichten aus ihren traditionellen Bindungen gelöst hatte und in Massenorganisationen und durch Massenagitation zu mobilisieren verstand, stellt er (Weinstock, RZ.) die aristokratische Struktur des traditionellen Obrigkeitsstaates gegenüber." (ebda., S.211f.)

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Zu massiven Konflikten - auch mit größeren Teilen der Bevölkerung - kam es, als die Nationalsozialisten in den Jahren 1936 bis 1938 darangingen, die konfessionellen Bekenntnisschulen durch sogenannte "Gemeinschaftsschulen" zu ersetzen. Die Gemeinschaftsschule, eine von Liberalen und Sozialdemokraten seit langem vehement geforderte Schulform, deren Einführung jedoch immer wieder verhindert worden war, wurde mit massivem Zwang schließlich erst durch den Nationalsozialismus verwirklicht.82 Dieser Konflikt zeigt, daß die "Resistenz" gegen den Nationalsozialismus- vor allem in katholisch-agrarischen Gebieten oftmals Ausdruck des konservativen Beharrungsvermögens "anti-modern" eingestellter Bevölkerungskreise war. In den Visitationsberichten der Dekanate in Bayern häuften sich die Klagen, daß "auch der Lehrer, der bisher ein treuer Mitarbeiter des Pfarrers gewesen ist, sich vom kirchlichen Leben mehr und mehr zurückzieht".83 Eingebettet in sorgenvolle Betrachtungen über ein "Verschwinden altgewohnter Lebensformen und Sitten" auf dem Dorf, finden sich Bemerkungen wie diese: "Kirche und Schule trennen sich. Pfarrhaus und Lehrerhaus werden die sichtbaren Verkörperungen zweier Welten, wo noch vor wenigen Jahren eine Einheit war."84

Nicht nur Aktivitäten, die sich gegen die Kirche richteten, riefen Proteste hervor. Unmut machte sich generell breit, wenn die traditionellen Autoritäten auf dem Dorf in Frage gestellt wurden, z.B. von der aufmüpfigen "Hitler-Jugend". Alltagsgeschichtliche Untersuchungen, wie die des Projektes "Bayern in der NS-Zeit", zeigen, daß die Auflösung traditioneller Autoritätsstrukturen und Hierarchien auf dem Lande eine der wichtigsten modernisierenden Wirkungen des Nationalsozialismus war. Ein überzeugendes Beispiel für die These von der "unbeabsichtigten Modernisierung" scheint die Veränderung in der Rolle der Frau im Nationalsozialismus zu sein. Schoenbaum meint, unter dem Druck des totalitären Staates und dem Einfluß zunehmender Industrialisierung habe sich für die Frauen "ein neuer Status von relativer Gleichberechtigung" ergeben.85 Im Unterschied zu vielen anderen Modernisierungen scheint diese Entwicklung in der Tat im Vgl.hierzu den ausgezeichneten Beitrag von Sonnenberger, Franz, Der neue "Kulturkampf". Die Gemeinschaftsschule und ihre historischen Voraussetzungen, in: Broszat, Martin; Fröhlich, Elke; Grossmann, Anton (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. Bd.III: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, München, Wien 1981, S.235-328. Sonnenberger konstatiert, daß der nationalsozialistische Schulkampf die "These von der diktatorischen Revolutionierung und Modemisierung...ganz und gar zu bestätigen" scheint (ebda., S.325). 83 Visitationsbericht des Dekanats Schweinfurt für das Jahr 1937, zitiert nach: Broszat, Martin; Fröhlich, Elke; Wiesemann, Falk, Bayern in der NS-Zeit. Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, Bd.l, München, Wien 1977, S.409. 84 Bericht der Landeskirchenleitung über die Kirchenvisitationen in Bayern 1937/38, zitiert nach: ebda., S.414. 85 Schoenbaum (Anm.12), S.241.

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Widerspruch zu der anti-feministischen Ideologie der Nationalsozialisten verlaufen zu sein. Andererseits gab es selbst unter den Nationalsozialisten relevante Kräfte, die dem Emanzipationsprozeß der Frau positiv gegenüberstanden. Leila Rupp spricht sogar von "Nazi-feminists" und stellt die bislang vorherrschende Sichtweise einer geschlossen emanzipationsfeindlichen Haltung "des" Nationalsozialismus in Frage: "''be misogynist views of the top Nazi Ieaders, and the views of the Nazi feminists, represent opposite ends of the spectrum of Nazi ideas about women. The ffat majority of writers on the subject, many of them women, fall somewhere between.•

Goebbels lehnte - nicht erst in der Situation des Arbeitskräftemangels, sondern schon gleich nach der Machtergreifung - eine Verdrängung der Frauen aus dem Berufsleben ausdrücklich ab, da dies "zu den katastrophalsten menschlichen und politischen Folgen führen" würde. "Wenn heute unmoderne, reaktionäre Menschen erklären, die Frau gehöre nicht in die Büros und in die Ämter und die sozialen Fürsorgestätten hinein, denn das sei ja auch früher nicht der Fall gewesen, so krankt diese Beweisführung an einem Irrtum. Es hat eben früher Büros und soziale Fürsorgestätten in diesem Sinne nicht gegeben."87

Ebensogut könne man ja Männer mit demselben Argument von ihren neuentstandenen Arbeitsplätzen verdrängen. Doch wie sich die Arbeitsmethoden geändert hätten, müsse sich auch der Anteil der Frau an der Arbeit des Mannes ändern. Dörte Winkler konstatiert: "Goebbels verteidigte mithin den mit der Industrialisierung einhergegangenen Wandel der Arbeits- und Gesellschaftsstruktur gegenüber jenen anti-modernistischen Tendenzen in der Partei, deren Ideologen die Folgen der Industrialisierung verdammten und die Rückkehr zu einer vorindustriellen Gesellschaft erstrebten.•88

Bemerkenswert ist, wie sich der Anteil der Frauen in der NSDAP entwickelte. 1933 war die NSDAP eine fast reine Männerpartei. Der Frauenanteil bei den Neueintritten betrug nur 5,1%.89 Er verringerte sich sogar noch in den Jahren 1934-36 und sank auf 4,4%. In den folgenden Jahren stieg der Frauenanteil jedoch rapide an: 1937 lag er bei den Neueintritten bereits bei 10%, 1938 bei 17,5%, 1939 bei 16,5%, 1940/41 bei 19,6% und 1942-44 bei 34,7%. Das starke Anschwellen in den Jahren ab 1940 ist sicherlich auch auf die Kriegssituation mit zurückzuführen, jedoch nicht ausschließlich damit zu erklären. Dies gilt auch für den Anteil der weiblichen Studenten, der in den 86 Rupp, Leila J., Mobilizing Women for War. German and American Propaganda 1939-1945, Princeton 1978, S.26. 87 Joseph Goebbels, zitiert nach: Winkler, Dörte, Frauenarbeit im "Dritten Reich", Harnburg

1977, 5.48.

88 Ebda., 5.48.

89 Diese und die folgenden Zahlenangaben nach: Kater, Michael, The Nazi-Party. A Social Profile of Members and Leaders 1919-1945, Cambridge (Mas.) 1983, 5.254.

Nationalsozialismus und Modeme

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Kriegsjahren naturgemäß außergewöhnlich hoch war (1943/44: 61,3%), jedoch auch in absoluten Zahlen (27442) weit höher lag als jemals zuvor in Deutschland.90 Obwohl der Nationalsozialismus in vielen Bereichen der Gesellschaft modernisierend wirkte, erhebt sich die Frage, ob ein Regime als "modern" charakterisiert werden kann, das solch ungeheure Vernichtungskapazitäten entfesselte? Ist die NS-Rassenideologie und ihre Realisierung nicht der überzeugendste Beleg für den "archaischen" Charakter des Nationalsozialismus? Detlev Peukert betont demgegenüber, daß der nationalsozialistische Rassismus "keineswegs ein unerklärlicher plötzlicher Einbruch 'mittelalterlicher Barbarei' in eine fortschrittliche Gesellschaft war, sondern seine Verführungskraft aus den Pathologien dieses 'Fortschritts' selbst zog".91 Aus heutiger Perspektive erscheinen uns vor allem die rassenpolitischen "Maßnahmen" der Nationalsozialisten als Ausdruck einer irrationalen und fortschrittsfeindlichen Ideologie. Hans-Walter Schmuhl hat jedoch gezeigt, daß die "Rassenhygiene" sich selbst als neuartigen Wissenschaftszweig verstand, als eine Gesellschaftswissenschaft auf naturwissenschaftlicher Basis. Dieser Anspruch konnte nicht nur in der Öffentlichkeit weitgehend durchgesetzt werden, sondern wurde auch zunehmend von Vertretern solcher Disziplinen wie der Biologie, der Anthropologie und der Soziologie anerkannt. Den Zeitgenossen galt die Rassenhygiene zweifelsohne als Wissenschaft, ja, "Wissenschaftlichkeit kann geradezu als das formgebende und strukturbildende Moment der Rassenhygiene angesehen werden".92 Die "Züchtungsideen" der "Rassenhygieniker" waren von einem Portschrittsoptimismus geprägt. Nach ihrer Ansicht hing der Fortschritt der humanen Phylogenese davon ab, daß das Selektionsprinzip in der Gesellschaft zum Tragen kam. Ihre Vorstellungen von "Volksgesundheit" konvergierten mit Tendenzen in der Medizin und der Psychiatrie, die sich schon lange vor dem "Dritten Reich" abgezeichnet hatten.

90 Der bis dahin absolute Höchstwert lag im Sommersemester 1931 bei 21195 Studentinnen, das waren 15,7% aller Studierenden. Zahlen nach: Petzina, Dietmar; Abelshauser, Wemer; Faust, Anselm, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Bd.III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945, München 1978, S.169. Dieses Beispiel zeigt die Problematik der "Zahlenreihen" von Jens Alber (Anm.17, S.360), die im Jahre 1940 abbrechen. In der Tat sank die Zahl der Studentinnen bis zum Jahre 1940, jedoch sollten die danach wieder ansteigenden Ziffern nicht verschwiegen werden, die nicht ausschließlich aus der Kriegssituation erklärbar sind. Einseitig ist der Befund von Alber: "Aus den Institutionen höherer Bildung wurden die Mädchen verdrängt..."(S.352). 91 Peukert (Anm.6), S.279. 92 Schmuhl, Hans-Walter, RasSenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' 1890-1945, Göttingen 1987, S.70.

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Viele Psychiater, die im Zuge der "Euthanasieaktion" Tausende von Geisteskranken in den Tod schickten, waren zugleich Protagonisten therapeutischer Innovationen. "Es erscheint als ein Paradoxon, daß der Enthusiasmus, mit dem sich eine große Zahl von Psychiatern am nationalsozialistischen Euthanasieprogramm beteiligte, tief in einem 'therapeutischen Idealismus' verwurzelt war. •93

Diese Psychiater beteiligten sich an der 'Euthanasie' in der Hoffnung, daß die durch die "Ausmerzung" der therapiefraklären Patienten eingesparten Mittel benutzt würden, um die therapeutischen Innovationen zu fördern, "die für den säkularen Modernisierungsprozeß unumgänglich schienen".94 Werbehandlungs- und arbeitsfähig war, sollte nach modernen Methoden therapiert werden, wer dagegen nicht mehr therapiefähig war, so daß seine Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden konnte, sollte der 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' anhei.mfallen. Da "Volksgemeinschaft" als "Leistungsgemeinschaft" definiert wurde, kam es zusehends zu einer Gleichsetzung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, Krankheit und Leistungsminderung. Es wäre zu einfach, "Maßnahmen" wie die "Euthanasie" nur als "Rückfall in die Barbarei" zu charakterisieren. Ihre Vertreter waren von einem "szientistischen Opti.mismus"95 und Fortschrittsglauben ergriffen, der auch Anlaß zu grundsätzlichen Fragen im Hinblick auf die historische Einordnung des Nationalsozialismus gibt. III.

Man hat den Nationalsozialismus häufig als "Gegenbewegung" zu der Aufklärung und den "Ideen von 1789" gedeutet. Auch Jeffrey Herf, der die modernen Elemente in der Ideologie der "Konservativen Revolutionäre" und der Nationalsozialisten hervorhebt, spricht von einem "reactionary modernism". Herf meint, es handele sich hier um eine "Paradoxie", denn es sei zwar nicht paradox, zugleich die Technologie wie auch die Aufklärung abzulehnen oder zu befürworten, aber es sei paradox, "to reject the Enlightenment and embrace technology at the same time, as did the reactionary modernists in Germany".96 Ebda., S.261. Ebda., S.263. Die Psychiatriereform, zu der nach Vorstellung dieser Psychiater die Euthanasieaktion die Voraussetzungen schaffen sollte, enthielt viele Elemente, die durchaus als "modern" charakterisiert werden können. Die Trennung von Heil- und Pflegeanstalten, die Auflösung der Abteilungen für unruhige Kranke, die Intensivierung der Arbeitstherapie, die Förde· rung der ambulanten Psychiatrie, die Etablierung einer ärztlichen Leitung der Anstalten, die verbesserte Ausbildung der Ärzte und des Pflegepersonals u.a. - das alles gehörte auch zu den Forderungen der Psychiatriereformbewegung in den 70er Jahren und ist seitdem teilweise verwirklicht worden. 95 Ebda., S.262. 94

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Dies wirft einige Fragen auf: Stand die "nationalsozialistische Weltanschauung" Wirklich in einem antagonistischen Widerspruch zur "Aufklärung", oder wäre es vielleicht berechtigt, von einem dialektischen Widerspruch zu sprechen, dessen beide Seiten sich nicht grundsätzlich ausschließen? Gehören technischer Fortschritt auf der einen Seite und die Werte der Aufklärung auf der anderen wirklich so untrennbar zusammen, daß es. ein Paradoxon ist, das eine zu befürworten und das andere abzulehnen? Ist jede Anti-Position zur Aufklärung notwendigerweise "reaktionär"? Sicherlich gab es Nationalsozialisten, die den Fortschrittsglauben und den Rationalismus der Aufklärung ablehnten und durch einen mystischen Irrationalismus ersetzen wollten. Hitler allerdings wandte sich scharf gegen solche Tendenzen in der NS-Bewegung. Auf dem Reichsparteitag 1938 hielt er eine programmatische Rede zu diesem Thema. Den Nationalsozialismus bezeichnete er als "eine kühle Wirklichkeitslehre schärfster wissenschaftlicher Erkenntnisse".97 Hitler warnte vor dem "Einschleichen unklarer mystischer Elemente", die nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hätten.98 In seinen Tischgesprächen äußerte er: "Niemals aber darf der Nationalsozialismus sich bemühen, in äffischer Weise kultisch eine Religion nachzuahmen, für ihn gilt immer nur, wissenschaftlich eine Lehre aufzubauen, die nichts weiter ist als ein Kultus der Vemunft.•99

Bei anderer Gelegenheit warnte er, die Partei dürfe sich nie auf das "metaphysische Gebiet ganz unkontrollierbarer Gedankengänge...ziehen lassen". Sie habe "auf dem Gebiet einer exakten Wissenschaft zu bleiben", ihre Aufgabe sei "wissenschaftlich-methodischer Art". 100 Seine Kritik der Religion steht in der Tradition des Positivismus und Materialismus des 19.Jahrhunderts. Immer wieder betonte Hitler, die Wissenschaft werde am Ende die Religion besiegen und überwinden.101 Ausdrücklich berief er sich in diesem Zusammenhang sogar auf die Unterhaltungen Friedrichs II. mit Voltaire. 102 In einer Rede am 26.5.1944 erklärte er, was er unter dem Begriff "Weltan' schauung" verstehe: 96 Herf (Anm.53), S.3, ähnlich S.224.

97 Rede Hitlers auf der Kulturtagung des Reichspart9tages am 6.9.1938, in: Reden des Führersam Parteitag Großdeutschland 1938, München 1939 , S.39. 98 Ebda., S.40. 99 Jochmann, Wemer (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941-44. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, Harnburg 1980, S.67 (Eintragung vom 23.9.1941). 100 Ebda., S.84 (Eintragung vom 14.10.1941). 101 Vgl.ebda., 5.285-287 (20./21.2.1942). W2 · · Vgl.ebda., S.103 (Eintragung vom 24.10.1941).

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Rainer Zitelmann "Weltanschauung ist nichts anderes als eine Betrachtungsweise aller Probleme dieses Da-seins nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie sich uns heute bieten ... Altein entscheidend ist, daß man den letzten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sich selbst zu eigen macht und von ihm aus die Probleme des Lebens betrachtet..Also eine Betrachtung des ganzen Geschehens um uns vom Standpunkt der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse!"103

Sicherlich ist der Nationalsozialismus insofern als Bewegung gegen die "Ideen von 1789" zu werten, als er die These von der "Gleichheit der Menschen" ablehnt. Auch die Wendung gegen den Humanismus läßt ihn als Antipoden zu den Werten der Aufklärung erscheinen. Andererseits: Die Ablehnung des Humanismus und der Gleichheitsidee erfolgte im Namen der Wissenschaft und des Fortschritts. Eines der konstitutiven Elemente der nationalsozialistischen Ideologie war der Sozialdarwinismus, der sich als konsequente Anwendung wissenschaftlicher (biologischer) Erkenntnisse auf die Gesellschaft verstand. Ausgehend vom Sozialdarwinismus kamen die Nationalsozialisten zu der Überzeugung, die Ideen der allgemein menschlichen Gleichheit und Humanität stünden der Höherentwicklung hemmend entgegen. Daher mußten ihnen gerade diese Werte als irrational erscheinen, nicht die eigene "Weltanschauung". Gleichzeitig nahmen sie aber den Gleichheitsgedanken in modifizierter Form auf und verhalfen ihm zum Durchbruch. Althergebrachte Privilegien der Geburt und des Standes akzeptierten sie nicht. Innerhalb des eingeschränkten Bezugssystems der "deutschen Volksgemeinschaft" sollte eine sozusagen rassisch modifizierte · Chancengleichheit realisiert werden. Man könnte fragen, ob "Gleichheit" seit der Aufklärung nicht immer wieder in einem modifizierten, eingeschränkten Sinne verstanden wurde, so daß in der historischen Wirklichkeit bestimmte Gruppen der Bevölkerung (z.B. die Frauen) oder Kolonialvölker - oft unausgesprochen, weil selbstverständlich vom Gleichheitspostulat ausgeschlossen wurden? Diese Überlegungen lassen es fraglich erscheinen, ob von einem "reaktionären Modernismus" gesprochen werden kann. Eine andere, in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierte Frage ist, ob man den Nationalsozialismus als "revolutionär" bezeichnen soll. Turner wendet sich gegen die Anwendung des Revolutionsbegriffs auf den Nationalsozialismus, "weil sich mit dem Wort 'Revolution'- zu Recht oder zu Unrecht- die Bedeutungsnuancen 'fortschrittlich', 'vorwärtsgerichtet' verbunden haben". Die Nationalsozialisten suchten hingegen - anders als die meisten visionären Revolutionäre der Neuzeit - "ihre Vorbilder in der Vergangenheit, blickten allerdings nicht

103 Hitlers Ansprache vor Generälen und Offizieren am 26.Mai 1944. Dokumentation von Hans-Heinrich Wilhelm, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2/1976, S.123-170, hier S.146.

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in die historische, sondern in eine mythische und eklektisch zurechtgemachte Vergangenheit zurück. Was sie vorschlugen, war eine Flucht aus der modernen Welt..."104 Wenn wir jedoch feststellen, daß nicht nur die Wirkungen der NS-Herrschaft, sondern auch die Intentionen der Nationalsozialisten als "modern" charakterisiert werden können, dann entfällt ein zentrales Argument, das immer wieder gegen die Anwendung des Revolutionsbegriffs auf den Nationalsozialismus angeführt wurde. Hans Mommsen sprach sich ebenfalls gegen die Bezeichnung des Nationalsozialismus als "revolutionär" aus. Gegen Joachim Fest, der Hitler in seiner Biographie als "Revolutionär" darstellt, los wendet er ein, Hitler und der Nationalsozialismus würden zu "aktiven Vollstreckern eines Prozesses stilisiert, deren Nutznießer sie waren"! 06 Das Dilemma solcher Deutungen betreffe hauptsächlich "die Rolle Hitlers und das Verhältnis von Intention und Wirkung"!07 Vor allem sei zu klären, "ob diese Entwicklung (die Modernisierung, R.Z.) von Hitler nicht nur wider Willen, sondern mit voller Absicht in Gang gesetzt worden ist".108 Die Analyse der "intentionalen Ebene" wurde in der Tat von der Forschung lange vernachlässigt. Behauptungen über die Ideologie und die Ziele Hitlers bzw. "der Nationalsozialisten" wurden meist mit willkürlich herausgegriffenen Zitaten "belegt". Eine systematische Analyse der Hitleesehen Weltanschauung zeigt indes, daß die These von der "ungewollten Modernisierung" nicht aufrechterhalten werden kann. Neben den inhaltlichen werden auch "moralische" Gründe angeführt, die dafür sprächen, dem Nationalsozialismus die "Qualität" einer Revolution abzusprechen!09 Es sei notwendig, "zwischen 'guten' Revolutionen des französischen oder auch russischen Typs und der nationalsozialistischen Machtergreifung zu unterscheiden".uo Die Problematik des Revolutionsbegriffs ist offenbar ähnlich gelagert wie bei dem Modernisierungsbegriff. In beiden Fällen sind die Begriffe im Verständnis vieler Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler normativ positiv besetzt. Insbesondere wurde der Revolutionsbegriff durch den Marxismus usurpiert, der nur die "linke" und "gute" Revolution als solche anerkennt

104

Turner (Anm.15), 5.162. Joachim C., Hitler. Eine Biographie, FrankfurtfM. u.a. 1973, 5.656f., 1035ff. 106 Mommsen, Hans, Nachwort zu Schoenbaum (Anm.12), 5.362. 107 Ebda., 5.363. 108 Ebda., 5.359. 109 VglAbelshauserfFaust (Anm.39), 5.115. uo Ebda., S.116.

lOS Vgi.Fest,

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Rainer Zitelrnann

und alle anderen revolutionären Bewegungen als konterrevolutionär abqualiflziert.m Auch nicht-marxistische Historiker haben manchmal recht unkritisch eine solche Sichtweise übernommen. So hat Ian Kershaw sich in seiner Überblicksdarstellung zur NS-Forschung vehement dagegen ausgesprochen, dem Nationalsozialismus revolutionäre Wirkungen oder gar revolutionäre Absichten zuzuschreiben.112 Die "Arbeiterklasse" sei im Dritten Reich der während der Weimarer Zeit errungenen gesellschaftspolitischen Verbesserungen beraubt und "der brutalen Ausbeutung durch die...Unternebmer ausgesetzt" gewesen.m Der Nationalsozialismus habe die deutsche Gesellschaft nicht verändert, sondern während der Zeit seiner Herrschaft "die bestehende Gesellschaftsordnung mit ihrer Klassenstruktur in erheblichem Maße gestützt" .114 "Die verhängnisvolle politische Intervention der Nazis im Jahre 1933 rnuß ...als ein entscheidender Schritt im Kampf zwischen Kapital und Arbeiterschaft in einer fortgeschrittenen Industriewirtschaft gesehen werden. Die Neuordnung der Klassenbeziehungen im Jahre 1933 machte die Fortschritte gewaltsam rückgängig, die die Arbeiterklasse nicht erst seit 1918, sondern seit der Bisrnarckzeit errungen hatte, stärkte die geschwächte Position des Kapitalismus und stützte die reaktionären Kräfte der Gesellschaftsordnung."115

Solche Urteile entsprechen keineswegs den differenzierten Ergebnissen neuerer Untersuchungen zur nationalsozialistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Das Anliegen des vorliegenden Beitrages war es zu zeigen, inwiefern die Forschungsdiskussion der letzten zwanzig Jahre die eingangs referierten Thesen von Dahrendorf und Schoenbaum bestätigt hat oder aber dazu zwingt, sie zu modifizieren. Untersuchungen zu sehr unterschiedlichen PoliVgl. hierzu: Weber, Eugen, Revolution? Counterrevolution? What revolution? In: Laqueur, W., Fascisrn. A Reader's Guide. Analyses, Interpretations, Bibliography, Berkeley 1978, 5.435-467; Bracher, Kari-Dietrich, Tradition und Revolution im Nationalsozialismus, in: ders 4 Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1980 , 5.62-78. Ausdrücklich für die Anwendung des Revolutionsbegriffs auf den Nationalsozialismus spricht sich aus: Möller, Horst, Die Nationalsozialistische Machtergreifung - Konterrevolution oder Revolution, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1/1983, 5.25-51. Vgl. auch: Nolte, Ernst, Europäische Revolutionen des 20Jahrhunderts. Die nationalsozialistische Machtergreifung im historischen Zusammenhang, in: Michalka, Wolfgang (Hg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn u.a. 1984, 5.395-410. Die Forschungskontroverse um die Anwendbarkeit des Revolutionsbegriffs auf den Natio~alsozialisrnus referiert: Schreiber, Gerhard, Hitler. Interpretationen 1923-1983, Darmstadt 1988 , 5.247-263. 112 Kershaw, Ian, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Harnburg 1988, S.284. 113 Ebda., S.278 114 Ebda., 5.284. 115 Ebda., 5.285.

Nationalsozialismus und Moderne

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tikfeldern haben die These von der revolutionierenden und modernisierenden Funktion des Nationalsozialismus nachdrücklich bestätigt. Fraglich erscheint hingegen das Urteil, die Modernisierung sei nur unbeabsichtigt oder gar "wider Willen" erfolgt. Die Arbeiten von Jeffrey Herf, Michael Prinz, Ronald Smelser und auch meine Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, daß die modernisierenden Wirkungen des Nationalsozialismus in weitaus höherem Maße intendiert waren als bislang angenommen. Vielleicht reflektiert die Beharrlichkeit, mit der immer wieder betont wird, die Nationalsozialisten hätten die von ihnen bewirkten Veränderungen gar nicht gewollt, auch das eingangs genannte Problem der positiven normativen Besetzung des Modernisierungsbegriffs. Da Autoren wie Ralf Dahrendorf die modernisierenden Wirkungen der NS-Herrschaft eindeutig positiv beurteilten, mochten sie diese natürlich auf keinen Fall den Absichten der Nationalsozialisten zuschreiben. Möglicherweise wird eine Generation, die ein weitaus skeptischeres Verhältnis zur "Moderne" hat, gerade aus diesem Grund die Modernisierungsfunktion des Nationalsozialismus nachweisen wollen. Solche außerwissenschaftlichen - Motive sind jedoch in ihrer Wirkung nicht unproblematisch. Manchmal können sie sogar dazu führen, historische Zusammenhänge differenzierter und präziser zu erfassen, jedoch können sie auch das Gegenteil bewirken, zumal dann, wenn das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse von politisch-moralischen Intentionen überlagert wird.

Stalinismus und Industrialisierung Sozialgeschichte versus Totalitarismustheorie aus aktueller sowjetischer Perspektive Von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi In der westlichen Osteuropaforschung angelsächsischer wie deutscher Prägung bahnt sich seit Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre eine Abkehr von der Totalitarismustheorie an. Sie tritt deutlich vor Augen, wenn es den Forschern darum geht, die Entstehung des Stalinismus seit Ende der 20er Jahre oder gar seit 1917 zu erklären. Dem steht in der Sowjetunion im Anschluß an die Jubiläumsrede von Gorbatschow zu 70 Jahre Oktoberrevolution eine Renaissance von Argumentationsmustern gegenüber, die mehr oder weniger offen den totalitären und nicht bloß administrativen Herrschaftscharakter des Stalinismus betonen. 1 Es liegt nahe zu vermuten, daß es die neu zugestandenen Verhältnisse von Glasnost, von Diskussionsfreiheit sind, die zum Experimentieren mit bislang tabuisierten Theoremen herausfordern. Möglicherweise hat jedoch die sich auseinanderentwickelnde Kontroverse mit dem Stalinismus im Westen und Osten auch Gründe, die sich nicht ausschließlich aus der aktuellen politischen Situation, aus den politischen Einstellungen von nach wie vor entspannungsfreudiger westlicher und radikal kritischer östlicher Intelligenz ableiten lassen. I.

Zum Stand westlicher Osteuropaforschung Die westliche Abkehr von der Totalitarismustheorie wurde zunächst durch die Bestrebung motiviert, die Interpretationsmuster des "Kalten Krieges" zu verlassen.2 Diese legten es nahe, sozialistische Systeme nur als Negativbilder Gorbatschow, Michail, Die Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution. Mit einem Vorwort von Lutz Lehmann, Bergisch-Gladbach 1987. Zum totalitären Charakter des Stalinismus vgl. Shubkin, Vladimir, Trudnoe proshchanie, in: Novyi mir, 1989, Nr. 4, S. 165-184, hier: S. 176. 2 Zum Stand der Osteuropaforschung vgl. die problemorientierenden Berichte von Gleason, Abbott, "Totalitarianism" in 1984, in: The Russian Review, 43/1984, S. 145-159; und von Reichman, Henry, Reconsidering "Stalinism", in: Theory and Society, 17/1988, Nr. 1, S. 57-89.

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westlicher Demokratien wahrzunehmen und setzten sie mit den im Westen überwundenen Herrschaftsformen und Methoden des Faschismus gleich. Die vorausgesetzte totalitäre Herrschaftsorganisation von faschistischer und stalinistischer Gesellschaft - die auf der Diktatur einer Partei bzw. Führerpersönlichkeit beruhte, von einer Ideologie legitimiert, mit Hilfe einer terroristischen Polizei, eines Kommunikations- und Organisationsmonopols ausgeübt und durch zentrale Verwaltungsmethoden auch auf die Wirtschaft ausgedehnt wurde - schloß zugleich eine evolutionäre Wandlungsfähigkeit der Herrschaftsstrukturen aus. Für manche Sozialwissenschaftler und Historiker schien sich jedoch gerade diese Möglichkeit in der nachstalinschen Entwicklung anzudeuten und auch in anderen sozialistischen Gesellschaften präsent zu sein. Diese empirisch wahrnehmbare Perspektive forderte sie - über eine politische Umorientierung hinaus - zu einem wissenschaftlichen Umdenken heraus: Sie fragten nun auch nach den konkreten sozialen Prozessen, Konstellationen, Gruppenauseinandersetzungen und kulturellen Traditionen, die zur Entstehung und Stabilisierung eines terroristischen Herrschaftssystems in der Sowjetunion beigetragen haben. Die sozialhistorische Wende wurde auf der von Robert C. Tucker 1975 organisierten Bellagio-Konferenz manifese und betraf insbesondere die Rolle der handelnden bolschewistischen Parteielite, das Verhältnis der Ideologien von Bolschewismus zu Stalinismus und den Charakter von Partei und Staat als bürokratische Koordinierungsinstitutionen seit dem Kriegskommunismus bis bin zur nacbstalinschen Phase. Insgesamt wurde die These der Kontinuität einzelner Perioden, Institutionen und sozialer Schichten bzw. des "ideologischen Determinismus" der nachrevolutionären Entwicklung angezweifelt. Dies schloß allerdings nicht aus, daß zwischen den militaristischen Metboden des Kriegskommunismus und des Stalinismus eine Verwandtschaft gesehen wurde.4 Zugleich stellte man jedoch fest, daß sich der Stalinismus als "Revolution von oben" von der nachrevolutionären Gesellschaft abhebe. Man verwies auf die soziale Umwälzung dank Kollektivierung und Industrialisierung, auf die Staatsbildungsprozesse, um deren unkontrollierbare Folgen in den Griff zu bekommen, und auf eine Bürokratie, die zugleich auf zaristische Herrschaftselemente zurückgreift, und auf eine Arbeiterschaft neuer sozialer Herkunft, die bäuerliche Traditionen ins städtische Leben einführt. Insgesamt wurden zentrale Thesen des Totalitarismuskonzeptes - die sich um Partei, Ideologie und Herrschaftsapparat gruppieren - erschüttert, wenn auch der Spezialist für Fragen der Bürokratie auf dieser Konferenz, T.H. Rigby,5 die Die Beiträge der Konferenz sind publiziert in Tucker, Robert C. (ed.), Stalinism, Essays in Historicallnterpretation, New York 19n. 4 Vgl. insbes. die Beiträge von S.F. Cohen, RH. McNeal, T .H. Rigby, RC. Tucker und M. Lewin, in: Tucker (ed.), Stalinism, a.a.O., S. 3-136. 5 Rigby, T.H., Stalinism and the Mono-Organizationai-Society, ebd., S. 53-76.

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Dominanz der politischen Entscheidungsstrukturen beibehielt. Er interpretierte die Abfolge von Herrschaftsstrukturen und -stilen als Dialektik der Macht von Partei und Staat gegenüber der Gesellschaft, die sich einerseits durch die Konkurrenz beider Institutionen, andererseits durch die Abschaffung pluralistischer Machtbasen in der Gesellschaft vollziehe. Sie mache schließlich einer "mono-organizational-society" in einer nachstalinistischen Periode Platz, die von der Partei beherrscht, von ihr pragmatisch-flexibel verwaltet wird und auch über entsprechende verinnerlichte organisatorische und politische Kulturmuster verfügt, die die Mittel von Terror und Einschüchterung zunehmend überflüssig machten. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Stalinismus als eine notwendige Durchgangsphase, in der die Partei ihre Organisationsrationalität herausbildet, die gesamte Gesellschaft auf sie hin gewaltsam umorientiert, aber auch umerzieht. Die monolithische Sicht auf eine allmächtige Partei, die im Besitz ideologischer Wahrheit und organisatorischer Machtmittel von oben alle gesellschaftlichen Prozesse durchdringt, wurde im zweiten Durchgang von sozialhistorischen Arbeiten noch einmal revidiert. Sie sehen den Stalinismus nicht mehr vor dem Hintergrund einer - wenn auch parteihistorisch relativierten - "Revolution von oben" der forcierten Industrialisierung, der Zwangskollektivierung und der Erziehungsoffensive, sondern interessieren sich für den sozialen und kulturellen Charakter neu entstehender sozialer Schichten, insbesondere der neuen Arbeiterschaft, der technischen Intelligenz, der Bürokratie und der Kolchosbauernschaft Das Credo dieses Ansatzes jüngerer Sozialwissenschaftler wurde kürzlich von Sheila Fitzpatrick formuliert. 6 Sie entdeckt in der Stalinschen Transformation der Gesellschaft auch Aspekte einer "Revolution von unten", die sich auf die Unterstützung neuer sozialer Schichten verlassen kann. Diese profitieren von der vertikalen Mobilität, können sich gegenüber der Zentrale als ernstzunehmende Interaktionspartner bemerkbar machen und drücken den sozialen Umwälzungen ihren eigenen Stempel auf. Fitzpatrick tritt für ein differenziertes Bild der stalinistischen Sozialstruktur ein, das den vorrevolutionären Topos einer Konfrontation von Regierung und Volk, von Natschalstwo und Narod, abzulösen hätte. Ein solches Gesellschaftsbild wird von einem anderen Autor, Henry Reichman,7 übrigens auch Leo Trotzki nachgewiesen, wenn dieser bloß von der Deformation des Arbeiterstaates in den 30er Jahren spreche und dabei die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Bürokratie übersehe. In der Argumentationslinie dieser sozialhistorischen Schule können nach Sheila Fitzpatrick selbst die Repressionen der 30er Jahre als Austragung sozialer Spannungen zwischen zentraler und lokaler Bürokratie oder als Antwort der Zentrale auf unkontrolFitzpatrick, Sheila, New Perspectives on Stalinism, in: The Russion Review, 45/1986, S. 357373. 7

Reichman, Reconsidering "Stalinism", a.a.O., S. 67-70.

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tierbare Ansprüche und Beschwerden an der Basis interpretiert oder gar auf den Enthusiasmus junger Arbeiter gegenüber den zu kollektivierenden Bauern zurückgeführt werden.8 Die von Fitzpatrick erwähnten Sozialhistoriker versuchen, das Macht- und Sozialgefüge der stalinistischen Gesellschaft aus einzelnen Handlungs- und Konfliktfeldern zu rekonstruieren, und beschränken sich notwendigerweise auf Ausschnitte des Gesamtprozesses. Kritiker haben ihnen deshalb vorgeworfen,9 daß sie die Sicht auf das Ganze aus dem Blick verlören. Wenn sie den lokalen Gruppen und gleichzeitigen Repressionsopfern Artikulationsund Verhandlungsfähigkeit unterstellten, verhielten sie sich blind gegenüber dem Phänomen des Terrors. Da sie sich für die Problemlagen und strukturellen Herausforderungen nicht interessierten, die die Herrschenden zu diesem Extremmittel greifen lassen, würden sie sie zugleich moralisch und politisch von ihrer Verantwortung entlasten. Deshalb verdienen Ansätze Aufmerksamkeit, die versuchen, sozialhistorische Teilstudien in eine Gesellschaftsgeschichte einzuordnen und soziale Handlungskonstellationen und Entscheidungen gesellschaftlicher Akteure auf den zivilisatorischen Übergang zur industriegesellschaftlichen Rationalität unter spezifisch russischen Bedingungen der Rückständigkeit zu beziehen. Der Soziologe Alvin W. Gouldner10 stellt die gewaltsame Enteignung der Bauern in den Mittelpunkt seiner Analyse und interpretiert das terroristische Herrschaftssystem des Stalinismus als Politik eines internen Kolonialismus, die das Zentrum gegenüber der Peripherie, die Stadt gegenüber dem Land, durchgesetzt habe. Der gewaltsame Prozeß wurde ermöglicht durch den Herrschaftsanspruch der bolschewistischen Modernisierer, die mit ihrem rationalen, auf öffentliche Rekonstruktion der Gesellschaft gerichteten Diskurs vormoderne Bewußtseinsformen ausgrenzten. Gouldners Deutung läßt dabei offen, inwiefern der Übergang zur Moderne von einer friedlichen, unterschiedliche Kulturen vereinheitlichenden sozialen Bewegung vollzogen werden kann. Fitzpatrick e!Wähnt insbes. die Arbeiten von J. Arch Getty, Gabor Rittersporn und Roberta T. Manning (a.a.O., S. 367 Anm. 18). 9 Vgl. die Repliken auf den Aufsatz von Fitzpatrick: Cohen, Stephen F., Stalin's Terror as Social Histozy, in: The Russian Review, 45/1986, S. 375-384; Eley, Geoff, History With the Politics Left Out - Again?, ebd. S. 385-394; Kenez, Peter, Stalinism as Humdrum Politics, ebd., S. 395400; Meyer, Alfred G., Coming to Terms with the Past ... And with One's Older Colleagues, ebd., S. 401-408. Vgl. auch die Entgegnung von Fitzpatrick, Sheila, Afterword: Revisionism Revisited, ebd. S. 409-413. 10 Gouldner, Alvin W., Stalinismus. Eine Studie über Internen Kolonialismus, in: Erler, Gernot, Süß, Waller (Hg.), Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg, Frankfurt/M.-New York 1982, S. 517-575. Vgl. auch meine Rezension: MänickeGyöngyösi, Krisztina, Stalinismus als "Interner Kolonialismus". Kritische Anmerkungen zu den Thesen Gouldners, ebd., S. 576-599.

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Zugleich läßt Gouldner außer Acht, welche Folgen die Enteignung ländlicher, menschlicher und materieller Ressourcen für den städtischen Industrialisierungsprozeß, für die Herrschafts- und Artikulationsverhältnisse städtischer Schichten selber hatte. Diese Lücke versucht der Sozialhistoriker Moshe Lewin auszufüllen/1 wenn er darauf aufmerksam macht, daß der forcierte Einsatz von Bauern in den Fabriken zur Verbäuerlichung städtischer Kultur wie auch der neuen Kader als neu geschaffene soziale Basis der Bolschewiki geführt habe. Die forcierte Zerstörung alter Strukturen der NEP wie auch die Schaffung von "herrschenden Sklaven" mit einem gespaltenen Bewußtsein verschärfe die Verunsicherung und Isolation der - zunächst urbanen - bolschewistischen Partei, auf die sie nun mit Beschleunigung des. Industrialisierungstempos und mit Repressionsmaßnahmen antworte. Als weiterer Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte sind schließlich die Arbeiten aus der Forschungsgruppe von Hellmuth G. Bütow und R. W. Davies anzuführen/ 2 die die Veränderung städtischer Institutionen infolge der Industrialisierung untersuchen. Der Bütowsche Ansatz reflektiert dabei die herrschaftsimmanenten Aspekte der instrumentalistischen Anwendung moderner Technik und bedenkt die herrschaftsverstärkenden Folgen einer gesellschaftlichen Implementierung von Technik, die- wie in der Sowjetunion- als staatliche Veranstaltung unter rückständigen Bedingungen und mit einem forcierten Tempo erfolgt ist. Als Ergebnis stalinistischer Industrialisierung zeichnet sich zunächst ein radikaler Abbau von Selbstverwaltung und Öffentlichkeit in Staat, Partei und Betrieb ab, der Technikformen begünstigt, die ohne eigene Initiative und Verantwortungsbewußtsein der Arbeiter auskommen.13 Barrington Moore hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Verwandlung agrarischer Klassen und Klassenbündnisse in Unternehmer und Arbeiter nicht von vornherein auf freiwilliger Basis und erfolgreich stattfindet und daß die anschließende Industrialisierung in westlichen Gesellschaften nicht automatisch von Demokratisierungsprozessen begleitet wird.14 Auch für Bütow gehen Industrialisierung, Sozialismus und Demokratie nicht ineinander auf. Deshalb stellt er abschließend die Frage nach den institutionellen Schranken und Chancen der sozialistischen Wirtschaftsweise und nach den Handlungspotentialen und Machtsicherungskalkülen der gesellschaftlichen Akteure, die eine Entstalinisierung sozialistischer Gesellschaften erlauben Lewin, Moshe, TheMakingof the Soviet System, New York 1975. Bütow, Hellmuth u.a., Industrialisierung und Herrschaft in der UdSSR Forschungsantrag, Berlin 1978; ders., Einleitung, in: ders. (Hg.), Länderbericht Sowjetunion, Bonn 1986, S. 13-19. Zur Einschätzung der Gruppe um R W. Davies vgl. Eley, History With the Politics Left Out, a.a.O., S. 391; Reichman, Reconsidering "Stalinism", a.a.O., S. 61. 13 Vgl. Süß, Walter, Die Arbeiterklasse als Maschine. Ein industrie-soziologischer Beitrag zur Sozialgeschichte des aufkommenden Stalinismus. Philosophische und soziologische Veröffentlichungen des Osteuropa-lnstitutes, Bd. 22, Berlin 19&5. 14 Moore, Barrington, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, FrankfurtfM. 1974. 12

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würden. Der Zeitpunkt, den er als "Zwang" prognostiziert, "industriell und wirtschaftlich erfolgreicher sein zu müssen, als dies im Rahmen bisher erprobter Verfahrensweisen möglich war"/5 ist inzwischen in sozialistischen Gesellschaften eingetreten, wie die neuerlichen Reformbewegungen in Osteuropa, aber auch die in der Sowjetunion entbrannten Auseinandersetzungen um die "Ursprünge des Stalinismus" belegen. II.

Die sowjetische Kontroverse um die "Ursprünge des Stalinismus" In der Sowjetunion kreist die Diskussion16 wiederum um die drei Paradigmata, die im westlichen Kontext als Modelle der Totalitarismustheorie, der Sozialgeschichte und der Gesellschaftsgeschichte bereits diskutiert worden sind. Am radikalsten stellt der Philosoph Alexander S. Cipko die Frage nach den utopisch-ideologischen Traditionen, den Herrschafts- und Industrialisierungsambitionen der russischen Intelligenz, um die inhumane industriegesellschaftliche Rationalität eines totalitär-voluntaristischen Systems zu entlarven. Der sozialgeschichtliche Ansatz der Gruppe um Leonid A. Gordon untersucht den Stalinismus dagegen unter dem Aspekt, welche Industrialisierungsalternativen der Sowjetunion offenstanden. Schließlich interessieren sich die Soziologen um Jurij A. Lewada für die Geschlossenheit bzw. das Integrationsprinzip des administrativ-bürokratischen Systems, das dank der stalinistischen Industrialisierung in der Sowjetunion entstanden ist. Sie suchen dann nach den Möglichkeiten, dieses geschlossene System zu sprengen und unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen der Perestroika für Pluralisierung von Herrschaft und Dezentralisierung von Macht zu sorgen. Schon die Chruschtschowschen Enthüllungen am XX. Parteitag wie die Jubiläumsrede von Gorbatschow haben zunächst die Beschäftigung mit der Person Stalins begünstigt. Gorbatschow lastet die Willkürmaßnahmen und Repressalien der 30er Jahre Stalin an, die "durch die irrtümliche 'Theorie' von einer Verschärfung des Klassenkampfes im Prozeß des sozialistischen Aufbaus begründet" worden seien.17 Da er die Ende der 20er Jahre eingeschlagene Industrialisierungs- und Kollektivierungsstrategie grundsätzlich befürwortet, wertet er erst deren Durchführung im Agrarbereich mit undemokratischen, "administrativen Methoden" als Abweichung von der LeninBütow, Einleitung, a.a.O., S. 18. Die folgende Darstellung muß notwendigerweise selektiv verfahren. Zum Stand der sowjetischen Stalinismus-Diskussion aus der Sicht der Geschichtswissenschaft vgl. Sherlock, Thomas, Politics and History under Gorbachev, in: Problems of Communism, 37/1988, Nr. 34, S. 1642; Geyer, Dietrich, Die Gegenwart als Geschichte. Perestrojka und die sowjetische Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 15/1989, Nr. 3, S. 303-319. 17 Gorbatschow, Die Rede ..., a.a.O., S. 52 f. 16

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sehen Politik gegenüber der Bauernschaft. Insofern überrascht es nicht, daß sich die anschließende Diskussion über den Stalinismus zunächst auf das entscheidende Jahr 1929 bzw. auf die Umstände und Parteikämpfe konzentrierte, die es Stalin ermöglichten, vom Leninschen Plan der freiwilligen Gründung von Kooperativen abzuweichen. Der von Gorbatschow 1987 abgesteckte Rahmen dessen, was historisch zu würdigen und zu verurteilen sei, war insofern dazu angetan, einen sozialhistorischen Erklärungsansatz zu ermutigen. Stellvertretend für andere sollen hier die Arbeiten des Ökonomen Otto Lacis18 erwähnt werden, der zugleich neuer Herausgeber des theoretischen Parteiorgans "Kommunist" ist. Anhand von zugänglichen Parteidokumenten und veröffentlichten Statistiken weist er nach, daß es zur eingeschlagenen "maximalen" Variante der forcierten Industrialisierung und Zwangskollektivierung realistischere und leistungsversprechende Alternativen gegeben hat, die auch der Partei bekannt waren. Den Sieg der Stalinschen Politik, die eine Kehrtwende von Bucharin zu Trotzki darstelle, versucht er einsichtig zu machen, indem er auf die sozialen Charakteristika der neuen begeisterungsfähigen, aber ungebildeten und dem Dorf verbundenen Arbeiterklasse verweist. Deren Vertreter hätten nach Lenins Tod - dank einer bewußt betriebenen Aufnahmepolitik - zunehmend auch das Gesicht der Parteibasis bestimmt. Der Ausschluß der "linken" und "rechten" Opposition habe ohnehin die neuen Parteimitglieder andersartiger Vorbilder und Orientierungen beraubt. Die Frage nach der Entstehung des Stalinismus verengt sich in der Analyse von Lacis auf die 1929 getroffene Entscheidung. Das forcierte Tempo der Industrialisierung läßt nur eine "unreife" Arbeiterklasse heranwachsen und behindert die Kritikfähigkeit der Partei. Eine behutsamere und kalkulierte Planung hätte nach Lacis die vorhersehbaren Verluste an Mensch und Material gemildert und verschärfte Kontrollmaßnahmen bis hin zum Terror überflüssig gemacht. Obwohl Lacis nicht die Industrialisierung schlechthin, sondern nur deren Stalinsche Durchführung kritisiert, so klingt doch bereits bei ihm das Argument der kulturellen Rückständigkeit Rußlands an, die eine effektivere und demokratische Strategie erschwert habe. Die ökonomische Zurückgebliebenheit Rußlands bzw. seine politische und kulturelle Andersartigkeit im Vergleich mit Europa spielen eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Stalinismus-Diskussion und sprengen den von Gorbatschow gesteckten Rahmen, wenn die Diskutanten die nachrevolutionäre Entwicklung im Kontext der gesamten russischen Geschichte und Kultur betrachten und die Berechti-

Latsis, Otto, Problema tempov v sotsialisticheskom stroitel'stve. K 60-letiyu XV syezda partii. Razmyshleniya ekonomista, in: Kommunist, 1987, Nr. 18, S. 79-90; ders., Perelom, in: Znamya, 1988, Nr. 6, S. 124-178.

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gung der Oktoberrevolution vor dem Hintergrund vorrevolutionärer Modernisierungsbestrebungen erörtern. Der Ökonom Wassilij Seljunin19 macht auf die Tatsache aufmerksam, daß die Vernichtung selbständiger bäuerlicher und adeliger Existenzen als politische und ökonomische Subjekte bis Iwan dem Schrecklichen zurückreiche und daß außerökonomischer Zwang und staatliche Aufsicht die Industrialisierungsversuche seit Peter dem Großen charakterisierten. Die polizeistaatliehen Traditionen des zaristischen Rußlands hätten die Expropriationspolitik des Kriegskommunismus und der Zwangskollektivierung gegenüber der Bauernschaft begünstigt und insgesamt das im Stalinismus praktizierte Zwangssystem der Arbeit wahrscheinlich gemacht. Zwischen den Zeilen plädiert Seljunin für die Fortsetzung der Stolypinschen Agrarpolitik, die das negative Bündnis staatlicher Bevormundung und lähmender Bauerngemeinde zurückgedrängt und selbständige Bauernwirtschaften gefördert habe. Er kritisiert die spontane Landaufteilung infolge der Oktoberrevolution, die eine Rückkehr zur entwicklungshemmenden "Obschtschina" mit sich gebracht habe. Allerdings begreift Seljunin die in den 30er Jahren enteigneten und hungernden Bauern als Opfer staatlicher Willkür, während Igor Kljamkin20 sie zugleich als Mittäter im Prozeß der Stalinisierung darstellt: Die Bauern seien selbst dem patriarchalischen Kollektivismus verhaftet gewesen. Er erinnert nicht nur an die autokratischen Traditionen einer staatlich initüerten Industrialisierung, sondern bringt den Stalinismus mit den kulturellen Werten von Gemeinschaftlichkeit in Zusammenhang. Gegenüber den starken, von den Slawophilen des letzten Jahrhunderts repräsentierten Bestrebungen, Volk, Intelligenz und Herrscher in einem Wir-Gefühl zu vereinigen, hätten die westlichen Liberalisierer nicht ankommen können. Kljamkin weiß auch den Bolschewismus nicht frei von diesem patriarchalischen Erbe, macht die an ihm partizipierenden Bauern mitverantwortlich für ihr Schicksal und wirbt gar für ihr Verständnis für staatlich-militaristische Zivilisierungsmethoden in sowjetischer Zeit. Er erteilt jedoch zugleich den gegenwärtigen Vertretern der Slawophilie - der sog. "Dorfporsa" oder auch der Gruppe "Pamjat" - eine Absage: Das besondere Problem der Perestroika sieht er nämlich darin, daß die Vollendung der Industrialisierung ihre kulturelle Eigendynamik aufgebraucht habe. Wenn es ihr auch zunächst gelang, eine kulturelle Vermittlung zwischen Intelligenz und Bauernschaft über den neuen städtischen Arbeiter ländlicher Herkunft herzustellen, so sei dieser Prozeß durch weitere soziokulturelle Differenzierung und fortschreitende Auflösung des "Wir-Gefühls" überholt. Die staatliche Ideologie kann für die verlorengegangene Integration - angesichts der eingetretenen moralischen Anomie und Vereinzelung - nur 19 Selyunin, Vasilii, Istoki, in: Novyi mir, 1988, Nr. 5, S. 162-189. Klyamkin, Igor, Kakaya ulitsa vedet k khramu?, in: Novyi mir, 1987, Nr. 11, S. 150-188.

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einen schwachen symbolischen Ersatz bieten. Statt dessen setzt der Autor seine Hoffnungen auf die entstandene "Vielstimmigkeit bislang nicht wahrgenommener Solisten und Chöre" - unter Einschluß der Liberalen -, auf die Austragung der zu beobachtenden Widersprüche und auf die Analyse des Zusammenspiels von administrativen und ökonomischen Methoden im Prozeß der Perestroika. In diese sozialhistorische Diskussion, die den Stalinismus punktuell aus einer entscheidenden historischen Situation heraus begreift oder aber auch ins Kontinuum der russischen Geschichte einordnen will, greifen die Soziologen Leonid A. Gordon und Eduard W. Klopow21 ein. Sie sind seit längerem durch Arbeiten über die Geschichte der sowjetischen Arbeiterklasse ausgewiesen22 und äußern sich nun zum Problem, welche Faktoren die Überführung des autoritären Herrschaftssystems der 20er Jahre in ein despotisches der 30er Jahre ermöglicht haben. Sie teilen die Positionen, die die Stalinsche Agrarpolitik kritisieren und das Kräfteverhältnis innerhalb der Partei bzw. zwischen Partei und neuer Arbeiterschaft für den Pyrrhussieg der Stalinschen Politik verantwortlich machen. Verstärkt beziehen sie in ihre Überlegungen die moralische Erosion im ökonomischen und politischen Bereich ein. Sie bleiben dabei der sozialhistorischen Argumentationsweise verhaftet und behaupten, daß die gewählte Methode der Industrialisierung die häufig beklagte Doppelmoral hervorgebracht habe: Den Enthusiasmus der jungen Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus demoralisierte die fehlende Arbeiterdemokratie, die praktizierte Willkür verhinderte die Entwicklung von Verantwortungsbewußtsein. Insgesamt habe es sich als unvereinbar erwiesen, die Arbeiter zugleich als willenlose Schrauben und mächtige Lenker einer großen Maschine zu behandeln. In ihrer zusammenfassenden Würdigung der stalinistischen Epoche zeigt sich jedoch, daß die sowjetische Variante von "Sozialgeschichte" nur die sozioökonomischen Verfehlungen und Erfolge der sowjetischen Industrialisierung einsichtig machen kann. Die Forderung der Verstaatlichung und die Enteignung privater Bauern habe zwar kurzfristig den industriellen Aufbau ermöglicht. Dieser sei aber um den Preis einer Entdifferenzierung der unter der NEP noch vielschichtigen komplexen Ökonomie ("Mnogoukladnost") erkauft worden. Der sozialhistorische Ansatz bleibt jedoch merkwürdig unscharf, wenn es darum geht, die Qualität von Alltagskultur und sozialer Integration anzugeben. Er kann nicht nachvollziehen, wieso der sozioökonomische Erfolg des Stalinismus mit subjektiv-motivationalem Mißerfolg einhergeht, warum 21 Gordon, LA./Klopov, E.V., Chto eto bylo? Razmyshleniya o predposylkakh i itogach togo, chto sluchilos' nami v 3().4().e gody, Moskva 1989. 22 Zu ihrem Ansatz vgl. Mänicke-Gyöngyösi, Krisztina, Die Perestrojka der sowjetischen &>. ziologie: zuriick zu den Traditionen?, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 14/1989, Nr.

1, s. 36-46.

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die Einsicht in das längerfristige Scheitern der stalinistischen Ökonomie nicht von einer handlungsaktivierenden Gegen-Moral begleitet wird. Wie ist es möglich, daß die Sowjetunion eine - wenn auch zentralistisch gelenkte, administrativ-autoritär regierte - Industriemacht geworden ist, die die kapitalistische Ausbeutung - zwar mit Methoden eines Kasernensozialismus - abgeschafft hat, jedoch einer - ihrem industriellen Charakter gemäßen - Arbeitsmoral entbehrt? In diesem Punkt bleibt das Niveau der Ursachenanalyse hinter dem der vorgeschlagenen Lösung - Markt und Demokratie einzuführen - zurück. Die analytische Unschärfe der normativen Dimension und die unzulängliche Schuldzuweisung an Bauern und Arbeiter im sozialhistorischen Ansatz haben den Sozialwissenschaftler Cipko23 zu einer scharfen Antwort herausgefordert. Sie liest sich zunächst wie die Wiederbelebung von Thesen der Totalitarismustheorie, die die bolschewistische Ideologie für die Machtfülle der Partei, deren terroristische Herrschaftsmethoden wie auch für die Vernichtung humanistischer Kultur verantwortlich machen. Der Bolschewismus wird zunächst aus der marxistischen Tradition abgeleitet, die sich einen demokratischen Sozialismus ohne Markt und ohne Absicherung individueller Rechte in einer Demokratie vorstellen könne. Dem hält Cipko entgegen, daß Demokratie nicht zu verwirklichen sei, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft zu Staatsangestellten gemacht und die selbständigen Bauern in Arbeiter einer großen Fabrik verwandelt würden. Um ein System kollektiver, nach einem Gesamtplan organisierter Arbeit durchzusetzen, sei es notwendig gewesen, sich auf höherwertige "reine" Interessen zu berufen, die keiner Vermittlung mit individuellen Interessen oder pluralistischen Interessenvertretungen bedurften. Die "Reinheit" der zukünftigen Gesellschaft wie des "neuen Menschen" ermächtigten vielmehr die Avantgarde, dieses Projekt notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Um eine schöpferische Erneuerung des Marxismus im Sinne der Perestroika zu erreichen und den bremsenden Konservativismus zu bekämpfen, bleibe deshalb nur der Weg offen, mit diesen von der russischen Geschichte widerlegten Thesen des Marxismus aufzuräumen. Zu bewahren sei allerdings die humanistische Wertorientierung und die konkret-historische, Revisionen gegenüber offene Einstellung des Marxismus von Marx und Engels. Entgegen den Thesen der sozialhistorischen Schule bestreitet Cipko, daß das Slawophilentum, die gemeinschaftlich orientierten Bauern, die Usurpation der Macht durch Stalin, die Rückkehr zum vorrevolutionären Rußland oder auch nur die Forcierung des Industrialisierungstempos den Stalinismus herbeigeführt hätten. Cipko geht es vielmehr um die Ablösung des sozialisti23 Tsipko, A.S., lstoki stalinizma, in: Nauka i zhizn', 1988, Nr. 11, S. 45-55; Nr. 12, S. 4048; 1989, Nr. 1, S. 46-56; Nr. 2, S. 53-61.

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sehen Industrialisierungsmodells ohne Warenwirtschaft, ohne selbständige Bauern und Menschenrechte, das für ihn zugleich ein inhumanes Zivilisationsmodell darstellt. Er meint, daß der stalinistische Sozialismus mit seinem Expansionsbestreben gegenüber Natur und Menschen zugleich an der westlich-kapitalistischen Kultur partizipiert. Stalin selber sei nur ein Kind seiner Zeit gewesen, wenn er die marxistischen Grundwahrheiten teilte. Allerdings erfahren die Fehleinschätzungen des Marxismus in der Tradition der russischen "Linken", der revolutionären Intelligencija, eine Verschärfung. Im Anschluß an Bulgakow und Berdjajew interpretiert Cipko die Intellektuellenkultur des 19. Jahrhunderts als eine mißlungene Synthese von "Asien" und "Europa": der Hang zum Maximalismus paarte sich mit kritikloser Übernahme westlicher zivilisatorischer Errungenschaften. Rückständigkeit erweist sich in dieser Konstellation nicht als Vorteil, sondern als Zwang, die westlichen Muster ohne pragmatische Einschätzung der Folgen unmittelbar mit einem Sprung in die Zukunft verwirklichen zu wollen. Der missionarische Eifer erstrecke sich auch auf die Menschen, von denen erwartet werde, sich von den Alltagsnöten zu "reinigen" und den Sprung in die Zukunft mitzuvollziehen. Dem intellektuellen Utopismus geht - nach Cipko - von vornherein eine Zweck-Mittel-Rationalität ab. Er verhält sich gegenüber den menschlichen Opfern gleichgültig, die ihm eher als Beweis für den gelungenen Sprung in die Zukunft, für die "Vollbringung von Wundern" gelten. Die "revolutionäre Ungeduld" der "Linken" erweist sich insofern als eine moderne Abart der slawophilen Idee der "Gemeinschaftlichkeit", obwohl Cipko gegenüber Kljamkin dies bestreiten würde. Er weiß sich jedoch mit ihm einig in der Behauptung, daß die Zeit für utopisch-kollektivistische Aufschwünge und Appelle vorbei ist, sollten sie noch so viele Befürworter wie Nina Andrejewa finden.2A Die unzeitgemäße Beschwörung dieser "neuen Religion" führt nach Cipko keineswegs zu den ersehnten Tugenden des Kollektivismus und der Bewußtheit, sondern - wie schon einmal in den 60er Jahren - zur Korruption und Kriminalität. Hinter dem "ideologischen Determinismus" als Erklärungsmodell des Stalinismus tritt der moralische Impetus Cipkos hervor, die Werthierarchie des sowjetischen Sozialismus umzustülpen. Es sei von Anfang an falsch gewesen, als höchste Ebene das Wirtschaften ohne Waren und Bauern anzusetzen, den Werten von formaler Rationalität, Effektivität und persönlicher Initiative nur eine mittlere Bedeutung zuzumessen und schließlich - mit der Verkündung des Klassenkampfes und des Atheismus- Barmherzigkeit, Toleranz und Mitgefühl hintanzustellen. Es bleibt abzuwarten, woher die angesprochenen ethischen Potentiale und die nach ihnen handelnden Akteure der Perestroika Andrejewa, Nina, Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben, in: Gorbatschow, Michail, Perestroika. Die zweite Etappe hat begonnen, 2. Auf!., Köln 1988, S. 155-176.

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kommen werden. Vielleicht hat Michael Silnizki25 mit seiner Behauptung doch Recht, auch das "neue Denken" könne das Politische nur "moralisch" oder "ökonomisch" fassen. Die "zivile" Gesellschaft hätte demnach nur wenig Chancen und bliebe bei einer erneuten Ideologisierung und Mythologisierung der zivilen Sphäre stehen. Nach dem systematischen Stellenwert politischen Handeins und der Handlungsalternativen von Reformen fragt eine Gruppe von Soziologen - Leo D. Gudkow, Jurij A. Lewada, Alexej G. Lewinson, Leonid A. Sedow- am neugegründeten Institut für Meinungsforschung,26 indem sie sich der Analyse von "Bürokratismus und Bürokratie" in der Sowjetunion widmet. Sie ordnet das gegenwärtige sowjetische Gesellschaftssystem dem Herrschaftstypus des "bürokratischen Absolutismus" zu. Dieser stelle eine einzigartige Ausprägung bürokratischer Herrschaft in der Geschichte dar, die sich der gesamten Gesellschaft bemächtigt: "Jener bürokratische Leviathan, mit dem wir es heute zu tun haben, hat keine Analogien in der Geschichte. Das bürokratische Lenkungssystem, das sich im Verlauf von Jahnehnten herausgebildet hatte, erhielt unbeschränkte Möglichkeiten, sich ohne Ausnahme alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens - die politische, ökonomische, kulturelle und ideelle - untenuordnen. Es traf dabei auf keine sich ihm widersetzenden Kräfte oder Beschränkungen (z.B. in Form von traditionellen oder juristischen Institutionen)."V

Dieses bürokratische System hat sich nach Meinung der Soziologen als Ergebnis der stalinistischen Entwicklungsphase konstituiert und vereinigt in sich alle - von den unterschiedlichen Autoren diskutierten - Züge des Stalinismus. Aus heutiger Sicht der Soziologen kommt dabei den umstrittenen subjektiven und objektiven Faktoren, die schließlich zur Realisierung der "forcierten" Variante der Industrialisierung geführt haben, nur sekundäre Bedeutung zu. Als entscheidende Anstöße für die Herausbildung des Stalinismus führen sie allerdings - wie auch Cipko - die revolutionäre Ungeduld der Avantgarde und die politische Unterentwickeltheit der vor- und nachrevolutionären Gesellschaft an, die deren autoritäre und gewaltsame Transformation ermöglicht hätten. Auf die mühsame und langwierige Strategie, die revolutionären Veränderungen durch demokratische Institutionen abzustützen, habe man dabei bewußt verzichtet. Die Entfremdung des Machtapparates von den Massen wie auch dessen Korrumpierung seien insofern vorprogrammiert gewesen, 23 Silnizki, Michael, Aktuelle Emanzipationsversuche der sowjetischen Philosophie, Teil 1-111. Berichte des Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1988, Nr. 36, 39 und 40. 26 Gudkov, L., Levada, Yu., Levinson, A., Sedov, L., Byurokratizm i byurokratiya: neobkhodismost' utochneniy, in: Kommunist, 1988, Nr. 12, S. 73-84. (Im folgenden zitiert als Levada u.a., Byurokratizm i byurokratiya.) v Levada u.a., Byurokratizm i byurokratiya, a.a.O., S. 74.

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auch wenn man ihnen durch Militarisierung und Verdopplung der Kontrollinstitutionen habe Herr werden wollen. Man habe dabei übersehen, daß die zur Gewohnheit gewordene Verfolgung revolutionärer Ziele durch außergewöhnliche Maßnahmen das Außergewöhnliche zur Norm erhoben habe: "Die Bedeutung der erfolgten Transformation wurde in ihrer vollen Schärfe erst später offensichtlich, als sich die außergewöhnlichen Mittel in permanente Zwecke verwandelt haben und als der bürokratische Apparat die politischen zielsetzenden Strukturen vollständig aufgesogen hat. •28

Schließlich setzen die Soziologen noch hinzu, daß der entstandene hierarchische Mechanismus- eine Bürokratie ohne politischen Herrn- gerade wegen seines entpersönlichten und verselbständigten Charakters der Verkörperung "persönlicher" Fürsorge und Initiative in der Führerfigur Stalins bedurft habe. Auch die unteren Ebenen der Bürokratie waren auf politische Rituale und kulturelle Selbstdarstellung angewiesen, um den Mangel an Legitimation und Partizipation auszugleichen: "In allen Fällen bildeten sich politische Kulte oder deren Imitationen nicht dank der Illusionen und des Aberglaubens der Massen heraus - deren Rolle allerdings nicht bestritten werden soll -, sondern infolge der Bedürfnisse der bürokratischen Herrschaft, die die Entfremdung der arbeitenden Bevölkerung von der Macht herbeiführte".29

Wie Cipko lehnen die Autoren dieser Studie eine direkte Schuldzuweisung an die Beherrschten ab, wenn sie auch weniger die Wertmuster der revolutionären Intelligenz, sondern eher den von ihr geschaffenen bürokratischen Mechanismus im Blickfeld haben. Sie machen jedoch darauf aufmerksam, daß der bürokratische Absolutismus in einem hohen Maße- mangels anderer geeigneter Medien - auf eine pseudo-religiöse kulturelle Integration angewiesen ist. Mit diesem Thema beschäftigen sich nicht zufällig exilierte sowjetische Autoren wie der Kunstwissenschaftler Boris Grays in seinem provokanten Buch "Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion"30 und der Schriftsteller Andrej Sinjawskij in seiner jüngsten Veröffentlichung "Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation"?1 Wie schon Cipko analysiert auch Grays den Anteil der "linken" künstlerischen Avantgarde an der Inszenierung der "totalen Erneuerung der Welt", eines skrupellosen ganzheitlichen Projekts, dem der einzelne "neue Mensch" wie auch die linken Künstler selbst zum Opfer gefallen seien. Ebd., s. 74. Ebd., s. 74. 30 Groys, Boris, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München-Wien 1988. 31 Sinjawskij, Andrej, Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, FrankfurtJM. 1989. Vgl. auch die Rezension von Groys, Boris, Kleine Gauner und Henker. Andrej Sinjawskij über die Sowjetzivilisation, in: FAZ vom 3.7.1989. 29

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Die Soziologen um Lewada verfolgen nicht weiter diesen Aspekt, sondern widmen sich den strukturellen Mechanismen, mit deren Hilfe sich die Bürokratie die gesellschaftlichen Sphären unterordnet und ihrer eigenen Funktionsweise gemäße Verhaltensdispositionen erzeugt. In der Sphäre der Ökonomie bewirke das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln, die nur mit außerökonomischen Methoden betätigt werden könnten, daß in der Bürokratie selbst nur außerökonomische - am Erhalt des Lenkungsmonopols hängende - Interessen vorherrschten. Das Fehlen ökonomischer Stimuli bzw. die zentrale Distribution und Redistribution von Ressourcen bedinge systematisch eine Ökonomie des Mangels. Sie ersetze die Konkurrenz der Subjekte untereinander durch die vertikale Zuteilung von Belohnungen, deren Bewertungskriterium nicht Leistung, sondern der Status wird?2 Als Folge des ökonomischen Mechanismus entstünden auf Seiten der Subjekte individuelle Verantwortungslosigkeit und Mißtrauen, Verhaltensweisen, die mit bloß quantitativen Kontrollziffern nicht zu steuern seien. Mangels inhaltlicher Kriterien verliert - nach Meinung der Autoren - auch die Ideologie ihre Orientierungsfähigkeit und entartet zu einem willkürlichen ideokratischen System von Beschwörungsformeln, die auf Seiten der Staatsbürger eine bloß äußerliche Loyalität und Konformismus hervorbringen. Das bürokratische Bewußtsein der Untertanen überläßt das Denken dem "Natschalstwo" und bestätigt sich selber seine Minderwertigkeit. Der so entstandene infantile Paternalismus auf Seiten der passiven Massen bedarf zu seiner Ergänzung der Fürsorglichkeit des Staates, die ohne rechtliche Garantien und Absprachen auskommt und willkürlich praktiziert wird. Das System der vertikalen Loyalität wird schließlich von den Autoren für die terroristische Herrschaftsausübung der stalinistischen und für die verbreitete Korruption der Breschnewschen Zeit verantwortlich gemacht. In beiden Perioden fehlten effektive Erfolgskontrollen, die in einem Fall durch ein universales Mißtrauen und ständige Einschüchterung ersetzt würden. Auch nach Wegfall des Terrors werde die bloße Ausführungsmentalität von illegalen Verhaltensweisen und Absprachen einer Schattenwirtschaft begleitet, um die Produktion überhaupt in Gang zu halten. Die bisherige Analyse des bürokratischen Absolutismus führt dem Leser dessen strukturelle Übermacht vor Augen, der die Ohnmacht der Menschen korrespondiert. Von daher drängt sich die Frage auf, welche Möglichkeiten zu seiner Veränderung oder Aufhebung offenbleiben. Der bisherigen Argumentationslinie folgend, fassen die Autoren die Bürokratie nicht als eine neue "Schicht", sondern als eine "Hierarchie von Schichten" auf, die u.a. auf Ent32 Zum Problem der stalinistischen Sozialstruktur siehe auch Gordon, LA., Sotsial'naya politika v sfere oplaty truda (vchera i segodnya), in: Sotsiologicheskie issledovaniya, 14/1987, Nr. 4, s. 3-19.

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scheidungsfmdung, Beschaffung von Unterstützung oder praktische Anwendung spezialisiert sind: "Nach der Art ihrer Existenz ähnelt die Bürokratie eher einem sozialen Mechanismus oder Institut als einer besonderen Schicht." Sie ist dazu berufen, "auch andere soziale Institute und Gruppen der Gesellschaft nach ihrem Bilde zu transformieren, macht glühende Enthusiasten und berechnende Karrieristen zu ihren eigenen Funktionären und verwandelt soziale Institutionen zu Hebeln und Transmissionsriemen ihres eigenen Mechanismus. •33

Von daher ist es müßig, die Bürokratie als herrschende Klasse stürzen zu wollen. Die einzige Chance zur Veränderung eröffnet die tiefe Krise des bürokratischen Systems selbst. Seiner inneren Logik nach ist es nur dazu geeignet, kurzfristig außergewöhnliche Aufgaben - wie die Stalinsche Industrialisierung - zu lösen. Ansonsten ist es wegen des verschwenderischen Umgangs mit materiellen Ressourcen und schöpferischen menschlichen Potentialen zur Ineffektivität und Stagnation verurteilt, die durch die sich ausbreitende Korruption noch eine Steigerung erfahren. Die umfassende bürokratisch-hierarchische Sozialstruktur verurteilt Appelle und Kampagnen gegen den Bürokratismus, den bürokratischen Herrschaftsstil zur Erfolglosigkeit. Lewada und seine Mitarbeiter sehen die Lösung vielmehr in der Verwandlung der Bürokratie in einen dienenden und den gesellschaftlichen Zusammenhang effektiv organisierenden Apparat. Er soll mit Hilfe rechtsstaatlicher Garantien und durch die Einführung unterschiedlicher Eigentumsformen demokratischen Institutionen und einer pluralistischen Öffentlichkeit untergeordnet werden. Der bürokratische Absolutismus soll also dem Webersehen Typ legaler Herrschaft Platz machen. Um ein politisches Vakuum in der Übergangszeit zu vermeiden, schlägt allerdings Lewada vor, die Avantgarde-Rolle der Partei zu stärken und die Funktionen von Staat und Partei zu entgrenzen. Insofern bleibt es offen, ob die neu zu schaffenden demokratischen Institutionen oder die kommunistische Partei die neuen Herren der in ihre Schranken gewiesenen Bürokratie sein werden, sollte die Pluralisierung der Eigentumsformen erst einmal gelungen sein. III.

Schlußfolgerungen Die neuere Stalinismus-Diskussion in der Sowjetunion stellt sich wie ein bunt gewebter Teppich von Argumenten dar. Sie sind auch der westlichen Osteuropaforschung bekannt, erfahren jedoch im sowjetischen Kontext eine neue Bewertung. Den Ausgangspunkt sowjetischer Autoren bildet offenbar die weit pessimistischere Einschätzung der ökonomischen Leistungsfähigkeit und der moralischen Krise der sowjetischen Gesellschaft. Der beobachtete Levada u.a., Byurokratizm i byurokratiya, a.a.O., S. 79.

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Verbrauch des revolutionären Utopismus als Motivationspotential und der grundsätzliche Zweifel, ob überhaupt Verinnerlichungsprozesse von Industriekultur in welchen Schichten auch immer stattgefunden haben, münden bei den meisten Sozialwissenschaftlern in einen ethischen Appell, der die sittliche Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft einleiten soll. Von daher erklärt sich auch der Rückgriff auf die russischen Religionsphilosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zugleich als Kritiker der russischen Sozialdemokratie und des schwach ausgebildeten Liberalismus gelten. Die behandelten Autoren verbleiben mit ihrem ethischen Impetus in der intellektuellen Tradition Rußlands. Indem sie die sozio-kulturelle Eigenständigkeil von Massenbewegungen vernachlässigen und Vorschläge zu institutionellen Reformen unterbreiten, verraten sie zugleich ein Bewußtsein von der eigenen Rolle als gesellschaftsverändernde Intelligencija. Die grundsätzliche Kritik an der industriellen Zivilisation stalinistischer Provenienz bringt sie in die Nähe der Totalitarismus-Theorie. Dagegen begreifen die meisten Autoren sozialhistorische Erklärungsmuster - im Unterschied zur westlichen Osteuropaforschung - als zu deterministisch. Eine Betrachtungsweise, die sich vornehmlich für nicht verschuldete Umstände von Handlungen und sich einstellende Wirkungen interessiere, steht für sie in der Nähe eines orthodoxen Marxismus, den es im Interesse der Perestroika gerade zu überwinden gelte. Wenn sie den Konservativismus in Form des Slawophilenturns wie auch des klassenkämpferischen Kollektivismus bekämpfen, erweisen sie sich zugleich als "Westler", die pragmatischen und rational berechenbaren Reformen den Vorrang einräumen. Anband bisheriger Äußerungen und Reformmaßnahmen wird es allerdings nicht immer klar, wie es möglich sein soll, westlich-kapitalistische Rationalitätsmuster und Institutionen so zu übernehmen, daß sie zugleich eine post-industrielle Zivilisation anleiten (Cipko). Nach überwiegender Meinung der Autoren steht zunächst deren Adaption an, um die Auswüchse und Deformationen der stalinistischen Industrialisierung zu korrigieren und den modernen Menschen des Industriezeitalters heranzubilden. Zugleich scheinen die herrschaftsbestimmten Aspekte von Industriekultur westlichen Beobachtern deutlicher vor Augen zu stehen. Es ist allerdings zu hoffen, daß eine Rückkehr zum Modell der Sozialgeschichte stattfinden wird, um der von Kljamkin erwähnten sozio-kulturellen Differenzierung nahezukommen und die Chancen einer pluralistischen "Zivilen" Gesellschaft abschätzen zu können.34 Gerade die Beschäftigung mit dem Stalinismus zeigt, daß die Erziehung des Volkes durch eine geistige Aristokratie nicht mehr an der Tagesordnung steht. 34 Vgl. hierzu auch Mänicke-Gyöngyösi, Krisztina, Sind Lebensstile politisierbar? Zu den Chancen einer "zivilen" Gesellschaft in Ost- und Ostmitteleuropa, in: Rytlewski, Ralf (Hg.), PVS-Sonderheft 20: Politik und Gesellschaft in sozialistischen Ländern (im Erscheinen).

Glasnost- Contra Perestroika? Alternative Entwicklungsmöglichkeiten im sowjetischen Refonnmodell Von Klaus von Beyme

I. Perestroika im Licht der Erforschung von Reformbewegungen

Die Modernisierung des Sozialismus war ein kontinuierlicher Prozeß seit Stalins Tod. Er war selbst in der Agonie der späten Breschnew-Ära nicht unterbrochen. Reformansätze gab es längst vor 1985. Reformgesetze enthielten den Ausdruck Perestroika vor Gorbatschows Amtsantritt - wie das Gesetz, das die große Bildungsreform 1984 einleitete. 1 Die Modernisierung des Sozialismus war zudem in anderen sozialistischen Ländern ziemlich offen diskutiert worden. Am stärksten in Polen und Ungarn, und das blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die sowjetische Debatte. Dennoch würde niemand einen nothing-new-under-the-sun-approach auf die Perestroika anwenden. Perestroika ragt aus den übrigen Initiativen heraus und verdient die Einreihung unter die großen Reformen. Im Gegensatz zur vergleichenden Revolutionsforschung gibt es nur wenige Ansätze zu einem Vergleich der großen Reformen und die bestehenden leiden darunter, daß sie Reformen in sozialistischen, kapitalistischen und vordemokratisch-monarchischen Systemen auf eine Ebene stellen. Gorbatschow selbst würde die Perestroika zudem lieber unter die Revolutionen eingereiht sehen. Auch die große bürgerliche französische Revolution von 1789 bedurfte dreierweiterer Revolutionen (1830, 1848, 1871), um vollendet zu werden. Schon Lenin hatte die Frage gestellt, ob dies vielleicht auch im Sozialismus eintreten könnte und Gorbatschow berief sich auf Lenin. Wichtiger als solche historisch-legitimatorischen Begründungen, auf die Gorbatschow nicht verzichten kann, solange ein großer Teil der Funktionäre das Neue nur akzeptiert, wenn es durch Lenin-Zitate abgestützt werden kann, sind systematische Erwägungen. ReforNarodnoe obrazovanie v SSSR Sbomik normativnykh aktov. Moskau 1987, S. 25.

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men haben für ihn die Tendenz, schleppend zu sein. Die Revolution wird damit begründet, daß Perestroika nicht nur auf- und umbaut, sondern auch altes zerstört.2 Er konnte zudem nicht gut Refonnpolitik auf seine Fahnen schreiben, nachdem diese 20 Jahre als sozialdemokratische Illusion gebrandmarkt worden war. Seit 1985 sind jedoch auch diese Bedenken in der sowjetischen Literatur schwächer geworden. Refonnen auf revolutionärem Wege wurden dabei als Formelkompromiß angeboten.3 Westliche Wissenschaftler ziehen eindeutigere Zuordnungen vor und reihen die Perestroika nicht unter die Revolutionen, sondern unter die radikalen Reformen ein.4 Der häufig vorgenommene Vergleich mit modernisierenden Autokraten der alten Zeit übersieht einen Unterschied: mehr als in Modernisierungsautokratien von Peter dem Großen bis zur Meiji-Bewegung in Japan ist der reale Sozialismus darauf angewiesen, eine gewisse ideologische Kontinuität zu bewahren; Autokraten konnten - solange die monarchische Legitimation nicht in Frage gestellt wurde - weit eher dekreditieren. Car tel est notre plaisir war schließlich eine Devise auch der nichtmodernisierenden Monarchen. Der Vergleich mit den Modernisierungsautokratien der Vergangenheit hat einen weiteren Fehler: er führt zur Personalisierung. Radikale Reform entsteht nach Ansicht vergleichender Reformtheoretiker, wenn ein Modernisierer an die Macht kommt oder wenn er nahe dem Zentrum der Macht angekommen ist.5 Gerade im Fall von Perestroika werden eher die Entstehungsursachen auf den Kopf gestellt. Perestroika ist nicht die Erfmdung eines einzelnen großen Führers, sondern die Modernisierung war notwendig in den Augen großer Teile der reformbürokratisch Gesonnenen in der Partei und bei einem großen Teil der Intelligentsija. Diese Gruppen suchten sich ihren Führer. Das Gorbatschows Person nach seiner Wahl eine Eigendynamik entwickelte, steht außer Frage. Die Fraktion, diefür Perestroika war, aber gern weniger Glasnost gesehen hätte, wie Ligatschow und Gromyko, mag ihre Wahl bereut haben. Nicht wenige sind von Gorbatschows Persönlichkeit sehr überrascht worden und ließen sich eher widerwillig sein Schrittempo aufzwingen. Aber die Tendenzen, die er vertrat, waren seit langem auch in der Theoriebildung angelegt. Gorbatschow, M., Perestroika. Die zweite russische Revolution, München 1987, S. 60 ff. G.V., Social'nyi progress, refonny i refonnizm, Moskau, Profizdat, 1988, S 220. 4 Cotton, TJ., The Dilemm