»Typisch jüdisch«: Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919 - 1949 [1 ed.] 9783428493128, 9783428093120

Die im Völkermord an den Juden Europas gipfelnde antisemitische Politik der Nationalsozialisten fiel auf einen fruchtbar

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German Pages 1038 Year 1998

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»Typisch jüdisch«: Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919 - 1949 [1 ed.]
 9783428493128, 9783428093120

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Gerhard Lindemann · "Typisch jüdisch"

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 63

"Typisch jüdisch" Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919 -1949

Von

Gerhard Lindemann

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Niedersächsischen Kultusministeriums, Hannover und des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers

Die Deutsche Bibliothek - CI?-Einheitsaufnahme

Lindemann, Gerhard: "Typisch jüdisch" : die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919 -1949 I von Gerhard Lindemann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 63) Zug!.: Heidelberg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09312-7

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09312-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist im Wintersemester 1996/97 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen worden. Sie wurde für die Druckfassung noch einmal durchgesehen und geringfügig ergänzt. Die Arbeit entstand am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kirchengeschichte in Berlin und Heidelberg bei Herrn Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier. Ihm habe ich für intensive Förderung, vielerlei von großem persönlichen Engagement und Interesse zeugende Ratschläge und Hilfestellungen von der Anlage der Arbeit bis hin zu ihrer Drucklegung, Interventionen bei verschlossenen Archiven und Aktenbeständen und nicht zuletzt für die Anfertigung eines ausführlichen Gutachtens aufrichtig zu danken. Herr Prof. Dr. Gottfried Seebaß unterzog sich der Mühe des · Korreferats. Für bereitwillige Unterstützung meines Arbeitsvorhabens möchte ich auch den von mir besuchten Archiven danken: Insbesondere Herr Archivdirektor Dr. Hans Otte (Landeskirchliches Archiv Hannover) und Frau Archivdirektorin Dr. Christa Stache (Evangelisches Zentralarchiv Berlin) standen für viele Hinweise und klärende Gespräche zur Verfügung. Vor allem die Herren Leenders, Wojte, Pothmann und Müller (Landeskirchliches Archiv Hannover) schufen mit ihrer stetigen Aufmerksamkeit für effektives Forschen ideale Voraussetzungen. Herr Karl Heinz Bielefeld (Kirchenkreisarchiv Göttingen), Frau ChristaSchacht (Gifhorn), die Herren Superintendenten Dr. Menno Smid (Emden) und Dr. Heinrich Wirtram (Stade) sowie die Pastoren Gottfried Ostermeier (Borkum/Osnabrück), Willy Löffelbein (Meine) und Martin Schomerus (Stade) waren mir beim Erschließen der lokalen Überlieferungsspuren behilflich. Herr Pastor i. R. Hans-Heinrich Gurland, Hildesheim, Frau Oberin Anneliese Oehlert, Frankfurt!Main, und Frau Luise Wykhoff, geb. Behrens, Scharnebeck, öffneten mir die schriftliche Hinterlassenschaft ihrer Väter. Wichtige Informationen erhielt ich auch von Frau Margarete Schwannecke, Gifhorn. Die Kolleginnen und Kollegen in Berlin und Heidelberg sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der regionalgeschichtlichen Tagungen in Niedersachsen halfen durch kritische Fragen und konstruktive Ratschläge zur Klärung mancher bis dahin unklarer Sachverhalte. Frau Anke Marholdt versah eine frühere Fassung des Manuskripts mit zahlreichen Hinweisen. Dafür bin ich ihr dankbar. Der Gesellschaft für Deutschlandforschung habe ich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihr herausgegebene Schriftenreihe zu danken. Frau Anke Kleingeist und Herr Dieter H. Kuchta vom Verlag Duncker & Humblot in Berlin engagierten sich für die Umsetzung des Druckverfahrens.

6

Vorwort

Dem Gedenkstättenbeirat des Landes Niedersachsen und der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers danke ich herzlich, daß sie durch großzügige Zuschüsse den Druck der Arbeit ermöglicht haben. Meine Großmutter, Frau Lydia Bohl, beteiligte sich mit einer größeren Summe an der Finanzierung der Druckvorlage, für deren Realisierung die Herren OlafLange und Donat Martin mit großer Umsicht und Genauigkeit sorgten. Meine Eltern haben meine schulische und akademische Ausbildung jederzeit großzügig unterstützt und begegneten meinen speziellen Interessen wie auch der nun vorliegenden Arbeit stets mit großer Aufmerksamkeit. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank. Heidelberg, im Mai 1997

Gerhard Lindemann

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

l Fragestellung, Vorgehensweise und Methode der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Il Forschungsstand und Quellenlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

IIl Die demographische und soziale Lage von Juden und Christen jüdischer Herkunft in Deutschland vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Anfangsjahre der NS-Diktatur unter besonderer Berücksichtigung Niedersachsens . .

31

Teilt: Judenfeindschaft und Antisemitismus in der Weimarer Republik und die hannoversche Landeskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

lAllgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Weimarer Republik und der deutsche Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . B. Die deutsche Judenheit in der Weimarer Republik und der Antisemitismus . . C. Innerkirchliche Neuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Il Die hannoversche Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie. . . . . . . . . .

48

36 38

39

IIl Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

IV. Kirchliche Reaktionen aufden Antisemitismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

V. Das Alte Testament in der kirchlichen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Vl Die Judenmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

VII Pfarrer jüdischer Herkunft in der Weimarer Republik.. . ... . ........... . A. Die allgemeine Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Situation in Hannover... . .. . . ... . ... ......... . ......... . ...... 1. Bruno Benfey ... ... ... .... . ... . ..... ....... ... .. .. : . . . . . . . . . . . . a) Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Pfarrstellenbesetzungsverfahren an St. Marien, Göttingen (1927) . . . . . . c) Benfeys theologische Position und kirchenpolitische Einstellung . . . . . . . . . . 2. RudolfGurland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gurlands Wechsel in die Kirchengemeinde Meine bei Githom (1930).. . . .. c) Gurlands theologisches und kirchenpolitisches Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Paul Leo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100 100

103

I 04 104

106 110 114 114

116 120 122

124

VIIIAlternativpositionen der Wort-Gottes-Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

IX. Der Kampfdes lutherischen Pastors Ludwig Münchmeyer um den Erhalt der völkischen .,Reinheit" der Nordseeinsel Borkum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

8

Inhaltsverzeichnis A. I. 2. B.

Die Nordseeinsel Borkum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borkum, die judenfreie Insel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung der lutherischen Kirchengemeinde aufBorkum. . . . . . . . . . . Der Beginn des Kampfes um das Borkumlied in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerden und staatliche Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Neubesetzung der lutherischen Pfarrstelle mit Ludwig Münchmeyer und erste Amtstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Formierung der Fronten (1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das unruhige Inflationsjahr 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Erneuter Streit um das Borkurnlied, begleitet von Beleidigungen, Einschüchterungen, Gewaltaktionen und Prozessen ( 1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Münchmeyers Einstieg in die aktive Lokalpolitik und seine fortschreitende Radikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Stimmungsumschwung unter den Borkumer Honoratioren und die Gerichtsverhandlungen im Winter 1924/25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Im Vorfeld des kirchlichen Disziplinarverfahrens gegen Münchmeyer (1925) I. Weitere Politisierung Münchmeyers und erste landeskirchliche Reaktionen. . 2. Die Aufhebung des Borkumliedverbots durch das Preußische Oberverwaltungsgericht und Münchmeyers Umschwenken von der Juden- zur Katholikenhetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Münchmeyers Kampf gegen die sich formierende innergemeindliche Opposition bis zum Beginn des Disziplinarverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Das Disziplinarverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anklageschrift und erste Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Berufungsverhandlung.. .. ... . ... . ....... . ... . ............ . . . . F. Der "falsche Priester" und Aufgabe des Pfarramtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Weitere Komplikationen . . . ...... . . ......... . . . .. .. . ... . ... . .. .. . . I. Münchmeyers Verlust des Titels "Pfarrer a.D."....... . ............ . . .. 2. Weitere "Wühlarbeit" Münchmeyers in der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nochmaliger Streit um das Führen des Titels..... . ... . ............ . ...

179 185 185 190 194 197 205 205 209 213

Teil 2: Reaktionen der Landeskirche und einzelner Christen auf Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden im NS-Staat und sich aus dem Staatsantisemitismus ergebende Angriffe auf Grundlagen des christlichen Glaubens und kirchlicher Ordnung . . . . . . . . . . . . . . .

221

Problemstellung und Forschungshorizont........... .. .. . ....... . .. . .. . ..

221

Teil 2.1: Die Etappen der NS-Judenverfolgung und Reaktionen aus der hannoverschen Landeskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die NS-Judenpolitik bis zu den "Nürnberger Gesetzen" und die Situation in der hannoverschen Landeskirche während der Etablierung des NS-Regimes . B. Die Haltung der Kirchenleitung zum Nationalsozialismus nach dem 30. Januar 1933. .. . ...... ....... .. . ... ... . . . . . ... .. . ..... .... ... . . .. . C. Die Nürnberger Rassengesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die kirchenpolitische Entwicklung bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. DerNovemberpogrom 1938 . .. ... .. . ........... . ...... . ......... . . 1. Reaktionen der Bevölkerung sowie einzelner Christen und das Schweigen der offiziellen Landeskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 139 140 140 141 145 146 151 151 163 167 167 171

226 226 229 240 244 247 247

Inhaltsverzeichnis 2. Predigten zur Pogromnacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Auseinandersetzungen um die "Godesberger Erklärung" und die Unterzeichnung der "Grundsätze" durch Marahrens..... . ................ . .. 4. Das Eisenacher "Entjudungsinstitut" und die Landeskirche. . . . . . . . . . . . . . . Tei/2.2: Christenjüdischer Herkunft und die hannoversche Landeskirche im NS-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Briefe an Marahrens wegen der einsetzenden Entrechtung der Juden.... ... B. Die Lage der Pastorenjüdischer Herkunft nach der Boykottaktion (April 1933).... . ................ . ................ . . . ........... . .. . . C. Die landeskirchliche Diskussion um die Einfiihrung eines ,Arierparagraphen' 1933....................... . .... . ........... . ............ . .. . . D. Die Situation der Pastoren jüdischer Herkunft bis zum Erlaß der "Nürnberger Gesetze" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Paul Leo, Osnabrück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bruno Benfey, Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. RudolfGurland, Meine/Gifhorn.............. .. .. . ............ . .. . . a) Vergebliche Interventionen der Partei bis zum Ende der hannoverschen DCHerrschaft im Herbst 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Fortsetzung des Kampfes gegen Gurland, Ausweisungsandrohung und Wühlarbeit der "Tannenberger" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Auseinandersetzungen über Judenmission und die Kirchenmitgliedschaft von Christen jüdischer Herkunft nach den "Nürnberger Gesetzen" bis zur Reichspogromnacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Die Auswirkung der "Nürnberger Gesetze" auf Pastoren jüdischer Herkunft, die Umfrage des Reichskirchenausschusses vom Mai 1936 und Überlegungen zur Frage nach der Vereinbarkeit eines ,Arierparagraphen' mit dem lutherischen Bekenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Die Situation der Pastorenjüdischer Herkunft bis zur Reichspogromnacht... 1. Die Vertreibung von Bruno Benfey aus Göttingen und die Entstehung des hannoverschen,Arierparagraphen'............ . ............... .. . . . . a) Die Besetzung der ersten Pfarrstelle an St. Marlen durch Heinrich Runte. . . . b) Das Zerwürfnis zwischen Runte und Benfey und erste Lösungsversuche. . .. c) Öffentliche Auseinandersetzungen um Benfey und der Beginn des Disziplinarverfahrens.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Voruntersuchungen in Göttingen durch das Landeskirchenamt . . . . . . . . e) Anklageschrift, Apologie und der Verlauf des Dienststrafverfahrens . . . . . . . f) Benfeys Bemühungen um die baldige Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte und die Verzögerungstaktik der hannoverschen Kirchenverwaltung . . . . . . . . g) Neubeginn der Amtstätigkeit, Agitation, Unruhen und die Ausweisung durch die Gestapo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand durch die Landeskirche . . . . 2. Eine weitere Zwangsemeritierung: Paul Leo, Osnabrück. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. RudolfGurlands Kämpfe mit der Partei in Meine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Auseinandersetzungen um die Gemeindeschwesternstation in Meine . . b) Erneute Versuche, Gurland aus Meine zu verdrängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Aufgabe der kirchlichen Schwesternstation in Meine durch den Landesffihrer fiir Innere Mission, Johannes Wolff. . . . . . . . . . . . . . d) Die Trauung des Gifhorner Kreisleiters in Meine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenbilanzen im Sommer 1936 und zur Jahreswende 1936/37 . . . . . . . . 4. Ohne Pfarramt: Cand. theol. Otto Schwannecke, Gifhorn . . . . . . . . . . . . . . . .

9 255 261 275 281 281 286 289 308 308 310 316 316 334 338

341 346 346 347 357 376 387 396 41 0 423 455 496 498 498 50 1 506 520 522 524

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Inhaltsverzeichnis

H. Die Situation der hannoverschen Kirchenmitglieder jüdischer Herkunft. . . . . 1. Die allgemeine Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erneute Überlegungen Paul Leos zur kirchlichen Stellung der Gemeindeglieder jüdischer Herkunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Franz Hildebrandt (London) und die Haltung der hannoverschen Landeskirche gegenüber den Christen jüdischer Herkunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die allgemeine Diskussion um die Behandlung der Pastoren und die Stellung aller Christenjüdischer Herkunft in der Landeskirche nach der Pogromnacht 1. Die Vorstöße Cölles zugunsten der Einführung eines ,Arierparagraphen' bis zum Februar 1939.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Debatte um die Form der Kirchenmitgliedschaft von Christen jüdischer Herkunft im Frühjahr 1939.... . ................................. . . K. Auswanderung statt Ausgrenzung? Das Verhältnis der hannoverschen Landeskirche zum "Büro Grüber'' .. . ...... :......... . ................ . . L. Die Lage der hannoverschen Pastoren jüdischer Herkunft zwischen Pogromnacht und Kriegsbeginn........ . ................ . ............ . .... 1. Paul Leo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhaftung, Ausreise und Dankeschön bei der Bekennenden Kirche . . . . . . . b) Der Artikel des "Schwarzen Korps" und kirchliche Reaktionen . . . . . . . . . . . 2. Die Ruhestandsversetzung der Pastoren Gurland und Oehlert . . . . . . . . . . . . . a) Gurlands Bericht über den Novemberpogrom und staatliche Eingriffe in die Neubesetzung der Kantorenstelle in Meine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der erzwungene Rücktritt von fünfMeiner Kirchenvorstehern.. . . . . . . . . . . c) Differenzen in der Kirchenleitung über den weiteren Umgang mit Gurland.. d) Der "Fall" Gustav Oehlert... . ............... . ... . ................ . e) Vergebliche ökumenische Bemühungen um ein Weiteramtieren von Oehlert f) Die Intervention des Reichskirchenministeriums und Gurlands Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gurlands Abschied aus Meine und Gifhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exkurs: Pfarrer jüdischer Herkunft in der Braunschweigischen ev.-luth. Landeskirche in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Schwierigkeiten in der Konsolidierungsphase des NS-Regimes. . . . . . . b) Die Suspendierung Niemanns und Goetzes vom Amt (November 1938) . . . . c) Goetzes Versetzung in den einstweiligen Ruhestand und erster Widerspruch. d) Die endgültige Ruhestandsversetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Weitere Beschwerden und Rechtsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Die Stellung der Gemeindeglieder jüdischer Herkunft in der Kirche nach der Einführung des Judensterns 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelschicksale aus der Landeskirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die ErmordungbehinderterJuden und Christenjüdischer Herkunft 1940.... 4. Erwägungen zur Behandlung von Christenjüdischer Herkunft in DEK und Landeskirche nach der Einführung des Judensterns im September 1941 . . . . . 5. Das Rundschreiben der Kirchenkanzlei vom Dezember 1941, seine Rezeption in Hannover und die sich daran anschließende Debatte . . . . . . . . . . . . . . 6. Marahrens' Intervention beim Reichsinnenminister zugunsten von in ,Mischehen' lebender Christenjüdischer Herkunft und der Deportierten insgesamt . Tei/2.3: Konflikte zwischen Pfarrern und NS-Staat wegen Kollisionen mit Elementen der Rassenideologie und die Haltung der hannoverschen Kirchenleitung . A. Pastor Enno Rickers, Westereede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

530 530 532 536 538 538 541 555 559 559 559 564 570 570 576 580 582 585 588 597 606 606 611 617 630 632 636 636 638 640 641 646 658 667 667

Inhaltsverzeichnis B. Pastor Wilhelm Brüdern, Hannover-Linden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Pastor Johannes Büttner, Dorfinark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Pastor Adolfilling, Ilten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Pastor Dietrich Renner, Dörverden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Pastor Hans Rüppell, Bantein.. . .............. . ... . ............ . .. . G. Pastor AdolfHoltermann, Goslar . .. . .......... .. .......... . .... . ... H. Pastor Johann Jakob Brammer, Hannover . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Pastor coll. Winfried Feldrnann, Lautenthal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Die Auswirkungen der NS-Rassenideologie auf die Kirchengemeinden in Stade 1935/36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Stader "BK-Pastoren"........................ . ............ . ... 2. Rassenhaß und Feindesliebe im Konfirmandenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gewaltaktion gegen Bebrens . . . .... . . . ............. .. .. ........ 4. Unmittelbare Reaktionen von Gemeindegliedern, Kollegen und staatlichen Stellen und das Taktieren der Kirchenleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Behrens' Rückkehr nach Stade und die Kritik seiner Kollegen an der Haltung der hannoverschen Kirchenleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Initiative des Pfarrvereins................ . .. . ............... .. . 7. Die Eskalation des Konfliktes mit Superintendent Crusius . . . . . . . . . . . . . . . 8. Behrens' erneute Kritik an der NS-Rassenpolitik. . ... . .. ..... ..... . .... 9. Der Prozeß gegen die Gewalttäter und Behrens' Beurlaubung durch das LKA 10. NSDAP-Kritik am Gerichtsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. "Befriedung" in Stade: Der Ausgang des "Falles Behrens" . . . . . . . . . . . . . . . L. Konflikte im Krieg- Pastor Voß, Basbeck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil 2.4: Deutschchristliche und neuheidnische Angriffe gegen jüdische Wurzeln des christlichen Glaubens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Positionsfindungen der hannoverschen DC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Bedeutung des Alten Testaments aus DC-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . C. Die DC und die antisemitische Welle 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Das Neuheidentum........ . ............. .. .. . .. . .... . ..... . . .. .. 1. Ausgangspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auseinandersetzungen mit dem Neuheidentum um das Alte Testament in der Mitte der dreißigerJahre..... . ... .... . . . . . . ... .. .. .... . . . . . .. 3. Neuheidnische Gleichsetzungsversuche von Juden- und Christentum und Auseinandersetzungen mit DC und Neuheidentum im Kirchenwahlkampf 1937 . 4. Neuheidnische Aktivitäten vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Auseinandersetzungen während des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 670 671 673 673 676 676 677 677 679 679 686 688 697 71 0 715 717 719 722 726 729 738 739 739 742 744 751 751 753 759 769 771

Teil 3: Nach dem 8. Mai 1945- das Erbe der NS-Zeit und die bannovencbe Landeskirebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

775

I. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

775

II. Reflexionen von LandesbischofMarahrens über seine Rolle im NS-Staat und Reaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

777

!I/. Osnabrücker Kritik an der landeskirchlichen Politik gegenüber ihren Gliedernjüdischer Herkunft im NS-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

788

IV. Der Umgang mit den während der NS-Zeit zur Ruhe gesetzten Pastoren jüdischer Herkunft. . ... . ................... . ... . . .... ...... . ... .. A. Gustav Oehlert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

791 791

12

Inhaltsverzeichnis

B. Bruno Benfey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Beginn des Kampfes um Benfeys Rückkehr nach St. Marien, Göttingen 2. Vermeintlicher Auftrieb durch einen Ratsbeschluß der EKD.... .. . ..... .. 3. Politischer Druck in Göttingen und Einlenken des LKA . . . . . . . . . . . . . . . . . C. RudolfGurland ...... . . . . . ... . . . .... . .. .. .. . . . ... . ............. . 1. "Ruhestand" in Hermannsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergebliche Bemühungen um ein ständiges Pfarramt nach Kriegsende . . . . . D. Paul Leo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Fazit.... . ............ . ... . ............... . .............. . .... . F. Bemühungen der braunschweigischen Landeskirche um ihren ehemaligen Pfarrer Alfred Goetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

792 792 796 800 807 807 811 819 825

V. Die Christen jüdischer Herkunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Frage nach der materiellen Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Geistlich-seelsorgerliehe Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

828 828 831

VI. Einzelinitiativen in Sachen., Vergangenheitsbewältigung". . . . . . . . . . . . . . . A. Die Stader BK-Pastoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Ein Vorstoß aus Stelle bei Winsen betreffs des landeskirchlichen Umgangs mit Sternträgem 1941142...... . ..... . ......... . ...................

833 833

VII. Antisemitische Agitation ehemaliger DC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

846

VIII. Die Bearbeitung der Schuldfrage und des Verhältnisses zum Judentum in der kirchlichen Wochenzeitung .,Die Botschaft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Allgemeine Reflexionen über die Schuldverstrickung in der NS-Diktatur . . . B. Die Schuld gegenüber den Juden und der Neueinsatz der Judenmission . . . . .

849 849 853

Abschließende Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

860

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Archivalische Quellet1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gedruckte Darstellungen und häufiger im Text genannte unveröffentlichte Manuskripte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

875 875 879

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

951

Register der Institutionen, Orte, Sachen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

965

826

844

Bibelstellenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1036

Abkürzungsverzeichnis Die folgende Liste enthält Abkürzungen, die nicht in dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (enthält IATG 2) 2., überarb. u. erw. Aufl. zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner; Berlin 1994 bzw. dem Duden aufgefuhrt sind. Die Kurzbezeichnungen der biblischen Bücher entsprechen dem ökumenischen Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart 1981.

ADW

ApU AT BA BDC BDM Bearb. bearb. BK BKg. BoZ BoB Braunschw. CA CA fur IM Cand. min. CIC C.V.-Verein CVJM DC DCSV DDP DEK DEKA DEKK ders. DHP

DNVP

DP ds. (Mts.)

Archiv des Diakonischen Werkes Evangelische Kirche der Altpreußischen Union Altes Testament Bundesarchiv Berlin Document Center Bund deutscher Mädel Bearbeiter bearbeitet Bekennende Kirche Bekenntnisgemeinschaft Borkumer Zeitung Borkumer Beobachter Braunschweig[isch] Confessio Augustana Centrai-Ausschuß fiir die Innere Mission Kandidat des Predigtamtes Counter Intelligent Corps Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Christlicher Verein junger Männer Deutsche Christen Deutsch Christliche Studentenvereinigung Deutsche Demokratische Partei Deutsche Evangelische Kirche Deutscher Evangelischer Kirchenausschuß Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei derselbe Deutsch Hannoversche Partei Deutschnationale Volkspartei Displaced Person dieses (Monats)

14 DVP EG einstweiL EKI EKII EOK EPD Erg. ev[g]. EvW EZA FA Fase. Gern. Gen[.] Gen.sup. gest. Gestapa GStA GVR Hann.[ov.] HaSo Hgg. HQ MIL Gov RB Stade Regierungsbezirk Stade HStA i.e.R.

IJB

IM insbes. ISK JK Js. jüd. jur. KABl KGA

KK

KKA

KKT KKV

Kodlab komm. KTA KV (K.V.) Lasup.

Abkürzungsverzeichnis Deutsche Volkspartei Evangelisches Gesangbuch einstweilig Eisernes Kreuz Erster Klasse Eisernes Kreuz Zweiter Klasse Evangelischer Oberkirchenrat Evangelischer Preßverband fiir Deutschland Ergänzungsband evangelisch Evangelische Wahrheit Evangelisches Zentralarchiv Finanzabteilung Fascikel Gemeinde Generalia Generalsuperintendent gestorben Geheimes Staatspolizeiamt Berlin Geheimes Staatsarchiv Geistlicher Vertrauensrat Hannover Hannoversches Sonntagsblatt Herausgeber (Plural) Headquarter Military Govemment Regierungsbezirk Stade Hauptstaatsarchiv im einstweiligen Ruhestand Internationaler Jugendbund Innere Mission insbesondere Internationaler Sozialistischer Kampfbund Junge Kirche Jahres jüdisch juristisch Kirchliches Amtsblatt (Hannover) Kirchengemeindearchiv Kirchenkreis Kirchenkreisarchiv Kreiskirchentag Kreiskirchenvorstand/Kirchenkreisvorstand Konferenz der Landesbruderräte kommissarisch Kirchlich Theologische Arbeitsgemeinschaft Kirchenvorstand Landesssuperintendent

Abkürzungsverzeichnis LB Ldsk. LKA LKA LKR LS LWB Mitgl.-Nr. MdR nächtl. Nds. HStA Nds. StA NS NSDStB NSV

NT

OB o.D. ÖRK OKR OLKR P. P.[astor] coll. P.[astor] coop. P.[astor] prim. P.[astor] sec. P.[astor] i.e.R. PA PA Goetze PA Niemann persönl. Pfr. Pfw. Pg. PNB Preuß. R Reg.Bez. RKA

RKM RMdl SA Slg. Spec. StA St.P.St.

Landesbischof Landeskirche Landeskirchenamt Landeskirchliches Archiv Landeskirchenrat Landeskirchliche Sammlung Lutherischer Weltbund Mitgliedsnummer Mitglied des Reichstags nächtlich Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Niedersächsisches Staatsarchiv Nationalsozialistisch Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Neues Testament Oberbürgermeister ohne Datum Ökumenischer Rat der Kirchen Oberkirchenrat Oberlandeskirchenrat Pastor Pfarrcollaborator Pfarrcooperator erster Pfarrer zweiter Pfarrer Pastor im einstweiligen Ruhestand Privatarchiv Personalakte Goetze Personalakte Niemann persönlich Pfarrer Pfarrwitwe Parteigenosse Pfarrernotbund Preußisch[er] Rückseite Regierungsbezirk Reichskirchenausschuß Reichskirchenministerium Reichsministerium des Innern Sturmabteilungen (der NSDAP} Sammlung Specialia Staatsarchiv Staatspolizeistelle

15

16 Sup. Tgb. TOP USPD VDA VELKD Verf. VKL (V.K.L.) VR

WSCF

Zit. (n.)

Abkürzungsverzeichnis Superintendent Tagebuch Tagesordnungspunkt Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verband der Auslanddeutschen Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands Verfasser Vorläufige Kirchenleitung Vorder- und Rückseite World Student Christian Federation (Christlicher Weltstudentenbund) Zitiert (nach)

Einführung I. Fragestellung, Vorgehensweise und Methode der Arbeit Im Zweiten Weltkrieg unternahmen die Nationalsozialisten unter Führung Adolf Hitlers den Versuch, mit der vollständigen Ermordung der deutschen und europäischen Judenheit sich einer Minderheit fiir immer zu entledigen, der aufgrund pseudowissenschaftlich zementierter Vorurteilsbildung die Zerstörung mitteleuropäischer "Rasse"- und Kultureigentümlichkeiten vorgeworfen wurde. Dem organisierten Massenmord war eine Zeit der zunehmenden Entrechtung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Mitbürger im Deutschen Reich vorausgegangen - gewiß auch eine radikale Reaktion auf die mit der Durchsetzung des modernen Verfassungsstaates westlichen Musters in Deutschland 1918/19 zum Abschluß gebrachte Emanzipation und auch weitgehende Assimilierung der deutschen Jüdinnen und Juden. An genau dieser Stelle setzt die vorliegende Studie ein, denn infolge von Kriegsniederlage und Revolution nahm der öffentlich propagierte Antisemitismus an Intensität deutlich zu t. Unter schwerpunktmäßiger Behandlung der zwölf Jahre des totalitär organisierten2, bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung über starken Rückhalt verfugenden NSStaates ist das Verhältnis einer von ihrem Flächen- und Mitgliederbestand her betrachtet großen lutherischen Volkskirche3, der hannoverschen Landeskirche, zum in der Weimarer Zeit verbreiteten und nach 1933 zur offiziellen Politik gewordenen Antisemitismus4 sowie schließlich zu der sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus den in der NS-Zeit verübten Verbrechen, aber auch aus dem 1 Vgl. z.B. H.A. Strauss, Antisemitismus, 18, der zudem hinsichtlich der Stellung der Juden in Deutschland die Zeit von 1919 bis 1945 als "eine in sich zusammenhängende Epoche" bezeichnet. Ebd. 2 Zur Definition vgl. z.B. R. Löwenthal, Widerstand im totalen Staat, II. Er spricht von "Parteimonopol, Organisationsmonopol und Informationsmonopol"; I. Kershaw, NS-Staat, 45-5 I ; 65-70. Klassisch H. Arendt, Elemente; vgl. insgesamt auch H. Buchheim, Totalitäre Hemchaft; W. Schlangen, Totalitarismus-Theorie; Totalitarismus und Faschismus. C. Kleßmann, Zwei Diktaturen, 603 f. plädiert fiir die begrenzte Verwendung des Begriffs zur Beschreibung "der Grundbedingungen und Funktionsmechanismen eines Systems", ohne allerdings Fragen nach den Handlungsmöglichkeiten und dem Verhalten von Personen und Einzelnen aus dem Blick zu verlieren. 3 Nach W.R. Röhrbein, Gleichschaltung, II im Jahr 1933 mit ca. 2,5 Mio. Mitgliedern die drittgrößte der 28 evangelischen Landeskirchen im Reichsgebiet 4 Vgl. auch H.-U. Thamer, Protestantismus, 216: "Wie sich die Deutschen zur Verfolgung, Vertreibung und schließlich auch Vernichtung der deutschen Juden durch das nationalsozialistische Regime verhalten haben, bleibt eine wichtige und bedrängende Frage für Geschichtswissenschaft und öffentliches Geschichtsbewußtsein."

2 Lindemann

18

Einführung

Handeln der Kirchenleitung wie der Pastorenschaft und der Gemeindeglieder konkret ergebenden Schuldfrages zu untersuchen. Ungefähr zeitgleich mit dem Beginn der zweiten, wesentlich erfolgreicheren Demokratie in den Westzonen Deutschlands - und damit auch in Niedersachsen - endet die Darstellung. Der Untersuchungsgegenstand erstreckt sich folglich nicht auf einen bestimmten Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, sondern versucht die Jahre der NSZeit in einen größeren Rahmen einzuordnen. Damit wird vermieden, die Jahre der Diktatur herausgelöst aus ihrem historischen Umfeld zu betrachten, so als wären sie eine Art "Betriebsunfall" gewesen. Die vorliegende Studie zeigt nämlich, daß nahezu alle Fragen, die diese Zeit aufwarf, zuvor schon einmal begegnet und auch nach der Kapitulation des "Dritten Reiches"- keine Stunde Null6, aber, wie zu sehen sein wird, für die Opfer des Regimes im Raum der Kirche auch nur äußerlich eine Befreiung- wieder anzutreffen sind. Dabei werden neben Kontinuitäten allerdings auch Diskontinuitäten zu Tage kommen7 • Die zu beschreibenden Probleme lassen sich selbstverständlich nur schildern, insoweit Quellenmaterial vorhanden ist, das die Entwicklungen widerspiegelt und eine zuverlässige Darstellung zuläßt. Weil der deutschen Judenheit nur eine stabile Demokratie eine gesicherte und möglichst gleichberechtigte gesellschaftliche Stellung garantieren konnte, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, wie die in Hannover kirchlich Verantwortlichen unter Einschluß der breiten kirchlichen Mehrheit, repräsentiert durch die Lutherische Vereinigung, zur Weimarer Demokratie standen. Als Grundlage für diese Untersuchung werden die maßgeblichen hannoverschen kirchlichen Presseerzeugnisse, das "Hannoversche Sonntagsblatt" und die "Evangelische Wahrheit", dienen8. Beide Blätter wurden redigiert von Männern, die sich zugleich in der führenden hannoverschen Kirchenpartei, der Lutherischen Vereinigung, engagierten. Daran soll sich die Frage nach der kirchlichen Stellung zur Völkischen Bewegung und der aus ihr hervorgehenden bzw. sie dominierenden NSDAP9, dem schärfsten Gegner der Demokratie wie auch der Juden, anschließen. Hieraus ergeben sich als weitere Aspekte die kirchliche Haltung zum Judentum wie auch zum Antisemitismus. Es wird deutlich, daß die kirchlich Verantwortlichen bereits in den zwanziger Jahren ihr spezielles Augenmerk auf die Verteidigung des seitens der Völkischen scharf angegriffenen Alten Testaments wie auch der Judenmission zu richten hatten, die aus rassistischer Perspektive ebenfalls in Frage gestellt wurde. Daneben werden auch einige Stimmen der Wort-Gottes-Theologie laut, so vor allem das "Mutige Christentum", ein Organ des Stolzenauer Laienchristen Georg Sinn und des Pastors Hermann Ubbelohde, wie auch die Position des Osnabrüks Vgl. insgesamt auch E. Herms, Schuld.

Zu diesem Begriff vgl. G. Mai, Kontinuität, 231 f. Zur Kontinuitätstheorie in der deutschen Geschichte vgl. kritisch T. Nipperdey, 1933, passim. 8 Vgl. zu dieser Thematik die Dissertationen von I. Amdt, Judenfrage und W. Altmann, Judenfrage. Letzterer behandelt allerdings nur überregionale Blätter, auch die "Evangelische Wahrheit" findet keine Berücksichtigung. · 9 V gl. auch das Postulat E. Hennigs fiir eine differenzierte Erforschung der Frühgeschichte der NSDAP in den einzelnen Regionen des Reiches. Ders., Regionale Unterschiede. 6

7

I. Fragestellung, Vorgehensweise und Methode der Arbeit

19

ker Ffarrers Richard Karwehl. Insbesondere die Person Ubbelohde wird uns in mehreren Stationen dieser Arbeit immer wieder begegnen. In eine defensive Haltung gedrängt war die hannoversche Kirchenleitung auch hinsichtlich der- zu dem Zeitpunkt noch- drei im Bereich der Landeskirche wirkenden Pastoren jüdischer Herkunft 10 Bruno Benfey, Rudolf Gurland und Paul Leo. Hier sind einerseits die Pfarrstellenbesetzungsverfahren in Göttingen (Benfey), einer frühen Hochburg der NSDAP, und Meine bei Gifhom (Gurland) zu beleuchten, andererseits ist die Frage zu stellen, welche Theologie und kirchenpolitischen Positionen diese drei Pastoren vertraten. Waren sie auch in dieser Hinsicht Außenseiter? Aber nicht nur potentielle Opfer waren im Hannoverschen tätig. Mit Ludwig Münchmeyer betreute in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ein Pastor die lutherische Kirchengemeinde Borkum, der sich bald als ein massiver Parteigänger der völkischen Gruppen entpuppen sollte und sein geistliches Amt vehement in seine politische Betätigung miteinbezog. Neben einer eingehenden Schilderung dieses Falles unter Einbeziehung auch der theologischen Beweggründe des kämpferischen Inselgeistlichen ist die Reaktion der Kirchenleitung von besonderem Interesse; dies vor allem, weil der Aufstieg der NSDAP- jedenfalls aus der Weimarer Perspektive der zwanzigerJahre-noch in weiter Feme lag und taktische Rücksichtnahmen als Motiv fiir kirchliches Wohlwollen gegenüber dem völkischen Pfarrer nicht in Betracht kommen können. Die meisten der fiir die Weimarer Zeit behandelten Probleme 11 greift der bei weitem umfangreichste Teil der Arbeit wieder auf. Nach einer Skizzierung der Grundzüge der nationalsozialistischen Judenpolitik in den Jahren 1933 bis 1945 und der wesentlichen Linien der Entwicklung in der hannoverschen Landeskirche wendet sich die Darstellung zunächst den Pfarrern und Gemeindegliedern zu, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von den staatlichen Maßnahmen direkt betroffen waren. Hier gilt es, soweit das jeweils möglich ist, den Weg der Pastoren Benfey, Gurland, Leo und Gustav Oehlert, zuvor Kurhessen-Waldeck, von der Übertragung der politischen Macht an die Nationalsozialisten bis hin zu ihrem erzwungenen Rücktritt vom aktiven Pfarrdienst in den einstweiligen Ruhestand in dem Beziehungsgeflecht von Kirchengemeinde, Kirchenkreis, Kirchenleitung, Staat und Partei nachzuzeichnen. Der Kandidat Otto Schwannecke, Gifhom, ebenfalls jüdischer Herkunft, erhielt trotzerfolgreich abgeschlossener Vikarsausbildung keine Anstellung in der Landeskirche. Zur besseren Einordnung des kirchenleitenden Handeins in diesen Fällen werden zwei Ruhestandsversetzungen in der Braunschweiger Nachbarkirche mit 10 In der Folge soll der Begriff ,Nichtarier'- mit Ausnahme von Zitaten- vermieden werden, weil dieser Terminus in spezifischer Weise durch die NS-Ideologie geprägt wurde. J.-C. Kaiser, Protestantismus, 675, Anm. 5 nimmt zwar eine Begriffsproblematisierung vor und entscheidet sich mit guten Gründen gegen die Bezeichnung ,,Judenchristen". Allerdings verwendet er im folgenden fiir die in Rede stehende Personengruppe den Begriff ,Nichtarier'. II Damit ist das von K. Nowak, Protestantismus, 572 im Anschluß an L. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft, I 0 f. erhobene Postulat aufgenommen, das Verhältnis des Protestantismus zur "Judenfrage" unter kontroverstheologischen, ekklesiologischen und gesellschaftlichpolitischen Aspekten zu betrachten.

2*

20

Einführung

herangezogen - von besonderem Interesse schon deshalb, weil der Entfernung aus dem Pfarramt eine Verordnung zugrundelag, die mit dem 1937 in Hannover erlassenen und de facto einem ,Arierparagraphen' gleichkommenden Text 12 nahezu identisch war. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Braunschweiger Pastor Alfred Goetze um den einzigen bislang bekannten Geistlichen, der sich mit dem ihm widerfahrenen Schicksal nicht zufrieden gab und ein ordentliches Gericht anrief1 3. Insbesondere fiir die Zeit nach der Reichspogromnacht 193 8 ist auch die Frage der kirchlichen Stellung sämtlicher Gemeindeglieder jüdischer Herkunft von Gewicht. Die Arbeit wendet sich damit auch einer Gruppe zu, die die allgemeingeschichtliche Holocaust- bzw. Shoahforschung bislang nur marginal behandelt hat, da sie sich im wesentlichen auf die Judenheit als religiöses oder auch soziales Phänomen beschränkte 14; zudem bietet sie einen weiteren konkreten Beitrag zu der bislang ebenfalls weitgehend vernachlässigten Nachzeichnung der Situation christlich-jüdischer Familien im NS-Staat 15 , denn bei der ausruhrliehen Behandlung der Schicksale Benfeys und Gurlands kommen auch deren Ehepartnerinnen und Kinder in den Blick. Mit dem NS-Regime in Konflikt gerieten auch Pastoren, die in Verkündigung oder Unterricht die NS-Rassenideologie, das Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung und Politik16, kritisch behandelten oder Infragestellungen von ihnen wichtig erscheinenden und nach ihrer Auffassung nicht aufgehbaren Partien des christlichen Glaubens durch die braunen Machthaber und ihre Gefolgsleute vor Ort nicht hinnehmen wollten. Ein besonderes Augenmerk ist auf das Ergehen des Stader Pastors Johann Gerhard Bebrens zu richten, zum einen weil dieser Fall über den Bereich der Landeskirche hinaus einen hohen Grad an Publizität erreichte, zum anderen weil hier die Kirchenleitung einen Anlaß zum personalpolitischen Eingreifen sah. Als weitere Schwerpunkte dieses Abschnittes sind die Frage nach der Rolle der sogenannten ,Judenfrage' in kirchenpolitischen 17 Strategien wie Auseinandersetzungen - gedacht ist hier vor allem an die Unterzeichnung der "Grundsätze" durch Hannovers Landesbischof August Marahrens -, kirchliche Reaktionen aufkonkrete antijüdische Verfolgungsmaßnahmen des Regimes wie die Boykottaktion am 1. April 1933, die "Nürnberger Gesetze" 1935, die Pogromnacht 1938 oder die Deportation in die Vernichtungslager des Ostens seit 1941142 und wiederum der Zwang zur kirchlichen Apologetik in Feldern wie Altes Testament oder Judenmission anzusehen. Die einzelnen Partien dieses von der Zeit des NSStaates handelnden Teiles stellen auch die Positionen unterschiedlicher GruppieVgl. auch I. Mager, Marahrens, 149. Den "Fall Goetze" behandeln auch E. Röhm/J. Thierfelder, Juden, Bd. 3/I, 316-340. Allerdings bleiben hier die breiten Aktenbestände aus dem LKA Braunschweig unberücksichtigt. 14 Darauf weist bereits M. Schreiber, Friedrich Justus Perels, 20 hin. Seit 1989 ist hier, abgesehen von dem allerdings noch nicht vollständig erschienenen Werk von E. Röhm/J. Thierfelder, Juden und der regionalgeschichtlichen Darstellung von S. Lekebusch, Not keine große Änderung eingetreten. 15 Vgl. hierzu U. Büttner, Not der Juden. 16 So auch G. Bock, Gleichheit und Differenz, insbes. 310. 17 Zur Begriffsklärung vgl. J. Mehlhausen, Kirchenpolitik, insbes. 280-282. 12

IJ

I. Fragestellung, Vorgehensweise und Methode der Arbeit

21

rungen, Verbände und Werke wie Bekenntnisgemeinschaft, Osnabrücker Kreis bzw. Hannoversche Pfarrbruderschaft, Deutsche Christen, Innere Mission und Hannoverscher Pfarrerverein integrativ dar. Mit Hilfe der in den lokalen Archiven gefundenen Materialien war es auch möglich, ein Stück "Alltagsgeschichte"l8 nachzuzeichnen und einerseits nach Hinnahme und Unterstützung der NS-Politik zu fragen, andererseits Möglichkeiten kritischen oder gar widerständigen Verhaltens aufzuzeigenl9. Die Behandlung der Auswirkungen eines Kernpunktes der NS-Ideologie auf den lokalen Bereich vermeidet von vornherein die Gefahr, das Bild einer normalen, von der großen Politik völlig unbelasteten Kleinidylle zu entwerfen2o. Eine Analyse des kirchlichen Umgangs mit dem vom nationalsozialistischen Deutschland verantworteten millionenfachen Mord an den Juden leitet den sich mit den Jahren unter der britischen Besatzungsherrschaft befassenden letzten Teil der Arbeit ein. An diesen theoretischen Abschnitt schließt sich die Frage an, ob es der Landeskirche gelang, an den aus dem Amt entfernten Pastoren jüdischer Herkunft und dem nach Ostfriesland versetzten Johann Gerhard Bebrens konkrete Wiedergutmachung zu leisten. Dies leitet zu der Frage nach dem Umgang mit den überlebenden Christen jüdischer Herkunft in ihrer Gesamtheit über, wobei auch der Neubeginn der Judenmission und ihre Begründungsversuche darzustellen sind. In diesem Teil gilt es besonders, Kontinuitäten und Diskontinuitäten herauszuarbeiten. Aus dem soeben Entfalteten wird deutlich, daß der BegriffLandeskirche nicht auf die Kirchenleitung an sich reduziert wird, sondern alle Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen umfaßt, die im Bereich der Territorialkirche Hannover lebten und als Handelnde in Erscheinung traten. So wird vermieden, die Diskussion über die Stellung der Landeskirche zur Politik und zu den Verbrechen des NSStaates einseitig auf die Rolle des Landesbischofs August Marahrens zu reduzieren2 1• Zugleich entspricht diese Vorgehensweise dem von der allgemeinen Historiographie zum NS-Staat weitgehend verfolgten Grundsatz, sich nicht ausschließlich auf die Entscheidungsträger zu konzentrieren, andererseits sucht sie die Gefahr zu vermeiden, über dem historischen Detail, dem Mikrokosmos, die übergreifenden Strukturen und Herrschaftsmechanismen aus dem Blick zu verlieren22 . 18 Vgl. auch P. Steinbach, Neue Wege; F.-J. Brüggemeier/J. Kocka (Hgg.), "Geschichte von unten"; Alltagsgeschichte der NS-Zeit; H. Gerstenberger/D. Schrnidt (Hgg.), Normalität; P. Borscheid, Alltagsgeschichte. Der zuletzt genannten Arbeit zufolge (aaO., 82 f.; 85 f.) entstand diese Richtung aufgrund der defizitären Erfahrung einer reinen Strukturgeschichte vor allem Bietefelder Provenienz. Deutlich alltagsgeschichtlich orientiert sind auch die von M. Broszat/E. Fröhlich/F. Wiesemann (Hgg.), Bayern vorgelegten Ergebnisse des "Bayern-Projektes". Zu der Fragestellung insgesamt vgl. den Literaturüberblick bei R. Sessel, Living with the Nazis. 19 Vgl. auch D.J.K. Peukert, Volksgenossen, 22. 20 Ähnlich auch I. Kershaw, NS-Staat, 317. Eine kritisch gehaltene Lokalstudie fertigte am Beispiel der niedersächsischen Kleinstadt Northeim erstmals W.S. Allen, "Das haben wir nicht gewollt!" an. Zu dieser Problematik vgl. auch D.J.K. Peukert, Alltag. 21 Vgl. dazu G. Lindemann, Marahrens, insbes. 406. 22 Vgl. B. Faulenbach, NS-Interpretationen, 29.

22

Einführung

Die Darstellung behandelt jeden der drei berührten Geschiehtsahschnitte gesondert, innerhalb der Hauptkapitel geht sie systematisch nach Themenschwerpunkten vor. Die Erörterung der einzelnen Sachfragen erfolgt allerdings in chronologischer Form, schon weil eine erzählerische und auch die Gedanken der Beteiligten nachzeichnende Darstellung die beste Möglichkeit bietet, die Rekonstruktion des historischen Verlaufs, auf der die abschließenden Ergebnisse und das sich aus ihnen ergebende historisch-theologische Urteilletztendlich beruhen, auch nachvollziehbar und verifizierbar erscheinen zu lassen. Dabei finden, sofern vom Erkenntnisinteresse der Arbeit her erforderlich, auch sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte23 ihre Berücksichtigung. Zugleich ordnet sich die Arbeit in das von der Forschung herausgearbeitete Verständnis von Regionalgeschichte24 ein, das die Region, auch unter Berücksichtigung ihrer Dimension als Feld sozialer Spannungen, der allgemeinen Geschichte zuordnet und die dort entwickelten Frage- und Problemstellungen mit Blick auf das Territorium konkretisiert2S. Neben der historischen hat die vorliegende Arbeit- schon bestimmt durch ihren Gegenstand26 - zugleich auch eine theologische Dimension. Diese erschließt sich schon aus dem Selbstverständnis der hannoverschen Landeskirche und der überwiegenden Mehrheit der handelnden Personen, die sich als Christen verstanden27 und auf das Evangelium hörten, nach ihm zu leben versuchten oder sich bisweilen ihm auch verschlossen28 und auf Gottes Zukunft hofften29. Neben der Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses an sich - Gemeinschaft der auf das zum Dienst am Nächsten befreiende Wort der Versöhnung in Christus hörenden begnadigten Sünder- impliziert die Themenstellung auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christen- und Judentum und der spezifischen Rolle des Antijudaismus wie auch das ethische Problem des Verhaltens gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern und Verfolgten. Nicht ohne Bedeutung ist hier, soweit es die Quellen hergeben, mögliche christliche Motivationen3° für 23 Vgl. z.B. U. Raulfr (Hg.), Mentalitäten-Geschichte; V. Sellin, Mentalitäten. Die z.B. von C. Vollnhals vertretene Forderung: "Eine moderne Kirchengeschichte kann[ ... ] nur als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte betrieben werden" (ders., Kirchliche Zeitgeschichte nach 1945, 184) führt zu einer Perspektivenverengung. 24 Zur Entwicklung der Landesgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert vgl. P. Steinbach, Diskussion, 185-188. 2s Vgl. E. Hinrichs, Regionale Sozialgeschichte, 6; K. Düwell, Geschichte. P. Steinbach, Diskussion, 208 spricht von einer "Korrektivwissenschaft", deren Aufgabe darin bestehe, ,,allgemeine historische Entwicklungen und allgemeine Geltung beanspruchende wissenschaftliche Behauptungen zu überprüfen und auf ihre Durchschlagskraft bis in die unteren Ebenen des menschlichen Zusammenlebens hinein zu verfolgen." Zur NS-Zeit vgl. den Forschungsüberblick A. Wirsching, Nationalsozialismus in der Region. 26 Vgl. insgesamt auch G. Besier/H.G. Ulrich, Aufgabe, hier insbes. 171. 27 V gl. dazu Besier/Ulrich, aaO., 172: "Kirchliche Zeitgeschichte nimmt sie [scil. die Christen, mit denen sie sich beschäftigt] vielmehr aus dem gemeinschaftlichen Gottesverhältnis als die Menschen wahr, die mit uns von Gott berufen sind und die vor uns beteten ,Herr erbarme dich'." AaO., 172. 28 Vgl. auch B. Jaspert, Hermeneutik, I 02, der Kirchengeschichte als "Wissenschaft von der Erfahrung der Kirche in der Welt" definiert. 29 Vgl. auch G . Besier!H.G. Ulrich, Aufgabe, 177 f. 30 Vgl. auch in Anlehnung an die Arbeiten von Ernst WolfL. Siegele-Wenschkewitz, Ethik, !55 f.

I. Fragestellung, Vorgehensweise und Methode der Arbeit

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ein Resistenzverhalten zu erhellen und umgekehrt den Einfluß aufzuzeigen, den theologische Traditionen bzw. ihre Mißdeutungen oder ekklesiologische Leitvorstellungen auf kirchliche Anpassungsleistungen wie Hilflosigkeiten gegenüber dem Zeitgeist31 wie auch den Forderungen von Staat und Gesellschaft ausübten32. Dementsprechend wird es möglich, für den heutigen Zeitgenossen oft Unverständliches zu erklären33, ohne damit aber in Rechtfertigungsversuche zu verfallen. Weder um Apologie noch Gericht über die Väter und Mütter im Glauben sollte es dem Kirchenhistoriker gehen. Der Sinn seiner Unternehmung - sofern sich von einem solchen überhaupt reden läßt- sollte darin liegen, allen Beteiligten am historischen Geschehen eine größtmögliche Gerechtigkeit zukommen zu lassen34 . Des weiteren geht es darum, mit einer der methodisch reflektierten Kritik verpflichteten wie dem Ethos der Wahrhaftigkeit möglichst nahekommenden Historiographie zu einem Glaubwürdigkeitsgewinn von Kirche und Theologie beizutragen und dem Leser zur Bereicherung seines für die Begegnung mit zukünftigen Herausforderungen unentbehrlichen Erfahrungsschatzes35 zu verhelfen- das die Historie Bestimmende kann auch Gegenwart sein36 •

31 Vgl. auch G. Ebeling, Heiliger Geist, 188: "Die Forderung der Zeitgemäßheit war das verführerisch zwingende Argument, dem es im Kirchenkampf der dreißiger Jahre zu widerstehen galt." Ein in solcher Weise "angepaßtes sogenanntes ,zeitgemäßes Christentum"' bleibe "der Zeit das Entscheidende schuldig", fügt Ebeling hinzu. Vgl. aaO., 188 f.; vgl. auch aaO., 204. Die Anpassung oder auch Mutlosigkeit gegenüber dem Zeitgeist konfrontiert Ebeling mit der den Christen befreienden Gewißheit der Verheißung Gottes und dem Geist Gottes, der den Christen im Moment seiner Kraftlosigkeit unterstützt. V gl. ebd. 32 Anders ausgedrückt: "Für die kirchliche Zeitgeschichte ist das die Zeiten Bestimmende in der Verkündigung der Kirche, in ihrem ausgesprochenen Glauben, in der Hoffnung, im Bekenntnis zu suchen. Dieses Bestimmende in seiner ganzen politischen Erscheinung läßt das andere Bestimmende sehen: das, was die Zeiten nicht von Gottes Zukunft, sondern von der Verfiihrbarkeit des Menschen geprägt sein läßt". G. Besier!H.G. Ulrich, Aufgabe, 172. Vgl. auch aaO., 178. Vgl. auch B. Jaspert, Hermeneutik, I 05, der "die Geschichte des Irrtums und der Gewalt" als einen Aspekt der Kirchengeschichte ansieht. 33 "Die Zeiten in ihrem Profil wahrzunehmen, dieses Profil zu entdecken - das ist bereits die Aufgabe der Zeitgeschichte und nicht erst die weitere Verwendung des gewonnenen historischen Wissens." G. Besier/H.G. Ulrich, Aufgabe, 172. Vgl. auch aaO., 175-181. 34 F. W. Graf, Kulturluthertum, 34 postuliert, allerdings hier mit klarem kulturtheologischem Eigeninteresse, ein ",demokratischere[s]' Forschungskonzept [ . .. ], d.h. [ ... ]eine[.] Methodologie, die auch die vielen ,vergessenen Theologen' wahrzunehmen vermag, nicht nur Geschichte der vermeintlichen Sieger schreibt" . 3s Vgl. auch K. Scholder, Schwierigkeit, 8: ,,Zu warnen ist zunächst vor der Hoffnung oder Erwartung, aus der Geschichte der Kirche in dieser Zeit, aus ihren Fehlern wie aus ihren richtigen Entscheidungen unmittelbare Anweisungen für die Gegenwart zu erhalten. [ ... ] Was wir gewinnen, wenn wir wirklich lernen wollen, ist vor allem eine Erweiterung unserer Lebens- und unserer Glaubenserfahrung." Zum Aspekt der Erfahrung in der kirchengeschichtlichen Hermeneutik vgl. auch B. Jaspert, Hermeneutik, I 06. Um die Intention zukünftiger Schuldvermeidung geht es E. Herms, Schuld, 364 f. Zum gegenseitigen Bezug der zeitlichen Dimensionen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, II . Ein wenig modifiziert bei W.J. Mommsen, Perspektivengebundenheit, 347. 36 Formuliert in Anlehnung an G. Besier!H.G. Ulrich, Aufgabe, 176. Zum Verhältnis der drei Zeitdimensionen vgl. auch R. Koselleck, Anmerkungen, 18.

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Einführung

Der hier verfolgte Ansatz integrativer37 und multiperspektivischer Historiographie sucht "Einseitigkeiten" zu vermeiden, denen im übrigen auch eine Schwerpunktsetzung bei der sozialgeschichtlichen Fragestellung zwangsläufig unterliegen muß. So dürfte auf eine sozialgeschichtliche Christentumsgeschichtsschreibung, die meist von Allgemeinhistorikern betrieben wird und neuerdings auf große Liebe auch auf seiten der Großkirchen stößt, nunmehr zum Teil ebenso ein Kritikpunkt zutreffen, der in den achtziger Jahren gegenüber einer romantisierenden Sozialgeschichte erhoben wurde, der es vor allem darum ging, vergangeneo Lebenswelten nachzuspüren; sie steht in Gefahr der Entpolitisierung, indem sie auf die Frage nach Machtkämpfen, Machteroberung und Machtausübung weitgehend verzichtet und somit eine wesentliche Dimension menschlichen Zusammenlebens ausklammert38.

II. Forschungsstand und Quellenlage Ausgangspunkt dervorliegenden Studie ist eine von Jörg Thierfelder betreute und angeregte Seminararbeit des Verfassers, die sich auf die NS-Zeit beschränkte und vor allem bis dahin unpubliziertes und von der Forschung zum großen Teil noch nicht erschlossenes Aktenmaterial aus einigen Beständen des Landeskirchlichen Archivs Hannoverund des Evangelischen Zentralarchivs Berlin auswertete39• Manche Unsicherheiten im historisch-theologischen Urteil machten es erforderlich, den zeitlichen Bezugsralunen auszudehnen und eine deutliche Ausweitung des Quellenmaterials vorzunehmen. So wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, bei den zentralen Fällen Münchmeyer, Gurland, Benfey und Bebrens die Bestände der Kirchenkreis- und Pfarrgemeindearchive auszuwerten- Versuche fiir Osnabrück (Paul Leo) und Rinteln (Gustav Oehlert) scheiterten, da das einschlägige Aktenmaterial aus der NS-Zeit dort nicht mehr bzw. äußerst lückenhaft überliefert ist. Dieser Rückgriff auf die regionale und lokale Ebene4o, den sogenannten "Kirchenkampf vor 37 Als integrativ läßt sich auch die hier gewählte Vergehensweise zur Beschreibung der Geschichte der Christen jüdischer Herkunft in ihren Wechselbeziehungen zur allgemeinen Kirchen- und Gesellschaftsgeschichte bezeichnen. Vgl. dazu A. Herzig, Juden, 108. 38 Hieraufweist C. Zimmermann, Dorfund Land, 107 f. hin. 39 Vgl. G. Lindemann, Stellung. Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die entsprechenden Abschnitte der Darstellung von E. Röhm/J. Thierfelder, Juden auf diese Hausarbeit Bezug nehmen, wobei z.T. auch Ergebnisse bzw. Interpretationen der Texte in wörtlicher Anlehnung bis Übereinstimmung ohne direkten Beleg des jeweils verwendeten Zitats übernommen wurden. Vgl. dazu z.B. unten, 414, Anm. 804. 40 V gl. hierzu auch H.- W. Krumwiede, Sammelanzeige, 214. V gl. auch K. Nowak, Protestantischer Widerstand, dem es allerdings vorrangig darum geht, kritischen und gewiß auch zuweilen einseitigen regional- und ortskirchengeschichtlichen Darstellungen Gegenbeispiele gegenüberzustellen. Für die Stadt Hannover unternahm diese Erweiterung der Materialbasis bereits D. Schmiechen-Ackermann, Nazifizierung. Allerdings unterscheidet der Verfasser letztendlich noch zu wenig zwischen der Haltung von Pfarrern und der Gemeinden. So differenziert er zwischen "bekenntnismäßig geprägten" und ,,neutralen" Gemeinden, macht seine Urteile aber zumeist nur an der Einstellung der jeweils amtierenden Pastoren fest. Vgl. aaO., 116.

II. Forschungsstand und Quellenlage

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Ort"4I, erwies sich nicht nur deshalb als lohnend, weil die Akten des Landeskirchenamtes Hannover und der landesbischöflichen Kanzlei 1943 nahezu vollständig verbrannten42 und sich somit diese Lücke in bezugaufdie behandelten Personalfälle doch halbwegs schließen läßt. Zugleich ergibt sich auf diese Weise die Möglichkeit, mit dem Blick auf die Superintendenturebene die Interessen und Verantwortlichkeiten hinsichtlich der gefällten Entscheidungen besser erhellen zu können und zugleich durch die Berücksichtigung der Aktenlage in den Kirchengemeinden auch die Perspektive der Betroffenen selbst in den Blick zu bekommen43 . Solange sie ein Pfarramt versahen, waren sie auch zur Aktenführung verpflichtet; von RudolfGurland liegt zusätzlich ein tagebuchähnlicher Bericht vor, der noch in der NS-Zeit niedergeschrieben wurde44 • Somit wird ein Perspektivenwechsel von der nationalsozialistischen "Unrechtshandlung auf die Unrechtserfahrung"45 und sich daraus ergebende Reaktionen möglich. Auch die landeskirchliche Korrespondenz mit der reichskirchlichen Ebene läßt sich durch Berücksichtigung der Aktenüberlieferung der einzelnen Dienststellen der DEK, vor allem der Kirchenkanzlei, soweit erhalten geblieben46, ausschnittsweise rekonstruieren. Dies ist auf der staatlichen Ebene nur begrenzt möglich. Die im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover befindlichen Akten des Oberpräsidenten für Vgl. K. Meier, Historiographie, 91. Vgl. H. Otte (Bearb.), Übersicht, 11. Auf die notwendige Perspektivenerweiterung "von der Unrechtshandlung auf die Unrechtserfahrung" weist auch D. Blasius, Rechtsvertrauen, 122 hin; so auch B. Herlemann/K.-L. Sommer, Widerstand, 251; auch G. v. Norden, Zehn Thesen, 444. Vgl. auch das von L. Siegele-Wenschkewitz, Ethik, 165 vertretene Postulat, auch "die Quellen und Lebenszeugnisse derer [in den Blick zu nehmen], die das Regime ausgrenzte und verfolgte, die keinen Platz innerhalb der deutschen Volksgemeinschaft haben sollten." Weiter fuhrt die Verfassetin aus: "Es ginge darum, aus den Quellen die Wirkungen des politischen, auch des kirchenpolitischen Handeins ebenso wie der theologischen Theoriebildung auf die zu untersuchen, die zu Feinden des nationalsozialistischen Deutschlands erklärt und zu Opfern des Regimes gemacht wurden. Diese Quellen sprechen von der Erfahrung psychischer wie physischer Gewalt, von Entrechtung und Diskriminierung, also von Erfahrungen, die die Mehrheitsgesellschaft eher verdrängte und nicht wahrhaben wollte. Die Quellen, die die Lebenssituation der Opfer während der nationalsozialistischen Zeit beleuchten, lassen nach der Ethik detjenigen fragen, die diese Lebenssituation zu verantworten hatten oder sie wenigstens entstehen ließen oder sie gar mit vorgeblich guten Gründen herbeigefuhrt haben." Ebd. 44 Vgl. R. Gurland, Chronik meines Erlebens in Meine 1930-1939 (aufgezeichnet im Jahre 1939 nach dem Terminkalender), 2 Bde., KGA Meine, V 41. Vgl. dazu die Briefe Gurlands an Sohn HansHeinrich vom 1.10.1939: ,,Auch ich arbeite viel am Schreibtisch und schreibe die Chronik in Meine von 1930 an fiir die neun oder fast zehn Jahre meines dortigen Wirkens. Aber nicht nur amtlich, auch persönlich, mein ganzes Erleben in jenen harten Jahren kommt zum Ausdruck und zur Darstellung"; 1.11 .1939: "Die Geschichte meiner Erfahrungen und Erlebnisse in Meine habe ich beendet, es sind mit der Schreibmaschine 250 Seiten geworden" und 14.11.1939: "Meine Chronik der letzten zehn Jahre meines Amtslebens habe ich beendet. Es war eine größere Arbeit, nur fiir den Familienbedarf zugeschnitten" . Alle Briefe PA H.-H. Gurland. Diese Quelle ist insbesondere auch deshalb besonders wertvoll, weil persönliche Aufzeichnungen der Opfer des NS-Regimes nur in Einzelflillen überliefert sind. Vgl. U. Büttner, Bevölkerung, 70; so auch D. Garbe, Ausgrenzung, 202. 45 So D. Blasius, Tod, 129. D. Garbe, Ausgrenzung, 189 weist daraufhin, daß die Konzentration der Forschung auf den Widerstandsaspekt dazu fiihrte, daß "der die NS-Zeit weit mehr repräsentierende Bereich der Verfolgung und die Erforschung seiner Handlungsträger von nachgeordneter Bedeutung [blieb]." 46 Zum EZA Berlin vgl. C. Stache, Zentralarchiv, passim. 41

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Einführung

die Provinz Hannover sind zum Teil durch Kriegseinwirkungen bzw. Folgeschäden, aber wohl auch durch gezielte Vernichtung belastender Materialien47 so lükkenhaft, daß sie nur wenig direkte Informationen zu unserer Fragestellung bieten. Gleiches gilt für die im ehemaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR Potsdamjetzt im Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde -lagernden Akten des Reichskirchenministeriums, wo gewiß auch Eingriffe der Sowjetischen Besatzungsmacht und der SED wie des Ministeriums für Staatssicherheit eine nicht unbeträchtliche Rolle spielten4s, und Materialien auf lokalpolitischer Ebene49. Eine Ausnahme bilden allerdings der "Fall Behrens", wozu im Stader Staatsarchiv Polizei- und Gerichtsakten vorliegen, und der "Fall Münchmeyer", wo die Überlieferung auf Regierungsbezirks- und Justizebene50 sowie der preußischen Regierungsakten, ergänzt durch einige erhalten gebliebene Vorgänge aus dem Schriftgut der Reichsbehörden, als ausgesprochen gut zti bezeichnen ist. Nicht zuletzt bietet zusätzlich auch eine breite Presseüberlieferung die Möglichkeit, die Vorgänge auf der Insel Borkum detailliert nachzuzeichnensl. Zum Ergehen Bruno Benfeys sind im ehemaligen Berlin Document Centers2 Schriftstücke aus der Parteikorrespondenz sowie aus den Beständen der GestapoS3 überliefert. Trotz aller Bestandsverluste bilden die Akten des Landeskirchlichen Archivs Hannover eine wichtige Grundlage fiir diese Untersuchung. Besondere Berücksichtigung fand die von Eberhard K.lügel zusammengestellte Kirchenkampf47 Ein am 16.2.1945 ergangener Runderlaß des Reichswirtschaftsministeriums hatte verfügt, Aktenvorgänge über antijüdische Maßnahmen zu vernichten, sofern es nicht mehr möglich war, sie fortzuschaffen. Vgl. J. Walk (Hg.), Sonderrecht, 406. Grundlage fiir die Aktenvernichtungen war auch ein am 12.10.1944 an die Reichsverteidigungskommissare ergangener Erlaß des Reichsinnenministers betr. "Verhalten der Behörden bei Feindbesetzung", der die Vernichtung zahlreicher geheimer und politischer Akten verfügte. Vgl. Vorwort Joseph König in: H. Engfer (Hg.), Bistum, 1. Auch H.-G. Gutmann, Gifhom, der die Gifhom betreffenden Vorgänge der Aktenüberlieferung des Lüneburger Regierungspräsidenten akribisch ausgewertet hat, vermerkt das Verschwinden belastender Dokumente aus den staatlichen Archivbeständen. Vgl. aaO., 68. Ebenso bezeichnet R. Hilberg, Tendenzen, 72 die staatliche Überlieferung, hier konkret bezogen auf die Bestände des Bundesarchivs in Koblenz, als äußerst lükkenhaft: "Vieles wurde schon vor dem 8. Mai 1945 in Bornbenangriffen oder von den Nazis verbrannt." 48 Vgl. auch die Bemerkung in: Dokumente, Bd. III, XVI f., Anrn. 14. Dort wird damufverwiesen, daß es immer noch an einer zuverlässigen Findkartei zu diesem Bestand mangelt. Weitere 47 Archivalieneinheiten des RKM befinden sich noch im Sonderarchiv in Moskau. Auf eine Anfrage, ob sich hinsichtlich seines Forschungsvorhabens noch weiteres Material angefunden hätte, erhielt der Verfasser mit Schreiben vorn 3.2.1994 (Bundesarchiv, Abteilungen Potsdarn, Frau Pfullrnann) eine verneinende Auskunft. 49 Z.B. wurden die Gifhomer Parteiakten am I0.4.1945 einen Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner auf dem Hof des Rathauses der ostniedersächsischen Kreisstadt verbrannt. Vgl. H.-G. Gutrnann, Gifhom, 116. W. Struve gelangt fiir das südniedersächsische Osterode zu der Erkenntnis, die archivalische Überlieferung bezüglich des Schicksals von NS-Verfolgten sei sehr dünn. Vgl. ders., Zeugen, 287. so Vgl. dazu auch Schreiben Reichsminister der Justiz, im Auftrag Mielke, an Oberstaatsanwalt beim Landgericht Aurich durch den Generalstaatsanwalt beim OLG Celle vorn 8.7.1938, in dem darum gebeten wurde, die "geschichtlich wertvoll[en]" Akten um "das ,Borkurn-Lied' und den völkischen Kampf des Pfarrers Münchrneyer" unbedingt aufzubewahren. Abschrift im Nds. StA Aurich, Rep 109, C Nr. 38, Vol. I, BI. 48. Zum Niedersächsischen Staatsarchiv Aurich vgl. auch W. Deeters, Archive, 162-164; F.W. Rogge, Quellenlage, 5. st Eine Anfrage bei der politischen Gemeindeverwaltung Borkurn nach dort vorhandenem Aktenmaterial blieb allerdings ergebnislos. s2 Vgl. hierzu D.G. Marwell, Berlin Document Center (BDC). SJ Vgl. zu diesem Genre P. Steinbach, Repressionsakten.

II. Forschungsstand und Quellenlage

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dokumentations4, in deren Akten sich zum Teil wesentliche Einzelvorgänge befinden, neben Deposita der Bekenntnisgemeinschaft, des Landesvereins für Innere Mission und des Hannoverschen Pfarrvereins und Nachlässen von Einzelpersonen, die in manchen Fällen die exaktere Rekonstruktion von kirchenpolitischen Entscheidungsfällen ermöglichtenss. Versagt wurde dem Verfasser die Benutzung der im LKA Hannover verwahrten Tagebücher des Personaldezernenten Karl Stalmanns6, die mit Sicherheit weitere wichtige Hinweise für die Rekonstruktion der Ruhestandsversetzung und der Frage der Rehabilitierung der Pastoren jüdischer Herkunft hätten geben können. Die unter Berufung auf den ausdrücklichen Wunsch der Familie Stalmann getroffene Entscheidung des Kirchensenats der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, die Bücher der wissenschaftlichen Auswertung nicht zugänglich zu machen, ist umso verwunderlicher, als Hans Otte, zugleich Direktor des Landeskirchlichen Archivs Hannover, das entsprechende Material für eine eigene Publikation zu einer anderen Themenstellung einsehen und auch auswerten durfte57. Nur eingeschränkt benutzbar war die Aktenüberlieferung des hannoverschen Kirchensenatsss. Vorwiegend auf der Kirchenkampfdokumentation wie auch auf Akten aus dem DEK-Bereich beruht der 1964 erschienene von Eberhard Klügel unternommene Versuch einer Gesamtdarstellung zum hannoverschen Kirchenkampf59, ergänzt durch einen ein Jahr später publizierten Qellenband6o. Das von Kurt Meier als "vorzügliche Apologie der [ ... ] Persönlichkeit des Landesbischofs Marahrens" bezeichnete Opus61 - historiographisch ein Einbruch in das bis dahin von der bruderrätlichen BK Dahlemer Richtung bestimmte Forschungsmonopol zum

Zur Entstehung vgl. H. Otte, Zeitgeschichte, 549. Vgl. z.B. das Gesetz vom 6.3.1937, unten, 473 f. 56 LKA Hannover, N 64, Nr. 30, Bd. I-IV. 57 Vgl. H. Otte, Loyalität, 324, Anm. 138. Dort ohne Angabe der Signatur als "Tagebuch Kar! Stalmann (Privatbesitz)" gekennzeichnet. Vgl. insgesamt Schreiben Präsident LKA Hannover, i.V. Dr. Linnenbrink, an Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier, damals Berlin, vom 19.8.1991: "Da sich das Landeskirchliche Archiv bei der Übernahme der Tagebücher Stalmanns verpflichtete, diese fiir jede Einsichtnahme durch Benutzer zu sperren, gibt es keine Möglichkeit, Herrn Lindemann die Bücher zugänglich zu machen. Es wird darin eine so große Zahl noch lebender Personen erwähnt, daß ich fiir den entsprechenden Wunsch der Familie auch Verständnis habe." Registratur Besier, Akte Dissertationen. 58 Vgl. ebd. 59 V gl. E. Klügel, Landeskirche. Zur Entstehung und Beurteilung vgl. H. Otte, Zeitgeschichte, 547554. Zur Situation der Landeskirche im NS-Staat vgl. auch die knappen Überblicke bei Inge Mager, Art. Hannover I, in: TRE, Bd. 14, 428-438; hier: 435; auch Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 66-68. 60 Vgl. E. Klügel, Landeskirche. Dokumente. 61 So K. Meier, Kirchenkampf, Bd. I, 604 (Anm. 1332). Ähnlich auch bereits ders., Kirchenkampf im Dritten Reich, 126. Das hannoversche LKA hatte Klügel am 29.6.1950 perKollegbeschluß mit der Abfassung des Buches beauftragt; der Kirchensenat modifizierte 1954 diesen Beschluß. Vgl. H. Otte, Zeitgeschichte, 548; 549 f. Als "Verteidigungsschrift" charakterisiert bei B. Herlemann/K.-L. Sommer, Widerstand, 265. Zur kirchenpolitischen Funktion des mit einem dessen Inhalt stark würdigenden Vorwort des damaligen Landesbischofs Hanns Lilje versehenen Bandes vgl. G. Lindemann, Marahrens, 398 f. K. Kupisch, Rezension, 434 spricht von "eine[r] offiziöse[n] Darstellung". V gl. auch W. Niemöller, Corrigenda, 595, der zudem die mangelhafte Auswertung der BK-Akten durch Klügel moniert. 54 55

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Einführung

Kirchenkampf62 - bietet viel Informationen und Material, ist aber bestimmt durch die Perspektive der in Hannover der Kirchenleitung nahestehenden Bekenntnisgemeinschaft63 und durch den Versuch, Verständnis fiir das Verhalten des hannoverschen Landesbischofs zu wecken64. Klügels Darstellung geht auf die in der hier vorliegenden Studie behandelte Thematik nur in einem Anhang ein. In diesem sehr knapp gehaltenen Abschnitt wird auf die juristische Grundlegung fiir die Versetzung der Pastoren jüdischer Herkunft nicht hingewiesen und beispielsweise im Fall Benfey die Gegnerschaft des Kirchenvorstandes nicht erwähnt, d.h. Rücksicht auf lokale Gegebenheiten genommen65 . Daß Klügel auch in anderen Bereichen ergänzungs- und korrekturbedürftig ist, zeigt der von Gerhard Besier vorgelegte Aufsatz "Der Prozeß [ ... ]''66. Zudem weist die von Klügel verwendete Terminologie auf ein von antidemokratischen Ressentiments geprägtes, im deutschnationalenGedankengutverhaftetes und dem Geist der NS-Ideologie nicht fernstehendes Politikverständnis hin. So belegt Klügel die Jahre der Weimarer Demokratie mit dem deutschnationalen Begriff "sog. Systernzeit"67 und spricht von einem "Aufbrechen der völkischen Freiheitsbewegung" in den zwanziger Jahren6s. Der von Hans-Walter Krumwiede gegebene Überblick in seiner Gesamtdarstellung zur Kirchengeschichte Niedersachsens beruht überwiegend auf einer Rezeption der Ausruhrungen Klügels. Die Stellung der Landeskirche zur Judenverfolgung findet knappe Berücksichtigung, die im Hinblick auf das kirchenleitende Handeln allerdings eher apologetischen Zielvorgaben folgt69.

62 V gl. K. Meier, Kirchenkampf im Dritten Reich, 126. V gl. aber auch W. Conrad, Kampf, 13, der von einem "heroischen und letzten Ende doch erfolgreichen Widerstand[.] [ ... ],den die christlichen Kirchen gegen den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus geleistet haben", spricht. Scharfe Kritik an der BK-Geschichtsschreibung übte bereits F. Baumgärtel, Kirchenkampf-Legenden. Erste auf methodischer Reflexion beruhende Selbstkritik der BK auch bei K.D. Schmidt, Fragen. Zur Erforschung der Geschichte der Kirche im NS-Staat vgl. ders., Probleme; H. Brunotte, Zehn Jahre; ders., "Neues über den Kirchenkampf'; J. Schmidt, Erforschung; K. Meier, Kirchenkampf im Dritten Reich; ders., Historiographie; ders., Kirchenkampfgeschichtsschreibung; ders., Neuere Konzeptionen; V. Conzemius, Kirchenkampfgeschichtsschreibung; H.-W. Krumwiede, Sammelanzeige; R.P. Ericksen/S. Heschel, Churches; auch C. Vollnhals, Kirchliche Zeitgeschichte; K. Meier, Literatur. Zu Niedersachsen vgl. auch H. Otte, Kirchliche Zeitgeschichte; allgemein B. Herlemann!K.-L. Sommer, Widerstand; zur Entwicklung in der hannoverschen Landeskirche aaü., 264-267. 63 Die Bekenntnisgemeinschaft ließ denn auch die Darstellung Klügels ihren Mitgliedern zukommen. Vgl. H. Otte, Bischof im Zwielicht, 216. 64 V gl. auch D. Schmiechen-Ackermann, Nazifizierung, 131; J. Schmidt, Erforschung, 83. 65 Vgl. E. Klügel, Landeskirche, 491-499; zu Benfey vgl. aaü., 494. Zu Klügels Darstellungsweise dieser Problematik vgl. auch die kritischen Bemerkungen bei B. Herlemann!K.-L. Sommer, Widerstand, 265 f. Die Namen Benfey, Bebrens und Leo erwähnt auch knapp Heimatgeschichtlicher Wegweiser, Bd. 2, 16 (Benfey); 102 (Behrens); Bd. 3: 167 (Leo). 66 Vgl. G. Besier, Prozeß. 67 E. Klügel, Landeskirche, 5.

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Aaü., 9.

So fehlt z.B. bei der kurzen Darstellung des "Falles" Bebrens aus Stade (vgl. unten, Teil2.3, K.) ein Hinweis auf das ambivalente Verhalten von Superintendent, Landeskirchenamt und Landesbischof. Vgl. H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte, 563; 572-574. 69

II. Forschungsstand und Quellenlage

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Hillard Delbanco hat 1988 eine Studie zum Kirchenkampf in Ostfriesland vorgelegt, in der allerdings aufgrund des fehlenden Archivmaterials auf die kirchliche Haltung zur Judenverfolgung nicht eingegangen wird70. Mit der Stellung der Bekennenden Kirche zum Judentum7 1 befaßt sich die Darstellung von Wolfgang Gerlach72. Da die erst 1987 publizierte Dissertation73 bereits 1970 abgeschlossen wurde, arbeitete Gerlach in die gedruckte Fassung zwar die aktuelle Literatur ein, neue Quellen wurden allerdings kaum gesichtet. Zum Fall Benfey, auf den Gerlach eingeht, fehlte ihm das Material des Landeskirchlichen Archivs Hannover und des Kirchenkreisarchivs Göttingen74 . Der Name Gurland wird von ihm nur einmal am Rande erwähnt. Zudem bleibt festzustellen, daß die allgemeine Historie bislang nur wenig Interesse für das Ergehen der Christen jüdischer Herkunft im NS-Staat gezeigt hat7 5 . Über die Geschichte der hannoverschen Landeskirche in der Weimarer Republik existiert bislang keine Gesamtdarstellung76. Wegen dieser Forschungslücke ergibt sich die Notwendigkeit, die Stellung der Landeskirche zur Weimarer Demokratie aufgrund eigenständiger Quellenarbeit nachzuzeichnen. Im Blick auf die hier geschilderten Einzelschicksale läßt sich festhalten, daß zu den Fällen Münchmeyer, Behrens, Benfey, Leo und Oehlert bereits kleinere Arbeiten publiziert sind. Die Ereignisse auf Borkum behandelt Udo Beer, der sich allerdings eher mit der juristischen Seite der Angelegenheit befaßt und kirchliche Materialien- darunter auch die beiden Urteile des Landeskirchengerichts - wie auch die ihm damals allerdings noch schwer zugänglichen, in Merseburg und Potsdam lagernden Akten der höheren Staatsstellen nicht berücksichtigt77 • Zu Johann Gerhard Bebrens liegt eine von Hans-Jürgen Döseher präsentierte, mit einem knappen Kommentar versehene Quellensammlung vor78 . Hinzu kommt ein Aufsatz von Sigrid-Regina Koch, der sich auf die NS-Kirchenpolitik konzentriert- allerdings war es der Verfasserin noch nicht möglich, den Gesamtbestand der in den Vgl. H. Delbanco, Kirchenkampf, 14. Zur weiteren Forschungslage vgl. den Literaturbericht von K. Meier, Judenfrage, insbes. 241254. Allgemeinhistorisch vgl. H.A. Strauss, Antisemitismusforschung. Zu den Beziehungen zwischen Kirche und Judentum bis zu Stoeckers Zeiten vgl. W. Maurer, Kirche. n W. Gerlach, Zeugen. 73 Kirchenpolitische Bedenken verhinderten den Druck dieser Arbeit. Vgl. aaO., 9. Vgl. zu derbei Gerlach behandelten Gesamtthematik zuvor bereits R. Gutteridge, Mouth, der für die hier behandelten Fragen über Klügel und Gerlach und dort verarbeitetes bzw. dokumentiertes Material nicht hinausgeht. Vgl. auch O.L. Elias, Kirchenkampf; K. Meier, Kirche und Judentum; E. Busch, Juden. 74 Auch berücksichtigt Gerlach die Ursachen des Konflikts zwischen Benfey und Runte nur unzureichend. Vgl. aaO., 210. 75 Dazu u.a. auch K. Nowak, Stigma, 73; auch 81. Auch in den USA war zumindest bis 1990 das Schicksal der Christenjüdischer Herkunft ein Tabuthema. Vgl. R. Hilberg, Tendenzen, 75. 76 Vgl. aber die kürzeren Beiträge von H. Otte, Landeskirche und Laienbewegung; ders., Loyalität; H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte, v.a. 418-421. 77 Vgl. U. Beer, Priester. Zur Quellenverwertung vgl. aaO., 153. Vgl. auch ders., Protection. Ein kurzer Hinweis aufMünchmeyer auch bei J.R.C. Wright, Parteien, 172 f.; auch bei K. Nowak. Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 305, wo es zu Münchmeyers pfarramtlicher Tätigkeit knapp heißt, daß er "wegen moralischer Vergehen aus der lutherischen Landeskirche Hannovers ausgestoßen worden war." 78 Vgl. H.J. Döscher, "Fall Behrens". 1o

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Einführung

Stader kirchlichen Archiven lagemden Quellen einzusehen79. Zusätzlich zur bisherigen Forschung wird in der hier zu verfolgenden Untersuchung auch die Personalakte Bebrens ausgewertet und auf einige Briefe von Behrens' Ehefrau Johanna zurückgegriffen, die sich im Familienbesitz befinden. In Anknüpfung an Döseher sind auch Bebrens' Stader Kollegen Starcke und Ubbelohde stärker in die Betrachtung miteinzubeziehen. So wird deutlich, daß die Zahl von drei entschiedenen BK-Pastoren in Stade und deren Aktivität das Toleranzvermögen der NS-Größen überstieg und an Bebrens ein Exempel mit abschreckender Wirkung statuiert werden sollte. Die mehrbändige Darstellung über "Juden - Christen - Deutsche" von Eberhard Röhrn und Jörg Thierfelder behandelt in einem Kapitel auch die vorläufig letzten Göttinger Jahre von Bruno Benfey. Diese Studieso erschließt allerdings kaum das umfangreiche Aktenmaterial aus dem Göttinger Kreiskirchenarchiv, so daß auch an dieser Stelle noch ein deutlicher Erkenntnisfortschritt möglich ist. Analoges gilt fiir die von den beiden Autoren behandelten weiteren Personalfälle aus dem Bereich der hannoverschen Landeskirche. Hans Christian Brandy, persönlicher Referent von Hannovers Landesbischof Horst Hirschler, befaßt sich in einem Aufsatz mit den "Fällen" Leo und OehlertBl. Der Beitrag konzentriert sich somit auf das Ergehen derjenigen Pfarrer jüdischer Herkunft82, in denen besonders nach 1945 das problematische Verhalten der hannoverschen Kirchenleitung nicht so eklatant zutage tritt, wie das bei Benfey und Gurland der Fall war. Allerdings gesteht Brandy zunächst selber zu, daß seine Darstellung "kein Gesamturteil begründen" kann83. Dennoch gelangt er an einer früheren Stelle seiner Studie zu einer dezidierten Wertung über die Ereignisse nach 1945 84: "Wie gegenüber Oehlert hat die Landeskirche sich auch gegenüber Leo korrekt verhalten. " 85 Zu einem solchen Urteil kann Brandy nur kommen, indem er die beiden genannten "Fälle" isoliert behandeJt86.

Vgl. S.R. Koch, Kirchenpolitik, 267, Anm. 74. Vgl. E. Röhm/J. Thierfelder, Juden. 81 Vgl. H.C. Brandy, Oehlert. In diesem Zusammenhang wertete Brandy die 1987 dem Landeskirchlichen Archiv Hannover fiir den internen Dienstgebrauch als Belegexemplar übergebene Seminararbeit G. Lindemann, Stellung aus, ohne beim Verf. um eine entsprechende Genehmigung nachgesucht zu haben. 82 Dieses Vorgehen ist vermutlich angeregt durch den entsprechenden Hinweis bei G. Lindemann, Marahrens, 412, Anm. 92. 83 Vgl. H.C. Brandy, Oehlert, 426. 84 Vgl. dazu insgesamt unten, Teil3, IV. 8s H.C. Brandy, Oehlert, 425. Damit befindet sich Brandy im Widerspruch zu der von ihm geleisteten Quellenarbeit. Dort heißt es über die erste Kontaktaufnahme des LKA zu Paul Leo (vgl. unten, 820 f.): "Dieser Briefvom 31 . August 1946 war kurz und sachlich und enthielt- heute muß man sagen: leider - kein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung." AaO., 418. 86 G. Lindemann, Kirchenpolitik bleibt diesbezüglich unberücksichtigt. Darüber hinaus weist er die von mir, aaO., 96 vertretene Wertung: "Das fehlende Schuldeingeständnis, der in diesen Fällen verletzend wirkende kalte Ton der Konsistorialbürokratie schreckte Leo letztendlich ab, wieder nach Deutschland zu kommen" als "unzutreffend" zurück. Vgl. H.C. Brandy, Oehlert, 417; 425. Bemerkenswert ist zudem, daß gerade bei den von Brandy nicht behandelten "Fällen" Selbstzeugnisse der Betroffenen in großer Zahl vorhanden sind. 79 8o

III. Die demographische und soziale Lage von Juden und Christen

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Die meisten der nicht gerade zahlreichen Untersuchungen87 zur Geschichte der Juden in Niedersachsen oder einzelnen Gebieten- ein zusammenfassendes Werk über die Entwicklung Niedersachsens bzw. der Provinz Hannover im NS-Staat bleibt ohnehin ein dringendes DesideratBS - behandeln die Christen jüdischer Herkunft gar nicht oder nur ganz am Rande89. Mit der Nachkriegsentwicklung der hannoverschen Landeskirche befaßt sich die von Gerhard Besier vorgelegte Arbeit zur "Selbstreinigung" der Landeskirche im Rahmen der britischen Entnazifizierungspolitik90, verbunden mit Untersuchungen zum Rücktritt von Landesbischof Marahrens91 • Während zur Geschichte der jüdischen Überlebenden im Nachkriegsdeutschland bereits Studien vorliegen92, ist dieses Thema kirchengeschichtlich bislang nur in der Dissertation von Siegfried Herrnie mitbehandelt worden93. Zur Frage nach der kirchlichen Rehabilitierung von NS-Opfem gibt es bislang noch keine Veröffentlichung94 .

111. Die demographische und soziale Lage von Juden und Christen jüdischer Herkunft in Deutschland vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Anfangsjahre der NS-Diktatur unter besonderer Berücksichtigung Niedersachsens 1925 lebten im Gebiet des Deutschen Reiches 564.379 Glaubensjuden95, d.h.

0,9 % der Gesamtbevölkerung96 - rassische Kriterien besaßen in der Weimarer 87 Aufden "lückenhaft[en]" Forschungsstand weist G. Ferk, Judenverfolgung in Norddeutschland, 281 hin. Bei den bereits erschienenen Arbeiten ist auch bisweilen der wissenschaftliche Standard anzufragen. So gibt es bislang noch keine solchen Anforderungen genügende Gesamtdarstellung zur Geschichte der Juden im ostfriesischen Raum. Vgl. die Hinweise bei H. Reyer, Geschichte, 9. Dort auch Kritik an der Untersuchung von Z. Asaria, Geschichte. Vgl. Reyer, aaO ., 9. V gl. hierzu auch die kritische Besprechung von E.G. Lowenthal. 88 Vgl. F. Bajohr, Vorwort, 8. 89 Als vorbildlich dürfte allerdings die Dokumentation von U. Schäfer-Richter/J. Klein, Die jüdischen Bürger im Kreis Göttingen gelten, die erstmals fiir eine solche Auflistung in Niedersachsen auch die Christen und die Dissidenten jüdischer Herkunft als solche kennzeichnet. Der Band bietet Kurzbiographien aller als jüdisch geltender Einwohner der besagten Region. V gl. dagegen fiir Braunschweig die ältere Arbeit von I. Cuda!I. Erdmann, Namen, 152-228, die Christenjüdischer Herkunft nicht aufführen. Mit Christen verheiratete Juden sind hingegen spezifiziert. N. Heutger, Juden behandelt die Haltung der Kirche zu den Juden, rezipiert diesbezüglich für die NS-Zeit aber lediglich das Werk von Klügel. Vgl. aaO., 81-84. A. Marx, Geschichte, 210 orientiert äußerst knapp und nicht immer sachgerecht (die Grafschaft Schaumburg wird nicht der hannoverschen Landeskirche zugeordnet) über die Stellung der niedersächsischen Landeskirchen zur Judenverfolgung. 9° Zur Entnazifizierungspraxis der Kirchen vor allem in der US-Zone vgl. C. Vollnhals, Entnazifizierung und Selbstreinigung. 91 Vgl. G. Besier, "Selbstreinigung". 92 Vgl. W. Benz, Jüdisches Leben. 93 Vgl. S. Hennle, Kirche. 94 Auch G. Kretschmar, "Vergangenheitsbewältigung" berührt diesen Aspekt überhaupt nicht. 9S Vgl. E. Bennathan, Struktur, 87; auch W. Zorn, Sozialgeschichte, 913. 96 Vgl. E. Bennathan, Struktur, 87.

32

Einführung

Zeit keine Relevanz für statistische Erhebungen97. In den Ländern Harnburg (1,78 %) und Hessen (1,52 %)98 war ihr Anteil an der Einwohnerschaft am höchsten99. Überdurchschnittlich waren Juden zudem in den Regierungsbezirken Köln, Breslau, Mittelfranken und Unterfranken und recht hoch auch noch in Baden, Südostwestfalen, im nördlichen Teil der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen wie auch im pfalzischenRaum vertretenloo. Deutlich war eine Konzentration auf die GroßstädtelOI: Während 4,7 % der Einwohner von Frankfurt/Main jüdisch waren, wohnte gut ein Drittel aller im Reich lebenden Juden in der Hauptstadt Berlin 102. Dieser Prozeß sollte sich in den dreißiger Jahren weiter fortsetzenl03 . 1933 war die Zahl der in Deutschland lebenden Juden auf 499.682 zurückgegangen- ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 0,77 % 104 ; über 70% von ihnen lebten in Städtenlos-etwa 35.000 Jüdinnen und Juden waren in sogenannten "Mischehen" verheiratet106. · Lediglich in den Metropolen und in Bezirken mit stärkerer jüdischer Präsenz war für die nichtjüdische Bevölkerung ein Zusammenleben mit Juden erfahrbar - nur hier werden auch die späteren Verfolgungen der Juden in das breite Bewußtsein der Menschen eingedrungen sein 107 . In der Provinz Hannover mögen nach einer groben Schätzung 1933 mitsamt den assimilierten und getauften etwa 16.000 bis 17.000 Juden gelebt habenlOS: Besonders gering war der Anteil von Juden in den Regierungsbezirken Lüneburg und Stade 109. Nach dem Stand von 1925 110 betrug der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung in der Provinz Hannover 0,5 % im Reich belief er sich auf 0,9 %111. Die Ein-Prozent-Marke überschritt 1925 der Anteil von Juden lediglich in den Städten Emden (2,2), Göttingen Zur Methodik vgl. W. Köllmann, Bevölkerungsgeschichte (Lit.!). V gl. W. Zorn, Sozialgeschichte, 913. Zorn dürfte zu dieser Zahl durch Zusammenfugen der fiir den Regierungsbezirk Wiesbaden (2,32 %), den Regierungsbezirk Kassel (1,18 %) und das Land Hessen (1,25 %) relevanten Zahlen gelangt sein. Diese Angaben nach H. Boberach, Quellen, 39. 99 Vgl. W. Zorn, Sozialgeschichte, 913. wo Vgl. H. Boberach, Quellen, 39. IOI Bereits im Kaiserreich war eine Migration der Juden aus den ländlichen Gebieten und den Kleinstädten in die Metropolen zu verzeichnen, wobei die Zahl der Juden in Berlin besonders hoch war. Vgl. I. Elbogen/E. Sterling, Geschichte, 242; auch G. Seebaß, Antijudaismus, 17. Zu den Ursachen der jüdischen .,Landflucht" vgl. G.B. Ginzel, Alltag, 215 f. I02 Vgl. W. Zorn, Sozialgeschichte, 913. Vgl. auch M. Richarz (Hg.), Leben, 17; G. Alexander, Entwicklung. 103 Vgl. H. Boberach, Quellen, 39; G.B. Ginzel, Alltag, 214. 104 Vgl. ebd. ws Vgl. I. Arndt/H. Boberach, Deutsches Reich, 24. 1o6 Vgl. U. Büttner, Not der Juden, 14. 101 Vgl. H. Boberach, Quellen, 39. 108 Vgl. B. Herlemann/K.-L. Sommer, Widerstand, 269. Dort in Anrn. 134 auch eine Übersicht über die unterschiedlichen Zahlenangaben. I 925 lebten in der Provinz Hannover I 4.895 Menschen jüdischen Glaubens. Vgl. F: Homeyer, Gestern, 108. 109 Vgl. B. Herlemann/K.-L. Sommer, Widerstand, 270. So auch H. Boberach, Quellen, 39. Vgl. auch die Zahlen fiir I 925 bei F. Homeyer, Gestern, I 08. V gl. auch A. Marx, Geschichte, 189. 11o Zu Zahlenangaben bis zum Ersten Weltkrieg vgl. aaO., 143. III Vgl. F. Homeyer, Gestern, 99; 8 . Herlemann, Bauer, 174. 97

98

111. Die demographische und soziale Lage von Juden und Christen

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(1,3), Hannover (1,3; darunter 20% Ostjuden!l2), Hitdesheim (1,0) und in den Kreisen Weener (1,1) und Norden (1,0)!13. 1933 waren nur noch 0,37% der Gesamteinwohnerzahl der Provinz Glaubensjudenll 4 • Auch im Hannoverschen war eine Konzentration der Juden auf die Städte zu verzeichnen!Is, so daß sich bereits in der Weimarer Zeit einige jüdische Landgemeinden auflösten 1!6. Zugleich war eine Intensivierung des jüdischen Assimilationsprozesses, d.h. der sozio-kulturellen Annäherung an die deutsche Gesellschaft! 17, und der gesellschaftlichen Integration zu beobachten, was sich insbesondere an der nochmaligen Steigerung der Zahl der zwischen Juden und Nichtjuden geschlossenen Ehen manifestierte!!8, aber auch in der zunehmenden Repräsentanz von Juden im Beamtenbereich bemerkbar machtel 19. Vor allem waren die Juden in akademischen oder sog. "freien" Berufen tätig. Ihre traditionelle Rolle im Handel wie auch im Kreditwesen war immer noch stark, der Anteil von Juden an höheren Positionen im Staatsdienst nahm zul2o, allerdings waren in der gesamten Weimarer Zeit nur zwei Glaubensjuden und drei von Juden abstammende Männer Reichsministerl21 -davon nur noch einer, nämlich Rudolf Hilferding (1928-1929), nach 1923; in den Ländern einschließlich Preußens gelangte in der Schlußdekade der Weimarer Republik kein Jude mehr in ein Regierungskabinettl22. Nur 15 Juden stiegen zu Spitzenreichsbeamten- bei einer Gesamtzahl von 500 - auf, auch in Preußen konnten sie gerade einmal 3 % der Führungspositionen in der staatlichen Verwaltung besetzen -jedoch brachte es kein Jude zum Landrat, Regierungs- oder gar Oberpräsidenten 123. Auch die po-

Diese Angabe nach K. Mlynek, Hannover, 459. Vgl. dazu auch A. Marx, Geschichte, 189. Vgl. insgesamt die statistische Aufstellung bei F. Horneyer, Gestern, 106 f. Im Gegensatz zu Horneyer nennt H. Reyer, Judenverfolgung, 14 auch die Städte Aurich (6,5 %) (so auch D. v. Reeken, Ostfriesland, 40), Dornurn (7,3 %) und die Insel Norderney (1,6 %). 11 4 Vgl. die Übersicht bei I. Arndt/H. Boberach, Deutsches Reich, 24. 11s 1921 lebten 73% aller in der Provinz wohnenden Juden in den Städten. Vgl. A. Marx, Geschichte, 144. 116 84,7 %aller Juden der Provinz lebten in den Städten Celle, Emden, Göttingen, Goslar, Hameln, Hannover (dort in den 20er Jahren ca. 6.000 Juden; vgl. K. Mlynek, Hannover, 461 ), Hildesheirn, Lüneburg, Osnabtiick, Weserrnünde und Wilhelrnshaven, der Rest in Landgerneinden und weiteren Kleinstädten. Vgl. F. Horneyer, Gestern, 99. Vgl. auch B. Herlernann, Bauer, 175. 117 Vgl. R. Rürup, Geschichte, 88. Vgl. dazu auch A. Barkai, Juden. 118 Selbst 1933 waren 44% aller Ehen, an denen Juden beteiligt waren, sog. ,Mischehen'. Vgl. B. Blau, Mischehe, 46; auch H.G. Adler, Juden, 145; R. Rürup, Geschichte, 98. Im Kaiserreich war in den 80er Jahren die Zahl der Ehen zwischen Juden und Nichtjuden zurückgegangen, danach aber wieder kontinuierlich angestiegen. Vgl. O.D. Kulka/B.Z. Ophir, Leben, 23. In Hannover waren 1886 16%, 1900 51% (Kulka/Ophir, ebd. nennen 55%) und 1913 31% aller von Juden geschlossenen Ehen ,Mischehen'. Vgl. N. Heutger, Juden, 50. Vgl. auch R. Sabelleck, Leben, 298. 119 Vgl. T. Maurer, Juden, 120. 12o Vgl. W. Zorn, Sozialgeschichte, 913. 121 Es handelte sich um Preuß, Landsberg, Gradnauer, Rathenau und Hilferding. Vgl. K. Meier, Kirche und Judentum, 9. 122 Vgl. P. Pulzer, Anfang, 9. 123 Vgl. H.G. Adler, Juden, 148. 112 11 3

3 Lindemann

34

Einführung

litischen Parteien, vor allem das bürgerlich-konservative Lager, aber auch die KPD 124, nominierten im Verlauf der Jahre der Republik immer weniger jüdische Kandidaten für die Wahlen zu den parlamentarischen Körperschaften auf Reichsund Länderebenel25. Somit wird es sich wohl verbieten, von einem "überproportionalen Einfluß[.] der Juden in der Gesellschaft" zu sprechen126. Da für die nationalsozialistischen Ideologen Glaubensunterschiede nicht zählten, sei hier auch ein Blick auf die in Deutschland lebenden Christen jüdischer Herkunft geworfen, deren Zahl seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich zugenommen hatte- in den Jahren 1880 bis 1933 war es zu 19.469 jüdischen Konversionen zum Protestantismus s.ekommen 127. Dabei standen neben religiösen Beweggründen als Motive zum Obertritt die Hoffnung auf eine stärkere Integration in die Nation, verbunden mit einer Verbesserung der beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, und andererseits die fehlende Beheimatung in der jüdischen Religion im Vordergrundl28. Häufig ergab sich die Taufe auch als Folge der Heirat eines christlichen Ehepartnersl29. Zu berücksichtigen ist außerdem, daß im Königreich Hannover die Regierung Konversionen zum Christentum als überaus wünschenswert betrachtet und mit Kräften gefördert hattel3o. Während 1932 im Reich noch 241 Konversionen von Juden zum Protestantismus registriert wurden - durch die im Weimarer Staat erreichte formale Gleichberechtigung der Juden war die Taufe für den beruflichen Aufstieg nicht mehr so notwendig wie in früheren Zeiten131 -, stieg diese Zahl 1933 auf 933 an132• Bis 1939 wurdenjährlich an die 300 Übertritte von der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu evangelischen Landeskirchen gezähltl33. Die 1935 kursierende Angabe von 300.000 , Volljuden nichtjüdischen Glaubens' und 750.000 sogenannten Mischlingen beruhte aufkeinerlei seriöser statistischer Grundlage 134. Die Volkszählung vom 17. Mai 1939 ergab, daß im Stammgebiet des Deutschen Reiches 10.461 protestantische und 3.025 katholi-

124 1932 gehörte kein einziger Jude der KPD-Reichstagsfraktion an. Hingegen blieb der Anteil der Juden in den SPD-Fraktionen im Reichstag wie im Preußischen Landtag mit acht bis zehn Prozent bis 1933 ziemlich konstant. Vgl. T. Maurer, Juden, II 0. Mit der Übernahme der Parteileitung durch Thälmann sank auch der Anteil an jüdischen Führungsmitgliedern bei den deutschen Kommunisten. Bisweilen argumentierte die Partei in der politischen Tagespropaganda auch judenfeindlich, vor allem um das Lager derNSDAP zu schwächen. Vgl. W. Grab, Weg, 191. 12s Vgl. T. Maurer, Juden, 110; auch G. Seebaß, Antijudaismus, 22. 126 So noch K. Meier, Deutschland, 720 f. 121 Vgl. B. Blau, Juden, 272. 128 Vgl. A. Bein, Die Judenfrage, 255 f. N. Heutger, Juden, 26; 27 gelangt zu einer überaus negativen Wertung der Konversionen, ohne hier allerdings Belege anzubieten. 129 Vgl. J. Mehlhausen, Assimilation, 42. 130 Vgl. Z. Asaria, Geschichte, 56. 131 Vgl. T. Maurer, Juden, 119. 132 Vgl. B. Blau, Juden, 272. 133 Vgl. V. Barnett, Soul, 128. 134 Vgl. B. Blau, Christen, 272; auch ders., Juden, 271. Diese Zahlen finden sich auch noch bei K. Meier, Kirche und Judentum, 27; U. Büttner, Not der Juden, 14 (dort mit drei zeitgenössischen Belegen). KritischerE. Röhm/J. Thierfelder, Juden, Bd. I, 261. Die Zahlen dienten nach ihrer Auffassung der Warnung vor einer drohenden "Vennischungsgefahr". Ebd.

III. Die demographische und soziale Lage von Juden und Christen

35

sehe Christenjüdischer Herkunft lebten- bei insgesamt 233.646 , Volljuden'l35. Von den 52.005 ,Mischlingen ersten Grades' waren 31.622 evangelischer und 8.957 katholischer Konfession, nur 5.177 gehörten einer jüdischen Religionsgemeinschaft an. Noch stärker gestaltete sich der Anteil der Christen bei den 32.669 sogenannten "Mischlingen zweiten Grades": Von dieser Gruppe gehörten 23.377 einer evangelischen Kirche und 6.631 der katholischen Kirchean-gerade einmal 392 waren Glaubensjuden 136. Auch die insgesamt 84.690 Christen jüdischer Herkunft 137 lebten bevorzugt in den Landeshauptstädten, wobei knapp 30% in Berlin wohnten 138 ; es folgten Frankfurt und Köln. Die Stadt Hannover rangierte an neunter Stelle und zählte 1.395 Einwohner jüdischer Herkunft, die sich nicht zum Judentum bekannten139; die Zahl der Glaubensjuden betrug 2.214140. In der hannoverschen Landeskirche wird, wenn man die oben angeführten Zahlen berücksichtigt, die Zahl der Christen jüdischer Herkunft relativ gering gewesen sein. So traten in der Stadt Hannover 1930 neun Menschen mosaischen Glaubens zur christlichen Kirche über - 1931 waren es null - 1932 zwei Personen 141 • Bei den Quellenzitaten wurden in den meisten Fällen Orthographie wie auch Interpunktion den heute gültigen Regeln weitgehend angeglichen und offenkundige Versehen stillschweigend verbessert. Von dem Verfasser eingefügte Zusätze sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.

l3s Vgl. B. Blau, Christen, 274 f., so auch unter Bezugnahme aufBlau I. Arndt!H. Boberach, Deutsches Reich, 33. Die hiervon divergierenden Zahlen bei J.-C. Kaiser, Protestantismus, Diakonie, 681 stammen aus zweiter Hand und beruhen auf einer anscheinend fehlerhaften Übersetzung einer von B. Blau in den USA veröffentlichten englischsprachigen Studie. So geht Kaiser von lediglich 213.930 Juden aus und zählt nicht die sog. ,,Juden nichtjüdischen Glaubens" hinzu, sondern betrachtet diese Zahl bereits als Teil der Gesamtgröße "Giaubensjuden". Darüber hinaus schätzt Kaiser lediglich die Zahl der protestantischen Christenjüdischer Herkunft, anstatt die exakten und bei Blau, Christen, 275 genau aufgeführten Zahlen der Volkszählung zu konsultieren. Dieses Verfahren führt dazu, daß er zu einem absolut überhöhten Wert gelangt, indem er vermutet, daß lediglich eine geringe Zahl der Gezählten zu den Dissidenten gehörte. Tatsächlich waren es genau 30 % der sog. "Juden nichtjüdischen Glaubens"- nach Kaisers Schätzung noch nicht einmal5 %. Die Zahl der "Mischlinge" wird bei Kaiser nicht genannt. 136 Vgl. B. Blau, Christen, 275 f. 137 Vgl. aaO., 276. 138 40 % der "Volljuden", 31 % bzw. 26 % der beiden Gruppen von ,,Mischlingen", insgesamt 25.520. Vgl. aaO., 277. 139 Vgl. aaO., 278. 140 Hier stand Hannover an zehnter Stelle. Vgl. ders., Juden, 275. 141 Vgl. Verhandlungsbericht über die 5. ordentliche Versammlung des Stadtkirchentages Hannover am 15.6.1933, 9. LKA Hannover, S I, H III 203. Vgl. auch die Statistik, aaO., N 64, Nr. 6. Zwischen 1813 und 1876 ließen sich im Bereich der Landeskirche 726 Juden taufen. V gl. Kreuz-Zeitung vom 24.5.1894 (EZA Berlin, 7/3498). Insgesamt hatte es im 19. Jahrhundert in Deutschland 17.500 Judentaufen gegeben. Vgl. Kreuz-Zeitung vom 3.6.1899 (EZA Berlin, 7/3647).

3•

Teil 1: Judenfeindschaft und Antisemitismus in der Weimarer Republik und die hannoversche Landeskirche I. Allgemeine Voraussetzungen In diesem Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie die Landeskirche in der Weimarer Zeit zum Antisemitismus im allgemeinen und zu der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer antisemitischen Ideologie im besonderen stand. Da die Nationalsozialisten die Ablehnung der Weimarer Demokratie deutlich auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ist zunächst auf die Haltung der hannoverschen Landeskirche gegenüber der ersten Demokratie einzugehen. Nach der Beschäftigung mit landeskirchlichen Stimmen zur völkischen Bewegung- direkte Kontakte lassen sich nicht nachweisen - wird es darum gehen, darzustellen, wie man auf zwei Bereiche kirchlicher Überlieferung und Arbeit einging, die bereits in den zwanziger Jahren durch völkische Kreise heftiger Kritik ausgesetzt waren und die im NS-Staat mehr und mehr bekämpft werden sollten: Das Alte Testament und die Judenmission. Hieran dürfte sich die Frage nach der Stellung zum Judentum anschließen, der letztendlich die Aufzeichnung des kirchlichen Verhältnisses zum Antisemitismus folgt. Grundlage der Untersuchung werden Äußerungen kirchenleitender Personen und vor allem in den Kirchenblättern "Hannoversches Sonntagsblatt" und "Evangelische Wahrheit" publizierte Aufsätze und Artikel sein. Beide Blätter standen personell und inhaltlich der in Hannover führenden kirchenpolitischen und theologischen Richtung, repräsentiert durch die Lutherische Vereinigung 1, die später die Hannoversche Bekenntnisgemeinschaft dominieren sollte, recht nahe, ja die "Evangelische Wahrheit" fungierte sogar als offizielles Organ der stärksten hannoverschen Kirchenpartei2. Wie alle christlichen Wochenzeitungen dieses Gen-

1 Eine Mitgliederliste (Stand Dez. 1929) enthielt u.a. folgende, fiir die hier vorzunehmende Untersuchung relevante Namen: P. Baring, Göttingen, P. Behrens, Stade, P. Bode, Hannover, P. Bosse, Raddestorf, P. Büttner, Dorfinark, P. Crusius, Hannover-Linden, P. Dr. Depuhl, Hannover, P. Fehly, Hannover, OLKR Fleisch, Hannover, P. Gurland, Gödringen, P. Kruse, Borkum, Sup. Dr. Lueder, Göttingen, P. Dr. Mahrenholz, Groß-Lengden, Obersekretär Pfeiffer, Hannover, Lic. theol. Rengstorf, Tübingen, Sup. D. Schaaf, Potshausen, Freiherr von Schele, Schelenburg, Gen.sup. Schomerus, Aulieh, Sup. Spanuth, Burgwedel, P. Stalmann, Hannover, Gen.sup. Stisser, Hildesheim, P. Strecker, 01dendorf b. Melle, Sup. Sturnpenhausen, Neustadt Rübenberge, Gen.sup. Süßmann, Hannover, Konsistorialrat Wiebe, Göttingen, P. Wolff, Stephansstift Hannover. V gl. Mitglieder der Lutherischen Vereinigung, in: EvW, XXU3, Dez.-Nr. 1929,43-46. 2 Vgl. E. Rolffs, Kirchenkunde, 215; Kirchliche Rundschau (Abgeschl. 28.6.1921), in: EvW, XIV 19, Erste Juli-Nr. 1921,243 ff.; hier: 243.

arn

I. Allgemeine Voraussetzungen

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res wird auch das "Hannoversche Sonntagsblatt"J mit einer Auflage von 64.000 Stück4 neben einem Großteil der hannoverschen Pfarrhäuser5 vor allem kleinbürgerlich und agrarisch6 geprägte Schichten erreicht haben7, persönlich zumeist vom sozialen Abstieg bedrohte Gruppen der GesellschaftS. Bei den Sonntagsblättern9, die in der Weimarer Zeit intensiver als zuvor auf gesellschaftlich-politische Themen eingingenlo, handelte es sich um das stärkste Mittel des Protestantismus, um mit volksmissionarischem lmpetus11 auf die Öffentlichkeit einwirken zu könnenl2. Sie werden wohl mehr Leser gezählt haben als die Sonntagsgottesdienste KirchenbesucherB. Die "Evangelische Wahrheit" richtete sich hingegen von ihrem Selbstverständnis her als ein Blatt mit höherem theologischen Niveau an ein eher gebildetes Publikum 14. Die Schilderungen der "Fälle" der Pastorenjüdischer Herkunft Bruno Benfey, RudolfGurland und Paul Leo sowie des Borkumer antisemitischen Pfarrers Ludwig Münchmeyer werden das gewonnene Bild ergänzen bzw. abrunden.

3 1929lautete die Selbstvorstellung: "Ein Familienblatt zur Pflege christlichen Familienlebens. Ein Heimatblatt für Nachrichten aus der niedersächsischen Heimat und Landeskirche. Ein Blatt der Inneren Mission und der evangelischen Öffentlichkeitsarbeit. Vorzügliches Organ für Anzeigen aller Art ( ...]seit 1867". Zeitungsspiegel, 83, zit.n. K.-W. Bühler, Presse, 89. Die erste Ausgabe des Blattes erschien allerdings erst am 5.1.1868. Vgl. B. Ehrecke, Pressearbeit, 78. Zur Situation der evangelischen Presse in der Weimarer Republik vgl. auch G. Mehnert, Presse, 229-234. 4 Vgl. K.-W. Bühler, Presse, 89. Nach I. Arndt, Judenftage, 8 betrug die Auflage über 66.000 Exemplare. s V gl. C. Cordes, Pfarrer, 78. Vor allem die politischen Informationen und Wertungen wirkten auf viele Pastoren meinungsbildend. Vgl. ebd. 6 I. Arndt, Judenftage, 8 konstatiert, das "Hannoversche Sonntagsblatt" sei "besonders auf dem Lande verbreitet" gewesen. P. Fleisch, Kirchengeschichte, 49 weist auf die besondere Verbundenheit der Landbevölkerung mit dem "Hannoverschen Sonntagsblatt" hin. 7 V gl. generalisierend E. Beyreuther, Vorgeschichte, II. Beyreuther nimmt Bezug auf den Ertrag von I. Arndt, Judenftage. So auch B. Ehrecke, Pressearbeit, 73. Vgl. allgemein auch G. Seebaß, Antijudaismus, 23. Seebaß weist wie I. Arndt, Judenftage, 220 darauf hin, daß vor allem dieser Kreis starke Affinitäten zum Nationalsozialismus entwickeln sollte. Vgl. ebd.; auch G. Rau, Predigt, 37. I. Arndt, Judenftage, 221 konstatiert resümierend "eine starke Mitverantwortlichkeit- um nicht zu sagen Mitschuld- der evangelischen Publizistik an der Bereitung des Bodens, auf dem die nationalsozialistische Ideologie aufgehen konnte". s Vgl. G. Rau, Predigt, 37. 9 Zur üblichen Gliederung der maßgeblichen Sonntagsblätter vgl. I. Amdt, Judenftage, 6. 10 Vgl. K.-W. Bühler, Presse, 101; auch B. Ehrecke, Pressearbeit, 73. Insbesondere die ,,Zeitnachrichten", ein kommentierter Überblick über politisch-gesellschaftliche Entwicklungen der jeweils vergangenen Woche, konnten im Individualfall die eventuell fehlende regelmäßige Presselektüre ein Stück weit kompensieren. Vgl. C. Cordes, Pfarrer, 78. 11 Vgl. dazu für das "Sonntagsblatt" als Organ des "Evangelischen Vereins" H. Otte, Loyalität, 303. 12 Vgl. K.-W. Bühler, Presse, 89. 13 So I. Arndt, Machtübernahme, 15. 14 Vgl. P. Fleisch, Kirchengeschichte, 57. Vgl. auch B. Ehrecke, Pressearbeit, 100. Zum Gründungsprozeß der "Evangelischen Wahrheit" vgl. P. Fleisch, Kirchengeschichte, 57.

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Teilt: Judenfeindschaft und Antisemitismus

A. Die Weimarer Republik und der deutsche Protestantismus

Berücksichtigt man den besonderen Fragehorizont der hier zu verfolgenden Untersuchung, war die Weimarer Republik von folgenden zwei Grundkomponenten geprägt: Das - vor allem durch das landesherrliche Kirchenregiment repräsentierte- Bündnis zwischen Protestantismus und politischer Gewalt war dahin, während die neue Demokratie den bisherigen Außenseitern der Gesellschaft volle Partizipation gewährte. Hiervon profitierte auch das deutsche Judentum, das als Religionsgemeinschaft mit den christlichen Großkirchen nunmehr auch dahingehend gleichgestellt war, daß es ebenfalls als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts galt. Zudem brachte die Weimarer Republik der deutschen Judenheit die endgültige Emanzipation im politischen und staatsrechtlichen Sektor15 • Da es sich bei der neuen Republik um die Gründung durch eine Interessenkoalition des gemäßigten Teils der Arbeiterbewegung, des liberalen Bürgertums sowie des politischen Katholizismus 16 handelte, blieb der deutsche Protestantismus in weiten Teilen zunächst außen vort7 und nahm eher eine Beobachterfunktion ein. Ähnlich erging es dem bürger-und kleinbürgerlichen Mittelstand- dazu zählten Gewerbetreibende, Angestellte, die untere Beamtenschaft, Handwerker und freiberuflich Tätige. Man meinte, ohne eine direkte Lobby dazustehen, und befiirchtete, zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum und der Arbeiterbewegung zerrieben zu werden 1B. Neuere große Gesamtdarstellungen zur Geschichte Deutschlands in der Weimarer Zeit 19 haben es verstanden, ihr Urteil über den ersten Versuch einer parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden kurz und prägnant zu formulieren. Die so entstandenen Begriffsbildungen von der "gespalt~nen Gesellschaft" 20 , 1s Vgl. H.G. Adler, Juden, 140; T. Maurer, Juden, 109 f.; E.G. Reichmann, Lage, 187; M. Smid, Protestantismus, 41-45; P. Pulzer, Anfang, 8 f. Dort heißt es, diese Entwicklung "erschien wahrlich wie die Verwirklichung eines echten politischen Traums". AaO., 9. Im Kaiserreich war es Juden noch nicht bzw. kaum (so H.-G. Zmarzlik, Antisemitismus, 251 fiir den Bereich von Justiz und Hochschule; F. Stern, Last, 102) möglich gewesen, Positionen in der staatlichen Verwaltung wie im akademischen Bereich und höhere militärische Ränge zu bekleiden. Vgl. R. Rürup, Geschichte, 95; auch G. Seebaß, Antijudaismus, 17. F. Stern, Last, I 02 spricht von einer "stillschweigend[en Verbannung] von allen" politischen Macht- und Würdenpositionen. H.-G. Zmarzlik, Antisemitismus, 252 weist darauf hin, daß diese Restriktionen Polen und Sozialdemokraten noch in einem weitaus schärferen Ausmaß trafen und auch linksliberal eingestellte Personen kaum in staatliche Führungspositionen gelangten. 16 Vgl. dazu insgesamt K.-E. Lönne, Katholizismus. 1' Auf die politische Heimatlosigkeit des Protestantismus in der Weimarer Zeit weist auch T. Eschenburg, Demokratie, 58 hin. 18 Vgl. W. Jochmann, Funktion, 147 f. Vgl. zur Problemlage insgesamt auch R. Bessei/E.J. Feuchtwanger (Hgg.), Social Change. 19 Vgl. insgesamt auch die Forschungsberichte E. Kolb, Weimarer Republik, 147-231; E. Schulin, Weimar; G. Schulz, Die Weimarer Republik. Zu Biographien, Quellensammlungen und -editionen sowie zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung vgl. E. Kolb, Literaturbericht Zur Forschungssituation der achtziger Jahre bis 1987 vgl. E. Jesse, Weimarer Republik. zo H.A. Winkler, Weimar, insbes. Kap. 10.

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der "verspielten Freiheit"21 oder der rapiden Modernisierung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche22 schließen einander nicht aus, sondern lassen sich durchaus komplementär verwenden. Dabei ist man sich weitgehend einig, daß die Republik nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, ja in ihrer sogenannten "Stabilitätsphase"23 über die monarchistische Integrationsfigur Paul von Hindenburg auch fiir das bislang in Distanz, wenn nicht gar Gegnerschaft ihr gegenüberstehende konservative Lager, dem in seiner Breite auch der Protestantismus angehörte, an Akzeptanz gewann. Wie Heinrich August Winkler zeigt, gab es kaum Brücken zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen und Milieus. Abgesehen von wenigen Ausnahmen galt das auch für den Protestantismus, dessen Klientel zudem auch dem Modernisierungsprozeß vor allem im zivilisatorischen, kulturellen und ethischen Bereich distanziert gegenüberstand24 . In diesem Teil der Darstellung soll auch der Frage nachgegangen werden, wie sich der hannoversche Protestantismus zum- im übrigen längst nicht mehr homogenen- Judentum als einem der Träger der neuen politischen wie auch gesellschaftlichen Ordnung stellte. Denn nicht nur mit der so fremden Demokratie und den aus der Aufklärung stammenden westlichen Gnindwerten, auf denen sie beruhte, brachte man "die Juden" in Verbindung2s, sondern auch fiir die häufig beklagte "Zersetzung" aufsittlich-kulturellem Gebiet zeichnete das deutsche Judentum nach weit verbreiteter protestantischer Auffassung verantwortlich26.

B. Die deutsche Judenheit in der Weimarer Republik und der Antisemitismus27

Mit der Aufklärung und der allmählichen Auflösung des absolutistischen Ständestaates wurde die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden schrittweise aufgeH. Mommsen, Freiheit, passim. D.J.K. Peukert, Weimarer Republik. Vgl. dazu die an Peukerts Darstellung orientierte Dokumentation von P. Longerieb (Hg.), Die Erste Republik. Vgl. auch G.D. Feldman, Weimar Republic, der aufgrund ihres Scheiteros in wesentlichen Bereichen auf die letztendlich erfolgte Umkehrung der Modemisierungspolitik hinweist. 2J Zur Problematik dieses Begriffs vgl. den Abschnitt "Die scheinstabile Republik", in: G. Niedhart, Geschichte, 91-120; insbes. 113 f.; auch aaO., 13; vgl. auch E. Kolb, Weimarer Republik, 71 f., der von ••einer ,relativen Stabilisierung'" spricht, da eine ausreichende Konsolidierung, die auch Krisen standgehalten hätte, nicht gelungen war. 24 Vgl. hierzu auch K. Nowak, Entartete Gegenwart, insbes. I 09 f. M. Ley, Genozid, 160 schreibt: "Dieser rasanten Modemisierung von Wirtschaft, Technik, Bürokratie und den sozialen Strukturen standen traditionelle Wertvorstellungen und Verhaltensmuster gegenüber, die mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen nicht Schritt halten konnten." 25 Tatsächlich profitierten die Juden von der durch den Geist der Aufklärung geleiteten Emanzipation und einer liberalen Wirtschaftsordnung. Vgl. G. Seebaß, Antijudaismus, 13. 26 V gl. z.B. den Vortrag des Theologen Paul Althaus auf dem Königsherger Kirchentag 1927, in: H.-W. Krurnwiede, Kirche, 187-207; hier: 189; 199. 27 Dokumente zur Entwicklung des Antisemitismus bietet D. Claussen, Judenhaß. 21

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hoben. Die auf Integration28 in die Gesellschaft zielende Emanzipation der Juden versprachjuristische Gleichberechtigung und soziale Integration29. Bald nach seiner Gründung erlebte das deutsche Kaiserreich seine erste, auf mehrere Faktoren zurückzufUhrende Krise, die zu einer breiten, antiliberal und antimodem3o ausgerichteten Zivilisationskritik fiihrte, verbunden mit gegen gesellschaftliche Minderheiten gerichteten sozialen Aggressionen. Insbesondere die Juden, deren Emanzipation zeitgleich zur Entfaltung der Modeme verlaufen war31, galten als Hauptvertreter des angegriffenen liberalen Wirtschaftssystems32 und als Profiteure des rasanten Modernisierungsprozesses33 . Die breit vorgebrachte Liberalismuskritik der späten siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts fiihrte 1878/79 zu einer Kurskorrektur der Reichsinnenpolitik, die von judenfeindlicher Propaganda - bereits seit 187534 - begleitet war; vor allem der Historiker Heinrich von Treitschke35 und der Hofprediger Adolf Stoecker36 taten sich hier hervor37 • In diesem Zusammenhang entstand auch, woh11879, der Begriff "Antisemitismus"38. Diese vom Rasseprinzip ausgehende Richtung39 begründete sich säkular und reagierte nach eigenem Selbstverständnis auf die mit der Emanzipation der Juden sich ergebende neue Situation, die "neue Judenfrage"40. Zugleich profitierte sie aber auch von einer verbreiteten Abneigung gegen die Grundsätze der Französischen Revolution sowie den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus4 1. Die antisemitische Bewegung setzte sich vor allem aus Handwerkern, kleinen Gewerbetreibenden, wenigen Landwirten und Angehörigen der alten Herrschafts- und Bildungseliten zusammen -alles Gruppen, die ihren sozialen Status durch die gesellschaftlich-ökonomischen Veränderungen bedroht sahen. Unterstützt wurden sie durch ideologisch Engagierte nationalistischer, kulturpolitischer, antiliberaler und christlicher Provenienz42. Vor allem Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Houston Stewart Chamberlain43, WilV gl. auch J. Katz, Bedeutung. Vgl. R. Rürup, Geschichte, 83 f.; vgl. insgesamt ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien. Zum BegriffEmanzipation vgl. aaO., 126-132. 30 Zu dieser Komponente vgl. T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 135. 3l Vgl. aaO., 136. Vgl. zu diesem Sachverhalt auch die Untersuchungen von R. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien. 32 Vgl. ders., Geschichte, 91 f. 33 Vgl. H.A. Strauss, Antisemitismusforschung, 7. 34 Vgl. F. Stern, Last des Erfolgs, 100; auch T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 137. 3S Zu Treitschkes Antisemitismus und zum Antisemitismusstreit vgl. W. Boehlich (Hg.), Antisemitismusstreit; H. Graml, Reichskristallnacht, 65-69; H. Berding, Antisemitismus, 113-115; E. Röhm/ J. Thierfelder, Juden, Bd. I, 46; 49. 36 Zu Stoecker vgl. H. Engelmann, Kirche; G. Koch, Stoecker; G. Brakelmann u.a ., Protestantismus und Politik; M. Greschat, Protestantischer Antisemitismus; M. Braun, Stoecker; D. v. Oertzen, AdolfStoecker; E. Bethge, Stoecker. 37 Vgl. H.-G. Zmarzlik, Antisemitismus, 255. 38 V gl. T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 138. So auch H. Berding, Antisemitismus, 85. Vgl. insgesamt auch M. Zimmermann, Aufkommen; L. Poliakov, Geschichte. 39 Vgl. auch W. Röhr, Faschismus und Rassismus. Zur Stellung, 43-45. Vgl. insgesamt auch D. Claussen, Grenzen. 40 T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 142. 4 1 Vgl. aaO., 143. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. H. Greive, Geschichte, 72. 28 29

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heim Marr, Eugen Dühring und Adolf Wahrmund verschafften dem Antisemitismus eine theoretische Grundlage. Letztendlich forderten sie, die Juden als Schädlinge zu betrachten, und daraus folgernd ihre systematische Ermordung44 • Schon aufgrund der sich wieder stabilisierenden ökonomischen und politischen Situationflaute bis Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die antisemitische Hetze gegen die Juden45 zwar allmählich ab, fand aber eine Fortsetzung im verborgenen46. Bereits hier wurden zahlreiche judenfeindliche und antisemitische Motive entwickelt bzw. im Fall von antijüdischen Stereotypen christlichen Ursprunges47 aufgenommen, an die der Nationalsozialismus später leicht anknüpfen konnte48 . Der neue rassistische Ansatz49, der besagte, alles, was die als parasitär und minderwertig geltende jüdische Rasse hervorbringe, trage einen bösen Charakter- die Juden galten hier aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit als nicht assimilierbar50 -, ließ sich allerdings auch leicht auf das Christentum als Tochterreligion des Judentums übertragens'. Diese Grundstimmung, die die Gründung von judenfeindlichen Vereinen und erste Aufrufe zu Judenboykotten wie auch Badeorte, Pensionen und Hotels, die die Aufnahme von Juden verweigerten, mit einschloß52, führte 1893 zur Entstehung des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", der die uneingeschränkte Zugehörigkeit von Juden zur deutschen Nation proklamierte und praktische Aufklärungsarbeit und auch Rechtsschutz betrieb53. Im gleichen Jahr war es den parteipolitisch organisierten Antisemiten bei den Reichstagswahlen gelungen, 16 Mandate zu erlangen54 - allerdings glitt der Antisemitismus bald darauf in ein Sektendasein ab und radikalisierte sich nochmals 55. In Niedersachsen fanden die antisemitischen Parteien vor 1914 mit Ausnahme der an Hessen grenzenden südlichsten Gebiete zwar kaum Zuspruch, aber auch hier war fast überall ein latenter Antisemitismus zu spüren56.

44 V gl. H. Gram!, Genesis, 4 f . .4s Vgl. H.-G. Zmarzlik, Antisemitismus, 256. 46 V gl. auch N. Kampe, Studenten, 206, der zu dem Ergebnis gelangt, daß seit 1880 die Studenten und Jungakademiker "eine akademische Trägerschicht des modernen politischen und weltanschaulichen Antisemitismus" bildeten. Als Ursachen sind vor allem die ökonomische Unsicherheit und die Furcht vor der voranschreitenden Modemisierung zu sehen. 4' Über die Entwicklung von der Spätaufklärung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts informiert W. Altgeld, Katholizismus. Weitere Folgebände sind vorgesehen. 48 Vgl. H.G. Adler, Juden, 97. 49 Vgl. auch T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 130 f. so Vgl. zu diesem Aspekt W. Grab, Weg, 179. SI Vgl. H.G. Adler, Juden, 98. s2 Vgl. aaO., 100. Sl Vgl. aaO., 117; auch E.G. Reichmann, Centralverein; auch G. Plum, Juden, 41 f. s4 Vgl. H. Greive, Juden, 166. Dieser Erfolg sollte allerdings nicht überschätzt werden. Vgl. S. Vo1kov, Kontinuität, 227. ss Vgl. T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 147. Jedoch gab es z.B. in der Region Bremerhaven vor 1918 keine durch Antisemiten verübten Übergriffe. Vgl. W. Wippermann, Jüdisches Leben, 128. 56 Vgl. Z. Asaria, Geschichte, 496 f. Zum Antisemitismus in Niedersachsen in dieser Zeit vgl. auch B. Herlemann, Bauer, 178 f.

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Teil!: Judenfeindschaft und Antisemitismus

Die unerwartet lange Dauer des Ersten Weltkrieges nährte wieder breitere antisemitische Ressentiments, die in dem gänzlich unbegründeten Vorwurf kumulierten, Juden würden sich vor der aktiven Kriegsteilnahme an der Front drücken und stattdessen Schwarzmarktgeschäfte betreiben57. Mit der Kriegsniederlage 1918 und der darauf folgenden Revolution, einer erneuten Krisensituation, bot sich den Antisemiten deutsch-völkischer Provenienz eine neue Gelegenheit zur Agitation, was rasch zur Radikalisierung und Ausbreitung des Antisemitismus führte 58 • Letzterer präsentierte sich zugleich antirepublikanisch, antiparlamentarisch, antisozialistisch und richtete sich gegen die Modernisierung im Kultur- und Geistesleben59. Juden galten als Musterbeispiel für die Dolchstoßlegende, zugleich als Kriegsgewinnler und Drahtzieher der Revolution6°. Das böse Wort von der "Judenrepublik" machte bei deren Gegnern auf der Rechten die Runde6 1• Der im Jahre 1919 gegründete, stramm antisemitisch ausgerichtete Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund62 wuchs bis Mitte 1922 auf nahezu 200.000 Mitglieder an63. Zugleich nahm der Antisemitismus auch terroristische Züge an64 • Auch in Niedersachsen erwies sich der organisierte Antisemitismus schon bald als sehr rege65 . Allerdings zeigte sich in der Stadt Hannover der größere Teil der Bevölkerung weiterhin liberal gegenüber jüdischen Bürgern. Antisemitische Angriffe galten hier vor allem den meist weniger assimilierten Ostjuden66. Die zunehmend antisemitische Stimmung führte wohl auch zu einer Abkühlung des vor dem Krieg recht guten Verhältnisses zwischen Juden und Christen67. So hatten in Hannover noch im September 1914 bei der Beerdigung des Pastors der der Synagoge fast benachbarten Neustädter Kirche, Carl Julius Mohr, der S7 Vgl. J. Katz, Vorurteil, 315. Dabei zählte die deutsche Seite allein 100.000 jüdische Kriegsteilnehmer, von denen 78.000 an der Front standen. Die Zahl der gefallenen deutschen Juden betrug 12.000, 30.000 wurden mit Orden ausgezeichnet. Vgl. H. Berding, Antisemitismus, 166. ss Vgl. dazuauch KJ 1919,236 f.; vgl. auch W. Tilgner, Judentum, 298; K. Mlynek, Hannover, 460. W. Vahlenkamp, Geschichte, 40 urteilt ganz zutreffend: "Eine wohl immer latent vorhandene antisemitische und religiös bedingte antijudaistische Grundstimmung im Volke, jahrhundertelang tradiert, kam nach dem Ersten Weltkrieg offen zum Ausdruck." s9 Vgl. R. Rürup, Geschichte, 94; vgl. auch H.-W. Schmuhl, Rassismus, 188. Zu Beginn der Weimarer Republik existierten ca. 400 völkische Organisationen und 700 antisemitische Zeitschriften. Vgl. T. Maurer, Juden, 107. 60 Vgl. H. Greive, Juden, 172. 61 Vgl. K. Kupisch, Bekennende Kirche, 344. 62 Vgl. dazu U. Lohalm, Radikalismus; H. Berding, Antisemitismus, 178-187; W. Jochmann, Gesellschaftskrise, 132-140. Durch diesen Verband bestand "erstmals eine komplette Infrastruktur für die antisemitische Propaganda". Seine Mitglieder galten als "überzeugte[.] antisemitische[.) Aktivisten". L. Herbst, Deutschland, 50 f. 63 Vgl. H. Berding, Antisemitismus, 180; T. Maurer, Juden, 107. Vgl. insgesamt auch U. Lohalm, Völkischer Radikalismus.. 64 Man denke nur an Attentate (Walther Rathenau, Maximilian Harden), wiederholte Exzesse in Oberschlesien, die pogromartigen Gewalttätigkeiten im Berliner Scheunenviertel 1923. V gl. T. Maurer, Juden, 109; auch P. Pulzer, Anfang vom Ende, 9. 65 Vgl. J. Noakes, Nazi Party, 10. Zum Antisemitismus der frühen Weimarer Zeit im niedersächsischen Raum insgesamt vgl. aaO., 9-13. Vgl. auch Z. Asaria, Geschichte, 497. AaO., 63: "Eine Hetzpropaganda entstand in jeder Stadt und jedem Dorf." 66 Vgl. 0.0. Kulka/B.Z. Ophir, Leben, 31. 67 Vgl. K.H. Rengstorf, Christen, 39.

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Rabbiner und der gesamte Vorstand der Synagogengemeinde am Trauerzug teilgenommen68 . Auf der anderen Seite hatten sich 1894 an der Einweihung der Lüneburger Synagoge auch protestantische Würdenträger beteiligt69. Dies ist umso höher zu bewerten, als in Lüneburg im 19. Jahrhundert ein latenter Antisemitismus vorherrschte7o. Auch in Osnabrück wohnten 1906 die beiden großen christlichen Konfessionen der feierlichen Eröffnung der Synagoge bei71 . Zehn Jahre zuvor waren hier auf der Hauptstraße gegen jüdische Geschäfte gerichtete Flugblätter verteilt worden, die den Kirchen ihr Schweigen in der ,Judenfrage' vorhielten72 • Ebenso hatten der Einweihung der Opplerschen Synagoge in der hannoverschen Bergstraße 1870 kirchliche Ehrengäste beigewohnt73. Zum Neubau der Synagoge in Hitdesheim Ende der 1840er Jahre gingen auch zahlreiche Geldspenden von christlichen Bürgern der Stadt ein74 . Ähnlich wie in Hannover gestaltete sich das Verhältnis zwischen Christen und Juden auch in Hann. Münden7s. In Nienburg galten z.B. noch in der Weimarer Zeit die Juden nach eigenem Selbstverständnis und aus der Perspektive der anderen als integrierter Bestandteil der kleinstädtischen Gesellschaft76. Zur besseren Einordnung des gegen die Juden gerichteten Verhaltens in Wort und Tat und der daraus entstandenen Folgen soll auf die Begriffsdifferenzierung zwischen christlichem Antijudaismus, ökonomisch, sozial, politisch oder kulturell bedingter Judenfeindschaft und rassistischem Antisemitismus77 zurückgegriffen werden78. Dabei sind die einzelnen Begriffe nicht völlig zu trennen79; sie bedingen und berühren sich vielmehr gegenseitigso. Die- auch im Protestantismus breit vertretene - Judenfeindschaft war zum Beispiel bereits in der Zeit vor Vgl. aaO., 38 f. Vgl. Z. Asaria, Geschichte, 131. 7° Vgl. aaO., 140. 71 Vgl. aaO., 311. n VgJ. aaO., 329. 73 Vgl. U. Stille, Synagogen, 197. Zum Bau der großen Synagoge vgl. aaO., 190-192. 74 Vgl. Z. Asaria, Geschichte, 343. 7~ Vgl. K. H. Rengstorf, Christen, 38. 76 Vgl. R. Sabelleck, Leben, 298. So auch A. Zeche!, Geschichte, 375. Vgl. insgesamt auch P. Schumann, Jüdische Deutsche, 37, der fiir das Alltagsleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert von einer "deutsch-jüdischen Symbiose" spricht. Vgl. mit kritischen Korrekturen hierzu S. Rohrbacher, Kaiserreich sowie P. Schumann, Erwiderung. 77 Vgl. hierzu auch W. Altgeld, Katholizismus, 39-41. 78 Vgl. M. Smid, Protestantismus, 204-207; H.E. Tödt, Novemberverbrechen, 28-32; Vorwort H.E. Tödt/E.A. Scharffenorth zu C. Strohm, Ethik, VIII. Auch K. Repgen hält diese Differenzierung fiir plausibel. Vgl. ders., 1938, 142. F. Fischer, Hitler, 174 f. unterscheidet zwischen "religiös begründete[r1Judenfeindschaft" Stoeckers und der "biologisch-rassistisch begründete[n1Judengegnerschaft" Wilhelm Marrs. Beiden gemeinsam war ihre Ausrichtung gegen Liberalismus und moderne Industriegesellschaft. 79 So differenziert z.B. A. Silberrnann, Jude, 20-32 zwischen verschiedenen Formen des Antisemitismus (wirtschaftlicher, rassischer, religiöser und politischer Provenienz). K. Kupisch, Volk, 158 verwendet den integrativen Begriff ,)udenhaß". 80 So auch M. Smid, Protestantismus, 207; vgl. auch H. Greive, Geschichte, 49; J.-C. Kaiser, Der deutsche Protestantismus, 211 . Zur Verbindung zwischen nationalsozialistischem Antisemitismus und Antijudaismus vgl. Y. Bauer, Judenhaß; C.-E. Bärsch, Antijudaismus, 113; E. Bethge, Kirchenkampf, 238; J. Katz, Vorurteil, 322 f.; 326; C. Hoffinann, Antijudaismus; R. Ruether, Nächstenliebe. 68

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der Übertragung der politischen Macht an Hitler mit biologistischem und auch rassistischem Gedankengut gepaartsi.

C. Innerkirchliche Neuordnung Durch den Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments infolge der Novemberrevolution war der Protestantismus genötigt, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. In allen Landeskirchen entstanden neue Kirchenverfassungens2, je nach Region in größerem oder geringerem Maße angelehnt an die Verfassungsgrundlage der republikanischen Staatsform. Der Zwang zur Neuformierung wurde bald als Chance zur Selbstgestaltung angesehen. So verdrängte die Wahrnehmung der neuen Freiheit einer Volkskirche, die im übrigen weitreichende Privilegien behielt, allmählich die Trauer um den Verlust der alten Ordnung. Als störend empfand man nur die strikte weltanschauliche Neutralität der neuen Republik, die- zumindest offiziell- die Kirchen weder zur Legitimation ihrer Herrschaft benötigte, noch ihnen spezielle Aufgaben übertrug. So stellt sich, die oben genannte These Hans Mommsens aufnehmend, mit Blick auf das Ende der Weimarer Republik die Frage, ob nicht auch der Protestantismus seine neu gewonnene Freiheit verspielte, indem er durch eine Fehlinterpretation des NSDAP-Parteiprogrammss3 damit rechnete, ein nationalsozialistisch dominierter Staat werde dem Christentum Unterstützung gewähren, ja ihm sogar wichtige Aufgaben übertragen, so daß eine christliche Durchdringung der Gesellschaft endlich möglich würde. Aufgrund dieser nur durch eine erneute Bindung an ein politisches Herrschaftssystem und die es konstituierende Ideologie zu realisierenden Hoffnung wurde die neu gewonnene Freiheit von allen weltlichen politischen Bindungen fahrlässig aufs Spiel gesetzt. Wie bei nahezu allen anderen deutschen Landeskirchen war der Eintritt der ohnehin nicht vollkommen im unter preußischer Dominanz stehenden Kaiserreich verwurzelten - hannoverschen Landeskirche in die neue Zeit geprägt von langjährigen Arbeiten an einerneuen Kirchenverfassung. Die überwiegend durch Laien besetzte und in Urwahlen84 auf der Grundlage eines leicht modifizierten Mehrheitswahlrechtes85 zustandegekommene Verfassunggebende KirchenverVgl. M. Greschat, Haltung, 274. Vgl. insgesamt K. Scholder, Kirchen, Bd. I, 34-42; H. von Soden, Verfassungen. Letzterer informiert zwar vorrangig über die zu den Verfassungen erschienene Literatur, charakterisiert in diesem Referat aber auch die Verfassungstexte. 83 Vgl. Art. 24, in: W. Hofer (Hg.), Nationalsozialismus, 30 f. 84 Auch in den Kirchen Preußens, Schleswig-Holsteins, Württembergs, Badens, Braunschweigs, Oldenburgs, Anhalts, Thüringens, der Pfalz und von Frankfurt/Main waren die Verfassunggebenden Kirchenversammlungen jeweils auf der Grundlage von direkten, allgemeinen Wahlen zustandegekommen. Vgl. J.R.C. Wright, Parteien, 36. 85 Zu den 78 gewählten Abgeordneten konnten noch zusätzlich zehn Vertreter von Minderheiten hinzukommen. Vgl. die Notiz in: AELKZ, Nr. 42, 21.10.1921 , 670. Den Weg fiirdie Urwahl zurVerfassunggebenden Kirchenversammlung hatte die hannoversche Landessynode - nicht ohne Druck 81

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samrnlung86 machte sich im Dezember 192187 ans Werk. Es dominierte 88 die aus der konfessionell-lutherisch wie auch antiliberal orientierten Hannoverschen Pfingstkonferenz89 hervorgegangene, kulturprotestantischen Gedanken nicht abgeneigte90 Lutherische Vereinigung9I . Ein von der Konstituante am 10. Oevon seilen des preußischen Staates (vgl. hierzu auch Kirchliche Chronik, in: HaSo, 53/21, 23.5.1920, 206 f.; hier: 207) -auf ihrer Tagung vom 26.1 0. bis 13.11.1920 freigemacht. V gl. Zur Hannoverschen Landessynode, in: AELKZ, Nr. 48, 26.11.1920, 882-884. 86 Die Verfassunggebende Kirchenversammlung war aufgrundeines Beschlusses der vom 26.10. bis 13.11.1920 in Hannovertagenden Landessynode zustandegekomrnen. Vgl. KJ 1921,401. Zu den Vorüberlegungen fiir die Bildung der Versammlung vgl. H. Otte, Loyalität, 313 . 87 Zur konstituierenden Sitzung vgl. die Notiz in: AELKZ, Nr. 3, 20.1.1922, 46 f. 88 Zu diesem Punkt vgl. die Notiz: aaO., Nr. 42, 21.10.1921, 670 (in den Wahlkreisen Harz, Osnabrück und Hameln Jagen hingegen die Liberalen vom, ebd.; vgl. auch das Osnabrücker Wahlergebnis in: HaSo, 54/40, 2.10.1921, 369); E. Klügel, Landeskirche, XXII. Allerdings besaß die Lutherische Vereinigung keine Zweidrittelmehrheit. Vgl. H. Otte, Loyalität, 314. Zur Sitzverteilung zwischen ,rechts, links und mitte' vgl. KJ 1922, 480. Auch in Preußen verfügte die Bekenntnistreue Vereinigung mit 145 Sitzen über eine breite Mehrheit in der Verfassunggebenden Kirchenversammlung. V gl. J.R.C. Wright, Parteien, 31, Anm. 83. 89 Zur Geschichte der Pfingstkonferenz bis in die Gegenwart vgl. den knappen Überblick von H. Otte, Spiegel. Zum Ursprung vgl. T.J. Kück, Petri, 161-194. Die Entwicklung bis 1942 behandelt P. Fleisch, 100 Jahre. Vgl. auch H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte, 324 f. 90 Damit entsprach man einer in der lutherischen Ethik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert allgemein feststellbaren Tendenz. Vgl. hierzu F.W. Graf, Kulturluthertum, 45. Zu den Richtlinien der Lutherischen Vereinigung fiir die Kirchenwahlen 1921 vgl. die Notiz in der AELKZ, dem "größte[n] und fiihrende[n] Wochenblatt des gesamten evangelischen Deutschlands" (so I. Amdt, Judenfrage, 8), Nr. 23, 10.6.1921, 366: "1. An dem lutherischen Bekenntnis der hannoverschen Landeskirche darfnicht gerüttelt noch gedeutelt werden. Diese darf nicht zum Sprechsaal fiir alle möglichen menschlichen Meinungen werden, sondern in ihr darf nur Gottes Wort und Luthers Lehre verkündet werden. [... ] Die Kirche ist kein Verein, sondern die Stiftung unseres Herrn Christi. {.. . ]2. Die Kirche soll Volkskirche bleiben und immer volkstümlicher werden. Aber ein Festhalten an der Massenkirche unter Preisgabe des Bekenntnisses lehnen wir ab. Dagegen wünschen wir, daß ein echt sozialer Geist die Kirche durchdringe. Ebenso muß die Kirche den Gesamtgeist des Volkslebens namentlich in sozialer Richtung durchdringen. Wir wünschen eine christliche Gesamtkultur auf Grund eines einheitlichen Kulturprogrammes." Ähnlich wurde das Festhalten an der evangelischen Schule wie auch an einem an Katechismus und Gesangbuch orientierten Religionsunterricht begründet: "Ohne eine christliche Erziehung ist unser Volk verloren." Abschließend heißt es: "Das religiöse Suchen der Zeit muß in der Kirche befriedigt werden." Ebd. In den Ende Mai 1921 verabschiedeten Richtlinien der Lutherischen Vereinigung heißt es diesbezüglich lediglich: "Auch in sozial-ethischer Richtung will die Lutherische Vereinigung am Aufbau eines christlichen Volkslebens mitarbeiten.[ ... ] In ihren kirchlichen und sozial-ethischen Bestrebungen ist die Lutherische Vereinigung getragen von der Überzeugung, daß wir von der bloßen Ichkultur, vom Individualismus mit seiner Überschätzung der Einzelpersönlichkeit, vordringen müssen zur Gemeinschaftskultur. Das ist die Forderung der Zukunft: vom Ich zur Gemeinschaft." Notiz in: AELKZ, Nr. 38, 23.9.1921, 604 f. Aufderhannoverschen Pfingstkonferenz 1930 sprach Paul Fleisch von der "Pflicht der Kirche, sich ihren Einfluß im Staats- und Volksleben zu sichern". Dittrich, Hermannsburg, Lutherische Pfingstkonferenz in Hannover, aaO., Nr. 32, 8.8.1930, 755-759; Zitat: 758. 9I Vgl. E. Rolffs, Kirchenkunde, 215. Rolffs gibt unter Berufung auf die "Evangelische Wahrheit" als Gründungsdatum den 24.5.1921 an. Vgl. auch G. Lohmann, Die hannoversche Pfingstkonferenz, I, in: AELKZ, Nr. 24, 17.6.1921, 376-379; hier: 376: ,,Montagabend, 24. Mai{ ... ] Im Hinblick auf die gegenwärtige Lage wurde beschlossen, die Pfingstkonferenz zu einer Theologen und Laien umfassenden Lutherischen Vereinigung zu erweitern"; vgl. auch Kirchliche Chronik, in: HaSo, 54/23, 5.6.1921, 208 f.; H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte, 444. Gegen K. Meier, der 1924 als Gründungsdatum angibt; so ders., Kirchenkampf, Bd. I, 392. Meier beruft sich aufE. Klügel, Landeskirche, 8, wo allerdings lediglich gemeint ist, daß sich 1924 die Lutherische Vereinigung von der

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Teil 1: Judenfeindschaft und Antisemitismus

zember 1921 eingesetzter Verfassungsausschuß92 präsentierte im Herbst 1922 einen vor allem an die Kirchenvorstands- und Synodalordnungen des 19. Jahrhunderts anknüpfenden93 Verfassungsentwurf, der im wesentlichen die mehrheitliche Zustimmung der Kirchenversammlung fand94 . Hiernach95 erhielten der aus Urwahlen96- diese konntenjedoch auch durch ein von den Kirchenvorständen in Form von Wahlaufsätzen vorzunehmendes Verfahren ersetzt werden- nach dem Mehrheitswahlrecht zu bildende zu zwei Dritteln aus Laien zusammengesetzte Landeskirchentag - das synodale Gremium - und der von ihm zu bestimmende Landeskirchenausschuß, der an die Stelle des Landesherrn getretene Kirchensenat und das Landeskirchenamt in ungefähr gleichem Umfang kirchenleitende Befugnisse zugesprochen. Auch der zwischen deren einzelnen Tagungen die synodalen Interessen weiterverfolgende Landeskirchenausschuß und der Landesbischof- eigentlich auf die geistliche Leitung bzw. "Führung"97 der Landeskirche beschränkt98, aber zugleich auch Vorsitzender des Kirchensenates und berechtigt, die Landeskirche gegenüber staatlichen Stellen mitzuvertreten99 - waren an der Leitung der Landeskirche beteiligt. Gemeinsam mit dem Kirchensenat, der zudem die Generalsuperintendenten 1oo wie auch die Dezernenten des Landeskirchenamtes zu ernennen hatte, war die Synode befugt, Kirchengesetze zu erlassen. Außerdem oblag ihr die Überprüfung der landeskirchlichen Haushaltsführung. Der aus dem Landeskirchentag hervorgegangene Landeskirchenausschuß Pfingstkonferenz institutionell völlig trennte. Als Vorsitzender dieser positiv-lutherischen Kirchenpartei (vgl. die Notiz in: AELKZ, Nr. 37, 15.9.1922, 590 f.) fungierte Sup. Stisser, den 1928 der Peiner Sup. Lic. Schultzen ablöste. Vgl. ebd. Zur Gründung der Lutherischen Vereinigung vgl. auch P. Fleisch, 100 Jahre, 95 f. Neu war, daß diese Gruppierung nun auch Laien umfaßte. Vgl. aaO., 96. 92 Vgl. KJ 1922, 481. Das Gremium erhielt die Bezeichnung Gesamt- bzw. auch Hauptausschuß. Vgl. P. Fleisch, Entwicklung, 174. Zu den der Synode zuvor vorgelegten Verfassungsentwürfen vgl. KJ 1922,480 f.; auch H. Otte, Landeskirche, 196. 93 So E. Sperling, Abriß, 94. Der Entwurftrug ausgesprochenen Kompromißcharakter. Vgl. H. Otte, Loyalität, 3 14. 94 Vgl. E. Rolffs, Kirchenkunde, 50 ff.; auch KJ 1923,455. Vgl. Verfassung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers nebst Anlagen. Die Kirchenverfassung ist auch abgedruckt in: Allgemeines Kirchenblatt fiir das evangelische Deutschland 74 (1925), 142-161; 186-195. Auszugsweise in: E.R. Huber/W. Huber, Staat, Bd. IV, 594-601. Gewichtigere Änderungen ergaben sich lediglich bei der Zusammensetzung des Kirchensenates, wo gegenüber dem Entwurf das synodale Element ein wenig stärker betont wurde. Vgl. P. Fleisch, Entwicklung, 175 f. 95 Folgendes v.a. nach E. Klügel, Landeskirche, XXII f.; vgl. auch G. Besier, Prozeß, 184-186. 96 Urwahlen gab es innerhalb Preußens noch in den Landeskirchen Schleswig-Holstein, HessenKassel, Nassau und mit Einschränkungen in Frankfurt/M. Vgl. H. von Soden, Verfassungen, 343. 97 So in der Kirchenverfassung. Vgl. E.R. Huber/W. Huber, Staat, 396. Dies erfolgte nach dem berühmten Grundsatz non vi, sed verbo. Vgl. P. Fleisch, Entwicklung, 176. Der Begriff der "geistlichen Führung" auch bei K. Wagenmann, Träger, 12. Vgl. dazu auch G. Lindemann, Marahrens, 396 f. Auf die Betonung des geistlichen Amtes in den lutherischen Kirchenverfassungen der Weimarer Republik weist E. Sperling, Abriß, 94 hin. 98 Allerdings kam es in der Praxis überaus selten vor, daß LKA oder Landeskirchenausschuß Beschlüsse gegen das abweichende Votum des anwesenden Landesbischofs faßten. Vgl. P. Fleisch, Entwicklung, 176. 99 Die Aufnahme eines bischöflichen Amtes in die Kirchenverfassung ist auf das Betreiben der Lutherischen Vereinigung zurückzufiihren. Vgl. ders., I 00 Jahre, 96. Joo Ihre verhältnismäßig starke Position in der geistlichen Leitung der Landeskirche war geblieben. Vgl. E. Sperling, Abriß, 95.

I. Allgemeine Voraussetzungen

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hatte mittels der ihm zugesprochenen Berechtigung zur Finanzüberwachung die Möglichkeit, nahezu sämtliche Zweige der landeskirchlichen Arbeit zu kontrollieren. Darüber hinaus hatte ihn das Landeskirchenamt, die leitende landeskirchliche Verwaltungsbehörde, beim Erlaß von Rechtsverordnungen zu beteiligen 101. Nach der verzögerten staatlichen Bestätigung im Jahre 1924 wurde die Verfassung zum 1. November 1924 rechtskräftig102. Somit konnte das Amt des Landesbischofs auch erst 1925 durch den Stader Generalsuperintendenten August Marahrens 103 besetzt werden104. In den Folgejahren war in den kirchlichen Leitungsorganen die Lutherische Vereinigung dominierend 105. Vertreten waren zudem noch Abgeordnete einer volkskirchlichen Mittelposition 106 sowie in noch geringerer Zahl der liberalen Linken 107.

101 Vgl. E. K.lügel, Landeskirche, XXII f. Die weitgehenden Rechte des Landeskirchenausschusses mißfielen dem LKA. Vgl. die versteckten Hinweise bei P. Fleisch, Entwicklung, 176 f. 1o2 Vgl. Kirchliche Rundschau (Abgeschl. am II. Nov. 1924 [Paul Fleisch]), in: EvW, XVU4, Zweite Nov.-Nr. 1924, 50-55; hier: 50 f. So auch P. Fleisch, I 00 Jahre, 96; auch KJ 1925, 525. Gegen E. K.lügel, Landeskirche, XXII; Klügel nennt 1925; E. Sperling, Abriß, 95 datiert das lokrafttreten der Verfassung auf den 1.1.1924. IOJ August Marahrens, geh. 11.10.1875 Hannover, Besuch des Ratsgyrnnasiums, Abitur, 1894-1898 Theologie- und Geschichtsstudium Göttingen und Erlangen, Erstes theologisches Examen, Privatschullehrer Rethem, Hospes im Kloster Loccum, Ostern 190 I Zweites theologisches Examen, zusätzlich Studium der Geschichte Göttingen, Herbst 190 I Oberlehrerprüfung, Militärdienst bei den 7 4ern, 1902 Inspektor am Loccumer Erziehungshaus Goslarund Lehrer am Gymnasium daselbst, Ordination, Mai 1903 P. coll. Schloßkirche Hannover, zugleich Hilfsgeistlicher am dortigen Gerichtsgefangnis, Nov. 1904 2. Schloßprediger und Konsistorialassessor, Ostern 1909 Studiendirektor des Predigerseminars auf der Erichsburg, 1914-1918 Lazarettpfarrer, Nov. 1918 bis I . April 1919 Betreuung deutscher Kriegsgefangener in Belgien, 1919 wiederum Erichsburg, 1920 Sup. Einbeck, 1922 (zunächst komm.) Gen.sup. Stade mit Sitz Hannover, 1925 Landesbischof, 1928 Abt zu Loccum, 1933-1936 Vorsitzender der Allgemeinen ev.-luth. Konferenz, 1935-1945 Präsident des Luth. Weltkonvents, 1947 Ruhestand, gest. 3.5.1950. Zu Marahrens' Vita vgl. insgesamt H. Otte, Art. Marahrens; G. Grünzinger, Art. Marahrens; W. Ködderitz (Hg.), Marahrens. Zur Person Marahrens vgl. E. Wilkens, Fall; K. Schmidt-Clausen, Marahrens; E. Lohse, Marahrens; I. Mager, Marahrens. Paul Fleisch wertete die Bischofswahl aus der Retrospektive: "Er war der typische Hannoversche Kirchenfiihrer, vorsichtig, nie einen Schritt tuend, der vielleicht zurückgetan werden mußte, und der nicht nach allen Seiten und Argumenten genauestens überlegt wäre, lieber auf eine Entscheidung verzichtend, daher auch einmal zu unverbindlichen Übergangslösungen geneigt, wenn noch eine Erwägung nicht abgeschlossen werden konnte, Eigenschaften, die ihn gerade fiir die eigenartige Stellung, die man in unserer Verfassung dem Landesbischof gegeben hatte, besonders geeignet machten." Ders., Kirchengeschichte, 137. 104 Vgl. K. Meier, Kirchenkampf, Bd. I, 389-396; hier: 389. Die erste an die Gemeinden gerichtete Kundgebung des Landesbischofs Marahrens vom 15.7.1925 ist abgedruckt in: AELKZ, Nr. 35, 28.8.1925, 626 f. Hier charakterisierte der neue Bischof das Bischofsamt als "ein[.] in der Verfassung als fiihrend gedachte[s] und deshalb besonders verantwortungsschwere[s] Amt[.)". AaO., 626. Zum Einfiihrungsgottesdienst des ersten hannoverschen Bischofs vgl. I. Mager, Marahrens, 136. 1os Vgl. auch H. Otte, Spiegel, 277. 106 Zu Gründung und Programm der kirchlichen Mittelpartei vgl. AELKZ, Nr. 26, 29.6.1923, 413 f. 107 Hiermit waren die "Freunde evang. Freiheit" gemeint (die Grundlinien der in ihr dominierenden "Neuprotestantischen Vereinigung" in: EvW, XIV?, Erste Jan.-Nr. 1921, 84 f.; aaO., Nr. 13, Erste April-Nr. 1921, 162 f.). Vgl. AELKZ, Nr. 8, 20.2.1925, 134. In einer Folgenummer der Zeitschrift auch das präzise Wahlergebnis 1925 (Lutherische Vereinigung 33 Sitze, Volkskirchliche Vereinigung sechs, Freunde evang. Freiheit drei Mandate; berechnet ohne Hinzuzählung der vom LKA zu ernennenden Minderheitsvertreter); aaO., Nr. 10, 6.3.1925, 174. Beim zweiten Landeskirchentag (1928)

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Teil I: Judenfeindschaft und Antisemitismus

II. Die hannoversche Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie Die Äußerungen der kirchlichen Presse zu dieser Thematik waren recht selten in Grundsatzartikeln zu finden und bildeten auch in anderen Sparten der Blätter nur eine Randerscheinung. Das "Sonntagsblatt" sah 1919 das politische Deutschland von "undeutsche[n] und unchristliche[n] Kräfte[n]" dominiert. Man beklagte: "Der Einfluß der reindeutschen Elemente und der christlich denkenden Kreise wird zurückgedrängt." Zugleich wurde das Denken in Kategorien der politischen Parteien kritisiert. Dabei verwies man auf den Rätegedankenlos, welcher aber keineswegs im kommunistischen Sinne zu interpretieren sei. Als positiv an diesem Politikmodell galt die "Selbstverwaltung", die "berufsständische Vertretung" und der dort stärkere Einfluß von Experten. Letzteres führte zu dem Schluß, daß dem Arbeitgeber eine besondere Stellung zukommen müssei09. Auch für ein hannoversches Kirchenblatt hingen demnach die Begriffe "deutsch" und "protestantisch" eng zusammen. Zugleich polemisierte diese hannoversche Zeitbetrachtung mit judenfeindlichen Untertönen gegen die Republik 11 0. Das Modell einer repräsentativen, auf der Basis von Parteien arbeitenden Demokratie wurde nicht akzeptiert, ohne für die ablehnende Haltung eine aus theologisch-ethischen Reflexionen entwickelte Argumentation geltend zu machen. Als Alternative galt nicht ausdrücklich die Rückkehr zur Monarchie, aber doch ein auf kleinen Einheiten beruhendes, von Experten beherrschtes ständisches Systemlll.

gestaltete sich- unter Einschluß der Berufungen- das Bild ähnlich: Lutherische Vereinigung 41, Mitte (Arbeitsgemeinschaft) neun Sitze, Freunde evang. Freiheit fiinfSitze. Vgl. Kirchliche Rundschau, in: EvW, XIX/14, Zweite April-Nr. 1928,211 f.; hier: 211. Allerdings besaß die Luther. Vereinigung nicht mehr die Zwei-Drittel-Mehrheit. Vgl. Kirchliche Rundschau, aaO., XXIU4, Jan. 1931, 3-13; hier: II. Ähnlich fiel auch das Ergebnis der Kirchenwahlen 1931 aus (vgl. Kirchliche Rundschau, in: EvW, XXIU5, Febr.-Nr. 1931, 17-28; hier: 27 f.), wobei im Vorfeld der Wahl die "Freunde der evangelischen Freiheit", die"Volkskirchliche Vereinigung" und die völkischen Pastoren in einer Frontstellung gegen die Lutherische Vereinigung standen. Vgl. D. Schmiechen-Ackermann, Nazifizierung, I 02. Zur Sitzverteilung insgesamt vgl. I. Mager, Art. Hannover I, in: TRE, Bd. 14, 428-438; hier: 434. Der Versuch der Jungevangelischen, in den Landeskirchentag zu gelangen, war gescheitert. Auch Marahrens wollte im Anschluß an die Wahl keines ihrer Mitglieder in die Synode berufen. Vgl. H. Brunotte, Bewegung, 190. Zu den Jungevangelischen vgl. unten, 126 f. 108 Vgl. dazu G.A. Ritter, Demokratie; auch E. Kolb, Arbeiterräte; U. Kluge, Revolution, 14-32; 58-66; 101-104; 129-137. 109 Zeitnachrichten, in: HaSo, 52/34, 24.8.1919, 310. Die Haltung des "Sonntagsblatts" zu den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar behandelt G. Mehnert, Kirche, 176 f. und konstatiert eine eindeutige Ausrichtung gegen die SPD, was gewiß auch mit der sozialdemokratischen Kulturpolitik zusammenhing. Vgl. dazu H. Hürten, Kirchen, 127-129. Zur Einstellung des Gesamtprotestantismus vgl. G. Mehnert, Kirche, 173-179. Vgl. auch C. Motschmann, Kirche, 18-22 (auf die direkt auf die Revolution folgenden Tage und Wochen bezogen). 110 Diese Feststellung triffi E. Beyreuther, Vorgeschichte, II für die Mehrzahl der protestantischen Sonntagsblätter. Beyreuther nimmt Bezug auf I. Amdt, Judenfrage. 111 Zu Vorstellungen vom organischen Ständestaat vgl. K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 199-201.

II. Die hannoversche Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie

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Mitte Juni 1919 hatte in Hannover die Pfingstkonferenz getagt, wo am 17. Juni Superintendent Georg Friedrich Schaaf aus dem ostfriesischen Potshausen 112 einen Abendvortrag hielt. Der Referent konstatierte, daß es zu einer völligen Trennung zwischen Staat und Kirche noch nicht gekommen und die einschlägige Debatte in ein ruhigeres Fahrwasser geraten sei. Zudem habe die pfarramtliche Arbeit bislang noch keinerlei Behinderung erfahren. Sorgen bereite nur die Frage nach dem zukünftigen Status der Schule 113 • Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen konzentrierte sich SchaafaufFragen des Umbaus der Kirche, da ein Neubau nicht notwendig sei, und sprach sich für eine ev.-luth. Bekenntniskirche mit Minderheitenschutz aus114. Wenig später entwickelte das "Sonntagsblatt" Kriterien für die am ehesten wählbare politische Partei 115: Entscheidend sei deren Haltung "I. zum Christentum und zu der lutherischen Kirche, 2. zum deutschen Vaterlande, 3. zu unserer hannoverschen Heimat". Christen sollten sich der Mitarbeit in den Parteien nicht verschließen, da in der Demokratie nur auf diese Weise politischer Einfluß zu erlangen sei. Allerdings sollten sie sich nicht einem Parteizwang unterordnen, sondern dort ihren christlichen Standpunkt mit dem Ziel vertreten, die Dominanz des Christlichen im politischen Leben zu sichern. Als Beispiel für im christlichen Sinne positive Sachpositionen wurden die aufunterschiedlichen Parteiebenen gefaßten Beschlüsse der Deutschnationalen für die christliche Schule" 6 , die Beschränkung der Einwanderung von Ostjuden117 und die "Einführung der Kinozensur" genannt.

I 12 Georg Friedrich Schaaf, geb. 1862 Potshausen/Ostfriesland, ab 1889 P. Hesel, Rhaude, Halshausen, 1905 Sup. Potshausen, 1925-1933 Mitglied des Landeskirchentags, Vorsitzender des Landeskirchenausschusses, 1904-1936 Herausgeber und Hauptschriftleiter des "Ostfriesischen Sonntagsboten", gest. 1936. 113 Zum Schulkampf in Hannover vgl. H. Otte, Loyalität, 305-309; H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte, 435 f. Vgl. zu diesem Komplex insgesamt T.M. Breitsohl, Kirchen- und Schulpolitik; auf Niedersachsen bezogen G.-E. Tilly, Schule; dazu H.-J. Toews, Schule. 11 4 Vgl. G. Lohmann, Pfingstkonferenz in Hannover, in: AELKZ, Nr. 30, 25.7.1919, 642-645; hier: 642; P. Fleisch, I 0 Jahre, 93 f. 11s Zeitnachrichten, in: HaSo, 52/43, 26.10.1919, 401. Die nächsten Reichstagswahlen fanden allerdings erst am 6.6.1920 statt. 116 Zu diesem Aspekt vgl. auch die Notiz der AELKZ, Nr. 1, 3.1.1919 über eine von der Generalkonferenz der luth. Geistlichen Ostfrieslands einstimmig gefaßte Erklärung: "Evangelisch-lutherische Gemeinden Ostfrieslands [ ... ] Fordert mit allem Nachdruck das Recht einer christlichen Jugenderziehung in unseren öffentlichen Schulen! Sorgt mit allem Fleiß dafiir, daß in die Nationalversammlung nur solche Männerund Frauen gewählt werden, welche sich ausdrücklich verpflichten, fiir die Beibehaltung christlicher Schulen einzutreten! Nehmt mit freudiger Entschlossenheit den Kampf gegen das Heidenturn auf, das in eurer Mitte großgezogen werden soll." Außerdem beißt es: "Die Generalkonferenz stellt bei etwaiger Trennung von Kirche und Staat als wichtigstes Ziel die Schaffung einer staatsfreien Volkskirche in der Provinz Hannover auf dem Grunde des Wortes Gottes und der Bekenntnisse der evangelisch-lutherischen Kirche auf." AaO., 22. Über die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Schule sprach der Pastor beim Evangelischen Verein, Dr. Lueder, auch vor der Hannoverschen Pfingstkonferenz am 1.6.1920. Vgl. G. Lohmann, Die Hannoversche Pfingstkonferenz, aaO., Nr. 33, 13.8.1920, 646-649. 117 Vgl. dazu vor allem unten, 80 f.

4 Lindemann

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Teil I: Judenfeindschaft und Antisemitismus

Die hier geäußerten politischen Vorstellungen bewegten sich im Rahmen eines nationalen, die hannoverschen Sonderinteressen jedoch berücksichtigenden, christlichen Staates. Ein Jahr nach der- in der Provinz Hannover allerdings insgesamt recht ruhig verlaufenenl18- Novemberrevolution unternahm das "Sonntagsblatt" den Versuch, ein vorläufiges Resümee zu ziehen. Dabei wurden zunächst die positiven Seiten der politischen Veränderungen hervorgehoben: Verkürzte Arbeitszeiten und die Erweiterung des Sonntagsarbeitsverbotes119 -letzteres stärke immerhin die christliche Sitte - könnten sich auf das Familienleben und die geistige Bildung des Einzelnen positiv auswirken. Die in der Verfassung verankerte politische Meinungsfreiheit wurde - besonders im Blick auf den Beamten-, Lehrerund Pastorenstand- begrüßt. Man erkannte das Bemühen um stärkere soziale Gerechtigkeit durchaus an. Berücksichtigt wurde auch, daß "die Männer der Revolution eine furchtbare Erbschaft übernommen" hatten und de facto die Rolle von "Konkursverwalter[n]" 120 einnahmen. Leider seien jedoch "Materialismus, Mammonismus und Glaubenslosigkeit" vorherrschend geblieben, ja hätten sich sogar verstärkt, fuhr das "Sonntagsblatt" fort. Die Revolution war nicht von den "Besten unseres Volkes" geprägt, aus ihr seien keine "Führer" hervorgegangen. Stattdessen ginge es den ,Demokraten' mehrheitlich um gute Positionen, materielle Vorteile, "Einfluß und Macht 121 ", was keineswegs dem "germanische[n] Freiheitsgefiihl" entspräche 122. Die hier vertretene Sicht der Zeit läßt sich als eine Kritik an der Moderne 123 interpretieren. Das Kaiserreich wird nicht glorifiziert, und der politischen Wende werden auch positive Seiten abgewonnen. Allerdings wird eine gänzlich andere Gesellschaft als die Weimarer Demokratie gefordert, nämlich eine sich aus den Besten bzw. einem oder mehreren Führern 124 an der Spitze rekrutierende Herrschaftsform, deren Handeln durch das "germanische Freiheitsverständnis" motiviert wird. 111 Vgl. D. Brosius, Niedersachsen, 54. Zum Verlauf in der Stadt Hannover vgl. K. Mlynek, Hannover, 447-452. 119 Beides ergab sich aus dem zwischen Gewerkschaften und Großindustrie am 15.11.1918 abgeschlossenen ,,Zentralarbeitsgemeinschafts-" bzw. "Stinnes-Legien-Abkommen" und diente von Unternehmerseite dem Zweck, das marktwirtschaftliche System zu erhalten. Vgl. dazu D.J.K. Peukert, Weimarer Republik, 42; H.A. Winkler, Weimar, 45 f. 12° Vor der Nationalversammlung hatte Friedrich Ebert am 6 .2.1919 geäußert: "Wir waren im eigentlichen Wortsinne die Konkursverwalter des alten Regimes". Zit.n. G.A. Ritter/S. Miller (Hgg.), Revolution, 208 f. 121 Zur lutherischen Kritik am Machtstaat, dem der christliche, auf dem Gemeinschaftsprinzip beruhende Kulturstaat gegenübergestellt wurde, vgl. F.W. Graf, Kulturluthertum, 61. 122 Zeitnachrichten, 1.11.1919, in: HaSo, 52/45, 9.11.1919, 419 f. DreiJahre später hob das "Sonntagsblatt" hervor, die "mangelnde[.) Einigkeit" sei der moralischen Lage Deutschlands nicht förderlich. Zeitnachrichten, 20.11.1922, in: HaSo, 55/48,26.11.1922,416. G. Seebaß, Antijudaismus, 21 f. urteilt: "Die Republik von Weimar repräsentierte fiir weite Teile des Bürgertums ein dem deutschen Wesen fremdes, westliches, oktroyiertes System." 123 Zu dieser Tendenz der lutherischen Ethik des späten 19. Jahrhunderts vgl. auch F.W. Graf, Kulturluthertum, 57. 124 Vgl. zu diesem Phänomen auch allgemein K. Schreiner, Messianismus. Zum Führergedanken vgl. auch K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, 214-222.

li. Die hannoversche Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie

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Zum politischen Hauptgegner erkor auch das "Hannoversche Sonntagsblatt" frühzeitig den "Bolschewismus" 125. In dieser politischen Richtung sah man den "Todfeind des Christentums" und verwies dabei auf die Ereignisse in Rußland, das Bestreben nach Abschaffung der Sonn- und Feiertage und das kommunistische Interesse an anderweitiger Nutzung der- gewiß immer spärlicher besuchten- kirchlichen Gebäude. Zudem sei der Bolschewismus gegen die Familie eingestellt. Immerhin veranlaßte der Mord an Reichsaußenminister Watther Rathenau126 das "Sonntagsblatt", sich von den militanten Gegnern der Demokratie zu distanzieren. Der Ermordete galt für den Sonntagsblattredakteur als jemand, der sich jedenfalls aus Idealismus bzw. Verantwortungsbewußtsein für den neuen Staat eingesetzt hatte und nicht um des Geldes willen, das er ohnehin besaß. "Nur äußerster, judenhetzerischer Fanatismus konnte gerade ihn als Opfer sich auswählen", lautete das Fazit. Die Verantwortung wurde mit Verweis auf deren Pressehetze "deutsch-völkische[n] Kreise[n]" zugeschrieben. "Wer Wind säet, wird Sturm ernten", hieß es hierzu127. Aus gegebenem Anlaß, nämlich dem bevorstehenden Königsherger Kirchentag, ging Wilhelm Lueder128, seit Ende 1924 Herausgeber der "Evangelischen Wahrheit" und weiterhin auch Schriftleiter des "Hannoverschen Sonntagsblatts", im Januar 1927 in seiner Kolumne "Kirchliche Rundschau" auf das Verhältnis von Kirche und Staat ein. Lueder bezeichnete diese Fragestellung als wichtiger als die für den Kirchentag geplanten Schwerpunkte "Vaterland und Volkstum". Anlaß für die Behandlung dieses Themas war für Lueder das stärkere Einverständnis vieler ehemaliger Gegner der Republik mit der neuen Staatsform. Zu ihrem Kurswechsel führte diese die Einsicht, daß die Republik "Menschendenken nach für längere Zeit" Bestand haben werde, aber auch "die Präsidentschaft Hindenburgs" , die bessere Möglichkeiten biete, bei Mitarbeit in den demokratischen Institutionen die eigenen Interessen wahren oder gar durchsetzen zu können, und nicht zuletzt "das Erschrecken darüber, wie die Kirche in weiten Kreisen in Mißkredit gebracht wird durch die Vorwürfe, welche gegen die politische Betätigung mancher ihrer Vertreter erhoben werden". Lueder verstärkte seinerseits noch diese wiedergegebenen Argumente: Es gebe für "evangelische Christen keinen Grund { . .], die Republik abzulehnen". Immerhin könne die Weimarer Reichsverfassung keineswegs als "kirchenfeindlich" bezeichnet werden, ja sie gewähre der Kirche sogar Rechte, die sie beispielsweise in der Französischen Republik nicht wahrnehmen könne. Zeitnachrichten, 7.5.1920, in: HaSo, 53/20, 16.5.1920, 195. Vgl. dazu E. Kolb, Weimarer Republik, 48; H.A. Winkler, Weimar, 174-182; H. Schulze, Weimar, 238-243. Zur politisch-kulturellen Relevanz vgl. K. Nowak, Kulturprotestantismus, 13 f. 127 Zeitnachrichten, 1.7.1922, in: HaSo, 55/28, 9.7.1922, 257-259. Zu dieser Notiz vgl. auch I. Amdt, Judenfrage, 28. Nach dem Rathenaumord wurde in der überwiegenden Mehrzahl der deutschen Länder über den antisemitisch ausgerichteten Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund ein Verbot verhängt. Vgl. H. Berding, Antisemitismus, 187. 128 Wilhelm Viktor Georg Lueder, geb. 29.11.1880 Rotenburg!Wümme, Dr. phil., 1908 Hilfsgeistlicher Lukaskirche Hannover, 1911 P. Stellichte, 1911 erster Geistlicher des Evangelischen Vereins, Schriftleiter des "Hann. Sonntagsblatts", 1915-1918 Lazarettpfarrer an der Westfront, Herausgeber der "Ev. Wahrheit", 1928 Stadtsup. und P. Johanniskirche Göttingen, 1947 Ruhestand, gest. 13.9.1952 Ahausen. 12s

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Teil 1: Judenfeindschaft und Antisemitismus

Die Kirche habe dem Staat nicht nur hierfiir dankbar zu sein, sondern sei ihm auf der Grundlage von Röm 13,1 sogar zum Dienst verpflichtet. "Die Kirche ist verpflichtet, die Autorität des Staates zu stützen" 129, heißt es weiter. Bei deutlich ausgeprägter kirchlicher Loyalität gegenüber dem Staat ergäben sich für die Kirche umso bessere Möglichkeiten, als "Gewissen des Volkes" zu fungieren, ohne daß der Staat gleich substantielle Angriffe hierbei vermute: "Einer Kirche, die freudiges Staatsgeruht bestätigt, wird man es viel eher glauben, daß sie nur aus Gewissensgründen ihre Stimme erhebt." Alles solle vermieden werden, was den Verdacht kirchlicher "Empfindlichkeit über die verlorene Vorzugsstellung" nur im geringsten wecken könnte. Allerdings stellte Lueder auch, das zuvor Gesagte im politischen Sinne dadurch relativierend, fest: "Bejahung des gegenwärtigen Staates bedeutet keineswegs unmittelbare oder nur mittelbare Bejahung der Revolution; ja, es bedeutet nicht einmal unmittelbare Bejahung der Republik als der etwa besseren Staatsform, sondern nur ihre mittelbare Bejahung als der gegenwärtigen Form des Staates. Wir bejahen den Staat, einerlei, welche Verfassung er hat. Wir bejahen ihn einfach, weil er unser Staat ist, in den uns Gott hineingestellt hat, daß wir ihm dienen, weil unser Volk, mit dem wir auf Gedeih und Verderb verbunden sind, in ihm lebt." Gerade um der Zersplitterung des Volkes in unterschiedliche politische Richtungen zu wehren, habe die Kirche die Aufgabe, nicht eine bestimmte politische Partei besonders zu favorisieren oder als antichristlich zu bekämpfen, sondern habe "über den Parteien [stehend] ein Staatsgefiihl und Volksgefühl zu schaffen, das unserm Volke in seiner Zerrissenheit hilft."IJO Zu berücksichtigen ist, daß solche Erwägungen wie die Lueders, der sich vom antiliberal eingestellten "Neokonservativen" zum "Vernunftrepublikaner"IJI wandelte, im Zeitraum der scheinbaren Konsolidierung der Republik aufgestellt wurden. So ging er auch von einer über Generationen reichenden Existenz der republikanischen Staatsform aus, in der die Kirche sich einzurichten habe. Aus volkskirchlichem Interesse heraus konnte man auch nicht mehr eine Antihaltung einnehmen, weil eine solche Position nur eine bestimmte politische Richtung abdeckte, die durchaus nicht fiir alle Kirchenmitglieder repräsentativ war. Lueders Haltung korrespondierte mit dem pragmatischen Arrangement der protestanti129 Diesem Grundsatz entsprach wohl auch die hannoversche Gewohnheit, in der Zeit vor der Einfiihrung der weiß-violetten Kirchenfahne bei entsprechenden Anlässen an kirchlichen Gebäuden mit den offiziellen Farben der Republik (schwarz-rot-gold) zu flaggen. V gl. P. Fleisch, Kirchengeschichte, 152. 13° Kirchliche Rundschau, in: EvW, XVIII/7, Zweite Jan.-Nr. 1927, 99 ff.; hier: 99-102. Zu dieser Grundhaltung des deutschen Protestantismus in der Weimarer Zeit vgl. insgesamt auch J.R.C. Wright, Parteien. 131 Beide Begriffe nach K. Sontheimer, Demokratie, 32 f. Zur zuletzt genannten Gruppe heißt es dort: "Sie bekannten sich aus Einsicht in die Unabänderlichkeil der Verhältnisse zur demokratischen Republik von Weimar, doch standen sie ihr nicht mit wirklicher Sympathie und Wohlwollen gegenüber. Vielmehr fanden sie sich mit den Verhältnissen wohl oder übel ab und waren deshalb nicht bereit, sich fiir die parlamentarische Demokratie und die Verteidigung der Republik besonders intensiv zu engagieren." AaO., 33. Zu diesem Phänomen bei den kirchenleitenden Persönlichkeiten seit Mitte der zwanziger Jahre vgl. auch K. Nowak, Geschichte, 229 f.

111. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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sehen Kirchenführer mit der Republik, das sich vor allem in ihrer Stabilitätsphase manifestierte 132• Im Hintergrund dürfte wohl auch stehen, daß der Verband der deutschen evangelischen Sonntagsblätter seit 1926 regelmäßig Kurse für die Herausgeber der kirchlichen Presseorgane veranstaltete, in denen auf eine "Entparteilichung" der Blätter hingearbeitet werden solltem. Auffällig ist allerdings, daß Lueder in seiner Betrachtung keine positive oder auch kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Werten führte, auf denen die Demokratie beruhte, sondern daß die Staatsbejahung lediglich eine formale Ebene umfaßte 134 . So konnte jeder Staat, der der Kirche gewisse Rechte einräumte, gewiß sein, Lueders Respekt und Anerkennung zu finden. Die Weimarer Demokratie erwies sich jedoch nicht als so stabil wie von Lueder prognostiziert. Da sich unter den entschiedenen Gegnern der Republik schließlich die äußerste Rechte durchsetzte, zu deren ideologischem Kern der Antisemitismus gehörte, soll im folgenden untersucht werden, wie sich Kirchenleitung und kirchliche Publizistik in Hannover zu dieser politischen Bewegung stellten. Galt auch für diese Konstellation das Prinzip, "über den Parteien" zu stehen?

111. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP Der "Völkisch-soziale Block" 135 konnte bei der Reichstagswahl am 4. Mai 1924 im hannoverschen Raum 136 einige kleine Erfolge verbuchen. So erhielt diese rechtsextreme Gruppierung in der Stadt Hannover 20.000 Wählerstimmen und wurde im Kreis Wittmund (Ostfriesland) sogar stärkste Partei 137. Auch im Kreis Gifhomllsenhagen kam die äußerste Rechte auf 11,9 % der abgegebenen Stimmen 138, in Göttingen erreichten NSDAP und Vereinigte Deutschvölkische Freiheitspartei 17% der abgegebenen Wählerstimmen 139. Vgl. J.R.C. Wright, Parteien, 234. Vgl. aaO., 96. 13 4 H. Otte, Loyalität, 317 spricht von "eine[r) vorsichtig vorgebrachte[n) Loyalität". K. Mlynek, Hannover, 480 konstatiert, die Republik habe in der Landeskirche keine "überzeugte[.] innere[.) Bejahung" gefunden. Vgl. auch das sich auf den deutschen Gesamtprotestantismus beziehende Urteil von M.J. lnacker, Transzendenz, 67: "Die Stabilisierung der Republik ging einher mit einer relativen Stabilisierung des äußeren Beziehungsverhältnisses gegenüber der Republik, ohne daß die Entwicklung des kirchlich-staatsethischen Demokratieverständnisses deutliche Fortschritte gemacht hätte." 135 Die "Nationalsozialistische Freiheitsbewegung Großdeutschlands", die die Analyse ,,Zur Entwicklung" bei ihrer Angabe meint, bildete sich erst kurze Zeit später. Vgl. H.-G. Gutmann, Gifhom, 26 f. 136 Die in Niedersachsen seit 1919 entstandenen völkischen Gruppen knüpften an antisemitische Vorstellungen aus der Vorkriegszeit an. V gl. J. Noakes, Nazi Party, 9 ff. Die Entwicklung der NSDAP bis zum Hitlerputsch 1923 und ihrem darauffolgenden vorläufigen Ende behandelt W. Maser, Frühgeschichte. Zur Frühgeschichte der Partei in Niedersachsen vgl. neben J. Noakes, Nazi Party auch J. Farquharson, NSDAP; H. Sehrend, Beziehungen. 137 Vgl. Zur Entwicklung. 138 Vgl. H.-G. Gutmann, Gifhom, 26. 139 Vgl. A. v. Saldem, Entwicklung, 176. F. Hasselhom, Göttingen, 50 nennt 18% für Völkischsozialen Block mit Deutsch-Völkischer Freiheitspartei. 132 133

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Teil 1: Judenfeindschaft und Antisemitismus

Das Abschneiden der NSDAP hingegen war zunächst schwach, allerdings geringfügig besser als im Reichl40. Gewisse Ausnahmen waren 1928 vor allem bereits die Stadt Göttingen 14 1 und die ländlichen Gegenden Ostfrieslands 142 - im letzteren Gebiet war der Erfolg vor allem dem Engagement des ehemaligen Borkumer Pfarrers Münchmeyer zuzuschreiben 143. Bei der Reichstagswahl am 14. September 1930, wo der NSDAP ein erdrutschartiger, aber keineswegs überraschenderl44 Durchbruch gelang 145, erzielte sie in der Provinz Hannover mit die höchsten Stimmengewinne. Die Hochburgen lagen im ländlichen Raum 146 des Regierungsbezirkes Hannover, nämlich in den Kreisen Nienburg, Hoya, Sulingen, Stolzenau, Diepholz und Syke, den sogenannten Geestgebieten147, wo sie zur stärksten Partei wurde, in der Lüneburger Heide1 48 und auch in Göttingen 149, wo sie ebenfalls die Führungsposition errang 150. Insgesamt handelte es sich zumeist um recht dünn besiedelte Landstriche, in denen die Agrar- und Forstwirtschaft stark vertreten wartst. Diese Gebiete überschnitten sich zum Teil mit den welfischen Stammregionen152. Die Deutsch-Hannoversche Partei, bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 noch zweitstärkste politische Vgl. W. Günther, Parteien, 31. V gl. auch F. Hasselhorn, Göttingen, 50. Bei den Kommunalwahlen bzw. den Wahlen zum Provinziallandtag I 929 avancierte die NSDAP bereits zur zweitstärksten Partei Göttingens. V gl. aaO., 5 I. 142 Vgl. Zur Entwicklung. Vgl. auch G. Crarner, Voraussetzungen, 71. J.W. Falter, Hitlers Wähler, !55 verfährt nicht so genau, stellt aber fest, daß die NSDAP im Weser-Ems-Gebiet mit am stärksten war. So auch J. Bohmbach, Endphase, 68. Auch im Kreis Bremervörde kam die NSDAP auf7,8% der Stimmen, wobei sie in der Stadt Bremervörde sogar I 6 % erhielt. Stark war sie auch im Kreis Rotenburg!Wümme (13 %). Vgl. ebd. 143 Vgl. J. Noakes, Nazi Party, 122; auchJ. Bohmbach, Endphase, 69; G. Cramer, Voraussetzungen, 71 f. Im Ammerland hatte Münchmeyer von Dez. 1926 bis Juni 1928 auf25 Kundgebungen in meist vollen Sälen agitiert und dabei auch voller Stolz darüber berichtet, daß es ihm gelungen sei, Borkurn frei von Juden zu halten. Vgl. W. Vahlenkarnp, Geschichte, 40. Zu Münchmeyer vgl. unten, Teil I, IX. 144 Vgl. H. Mommsen, Scheitern, 4, der aufdie NSDAP-Erfolge bei den Wahlen aufkommunalerund Länderebene im Jahre 1929 verweist. So auch E. Kolb, Weimarer Republik, I 20 f., der die Juniwahlen I 930 zum sächsischen Landtag anfuhrt. So für Niedersachsen auch H. Sehrend, Beziehungen, 202. 145 Die Partei profitierte vor allem von der deutlich höheren Wahlbeteiligung, den schweren Verlusten der liberalen Mitte und den Einbußen der DNVP. Vgl. J.W. Falter, Hitlers Wähler, 368. 14 6 Auf die Krise der Landwirtschaft ging das LKA Hannover arn 30.1. I 930 in einer Stellungnahme ein. Man konstatierte ein Zerbrechen der Dorfgemeinschaft, eine sittliche Entwurzelung, die Abnahme der Bindung an die Heimat und eine verbreitete Unsicherheit, besonders unter der Landjugend. Vgl. die Notiz in: AELKZ, Nr. 18, 2.5.1930, 428. Zur Agrarkrise in Niedersachsen vgl. auch J. Bohmbach, Endphase, 66 f. V gl. insgesamt auch die allerdings auf den bayerischen Landkreis Günzburg bezogene Studie von Z. Zofka, Ausbreitung. 147 Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 58. Dort lebten vor allem mittlere und kleinere Bauern, die aufViehzuchtspezialisiert waren. Vgl. ebd. 148 Gemeint sind hier die Kreise Gifhorn und Uelzen. Vgl. A. v. Saldern, Sozialmilieus, 21 f. 149 Vgl. Zur Entwicklung. 150 Der Stimmenanteillag bei fast 50%. Vgl. F. Hasselhorn, Göttingen, 51. Hasselhorn bezeichnet die Göttinger NSDAP als "Partei der Mittel-, aber auch der Oberschicht mit wachsender Anziehungskraft auf die Arbeiterschaft". AaO., 55. Vgl. auch die Analyse des Verlaufs der Septemberwahlen in Göttingen, in: F. Hasselhom!H. Weinreis, Göttingens Weg, 56. 151 SoG. Cramer, Voraussetzungen, 81. 152 Im Kaiserreich lagen die welfischen Hochburgen im Regierungsbezirk Lüneburg und in den Wahlkreisen Nienburg!Neustadt und DiepholziHoya. Vgl. W. Günther, Parteien, 22. 140 141

III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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Gruppierung in Niedersachsents3, wurde indessen, mit Ausnahme der Regierungsbezirke Hannover, Lüneburg und Stadel54, zu einer Splitterparteitss. Aber auch von den anderen, bislang in ländlichen Gebieten starken Rechtsparteien DNVP 156 und DVP- neben den Deutsch-Hannoveranern von Pastoren am stärksten mit Wählerstimmen bedacht157 - wanderten Wähler zur NSDAPtss. Bei der preußischen Landtagswahl am 24. April 1932- die Lage der Landwirtschaft in Niedersachsen war mittlerweile noch kritischer geworden 159 - wurde die NSDAP gar zur stärksten Partei in der Provinz Hannover160. Dieser Zustand blieb bei der Reichstagswahl im Juli 1932161 mit 45,2% der Stimmen bestehent62. Nun galt Osthannover als ein Schwerpunkt der NSDAP 163. Wie im Reich brachte auch die Wahl im November 1932 der braunen Partei deutlichere Verluste, z.T. sogar stärker als aufReichsebenet64, dennoch blieb sie mit 39,8% stärkste Kraftt6s. Als Wählerpotential der seit 1928 insbesondere in protestantischen Gebieten erfolgreichen NSDAP 166 galten hauptsächlich die nationalistisch geprägten Teile der bürgerlichen und ländlichen Bevölkerungt67; der Durchbruch 1930 ist insbesondere168 auf die seit 1928 angestrebte Integration des Mittelstands in Mit-

Vgl. H.-G. Aschoff, Deutschhannoversche Partei, 65. In den beiden zuletzt genannten Gebieten schien bei der Septemberwahl 1930 die Agrarkrise noch nicht so weit gegriffen zu haben. Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 58. ISS Vgl. W. Günther, Parteien, 33. Vgl. auch G. Franz, Wahlen, 53: "Stärker und früher als irgend eine andere Partei hatte die welfische Bewegung ihre Anhänger an den hochkommenden Nationalsozialismus verloren." Dies betraf vor allem den Mittelstand und agrarisch geprägte Schichten. Vgl. ebd. Zur Entwicklung der Welfen, "eine[r] ,Rechtspartei' auf christlicher Grundlage, die eine föderalistische Gliederung des deutschen Reiches erstrebte" (aaO., 50 f.), seit der Novemberrevolution vgl. aaO., 50-53; auch H.-G. Aschoff, Deutschhannoversche Partei. ls6 1932/33 war die DNVP in Niedersachsen allerdings stärker als auf Reichsebene. V gl. G. Franz, Wahlen, 55. Vgl. zur DNVP insgesamt aaO., 54 f. Zur Methode der Franzschen Analyse vgl. kritisch G. Cramer, Voraussetzungen, 6. 1s1 Vgl. dazu C. Cordes, Pfarrer, 84 f. ISS Vgl. J. Bohrnbach, Endphase, 76. IS9 Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 58. 160 Vgl. Zur Entwicklung. 161 Vgl. auch E. Kolb, Weimarer Republik, 137. 162 Vgl. die Übersicht bei W. Günther, Parteien, 40. Vgl. auch J. Noakes, Nazi Party, 218 f. 163 Vgl. J.W. Falter, Hitlers Wähler, 159. Dort erreichte die Partei 49,5% der abgegebenen Stimmen. Vgl. J. Bohmbach, Endphase, 87. Über 60 %der Stimmen entfielen auf die NSDAP in den Kreisen Aurich, Wittmund, Friesland, Dannenberg, Soltau, Bremervörde, Rotenburg, Diepholz und Nienburg, mehr als 50% erhielt sie in Hoya, Neustadt am Rübenberge, Einbeck, Northeim, Zellerfeld, Goslar, Göttingen, Wesermünde, Weserrnarsch, Lüneburg (vgl. H. Grebing, Niedersachsen, 221), aber auch in Gifhom (vgl. unten, 119). 164 Vgl. die Analyse von G. Cramer, Voraussetzungen, 106 f. 165 Vgl. W. Günther, Parteien, 40. Von den Verlusten profitierten DVP, DNVP und DHP. Vgl. aaO., 37. 166 Vgl. J.W. Falter, Hitlers Wähler, 175-179. 1932 hatte die Partei die protestantischen Mittelschichten nahezu völlig in ihr Wählerpotential integriert. Vgl. E. Kolb, Weimarer Republik, 122. 167 Vgl. Zur Entwicklung. J.W. Falter, Hitlers Wähler konstatiert für das Deutsche Reich eine relative Stabilität des sozialistischen und katholischen Lagers, während das protestantisch-bürgerliche Milieu, seit 1924 ohne "explizite[.], sozial verbindliche[.] Wahlnorm", den Großteil der NSDAPWähler stellte. Vgl. aaO., 368; Zitat aaO., 370. Vgl. insgesamt auch T. Childers, Nazi Voter. 168 So auch E. Kolb, Weimarer Republik, 122. ISJ

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Teill: Judenfeindschaft und Antisemitismus

glieder-und Anhängerschaft der Partei zurückzuführen169. Hinzu kam, daß die Provinz im Vergleich zum Reichsdurchschnitt erheblich stärker agrarisch geprägt war17o, dabei überwogen wiederum bei weitem die Klein- und Mittelbauem, denen die Agrarkrisen171 besonders stark zu schaffen gemacht hatten112. Diese machten für ihre schlechte ökonomische Situation fast uneingeschränkt den Weimarer Staat und die ihn tragenden politischen Parteien verantwortlich 173 . Hier konnte die NSDAP mit ihrer Propagandatätigkeit frei gewordene Wählerreservoirs besetzen174 und Wählerstimmen abschöpfen175. Zudem galt, fußend auf dem Schriftsteller Hermann Löns, aus völkischer Perspektive der Heidebauer als Prototyp des "freiheitsbewußten germanischen Wehrbaueril" mit wertvollen rassischen Eigenschaften176. Bei den NS-Agrarideologen genoß Niedersachsen besondere Wertschätzung, weil es als typisches Bauernland galt 177•

169 Vgl. J. Noakes, Nazi Party, 246. Der Mittelstand war im übrigen die einzige Gruppe, die das NSDAP-Parteiprograrnrn von 1920 explizit ansprach. Daraufweist H.A. Winkler, Extremismus, 183 hin. Weiter schreibt Winkler, aaO., 188: "Sie [scil. die NSDAP] wurde wählbar, nachdem sie sich praktisch den Gesamtkatalog mittelständischer und agrarischer Schutzforderungen zu eigen gernacht hatte. Und sie wurde gewählt, als die kleinen Selbständigen in Stadt und Land außer ihr keine politische Kraft mehr sahen, die ernst machen würde mit der radikalen Beseitigung aller Widerstände gegen die Verwirklichung der eigenen Wünsche. Dieses Empfinden war entscheidend: nur der Nationalsozialismus versprach, das Übel bei der Wurzel zu packen, die organisierte Arbeiterschaft in ihre Schranken zu weisen, Parlament und Parteien und damit die Gefahr der Majorisierung der Besitzinteressen endgültig auszuschalten." 170 Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 46; auch H. Grebing, Niedersachsen, 217; B. Herlernann, Bauer, 17. So auch fiir ganz Norddeutschland F. Bajohr, Vorwort, 7. Von daher auch der von Gerhard Uhlhorn geprägte Begriff der hannoverschen Landeskirche als "Bauernkirche". Vgl. P. Fleisch, Kirchengeschichte, 85, der diesen Begriff übernimmt. 171 Vgl. dazu D. Gessner, Agrardepression. 172 Vgl. K. Mlynek, Gestapo, 11. Auf die sich hieraus ergebenden Proteste der Landwirte weist B. Herlernann, Bauer, 43 hin. Zum Verhältnis von NSDAP und Landbevölkerung vgl. insgesamt auch J. Farquharson, Plough; R. Heberle, Landbevölkerung. 173 Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 55. 174 Vgl. z.B. die parteiamtliche Kundgebung der NSDAP über die Stellung zum Landvolk und zur Landwirtschaft vom 6.3.1930, in: G. Franz (Hg.), Quellen, 535 ff. Vgl. insgesamt auch F. Bajohr, Vorwort, 7. Dabei lcnüpfte die NSDAP wohl auch an einen gewissen Hang des niedersächsischen Bauern zu politischer Irrationalität an. Vgl. zu diesem Aspekt P. Fleisch, Kirchengeschichte, 150; J. Noakes, Nazi Party, 219. 175 Vgl. H.-W. Niernann, Entwicklung, 56. Die Partei versprach in einem zukünftig von ihr dominierten Staat vor allem der Landwirtschaft eine stärkere Position. Einflußreich war auch die Konzeption einer "Volksgemeinschaft" traditionell-vorindustriellen Musters und der von der Partei propagierte Antisemitismus - zahlreiche Bauern hatten an die Banken hohe Zinszahlungen zu leisten und machten für die fallenden Viehpreise die jüdischen Händler verantwortlich. V gl. aaO ., 57. Zu den jüdischen Viehhändlern in Niedersachsen, die häufig auch dem Schlachterhandwerk nachgingen, vgl. B. Herlernann, Bauer, 172. Sie galten zwar als preislich fair und korrekt, dennoch gab es bereits gegen Ende des Kaiserreiches in den Dörfern aufgrundherrschender Verschuldung an die Händler und eines gewissen Sozialneids einen latenten Antisemitismus. Vgl. aaO., 175 f. Im Winter 1931132 erlangte die NSDAP bei den Wahlen zur hannoverschen Landwirtschaftskammer mehr als 70 % der Sitze. Vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 58. 176 Vgl. H. Grebing, Niedersachsen, 218. 177 Vgl. B. Herlernann, Bauer, 223.

III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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Stark vertreten waren auch Handwerker!78 und Einzelhändleri79, das heißt der gewerbliche Mittelstand, eine weitere Zielgruppe, der die nationalsozialistischen Versprechungen galteniso. Bei der NSDAP handelte es sich somit auch18I um ein "Sprachrohr ( ... ] mittelständischer Protestbewegungen"I82, die sich zwischen dem wirtschaftsliberalen bürgerlichen und dem sozialistischen Milieu der Arbeiter 183mehr und mehr zerrieben fühlteniS4. Auch die Verschuldung des alten Mittelstands und vor allem der Bauern spielte eine wesentliche Rolle185 • Eine von Existenzangst und Hoffnungslosigkeit geprägte Grundstimmung, die sich von liberalen und marktwirtschaftliehen Konzepten nichts mehr versprach und sich nach gesellschaftlicher Geborgenheit sehnte, tat ihr übrigeslS6 . Von diesem Klima waren auch Gymnasiasten, Studierende und Jungakademiker erfaßt, deren Berufsaussichten sich eher bescheiden gestalteteniS7. Im Mittelpunkt von Ideologieiss und Programmatik dieser sich als eindeutige Alternative zum Weimarer "System" präsentierenden 1S9 Protestpartei 190 stand

Zu ihrer Situation vgl. H.-W. Niemann, Entwicklung, 59. V gl. näher aaO., 61-63. Auch hier wird der Antisemitismus der NSDAP auf fruchtbaren Boden gefallen sein, weil 79 % des Gesamtumsatzes der als scharfe Konkurrenten geltenden deutschen Warenhäuser auf jüdische Einrichtungen entfielen. Vgl. aaO., 63. 180 Vgl. K. Mlynek, Gestapo, II f. 1B1 Damit ist berücksichtigt, daß sich die NSDAP-Anhängerschaft zwar vor allem auf den Mittelstand stützte, aber sich auch aus anderen Gesellschaftsgruppen bis hinein in die Arbeiterschaft rekrutierte. Dort überwogenjedoch die in Klein- und Mittelbetrieben Beschäftigten. Vgl. E. Kolb, Weimarer Republik, 118 f. A. v. Saldem, Sozialmilieus, 23 macht darauf aufmerksam, daß Wahlanalysen, die von einem starken Einbruch der NSDAP in das Arbeitermilieu ausgehen, zu wenig berücksichtigen, daß reine Arbeiterviertel kaum existierten. Auf der anderen Seite räumt auch sie ein, "das ,proletarische Element' in der an sich mittelständisch-bürgerlich geprägten NSDAP-Wählerschaft [sei] wohl größer als bisher angenommen wurde." AaO., 25. 182 So K. Borchardt, Handel, 866. 183 Bis auf die letzten Jahre war die SPD in der Weimarer Zeit in Niedersachsen die dominierende Partei. Vgl. G. Franz, Wahlen, 37. 184 W. Zorn, Sozialgeschichte, 914 definiert die völkische Einstellung ,,als romantische Flucht des zwischen Kapitalismus und proletarischem Sozialismus eingeklemmten Mittelstandes". J.W. Falter konstatiert, vor allem die "alte Mittelschicht der selbständigen Geschäftsleute, Handwerker und Bauern" im "nicht-katholischen Bevölkerungsteil" habe eine starke Bereitschaft gezeigt, die braune Partei zu wählen. Ders., Hitlers Wähler, 371. 18s Vgl. aaO., 373. 186 Vgl. W. Zorn, Sozialgeschichte, 914. E. Kolb, Weimarer Republik, 120 spricht von einer "allgemeine[n) Katastrophenstimmung". 187 Vgl. H.-W. Niernann, Entwicklung, 63; vgl. auch M.H. Kater, Studentenschaft, I I f.; I II. 188 Zur NS-Ideologie in der Weimarer Zeit vgl. T. Klepsch, Ideologie. 189 V gl. H. Mommsen, Scheitern, I I. 190 J.W. Falter, Hitlers Wähler, 371 spricht von einer "Volkspartei des Protestes" und weist darauf hin, daß 40 % der NSDAP-Wähler aus der Arbeiterschaft bzw. aus Arbeiterhaushalten stammten, wobei er allerdings mit einem weitgedehnten Arbeiterbegriff operiert. Jedoch muß Falter konstatieren, die Partei wurde "im Schnitt von evangelischer Oberschicht und oberem Mittelstand häufiger gewählt [ ... )als von mittlerem und unterem Mittelstand, und von diesem wiederum häufiger als von der Unterschicht." AaO., 372. 178

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Teil I: Judenfeindschaft und AntiSemitismus

ganz klar der Antisemitismusi9I, was ein Blick auf das Parteiprogramm 192 wie auch aufHitlers Schrift "Mein Kampf' schnell deutlich werden läßt193 . Vor allem während des Werbens um den Mittelstand in den Jahren 1928 bis 1930 gerierte sich die Partei auch in Niedersachsen als antisemitisch. In den Folgejahren trat der Antisemitismusaufgrund der Notwendigkeit, breite Wählerschichten anzusprechen, ein wenig in den Hintergrund. Allerdings spielte er weiterhin eine wichtige Rolle in der speziell auf Landwirte 194, Handwerker und kleine Gewerbetreibende zugeschnittenen Propaganda und auch in den Reihen der eigenen Partei, um die Mitglieder bei der Stange zu halten 195 . In den meisten Fällen dürften im Vordergrund für die Wahlentscheidungjedoch die Krisenbewältigungsverheißungen der aktivistischen Partei gestanden haben 196. Man kann somit festhalten, daß ein Großteil der Wähler dieser Partei nicht vorrangig wegen des von ihr vertretenen Antisemitismus die Stimme gab, die rassistische Judenfeindschaft der Partei sie allerdings auch nicht von ihrer Wahlentscheidung abhielt. Die kirchliche Auseinandersetzung mit der extremen Rechten betraf zunächst das Programm der sich der Völkischen Bewegung 197 zurechnenden Deutschreligiösen198. In der "Evangelischen Wahrheit" wurde 1922 von Lic. Martin Petersi99, Hannover, diese seit Kriegsende äußerst aktive, aber mitgliederschwache200 Glaubensrichtung als Ersatzreligion für den christlichen Glauben bezeichnet20 1. Sie verträte die Auffassung, allein die Rückkehr zum Germanenbzw. Wodansglauben könnte das deutsche Volk aus seiner nationalen Krise herausführen. Peters stellte weiterhin fest, die Deutschgläubigen seien zum größten 191 Er bildete praktisch den ,,Kern dernationalsozialistischen Weltanschauung". V gl. B. Martin, Judenverfolgung, 294-301; so auch T. Nipperdey/R. Rürup, Art. Antisemitismus, 151 ; genauso, aber stärker auf Hitler bezogen, M. Broszat, Machtergreifimg, 82-84; H.-U. Thamer, Verfiihrung, 88. V gl. auch E. Kolb, Weimarer Republik, 11 0, der Antisemitismus und Expansionismus als die beiden Grundkomponenten der NS-Ideologie bezeichnet. Genauso L. Herbst, der von Rassismus und Krieg spricht. Vgl. ders., Deutschland, 9 und passim. 192 Vgl. dazu auch unten, 61. Vgl. auch L. Herbst, Deutschland, 37, der das Programm als ,,rassistisch(.]-antisemitisch[.]" bezeichnet. 193 Hitlers antisemitisches Gedankengebäude nach ,,Mein Kampf' behandelt A. Bein, Judenfrage, 312-317. Vgl. insgesamt auch J.P. Fox, Hitler und die Arbeiten von E. Jäckel, Hitlers Weltanschauung; Hitler; Hitlers Hemchaft. 194 Vgl. B. Herlemann, Bauer, 182: "Der Antisemitismus gehörte zum festen Bestandteil nationalsozialistischer Landagitation". 19S Vgl. J. Noakes, Nazi Party, 209. 196 So auch B. Herlemann, Bauer, 183. 197 Zur Aktivität völkischer Gruppierungen im Niedersachsen der ftiihen 20er Jahre vgl. A. Marx, Geschichte, 196. 198 Vgl. dazu insgesamt K. Hutten, Art. Deutschgläubige Bewegungen, in: RGG3, Bd. 2, 108-112. Zu deren Entwicklung vor 1933 vgl. K. Meier, Kreuz, 79 f. Meier vermeidet hier weitgehend den durch ihn zu DDR-Zeiten eingefiihrten Begriff "weltanschauliche Distanzierungskräfte". Vgl. aaO., 135; 138; vgl. ders., Kirchenkampf, passim. 199 Martin Georg Bernhard Peters, geb. 17.9.1870 Geestendorf, Hilfsprediger Blumenthal, 1900 P. Leer, 1906 Stiftsprediger Loccum, 1912 P. Markuskirche Hannover, 1924 Sup. Jacobi Göttingen, 1.11.1934 Ruhestand, gest. 25.3.1948 Hannover-Kirchrode. 200 Vgl. K. Meier, Kreuz, 79. 2o1 Vgl. Lic. Peters, Wodan und Jesus? Wodan oder Jesus? Zur Auseinandersetzung mit den Deutschreligiösen, in: EvW, XIIU11/12, März-Nr. 1922, 154-156; hier: 154.

III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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Teil antisemitisch ausgerichtet und würden in ihrer radikalsten Ausprägung auch vor einer Verwerfung des Alten Testamentes202, ja sogar des Christentums als Ganzem203 nicht haltmachen. Er räumte ein, daß gewiß die heroische Einstellung der frühesten Vorfahren der nunmehr desillusionierten deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration zum Vorbild gereichen könnte, aber ansonsten gegen die religiöse Ausprägung der Besinnung auf die Germanen eher Bedenken angebracht seien204. Da schon die schlechte Quellenlage kein "sicheres Bild" von der altgermanischen Religion zulasse205, handele es sich bei dem Germanenkult der Deutschgläubigen um eine unhistorische Idealisierung206 . Peters schloß seine Darlegungen mit der Einschätzung: "lrgendeine Verständigung ist hier nicht zu erhoffen; denn das ionerste Empfinden, aus dem dieser Deutschglaube geboren, erscheint als dem christlichen durchaus entgegengesetzt."207 Allerdings habe der "Deutschglaube" in gewisser Hinsicht einen berechtigten Kern. Peters deutete ihn als "eine Erscheinungsform des nationalen Idealismus", der für das deutsche Volk "als Reaktion gegen das undeutsche Wesen, das bei uns erschreckend überhandgenommen hat, dessen einflußreichste und gefährlichste Vertreter fraglos die Judenzos sind, wie als positives Programm der Pflege unserer völkischen Eigenart" durchaus notwendig sei, "wenn wir uns nicht in einen charakterlosen internationalen Mischmasch auflösen und damit einem sicheren kulturellen und sittlichen Verfall preisgeben wollen". Das deutsche Volk bestehe 202 Vgl. hierzu auch den Literaturbericht von E. Thiele (Hittfeld bei Hamburg), Die antisemitische Bewegung unserer Zeit und das Alte Testament; dargestellt an ihrem Schrifttum, in: AELKZ, Nr. 28, 14.7.1922, 436-440; Nr. 29, 21.7.1922, 453-456; Nr. 30, 28.7.1922, 469-471; Nr. 31, 4 .8.1922, 485 f. Der aus der hannoverschen Landeskirche stammende Verfasser gelangt zu dem Resümee: "Der Kampf gilt dem Alten Testament. Man will mit allen Mitteln das Christentum ,entjuden' oder an die Stelle des Christentums den Wodanskult, an die Stelle der Bibel weltliche Dichtwerke und Ähnliches setzen. Diese Kreise leiden alle an einem Fehler: Sie berücksichtigen nicht die Entwickelung vom Judentum zum Christentum, sie bauen ein Haus ohne Fundament. Völkischer Kampf sollte nicht mit religiösem Kampfverquickt werden. Diesen Schritt dürfte ein ernster Christ nicht mitmachen. Wenn er auch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen kann, daß die christlichen Völker, zumal das deutsche Volk in seiner gegenseitigen Hilflosigkeit schwer unter der jüdischen Herrschaft zu leiden haben, wie sie sich im besonderen breitmacht in der Presse (,Berliner Tageblatt', ,Frankfurter Zeitung'), im Wirtschaftsleben und in der Politik, und daß eine Abwehr nicht nur durchaus notwendig, sondern auch christlich erscheint, so darf man diese Abwehr nicht aus religiösen Gesichtspunkten betreiben. Dinters ,Sünde wider das Blut' fiihrt als Leitsatz den Vers aus dem ersten Johannesbriefe ,Glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind.' [I. Job 4, !]Eben deshalb werden wir diese Geister, wie sie oben geschildert wurden, mit ihrem Kampf gegen den lebendigen Gott und sein heiliges Wort nicht als Aufrichter des Vaterlandes, sondern als seine Verderber betrachten müssen." AaO., AELKZ, Nr. 31, 4.8.1922, 486. Zu Dinters rassistischem Roman vgl. H. Greive, Geschichte, 109. 203 Vgl. Lic. Peters, Wodan und Jesus? Wodan oder Jesus? Zur Auseinandersetzung mit den Deutschreligiösen (Fortsetzung), in:EvW, XIII/14, Zweite April-Nr. 1922, 182-186; hier: 184-186. 204 Vgl. dass., aaO., XIII/Il/12, März-Nr. 1922, 154-156; hier: !55 f. 2os Dass., aaO., XIII/13, Erste April-Nr. 1922, 170-172; hier: 171. 206 Vgl. dass., aaO., XIII/14, Zweite April-Nr. 1922, 182-186; hier: 182. 2o1 Dass., aaO., XIII/15, Erste Mai-Nr. 1922,205 f.; hier: 205. 2os 1924 sprach eine in der "Ev. Wahrheit" publizierte Bibelbetrachtung gar vom "Streben des internationalen Judentums, das auch mit dem Frieden und Dasein ganzer Völker spielt, um auf den Trümmern der jetzigen Reiche das erträumte jüdische Weltreich zu errichten." Ostermann, Politik und Opfer, in: EvW, XV/20, Zweite Juli-Nr. 1924, Titelblatt.

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Teil!: Judenfeindschaft und Antisemitismus

zwar nicht nur aus germanischen, sondern auch aus slawischen Elementen, wobei sich erstere jedoch durchgesetzt und die "einheitliche deutsche Kultur209" gebildet hätten. "Daß diese heute in der ernstesten Gefahr steht, die nicht nur aus eigener Schwäche und Entartung kommt, sondern auch von äußerer Infektion her, ist am Tage. Man denke nur an die Rolle, die die Ostjuden im Wirtschafts- und Geistesleben des neuen Deutschlands spielen. Dawider muß alles, was deutsch fühlt, sich aufraffen und zusammenschließen, nicht eindringlich genug kann an diese nationale Pflicht erinnert werden"2IO. Die "Evangelische Wahrheit" bot ihren Lesern eine entschiedene Auseinandersetzung mit der völkischen Glaubensrichtung auf religiösem Gebiet und wies auf deren ablehnende Haltung gegenüber dem Alten Testament und auch dem Christentum deutlich hin. Andererseits wurden die Gedanken des dem Deutschglauben zugrundeliegenden deutsch-völkischen Denkens nicht vollständig verworfen, indem auch Peters auf eine ihm gefährlich erscheinende Rolle der Juden und besonders der Ostjuden im Nachkriegsdeutschland hinwies. Im November 1922 konstatierte das "Sonntagsblatt" in einer kurzen Notiz eine verstärkte politische Aktivität der Nationalsozialisten und fügte zu ihrer Charakterisierung hinzu, es handle sich um "eine scharf antisemitische Partei", die als spezielle Zielgruppe die Arbeiter anvisiere. Als ihr politisches Leitbild wurden sachgerecht die Faschisten Italiens angegeben2II. Auch der gescheiterte Hitlerputsch 1923212 füllte, bezeichnet als "eine tieftraurige Geschichte", die Zeitspiegelspalte des "Sonntagsblattes"213. Er wurde vor allem deshalb als negativ gewertet, weil einerseits "Bruderblut" vergossen wurde, womit der Einsatz der bayerischen Landespolizei gegen die Aufständischen214 gemeint war, und auf der anderen Seite eine Schwächung der völkischen Bewegung die unabdingbare Folge sein mußte. Zudem galt Hitler, die Zentralgestalt der noch kleinen, allerdings lautstarken NSDAP21 5, als emphatischer "Agitator", zum Staatsmann nicht fähig. Der völkischen Bewegung mangele es zwar nicht an "lebendige[r] Begeisterung", allerdings "fehl[t]en" ihr die "tieferen, sittlichen, aus religiösem Verantwortungsgefühl geborenen Kräfte". Einem Führermythos verfielen die in Hannover kirchlich Verantwortlichen demnach noch nicht. Die völkischen Kräfte wurden in ihrem politischen Kern aufknappe Weise richtig charakterisiert und als hochmotiviert, aber doch ohne ethische Grundlagen eingestuft. Daß der Putsch die Beseitigung der 1919 errichteten Repu209 Das HaSo, Nr. 50, 11.11.1921 machte die Überrepräsentanz von Juden im Theaterwesen fur dort festgestellte unsittliche Tendenzen verantwortlich. Vgl. I. Arndt, Judenfrage, 22. 210 Lic. Peters, Wodan und Jesus? Wodan oder Jesus? Zur Auseinandersetzung mit den Deutschreligiösen (Schluß), in: EvW, XIII/15, Erste Mai-Nr. 1922, 205 f.; hier: 206. 211 Zeitnachrichten, 20.11.1922, in: HaSo, 55/48, 26.11.1922, 416. 212 Vgl. H. Mornmsen, Hitler; H.H. Hofmann, Hitlerputsch; auch M. Broszat, Machtergreifung, 937; E. Kolb, Weimarer Republik, 53. m HaSo, 56/42, 18.11.1923,340. 214 Vgl. dazu H.A. Winkler, Weimar, 235. 215 Vgl. A. Tyrell, Scheitern, 19; auch M.H. Kater, Soziographie. Kater gelangt zu dem Schluß, daß die NSDAP unmittelbar vor dem Hitlerputsch vor allem den unteren Mittelstand anzog und vorherrschend agrarisch geprägt war. Vgl. aaO., 153.

III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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blik zum Ziel hatte216, wurde allerdings nicht thematisiert. Bemerkenswert ist auch der Hinweis aufden von der NSDAP vehement vertretenen Antisemitismus, derbereits im NSDAP-Parteiprogramm von 1920 eine zentrale Stellung einnahm217. 1924, die Rechte hatte insgesamt bei den Reichstagswahlen stark zugenommen2Js, setzte sich der scheidende Herausgeber Paul Fleisch219 in der "Evangelischen Wahrheit" mit den Völkischen erstmals grundsätzlich auseinander220. Das Ende seiner Schriftleiterzeit bei der "Evangelischen Wahrheit" nahm Fleisch, politisch ein Anhänger der Deutsch-Hannoveraner221, zum Anlaß, diese Vgl. dazu H. Mommsen, Hitler, 33. Vgl. M.H. Kater, Soziographie, 145-148; auch K. Meier, Kreuz, 152. Das NS-Parteiprogramm ist abgedruckt in: W. Hofer (Hg.), Nationalsozialismus, 28-31. 21s Vgl. dazu H.A. Winkler, Weimar, 261 f. 2 19 Fleisch hatte das Blatt seit 1915 verantwortlich betreut. Vgl. H. Follrichs, Auseinandersetzung, 213. Paul Fleisch, geb. 11.2.1878 Hamburg, Theologiestudium Greifswald, Erlangen und Göttingen, theol. Examina Harnburg und Hannover, 1904 Ordination, 1908-1911 erster Geistlicher des Evangelischen Vereins (später Landesverein fiir Innere Mission), zugleich Schriftleiter des "Hann. Sonntagsblatts" (nochmals während des Ersten Weltkrieges), 1911 Stiftsprediger Loccum, 1917 KonventuaiStudiendirektor Loccum, theologischer Ehrendoktor Göttingen, 1924 OLKR LKA Hannover mit Zuständigkeit fiir Schulfragen, Jugendarbeit, Wohlfahrtsdienst und Innere Mission, 1932 Geistlicher Vizepräsident LKA, 1933 Zwangspensionierung durch DC, nach "Celler Urteil" 1935 wieder LKA, 1936 zudem Tätigkeit im Sekretariat des Lutherrats Berlin, 1937 Konventual Kloster Loccum, 19451948 Leiter des hannoverschen Sekretariats des Lutherrats, 1947 Ruhestand, 1950 Prior des Klosters Loccum, verstorben 1962. Zu Fleisch vgl. ders., Erlebte Kirchengeschichte; J. Schulze, Leben. 220 Vgl. Kirchliche Rundschau, in: EvW, XVI/4, Zweite Nov.-Nr. 1924, 50-55. Jetzt auch abgedruckt und zugleich mit Anmerkungen und einer Einleitung versehen in: H. Follrichs, Auseinandersetzung, 220-234. Die völkische Bewegung und den von ihr vertretenen Idealismus hatte Fleisch bereits im Rahmen eines Referates zur Frage des kirchlichen Wiederaufbaus während der Hannoverschen Pfingstkonferenz vom 17.-19.6.1924 gestreift und war dort zu dem Schluß gelangt, daß "gegen das Steckenbleiben im Rassegedanken, die Herabsetzung Jesu als Semiten[ .. . ) und die Hochschätzung der völkischen Reinheit vor der sittlichen" entschieden gekämpft werden müsse. Kirchliche Chronik. Die diesjährige Jahresversammlung der Lutherischen Vereinigung (Schluß), in: HaSo, 57/28, 13.7.1924, 281. G. Lohmann berichtete fiirdie AELKZ: "Ein großes Problem stellt der völkische Flügel in der Jugendbewegung, der Idealismus der Tat dar; hier muß gezeigt werden, daß das Christentum dem tiefsten Verlangen des deutschen Gemütes entspricht. Wer in Rassegedanken stecken bleibt, bleibt in Materialismus stecken. Wer Jesus als Juden schmäht und ihn sich nur als Arier gefallen lassen will, schmäht den Herrn der Kirche. Wenn man nur völkische und nicht sittliche Reinheit betont, so umgeht man die Forderungen Gottes und des Gewissens. Gegenüber einem altgermanischen Religionsersatz gibt es nur Kampf. [ ... ] Die Ausfiihrungen des Referenten fanden bei der Versammlung allgemeine Zustimmung. Über die soziale Frage, die Jugendbewegung und über die Völkischen wurde noch weiter behandelt. Wohin die Entwicklung der letzteren geht, wird noch abzuwarten sein." Ders., Jahresversammlung der lutherischen Vereinigung in Hannover am 17.-19. Juni 1924 (Hannoversche Pfingstkonferenz), in: AELKZ, Nr. 35, 29.8.1924, 550-554; hier: 553 f.; vgl. dazu auch P. Fleisch, 100 Jahre, 95. In einem Nachwort des Herausgebers Lueder wurde auch im "Hann. Sonntagsblatt" die Frage der Völkischen aufgegriffen. Dort wurde die enge Korrespondenz zwischen Gottes- und Vaterlandsliebe betont. Nur wenn die Vaterlandsliebe an die erste Stelle rücke, werde sie zum "Götzendienst". Aus Politik dürfe nicht Religion werden. Zugleich müßtenjedoch die nach Lueders Auffassung guten Anliegen der völkischen Rückbesinnung auf das Vaterland von der Kirche aufgenommen werden. HaSo, 57/30, 27.7.1924, 296. Zu Fleischs publizistischer Kritik am Anliegen der DC 1933 und 1934 vgl. H. Follrichs, Auseinandersetzung, 216 f. 221 Dies gab er auch unumwunden in der Loccumer Gemeindeöffentlichkeit zu. Vgl. ders., Kirchengeschichte, 87; vgl. auch aaO., 151, wo es heißt, Fleisch habe bis hin zu den Provinziallandtagswahlen im März 1933 dieser Partei die Treue gehalten. 216 217

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Teill: Judenfeindschaft und Antisemitismus

nach seiner Ansicht derzeit "schwierigste" Problematik zu behandeln. Dies entspreche auch der Aufgabe der von ihm redigierten Zeitschrift, den christlich gebundenen Lesern Kriterien für die Auseinandersetzung mit den wichtigsten geistigen Strömungen der Zeit an die Hand zu geben222. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen wies Fleisch die Auffassung zurück, die Kirche dürfe die völkische Bewegung nicht zurückstoßen. Andernfalls laufe sie Gefahr, so die damals geläufige These, wie im Fall der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wiederum eine entscheidende politische Gruppierung mit Massenbasis zu verprellen223. Die Folge könnte ein deutlicher Mitgliederschwund sein224 • Das Volkstum als solches dürfe von der lutherischen Kirche nicht überbewertet werden225, mahnte Fleisch. Unter Verweis auf die Zwei-Reiche-Lehre Luthers226 führte Fleisch aus, daß der Christ Glied des Gottesreiches "und der natürlichen Schöpfungsordnung" sei. Auch die Kirche ist in diese Ordnung, die sich in die Bereiche Sippe, Volk und Menschheit aufgliedert, "verflochten". Sie "darf" auf Grund der Differenz zwischen dem Reich Gottes, das sie zu verkündigen hat, und dem Reich der Schöpfung, das unter der Herrschaft der Sünde steht227 , "darin" jedoch "nicht aufgehen". Ja, der Christ versteht seine Welt zwar als Geschenk Gottes, ist aber zugleich verpflichtet, die dort herrschende Sünde zu "bekämpfen"228. Fleisch charakterisiert sich selbst als jemand, der sich intensiv und auch begeistert mit den Traditionen des deutschen Volkstums befaßt habe. Deshalb sei es für ihn umso betrüblicher, gegen die "falsche(.] Vergötterung dieses Volkstums" angehen zu müssen. An dieser Stelle sei nämlich zu bedenken, daß es sich bei Tacitus' Darstellung der Germanen, auf die sich die Völkischen bezogen, um eine Idealisierung der deutschen Vorfahren durch einen des zivilisierten Lebens in Rom überdrüssig Gewordenen handelte. Zu dieser Grundaufgabe der Zeitschrift vgl. auch H. Follrichs, Auseinandersetzung, 213 f. Diese Erwägung war auch mitbestimmend fiir das Verhalten des hannoverschen Landesbischofs Marahrens, der 1945 resümierte: "Ich wollte nicht, daß man wieder wie einstmals, als sich die Kirche und die aufbrechende Arbeiterbewegung auseinanderlebten, mit Recht von einem mangelnden Verständnis der Kirche fiir das neue Wollen und fiir den Kampf, der gefiihrt wurde, reden sollte." Auszug aus einem der Bekenntnisgemeinschaft gegebenen Rückblick von D. Marahrens (8. Aug. 1945), in: E. Klügel, Landeskirche. Dokumente, 204 f. Mit ähnlichem Tenor auch der auf dem Königsherger Kirchentag 1927 gehaltene Vortrag "Kirche und Volkstum" von Paul Altbaus, in: H.-W. Krumwiede, Kirche, 187-207. 224 Vgl. P. Fleisch, Kirchliche Rundschau, in: H. Follrichs, Auseinandersetzung, 222. m V gl. ebd. Ein ähnlicher Gedanke wurde auch während der auf der hannoverschen Pfingstkonferenz 1927 gefiihrten Erörterung geäußert. In dem Bericht der AELKZ heißt es: ,,In der Aussprache wurde betont, daß es sich zwischen Christentum und Volkstum um ein irrationales Verhältnis handele, das nicht auf eine glatte Formel zu bringen sei. Die V.M. [sei!. Volksmission] müsse I. Kor 7,4 und 9,20 beachten. Müsse sie das Volkstum zerschlagen, so geschehe es mit tiefstem Schmerz. (So D. Fleisch). Es dürfe aufkeinen Fall die Bedeutung des Volkstums überspannt werden aufKosten des Christentums[ ... ] Nichts schade der Verkündigung des Evangeliums mehr als die Angst, es könne Unruhe geben". Tagung der Lutherischen Vereinigung Hannovers, II, in: AELKZ, Nr. 36, 9.9.1927, 852-855; hier: 855. zu; Vgl. dazu N. Hasselmann (Hg.), Gottes Wirken, Bd. I u. 2; kurz und prägnant W. Härte, Kritik. 227 Der Dualismus zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung ist ein von der lutherischen Tradition des 19. Jahrhunderts geprägter Terminus. Vgl. F.W. Graf, Kulturluthertum, 37 f. 228 P. Fleisch, Kirchliche Rundschau, in: H. Follrichs, Auseinandersetzung, 224 f. 222 223

111. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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Die alten Quellen schilderten auch die "Sünde", die bei den Germanen herrschte: In der Edda, einer Zusammenstellung altnordischer Dichtungen, sei auch von "Hintergehung und Falschheit" die Rede, und auch die "naive[.] Vielweiberei" Karls des Großen werde nicht verschwiegen. Hieraus zog Fleisch den Schluß: "Wo man in der völkischen Bewegung von Buße nichts hören, diesem Könige nicht dienen wollte, wo man menschliche Führer vergötterte und den göttlichen verwürfe, da könnte Luthers Kirche sich nur still abwenden und beten für ihre lieben Deutschen, daß Gott sie in die Buße führe."229 Fleisch erkannte in der völkischen Bewegung eine Richtung, die das Volkstum überhöhte. An einer solchen Mystifizierung konnte sich die lutherische Kirche, der an einer realistischen Sicht der weltlichen Gegebenheiten gelegen sein mußte, nicht beteiligen. Bereits 1924 kritisierte Fleisch den Führerkult und die Absolutstellung des Volkstums als mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Letzterer habe primär das Gottesreich in seiner Differenz zum Reich der Welt zu verkündigen. Für Fleisch gab es noch eine weitere, tiefergehende Ebene der "Auseinandersetzung": Für den Christen habe die Zugehörigkeit zum Reich der durch Christus begnadigten Sünder, zum Reich Gottes, einen höheren Wert als die Gliedschaft im Schöpfungsreich. Im Reich Gottes seien alle in der Welt bestehenden rassischen, sozialen und geschlechtlichen Unterschiede aufgehoben (Gal 3,28). Deshalb sei für den Christen "Rassenantisernitismus [ ... ]unmöglich", obwohl auch der Autor "den gefährlichen Einfluß eines gewissen- nicht des Judentums" nicht leugne. In jedem Glied eines anderen Volkes oder einer anderen Rasse sei für den Christen primär der Glaubensbruder bzw. der potentielle Mitchrist zu sehen. "Die christliche[ ... ] Lösung der Judenfrage2JO heißt Judenmission"23 1• Scharf wandte sich Fleisch hierbei gegen völkische Kritik an der Judenmission. Vor "dem Herrn Jesus Christus" seien "Jude und Grieche, Arier und Nichtarier als Christen eins". Auch der "Rassenhochmut" sei deshalb dem Christen verwehrt. Jede Rasse sei "Fleisch"232. Abschließend bemerkte der Verfasser: "Darum bleibt die einzige Möglichkeit fiir die Kirche zu erklären: Unser Volkstum zu wahren und zu ehren, ist Christenpflicht. Wer es will, dem reichen wir gern die Hand. AaO., 225 f. ; Zitat: 226. Zu diesem um 1840 in Deutschland entstandenen Begriffvgl. A. Bein, Judenfrage, 1-4. Bein zeigt, daß vor allem Kritiker der Judenemanzipation mit dem Wort operierten. Vgl. aaO ., 3. Der französische Literat und Philosoph Jean-Paul Sartre formulierte- allerdings erst 1945: "Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden, und wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen." Zit.n. aaO., I. 23I Vgl. auch das auf einer Analyse von "Saat auf Hoffnung", des ,,Messiasboten" oder der Beiträge zur Judenmission in den Bänden des ,,Kirchlichen Jahrbuches" beruhende Urteil J.-C. Kaisers: "Verdeckt, bei näherem Zusehen jedoch höchst eindeutig, stellt sich als ,Lösung' der gespannten VaterSohn-Beziehung und damit letztlich auch der sogenannten Judenfrage in ihrer Gesamtheit die vollzogene Bekehrung aller Juden zum Christentum dar". Ders., Der deutsche Protestantismus, 212. Vgl. auch unten, Teil!, VI. 232 P. Fleisch, Kirchliche Rundschau, in: H. Follrichs, Auseinandersetzung, 226-230. 229

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Aber er muß abrücken von der Vergötterung des Volkstums und des Rassegedankens und in Buße sich beugen vor seinen Herrn und Erlöser. Wo arisches Hakenkreuz [ ... ] gegen Christi Kreuz sich stellt, da gibt's nur reinliche Scheidung"233.

Die Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre Luthers im Sinne einer Zwei-Regimenter-Lehre234 verhalf Fleisch zu einer nüchternen Sicht der völkischen Bewegung. Das Volkstum durchaus achtend und schätzend, warnte er ausdrücklich vor dessen Überhöhung und einer daraus folgenden Abwertung anderer Völker. Dieser Aufsatz gab den Gemeindegliedern klare Kriterien zum Umgang mit völkischem Gedankengut an die Hand. Die völkische Bewegung beschäftigte die "Evangelische Wahrheit" auch in den Folgejahren. Im Herbst 1926 ging der nun für das lutherische Periodikum verantwortliche Herausgeber Wilhelm Lueder in der Rubrik "Kirchliche Rundschau" anband von neu erschienener Literatur wieder auf das Verhältnis zwischen Kirche und völkischer Bewegung ein. Lueder stellte in seinem Beitrag völkische Deutungen des Christentums dar. Anerkennenswert war nach seiner Auffassung die Wertschätzung der Religion, die im Blick auf eine erhoffte Erneuerung des deutschen Volkes als unentbehrlich galt. Deshalb trat man für eine Germanisierung des Christentums ein. Lueder unterschied zwischen den Deutschgläubigen, die als Kirchenfeme "an das Evangelium der Rasse und die Weltsendung des Germanentums" glaubten, und der prä-deutschchristlichen "Deutschkirche"235, die sich für eine Entfernung der "artfremden Gifte" des Judentums aus dem christlichen Glauben einsetzte236 und eine Germanisierung des Christentums anstrebtem. Für erstere war Jesus "der weiche Semit", letztere sahen in ihm den "kampffrohe[n] Arier". Lueder bemängelte den bei den Deutschvölkischen fehlenden Sündenbegriff: "Es ist doch im Grunde das falsche Evangelium von der Selbsterlösung, das, wie in allen idealistischen Richtungen, auch in der völkischen Bewegung gepredigt wird". Nicht das Evangelium, sondern völkische Gedanken dienten dieser Gruppierung als Richtschnur für ihr Urteil. Auch ständen sie mit ihrer Ablehnung des Paulus im Gegensatz zu Luther und der Reformation. Hinzu komme die ablehnende Haltung gegenüber dem Alten Testament, die paradoxerweise auf dessen nationalen Charakter zurückgeführt werde. AaO., 233. Vgl. zu dieser Thematik insgesamt ebenfalls die Beiträge in: N. Hasselmann (Hg.), Gottes Wirken, Bd. I; II. 235 Bei der "Deutschkirche" handelte es sich zum einen um das sonntäglich erscheinende Organ des "Bundes fiir deutsche Kirche" (vgl. K. Meier, Kreuz, 22-26; vgl. auch H. Buchheim, Glaubenskrise, 45-48; A. Mohler, Konservative Revolution, 371-375), zum anderen aber auch um die Bezeichnung fiir diese Vereinigung. Vgl. J.R.C. Wright, Parteien, 127 f. Gründungsdatum der Organisation war 1921, im Oktober 1922 erschien erstmals die "Deutschkirche". Vgl. K. Meier, "Bund fiir deutsche Kirche", 179. Vgl. zur Deutschkirche auch die von Johannes Schneider vorgebrachte zeitgenössische Kritik in: KJ 1924, 467; vgl. auch KJ 1925, 556 f.; auch E. Röhm/J. Thierfelder, Juden, Bd. I, 68 f.; H.-J. Kraus, Kirche, 254. 236 So wandten die Vertreter dieser Richtung sich gegen Judenmissionskollekten, die Behandlung des Alten Testaments im Religionsunterricht und gegen Juden in kirchlichen Ämtern. Zudem traten sie fiir eine religiöse Sprache ohne Hebraismen ein. Vgl. J.R.C. Wright, Parteien, 127 f. 237 V gl. W. Tilgner, Judentum, 30 I. 233

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III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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Durchaus berechtigt seien die völkischen Anregungen zu einer stärkeren christlichen Besinnung auf die Natur und den eigenen Körper. Positiv zu werten sei deren "Liebe zum Volk" und "das Streben nach Reinheit der Gesinnung". Bei aller Anerkennung von Blut und Geist müsse jedoch das Evangelium seinen reinigenden Charakter zugebilligt bekommen, forderte Lueder. Positiv ließ Lueder gelten, daß die Deutschkirche immerhin völkisch orientierte Christen weiterhin an die Kirche binde238. Er fügte allerdings hinzu, ein Zusammengehen zwischen Christentum und völkischer Bewegung werde auch dadurch erschwert, daß es sich bei letzterer um eine politische Gruppierung handle. Die Kirche habe aber für alle Mitglieder dazusein. Auf Grund der universalen Dimension des Evangeliums könne die Kirche zudem den Rassegedanken nicht für sich übernehmen239 • Auch Lueder hob die gegen die Völkischen gerichteten theologischen Bedenken hervor. Im Unterschied zu Fleisch argumentierte er jedoch nicht nur theologisch, sondern auch kirchenpolitisch. Er betrachtete die "Bewegung" auch aus der Perspektive der Institution Kirche, indem er durchaus bemüht war, die Deutschkirche zu integrieren, und deren Anziehungskraft aufKirchenglieder, die ansonsten Gefahr liefen, der Kirche verlorenzugehen, hervorhob und würdigte. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Kirche und Völkischen operierte Lueder mit dem Konstrukt der über den Parteien stehenden Kirche, die nicht eine politische Richtung bevorzugen dürfe, weil sie ansonsten anders orientierte Glieder abschrecken würde240. 1927 äußerte sich Fleisch in einem größeren Aufsatz zum Thema: "Christentum und Volkstum", der als Serie in der "Evangelischen Wahrheit" erschien241 . Darin ging der im hannoverschen Luthertum fest verwurzelte Theologe davon aus, daß der Begriff Volkstum nicht "auf der ,Rasse"' - hierbei handele es sich um "ein noch sehr umstrittenes Gebiet"- beruhe, sondern durch das "Geblüt", die Landschaft, das gemeinsame historische Erleben und besonders die Sprache definiert sei. Für den "evangelische[n] Glaube[n]" wählte er die folgende Definition: "Evangelischer Glaube ist dort, wo durch das Evangelium vom Gekreuzigten und Auferstandenen einem Menschenherzen der heilige und doch gnädige Gott in Christus so gegenwärtig nahe tritt, daß dies trotz seiner Sünde nicht anders kann als ihm vertrauen."242 Volkstum und Christentum gehören zwei unterschiedlichen Bereichen an243. Der Christ ist in das Volk hineingestellt und hat dort seine Aufgaben wahrzunehmen, die Kultur des Volkstums hat Einfluß auf die spezielle, in das Volk hineinwirkende christliche Verkündigung. Die Kirche ist als für die Ver-

Kirchliche Rundschau, in: EvW, XVIII/2, Zweite Okt.-Nr. 1926, 19-22. Vgl. Kirchliche Rundschau (Schluß), in: EvW, XVIII/3, Erste Nov.-Nr. 1926, 34-38. 240 Vgl. dazu bereits oben, 52. 241 Christentum und Volkstum, in: EvW, XVIII/10, März-Nr. 1927, 149-152; aaO., Nr. -11, Erste April-Nr. 1927, 167-169; aaO., Nr. 12, Zweite April-Nr. 1927, 189-191; aaO., Nr. 13, Erste Mai-Nr. 1927, 199-201. 242 Bei Fleisch als Zitat gekennzeichnet; Quellenangaben waren in der EvW gewöhnlich nicht gebräuchlich. AaO., XVIII/10, März-Nr. 1927, 149-152; hier: 150. 243 Ebd. 238 239

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Teil 1: Judenfeindschaft und Antisemitismus

kündigung verantwortliche Institution ebenfalls mit dem Volk stark verbunden und kann auf das Volkstum durchaus prägend wirken244 • Aufgabe des Christen sei, das Volkstum als Geschenk Gottes zu empfangen, aber auch die hier vorhandene Sünde zu bekämpfen. Die neue Betonung des Volkstums sei durch den Christen zu begrüßen, "aber die Überschätzung kann er als Christ nicht mitmachen, vor allem nicht den Rassenantisemitismus und die Ariervergötterung, die Jesus nur gelten lassen, indem sie ihn zum Arier stempeln." Diese Auffassung sei theologisch zu kritisieren, da nicht das Judesein Jesu für den christlichen Glauben entscheidend sei, sondern seine Funktion als "Sohn Gottes ( ... ], in dem Gott war", als "unser Heiland". Fleisch fuhr fort: "Jenem Rassenfanatismus liegt ein so krasser Blutmaterialismus zugrunde, daß ihn der Christ nur im Namen des Evangeliums der freien Gnade Gottes und im Namen der gottbegründeten Sittlichkeit aufs entschiedenste bekämpfen kann. Denn diese Rassensittlichkeit endet schließlich in Eugenik24s, ja in Gedanken, die verzweifelte Ähnlichkeit mit Gestütseinrichtungen haben. "246 Entschieden wandte sich Fleisch gegen die völkische Ablehnung des Alten Testaments, das für ihn zwar auch nur eine "Vorstufe" zum Neuen Testament darstellte, aber immerhin den Charakter einer "Vorstufe" besaß, "die hinaufführt zur Höhe". Das Neue Testament sei ohne das Alte nicht zu verstehen. Scharfwies er die völkische These zurück, daß sich die germanische Überlieferung gegenüber dem Alten Testament durch ein höheres Maß an Sittlichkeit auszeichnete. Hierbei handle es sich um "eine maßlose Überschätzung des eigenen Volkstwns"247 . Ausgehend von einer deutlich lutherisch geprägten Theologie, erwies sich Fleisch gegenüber Kernaussagen der völkischen Ideologie als durchaus resistent. Bemerkenswert ist Fleischs hellsichtiger Hinweis, daß Rassedenken irgendwann in praktizierter Eugenik aufgehen würde, und seine eindeutige Ablehnung dieses Weges. Damit unterschied er sich auch von der im Protestantismus der zwanziger Jahre weit verbreiteten eugenischen Wissenschaftsgläubigkeit248. Vom 14. bis zum 17. Juni 1927 wurde auf dem K.irchentag249 in Königsberg das Thema: "Kirche und Volkstum" schwerpunktmäßig behandelt250. August Marahrens berichtete von dieser Tagung in der "Evangelischen Wahrheit"251 . Der Bischof legte dar, es wirke sich auch auf den Deutschen Evangelischen K.irchenbund2S2 aus, daß es dem deutschen Volk "immer wieder verwehrt bleibt, sich in der Welt zu der ihm zukommenden Geltung zu bringen", und es ihm nicht Vgl. aaO., !SI f. Zur kirchlichen Position in der Eugenikdiskussion in der Weimarer Republik vgl. K. Nowak, "Euthanasie", 91-95. Vgl. insgesamt P. Weingart/J. Roll, Rasse. 246 Paul Fleisch, Christentum und Volkstum, in: EvW, XVIII/12, Zweite April-Nr. 1927, 189-191; hier: 190. 247 AaO., 191. 248 Vgl. dazu auch J.-C. Kaiser u.a., Eugenik, XVI. 249 Der Kirchentag hatte die Funktion einer "Synode" des Deutschen Ev. Kirchenbundes. Vgl. K. Scholder, Kirchen, Bd. I, 38. 250 Vgl. dazu aaO., 140-144; K. Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 173-177. 251 August Marahrens, Der deutsche evangelische Kirchentag in Königsberg, in: EvW, XVIIU18, Erste Aug.-Nr. 1927, 278-285. 252 Zu Entstehung und Funktion des Kirchenbundes vgl. K. Scholder, Kirchen, Bd. I, 36-39. 244

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III. Die Stellung zur Völkischen Bewegung und zur NSDAP

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möglich sei, den im Ausland lebenden "Volksgenossen"253 zu Hilfe zu kommen. Er beklagte sich über die nach Ende des Ersten Weltkrieges zu leistenden Gebietsabtretungen254, welche "die Einheit von Staats- und Volksgrenze zerstört" hätten. "Nicht nur äußerlich255 lebt deshalb unser Volk unter Zuständen, die jedes gerechte und billige Urteil als unhaltbar und widernatürlich ansehen muß", fuhr der Landesbischof fort. Außerdem beklagte er die innere Uneinigkeit des deutschen Volkes256. In seinem Beitrag setzte sich Marahrens, abgesehen von einem kurzen Hinweis auf den Vortrag seines ehemaligen Predigerseminar-Schülers Paul Althaus257, nicht kritisch mit der völkischen Bewegung auseinander, sondern beklagte die erfahrenen Demütigungen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Das deutsche Volk verdiente nach seiner Auffassung eine bessere Rolle unter den Völkern der Welt258 . So weit wie die äußerste politische Rechte, die an der Königsherger Kundgebung und auch dem Kirchentag einen entschiedenen Protest gegen die sogenannte "Kriegsschuldlüge" vermißte259, wollte Marahrens in seinem Beitrag aber wohl nicht gehen. In der Folgezeit veränderten sich die politischen Umstände. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise260 schwoll die völkische Bewegung in Form der NSDAP von einer eher marginalen Gruppe nunmehr zu einer zahlenmäßig ernstzunehmenden Größe an. 1929 schenkte die "Evangelische Wahrheit" dem gerade zwischen dem faschistischen Italien und dem Vatikan abgeschlossenen Laterankon253 Zum Begriffvgl. H. Glaser, Entstehung. Er implizierte schon recht früh die Vorstellung von sog. ,Rassenreinheit' . Vgl. aaO., 153. 254 Vgl. dazu H.A. Winkler, Weimar, 90 f. 255 Auf der Sitzung des DEKA am 6.6.1931 konstatierte Marahrens, "daß der Krieg nicht aufgehört hat, sondern fortgesetzt wird, und daß deshalb, wenn man sich das Verhalten des ehemaligen Feindbundes gegenüber den deutschen Bemühungen vergegenwärtigt, von einer Verlogenheit der internationalen Lage geredet werden kann." Zit.n. G. Besier, Krieg, 290. 256 August Marahrens, Der deutsche evangelische Kirchentag in Königsberg, in: EvW, XVIIU18, Erste Aug.-Nr. 1927, 278-285; hier: 282. Vgl. zu Marahrens' Beitrag auch H. Otte, Loyalität, 317 f., der eine gebrochene Loyalität des hannoverschen Bischofs zur Weimarer Demokratie feststellt. 257 In: H.-W. Krumwiede, Kirche, 187-207. Vgl. auch P. Althaus, Kirche und Volkstum. Zum Althaussehen Vortrag vgl. J.R.C. Wright, Parteien, 76 f.; K. Scholder, Kirchen, Bd. I, 140-142; K. Nowal