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German Pages 388 Year 2019
Steffi Hobuß, Ina Khiari-Loch, Moez Maataoui (Hg.) Tunesische Transformationen
Gender Studies
Steffi Hobuß (Dr. phil.), geb. 1964, lehrt und forscht an der Leuphana Universität Lüneburg und leitet dort das Leuphana College. Sie studierte Philosophie und Germanistik und promovierte in Philosophie an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit über Wittgenstein. Für ihre Lehre wurde sie 2009, 2011 und 2015 mit Preisen ausgezeichnet und war 2010 Gastprofessorin an der Karlstads Universitet, Schweden. Sie habilitiert zur Theorie der visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles. Ina Khiari-Loch (M.A.) ist Assistentin am Institut Supérieur des Sciences Humaines Medenine, Tunesien, im Fachbereich Angewandtes Deutsch und Deutsche Sprache und Literatur. Sie promoviert an der Georg-August-Universität Göttingen. Moez Maataoui (Dr. phil.), geb. 1975, lehrt in Tunesien an den Universitäten Tunis, Gafsa und Manouba. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politolinguistik, Phraseologie und Kontrastive Linguistik (Arabisch/Deutsch).
Steffi Hobuss, Ina Khiari-Loch, Moez Maataoui (Hg.)
Tunesische Transformationen Feminismus – Geschlechterverhältnisse – Kultur. Tunesisch-deutsche Perspektiven
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Inhalt
Transformation – Kultur – Geschlecht Eine Einleitung
Katharina Alexi, Steffi Hobuß, Ina Khiari-Loch, Moez Maataoui | 9
POSTKOLONIALE ANSÄTZE ZU GESCHLECHT AUS TUNESIEN Soumaya Mestiri im Gespräch über ihr Buch »Décoloniser le féminisme«
Steffi Hobuß und Martina Möller | 21 Die Revolution im Lichte des dekolonialen Feminismus Das Beispiel Tunesien
Soumaya Mestiri | 39 Komplementarität oder Geschlechtergleichheit: Über die Debatte zur neuen tunesischen Verfassung 2014
Lotfi Mathlouthi | 61 Krise der Männlichkeit Normativer Widerstand und androgyne Perspektive
Mohamed Adel Mtimet | 69 Die Transformation von Geschlechterverhältnissen im postrevolutionären Tunesien
Amel Grami | 83
FEMINISMUS/STAATSFEMINISMUS IN TUNESIEN: GESCHICHTE, ERBE UND FOLGEN Die tunesische Frauenbewegung und der Kampf um die Frauenrechte
Hafidha Chekir | 101
Der staatliche Frauendiskurs in Tunesien in der Ära Ben Ali: Wandel und Kontinuitäten am Beispiel der Zeitschrift InfoCREDIF
Ina Khiari-Loch | 119
GESCHLECHT IN TUNESIEN IN ÖFFENTLICHEN DISKURSEN UND SPRACHLICHEN ALLTAGSPRAKTIKEN Geschlechterkonstruktionen in Verpackungsaufschriften von Haushaltspflegeprodukten
Moez Maataoui | 155 Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs nach 2010/2011
Majdi Chaouachi | 177 Performative Initiativen, Öffentlicher Raum, Karneval Dimensionen der Performativen Demokratie im Rahmen der Tunesischen Revolution 2010/11
Imke Horstmannshoff | 191
DEUTSCHE PERSPEKTIVEN AUF GESCHLECHT IN TUNESIEN Transformation repräsentativer Ordnungen? Der deutsche Pressediskurs um protestierende Frauen in Tunesien
Lina Brink | 217 Genderspezifische Förderung durch deutsche politische Stiftungen in Tunesien: eine Bestandsaufnahme
Abir Tarssim | 233 Zeitgenössische Protestmusik und Geschlecht in Tunesien – journalistische und wissenschaftliche Erzählungen
Katharina Alexi | 245
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN KUNST, LITERATUR UND FILM Ägyptische Finsternis Gewaltverhältnisse und Subjektkonstitution im »Buch Franza« von Ingeborg Bachmann
Sven Kramer | 271 Frauenfiguren und Geschlechterverhältnisse in Shukri Mabkhouts Debütroman Ettalyani
Imen Taleb | 295 Narration und Geschlecht in ausgewählten Erzählwerken der tunesischen Autorinnen Amel Mokhtar und Hayat Rais
Idris Chouk | 315 Erinnerung, Dezentrierung und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in Rochdi Belgasmis Tanzperformance Oueld Jellaba
Steffi Hobuß | 341 Genderperspektiven im tunesischen Film
Malek Ouakaoui | 353 Kunst in Transformation – das Dream City-Festival als Heterotopie
Nina Glaab | 369
Autor*innen | 383
Transformation – Kultur – Geschlecht Eine Einleitung Katharina Alexi, Steffi Hobuß, Ina Khiari-Loch, Moez Maataoui
»TRANSFORMATION – KULTUR – GESCHLECHT«: DAS PROJEKT Im DAAD geförderten Forschungsprojekt »Transformation – Kultur – Geschlecht« (2016-2019) ging es zentral darum, im Kontext des demokratischen Transformationsprozesses in Tunesien nach der Revolution von 2010/2011 und der Verfassungsgebung Anfang 2014 eine nachhaltige Hochschulpartnerschaft zwischen der Leuphana Universität Lüneburg und der Université de La Manouba sowie dem Institut Supérieur des Sciences Humaines de Médenine/Univeristé de Gabès in Tunesien aufzubauen, zu fördern und zu konsolidieren. Das Thema Geschlecht und Gender in Tunesien war, wie sich im Laufe der Arbeit herausstellte, sehr gut zum Aufbau der Zusammenarbeit und der Bildung einer Forschungsgruppe geeignet. Während durch deutsche und europäische Medien nach wie vor häufig pauschalisierende Meinungen über die Situation von Frauen in den arabischen Ländern (re)produziert werden, ist die Realität wesentlich komplexer. 1 In Tunesien spielten die Emanzipation der Frauen und die Berufung auf Geschlechtergerechtigkeit im Rahmen der Modernisierungsdiskurse seit der Unabhängigkeit eine
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Gerhard, Ute/Jansen, Mechtild M./Rumpf, Mechthild: Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion, Bielefeld: transcript Verlag 2003; Pinn, Irmgard/Wehner, Marlies: EuroPhantasien. Die islamische Frau aus westlicher Sicht, Duisburg: DISS, Duisburger Inst. für Sprach- und Sozialforschung 1995.
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besondere Rolle. Der Staatsfeminismus war ein besonderes Aushängeschild Tunesiens, aus dem die Regime Bourguibas und Ben Alis Nutzen ziehen konnten. 2 »Staatsfeminismus« meint hier, dass dem Thema der Frauenrechte besondere staatliche Aufmerksamkeit zuteilwurde, ohne dass es aber um die grundlegende Änderung der Geschlechterverhältnisse ging.3 Sowohl im Ausland als auch im Inland ist trotzdem die Reklamation der Emanzipation der Frauen in Tunesien als Merkmal eines Staates wahrgenommen worden, der modern und weltoffen ist und sich gegen die Einflüsse von Islamismus und Fundamentalismus stark macht. Die staatliche Monopolisierung des Frauenrechtsdiskurses wie viele der Berufungen auf Modernität und Demokratie waren aber auch eine »Maskerade«,4 die einerseits zivilgesellschaftliches Engagement abwerten und unsichtbar machen und andererseits Unrecht, Gewalt und Menschenrechtsverstöße überdecken sollte. Islamistische Kräfte haben dadurch Sprechpositionen gewonnen, dass sie besonders unter der Epoche der Diktatur gelitten haben. Daher ist es in Tunesien durch die spezielle historische Situation nicht mehr ohne weiteres möglich, sich affirmativ und ohne historisches Bewusstsein auf die Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit zu berufen. Einigen Aspekten dieser komplexen Konstellation, wie sie im Projekt »Transformation – Kultur – Geschlecht« untersucht wurden, widmet sich dieser Band. Dabei werden Transformationen in mehrfacher Hinsicht in den Blick genommen: Erstens stellen die gesellschaftlichen Transformationsprozesse immer wieder den Ausgangspunkt der Überlegungen dar. Zweitens werden die Transformationen der Geschlechterverhältnisse in der Geschichte Tunesiens über die Unabhängigkeit und die Phasen der Diktatur, die Revolution 2011 und den Verfassungsprozess bis zur Gegenwart in ausgewählten Beispielen beleuchtet, und drittens geht es auf theoretisch-begrifflicher Ebene um Transformationen des Feminismus und der Geschlechterbegriffe im Spannungsfeld zwischen einem
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Vgl. I. Khiari-Loch, »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der Freiheit«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’Homme, Cottbus-Medenine 2013, S. 105; sowie El-Ouerghemmi, Nadia und Steffi Hobuß: Sprachliche Resignifikation im Kontext der Diktatur. Der Begriff der Frauenrechte in Tunesien, erscheint in: Sarhan Dhouib (Hg.): Philosophieren in der Diktatur, Weilerswist: Velbrück 2019.
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Zum Begriff des Staatsfeminismus vgl. Weber, Anne F.: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien (Mitteilungen, Bd. 62), Hamburg: Dt. OrientInstitut 2001, S. 17-18.
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I. Khiari-Loch, Frauen in Tunesien, S. 105.
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Denken der Differenz, Politiken der Repräsentation und dekonstruktiven Gendertheorien. Damit bildet der Zusammenhang von Transformation und Geschlecht den Fokus des Projekts, und es kann z.B. gefragt und diskutiert werden, welch ein postkolonialer Feminismus und/oder Genderbegriff inklusive der Repräsentation von LGBTQI*-Gruppen für Tunesien ein adäquates Modell wäre. Der Begriff der Kultur benennt die Gegenstandsbereiche: Seit der Revolution 2011 und während der dreijährigen Übergangsphase bis zur Annahme einer Verfassung im Februar 2014 waren die Zivilgesellschaft und ihre zugehörigen kulturellen Praktiken entscheidend für die Entwicklungen in Tunesien. Deshalb werden Beiträge aus dem Bereich der Künste einschließlich der Literatur, populärkulturellen Medien, Social Media, politische, philosophische, zivilgesellschaftliche und religiöse Diskurse, Bekleidungsordnungen und Mode als wesentliche Medien der Transformation berücksichtigt. Die Analyse kultureller Praktiken kann dazu beitragen, Feminismus und/oder Geschlechtergerechtigkeit zeitgemäß, dekolonial und kontextbezogen zu deuten. Damit handelt es sich um ein genuin kulturwissenschaftliches interdisziplinäres Projekt. Entsprechend der interdisziplinären Zusammensetzung der Forschungsgruppe versammelt dieser Band Beiträge aus den folgenden Disziplinen und/oder Forschungsfeldern: Philosophie (vor allem Philosophie der Geschlechterkonstruktion, Philosophie der Menschen- und Frauenrechte, Ethik, politische Philosophie), Feministische Theorie, gender und masculinity studies, Germanistik (Literaturwissenschaft und Linguistik), Ethnologie, Arabistik, Medienwissenschaft, Politikwissenschaft. Exemplarische Fragestellungen lauten: Inwiefern und wo gab es Widersprüche und Widerstand gegen die staatsfeministische Instrumentalisierung feministischer Diskurse? Welche Kontinuitäten und/oder Diskontinuitäten lassen sich in den unterschiedlichen Modernisierungsdiskursen beschreiben? Welche Transformationen der Geschlechterverhältnisse lassen sich für welche Zeiträume feststellen? In welchen Diskursen und Begriffen werden sie verhandelt? In welchen Kontexten und auf welche Weisen wird das Verhältnis von Islam und Geschlecht verhandelt? In welchen Kontexten und auf welche Weise erfolgen Berufungen auf Menschen- und besonders Frauenrechte? Welche Unterschiede bestehen hinsichtlich dieser Fragen zwischen den unterschiedlichen tunesischen Regionen, besonders zwischen Nord- und Südtunesien? Gibt es geschlechterspezifische Anrufungen bestimmter Demokratiebegriffe (z.B. repräsentative, performative oder radikale Demokratie in feministischen Kontexten)? Hat die Erinnerung an die Diktaturperioden und Umbrüche geschlechtsspezifische Merkmale? Welche unterschiedlichen Feminismusbegriffe werden in den Diskursen verwendet und/oder können zur Analyse herangezogen werden?
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ÜBERSICHT ÜBER DIE BEITRÄGE Das erste Kapitel »Postkoloniale Ansätze zu Geschlecht aus Tunesien« bezieht sich gleich zweimal auf die Monografie »Décoloniser le féminisme« der Philosophin Soumaya Mestiri. Den Auftakt bildet ein Gespräch mit Mestiri, geführt von Steffi Hobuß und Martina Möller, das grundlegende Fragen zur postkolonialen feministischen Philosophie aufwirft und beantwortet. Die Herausgeber*innen freuen sich besonders, im Anschluss daran eine erstmalige Übersetzung des vierten Kapitels aus Mestiris Buch bereitstellen zu können. In »Die Revolution im Lichte des dekolonialen Feminismus: Das Beispiel Tunesien« formuliert Mestiri kritische Befunde besonders in Bezug auf die liberale Strömung des Feminismus in Tunesien, die sich an der Rehabilitation tradierter Weiblichkeitskonzepte beteilige. Vor diesem Hintergrund liefert Mestiri programmatische Vorschläge für einen dekolonialen Feminismus auf allen Ebenen: wissenschaftlich-akademisch, philosophisch, aber auch praktisch-politisch. Eine weitere Perspektive eröffnet Lotfi Mathlouthi mit der Betrachtung des Begriffs der »Komplementarität« als spezifischer Diskursstrategie in der Vorbereitung der neuen Tunesischen Verfassung von 2014. Im Beitrag »Komplementarität oder Geschlechtergleichheit« zeichnet er aus sprachphilosophischer und diskursforschender Perspektive die Debatte um den Entwurf des Artikels 28 in der Verfassung nach. Der Aufsatz bildet zugleich einen Übergang zur männlichkeitsbezogenen Forschung von M. Adel Mtimet, der in »Krise der Männlichkeit. Normativer Widerstand und androgyne Perspektive« die soziokulturellen Transformationen darlegt, die zur Entmystifizierung von Männlichkeit und Erosionen ihrer Idealisierung beigetragen haben. Mtimet identifiziert Androgynie als Ausdrucksweise in der globalen populären Kultur und spannt einen Bogen von der amerikanischen Beat-Generation der 1950er Jahre hin zum tunesischen Tänzer und Choreographen Rochdi Belgasmi. Belgasmi, der 2018 im Zuge der fünften Tagung des Forschungsprojekts auch in Lüneburg aufgetreten ist, erinnert in Kunst-Performances wie »Oueld Jellaba« an die tunesische Travestie-Tradition des frühen 20. Jahrhunderts. Mit Stoltenberg argumentiert Mtimet, dass männlicher Chauvinismus sich derzeit modifiziere, modernisiere und als solcher weiter durchsetze, und verdeutlicht Handlungsstrategien normativer männlicher Widerständigkeit. Einen historisch-sozialwissenschaftlichen Beitrag zu den Transformationen von Geschlechterverhältnissen in Tunesien liefert anschließend Amel Grami. Sie geht zunächst auf die Genese, Effekte und Kritiken des Personenstandsgesetzes (Code du Statut Personnel, CSP) von 1956 ein, um gegenwärtige ambivalente Akteur*innen und neue emanzipatorische Synergien im postrevolutionären Tu-
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nesien zu analysieren – zum einen beleuchtet Grami am Beispiel von Salafistinnen die Beteiligung von Frauen an radikalen islamischen Bewegungen, zum anderen richtet sie ihren Blick auf profeministische männliche Akteure. Das zweite Kapitel »Feminismus/Staatsfeminismus in Tunesien: Geschichte, Erbe und Folgen« versammelt vor allem sozial- und politikwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Hafidha Chekir eröffnet es mit einem bewegungsgeschichtlichen Beitrag über die Kämpfe um Frauenrechte in Tunesien. Als Ausgangsthese legt sie dar, inwiefern der Staatsfeminismus Habib Bourguibas sich selbst durch die Anerkennung patriarchaler Normen begrenzte. Die ab den frühen 1980er-Jahren aus gewerkschaftlichen Strukturen hervorgegangene Frauenbewegung, getragen von Studentinnen und Lehrerinnen, zeichnet Chekir vor allem anhand von Gruppen wie Femmes Démocrates, ATFD (Association Tunisienne des Femmes Démocrates) und AFTURD (Association des Femmes Tunisiennes Universitaires pour la Recherche et le Développement) nach. Sie zeigt die Nähe feministischer und menschenrechtlicher Aktivist*innen auf, bevor sie auf die Bedeutung und Verhandlung, aber auch ausbleibende Effekte der internationalen CEDAW-Konvention in der tunesischen Politik wie auch die politische Partizipation der Zivilgesellschaft eingeht. Als jüngsten historischen Meilenstein behandelt die Autorin die bereits zu beobachtenden Erfolgen, aber auch zukünftigen Erfordernisse der Tunesischen Verfassung vom Januar 2014. Anhand eines staatsnahen Diskursfragments geht Ina Khiari-Loch in ihrem Beitrag »Der staatliche Frauendiskurs in Tunesien in der Ära Ben Ali: Wandel und Kontinuitäten am Beispiel der Zeitschrift InfoCREDIF« auf die Zeitschrift des Centre de Recherches, d’Études, de Documentation et d’Information sur la Femme ein, die zu Beginn der Ära Ben Ali gegründet wurde. Khiari-Loch rekonstruiert den historischen Kontext der Gründung der InfoCREDIF und analysiert Themenschwerpunkte und Deutungsmuster in den Ausgaben, die von der Weltfrauenkonferenz in Peking über eine Politisierung im Zuge der Autokratisierung des Regimes bis hin zur InfoCREDIF als Projektionsfläche des Präsidenten Ben Ali und seiner Ehefrau Leila Ben Ali reichen. Die Ablehnung des Feminismus unter Ben Ali beleuchtet Khiari-Loch am Beispiel der Zeitschrift abschließend unter dem Aspekt einer diskursiven Verengung und Vereinnahmung, die mehr von Elitarismus und Uniformismus als von Pluralismus geprägt war. Im Kontrast dazu geht das dritte Kapitel des Bands sprachlichen Alltagspraktiken in Bezug auf Geschlecht in Tunesien nach. Verpackungstexte, körpersprachliche Tanz-Performances, journalistische Artikel sowie öffentliche Proteste im Zuge der Revolution 2010/11 bilden die untersuchten Artefakte, deren Akteur*innen von Zivilgesellschaft, Medien über Kunst bis Wirtschaft reichen. In seiner Studie »Geschlechterkonstruktionen in Verpackungsaufschriften von
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Haushaltspflegeprodukten« untersucht Moez Maataoui sprachkritisch die geschlechts- spezifische werbende Ansprache von Reinigungs- und Waschmitteln als instruktive Sprechakte. »Für die Textsorte Verpackungsaufschrift hat sich die bisherige linguistische Forschung wenig interessiert«, stellt Maataoui fest. Seine Studie bezieht sich auf sprachliche Formen der genusmarkierenden Ansprache im Standardarabischen, aber auch auf bildsprachliche Gemeinsamkeiten mit deutschsprachiger Produktwerbung. Steffi Hobuß behandelt in ihrem Artikel am Beispiel der Performance »Oueld Jellaba« des Tänzers und Choreographen Rochdi Belgasmi den Umgang mit Erinnerung und Geschlechternormen aus sprachphilosophischer, postkolonialer und erinnerungstheoretischer Perspektive. Majdi Chaouachi nimmt die älteste tunesische Tageszeitung in französischer Sprache, La Presse in den Blick, insbesondere deren Berichterstattung der Jahre 2011 bis Ende 2013 über islamistische Versuche, Frauenrechte und historische Errungenschaften wie den CSP wieder zu nivellieren. Grundlegend legt Chaouachi in »Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im Pressediskurs Tunesiens nach 2010/2011« dar, wie islamistische Kräfte die Tunesische Revolution als Erschütterung der seit Bourguiba bestehenden Ordnung interpretieren, mit der sich alle Errungenschaften von Frauen nach der Kolonialzeit infrage stellen ließen. Die Reaktion des Journalismus hierauf, eine erinnernde Haltung in Bezug auf Frauenrechte als auch eine mahnende gegenüber den Gefahren des Islamismus einzunehmen, beschreibt Chaouachi als neu. Eine weitere Sphäre des öffentlichen Diskurses schlüsselt am Ende des dritten Kapitels Imke Horstmannshoff in ihrem Beitrag zu Dimensionen der Performativen Demokratie während der Tunesischen Revolution auf. Ausgehend von Elżbieta Matynias soziologischem Ansatz der Dynamik kultureller Ordnung fokussiert die Analyse auf die Proteste zwischen Dezember 2010 und März 2011, wobei Formen performativer Initiativen, die Entstehung eines öffentlichen Raumes und dessen karnevalistische Elemente dargelegt werden. Stets im Blick bleiben bei Horstmannshoff die Bürger*innen als lokale Akteur*innen demokratischer Äußerungen und Strukturen, deren gewaltlose Proteste performativ (nach-)wirkten. Zugleich nimmt sie mit ihrem Beitrag eine kritische Erweiterung am Konzept der Performativen Demokratie selbst vor. Der vierte Teil des Bandes erarbeitet im Sinne einer kritischen Rezeptionsund Repräsentationsforschung sowie im Anschluss an den tunesisch-deutschen Austausch der Forschungsgruppe deutsche Presse- und förderpolitische Perspektiven auf Geschlecht in Tunesien. Am Anfang dieser Analysen setzt Lina Brink den Schwerpunkt auf Transformationen repräsentativer Ordnungen. Am Beispiel des Pressediskurses um protestierende Frauen klärt sie Möglichkeiten mediatisierter Anerkennung mit postkolonial-feministischen Theorien. Speziell die Fe-
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men-Proteste im Zuge der aktivistischen Proteste von Amina Tyler seit 2013 stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung und somit der Analyse. Als Ergebnis stellt Brink eine Verschiebung innerhalb der Repräsentation von Weiblichkeit fest, deren Aufwertung allerdings an die Betonung eines selbstbestimmt gestalteten Äußeren gekoppelt ist, sofern es mit westlichen Schönheitsidealen übereinstimmt. Die mediale Herstellung von Männlichkeit knüpfe hingegen an »etablierte Orientkonstruktionen« an und erzeuge Distanz anstelle von Identifikationsmöglichkeiten. Abir Tarssims Beitrag »Genderspezifische Förderung durch deutsche politische Stiftungen in Tunesien: eine Bestandsaufnahme« erhellt anhand von Interviews mit Stiftungsvertreter*innen und Projektverantwortlichen sowie feldforschenden Teilnahmen den Umfang und die Inhalte von Genderthemen in der deutschen Stiftungsarbeit in Tunesien. Den Fragen nach der Förderung von Gruppen und Veranstaltungen ebenso wie nach Kooperationen geht Tarssim am Beispiel von sechs Stiftungen aus einem breiten politischen Spektrum nach. Dabei werde kaum über Zweigeschlechtlichkeit hinausgedacht; »wird Gender gesagt, handelt es sich überwiegend um Frauen und ihre Förderung«. Neben der Vernachlässigung weiterer benachteiligter Geschlechter erfolge eine gendersensible Stiftungsarbeit zudem nicht in allen Bereichen aller Projekte, in denen sich Praktiken der Wahrnehmung von Deutungshoheit wahrnehmen lassen wie auch der Bedarf nach intersektionalen Kenntnissen identifiziert werden kann. Aus einer erweiterten intersektionalen Perspektive nähert sich Katharina Alexi abschließend deutschsprachigen journalistischen und wissenschaftlichen Erzählungen über zeitgenössische Protestmusik in Tunesien. Ähnlich wie in Brinks Analyse bemerkt sie im Material zunächst eine Auswahl nur weniger Akteur*innen. Alexi behandelt kontextanalytisch bisher wenig beachtete Songs und Statements der beiden am stärksten popularisierten Künstler*innen El Général und Emel Mathlouthi und stellt ausgehend hiervon die »tückische Strategie« (Ina Kerner) fest, dass in journalistischen Portraits, aber auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung z.T. problematische wie antisemitische Äußerungen durch Bezüge auf Geschlecht oder gar Feminismus erzählerisch »ausgeglichen« oder gar nicht erst thematisiert werden – während andere Künstler*innen der tunesischen Musikszene fast gänzlich unsichtbar bleiben, weshalb der untersuchte Ausschnitt als Phantasma verstanden wird. Das fünfte Kapitel umfasst weitere Studien zu Literatur, Film und Kunst. Sven Kramers Beitrag »Ägyptische Finsternis. Gewaltverhältnisse und Subjektkonstitution im »Buch Franza« von Ingeborg Bachmann stellt einen Exkurs dar, dessen Erkenntnisse über Geschlechterverhältnisse sowie die symbolisch aufgeladenen Orte der Wüste und Zivilisation nicht in der Analyse der literarischen Darstellung eines Landes enden. Kramer folgt Sara Lennox, derzufolge die
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»Auffassung von Nordafrika als einem Ort des orientalischen Andersseins, das Franza vor Europa retten kann, […] als Produkt von romantischen weißen Fantasien zu lesen« ist.5 Zugleich zeigen die Ausführungen zu dem zivilisationskritisch lesbaren Romanfragment Ingeborg Bachmanns aus dem Todesarten-Zyklus aktuelle postkoloniale Konzepte und Diskurse in den Literaturwissenschaften auf. Einen zweiten literaturwissenschaftlichen Beitrag legt Imen Taleb mit ihrer Untersuchung von Shukri El-Mabkhouts Debütroman »Ettalyani« (Der Italiener) vor. Mabkhout, bis 2017 Professor an der Universität von Tunis und Präsident der Université de La Manouba, veröffentlichte 2014 den bisher nur ins Italienische übersetzten Roman, dessen Handlung in den späten 1980er bis frühen 1990er Jahren spielt. Taleb zeigt, inwiefern Mabkhout verschiedene Facetten und Entscheidungen weiblicher Emanzipation, darunter die zur Abtreibung oder Scheidung, sichtbar macht und Motive von Körperlichkeit, Sexualität und Erotik einen hohen Stellenwert einnehmen. Anhand der näheren Auseinandersetzung mit der weiblichen Hauptfigur Zina, einer feministischen jungen Akademikerin, wird auch das politische Erbe Tunesiens verhandelt, denn sie wird geschildert als »die Tochter von Bourguiba, der die Frauen stärker und dominanter gegenüber den Ehemännern, den Vätern und den Brüdern gemacht hat«. 6 Talebs Untersuchung ist in Bezug auf die Ausgestaltung weiblicher Identität und der Geschlechterverhältnisse ebenso aufschlussreich wie hinsichtlich weiterer intersektionaler Aspekte, die das Verhältnis von Hauptstadt und Peripherie betreffen. Narrative Konstruktionen und Transformationen von Geschlecht analysiert auch der dritte literaturwissenschaftliche Beitrag von Idris Chouk. Anhand von Erzählwerken der Autorinnen Amal Mokhtar und Hayat Rais, nämlich der Kurzgeschichte »Geheimrituale und meine Leidensgeschichte« (2009, Rais) sowie den Romanen »Toast aufs Leben« (1993, Mokhtar) und »Der Schaukelstuhl« (2003/2016, Mokhtar) untersucht Chouk Polyperspektivität und Selbstfragmentierung gleichermaßen wie die subversive Dekonstruktion weiblicher Identitätszuschreibungen. Malek Ouakaouis Beitrag »Genderperspektiven im tunesischen Film« führt in die jüngere tunesische Filmgeschichte ein. Besonders hebt Ouakaoui den Film »Millefeuille« von Nouri Bouzid aus der Revolutionszeit hervor, in dem sich zwei weibliche Hauptfiguren für einen Wechsel des politischen Re-
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Sara Lennox: »White Ladies« und »Dark Continents«. Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt aus postkolonialer Sicht, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Über die Zeit schreiben. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt, Würzburg 1998, S. 13-31, S. 19.
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Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī. Riwāyah, Tūnis: Dār al-Tanwīrlil-Ṭibāʻahwa-al-Našr 2014, S. 47.
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gimes, aber nicht für ihre eigenen Rechte einsetzen. Ouakaouis Einschätzung in Bezug auf medial vermittelte Emanzipation ist ernüchternd und ambivalent angesichts neuer (Produktions-)möglichkeiten, messbar auch beteiligten Akteur*innen wie an Regisseurinnen, aber auch aufrechterhaltener visueller vergeschlechtlichter Muster. Einen ähnlichen »Zwischen(zu)stand in Zeiten des politisch-kulturellen Umbruchs« stellt Nina Glaab in ihrem Beitrag »Kunst in Transformation – das Dream City-Festival als Heterotopie« zu aktivistischen Potenzialen (und Problemen) gegenwärtiger künstlerischer Praktiken fest, mit dem unser Band schließt. Glaab rekonstruiert die Gründung, Wirkung und Transformation des Kunstfestivals Dream City in Tunis seit 2007 und erläutert dessen Erzeugungsmöglichkeiten einer neuen Öffentlichkeit sowie seine Existenzbedingungen als sozialer Raum mit Foucaults Konzept der Heterotopie. Ihre Schlussbetrachtung »Ziel dieser Heterotopie ist es, der utopisch erscheinenden Vision der Wirklichkeit […] näherzukommen« trifft rückblickend auf viele der in den Beiträgen dieses Bandes untersuchten Prozesse und Akteur*innen und auch die Ziele unseres tunesisch-deutschen Forschungsprojekts zu: Auch und gerade kollaborative Wissenschaft verändert die jeweils eigenen Perspektiven und Prozesse und bleibt damit nicht auf eine Beschreibung des Bestehenden beschränkt. In allen Texten dieses Bandes geht es in irgendeiner Form um die Beobachtung der Spannungen zwischen traditionalistischen und progressiven gesellschaftlichen Kräften in einem globalen Kontext, die manchmal eher als Dialoge, manchmal eher als Konfrontationen stattfinden und sogar die Form von Krieg und Gewalt annehmen können. Wie nach Horkheimer alle Kultur an der geschichtlichen Dynamik des Aufrechterhaltens oder aber Sprengens bestimmter Gesellschaftsformen beteiligt ist, stellt sie je nach historischer Situation den Mörtel eines noch fertigzustellenden Baus, den Kitt seiner vielleicht schon zerbrechenden Teile oder den Sprengstoff dar, »der das Ganze beim ersten Funken zerreißt«.7 Sowohl Wissenschaftler*innen als auch Aktivist*innen sind hier gefragt, um friedvolle Transformationen zu ermöglichen. Tunis, Medenine, Lüneburg, Rostock im August 2019
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Horkheimer, Max: Autorität und Familie. In: Ders.: Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt/M.: Fischer Wissenschaft 1992, S. 123-204, hier S. 131.
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DANK Die Herausgeber*innen danken dem DAAD, der das Projekt »Transformation – Kultur – Geschlecht« während der vierjährigen Laufzeit (1.1.2016 - 31.12.2019) aus Mitteln der Programmlinie »Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaft« gefördert hat. Für die gute Zusammenarbeit und die hilfreiche Unterstützung danken wir Renate Dieterich, Anke Bahrani, Judith Laux und Beate Schindler-Kovats. Unser Dank gilt auch dem transcript Verlag und vor allem »unserer« Projektmanagerin Katharina Wierichs für die gute Betreuung und hilfreiche Unterstützung. Für die geleistete intensive Arbeit und die vielen Diskussionen danken wir allen Mitgliedern der Forschungsgruppe, an dieser Stelle auch denjenigen, die aus unterschiedlichsten Gründen keinen Beitrag für diesen Sammelband zur Verfügung stellen konnten: Nabila Abbas, Anna Antonakis, Bettina Bock, Franziska Dübgen, Elke Grittmann, Kaouther Karoui, Raja Machfar, Brahim Moussa, Nadia El-Ouerghemmi, Charlotte Schmidt sowie Zeineb Ben Said Cherni als assoziierte Professorin. Ohne die studentischen Mitarbeiter*innen Caja Fischer, Johannes Klaffke, Susanne Mühlthaler und Alina Steinborn wäre die intensive und erfolgreiche Projektarbeit nicht möglich gewesen, tausend Dank Euch allen dafür! Schließlich und vor allem gilt unser tiefer Dank unserem Kollegen Sarhan Dhouib, der in zahlreichen Projekten die tunesisch-deutsche akademische Zusammenarbeit sowie die interkulturelle Philosophie und Verständigung gefördert hat, weiter fördert und als Projektleiter des Projekts »Verantwortung, Gerechtigkeit, Erinnerungskultur« unsere Zusammenarbeit erstmalig initiierte.
Postkoloniale Ansätze zu Geschlecht aus Tunesien
Soumaya Mestiri im Gespräch über ihr Buch »Décoloniser le féminisme« Steffi Hobuß und Martina Möller
Soumaya Mestiri ist Professorin für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Université de Tunis. Ihre Forschungsinteressen liegen in den folgenden Gebieten: Theorien der Gerechtigkeit, besonders zeitgenössische, und Dekolonialer Feminismus. Ihr Buch »Décoloniser le féminisme«1 ist im August 2016 erschienen. In ihm geht es um die Frage, wie heute ein Feminismus aussehen könnte, der den unterschiedlichen lokalen und globalen Kontexten Rechnung trägt und sie vereinen könnte. Das Buch schlägt vor, klassische Kategorien zu dekonstruieren, die üblicherweise mit dem Feminismus verbunden werden wie etwa care oder empowerment, und ist in seinem Ansatz sowohl der Sozialphilosophie als auch dem dekolonialen Denken zuzurechnen. Soumaya Mestiri traf sich mit Steffi Hobuß und Martina Möller am 22.2. 2018 in Tunis-La Marsa zu einem Gespräch über ihr Buch. Martina Möller (MM): Wenn ich dein Buch richtig verstanden habe, kritisierst du die traditionellen feministischen Ansätze in Bezug auf Defizite hinsichtlich Frauen aus dem globalen Süden. Sie werden nicht wirklich repräsentiert, in diesem Kontext siehst du auch den traditionellen Feminismus als Fortführung von neo-kolonialen Strukturen. Und das bringt dich zu der Schlussfolgerung, dass es nur Theorien von Denkern sind und das heißt, das Böse wird nicht an der Wurzel behandelt. Es gibt also keine Untersuchungen zu einer wirklich grundlegenden Veränderung des Systems. Und in diesem Zusammenhang sagst du, dass so genannte »primitive« Gesellschaften auf Gleichheit basieren. Das heißt, dein Buch basiert auf der Theorie, dass es in Bezug auf Geschlecht ein Ungleichgewicht 1
Mestiri, Soumaya: Décoloniser le féminisme. Une approche transculturelle, Paris: Vrin 2016.
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gibt, das erst durch den Prozess der Kolonialisierung entstand. Das heißt, dass es solch ein Ungleichgewicht vorher nicht gab, insbesondere darum wird es in der zweiten Frage gehen. Aber ich möchte kurz festhalten, dass du im Kapitel über Fatima Mernissi2 zur Veranschaulichung Beispiel und Auszüge aus der mittelalterlichen arabischen Literatur verwendest. Bei diesen Beispielen handelt es sich dann aber um Literatur und nicht um die Gesellschaft. Es wäre interessant, wenn du diesen Zusammenhang noch etwas weiter erklären könntest. Was willst du mit dieser Idee verdeutlichen, dass die »primitiven« Gesellschaften, also zum Beispiel hier in Tunesien vor der Kolonialisierung auf Gleichheit basierten? Welche Art von Gleichheit ist hier gemeint? Soumaya Mestiri: Vielen Dank, das ist eine sehr dichte Frage, ich werde versuchen, sie so gut es geht zu beantworten. Ich würde zunächst sagen, dass der Mainstream-Feminismus, der »Weiße« Feminismus sich nicht um die Belange der Frauen des globalen Südens [du Sud ou des suds] kümmert. Das ist natürlich nicht nur ausschließlich meine Diagnose. Das heißt, jetzt, mit der zweiten Welle des Feminismus seit den 70er Jahren, vor allem in den Vereinigten Staaten mit dem im Wesentlichen Schwarzen intersektionalen Feminismus, aber auch schon davor, im lesbischen Feminismus des Combahee River Kollektivs, haben das alle Feminist*innen festgestellt. Im Grunde ist das nichts Neues, aber es ist wichtig, das von Anfang an deutlich zu machen. Und es ist überhaupt nicht mein Anliegen zu sagen, dass vor dem Prozess der Kolonialisierung »alles gut war«, aber dass die gesellschaftlichen Ordnungen funktionierten und die Frauen nicht unterworfen waren. Der Begriff des Geschlechts existierte nicht als ein normativer, man sprach nicht über soziale Geschlechterverhältnisse, und vor allem gab es in den kolonisierten Gesellschaften keine geschlechterbasierte Herrschaft. Ich stütze mich hier auf die Arbeit einer nigerianischen Feministin, die ich in meinem Buch auch zitiere, Oyèrónkẹ́ Oyèwùmí.3 Sie ist bekannt für ihre Ideen, nach denen früher die Stammesgesellschaften auf eine egalitäre Weise funktionierten, aber inwiefern egalitär? Es gab, nun ja, keine Komplementarität (ihr wisst, dass der Begriff der Komplementarität ein sehr gefährlicher ist,4 und man
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Vgl. S. Mestiri: Décoloniser le féminisme, drittes Kapitel: »›Décoloniser Fat(i)ma‹. Un féminisme musulman occidental: Pourquoi (faire)?«, S. 57-80.
3
Vgl. Oyèwùmí, Oyèrónkẹ́: The Invention of Women. Making an African Sense of Western Gender Discourses, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997; dies.: Gender Epistemologies in Africa: Gendering Traditions, Spaces, Social Institutions, and Identities, New York: Palgrave Macmillan 2010.
4
Siehe in diesem Band den Beitrag von Lotfi Mathlouthi.
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muss wissen, was man damit macht, um nicht in die Hegemonie zurückzufallen, die man bekämpft), aber eine Aufgabenteilung. Diese Organisationsform findet sich bei bestimmten Gesellschaften in Chile. Zum Beispiel funktioniert das System der Mapuche in Chile nicht geschlechterspezifisch. Es basiert auf Aufgabenteilung, das heißt die Idee des Geschlechts wird aufgelöst, die Idee des Geschlechts spielt bei der Aufgabenverteilung keine Rolle, und die faktische Wirksamkeit der Aufgabenverteilung steht im Mittelpunkt. MM: Okay, aber sind das nicht matriarchalische Ansätze? Hat das nichts damit zu tun? Soumaya Mestiri: Nein, so ist es nicht. Diese Idee gibt es auch, aber das ist nicht die, von der ich spreche. Um es nochmal zu sagen, es geht nicht darum, eine Hegemonie durch eine andere zu ersetzen. Zum Beispiel gibt es auch viele Frauen der Mapuche, im »öffentlichem Raum«, zudem sind sie es, die auf den Feldern arbeiten, das war es, was ich sagen wollte. Die Idee war zu zeigen, dass das, was vorher war, nicht notwendigerweise schlecht war; vielleicht müssen wir das ein bisschen relativieren, zumal der Kolonialismus ein Interesse daran hat, die Versklavung der dunkelhäutigen Frau zu demonstrieren, um seine Rolle als Weißer Retter zu rechtfertigen Wie war nochmal der zweite Teil der Frage? MM: Vielleicht erkläre ich kurz, was für mich in Bezug auf Fatima Mernissi schwer verständlich war. Ich hatte ich in deinem Buch den Eindruck, dass du sie sehr oft kritisierst, indem du sagst, dass sie versucht, die orientalisierte und okzidentalisierte Frau gleichzusetzen und so zu sagen, dass es ein bisschen in beiden Kontexten das Gleiche ist, und ich weiß nicht genau, das würde bedeuten… Soumaya Mestiri: Zum Teil ja. MM: Das heißt, in Bezug auf das Buch »Les Sultanes Oubliées«, 5 dass sie darin zu zeigen versucht, dass es die gleiche Art von Frauen gab, die gleiche Konstruktion von Frauen, Frauen mit Macht im Osten wie im Westen, um uns näher aneinander zu bringen, vielleicht habe ich das missverstanden. Somaya Mestiri: Doch, so ist es. Natürlich sollten wir Mernissi gegenüber fair sein. Tatsächlich ist sie eine ungewöhnliche Feministin, auch wenn ich denke,
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Mernissi, Fatima: Les Sultanes Oubliées. Femmes Chefs d’Etat en Islam, Paris: Albin Michel 2016. Eine deutsche Übersetzung liegt bisher nicht vor.
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dass sie nicht als Feministin bezeichnet werden möchte, sie ist vor allem eine Soziologin mit feministischen Interessen. Sie ist eine der wenigen, die das macht, was man eine »doppelte Kritik«6 nennen könnte. Das heißt sie kritisiert gleichzeitig das klischeehafte okzidentale Bild der kolonialisierten Frau, die von ihrem Herren total versklavt ist und nur für die männlichen Freuden existiert, aber sie kritisiert auch ihre eigene Tradition. Wisst ihr, sie hat unter einem Pseudonym ein Buch geschrieben, in der sie ihre eigene Tradition kritisiert. 7 Man kann sie darin wiedererkennen und man kann in dieser doppelten Kritik wiedererkennen, dass es eine fundierte Kritik ist, die den Orientalismus und Klischees anprangert, vor allem über die Figur von Sheherazade. Soweit ist das sehr gut und was ich en passant auch in meinem Buch sage, sie versucht, die Figur der Shéhérazade zu rehabilitieren, die alle westlichen Fantasien verkörpert. Sie sagt, dass diese Frau nicht einfach eine schöne Frau ist, das auch, aber vor allem ist sie eine gelehrte Frau. Sie rehabilitiert sie durch das Wissen, indem sie zeigt, dass diese Frau tut, was sie tut, um am Leben zu bleiben. Ihr kennt die Geschichte von Sheherazade. Es ist ihr Mann, der Tyrann, der sie töten will, und sie erzählt ihm Geschichten, sie erzeugt eine Spannung und deshalb ist er gezwungen, sie am Leben zu erhalten. MM: Sie ist eine listige Frau. Soumaya Mestiri: Das ist es gerade nicht, denn zu sagen, dass die Frau listig oder gerissen ist, wird ihr nicht gerecht. Aber wir finden diese Idee auch in der arabischen Tradition, und das zeigt noch einmal die Notwendigkeit der doppelten Kritik. Frauen werden als listige Wesen bezeichnet, aber ich finde, das bedeutet, sie zu karikieren, sie zu essentialisieren, und das tut ihnen keinen Gefallen. Es geht darum zu sagen, dass sie intelligent sind, dass sie nicht nur kenntnisreich sind, sondern dass sie jemand, eine Person, ein gebildeter Mensch sind. Ich
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Den Begriff der
»doppelten
Kritik« hat der marokkanische Soziologe Abdelkebir
Khatibi geprägt. Er schlägt eine Theorie der doppelten Kritik vor, die sich in einer beidseitig ausgerichteten Bewegung an den eurozentrischen bzw. orientalistischen Diskurs einerseits und ethnozentrische lokale Diskurse andererseits richtet. Vgl. Khatibi, Abdelkebir: Double Criticism: The Decolonization of Arab Sociology, in: Halim Barakat (Hg.): Contemporary North Africa: Issues of Development and Integration, Washington D.C.: Center for Contemporary Arab Studies at Georgetown University 1985, S. 9-19. 7
Vgl. Fatna Aït Sabbah (Pseudonym von Fatima Mernissi): La femme dans l’inconscient musulman, Paris: Albin Michel 1986.
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finde, dass das besser ist als zu sagen, dass sie listig sind, weil man [im Arabischen] auch sagt, »Frauen sind wie Füchse« . Das ist abwertend. Mernissi ist außergewöhnlich, weil sie diese Kritik übt und versucht, Sheherazade zu rehabilitieren, und hinter Sheherazade stehen alle arabischen Frauen. Aber gleichzeitig ist das was ich ihr vorwerfen würde, dass sie schließlich von ihrer Kritik eingeholt wird. Sie führt ihre Kritik nicht zu Ende, worin liegt letztlich das Imperialistische darin? Symbolisch sind dies alles homogene Länder ohne Grenzen und sie versucht, die Grenzen auszuradieren. Vor allem in ihren genannten Büchern schafft sie es zu zeigen, dass wir, d.h. wir Araber*innen in einem allgemeinen Sinne wie ihr Westlichen seid, aber auch umgekehrt, dass ihr, die Westlichen, wie wir seid. Ich nenne eine Reihe von Beispielen, und dass ihr auch wie wir seid. Die Beispiele, die sie verwendet, sind tatsächlich schlechte Beispiele, weil sie sehr psychologisierend sind. Zum Beispiel interessiert sie sich für Ingres, falls ihr dieses Buch über Ingres, den französischen Maler, gelesen habt.8 Er ist ein Orientalist, der arabische Frauen sehr klein und sehr üppig zeichnet, und sie fragt sich warum er das tut, vielleicht befriedigt ihn seine eigene Frau nicht, also flüchtet er sich in diese Schöpfung von Fantasien, er zeichnet Frauen als Selbstbefriedigung. Wie also im Grunde die muslimischen Araber als die Männer, die nie zufrieden sind. Diese Art zu versuchen, Menschen durch diese Art der Psychologisierung zusammenzubringen, ist das, was hyperkolonial bleibt, diese Bereitschaft zu sagen: »Wir sind wie du, du bist wie wir«, und das ist nicht wahr. Ich finde es viel ehrlicher zu sagen, dass selbst wenn wir Feminist*innen sind, es Differenzen gibt, die inkommensurabel sind und die es nicht gelingen wird aufzulösen, und das ist überhaupt nicht schlimm. Daran wird die Idee eines solidarischen, globalen Feminismus überhaupt nicht scheitern, im Gegenteil, um die Solidarität zu denken, müssen wir den Unterschied weiterleben lassen. Streng genommen können wir uns nicht mit dem solidarisieren, was wie wir selbst aussieht, mit unserem eigenen Spiegelbild. Ich denke, es ist ein typischer kolonialer Fehler zu versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen, sogar die Dinge, die sich nicht wieder rückgängig machen lassen. Steffi Hobuß (SH): Und könntest du uns noch etwas mehr über die Verwendung des Begriffs der »kolonialisierten Machtverhältnisse« erzählen, den du im gleichen Kapitel verwendest? Denn ich habe mich gefragt, ob es nicht eine sehr ex-
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Mernissi, Fatima: Sheherazade Goes West. Different Cultures, Different Harems, New York: Washington Square Press 2001, hier vor allem Kapitel of a European Harem: Monsieur Ingres«, S. 146-165.
»In the Intimacy
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plizite Kritik am Kapitalismus in deinem Buch gibt und vielleicht auch in diesem Begriff der »kolonialisierten Machtverhältnisse«, wie du ihn verwendest? Soumaya Mestiri: Also im Prinzip hast du Recht, auf der anderen Seite geht es noch viel weiter als das. Zunächst ist es nicht mein Begriff, sondern ein Begriff, der von dem peruanischen Soziologen Quijano entwickelt wurde, 9 weil er sagt, dass das Wort »Kolonialität« ein Neologismus und in keinem Wörterbuch zu finden ist. Es geht nicht um Kolonisation, sondern Kolonialität; die Kolonialität der Macht ist das, was in den post-nationalen Staaten vorherrscht. Quijano schreibt, und ich denke, er hat Recht, dass, sobald die Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt haben, wir identische Reproduktionen kolonialer Strukturen erleben, nur dass der Kolonisierer nicht mehr da ist. Es sind also die Eliten, die auf mehr oder weniger explizite Art und Weise die Funktion der Kolonisierenden übernehmen, aber schließlich zeigt die politische, soziale und wirtschaftliche Realität, dass es genau diese Reproduktion von Strukturen gibt, und deshalb ist dieser Begriff der Kolonialität ein typisch dekolonialer Begriff. Er wurde später nach Quijano von einer Reihe von Philosoph*innen und Soziolog*innen weiterentwickelt, da gibt es zum Beispiel die Kolonialität des Seins, ein Begriff, der von dem amerikanischen Forscher puertorikanischer Herkunft Nelson MaldonadoTorres entwickelt wurde, oder die Kolonialität des Geschlechts, entwickelt von der argentinischen feministischen Philosophin Maria Lugones, 10 die an der Idee arbeitet, dass das Geschlecht selbst ein Import ist, ein koloniales Transplantat, das auf der Verteidigung der sexuellen Binarität als Grundlage der Heterosexualität basiert, die ihrerseits als Mittel der Versklavung ausgelegt ist. Aber um auf das zurückzukommen, was du gesagt hast, hast du völlig Recht, natürlich ist es auch eine Form der Kritik am Kapitalismus, denn alle dekolonialen Denker*innen, die am Ursprung dieses Begriffs stehen, sehen Probleme damit auftreten, was sie Modernität/Kolonialität nennen. Und was die Moderne charakterisiert, sind natürlich die Empires und auch der Kapitalismus, tatsächlich ist das eine Struktur.
9
Vgl. Quijano, Aníbal: Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien: Turia & Kant 2016.
10 Vgl. Lugones, Maria: The Coloniality of Gender, in: Harcourt, Wendy (Hg.): The Palgrave Handbook of Gender and Development: Critical Engagement in Feminist Theory and Practice, New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 13-33.
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MM: In diesem Zusammenhang können wir trotzdem bemerken, dass du nicht unbedingt gegen Marx’ Theorien zur Kapitalismuskritik bist, das heißt, weil wir im Buch keinen Zusammenhang mit Marx finden. Soumaya Mestiri: Bin ich überhaupt nicht, es stimmt, es ist kein Buch über den Feminismus, es ist ein Buch der politischen Philosophie, aber es ist überhaupt kein marxistisches Buch. Das heißt es geht nicht um politische Ideologie, der dekoloniale Ansatz, den ich für mich reklamiere, versteht sich als Option, was bedeutet, dass er gewählt werden kann oder nicht. Im Gegensatz dazu versucht eine Ideologie, sich durchzusetzen, weil sie sich als Halter der Wahrheit betrachtet. Ich bin nicht liberal. Ich bin auch nicht marxistisch, aber wenn du dekolonial bist, bist du zwangsläufig nicht liberal und wirst die kapitalistischen Strukturen als liberale kritisieren. Auf der anderen Seite kann man sagen, dass das Buch in einem gewissen Sinne post-marxistisch ist, indem es sich als Teil der Sozialphilosophie versteht: Es geht darum, von der Anomalie auszugehen, davon, was nicht richtig funktioniert, und nicht vom Sollen, vom Ideal. In diesem Sinne hat es einiges mit den feministischen Ansätzen gemeinsam, die als standpoint theory bekannt sind und die auch postmarxistisch sind. Man kann sagen, dass der dekoloniale Feminismus, den ich verteidige, in gewisser Weise ein materialistischer Feminismus ist. MM: Im selben Kapitel steht etwas, was ich auch schon angesprochen hatte, nämlich über Ausschnitte aus der arabischen Literatur des Mittelalters. Was für mich hier nicht ganz klar war, dass du mehrmals kurze Geschichten zitierst, wo du zeigst, die Frau im Mittelalter war eine freie Frau und warum wir Sheherazade nicht als Frau betrachten sollten, die befreit werden muss. Das heißt sie braucht keinen westlichen Feminismus, sondern muss vielmehr »kolonial« sein. Was für mich nicht klar ist, dass du Ausschnitte aus der Literatur nimmst, was aber nicht buchstäblich die Epoche ist. Wenn man zum Beispiel die Literatur des Mittelalters in Deutschland anschaut, sind die Repräsentationen des Geschlechts und der Frauen dort absolut idealisiert und haben nichts mit der Gesellschaft zu tun. Die Literatur war bereits ein Zustand der Idealisierung, den man versucht hat zu idealisieren. Also, ich weiß nicht, was dein Zugang zu diesen Auschnitten und den Beispielen ist, die du verwendest. Soumaya Mestiri: Selbstverständlich war es nicht mein Ziel, noch einmal zu sagen, dass die arabische Frau superfrei oder superbefreit war, aber ich bin, wie soll ich das sagen, weniger sicher als ihr über die Tatsache, dass die Literatur gar kein Spiegel der Gesellschaft wäre. Die arabische Literatur dieser Epoche ist Li-
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teratur, die in die reale Welt eingeschrieben ist. Das ist eine Literatur, die beschreibt, wenn sie erzählt, und so beschreibt sie wirklich eine bestimmte Realität. Natürlich kann man das nicht für hundert Prozent der Frauen sagen, aber es gibt wirklich eine starke Verankerung in der Realität. Noch außergewöhnlicher ist (auch wenn man hier etwas skeptisch sein könnte, weil die Beispiele, die ich zitiere,11 von, in Anführungszeichen, »erotischen« Autoren sind), dass ihr einen ähnlichen Klang auch in anderen Büchern arabischer Autoren des Mittelalters finden werdet. Ich denke an ein sehr bekanntes Buch, das »Kitâb al-Aghani«12 heißt [dt. Buch der Lieder], das von Abu al-Faraj al-Iṣfahānī geschrieben wurde und 27 Bände hat; davon gibt es eine französische Teilübersetzung, die in einer Anthologie über das Frauenbild in dieser Literatur zu finden ist.13 Dort gibt es eine Beschreibung der Realität von Frauen, von den sozial am höchsten gestellten aus den obersten Schichten bis hin zu gewöhnlichen Frauen. Das sind erotische Porträts, die gleichzeitig gewagt, selbstbewusst und total klassenübergreifend sind. MM: Einverstanden, wir können also festhalten, dass wir in der arabischen Literatur des Mittelalters ein Bild vorfinden, dass, sagen wir, relativ nah an der Realität der Epoche ist. Soumaya Mestiri: Ja, absolut. MM: So können wir es als etwas verstehen, das über die Realität spricht, das ist interessant, denn das ist für uns überhaupt nicht offensichtlich. Soumaya Mestiri: Natürlich, das verstehe ich vollkommen. Im Übrigen ist es so, dass man sich beim Lesen dieser Ausschnitte denkt: »Das ist nicht möglich. Das ist wirklich enorm«, aber wenn ihr so wollt, dieser Geist ist da wirklich in der Gesellschaft vorhanden.
11 Vgl. S. Mestiri: Décoloniser le féminisme, zweites Kapitel: »›Décoloniser Shéhérazade‹. Désir et figure de la femme dans le monde arabe médiéval«, S. 39-56. 12 Das Kitab al-Aghani des Abu al-Faraj al-Iṣfahānī ist eine enzyklopädische Sammlung von Liedern, die im 10. Jh. entstanden ist. 13 Vgl. Al-Iṣfahānī, Abu Al-Faraj: La femme arabe dans Le Livre des chants. Ins Französische übersetzt von Mohamed Mestiri, Vorwort und Kommentar von Soumaya Mestiri, Paris: Fayard 2004.
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SH: In deinem Buch beziehst du dich oft grundlegend auf transversale feministische Ansätze und den Begriff der Grenze. Könntest du uns noch ein bisschen dazu erklären, was das für dich bedeutet und wie du dieses Denken verwendest, um den Feminismus zu dekolonisieren? Soumaya Mestiri: Ich war schon immer an dieser Idee der Grenze interessiert. Und zwar auf mehreren Ebenen, natürlich nicht nur auf der geografischen Ebene, sondern auch auf der symbolischen Ebene, auf der mentalen Ebene, natürlich auch auf der kulturellen Ebene. Ich hatte damals ein Buch gelesen, das selbst auf dieser Idee einer Grenze basiert, nämlich das Buch von Chandra Mohanty, der Feministin indischer Herkunft, die in den Vereinigten Staaten lehrt und ein Buch mit dem Titel »Feminismus ohne Grenzen« geschrieben hat.14 Ich fand eine der zentralen Ideen des Buches sehr interessant, dass wir, um einen globalen und solidarischen Feminismus zu errichten, nicht nur nicht verpflichtet sind, sondern – noch stärker – gar nicht versuchen sollten, Grenzen auszuradieren. Der Begriff »Solidarität« ist hier nicht unwichtig, für mich sind Solidarität und Gemeinschaft [i.O. »sororité«] keine Synonyme. Die Idee der Gemeinschaft zielt letztlich darauf ab, dass wir alle am Ende zum Spiegel der jeweils anderen werden. Denn die Suche nach einer Grundlage des Feminismus bedeutet meistens, dass versucht wird, Übereinstimmungen für strategische Zwecke zu finden, um Formen des Kampfes zu ermöglichen, aber immer auf der Basis einer Suche nach Gemeinsamkeiten oder einem Konsens. Das ist typisch liberal und ich denke, es ist ein falscher Ansatz, der versucht, die Grenze in jedem Sinne des Wortes zu beseitigen. Die Idee ist, dass die Grenze nicht als festgelegter Punkt und damit als Durchgangsort betrachtet werden sollte, der nur zum Überqueren bestimmt wäre. Wir sollten die Grenze als Wohnort betrachten, und wir sollten uns alle – so unterschiedlich wir auch alle sein mögen, als Bewohner*innen der Grenze betrachten, und so könnte man sagen, dass ich von der Grenze komme so wie aus Berlin oder aus Tunis. Es geht darum, die Grenze ernst zu nehmen als einen Raum und nicht bloß als eine Durchgangsschleuse. SH: Mit anderen Worten, es ist ein bisschen so, als würde man Unterschiede hervorheben, ohne sie als etwas zu sehen, das uns trennt.
14 Vgl. Mohanty, Chandra Talpade: Feminism Without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Durham: Duke University Press 2003.
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Soumaya Mestiri: Aber es ist noch mehr als das. Es geht darum, Differenzen zu erforschen und nicht um die Suche nach dem gemeinsamen Punkt, das ist die Idee. Wie ich gerade gesagt habe, die Differenz ist die Bedingung der Solidarität. Damit muss man sich abfinden. Das ist jedoch nicht das, was Mernissi tut. In einer Reihe von Interviews mit einem französischen Journalisten namens Serge Ménager15 gegeben, und sie sagt, es ist immer notwendig, dass wir uns hin und her bewegen, sie ist besessen von der Idee, dass wir die Grenze überwinden müssen, um ... MM: Als ob die Idee der Grenze peinlich wäre. Soumaya Mestiri: Ja, genau, um Freiheit zu erlangen, müssen wir immer Dinge überschreiten und weitergehen, und so sagt sie, ich mache dieses Hin und Her und ich komme zurück, aber was sie sagt, ist nicht wirklich zufriedenstellend, weil sie die Grenze als ein Mittel betrachtet. Sie geht nachschauen und kehrt dann zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Das ist schon nicht schlecht, aber meiner Meinung nach ist es nur eine Etappe, die zum Ausgangspunkt zurückführt, weil man durch eine andere Erfahrung bereichert wurde, die man dort gefunden hat. Das ist gut, aber man darf da nicht stehenbleiben, wir müssen den Mut haben, an der Grenze zu sein, und zwar möglichst um uns sagen zu können, dass die Grenze zu einem Ankerplatz und nicht nur zu einem Durchgangsort wird. Ich finde, dass die Metapher des Zirkels gut zeigt, worum es hier geht. Um einen Kreis zu zeichnen und damit die Öffnung des Zirkels wirksam werden kann, muss man die Spitze ins Papier setzen; die Verankerung ist hier die Bedingung der Weitung. Das verkörpert die Idee der Grenze sehr genau. SH: Das ähnelt vielleicht eher dem, was Homi Bhabha sagt, besonders in Bezug auf die Verwendung dessen, was die Brüche zeigen können. Er hat diesen Begriff der Mimikry, da geht es darum, dass Unterschiede sichtbar werden, wo die Mimikry gerade nicht funktioniert, aber du kritisierst diese Idee. Soumaya Mestiri: Ich sehr einige Dinge anders als Bhabha. Ich habe festgestellt, dass er, trotz allem, was daran richtig ist, in einem Denken der Interkulturalität bleibt, während wir es vorziehen würden, transkulturell statt interkulturell zu sein. Was ich in gewisser Weise wirklich kritisch fand, ist, dass er ein Theoretiker der Hybridität ist, Hybridität ist ein hyper-kolonialer Begriff, ich habe mich
15 Vgl. Mernissi, Fatima: Interview mit Serge Ménager, in: Le Maghreb litteraire 2 (1996), S. 87-119.
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immer gefragt, wie es möglich sein kann, persönliche Identität in hybriden Begriffen zu denken. Wir sind nie in so einem Fusionsraum, so funktioniert das nicht. Ich ziehe es vor, Identität nach dem Modell des Lastenaufzugs zu denken: Manchmal kommen bestimmte Elemente nach oben, und zu anderen Zeitpunkten sind es andere Elemente, die auftauchen. So zu denken erlaubt es, die Komplexität der Identität zu denken, außerhalb des kolonialen Kohärenzanspruchs. SH: Ich denke, mit dem dritten Raum wird Hybridität als ein Ort des Übergangs gedacht, wenn man so will, der zu etwas Neuem führt. Soumaya Mestiri: Der Begriff des dritten Raums ist interessant, und er scheint in interessanter Weise auf Kritiken der Hybridität zu antworten. Aber was mich wirklich stört, ist, dass wir, um über eine mögliche Hybridität nachzudenken, über die Schließung von Identitätsuniversen nachdenken müssen. Sonst können wir nicht hybridisieren. Ich denke aber Identität nicht auf diese Weise. Außerdem setzt man, um Hybriden zu bilden, eine gewisse vorgängige Gemeinsamkeit voraus: Es ist zum Beispiel unmöglich, einen Apfel auf eine Ananas zu pfropfen, wegen ihrer Inkommensurabilität. Aber einen Pfirsich auf eine Pflaume, ja, weil sie ähnlich sind. SH: Aber da gibt es noch den Bruch, einen sehr wichtigen Begriff, d. h. die Mimikry erzeugt einen Bruch, und zwar sowohl beim kolonisierten Subjekt als auch beim ehemaligen Kolonisator. Die Mimikry bezieht sich auf beide Seiten, dass der dritte Raum den Bruch sichtbar macht, wo es nicht funktioniert, wo es nicht zusammenpasst. Soumaya Mestiri: Ja, das stimmt, aber es befriedigt mich nicht wirklich. Unter anderem deswegen, weil ich auf der Ebene der persönlichen Identität spreche, nicht über interpersonale Beziehungen. Noch einmal, wenn man unterschiedliche kulturelle Einflüsse in sich hat, ist es vielmehr das Prinzip des Fahrstuhls oder des Lastenaufzugs: Zu einem gegebenen Zeitpunkt gibt es ein kulturelles Element, das etwas mehr nach oben geht als die anderen, und deshalb kommt es an die Oberfläche, an anderen Tagen ist es eine andere Komponente, und so ist es nie eine Form der Hybridität. Wenn wir von einem Hybrid sprechen, nehmen wir im Grunde genommen einen dritten Begriff, der aus der Fusion zweier anderer stammt. Was den Prozess der persönlichen Identität betrifft, so scheint es mir nie eine Fusion zu geben.
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Und es gibt noch etwas anderes, das bei Bhabha ärgerlich ist. In Bezug auf die Beziehung zu den ›Weißen‹ gibt es bei ihm keinen epistemologischen Ungehorsam; in »Die Verortung der Kultur«16 erklärt er gegen Ende, dass sein Bezug immer »Koloniale Literatur« bleibt, er berichtet, dass bei irgendeinem indigenen Autor ihn etwas an einen westlichen Autor erinnert, und ich finde das sehr ärgerlich, dass er trotz allem in den indigenen Ressourcen nach etwas sucht, das ihn an etwas erinnern könnte... Um den Ausdruck von Judith Butler zu gebrauchen, »Kant in jeder Kultur wiederfinden«. Ich finde, das ist kein förderlicher Ansatz. Wenn ihr zum Beispiel Walter Mignolo lest, den argentinischen dekolonialen Literaturtheoretiker, da gibt es diese Idee, dass wir sehr wohl von unseren eigenen Ressourcen ausgehen können, wobei es nicht darum geht, andere auszuschließen. Um ehrlich sein, scheint es mir hier eine Inkohärenz zu geben, wenn sich Homi Bhabha »auf die Seite der Indigenen« setzen will und andererseits eine Reihe von normativen Positionen einnimmt, die im Widerspruch zu dieser Idee stehen. Das ist es, was Homi Bhabha zu einem postkolonialen und nicht zu einem dekolonialen Theoretiker macht. MM: Und dann, am Ende deines Buches, beziehst du dich auf die Ansätze von John Stuart Mill und Carol Gilligan, wo ich den Eindruck habe, dass es dir darum geht, mit ihren Theorien einen Ansatz zur Dekolonialisierung zu entwickeln. Ich habe nicht wirklich verstanden, warum gerade diese beiden Theoretiker und warum nicht vielleicht andere aus Afrika oder Südamerika, die eher aus den Erfahrungen des Kolonialprozesses kommen, das ist für mich etwas undurchsichtig geblieben. Soumaya Mestiri: Ich benutze sie nicht wirklich. Aber ihr habt Recht, wenn ihr diese wichtigen Fragen ansprecht. Auf jeden Fall, wenn ihr euch den Status des Mill-Kapitels angesehen habt, ist es nicht wie die anderen, sondern ein Anhang.17 Die Besonderheit dieses Anhangs besteht darin, eine Spur anzugeben, die eine angehängte Spur ist, nochmal etwas anderes. Das Kapitel über Mill ist kein Antwort- oder Lösungsvorschlag. Es geht in diesem Text darum, dass der Feminismus, anders als man vielleicht denken könnte, niemals liberal sein kann. Ich nehme den Fall von Mill, um zu zeigen, dass wir, wenn wir eine kohärente Form unseres Feminismus finden wollen, vielleicht akzeptieren müssen, dass er
16 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000. 17 Vgl. S. Mestiri: Décoloniser le féminisme, Anhang (»Appendice«): »L’asservissement des femmes réconsidéré. John Stuart Mill au bord du libéralisme classique«, S. 161176.
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nicht liberal ist. Und in diesem Sinne besteht da überhaupt kein Widerspruch, da ich von Anfang an versucht habe zu erklären, dass Feminismus nicht liberal im normativen Sinne des Begriffs sein kann. Insofern zeige ich, dass es bei ihm etwas gibt, das der Nichtbeherrrschung ähnlich ist, die typischerweise republikanisch und nicht liberal ist, und auch etwas, das dem Care-Begriff ähnelt, der ganz anti-liberal ist, was aber wiederum kritisierbar ist. Wenn man also bei ihm etwas Feministisches finden will, wird das grundsätzlich antiliberal sein. Aber wie gesagt ist das ein Anhang und hat nichts direkt mit dem Hauptteil des Buches zu tun, ist aber offensichtlich auch nicht völlig davon zu trennen, und dieser Text steht in der gleichen Idee wie die anderen Kapitel, nämlich dass, wenn man feministisch sein will, man nicht liberal sein kann. Über die Care-Theorien wird viel gesprochen, wobei es keine einheitliche Care-Theorie gibt. Carol Gilligan hate die Idee, dass es etwas geben könnte, das spezifisch weiblich ist, und etwas anderes spezifisch Männliches. 18 Das ist freilich höchst fragwürdig, es ist eine Form der Essentialisierung, man könnte das eine maternalistische Strömung nennen, und es kann sehr leicht in Richtung Konservatismus verstanden werden, und unter diesem Gesichtspunkt interessiert mich Carol Gilligan überhaupt nicht. Die Theoretiker*innen des Care-Begriffs, die mich interessieren, sind Menschen, die Care politisieren, die nicht auf der moralischen Ebene stehen bleiben wie Gilligan, wie Joan Tronto in meinem Kapitel über Care.19 Ich beziehe mich auf Joan Tronto, weil ich es ganz außergewöhnlich finde, wie sie es schafft, Care zu politisieren und so aus diesem Essentialismus herauszukommen, den es bei Gilligan gab, und ihr gelingt es, etwas Gutes daraus zu machen. Im gleichen Kapitel, um noch einen Teil eurer Frage zu beantworten, beziehe ich mich auf Theoretikerinen wie Uma Narayan oder auch Spivak oder Lugones, und hier begegnet man immer dem Problem, dass es »indigene« Stimmen sind, die in das System integriert sind und einen Teil davon bilden. Mehr als »indigene« Referenzen sollten, denke ich, Profile von außerhalb des Systems integriert werden, außerhalb des Akademischen, aber ohne dass das künstlich wird. All das ist offensichtlich kompliziert.
18 Gilligan, Carol: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München: Piper Verlag 1988 [1982]. 19 Vgl. Vgl. S. Mestiri: Décoloniser le féminisme, Kapitel sechs: »Le care au secours de l’empowerment. Difficile décolonisation«, S. 127-148, sowie Tronto, Joan: Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, London: Routledge 1993.
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SH: Sie sind alle in den westlichen Wissensapparat integriert. Und auch dein Buch ist bei einem bekannten Verlag in Paris erschienen. Soumaya Mestiri: Das ist ganz gezielt so. SH: Bitte versteh das nicht falsch, ich will dich nicht angreifen, weil es hier Widersprüche gibt, sondern sie sind es, die mich wirklich an deinem Buch interessieren. Soumaya Mestiri: Aber ich nehme sie an, weil ich versuche, in der Mitte zu leben und es ist wirklich verdammt schwer, in der Mitte zu leben. Aber es war tatatsächlich eine Entscheidung für den Verlag Vrin. Außerdem ist es sehr merkwürdig, dass das Buch tatsächlich von Vrin akzeptiert wurde, weil er ein hyperakademischer Verlag ist, gewissermaßen kolonial, aber es ist meiner Herausgeberin Sandra Laugier zu verdanken, die eine außergewöhnliche Arbeit leistet und seit mehreren Jahren daran arbeitet, marginalisierte Themen und Autor*innen in der akademischen Szene voranzubringen. Auch an der Sorbonne, es gibt da Seminare zur dekolonialen Philosophie. Die Wahl von Vrin ist auch eine strategische Wahl, damit diese Art von Literatur von den Menschen, die kritisiert werden, gelesen werden kann, das Buch musste bei Vrin erscheinen. SH: Innerhalb des Systems wird es schwierig, das System zu kritisieren und es zu verändern, weil man sich darin befindet. Soumaya Mestiri: Ich zögere nicht, das System zu kritisieren. Ich komme aus der liberalen Tradition, die es mir erlaubt, sie zu kritisieren, ich habe über Rawls gearbeitet, ich habe 2003 meine Dissertation über ihn geschrieben, und so habe ich mich immer im Umfeld des normativen Denkens befunden. Leute, die mich seit einigen Jahren kennen, seit ungefähr 15 Jahren, waren zunächst sehr überrascht von diesem Wandel, haben ihn aber jetzt verstanden. Es hindert mich nicht, die Institution ehrlich zu kritisieren. Es hat mich nie daran gehindert. MM: Jetzt komme ich also zu meiner letzten Frage. Offensichtlich sind wir bei all dem auch wieder beim kapitalistischen System, denn diese Fragen »Wo soll ich mein Werk veröffentlichen, damit es sichtbar ist« usw., haben ja auch mit dem kapitalistischen System zu tun. Für mich sind gerade diese Fragen, wie können wir zur Dekolonisierung beitragen, und wie können wir die patriarchale Gesellschaft verändern, ist das nicht im Kapitalismus verankert als einem System, das das patriarchalische System unterstützt, und das alles, die Geschlechterfragen und der Neokolonialismus, der aus dem Kapitalismus kommt, muss man
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nicht zuerst von einer gründlichen Kritik am Kapitalismus ausgehen? Passt das nicht zusammen? Soumaya Mestiri: Natürlich geht das zusammen, denn Liberalismus und Kapitalismus basieren nicht nur auf patriarchalischen Gesellschaften, sondern verteidigen offensichtlich ein patriarchalisches System für ihren Fortbestand. In der Tat müssen wir also aus normativer Sicht über einen postkapitalistischen Ansatz nachdenken, um zu versuchen, die Dinge zu ändern. Was ich aber auch sagen möchte, ist, dass wir ehrlich sein und erkennen müssen, dass das Patriarchat gewissermaßen etwas Universelles ist. Wenn wir sagen, dass wir das kapitalistische System wirksam bekämpfen müssen, wie du es angedeutet hast, neigen wir dazu zu denken, dass es der Kolonist ist, der diese schreckliche Sache, den Kapitalismus, hervorgebracht hat, aber das Patriarchat ist meiner Meinung nach nicht nur dem Kolonisten vorbehalten. Man kann freilich immer das Beispiel der vormodernen Gesellschaften anführen, die keine kapitalistischen Gesellschaften waren und auch nicht auf dem System des Patriarchats basierten. Und das wäre ein Gegenbeispiel zu dem, was ich sage. Ich bin mir nicht sicher, ob es so einfach ist, denn wenn man an die Araber denkt, lange vor dem Kapitalismus, sind mittelalterliche und sogar vormittelalterliche Gesellschaften im Grunde Gesellschaften, die kapitalistische Gesellschaften, kommerzielle Gesellschaften waren. MM: Genau, das war nur eine andere Form des Kapitalismus, vielleicht hat es den Begriff des Kapitalismus schon immer gegeben. Sobald die Leute anfingen zu handeln. Das beginnt nicht erst im 18. Jahrhundert. Soumaya Mestiri: Es ist eine Form des Kapitalismus, die ihren Namen nicht nennt. Vielleicht könnten wir dann sagen, dass alle Formen des Patriarchats mit diesem System verbunden sind. MM: Das heißt vielleicht, sobald die Menschen anfangen, etwas zu besitzen, beginnen sie auch, Waren zu sammeln, die sie mitnehmen, oder auch wenn sie bereits irgendwo sesshaft geworden sind, vielleicht kommt da der Begriff Mann/Frau ins Spiel. Soumaya Mestiri: Ja, du meinst, dass in diesem Moment ein günstiger Rahmen für die Vergabe sozialer Rollen geschaffen würde, »du wirst das tun und ich werde das Geld bekommen und deshalb werde ich nach draußen gehen und du wirst die Frau zu Hause bleiben«. Ja, das ist sehr wahr.
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SH: Ich möchte gern noch ein bisschen über dein Verständnis des dekonstruktiven Feminismus sprechen. Du sprichst nur wenig über Judith Butler oder andere dekonstruktive feministische Theorien. Wie verstehst du deine Beziehung zu diesem dekonstruktiven Feminismus? Weil es ja zum Beispiel die Kritik gibt, dass es dann gar kein Feminismus mehr ist. MM: Vielleicht geht die Frage in diese Richtung: Warum spielt Butler überhaupt eine Rolle in deinem Versuch, eine Theorie zu schmieden? Lässt sich Butler überhaupt in deinem Design unterbringen? Oder passt das gar nicht zusammen? Soumaya Mestiri: Mir persönlich gefällt es sehr gut, was Judith Butler macht, auch ihre jüngsten Arbeiten über den öffentlichen Raum, 20 das ist sehr interessant. Ich denke, dass nicht alles, was dekonstruktiv ist und auf einer dekonstruktiven Methodik basiert, auch gleich dekonstruktiv ist. Ich für meinen Teil verteidige einen dekolonialen Ansatz, der versucht, eine Art epistemologischen Ungehorsam zu betreiben. Und so versuche ich, einen eigenen Ansatz zu finden und nicht in Referenzen zu verfallen, die der Ikonisierung und der Feier von dem und dem nahekommen. Außerdem versuche ich überhaupt nicht, eine Theorie zu schmieden, weil ich nicht weiß, wie man das macht, ich weiß nicht, wie es ist, eine Theorie aufzustellen. Ich versuche, einige Richtungen zu skizzieren, denn dekoloniales Denken soll anti-normativ sein. Mit anderen Worten, wir werden nicht aus der Theorie herauskommen, wir müssen die Theorie kritisieren und am Ende eine Theorie formulieren, die ihrerseits normativ ist. Das ist eine Option, wie ich gerade gesagt habe. Und es geht auch nicht darum, »die Indigenen« in den Mittelpunkt zu stellen, um sie zu »verteidigen«. Mit anderen Worten nicht darum, ein Zentrum durch ein anderes zu ersetzen. Das Zentrum wird immer existieren, die Peripherie wird immer existieren, und es geht nicht darum, eine Hegemonie durch eine andere zu ersetzen. Das ist die Idee. SH: Ich mag diesen Begriff des »epistemologischen Ungehorsams« sehr, gerade als Philosoph*in mit der Idee eines transkulturellen Feminismus oder dekolonialem Feminismus oder Ähnlichem. Ich frage mich immer: Was können wir als Philosophinnen an der Universität oder als Philosophinnen in der Gesellschaft tun? Das finde ich wichtig, was denkst du über die Rolle der Philosophie in diesen Kämpfen oder Fragen? Ich weiß, dass das schwierig ist, aber es ist eine echte Frage.
20 Vgl. Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp 2016.
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Soumaya Mestiri: Das verstehe ich sehr gut. Ich frage mich das oft, und die einzige Antwort, die ich gefunden habe, ist, dass die Menschen vor allem Antworten von uns erwarten, Rezepte, wie z.B. Kochrezepte, Dinge, die gebrauchsfertig sind. Ich war vorgestern beim Studientag an der Sorbonne, und die Leute stellten mir Fragen wie diese: Was sollen wir tun? Eine junge Frau sagt: »Ich bin in dieser besonderen Situation, was soll ich tun?«, und das ist legitim, aber gleichzeitig auch demobilisierend. Auf die Frage, was eine weibliche Philosophin beitragen kann, möchte ich letztlich jede Antwort vermeiden, die Frauen essentialisiert, denn in der »weiblichen Philosophin« steckt »die Frau«. Die einzige Formulierung, die ich gutheißen würde, ist, was kann die Philosophie beitragen? Und ich denke, es ist eine Form der Moderation, das ist alles. MM: Eine Form der Meditation. Soumaya Mestiri: Ja, eine Form der Meditation, der Reflektion, eine Form der Weisheit und vielleicht auch, weil das sehr vage, sehr unscharf bleibt, eine Form der ehrlichen Diagnose, denn von dort fängt alles an. Vielleicht: die Realität der Dinge ehrlich darstellen, die Realität der Phänomene unvoreingenommen darlegen. SH: Das finde ich sehr überzeugend. Ich danke dir. Und noch etwas interessiert mich, nach zwei Jahren des Austauschs mit den älteren tunesischen Feministinnen, weil in Tunesien an so vielen Orten der Staatsfeminismus nachwirkt. Da gibt es Kontinuitäten bei den »älteren« Feministinnen, kann man das so sagen? Hast Du eine Diagnose zum aktuellen Stand in Tunesien? Was passiert hier jetzt gerade? Für mich ist es sehr interessant zu sehen, was jetzt passiert. Da gibt es das Erbe des Staatsfeminismus, es gibt Kontinuitäten und gleichzeitig gibt es unabhängigen Aktivismus – was hältst du von der aktuellen Situation in Tunesien? Soumaya Mestiri: Warum ich sehr pessimistisch bin und mir sage, dass sich im Grunde »nichts geändert« hat oder noch schlimmer geworden ist, insofern sich die institutionellen Verankerungen nicht geändert haben. Wie ihr sagt, ist in der dominanten medialen Berichterstattung immer das gleiche sichtbar, und wir würden uns wünschen, dass andere sichtbarer werden, die nicht nur weniger alt bzw. jünger sind, sondern auch andere Orientierungen haben, eine andere Vision von Feminismus, LGBT-Aktivist*innen und auch gegenläufige Feminismen. Das ist alles toll, aber ich denke, es fehlt an Sichtbarkeit. Es wird überschattet von der hyper-medialen Berichterstattung über jene, die die Erben dieses Staats-
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feminismus sind. Selbst wenn sie historisch gesehen als alternative demokratische Feminismen zum Staatsfeminismus entstanden sind. Aber in Wirklichkeit verkörpern sie letztlich eine Form des konservativen Staatsfeminismus im schlechten Sinne des Wortes, einen, der einen hegemonialen Status quo bewahrt. MM: Je mehr ich sehe, umso mehr frage mich, ob sich heute, nach der Revolution und der bisherigen Entwicklung, die Situation der Frauen hier in Tunesien nicht immer mehr der Situation in Europa annähert? Das heißt, du sprichst in deinem Buch über die Schere zwischen bürgerlichen wohlhabenden und armen Frauen. Die gleichen Probleme gibt es in Europa. Das heißt, die Notwendigkeit der Dekolonisierung mag hier stärker sein, aber brauchen wir das nicht auch in Europa? In den USA? Im Sinne der Befreiung der Gesellschaften von bestimmten Zwängen? Du hast erwähnt, dass du oft als »indigene Frau « angesprochen wirst, die jetzt ein wenig wie der Messias gesehen wird, diejenige, die Antworten in einem System geben soll, das vom Westen geschaffen wurde, unter dem der Westen gleichzeitig auch leidet. Glaubst du, dass wir dies als Gelegenheit sehen könnten, uns in den Problemen einander anzunähern? Vielleicht ist dies eine langfristige Gelegenheit, wirklich Wege zu finden, um die Gesellschaften zu verändern. Soumaya Mestiri: Ja, natürlich, wie ihr sagt, hat die Revolution die vorher bestehenden Funktionsweisen sichtbarer gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um eine Chance handelt, in dem Sinne, dass die Prozesse und Versuche, zu dekolonisieren oder die Dekolonisierung zu denken, immer am Rande des Systems, des Regimes stattfinden und daher nicht viel mit dem bestehenden politischen und sozialpolitischen System zu tun haben. Wenn es eine Dekolonisierung geben soll, glaube ich nicht, dass sie von institutioneller Ebene kommen wird, aber vielleicht wird sie eine Reihe von Kräften freisetzen, die von den Rändern kommen und jetzt über mehr Mittel verfügen, sich auszudrücken. Sicher ist jedenfalls, dass das Dekolonisationsprojekt als solches, ob es mit dem Geschlecht oder mit anderen erkenntnistheoretischen Fragen verbunden ist, vor allem ein globales Projekt ist. Das heißt, wenn es nicht global gedacht wird, kann es nicht funktionieren. MM und SH: Vielen Dank, Soumaya, es hat uns sehr gefreut, mit dir zu sprechen. Aus dem Französischen übersetzt von Caja Fischer und Steffi Hobuß
Die Revolution im Lichte des dekolonialen Feminismus Das Beispiel Tunesien1 Soumaya Mestiri
Nicht nur der westlich-muslimische Feminismus hat eine historische Chance verpasst, eine wichtige theoretische Entscheidung zu treffen.2 Dies gilt auch für den tunesischen Feminismus zur Zeit der Revolution 2010. Erinnern wir uns zunächst daran, dass der Feminismus, der heute in Tunesien seit der Unabhängigkeit verteidigt, befürwortet und gelehrt wird, sehr weitgehend der Feminismus der 1970er Jahre in Frankreich und der Feminismus des Kampfes für die Geschlechtergleichheit ist. Die Revolution im Dezember 2010 gab ihm einen großen Gegner, einen muslimischen, »kulturellen «, oder »differenztheoretischen« Feminismus, um Frasers Terminologie zu verwenden, der behauptet, Weiblichkeit (oder sogenannte Weiblichkeit) zu rehabilitieren, indem er – ohne es zu wissen oder eher ohne es zu wollen – den Androzentrismus des weißen und säkularen Feminismus dekonstruiert, dem vorgeworfen wird, Männer und Frauen gleichmachen zu wollen. Kurz gesagt, es ist alles wie immer: Der tunesische Feminismus steckt noch in den Kinderschuhen, und die Diskussionen über den Gegensatz zwischen Gleichheit und Differenz lassen sich im Lichte der Geschichte des westlichen Feminismus als erste Phase eines Feminismus verstehen, dessen volle Ausprä1
Dieser Text ist eine Übersetzung von: Soumaya Mestiri, Décoloniser le féminisme. Une approche transculturelle, Kapitel IV: »La révolution au prisme du féminisme décolonial. L’exemple tunisien«, S. 81-104, (c) Librairie Philosophique J. Vrin, Paris, 2016. http://www.vrin.fr
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Dies bezieht sich auf das vorangegangene Kapitel, in dem es vor allem um das Werk Fatima Mernissis geht, vgl. S. Mestiri, Décoloniser, S. 57-80, d.Ü.
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gung noch bevorsteht. Dennoch gibt es eine tunesische Besonderheit. Diese liegt darin, dass der Antiessentialismus der progressiven Feminist*innen relativ unterschwellig bleibt. Es gibt nicht wirklich den Willen, Gruppenidentitäten zu dekonstruieren, indem man, so wie westliche Feminist*innen, bekräftigt, dass »solche Gruppenidentitäten aufgrund einer sozialen Position oder einer ›objektiven Zugehörigkeit‹ zu einer Gruppe«3 nie bereits vorhanden sind und dass sie, weil sie nichts Notwendiges haben, nicht mehr oder weniger sind als das Ergebnis der kulturellen Prozesse, von denen sie bestimmt sind. Der tunesische liberale Feminismus begnügt sich damit, eine feministische Befreiungsbewegung von fundamental westlich orientierten Frauen zu reproduzieren, von denen er informiert und konditioniert wurde. Der Import dieses Feminismus nach Tunesien macht ihn aber zu einer light Version, die an eine Gesellschaft ›angepasst‹ ist, die weiterhin konservativ bleibt. Aber die tunesische Besonderheit besteht auch darin, dass der muslimische Feminismus keine praktikable Alternative darstellt. Wenn muslimische Feministinnen tatsächlich auf der differenztheoretischen Welle surfen, um den Wert und den positiven Inhalt der Weiblichkeit auszudrücken, ist diese Geschlechtsidentität, die für alle Frauen gelten soll, in Wirklichkeit grundsätzlich exklusiv: Die Schwesternschaft der muslimischen Feministinnen wird keineswegs als ökumenisches Projekt gestaltet. Dennoch hätte die Revolution für den tunesischen Feminismus die Chance (oder ein idealer Vorwand) sein können, die Debatte über Gleichstellung und Differenz zu beenden und zur nächsten Phase überzugehen, in der ein Bewusstsein für die »Differenz zwischen Frauen« – um wieder Frasers Ausdruck zu verwenden – geschaffen werden könnte. In der Tat war die Versuchung groß zu glauben, dass, weil der Kampf gegen die Diktatur seit Dezember 2010 von den so genannten »gewöhnlichen« Frauen des Landesinneren und der benachteiligten Vororte des Großraums Tunis initiiert wurde, der monolithische Weiblichkeitsentwurf, den der tunesische Feminismus seit der Unabhängigkeit vorantrieb, ernsthaft untergraben oder zumindest erheblich nuanciert werden könnte. Die objektiven Bedingungen waren jedenfalls gegeben, um einen Schritt voran zu gehen und die Intersektionalität multipler Differenzen im Kreuzen von Geschlecht und anderen Achsen der Differenz und Unterordnung zu denken wie etwa der regionalen Zugehörigkeit, Ethnizität (in Tunesien existiert ein Tribalismus) sowie sozial-beruflichen Kategorien. Der tunesische Feminismus hätte sich zu einem ganz und gar dekolonialen Ansatz entwickeln können, der nicht die erkenntnistheoretische Sprechposition des Subjekts verschleiert und sich das
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N. Fraser, »Multiculturalisme, anti-essentialisme et démocratie radicale. Genèse de l’impasse actuelle de la théorie féministe«, Cahiers du genre, 2, n° 39, 2005, S. 33.
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Credo von Audre Lorde zu eigen macht: »Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen«. 4 Er hat jedoch nicht nur den Versuch nicht unternommen, sondern scheint auch zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Status quo beigetragen zu haben. Wir konzentrieren uns darauf zu zeigen, in welchem Maße der tunesische Feminismus sein Rendevouz mit der Geschichte verpasst hat, indem wir zwei Ebenen betrachten. Die erste ist die ausschließlich politische Ebene (I) in Bezug auf den jeweiligen Aktivismus, in dem ein Androzentrismus vorherrscht, der schwer zu überwinden ist und sich sowohl bei den progressiveren, als auch den muslimischen Feminist*innen durchsetzt: bei jenen durch das, was wir »politschen Maternalismus« nennen; bei diesen liegt, über die Politisierung einzelner Themenfelder hinweg, eine von einer Weltanschauung getragene Politisierung zugrunde, die diese androzentrische Grundlage in gewisser Weise aufrechterhält. Anschließend widmen wir uns der akademischen Ebene (II) bei der deutlich wird, in welchem Maße die Nichtrezeption postkolonialer Studien in Bezug auf Geschlecht Auswirkungen auf ein Land hat, das geprägt ist von der Macht des Kolonialismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und wie dies zu Defiziten innerhalb der feministischen Bewegung in Tunesien führt. Der Beitrag endet (III), indem er ausführlich einige programmatische Wege skizziert, die einen tragfähigen tunesischen Feminismus ermöglichen, sowohl theoretisch als auch in der praktischen Umsetzung.
I 1) Unser Interesse richtet sich zunächst auf den »politischen Maternalismus» der progressiven Feminist*innen. Auch wenn dieses Problem ebenso das ehrenamtliche Engagement betrifft, widmen wir uns hier dem im engeren Sinne politischen Aspekt des Phänomens. Die tunesische Revolution hat eine Realität verschärft und offensichtlich werden lassen, die seit 25 Jahren andauert und als Vorherrschaft eines »weißen«, westlichen Feminismus bekannt ist. Es scheint als hätten die Fragestellungen, die von nicht-westlichen Feminist*innen of color seit
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»The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House«. Unter diesem Titel wurde die Rede von Audre Lorde in die Sammlung Sister outsider: Essays and speeches, Crossing Press, 1984 aufgenommen. Eine deutsche Übersetzung wurde 1984 unter dem Titel in dem von Dagmar Schultz herausgegebenen Sammelband: Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich veröffentlicht.
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den 1970er Jahren behandelt wurden, niemals die tunesischen Feminist*innen erreicht, um nun dreißig Jahre später einen MLF-Feminismus5 voranzutreiben, dem die tunesischen Feminist*innen treuer sind als die Anhänger*innen der ersten Stunde es jemals gewagt hätten zu sein.6 Die Vorherrschaft dieses universalistischen Feminismus, der sich für die Epistemologie der Entbündelung [une épistémologie de la dénonciation] und gegen eine Epistemologie der Herrschaft [épistémologie de la domination] entschieden hat, wurde nur durch seine völlige Ablehnung ausgeglichen, wie die Ergebnisse der Wahlen zur Verfassung im Oktober 2011 gezeigt haben. Vollkommen abgelehnt, haben – bis auf wenige Ausnahmen – die sogenannten progressiven Feminist*innen, die sich politisch engagiert hatten, alles verloren. Tatsächlich wurde hier ein gewisser Paternalismus sanktioniert und jenen Frauen gezeigt, die nach der Revolution zum großen Teil ihr Interesse für die Politik entdeckten. Zwischen dem pädagogischen Anliegen der Aufklärung der Massen einerseits und politischen Werbekampagnen andererseits konnte dieser Schritt schnell passieren. In diesem Zusammenhang möchte ich das Beispiel einer in Tunesien sehr bekannten bildenden Künstlerin nennen, die den führenden Listenplatz in einem der zwei Wahlkreise der Hauptstadt innehatte.7 Sie erklärt, dass sie sich immer für die Belange der Frauen in ländlichen Gebieten eingesetzt hat: Früher half sie ihnen als Handwerkerin, »das nötige Wissen zu erlangen, um das tunesische Erbe weiterzuführen und das Handwerk nach den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft auszurichten«, demnach ist es absolut normal, dass sie heute »in dem Sinne« als Politikerin weitermacht, die von der verfassungsgebenden Nationalversammlung gewählt wurde. Sie erklärt weiter, »dass die Politik auf Konzepten und Projekten basiert. Ich bin vor allem immer noch eine kreative Künstlerin und habe somit die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln, die den Tunisier*innen helfen können«.8 Es gibt, daran besteht kein
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Einen klassischen Feminismus im Sinne der 1968 gegründeten französischen Frauenbewegung MLF (Mouvement de Libération des Femmes), d.Ü.
6
Marnia Lazreg diagnostiziert das Gleiche: »Le projet féministe algérien et moyenoriental se déroule[rait] au sein d’un cadre de référence qui lui est imposé de l’extérieur et selon des normes qui lui sont également imposées de l’extérieur«, »Féminisme et différence«, Les Cahiers du CEDREF, 2010.
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Genauer gesagt enagierte sich sich für die Partei l’Union Populaire, für die sie als erste Kandidatin der Liste in Tunis 2 antrat. Außerdem ist sie die Gründerin der kraftvollen Bewegung »Femmes, retroussez vos manches« (dt. »Frauen, krempelt die Ärmel auf!«), einer Bewegung, die landesweite Diskussionsrunden organisierte.
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Ebd.
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Zweifel, eine echte Mischung der Genres, möglicherweise resultiert aber das politische Engagement aus einem Missverständnis: Sollten künstlerische Schöpfung und »politische Schöpfung« das Gleiche sein? All das ist schwer zu akzeptieren. Verstehen Sie mich richtig: Es geht nicht darum, die Ernsthaftigkeit des Engagements in dem Einzelfall dieser Dame anzuzweifeln, sondern einfach darum, den problematischen Charakter der Machtverhältnisse und den hier (und auch andernorts, da dies keinesfalls ein als isoliert zu betrachtendes Beispiel ist) durchgeführten qualitativen Sprung zu hinterfragen, einen Sprung der umso raffinierter erscheint, als er als so spontan und natürlich betrachtet wird, dass er wie eine Selbstverständlichkeit erscheint. Das »wissenschaftliche« und das Wissen der Bürger*innen sollen nicht gleichgesetzt werden, ganz im Gegenteil, vor allem, wenn letzteres eindeutig von ideologischen Überlegungen durchzogen wist. Es ist anzumerken, dass diese Politikerinnen, indem sie sich als Trägerinnen von Wissen – demokratischem Wissen – präsentieren, als Trägerinnen einer bestimmten Macht angesehen werden, die zu Misstrauen oder gar zur Ablehnung einlädt. Wir konnten die Konsequenzen dieses Widerstandes der Frauen aus ländlichen Gegenden in den verfassungsgebenden Wahlen beobachten: geringe Wahlbeteiligung von Frauen aus ländlichen Gegenden und insbesondere von Jugendlichen, und diejenigen, die gewählt haben, nämlich die Älteren, stimmten gegen die Frauenrechtsaktivist*innen und ihr Projekt einer modernistischen Gesellschaft und verurteilten es sowohl als Widerspruch zu den islamischen Werten als auch als komplette Diskrepanz zu ihrer eigenen Realität. Die Aktion dieser urbanen Aktivist*innen wurde sehr schnell als Einmischung wahrgenommen und mit einem quasi-kolonialen Willen in Verbindung gebracht, der die »Eingeborenen der Republik« retten will, um sie von ihrem tausendjährigen Opferstatus zu befreien. Diese Verurteilung eines gewissen westlichen Feminismus durch Frauen aus der ›Dritten Welt‹ wird von der weiblichen Elite dieser ›Dritten Welt‹ wiederum auf Kosten von ihresgleichen und »der Leute von unten« ausgetragen. Man könnte also sagen (indem man die Aussage von Spivak parodiert),9 dass Frauen aus ländlichen Gebieten sich in der auf jeden Fall paradoxen Situation wiederfinden, dass »weiße Frauen braune Frauen vor braunen Männern retten«. Das heißt nicht, dass »Männer of color« Heilige sind: Frauen in ländlichen Gebieten sind extremen Belastungen ausgesetzt, sie arbeiten auf den Feldern (in Kasserine beispielsweise verrichten sie 70
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Bezieht sich auf das Kapitel II aus Mestiri, Decoloniser, S. 39, d.Ü. Dort wird verwiesen auf Gayatri Spivak: Can the Subaltern Speak? Speculations on Widow Sacrifice, in: Wedge 7/8 1985.
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% der landwirtschaftlichen Arbeit), kümmern sich um den Haushalt, ohne irgendeine Gegenleistung: weder finanziell, noch moralisch oder symbolisch. Das Problem ist so ziemlich das Gleiche wie in der Heilsrhetorik, die von ideologischen Aspekten motiviert und abhängig von einer bestimmten Epistemologie ist: Es handelt sich um die Förderung eines bestimmten Wissens, das einer bestimmten Macht dient und ihr zugrunde liegt. Es ist auch sehr aufschlussreich, dass dieses Wissen zunächst den Aktivistinnen in den Städten und ihren politisch engagierten Schwestern vermittelt wurde, indem man der Idee des Paternalismus am Arbeitsplatz, eines Paternalismus, der letztlich alle Frauen betrifft, eine gewisse Anerkennung zollt. Genauer gesagt läuft es so ab, als ob diese »Machthaberinnen« mit Frauen aus benachteiligten Verhältnissen ein paternalistisches System reproduzieren würden, dessen Opfer sie selbst sind. Die Sommeruniversität, die im Sommer 2011 stattfand, gemeinsam mit dem PNUD, l’Institut National Démocratique, l’ONU Femmes, dem réseau Iknow Politics, dem Centre de la Femme Arabe pour la Formation et la Recherche illustriert sehr gut die Vorherrschaft eines autoritären Musters in den Verhältnissen zwischen Frauen. Diese Sommeruniversität hatte das Ziel den anwesenden Frauen beizubringen, wie man eine Wahlkampagne leitet, mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet und diejenigen zu identifizieren, die das Potential und den Einfluss hatten, nach den Worten eines der Moderatoren, »femmes leaders« zu werden und somit schließlich das zu tun, was man Vernetzung nennt, Vernetzung die der Umsetzung von Zielen auf lokaler und regionaler Ebene dient. Schlussendlich nahmen zwanzig politisch engagierte tunesische Frauen, die aus verschiedenen Bereichen stammten und von internationalen Expert*innen betreut wurden, an exklusiven Trainingsworkshops teil, die darauf ausgelegt waren, »Teambuilding, Vermittlung von Botschaften, Kommunikation mit Wähler*innen und Medien sowie strategische Planung« zu vermitteln. Es ist durchaus amüsant und auch aufschlussreich zu bemerken, dass man nicht daran dachte, eine plurale Sommeruniversität zu organisieren hinsichtlich der politischen Wüste, die 23 Jahre lang (und länger) in Tunesien herrschte. Offensichtlich hat die fehlende politische Kultur, ebenso wie die Macht, ein Geschlecht. 2) Auch der islamische Feminismus in Tunesien hat es versäumt, die Frauen des Landes zu vereinen. Dafür gibt es mehrfache Gründe, die auf subtile Art und Weise miteinander verflochten und sind und im Folgenden dekonstruiert werden sollen. Es ist von äußerster Wichtigkeit zu verstehen, dass der islamische tunesische Feminismus an vor allem und grundsätzlich politisch ist. Diejenigen, die im Namen von muslimischen Frauen sprechen, sind Mitglieder einer islamistischen Partei: Daher handelt es sich eher, wenn man das Oxymoron überhaupt wagen
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kann, um einen islamistischen Feminismus, als um einen muslimischen Feminismus. In dieser Beobachtung bündeln sich alle Aspekte des Problems. Es zeigt zunächst einmal, dass der tunesische islamische Feminismus niemals normative Ambitionen hatte, im Gegensatz zu dem Feminismus, der im Iran, in Pakistan, in Ägypten oder den Vereinigten Staaten existiert: Es gibt weder Ambitionen, die Prinzipien des Koran zu dekonstruieren und die Ergebnisse dieser alternativen feministischen Lesart der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, noch das Interesse, die Macht der orthodoxen Religiösen zu erschüttern oder die Lücke zwischen islamischen und säkularen Feminist*innen zu schließen, wie es seit dem »universalistischen Turn« des muslimischen Feminismus der Fall ist.10 Dies erklärt wiederum, warum besagte Strömung von keiner führenden Persönlichkeit repräsentiert wird, die Ideen mitbringt und in der sich die Frauen wiedererkennen können. Der islamische Feminismus ist genau genommen keine Sache der Frauen. Diese waren letztendlich nur die Stimme einer politischen Partei der Männer, einer Partei, der sie sich angeschlossen haben. Zugehörigkeit in diesem Sinne hat nichts mit der Disziplin gegenüber einer Partei zu tun, von der es immer möglich ist sich zu befreien. Hier geht es um die Frage nach einer Zugehörigkeit, die grundlegend und exklusiv religiös ist und ihre Ursprünge im Herzen des politischen Islam hat und auf der Idee basiert, dass jede Art des Protestes buchstäblich als häretisch gilt, weil die Normen und Werte der Gesellschaft in einem von den Regierenden bestimmten Moment entschieden wurden.
10 Zu diesem »universalistischen Turn« verweist Mestiri auf Kapitel III, S. 74-79. In Bezug auf die mediale und normative Präsenz der Schlüsselfiguren des islamischen Feminismus haben die beiden Länder, in denen der Arabische Frühling begann, Tunesien und Ägypten, unterschiedliche Prozesse durchlebt. So schreibt die Ägypterin Omaima Abou-Bakr, »les prédicatrices musulmanes médiatisées actuellement et les universitaires représentées par des figures de programmes de télévision populaires comme So’ad saleh, Amina Nusayr (toutes deux universitaires diplômées d’un doctorat à Al-Azhar, la première spécialisée en jurisprudence islamique, et la seconde en doctrine et philosophie), Malakah Zirar (spécialiste de loi islamique de l’Université du Caire), Nadia ‚Imarag (prédicatrice d’études islamiques […] [apparaissent toutes] régulièrement sur les chaînes satellitaires de la télévision égyptienne pour présenter des programmes religieux dans lesquelselles sont cosultées sur diverses questions liées à la religion et aux femmes«, »Le féminsme islamique et la production de las connaissance : perspectivesin l’Egypte post-révolutionnaire», in Z. Ali (Hg.), Féminismes islamiques, Paris, La Fabrique, 2012, S. 180.
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Diese »strukturelle« Loyalität erklärt ihrerseits, warum man nicht von dem Verhalten der weiblichen, muslimischen Politikerinnen enttäuscht zu sein braucht, weil sie eher gegen die Frauen kämpften als in ihrem Interesse, und warum man meiner Ansicht nach Unrecht hat, in ihren Stellungnahmen innerhalb der verfassungsgebenden Versammlung punktuelle und sporadische feministische Positionen zu sehen, die einen wirklichen Willen zur Emanzipation ausdrücken. Dies gilt besonders dann, wenn man versteht, dass sich diese Loyalität in ein Weltbild einschreibt, das Veränderung und soziale Mobilität ausschließt. Hier kann uns ein Beispiel mehr Klarheit verschaffen. Während des Sommers 2012 schlug die Partei Ennahdha vor, im Entwurf des Artikels 28 der neuen Verfassung den Begriff der Gleichheit der Geschlechter durch den Begriff Komplementarität zu ersetzen.11 Was in diesem Artikel passiert, ist offensichtlich nichts anderes als der Versuch, eine prinzipielle Hierachie, also Ungleichheit unterzubringen mit dem Ziel, das zu schützen, was als »Gleichgewicht« der Gesellschaft gilt. Es geht darum, der tunesischen Gesellschaft eine inhaltliche Bestimmung anstelle eines Rahmens aufzuzwingen. In diesem verfassungsrechtlichen Staatsstreich ist das Individuum der große Verlierer, für das Gemeinwesen geopfert, von der FAMILIE absorbiert, die ihren Wert als Zufluchtsort zur wichtigsten Anforderung macht. Aber um diese Sachverhalte und die Polemik, die in dieser Zeit so viel Wut verursacht, besser zu verstehen, ist es wichtig zu begreifen, dass die Verteidigungsbereitschaft für das Ideal der Komplementarität mit all ihrem Eifer und ihrer Entschlossenheit kein plötzlicher Trend, sondern die direkte Fortsetzung einer Metaphysik und einer vormodernen Weltvorstellung darstellt, in der der vorherrschende Begriff der Gleichheit der einer geometrischen und keiner arithmetischen Gleichheit ist. In diesem Zusammenhang ist das muslimische Mittelalter das würdige Erbe einer antiken Konzeption der Welt, in der die Individuen stricto sensu nichts wert sind, weil sie austauschbar waren. Um auch Herrn Jedermann bei dieser Perspektive gerecht zu werden, geht es darum, ihm das zu geben, was er mit seiner »komplementären« Stellung vorgeben kann zu sein, während er an einer sozialen Harmonie auf seinem Niveau teilnimmt. Um ein
11 Vgl. auch den Text von Lotfi Mathlouthi in diesem Band (d. Hg.). Der Text des Artikels 28 lautet wie folgt: »Der Staat garantiert den Schutz der Rechte der Frau, und ihre Errungenschaften als wirklicher Verbündeter des Mannes beim Aufbau des Vaterlandes zu festigen, mit dem es eine Komplementarität der Rollen innerhalb der Familie gibt. Der Staat garantiert eine Chancengleichheit für die Frau in allen Verantwortungsbereichen. Der Staat garantiert Gewalt – welcher Art auch immer – gegen Frauen zu bekämpfen«, Entwurf des Artikels 28 der neuen tunesischen Verfassung.
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einfaches, aber treffendes Beispiel zu geben: Man gebe einem Tischler eine Schleifmaschine und eine Hobelmaschine und einer Bäuerin eine Schaufel und eine Spitzhacke. Natürlich wird verstanden, dass dieser Status per Definition nicht der Evolution unterliegt. Wir sind sicher alle komplementär, aber jede*r soll an seinem*ihrem Platz bleiben und nicht darauf hoffen, dass er sich verändern kann. Die Äußerung von Férida Labidi, Ennahdha-Abgeordnete und Präsidentin der Kommission für Rechte und Freiheiten in der verfassungsgebenden Versammlung (ANC), reiht sich deutlich in diesen Blickwinkel ein. Sie bestätigt, dass »man nicht von einer absoluten Gleichheit zwischen Mann und Frau sprechen kann, sonst riskiert man den Verlust des familiären Gleichgewichts und entstellt das Gesellschaftsmodell, in dem wir leben«. Weiterhin sagt sie: »Es geht um die Frage der Vaterschaft, die Weitergabe des Familiennamens, aber auch des Erbes. Wenn Mann und Frau gleich sind, muss das aber auch heißen, dass die Frau gezwungen ist, Unterhaltszahlungen für die Kinder zu bezahlen, zu den gleichen Bedingungen wie der Mann! Allerdings widerspricht unserer gesellschaftlichen Lebensform.«12 Wenn es Sachen gibt, »die sich nicht gehören«, dann liegt dies daran, dass die Rollen schon seit Langem so verteilt sind, dass sich diese Verteilung bewährt hat. Sie nur ein wenig zu verändern würde bedeuten, das Risiko einzugehen, ein funktionierendes System zu stoppen, indem man einem Tischler eine Schaufel gibt und einer Bäuerin eine Hobelmaschine. Die Frauen der Partei Ennahdha sind fundamental in dieser Weltanschauung verankert und können sich nur schwer einem Prozess des nachhaltigen Empowerments anschließen.13
II Heutzutage ist die Gleichheit der Geschlechter konstitutionell verankert. Aber das bedeutet nicht viel, wenn die tunesischen Feministinnen sich nicht dafür entscheiden, ernsthaft über die Verschränkungen der Kategorien Geschlecht, Klasse
12 Interview in Radio Express FM vom 6. August 2012. 13 Zur Unterstützung dieser Idee sei die Tatsache angeführt, dass am 19. Februar 2014 fünf Frauen unter den elf Ennahdha-Abgeordneten waren, die das Gesetzesdekret 103 zum CEDAW-Übereinkommen wegen der Absätze 2, 9, 16 und 29 aufheben wollten – über das Recht muslimischer Frauen, Nicht-Muslime zu heiraten, das Erbrecht, das Recht, Kindern den Familiennamen der Mutter zu geben, das Recht auf freie Bewegung, Gleichheit im Besitz von Eigentum und Gleichheit vor Gericht.
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und gemeinschaftliche Loyalität nachzudenken; wenn sie nicht die Anstrengung unternehmen, über ihre multiplen, komplexen und kaum natruralisierbaren Interaktionen nachzudenken. Wir denken hier ein weiteres Mal an Spivak, die ihre Relektüre von Jane Eyre mit der Einladung beendet, jene Mystifikation zu beenden, die uns an die universelle Gültigkeit davon glauben lässt, was letztlich nichts anderes als rhetorische Tropen sind. Spivak formuliert es folgendermaßen: »es liegt viel mehr an diesen Gesten als an der Entscheidung, die Frau zu feiern, dass die feministische Kritik eine verändernde Kraft für die Disziplin sein kann. Aber dafür muss sie anerkennen, dass sie eine Komplizin der Institution ist, innerhalb derer sie ihren Platz sucht. Diese langsame und schwierige Arbeit kann dazu führen, dass sie zur anderen Seite der Kritik wechselt«, das heißt von der einfachen Epistemologie der Entbündelung zur Epistemologie der Herrschaft.14 Feminismus bedeutet auch, diese Art von Mut zu haben. Dieser Mut scheint heutzutage oft zu fehlen. Das ausgebliebene Rezeption von post-kolonialen Gender-Studies im tunesischen akademischen Milieu, das zur Armut des lokalen Feminismus beiträgt, ist ein deutliches Zeichen. Es fehlt der Wille, Identitäten zu dekonstruieren und die daraus resultierenden Implikationen zu betrachten. Schlimmer noch, dadurch dass man gelernt hat, sex und gender nicht zuverwechseln, begnügt man sich damit, diese berühmte Unterscheidung zu treffen, indem man sich generell immer auf Judith Butler bezieht, aber eher auf eine Karikatur von Butler, die von ihrem ganzen subversiven Potential befreit wurde. Diese Unkenntnis der gender studies wird begleitet von einer gewissen Ignoranz gegenüber dem Feld der postkolonialen Studien. Selbst wenn an der größten (aber auch ältesten) Universität des Landes vier von acht Fachbereichen Kurse zu Postkolonialismus anbieten (offen und konsequent in Philosophie und Englisch, vorsichtiger in Geschichte und Französisch), bleiben solche Kurse an den Universitäten in den Provinzen inexistent. Mit Blick auf diese Situation ist es also nicht überraschend, dass postkoloniale Studien in Bezug auf gender gewissermaßen kein Echo im akademischen Milieu Tunesiens haben. Es scheint, als gäbe es für diese Indifferenz einen essentiellen Grund. Zunächst gibt es bei denjenigen, die die Anstrengung unternommen haben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die generelle Tendenz, postkoloniale Literatur
14 »Trois textes de femmes et une critique de l’impérialisme«, Les Cahiers du CEDREF, »Genres et perspectives postcoloniales«, zusammengeführt und präsentiert von A. Kian, Université Paris VII (Paris-Diderot) 2010, S. 144. Zu der Idee der Komplizenschaft, siehe im gleichen Werk »L’empowerment, un remède-miracle au devenir femme de la pauvreté?«.
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und die Verteidigung des Kommunitarismus zu vermischen. Tatsächlich läuft alles ab, als ob das Interesse am Begriff der Subalternität – in dem Maße, in dem er Platz schafft für Partikularismen, kollektive Identitäten, aber auch Erzählungen, Zeugenberichte und die Literatur und diese dem gebotenen normativen Denken vorzieht – notwendigerweise einen Gedanken gutheißen würde, der zweitrangig auf der Ablehnung des Anderen und darauf basiert, die Unvereinbarkeit der Werte und des Gewohnten zu zelebrieren. In dieser Hinsicht wird der postkoloniale Feminismus als einer der konservativen Abkömmlinge wahrgenommen, die sich nicht als solche zeigen und angeblich von Frauen verteidigt werden, die das System des Postkolonialismus instrumentalisieren, um eine essentialistische Ideologie zu etablieren. Nebenbei bemerkt verursacht die bloße Nennung von Spivaks Idee des strategischen Essentialismus bei einem akademischen Treffen Ablehnung in den tunesischen Universitäten: Das Gefühl der Bedrohung, das über den erst vor kurzem gewonnen Freiheiten schwebt, grade im Vergleich zu anderen arabischen Ländern, ist sehr lebendig. Was die Arbeit von postkolonialen Feminist*innen aus muslimischer Kultur betrifft, sind sie nicht mehr bekannt: Der Begriff des Widerstandes, den Lila Abu Lughod oder Saba Mahmood entwickelten, bedeutet den liberalen tunesischen Feminist*innen nicht viel, und sobald sie ihn wahrnehmen, setzen sie ihm unvermeidlich die Idee der zu berücksichtigenden Autonomie entgegen, gleichzeitig als universelles Patentrezept und als Selbstzweck, und sinnentleeren damit eine ganze Tradition, die vom kritischen Republikanismus bis zum dekolonialen Denken reicht.15 Genau diese Haltung ist ein Symptom des allgemeinen Übels, das einen Großteil der großen Universitäten Tunesiens, sowie Männer* und Frauen* betrifft und das darin besteht, sich von allem unorthodoxen Denken zu distanzie-
15 Es ist, als ob die Hauptakteure – in diesem Fall muslimische Feministinnen – nicht ausreichend über die Sache der »orientalischen« Frauen Rechenschaft ablegen könnten: Warum Saba Mahmood oder Lila Abu Lughod lesen, wenn wir Simone de Beauvoir haben? Es gibt diejenigen, die autoritär sind und diejenigen, die es nicht sind, und zwar heute noch in genau der gleichen Weise, wir ziehen es vor, Claude Lévi-Strauss zu lesen, anstatt uns auf lokale Anthropologen zu verlassen, um die Gesellschaften am Amazonas zu verstehen. Dem akademischen Feminismus fehlt die Fähigkeit, die Idee einer Geopolitik des Wissens ernst zu nehmen, die die »koloniale Differenz« auf der epistemischen Ebene aufrechterhält. Dies zu erkennen bedeutet auch, epistemologischen Ungehorsam auszuüben. Zur akademischen Seite der Frage vgl. M. Tlostanova, W. Mignolo (Hg.): Learning to Unlearn: Decolonial Reflections from Eurasia and the Americas, Columbus, Ohio State University Press 2012, S. 196-216.
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ren, und in diesem Sonderfall, alle »indigenen« Quellen zu diskreditieren. Mignolo stellt sehr treffend fest, dass nicht so sehr der Braindrain zu beklagen ist, sondern die Bereitschaft, vor Ort das zu reproduzieren, was immer schon war, auch wenn die Offenheit für diese »heterodoxe« Literatur es nicht ermöglichen würde, die Gesamtheit aller lokalen Probleme zu lösen.16 Dies ist umso schwieriger zu verstehen, als die tunesische Revolution von »indigenen« Frauen initiiert wurde, den Subalternen aus den benachteiligten Regionen, die seit mehr als einem Jahrhundert absichtlich aus der Entwicklungspolitik ausgeschlossen werden. Faktisch hätte sich ohne diese Frauen der initiale Aufstand im Dezember 2010, der dann das ganze Land erfasste, niemals zu einer Revolution gewandelt. In dieser Hinsicht ist die Aussage einer Lehrerin und unabhängigen Gewerkschafterin sehr aufschlussreich, die aus Kasserine, im Zentrum des Landes, (einer der Städte, die besonders stark von den Ereignissen im Dezember 2010 und Januar 2011 betroffen war) stammt: »Von Anfang an waren die Frauen in der ersten Reihe dabei, und als sich in Kasserine das erste Komitee zur Verteidigung der Revolution in Tunesien gründete, waren es die Frauen und Gewerkschafter*innen, die die Beständigkeit dieser Initiative sicherstellten. Wir wurden sehr schnell von der militärischen Präsenz überwältigt. Nur den Frauen war es gestattet, bei den Begräbnissen anwesend zu sein. Die Leute konnten nicht mehr rausgehen, um sich Lebensmittel zu beschaffen, weil das Risiko zu groß war, die Frauen mussten mit dem kochen, was sie hatten. Sie waren sehr präsent. In jedem Moment und überall. Sie sind rausgegangen, die Progressiveren und auch die anderen… sie haben Medikamente gekauft, Versammlungen initiiert, die Familien desr Märtyrer besucht und Journalist*innen willkommen geheißen. Wir hatten keinen besonderen Ort, wir haben alles bei uns gemacht. Wir haben alle Ressourcen genutzt, um uns Gehör zu verschaffen. Wir haben Bettlaken und Schürzen als Plakate genutzt, um unsere Slogans darauf zu schreiben. Die Schneiderin und der Tischler aus dem Dorf haben uns freiwillig unterstützt.«17
16 W. Mignolo, »Gépolitique de la connaissance, colonialité du pouvoir et différence coloniale«, in: Multitudes (6) 2001, S. 65. 17 Dieses Gespräch wurde am 2. September 2011 von der Soziologin Dorra Mahfoudh geführt und wieder abgedruckt in Le Maghreb magazine, Tunis Nr.2, 7. Okt. 2017, S. 83. In dieser Aussage gibt es Teile, in denen Fanon erstaunlich stark anklingt. Es erinnert an die Passage, in der Fanon den Kampf der algerischen Frauen gegen die Kolonialisierung beschreibt: »Cette femme qui, dans les avenues d’Alger ou de Constantine transporte les grenades ou les chargeurs de fusil-mitrailleur, cette femme qui demain sera outragée, violée, torturée, ne peut pas repenser jusque dans les détails les plus infimes ses comportements anciens, cette femme qui écrit les pages héroiques de
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Dieses Beispiel der Frauen aus Kasserine ist kein Einzelfall. Man findet dieselbe Einstellung zum Widerstand im ganzen Landesinneren, aber auch in den benachteiligten Vorstädten des Großraums Tunis wieder: Diese Frauen, die Akteurinnen während der ganzen Revolution waren, die einen Ehemann oder einen Bruder geopfert haben, haben den Eindruck, instrumentalisiert worden zu sein. Die Gefühle des Betrugs und des Vergessens sind sehr stark vertreten. Seit das Wort befreit wurde, hört die Wut nicht auf zu wachsen; so fasst eine alte Frau aus Thala, die ihren Sohn während der Revolution verloren hat, gegenüber einer Soziologin die Feldforschung betrieb, perfekt zusammen: »wir haben nichts erreicht. Und wenn wir uns Gehör verschaffen wollen, sperrt man uns weg und foltert uns.«18 Beunruhigend ist hier das Echo von Olympe de Gouges’ Nachbemerkung in ihrer »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin«: »O Frauen! Frauen, wann werdet ihr aufhören, blind zu sein? Was sind die Vorteile, die euch in der Revolution zugekommen sind? Eine noch größere Verachtung, eine noch deutlichere Herablassung.« Diese Realität hätte genau die Möglichkeit sein können, gender aus einer postkolonialen Perspektive zu betrachten und die Dominanzverhältnisse im Zuge dieses Transformationsprozesses und politischen Willens in Frage zu stellen, die systematisch die Frauen aus dem Landesinneren auf den vorrevolutionären Status zurückdrängen würden. Aber alles läuft so ab, als könnte nichts den Verlauf der Geschichte des tunesischen Feminismus verändern.
III Was sind also die Lehren, die sich aus all den Geschehnissen ziehen lassen? Um es anders auszudrücken, welche Art von Feminismus brauchen wir im heutigen post-revolutionären Tunesien? 1. Es scheint zunächst essentiell, einen Differentialismus zu praktizieren, ohne dem Populismus zu verfallen. Die Frauen im Landesinneren brauchen sicherlich Hilfe, wenn es um den Zugang zu Lohnarbeit geht (insbesondere in Hinblick auf die Vergabe von Mikrokrediten), die Berücksichtigung von unbezahlter Arbeit, insbesondere in der
l’histoire algérienne fait exploser le monde rétréci et irresponsable dans lequel elle vivait, et conjointement collabore à la destruction du colonialisme et à la naissance d’une nouvelle femme.« Sociologie d’une revolution, Paris: Maspero, 1968, S. 93. 18 Le maghreb magazine, p.81.
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landwirtschaftlichen Feldarbeit und schließlich finanzielle Unabhängigkeit; das ist Fakt. Dies sollte uns nicht glauben lassen, dass es Kämpfe gibt, die würdevoller durchzuführen sind als andere. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Vor einiger Zeit veröffentlichte der Innenminister ein Rundschreiben, das von allen alleinstehenden Frauen unter 35 verlangt, die sich außerhalb des Landes befanden, eine Erlaubnis ihres gesetzlichen Vormundes vorzulegen, die es ihnen gestattet, das Land zu verlassen. Dagegen konnte in einem Ausmaß mobilisiert werden, das die Verantwortlichen dazu veranlasste, von der ursprünglichen Forderung abzulassen. Nichtsdestotrotz waren Stimmen zu vernehmen, die diesen Kampf als Kampf der Wohlhabenden bezeichneten, die sich leisten können zu verreisen, während andere Frauen 15 Stunden pro Tag für wenige Dinar arbeiten müssen. 2. Differentialismus praktizieren, ohne den Blick dafür zu verlieren, was das Problem verursacht. Dieses Prinzip, das radikaler ist, als es im ersten Moment erscheint, zeigt sich auf zwei unterschiedliche Weisen und auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zunächst auf der theoretischen Ebene, indem es die Relevanz der Kategorie Geschlecht für unsere Gesellschaft im Süden in Frage stellt (a); dann auf praktischer Ebene, indem es das Verdienst des weiblichen und feministischen Engagements für die tunesische Revolution neu durchdenkt (b). Auf der theoretischen Ebene besteht die Notwendigkeit, über das Geschlecht als koloniale Kategorie hinauszudenken. Hier beziehe ich mich auf die feministische Theoretikerin Maria Lugones, die das Konzept der »Kolonialität des Geschlechts« entwickelt hat.19 Lugones kehrt zurück zu den historischen Fakten und zeigt, dass die Grundlage des Patriarchats, gegen das sich Feminist*innen schon immer auflehnen, nämlich die Geschlechterzuweisung nach sozialen Rollen zu Gunsten der Männer, eine Erfindung der Moderne ist – einer Moderne von der sie außerdem behaupten, dass sie, Ironie des Schicksals, ihre kritische Position unterstützen würde. Lugones stützt sich außerdem vor allem auf die Arbeit einer Pionierin der afro-amerikanischen Anthropologie, Oyèrónkẹ́ Oyèwùmís »The Invention of
19 In diesem Zusammenhang kritisiert und erweitert Maria Lugones gleichzeit das Konzept der »colonialité du pouvoir«, das von dem peruanischen Soziologen Anibal Quijano entwickelt wurde. Vgl. Lugones, María, »Toward a Decolonial Feminism«, in: Hypatia, 25(4) 2010, S. 742-759.
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Women«20, in der die Verantwortung für den Ausschluss der Frauen aus der öffentlichen Sphäre in der Kolonisierung und ihrer Auferlegung von Strukturen und Staatssystemen liegt. Für Oyèwùmí geht es nicht darum, eine weibliche Dominanz zu erreichen, die das Matriachat, in dem Sinne wie die okzidentale Moderne es konstruierte, an die Stelle des Patriarchats setzt. Oyèwùmí gibt ein anderes Bild zu sehen, in dem es die kastrierenden Frauen sind, die die Macht in dieser Art von Stammesgesellschaften haben. Es geht also darum zu zeigen, dass es vor der Instituierung des Kolonialismus »kein System gab, das auf Geschlecht basierte«21 und dass das Matriarchat fundamental auf der Gleichheit basiert. Aber indem die Kolonisierung die Frauen zu sexuellen Wesen machte, indem sie sie als Frauen konstituierte, deren »Brüste vor Milch überquellen«,22 wurden sie enthumanisiert und de facto auf ihre Rolle als Subalterne reduziert.23 Indem sich Lugones auf diese Analysen aus der politischen Anthropologie bezieht, entwirft sie einen authentischen »dekolonialen« Feminismus. Sie zeigt zunächst, dass für einen Großteil der Wissenschaftler*innen, die über das System des Kolonialismus arbeiten, die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nicht existiert. Genauer gesagt, betrachten sie »das biologische Geschlecht als Basis des sozialen Geschlechts«, indem sie das zweitere für das erstere halten. Wenn sie dies nicht tun, vermischen einige von ihnen sogar biologisches und soziales Geschlecht.24 Dies läuft schlussendlich auf das Gleich hinaus: die Enthumanisierung verhindert in der Regel für indigene Frauen (aber auch Männer) eine grundlegende Lösung der Genderproblematik. Der Kolonia-
20 Vgl. Oyèrónkẹ́ Oyèwùmí, The Invention of Women. Making African sense of Western discourses, Minneapolis: Minnesota University Press 1997. Diesem Buch folgte eine große Anzahl von Werken, die sich mehr oder weniger in diese dekonstruktivistische Sicht einschreiben. Als Beispiel vgl. Carolyn Dean: Andean androgyny and the making of man, in: C. Klein (Hg.): Gender in pre-Hispanic America, Washington D.C.: Dumbarton Oaks 2001; S. Marcos: Taken from the lips: Gender and Eros in Mesoamerican religions, Leiden-Boston: Brill 2006. 21 M. Lugones, The Coloniality of Gender, in: Worlds & Knowledges Otherwise, 2 (2008), S. 1-17, hier S. 8. 22 So eine Formulierung der Juristin Julie Greenberg, vgl. dazu ihr Buch: Definitional Dilemmas: Male or Female? Black or White? The Law’s Failure to recognize Intersexuals and Multiracials, in: T. Lester (Hg.): Gender Nonconformity, Race, and Sexuality. Charting the Connections, Madison: University o Wisconsin Press 2002. 23 Zur Idee der Enthumanisierung der Kolonisierten durch die Kolonisatoren vgl. auch M. Lugones, Toward a Decolonial Feminism, v.a. S. 744-748. 24 M.Lugones, Toward a Decolonial Feminism, S. 744.
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lismus versucht nicht, die indigene Bevölkerung zu befreien, es gibt also auch keinen Grund, das Problem der Machtverhältnisse und der Herrschaft in diesem besonderen Sinne zu adressieren. Da das Geschlecht im Übrigen instrumentalisiert wird – Lugones nähert sich hier Spivak – um sich als unschuldig darzustellen und ein Interesse zu legitimieren, indem man sich für die Situation der armen versklavten Frauen of color interessiert, die von ihren eigenen Männern körperlich und sexuell ausgebeutet werden, aber nicht für den Kolonialismus als Institution. »Geschlecht zu dekolonialiseren« heißt also, diese doppelte historisch-theoretische Kompromittierung hinter sich zu lassen und sich einer strikt faktenbasierten Wahrheit zuzuwenden, die wir folgendermaßen rekonstruieren können: Weil die sogenannten primitiven Gesellschaften auf Gleichheit beruhten, und wir somit objektiv die Fabel des Kolonialismus entlarven müssen, bedeutet das Geschlecht zu dekolonialisieren, ethnisch-rassialisierende Essentialismen zu bekämpfen, die durch den Kolonialismus geprägt sind, und die immer noch in einer doppelten Kolonialisierung des Geschlechts (nämlich der Reproduktion der Strukturen, Organisation und den Geist des Kolonialismus in post-kolonialen Staaten) mit zwei gegensätzlichen Ausgangspunkten fortdauern. Wie schon erklärt, ergänzt das »Bild der indigenen, unterwürfigen Frau, die sich nur in den privaten Räumen aufhält, das Bild des indigenen Mannes, der animalisch und machistisch ist.«25 Aber erinnern wir uns – von eben dieser Fat(i)ma oder Fernanda wird das Bild eines Weibchens mit von Milch überlaufenden Eutern, eine Virago entworfen. Diese Bild korrespondiert mit dem des übergriffigen Mannes, »der eine ständige Bedrohung als Vergewaltiger« darstellt. »›Zwischen Hypersexualität und passiver Sexualität‹ sind der indigene Mann und die indigene Frau gleich zweimal Opfer der Kolonialisierung von Geschlecht.«26 Genau aus diesem Grund muss der Feminismus, den wir brauchen, ein dekolonialer Feminismus sein, der den Widerstand gegen unterschiedliche Formen der Unterdrückung nicht nur aus einer exklusiv weiblichen oder grundsätzlich gegenderten Perspektive mitdenkt, sondern wirklich intersubjektiv. b) Auf praktischer Ebene hören wir die Aufforderung, die Auseinandersetzung jenseits klassischer Paradigmen und elaborierter Raster zu denken, um »demokratische« Defizite zu ergänzen. Letzte scheinen besonders radikal in ihrer Kritik traditioneller Perspektiven, werden als solche auch oft verurteilt und verfallen schließlich denselben Fehlern, die sie zuvor kritisierten. Dies ist ganz
25 Soumaya Mestiri bezieht sich auf das hier nicht vorliegende zweite Kapitel von Décoloniser le féminisme, S. 39-56. 26 M. Lugones, The Coloniality of Gender, S. 8.
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offensichtlich bei der Theorie der Freiheit als Nichtbeherrschung von Philip Pettit der Fall. In der Tat findet man in der irischen Philosophie die Tendenz, die Auseinandersetzung als ein Phänomen zu betrachten, von dem es notwendigerweise spezifische Ausprägungen gibt – korporatistisch, ethnisch, abhängig von biologischem oder sozialem Geschlecht. Es ist zudem aufschlussreich festzustellen, dass (selbst) der Neo-Republikanismus von Pettit auf diese Weise funktioniert, genauer gesagt durch die Bekräftigung des Gemeinschaftscharakters in einem Freiheitsverständnis der Nichtbeherrschung. In der Tat: »If someone is dominated, if someone is exposed to arbitrary interference by others, then that is always in virtue being of a certain kind or class; the person is vulnerable insofar as they are black, or female, or old, or poor, or whatever.« 27 Dies ist genau das, was jenes latente »Klassenbewusstsein« bei den Individuen erweckt, die wir erreichen, indem wir ihre Freiheit unter dem Gesichtspunkt der Freiheit als Nichtbeherrschung verbessern. Auch wenn die Analyse von Pettit nur schwer prinzipiell zu kritisieren ist, so liegt auf der anderen Seite ihre Schwäche in der Neigung, kollektive Identitäten zu verdinglichen. Wenn man an Begriffe wie »Klasse« denkt, selbst wenn man Klassen der »Verletzlichkeit« denkt, scheint es mir nicht die radikale Lösung zu sein, die Herrschaft auszulöschen, und zwar nicht nur aus grundsätzlichen Prinzip, Dinge durch eine intersektionale Perspektive zu begreifen. Es ist nicht so sehr das Klassenbewusstsein oder der Glaube daran, dass es nötig sei, sondern es bedarf eines Denkens, in dem sich die Besonderheiten kreuzen, die Zugehörigkeiten und Bindungen, die uns helfen können, das zu finden, was die Herrschaft antreibt, was vielmehr eine Lösung des Problems hinsichtlich der Subalternität ermöglicht. Es erscheint extrem schwer, Herrschaft wirklich zu verstehen ohne einzusehen, dass die Opposition zwischen Bürger*innen und Elite sowie Bürger*innen und Zivilgesellschaft aufgehoben werden muss. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Opposition eine grundsätzlich generische ist. Wir sind weit entfernt davon, eine sozialistische Utopie vorzuschlagen, die dem Klassenkampf ein Ende setzen würde, sondern die Politik so gerecht wie möglich auch in tief geschichteten Gesellschaften zu überdenken, in denen es schwierig erscheint, um wieder die Fraser’sche Problematik zu verwenden, volle Gleichheit der Partizipation zu erreichen. Dieses Projekt könnte man mit der in-
27 Philip Pettit: Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford: Clarendon Press 2001, S. 144.
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teressanten Arbeit von Partha Chatterjee und der Idee einer »politischen Gesellschaft« illlustrieren.28 Nach Chatterjee ist in den unteren Gesellschaftsschichten im globalen Süden, in denen es schwierig scheint, eine volle Gleichheit der Partizipation zu instituionalisieren, die anfängliche Vertikalität zwischen den Eliten und Subalternen zu Gunsten einer politischen Gesellschaft im wirklichen Sinne verändert werden, in der die unterschiedlichen Parteien auf Gleichheit basieren und einen Aktivismus »von den Rändern« akzeptieren. »An den Rändern« bedeutet vor allem am Rande der Strukturen und am Rande der Legalität. Bei diesem doppelt marginalisierten Aktivismus treten die beteiligten Kräfte in Verhandlungen ein, bei denen alle etwas zu gewinnen haben, wenigstens Positionen, Erfolge, oder Machterhalt. Chatterjee erklärt, die Gleichberechtigung »bringe etwas von der Gewalt und der Hässlichkeit des alltäglichen Lebens in die Korridore der Macht«, und dass eine per Definition antiseptische Regierung dies nicht leisten kann, da sie immer am Konsens interessiert ist und so nicht empfänglich für die »Interessen der lokal Marginalisierten« ist. Chatterjee nennt einige Beispiele aus der indischen Gesellschaft, in denen Gruppen versuchen, sich Gehör zu verschaffen, indem sie mit dem Para-Legalen spielen: Dies ist der Fall bei Landarbeiter*innen, die aus dem südlichen Bengalen stammen, nach der großen Hungersnot 1943 entlang der Eisenbahnlinie nach Kalkutta kamen und seitdem nicht aufhörten, in die Städte zu ziehen. Diese Hausbesetzer*innen, die schnell vom Staat als »Kolonie« betrachtet wurden, haben sich immer auf eine illegale Art und Weise öffentliches Eigentum zu Eigen gemacht, aber mit der stillschweigenden Zustimmung der nationalen Autoritäten. Diese Siedlung, die durch die einflussreichste politische Opposition dieser Epoche, die Kommunistische Partei, unterstützt wurde, hatte (und hat immer noch) Leiter, die verantwortlich sind für die Verhandlungen mit Regierungsämtern, der Polizei und lokalen Verantwortlichen. Sie existiert bis heute, teilweise in größter Illegalität, aber unter Bedingungen, die allen zugutekommen. Auf der einen Seite dem Staat, der sich seiner Verantwortlichkeit nicht stellen will, es mit seinen Mitteln nicht schafft, eine Lösung für die Umsiedlung seiner Bevölkerung zu finden und unnötige Provokationen verhindern will. Auf der anderen Seite den lokalen Kollektiven, die auch den sozialen Frieden zwischen den Bewohner*innen erhalten wollen und so nicht nur akzeptieren, dass sich die Siedlungen zu Vereinen oder Verbänden zusammenschließen (und sich somit legale Strukturen erarbeiten, um eine legitimes Gegenüber zu werden), sondern auch zu
28 P. Chatterjee: The Politics of the Governed: Reflections on Popular Politics in Most of the World, New York: Columbia University Press 2006.
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Militanz neigen. So passiert es, dass sich Polizist*innen, Verantwortliche der politischen Parteien und die lokale Gemeindeverwaltung den Anstrengungen der Vorsitzenden der Vereine anschließen, um eine kinderärztliche Station innerhalb der Siedlung zu eröffnen. Ebenso entscheidet das Stromversorgungsunternehmen aufgrund des Einkommensverlusts durch den »permanenten Diebstahl von Strom« und die juristische Unmöglichkeit, »illegale Hausbesetzer*innen als individuelle Konsument*innen zu betrachten«, die Verbände als solche zu behandeln und »Sammelmietvereinbarungen« zu ermöglichen. Diese Beispiele für aktive, politische Gesellschaften, in denen sich die Interessen der Eliten und der Bevölkerung kreuzen (Interessen, bei denen weder Rechtsstaatlichkeit und rigide Gesetzlichkeitsgedanken noch der Respekt gegenüber tausendjährigen Institutionen helfen) und schon ein außerhalb der regulären Strukturen existierender Quasi-Baumarkt Hoffnung zur Entschärfung von potentiell gefährlichen Situationen bietet, ist hier die Basis davon, was wir als lokale Demokratie Tunesiens heute denken. Wir brauchen eine authentisch politische Gesellschaft und wir brauchen sie noch mehr, als es die Tunesier*innen bisher gezeigt haben, im Vollsinne des Wortes. Und mehr noch ihren Willen, die Werte zu rehabilitieren, die von einem bestimmten Rawls’schen prozeduralen Liberalismus angefochten wurden, wie z.B. Verhandlungen oder Kompromisse. Daher und im Gegensatz zu den Vorschlägen einer bestimmten Orthodoxie in der Soziologie der sozialen Bewegungen ist es zwingend notwendig, um den ganzen Einsatz zu begreifen, von der klassischen Alternative des Glaubens wegzukommen, dass Individuen sich in zwei Lager aufteilen lassen; einerseits die Anhänger von Not In My Backyard oder extrem interessensgeleitete Vertreter*innen von Forderungen wie der Weigerung, eine Autobahn in der Nähe ihrer Wohnung bauen zu lassen, und andererseits Sympathisanten universellerer Sachen, die weniger egozentrisch sind. Denn allein die Tatsache, die Dinge aus dem Blickwinkel der politischen Gesellschaft zu betrachten, erfordert, dass wir der moralisierenden Idee ein Ende setzen, dass es edlere Ansprüche gibt als andere, um die Idee zu begründen, dass, weil jeder Anspruch aus dem Kampf gegen ein grundlegend unausgewogenes Machtgleichgewicht stammt, der Ausdruck des Protestes vor allem eine Denunziation dieses Sachverhalts ist, eine Denunziation, bei der die Motivationen der am wenigsten erwarteten und unwahrscheinlichsten Bündnisse sich vermischen und überschneiden. Die Erfahrungen der tunesischen Revolution sind in dieser Hinsicht sinnbildlich. Eines von vielen Beispielen ist die Ablehnung der Institution, die im August 2013 nach der Ermordung des Mitglieds der verfassungsgebenden Versammlung, Mohamed Brami vorherrschte. So wurden in einigen Ballungszentren von Sidi Bouzid, der Region hinter dem Aufstand im Dezember 2010, lokale
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Rettungskommissionen gebildet – unterstützt von extrem linken Parteien, die versuchten, bestehende Strukturen zu ersetzen, indem sie erklärten, dass sie die derzeitigen institutionellen Führer nicht mehr anerkennen und versuchten, ihre Räumlichkeiten zu übernehmen. In derselben Stadt Sidi Bouzid hat das lokale nationale Rettungskomitee die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen neu gegliedert: offene Gewerkschaft, Arbeitgeber*innenorganisation, Ärztekammer, Anwaltskammer, Menschenrechtsvereinigung etc. Rachid Fetini ist Fabrikbesitzer. Er ist eine der Personen des Komitees. Er erklärt, dass »das Komitee die antagonistischen Machtverhältnisse, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände umgliedert und dass alle das gleiche Ziel verfolgen: sich vereinigen, um die Regierung zu stürzen.«29 Die Anmerkungen dieses Geschäftsmannes ist alles andere als unbedeutend. Sie steht in der Tat im Einklang mit der von Chatterjee beschriebenen Schaffung der politischen Gesellschaft, in der trotz grundsätzlich unterschiedlicher Interessen gelernt wird, sich auf der Grundlage des gemeinsamen Nutzens durch Maßnahmen am Rande der Legalität zu einigen. Es geht nicht darum, wieder einmal Anarchie oder Chaos zu fördern, eine Verkürzung, die die Anhänger der Ordnung und des Ansehens des Staates gerne vornehmen. Es geht vielmehr darum, die traditionellen Kategorien der Politik, die heutzutage ihre Grenzen zeigen, hinter sich zu lassen, zu den eigentlichen Quellen der Demokratie zurückzukehren und denjenigen, die »keinen Einfluss«30 haben, eine Stimme zu geben, ob städtisch oder ländlich, ausgeschlossen und unterdrückt, marginalisiert und abgelehnt. In diesem Sinne scheint der Geist, der die Bemerkungen eines Eric Hazan motiviert, perfekt zusammenzufassen, was hier auf dem Spiel steht. Indem er die Bedeutung und Art des Engagements, wie es heute wahrgenommen wird, hinterfragt, distanziert sich der Verleger und Aktivist von dem Wort, das er für überbeansprucht hält, und erklärt: »Die Barrikaden des 68. Mai waren wahrscheinlich die letzten, die etwas Wesentliches in der Geschichte verändert haben. Ich denke, wir müssen etwas anderes finden, etwas, das
29 La Croix, 05.08.2013. 30 Der Ausdruck ist von Jaques Rancière, siehe insbesondere La Mésentente: politique et philosophie, Paris, Galilée, 1995.
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der Tatsache Rechnung trägt, dass das Stadtzentrum, das der Ort der Barrikaden ist, nicht mehr das Zentrum des Kampfes ist.«
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Die Verschiebung des Zentrums des Kampfes in den Norden wie in den Süden hat klare Implikationen für die Art und Weise, wie die Kämpfe geführt werden müssen. Die Feminist*innen müssen den Mut haben, das zu verstehen und die Schlüsse zu ziehen, die sich auf normativer, diskursiver und militanter Ebene ergeben. Eine solche Aufgabe darf nicht nur auf lokaler Ebene durchgeführt werden, sondern muss der Internationalisierung der Frauenbewegungen und der Art und Weise, wie ihre Defizite exportiert und auf globaler Ebene reproduziert werden, Rechnung tragen. Dies versucht das nächste Kapitel zu zeigen, indem es sichtbar macht, dass politischer Maternalismus im Lokalen das ist, was Empowerment für das Globale bedeutet. Aus dem Französischen übersetzt von Caja Fischer
31 Dieses Interview wurde bei Anatole Istria im CQFD Nr.33, April 2006 unter dem Titel »Eric Hazan analyse les diktats du discours dominan. La fabrique du baratin.« gegeben. (http://1libertaire.free.fr/LQR15.html).
Komplementarität oder Geschlechtergleichheit: Über die Debatte zur neuen tunesischen Verfassung 2014 Lotfi Mathlouthi
Dieser Beitrag reflektiert die Debatte, die während der Ausarbeitung der neuen Verfassung im Jahr 2012 über die Frage der Übernahme des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit in die neue tunesische Verfassung geführt wurde. Die kontroverse Sichtweise, die die Medien in dieser Zeit dominierte, spricht von »Komplementarität« statt von »Gleichheit«. Diese scheinbar konzeptuelle Debatte zeigt einen spezifischen Sachverhalt Tunesiens in den Jahren nach der Revolution von 2010/2011: die Konfrontation zwischen einer traditionalistischen Strömung, die wiedererwacht und durch einen in der arabisch-muslimischen Welt im Trend liegenden Islamismus motiviert war, und einer anderen Strömung, die nach der Revolution eine entschlossenere Verankerung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit in der Verfassung erreichen wollte. Was hat es mit dieser Diskussion um Gleichheit und Komplementarität auf sich? Ist Komplementarität wirklich eine weitere Möglichkeit, die Gleichheit zu benennen, oder geht es umgekehrt darum, Frauen einen den Männern untergeordneten Status zuzuweisen? Ist es einfach nur ein Spiel um Begrifflichkeiten? In den folgenden Überlegungen wird diese Debatte in den allgemeinen Rahmen der Problematik gestellt, die sich auf den sozialen Status der tunesischen Frauen sowie die Art und Weise bezieht, wie diese über ihr Verhältnis zu Männern im Kontext des Grundsatzes der Gleichberechtigung denken.
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EIN ENTWURF EINES ARTIKELS FÜR DIE NEUE VERFASSUNG
Am 1. August 2012 verabschiedete die Kommission »Rechte und Freiheiten« in der Verfassungsgebenden Versammlung mit der Mehrheit der Islamisten von Ennahdha1 und ihren Verbündeten den Entwurf des Artikels 28, in dem es heißt: »Der Staat gewährleistet den Schutz der Rechte der Frau und ihrer Errungenschaften nach dem Grundsatz der Komplementarität mit dem Mann innerhalb der Familie und als Partnerin des Mannes bei der Entwicklung des Vaterlandes«. Dieser Entwurf sollte in den Plenarsitzungen, in denen die neue Verfassung Tunesiens angenommen und bestätigt werden musste, zur Diskussion und Abstimmung gestellt werden. Doch der Inhalt dieses Entwurfs bewirkte einen Aufschrei in der Zivilgesellschaft und der Intellektuellen und politischen Aktivist*innen. Die Gründe dafür lagen nicht nur im Widerspruch dieses Entwurfs von Artikel 28 zu den beiden bereits angenommenen Artikeln 21 und 22, in denen klar der Grundsatz der Gleichheit hinsichtlich der Rechte und Pflichten zwischen beiden Ehepartner*innen benannt wird und deutlich erklärt wird, dass die Bürger*innen in ihren Rechten und Freiheiten sowie vor dem Gesetz gleich sind, ohne jegliche Diskriminierung, sondern auch darin, dass dieser Entwurf einen Rückschritt darstellte, erstens in Bezug auf die Errungenschaften der tunesischen Frauen, die schon im berühmten Personenstandsgesetz CSP 2 verankert waren, und zweitens in Bezug auf die hoch skandierten Ziele der tunesischen Revolution: Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Angesichts dieser Kontroverse und insbesondere ihrer politischen Auswirkungen wurde das Projekt der Komplementarität zugunsten eines anderen Entwurfs aufgegeben, der diesmal klar den Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen benannte: »Alle Bürger und Bürgerinnen haben die gleichen Rechte und Pflichten. Sie sind vor dem Gesetz ohne jede Diskriminierung gleich.« Was hat es aber mit dieser Komplementarität auf sich, die den Begriff der Geschlechtergleichheit ersetzen sollte?
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Die Ennahdha-Partei (wörtlich »Partei der Wiedergeburt oder Erneuerung«), die seit den 1970er Jahren die politische Islambewegung in Tunesien verkörpert, gewann (mit 41,07 % der Sitze) die ersten Wahlen zur Einführung einer neuen Verfassung und zur Regierungsführung in dieser Übergangszeit. Das Bündnis dieser Partei mit zwei anderen Parteien, die insgesamt über 49 Sitze verfügten, ermöglichte es, eine deutliche Mehrheit zu bilden, die von den Islamisten der Ennahdha-Partei dominiert wurde.
2
Siehe auch die Beiträge von Ina Khiari-Loch, Majdi Chaouachi und Hafidha Chekir.
Komplementarität oder Geschlechtergleichheit | 63
2.
KOMPLEMENTARITÄT UND DISKURSSTRATEGIEN
In jener Rhetorik, die versuchte, die Perspektive der Komplementarität zu verteidigen, lassen sich zwei Diskursstrategien identifizieren: Die erste Diskursstrategie stellt einen Versuch dar, Komplementarität auf Gleichheit zu beziehen und damit den konfliktträchtigen Aspekt zu verbergen, der die beiden Begriffe verbindet. In einem Interview mit der Deutschen Welle erklärt Rached Ghannouchi, Vorsitzender der Ennahdha-Partei: »Komplementarität ist eine von vielen Bezeichnungen für Gleichheit. Und das soll nicht bedeuten, dass die Frau nur eine Ergänzung zum Mann ist.«3 Mehrezia Labidi-Maïza, Abgeordnete der Ennahdha-Partei und Vizepräsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, verteidigte die Komplementarität mit den Worten: »Komplementarität bedeutet nicht Ungleichheit […] Gibt es bei der Komplementarität Ungleichheit auf der einen oder anderen Seite? Komplementarität ist doch vielmehr ein Austausch und eine Partnerschaft. Daher ist es für mich eine gute Debatte.«4 Wenn Komplementarität jedoch keine Ungleichheit bedeutet, warum vereinfacht man nicht die Dinge und spricht direkt von Gleichheit, zumal die diese einen wichtigen Rechtsgrundsatz darstellt? Bei der Gleichheit der Bürger*innen in ihren Rechten und vor dem Gesetz geht es nicht nur um die Achtung der Ethik und Philosophie, die jeder Verfassung zugrunde liegen und als Ausdruck des allgemeinen Willens sowie zur Gewährleistung der Freiheit aller und jedes einzelnen dienen soll, sondern auch darum, dem Grundsatztext, den die Verfassung darstellt, im Ganzen Kohärenz und Homogenität zu verleihen. Die zweite Diskursstrategie stellt die Komplementarität als Gegensatz zum Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen dar. So erklärte Farida Laabidi, Präsidentin der Kommission »Rechte und Freiheiten« und Abgeordnete der Ennahdha-Partei, »es gibt keine absolute Gleichstellung von Männern und Frauen«.5 In dieser Hinsicht ist der tunesische Kontext nicht von der Debatte zu trennen, die für Tunesien weder neu noch ein spezifisches Phänomen ist. Diese Debatte zielte über den Begriff der Komplementarität auf eine alternative Konzep-
3
Interview mit der Deutschen Welle, http://m.dw.com/ar/لـ-الغنوشي-dw--يمت-لم-القديم-النظام لتوافق-بحاجة-ومصر-تونس- فيvom 19.12.2012.
4
Zitiert nach http://www.rfi.fr/afrique/20120806-modifier-rapports-hommes-femmestunisie-ennahda-joue-mots vom 6.8.2012.
5
Zitiert nach https://www.france24.com/fr/20120813-tunisie-statut-femme-tunisienneheritage-menace-code-statut-personnel-feminisme-bourguiba-ben-ali-reformesprogres vom 13.08.2012.
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tion und auf eine Perspektive, die sich vom Gleichheitsgrundsatz mit all seinen philosophischen, ethischen und rechtlichen Voraussetzungen und Implikationen unterscheidet. Youssef Qaradawi,6 eine der führenden Figuren des sogenannten ›politischen Islam‹, betonte in einem Artikel mit dem Titel »Die Komplementarität von Frauen und Männern«, dass Männer nicht auf Frauen und Frauen nicht auf Männer »verzichten« sollten. Deshalb sei es für eine Frau nicht angebracht, sich zur Feindin, Gegnerin oder Rivalin eines Mannes zu machen, sie solle ihn vielmehr ergänzen.7 In Frankreich beispielsweise wurde unter dem Namen »ABCD de l’Egalité« ein Maßnahmenpaket der Regierung eingerichtet, das Geschlechtergleichstellung in die Schulbildung integrieren sollte. Als Reaktion darauf schlug eine von christlichen und muslimischen Konservativen gemeinsam geführte Gegenkampagne das »ABCD de la Complémentarité« vor. Die Anhängerin dieser Gegenkampagne Farida Belghoul betont, dass »die erklärte Gleichheit tatsächlich die Entdifferenzierung der Geschlechter beabsichtigt. Dieser Egalitarismus löscht die Grundvorstellung einer Komplementarität am Ursprung der menschlichen Gemeinschaft aus [...] Das ›ABCD de la Complémentarité‹ macht es sich daher zur Aufgabe, die Wahrheit wiederherzustellen: Ein Mann ist ein Mann, eine Frau ist eine Frau.«8 Der Gegensatz zwischen den Konzepten der Gleichheit und der Komplementarität ist also nichts Neues und taucht nun auch in den Debatten und Kontroversen um die Frauenproblematik in der tunesischen Verfassung auf.
3.
GLEICHHEIT UND KOMPLEMENTARITÄT: SEMANTIK UND IDEOLOGIE
Der Begriff der Gleichheit ließe sich durch seinen Charakter der fehlenden Differenzierung definieren, die sich zum einen quantitativ und zum anderen qualitativ verstehen lässt. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Rechtsprinzipien oder die menschlichen Werte. Dieses Verständnis des Beseitigens von Unterschieden wird in der Komplementaritätsbeziehung gerade nicht vorausgesetzt. Im Gegenteil, es gibt eine prinzipielle Differenzierungsbeziehung, die die Komplementarität der einzelnen Elemente bedingt. In dieser Beziehung kommen die Elemente in einer höheren Einheit zusammen, die sie umfasst. Der Begriff der Komple-
6
Qardawi wurde 1926 in Ägypten geboren und lebt seit den 1970er Jahren in Katar.
7
Vgl. http://www.moslimonline.com/?page=artical&id=2607 vom 15.9.2010.
8
Zitiert nach https://www.lamaisonislamochretienne.com/lesabcddelegalite.html.
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mentarität geht davon aus, dass das einzelne Element selbst unzureichend ist und es ein oder mehrere andere benötigt, um den Zustand der Vollständigkeit zu erreichen. Übertragen auf menschliche Subjekte ist der Ausgangspunkt dieses Begriffs also nicht die Autonomie des einzelnen Subjekts, sondern vielmehr seine Heteronomie und Abhängigkeit. Im Gegensatz dazu folgt der Begriff der Gleichheit einer Logik der Bestätigung der Autonomie des menschlichen Individuums als Rechtssubjekt. Aus diesem Grund ist er eng mit dem Begriff der Staatsbürgerschaft verbunden, die ein vollständiges, unteilbares, irreduzibles Ganzes darstellt und wiederum ein autonomes Rechtssubjekt voraussetzt. Hinsichtlich der Staatsbürgerschaft beruhen die Beziehungen zwischen den Individuen innerhalb eines Staates auf einer gemeinsamen Grundlage, die die Gleichberechtigung der Bürger*innen garantiert. Dies ist eine Art von Abstraktionsstatus, der die Unterschiede, die in der Realität zwischen den Einzelpersonen existieren, außer Acht lässt. Die Gleichheit ist in gewisser Weise ein Grundprinzip, das der Staatsbürgerschaft zugrunde liegt. Durch dieses Prinzip werden ihre Einheit und ihre Homogenität gewährleistet. Eine Staatsbürgerschaft ohne Gleichheit wäre in gewisser Weise Unsinn. In der Komplementaritätsbeziehung wird der Status der Frauen jedoch nicht in Bezug auf eine a priori-Bestimmung definiert, die ausdrücklich von vornherein einen universellen Menschenstatus festlegt, sondern in Bezug auf eine a posteriori-Bestimmung, die sie einer bestimmten sozialen Geschlechterkonstruktion zuordnet und sie auf von ihnen zu unterscheidende Andere, nämlich Männer, denen sie als Ergänzung dienen sollen, bezieht. Komplementarität bedeutet weder Gleichheit, noch impliziert sie diese. Die Elemente, die sich gegenseitig ergänzen, müssen nicht notwendigerweise gleich gedacht werden. Man könnte diese Beziehung sogar als das Gegenteil zum Ideal der Gleichheit interpretieren: Die Herrschenden und die Beherrschten ergänzen sich in Machtverhältnissen, die Untergebenen ergänzen die Vorgesetzten in hierarchischen Beziehungen. Die Ideologie der Komplementarität lässt Ungleichheiten außer Acht, um nicht zu sagen, sie rechtfertigt und legitimiert sie. Auch wenn behauptet wird, dass Komplementarität »ein Austausch und eine Partnerschaft«9 sei, gibt es keine Garantie dafür, dass innerhalb dieses Austauschs oder dieser Partnerschaft der Grundsatz der Gleichheit respektiert wird. Ganz im Gegenteil, dieser Austausch könnte ebenso auf Ungleichheits- und Herrschafts-
9
Vgl. den Kommentar von Mehrezia Labidi-Maïza, zitiert nach http://www.rfi.fr/ afrique/20120806-modifier-rapports-hommes-femmes-tunisie-ennahda-joue-mots vom 6.8.2012.
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beziehungen beruhen. Komplementarität neigt insofern dazu, die Ungleichheit an sich zu tolerieren und sogar zu legitimieren. Sich für Komplementarität zwischen Männern und Frauen auszusprechen, ist somit kein einfaches Spiel mit Begrifflichkeiten oder eine Suche nach Synonymen. Es geht hier in erster Linie um eine Ideologie, die die Abhängigkeit der Frauen von dem, was sie erfüllen soll und zu einem Ganzen macht, legitimiert. In dieser Ideologie wird das Wesen der Frau definiert durch ihre soziale Funktion, durch ihre in sehr spezifischen Kontexten festgelegten Rollen, durch das Relative und Kontextuelle der soziokulturellen Beliebigkeit und darüber hinaus durch die Machtverhältnisse, die sich in den jeweiligen Gesellschaften in bestimmter Weise manifestieren. Die Ideologie der Komplementarität reduziert die Stellung der Frauen auf eine soziale Institution: die Familie. Diese Institution verkörpert soziale Räume mit ihren gesellschafts- und kulturspezifischen Machtverhältnissen und Rollenverteilungen und stellt ein wesentliches Instrument der Reproduktion und Verstetigung vorherrschender Machtverhältnisse dar. Daher ist es durchaus bedeutungsvoll und nicht trivial, im Kontext von Komplementarität auf die Familie zu verweisen. So wies etwa die tunesische Juristin, Dozentin und Feministin Sana Ben Achour darauf hin, dass »nur ›faschistische‹ Verfassungen den Begriff Familie definieren; in demokratischen Verfassungen gibt es keinen solchen Hinweis«.10 Das Problem der Ideologie der Komplementarität besteht darin, dass eine bestimmte, stets historisch bedingte Sicht oder Konzeption der Rollen- und Aufgabenverteilung in der Familie und allgemeiner in der Gesellschaft konstruiert wird. Andererseits soll eine Verfassung eine solide und homogene Grundlage für die Gesetzgebung und Rechtsstaatlichkeit bereitstellen, die gleichzeitig einen breiten gesellschaftlichen Konsens zum Ausdruck bringt und festigt. Vielleicht wäre es in diesem kontroversen Kontext besser, das Verhältnis zwischen Komplementarität und Gleichheit in ein Verhältnis der exklusiven Disjunktion nach der Logik »entweder das Eine oder das Andere, aber nicht Beides« umzukehren, anstatt es in dem einer Konjunktion »das Eine und das Andere« zu betrachten. Die rechtliche Gleichheit der Geschlechter geht jeder in einer bestimmten Realität möglichen Differenzierung voraus, denn es handelt sich um eine prinzipielle Gleichheit im und vor dem Recht. In einer Verfassung von Komplementarität statt Gleichheit zu sprechen, stellt eine unmittelbare Gefahr für die Rechte der Frauen dar. Die Komplementarität
10 Zitiert nach http://www.kapitalis.com/focus/62-national/11511-quel-statut-pour-lesfemmes-dans-la-future vom 30.08.2012.
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ordnet die Frauen den sie ergänzenden Männern unter, vor allem im Rahmen der Familie. Nach dieser Sichtweise, die von patriarchalischen Vorstellungen geprägt ist, sollte der Staat die heterosexuelle Familie als soziales Fundament erhalten und verteidigen. Wenn jedoch ein solcher Staatsauftrag in die Verfassung eingehen würde, könnte sogar ein Scheidungsantrag als Gefahr für die Familie angesehen werden.
4.
FAZIT
Um die Pseudodualität von Gleichheit-Komplementarität zu überwinden, sollten wir uns angesichts der real existierenden Unterschiede und Ungleichheiten in den Gesellschaften eher auf das Problem des ethisch-rechtlichen Begriffs der Gleichheit konzentrieren. Um jedoch nicht in einem egalitären Dogmatismus zu enden, sollte der Begriff die Realität der Vielfalt, die sowohl biologisch als auch kulturell die menschliche Existenz durchdringt, einschließen. In dieser Hinsicht dient eine auf Gleichheit ausgerichtete Perspektive der Zurückweisung und Verurteilung jeglicher ideologischer oder politischer Manipulation, die Ungleichheiten und Gewalt heraufbeschwört, und die wiederum durch die real existierende Vielfalt und Differenz gerechtfertigt werden sollen. Das Ideal der Gleichheit ist in erster Linie ein philosophisches und ethisches Ideal, das für sich selbst einer ständigen Überarbeitung bedarf, um in einer Welt, die sich in Richtung neuer, komplizierterer Formen von Gewalt und Ungleichheit entwickelt, effektiv und effizient sein zu können. In dieser Hinsicht ist die Frage der Geschlechtergleichheit nicht einfach nur eine feministische Frage. Sie ist vielmehr grundlegend ein Teil des Menschheitsdramas einer unermüdlichen Suche nach einem wahrhaft menschlichen Zustand, der wirklich emanzipiert und befreit von den Herrschaftsbeziehungen und Entfremdungsverhältnissen ist, die in der heutigen Zeit eher noch standardisiert und globalisiert werden. Aus dem Französischen übersetzt von Caja Fischer
Krise der Männlichkeit Normativer Widerstand und androgyne Perspektive Mohamed Adel Mtimet »Wir sollten […] lernen zu leben und sowohl die Zerstörung als auch die Disartikulation des Menschlichen im Namen einer freundlicheren und letztlich gewaltfreieren Welt zu akzeptieren.« Judith Butler1
1.
»MAN KOMMT NICHT ALS FRAU ZUR WELT, MAN WIRD ES.« 2
Nach dieser Erkenntnis von Simone de Beauvoir ist die Unterdrückung von Frauen kein natürliches Verhängnis, sondern resultiert aus der Kultur und der Geschichte. Seit dieser Erklärung in ihrem Werk Das andere Geschlecht3 haben 1
Judith Butler: Faire et défaire le genre, Vorlesung an der Universität Paris X-Nanterre, 25.5.2004, im frz. Original: »Il nous faudrait … apprendre à vivre, à embrasser à la fois la destruction et la désarticulation de l’humain au nom d’un monde plus accueillant et finalement moins violent.« Verfügbar unter: http://www.univ-lille3.fr/set/ cadrebutler.html, Letzter Abruf 5.8.2019.
2
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265.
3
»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet. Nur die Vermittlung eines Anderen vermag das Individuum als ein Anderes hinzustel-
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die Geschlechterstudien große Fortschritte gemacht. Es handelt sich um eine Schlüsselerklärung, die den Weg für das kritische, soziologische und philosophische Denken über das Geschlecht geebnet hat. Dabei fordert die Erklärung nicht nur die maskulinistische Vision der Überlegenheit des Mannes heraus, da sie jede Form von Essentialismus ablehnt, auch die, die in der Weiblichkeit ein wesentliches Gegenstück zur Männlichkeit sieht. Heutzutage ist es an der Zeit, die Gültigkeit der soziologischen Entdeckung zu erweitern, damit sie auch Männlichkeitskonstruktionen umfasst. Es wäre also legitim, die Leitformel von Simone de Beauvoir neu zu interpretieren, dass auch die männliche Identität nicht substanziell ist und dass ›man nicht als Mann geboren ist, sondern dass man es wird.‹ Menschen aller Geschlechter stellen den sozio-historischen Ausdruck eines Geschlechtes dar, das der soziologischen und historischen Kritik ausgesetzt ist. Es ist diese Entmystifizierung traditioneller Identitäten, die es heute soziologischen und philosophischen Untersuchungen erlaubt, die Ursprünge der Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten besser zu verstehen, unter denen Frauen und Männer leiden, je nach der ihnen zugeschriebenen biologischen Zugehörigkeit oder je nach den ihnen von der Gesellschaft zugeschriebenen Rollen. Es geht hier darum, dagegen zu kämpfen, was Bourdieu »die intolerantesten Lebensbedingungen« nennt, die »allzu oft als annehmbar und sogar natürlich erscheinen«4 können.
2.
GRUNDLAGEN FÜR DIE KRITIK DER MÄNNLICHKEIT
Im 17. und 18. Jahrhundert erlebten Frankreich und England bereits eine frühe Krise der männlichen Identität.5 Dann gab es dort allerdings eine Art Revanche des alten Männlichkeitsideals, begünstigt durch die Revolution von 1789 und
len.« Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265. 4
Bourdieu, Pierre: »De la domination masculine«, in: Le Monde Diplomatique (1998), S. 24, unter: https://www.monde-diplomatique.fr/1998/08/BOURDIEU/3940 vom August 1998 »Man sieht ganz gut, dass es bei diesen Fragen vor allem darum geht, den paradoxen Charakter der Doxa wiederherzustellen und zugleich die Mechanismen abzubauen, die für den Übergang von der Geschichte zur Natur, von der kulturellen Willkür zur Natur verantwortlich sind« (übersetzt aus dem Französischen).
5
Vgl. Badinter, Elisabeth: XY. De l’identité masculine, Paris: Ed. Odile Jacob 1992, S. 25-30.
Krise der Männlichkeit | 71
später durch den Ersten Weltkrieg und den Aufstieg der Nationalismen. 6 Es sollte nicht vergessen werden, dass das Jahrhundert der Aufklärung ein Format der großen Achtung femininer Werte hervorbrachte: die Salons, die Frauen erlaubten, sich mittels literarischer Diskussionen zu entwerfen, gaben ihnen eine historische Gelegenheit, sich zu emanzipieren. Diese Emanzipation manifestierte sich umso mehr, als dass auch Frauen während der Revolution an vorderster Linie standen, die später zum Sturz der Monarchie führte. Aber der männliche Widerstand gegen diesen Wandel stoppte den Prozess der feministischen Befreiung. Trotz ihres Engagements, das dem Geist der Aufklärung entsprach, wurden die Frauen bald darauf wieder ihrer politischen Rechte beraubt. Sie wurden gemäß der Verfassung von 1791 nach Abt Sieyès in die Reihe der passiven Bürger*innen bzw. der ›citoyens passifs‹ herabgesetzt, genauso wie die Kinder, die Armen, die Hausangestellten oder die Ausländer*innen. So hat die Revolution paradoxerweise die Männer vor dem ersten großen feministischen Angriff der Geschichte gerettet und Olympe de Gouges traf ein besonders trauriges Lebensende. Es war die zweite große Krise am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, die kritische Untersuchungen auf dem Gebiet der Soziologie in Gang setzten und die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonstruktionen auf der ganzen Welt ermöglichte. Es geht dabei um eine soziale Krise, die durch die tiefen Transformationen der traditionellen sozialen Strukturen in Frankreich, Deutschland, England und in den USA verursacht wurde. Ihre späteren Auswirkungen waren globaler Art und sind heute auch in den Ländern Nordafrikas, insbesondere in Tunesien spürbar.7 Angetrieben von den theoretischen Errungenschaften der Aufklärung und vom ersten großen Versuch der feministischen Befreiung durch die Revolution von 1789, kann diese Krise als eine Revolution betrachtet werden, die das traditionelle Dogma der normativen Männlichkeit grundlegend veränderte, um für die Wahrnehmung der »hegemonialen Männlichkeit«8 Platz zu schaffen. Denn
6
»To be sure, fascism merely expanded and embellished aspects of masculinity.«, Mosse, George L.: The image of man. The creation of modern masculinity (= Studies in the history of sexuality), New York: Oxford University Press 1996, S. 155.
7
Vgl. zum Beispiel Dialmy, Abdessamad: Vers une nouvelle masculinité au Maroc, Dakar, Sénégal: Codesria 2009.
8
Dieser Begriff stammt von Raewyn Connel, vgl. Connell, R. W./Messerschmidt, James W.: »Hegemonic Masculinity, Rethinking the Concept«, in: Gender & Society 19 (2005), S. 829-859. Er wird hier wie folgt erklärt: »Hegemonic masculinity was distinguished from other masculinities, especially subordinated masculinities. Hege-
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gegen diese Form der Männlichkeit entwickelte sich nicht nur eine Revolte der Frauen, sondern auch eine Auflehnung anderer Männlichkeitsformen, die nunmehr auf der sozialen Bühne sichtbar und von der Kritik der Geschlechter fokussiert wurden. In seinem Buch Maleness and Masculinities in NinetheenthCentury Britain9 zeigt John Tosh, dass man von Männlichkeitsformen, nicht von einer Männlichkeit sprechen sollte, denn der Begriff sei als ein pluraler zu verstehen. Eine Männlichkeit ist das relative Ergebnis eines bestimmten sozialen Kontextes, sie ist die Gesamtheit der Elemente, die von der Gesellschaft fixiert werden, um Eigenschaften der Männer zu konstituieren. Diese Wahrheit dient dazu, eine tiefgreifende Erklärung der sozialen Herrschaftsbeziehungen vorzulegen, die die moderne Gesellschaft kennzeichnen. Die großen Kritiken an der Männlichkeit begannen zu Beginn der 1970er Jahre, als in den USA Arbeiten erschienen wie Der männliche Roboter von Marc Feigen-Fasteau (1974), The Liberated Man von Warren Farrel (1975) oder Men and Masculinity von J. Sawyer (1974). Doch die Krise existierte schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. In The Image of Man10 geht George L. Mosse 1996 erneut auf die Anfänge dieser zweiten Krise ein – die man als ›die Weltkrise der Männlichkeit‹ bezeichnen kann – und zeigt, wie sie zu einem Wandel der Männlichkeitsvorstellungen und zu späteren kritischen Reflexionen über deren Schicksal führte. Das 5. Kapitel dieses Buches mit dem Titel Masculinity in Crisis, The Decadence zeigt, dass das Ideal der Virilität, das vom Ideal der griechischrömischen männlichen Schönheit inspiriert ist, von der Moderne wieder aufgenommen und von der maskulinistischen Ideologie verstärkt wurde, die von den Nationalismen, vom Faschismus und von der militärischen Mobilisierung der beiden Weltkriege propagiert wurde.11 Das ideale Bild der Männlichkeit ist dort
monic masculinity was not assumed to be normal in the statistical sense; only a minority of men might enact it. But it was certainly normative. It embodied the currently most honored way of being a man, it required all other men to position themselves in relation to it, and it ideologically legitimated the global subordination of women to men«, S. 832. 9
Tosh, John: Manliness and masculinities in nineteenth-century Britain. Essays on gender, family and empire (= Women And Men In History), Harlow, Engl.: Pearson Longman 2005.
10 Mosse, George L.: The image of man. The creation of modern masculinity (= Studies in the history of sexuality), New York: Oxford Univ. Press 1996. 11 Am Ende des Kapitels zitiert Mosse das Gedicht eines Nazi-Dichters – Josef Weinheber (1892-1945) – das die Virilität lobt und darin eine absolute Tugend sieht: »Be hard against yourself, Chaste in the glow of your strength and the passion of your sex-
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das Symbol von Größe und Macht. Und wie Mosse konstatiert, wurde vor der Auflösung der »normative society« die ideale Männlichkeit als Norm angesehen: »Modern masculinity symbolized the norm, and its enemies were assumed to be the enemies of established society. The corruption of the purity and chastity of manhood stood for the sickness and dissolution of society.« 12 Grundlegende soziale Transformationen führen zwangsläufig dazu, dass die Fundamente dieses Jahrtausende andauernden Ideals neu zu bestimmen bzw. zu deuten sind. Es geht um diese Transformationen, die das Gleichgewicht der ›normative society‹ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschüttert haben und die Mosse in Relation zum Kontext der Dekadenz des männlichen Ideals setzt: »[T]he years roughly from the 1870s to the Great War gave a new impetus to both masculinity and its countertype.«13 Mosse verbindet die Krise mit einer Dekadenz der Werte und der Kultur der ›normative society‹, die bis dahin auf dem idealen Männlichkeitsbild aufbaute. Indem sie das klassische Ideal der Männlichkeit wieder aufnimmt und noch stärker betonte als vorher, hat die moderne Gesellschaft jede Abweichung von der geltenden idealen Norm weiter erschwert und zurückgewiesen. Um diesen Idealtyp der normativen Männlichkeit zu schützen, wurde er in Relation zu den sozialen Figuren der Verkommenheit und des Niedergangs definiert, die zurückgewiesen wurden: »The construction of masculinity had fashioned a stereotype that in its ›quiet grandeur‹ and self-control reflected the view society liked to have of itself. It was relatively easy to identify with such an unambiguous symbol whose external appearance reflected the moral universe, a normalcy that set the standard for an acceptable way of life. But this ideal of masculinity, indeed modern society as a whole, needed an image against which it could define itself. Those who stood outside or were marginalized by society provided a countertype that reflected, as in a convex mirror, the reverse of the social norm. Such outsiders were either those whose origins, religion, or language were different from the rest of the population or those who were perceived as asocial because they failed to conform to the social norms.« 14 Alles, was sich von dieser Norm entfernt und abweicht, bestärkt sie letztlich wieder.
uality, Love and lust must be kept separate from one another Just as life and death are opposites Life and honor are one«, ebd., S. 106. 12 Ebd., S. 80. 13 Ebd., S. 78. 14 Ebd., S. 56.
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3.
NORMATIVER WIDERSTAND UND MÖGLICHE PERSPEKTIVEN
In einem Vortrag von Judith Butler an der Universität von Paris X-Nanterre15 stellte sie sich die Frage nach dem Sinn einer solchen Anstrengung: »Was passiert, wenn man die normativen und restriktiven Vorstellungen über Sex und Geschlecht ›aufbricht‹? Es kann sein, dass eine normative Vorstellung über das Geschlecht die ›Person‹ [personhood] ›aufbricht‹ und ›dekonstruiert‹, sie langfristig daran hindert, an ihrem Bestreben nach einem lebenswerten Leben festzuhalten. Es kann auch sein, dass man, wenn man eine restriktive Norm abbaut, zugleich eine vorhergehende identitätsbezogene Vorstellung abbaut, um einfach eine neue Identität zu erschaffen, eine neue Identität, deren Ziel darin bestehen wird, sich eine bessere Lebensfähigkeit zu sichern.«16 Das Ziel besteht also nicht darin, die Geschlechterbegriffe der menschlichen Willkür auszuliefern, sondern vielmehr darin, die Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern. Das Kriterium der Lebensfähigkeit ist hier wesentlich. Offen bleibt, wie Daniel Welzer-Lang17 zu Recht fragt, ob die heutigen Männer zu einem Wandel bzw. zu einem Umdenken fähig sind? Sind die Männer bereit, ihre dominierende Position aufzugeben? Sind sie in der Lage, das längst fällige Infragestellen ihrer traditionellen Haltung in Bezug auf die dominante Männlichkeit zu akzeptieren? 3.1 Normativer Widerstand und Wandel des männlichen Bewusstseins in westlichen Kontexten Trotz der berechtigten Forderungen und Ansprüche von Olympe de Gouge begehrten die Männer der französischen Revolution gegen jede Form von Teilnahme bzw. Mitwirkung der Frauen an der Macht auf. Doch gilt das auch für die Männer von heute und morgen? Die Aufgabe der metaphysischen Kategorie der Identität, die von Butler vorgeschlagen wird, um das Geschlecht zu humanisieren, wird immer noch durch Vorstellungen der Politik verhindert, die gegen Versuche einer Dekonstruktion des Subjekts Widerstand zu leisten scheint. Trotz der Schicksalsschläge, die die sozialen Strukturen und das männliche Bewusstsein seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschüttert haben, gab es auch
15 Butler, Judith: »Faire et défaire le genre, (undoing gender)«, in: http://www. multitudes.net/faire-et-defaire-le-genre/ 16 Ebd. 17 Vgl. Welzer-Lang, Daniel: Les hommes aussi changent, Paris: Payot 2004.
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immer wieder Gelegenheiten, die dem traditionellen Ideal erlaubten, auf der sozialen und politischen Bühne mit seiner Macht erneut zu erscheinen. Der erste Einschnitt war der Erste Weltkrieg ab 1914. Danach boten die Nationalismen und sogar der Stalinismus im Kontext des Zweiten Weltkrieges dem Bild hegemonialer Männlichkeit18 eine weitere Gelegenheit, seine Macht zu bestätigen. Hier erinnert Mosse an die Ähnlichkeit der beiden Modelle aus Amerika und der Sowjetunion: »The part of Europe under Soviet control by and large continued the same image of man that the Bolsheviks had advocated in the past, and that, as we saw earlier, under Stalin had approximated the Western stereotype.«19 Ein Wandel in der Haltung der Männer gegenüber den Frauen und dem Feminismus, etwa der profeministische Mann, sowie gegenüber sich selbst begann sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu manifestieren. Man kann sich zum Beispiel wie Mosse auf die Statistiken beziehen, die in Deutschland ab den 1960er und den 1980er Jahren erschienen sind. Sie zeigen, dass eine Abkehr von der Tradition der ›normative society‹ stattfand. Während zum Beispiel die Mehrheit der Männer und Frauen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1965 dachten, dass Frauen ihren Platz zu Hause hätten, so wollte eine knappe Mehrheit der Männer und eine große Mehrheit der Frauen im Jahre 1983 diese traditionellen Haltungen nicht mehr akzeptieren. Dies betrifft jedoch ganz Europa. Immer mehr Frauen eroberten die öffentlichen Räume. In den USA wurde dieser Wandel bereits in den 1950er und 1960er Jahren sichtbar. Man kann ihn zum Beispiel wie Mosse eindrucksvoll am Wandel der amerikanischen Musik feststellen, insbesondere in der Bewegung der BeatGeneration der 1950er Jahre, die bereits Veränderungen ankündigte, die später in den 1960er Jahren, auch die europäische Jugend erfasste. Die neuen Rhythmen der Musik der Beat-Generation befreiten sich von den ›normative american stereotypes‹ und reproduzierten nicht mehr die traditionelle Virilität. Der Jazz stellte eine populäre Musik dar, die Jugendliche aus unterschiedlichen Kulturen ansprach. Es handelte sich um eine Musik, die den Jugendlichen auf beiden Seiten des Atlantik den Rhythmus und die Leidenschaft gab, um den Fesseln des modernen Lebens zu entfliehen und die individuelle Identität gegen die Monotonie der ›normative society‹ zu verteidigen. Die Beziehung zwischen dieser neuen Kultur der westlichen Jugend und der Männlichkeit der modernen Gesellschaft scheint offensichtlich zu sein: Die Freude über die Körperbewegung ist der rhythmische Ausdruck der ungebändigten Befreiung; sie folgt nicht dem männli-
18 Vgl. R. Connell, Hegemoniale Männlichkeit. 19 G.L. Mosse: The image of man, S. 182.
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chen Ideal, für das der Respekt vor den gesellschaftlichen Normen und das ›anständige‹ Benehmen wesentlich sind. Diese ›choreographische‹ Disziplinlosigkeit, wenn man sie so nennen kann, ging simultan Hand in Hand mit einer Disziplinlosigkeit in der Kleidung. Die Freude über die in Gang gesetzte Körperbewegung, die in keiner Weise dem traditionellen Ballett, wurde sehr schnell von einem lockeren Look begleitet. Immer mehr junge Frauen entschieden sich, auf jegliche Art von einengender Mode zu verzichten. Auch bei den jungen Männern gab es eine Revolte gegen den traditionellen Look. Sie widersetzten sich zum Beispiel dem bisher verbreiteten halbmilitärischen Haarschnitt, indem sie, ähnlich wie die Frauen, lange Haare trugen.20 Sicher gab es die Welle der ›garçonne‹ bereits seit den Kreationen von Coco Chanel während der 1920er und 1930er Jahre, bei denen sich die Grenzen zwischen Männer- und Frauenkleidung verwischten und dadurch zunehmend die Kleidungsfigur des Androgynen21 zum Vorschein kam. Aber der Aufstieg der autoritären Regime in Italien, Deutschland und Russland stoppte diese Emanzipation. Erst die Ära nach dem Krieg ermöglichte in vielen westlichen Kontexten größere Freiheiten, trotz der hier und da zu verzeichnenden Gegenströmungen, etwa das Phänomen der Skinheads in England gegen Ende des 1960er Jahre. Diese letztere Tendenz versuchte eine virile und aggressive Männlichkeit durchzusetzen und erschien als eine paradoxe Figur innerhalb von der neuen androgynen Tendenz angezogenen Jugend. So lässt sich die Schaffung des Androgynen erklären, der noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eine schreckenerregende Ungeheuerlichkeit22 betrachtet wurde. Diese Figur gewann nach und nach an Boden und wurde zum Zufluchtsort desjenigen zeitgenössischen Mannes, der den engen Gassen entfliehen wollte, die durch die Figur der starren Männlichkeit innerhalb einer Gesellschaft im Wandel festgelegt wurden.
20 Ebd., S. 186-187: »Advertising, too, took up this theme in mainstream newspapers and magazines, seeking to sell new fashions (Figure 9.1). The models they used were not transsexuals – they had undergone no sex change – but men who seemed to have discarded most vestiges of the manly stereotype.« 21 Vgl. zum Beispiel Bard, Christine: Les garçonnes. Modes et fantasmes des années folles (= Collection »Générations«), Paris: Flammarion 1998. 22 »The androgyne, as either a man with female sex organs or a woman with male genitals, was, by the end of the nineteenth century, regarded as a monster menacing men and women alike. Homosexuals and lesbians, as we saw earlier, had praised the androgyne as a gender-bending ideal that could help end their marginalization by society.«, G.L. Mosse: The image of man, S. 185.
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3.2 Das Beispiel Tunesien: Prämissen zur Schwächung des Ideals hegemonialer Männlichkeit Die Frage wird gravierender, wenn sie in Bezug auf die arabisch-islamischen Gesellschaften gestellt wird, in denen die männliche Kultur rigider und sakraler zu sein scheint und die Logik der Geschlechteridentität in der sozialen Dynamik stagniert. In Ländern wie Tunesien kommen zur kulturellen und politischen Forderung und Förderung der Erhaltung der männlichen Identität einerseits die bedeutende Rolle einer stark patriarchalischen Religion und andererseits die Rolle einer Gesellschaft, die nach wie vor die Virilität verherrlicht. Fern der beachtlichen Fortschritte der Gesetzgebung zugunsten der Frauen bestätigt die Realität in den Wohnvierteln und vor allem in den ländlichen Gegenden immer noch die Hartnäckigkeit der männlichen Dominanz. Adnene Khaldi schreibt in diesem Zusammenhang: »Es zu wagen, die männliche Identität des Tunesiers zu verleumden, gilt als eine der schlimmsten Beleidigungen […] Ein Mann zu sein, ist ein Ideal, das dieser ein Leben lang erreichen soll, das er beweisen, erfahren und hüten soll.«23 Mit den grundlegenden Transformationen, die die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, ist es heute jedoch notwendig, die Gewalttätigkeiten, die aus dieser Rigidität resultieren, offenzulegen. Diese Gewalttätigkeiten werden von den lokalen Gerichten jedoch nicht immer entsprechend verurteilt. Mit Butler kann man sagen, dass es in Tunesien, wie in der ganzen arabischislamischen Welt, eine Tendenz gibt, »die Herausforderung abzulehnen, die Welt neu zu denken und sie als nicht naturgegeben oder notwendig zu betrachten.« Dies »geht Hand in Hand mit Morddrohungen oder gar der Ermordung von Transsexuellen in verschiedenen Ländern und mit der Wahrnehmung schwuler Männer als ›weiblich‹ oder lesbischer Frauen als ›männlich‹.«24 Anders gesagt, in dieser Region wird Männlichkeit als unberührbarer Wert angesehen: »›Du bist kein Mann‹; eine Äußerung dieser Art gilt als eine schlimme Beleidigung und kann zu einem Mord führen«,25 wie Khaldi formuliert. Man kann daraus folgern, dass der Versuch, die Männlichkeit auf welchem Weg auch immer anzugreifen, mit einem Ehrenverbrechen gegen den jeweiligen Mann gleichzusetzen ist.
23 Khaldi, Adnène: »Pourquoi la virilité tunisienne n’est plus ce qu’elle était?«, in: https://www.leaders.com.tn/article/25590-crise-de-la-masculinite-en-tunisie vom 01. 10. 2018. 24 J. Butler, »Faire et défaire le genre«. 25 Khaldi, Adnène: »Pourquoi la virilité tunisienne n’est plus ce qu’elle était?«.
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Nichtsdestotrotz befindet sich die tunesische Gesellschaft heute mitten in einer Transition. Es geht dabei mehr um einen sozialen und kulturellen Wandel als nur um eine einfache politische Transition. Dieser Wandel erfasst auch die festgefahrenen Strukturen des Geschlechts, insbesondere die Strukturen der Männlichkeit. Nach der Revolution von 2010/2011 kam es im Parlament zu einer ersten Niederlage der männlichen Herrschaft, als der Widerstand der progressiven Abgeordneten, unterstützt von einem Großteil der Zivilgesellschaft, das Prinzip der Gleichstellung von Männern und Frauen in der Verfassung durchsetzen konnte, was der islamistischen These von der Komplementarität von Mann und Frau widersprach. 26 Diese These, die sich auf das islamische Recht der Scharia stützt, untermauert die Überlegenheit und Dominanz des Mannes innerhalb der Familie. So kam es zur berühmten Debatte anlässlich der Gründung der Commission des Libertés Individuelles et de l’Egalité, COLIBE,27 über die Gleichstellung von Männern und Frauen in Bezug auf das Erbrecht. Schon die Tatsache, dass es zu einer solchen Debatte kam, gilt als eine entscheidende Wende für die tunesische Gesellschaft. In den anderen arabischen Ländern wird gar nicht über dieses Thema gesprochen. Diese beiden Ereignisse haben das Dogma der Männlichkeit in Tunesien nach 2010/2011 grundlegend erschüttert. Sicher werden sich die Dinge nicht von heute auf morgen verändern, aber der Prozess wurde in Gang gesetzt. Es wurde ersichtlich, dass die männliche Herrschaft auch in Tunesien mit der Zeit der sozialen Struktur nicht mehr entsprechen kann, da diese dabei ist, eine grundlegende Transformation zu erleben. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Entwicklung der Einschulungszahlen von Mädchen, durch die eine Gesellschaft befördert wird, in der die männliche Hegemonie an Bedeutung verlieren wird. 1975 betrug die Einschulung der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren in Tunesien 70 % bei den Jungen gegenüber 49,3 % bei den Mädchen. 2014 stehen 95,7 % bei den Jungen 96,1 % bei den Mädchen gegenüber. Dieser soziale und juristische Prozess beginnt, sich auch auf die Kunst zu erstrecken. Das vielleicht bedeutsamste Beispiel dafür ist der Tänzer und Choreograph Rochdi Belgasmi, der durch den Tanz die Überschreitung von Geschlechternormen thematisiert,28 indem er durch die Choreographie eines als männlich gelesenen Körpers, der sich einer als weiblich gelesenen Ausdrucksweise bedient, zum Ausdruck bringt, was Frauen in öffentlichen Räumen untersagt war. Er zeigt, dass Männlichkeitskonstruktionen nicht unveränderlich sind
26 Vgl. dazu die Texte von Lotfi Mathlouthi und von Hafidha Chekir in diesem Band. 27 Dt.: Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichheit. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Steffi Hobuß in diesem Band.
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und dass sie zu Transformationen fähig sind. Die tiefgreifende Philosophie des Tanzes von Belgasmi stützt sich auf die Idee einer wesentlichen Einheit der weiblichen und männlichen Identitäten. Für diesen innovativen Künstler sind die Grenzen beider Welten offen. Ihm gelingt es durch seine Choreographie eine Botschaft zu vermitteln, die darin besteht, dass die menschliche Wirklichkeit jenseits der Bollwerke und Hindernisse, die von den Ungerechtigkeiten der Geschichte gestellt wurden, gleichermaßen bei allen Geschlechtern existiert. Mit seiner Choreographie symbolisiert Belgasmi ein dynamisches Tunesien, das sich trotz der religiösen und traditionellen Dogmen mit seiner realen sozialen Transformation versöhnen will, aber auch mit seinem juristischen Erbe, das immer schon seine Offenheit an den Tag gelegt hatte. Er erklärt seine Choreographie selbst in einer Reportage mit dem Titel »Revolution durch den Tanz«, indem er sagt: »Als Frau näherst du dich dem Tabu-Körper, dem gefährlichen Körper, dem begehrenswerten Körper. Und so bringst du nicht nur das Weibliche, sondern auch das Männliche ins Wanken«.29 Kurz: Die Gesellschaft befindet sich in der Tat auf dem Weg in eine androgyne Zukunft.
4.
DIE ZUKUNFT DER MÄNNLICHKEIT
Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Was wird aus der Männlichkeit nach all diesen sozialen und zugleich begrifflichen Transformationen? Wird es ein endgültiges Verschwinden der traditionellen Kategorie der Männlichkeit geben? Männer scheinen manchmal vorzugeben, dass sie akzeptieren, (vorübergehend) ihre Privilegien abzugeben. Nach kurzer Zeit jedoch gibt es einen Backlash. So stellt John Stoltenberg in einem Gespräch zum Thema »Entwaffnung und Männlichkeit«30 fest, dass die Männer, die nach dem Ende des VietnamKrieges die Militanz der Frauen an ihrer Seite begrüßt haben, schnell wieder zu ihrer alten maskulinistischen Haltung zurückfanden. Laut Stoltenberg »haben diese Männer ihren männlichen Chauvinismus gegenüber den Frauen nicht wirklich aufgegeben, auch wenn sie sich inzwischen gewaltfreie, gerechte und nicht hierarchische Formen im sozialen Bereich angeeignet haben. Es wurde klar, dass sie sich nur für eine Neugestaltung der Macht der Männer untereinander interessierten, nicht aber für eine grundlegende Veränderung der Beziehungen zwi-
29 Rochdi Belgasmi: Oueld Jellaba redonne vie à une partie de l’histoire, Video unter: https://www.youtube.com/watch?v=62TDc_gSmPI. 30 Stoltenberg, John: Refuser d’être un homme. Pour en finir avec la virilité (= Nouvelles questions féministes), Paris, Mont-Royal (Québec): Éd. Syllepse 2013.
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schen Männern und Frauen. Viele Frauen, die führende Rollen in der Friedensbewegung während des Vietnamkrieges gespielt hatten, mussten feststellen, dass sie betrogen und verraten wurden, als sie sich für einen sozialen Wandel innerhalb einer Bewegung engagiert haben, in der die Bedingungen von Männern diktiert wurden.«31 Das erinnert auch an die Situation der französischen Frauen, die an der Revolution von 1789 in Frankreich teilgenommen hatten und später zu passiven Bürger*innen degradiert wurden. In Tunesien können wir das Beispiel der Islamist*innen erwähnen. Zunächst stimmten sie dem Prinzip der Geschlechterparität bei den Wahlen zu, dann lehnten sie das gleiche Prinzip bei der Gleichberechtigung im Erbrecht ab; und auch Politikerinnen der Ennahdha bekleiden hohe politische Ämter. Doch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Erbrecht zu akzeptieren, würde heute für die Islamist*innen bedeuten, die Fundamente ihrer Ideologie zu untergraben, die ihnen zur Mobilisierung ihrer Wähler*innen dient. Sie können sich nur schwer einen Islam ohne die patriarchalische Strukturierung der Gesellschaft vorstellen. Um die Analyse von Mosse wieder aufzugreifen, kann man festhalten, dass das Ideal der Männlichkeit keineswegs verschwunden ist, sondern nur eine Veränderung oder eine Erosion erfuhr. Es ist immer noch da, sichtbar für die zeitgenössischen Männer, aber auch für die Emanzipationsbewegung der Frauen oder der Homosexuellen, denen nichts anders übrig bleibt, als sich in Bezug auf dieses Ideal zu identifizieren: »All those who want to change society, as well as those who want to escape their marginalization, have to take the stereotype of modern masculinity into account. Without addressing it, for example, any history
31 Ebd., S. 128-129. Stoltenberg fasst diese Haltung der Männer in einem ironischen Stil zusammen, indem er die folgende Frage nach der Situation der unterdrückten Frauen stellt und beantwortet: »Was, wenn darüber diskutiert wird, was Männer, die ein Bewusstsein haben, tun sollen.« Eine der vorhersehbaren Haltungen wäre die folgende: »Viele Männer mit dieser Art von Bewusstsein stehen gern öffentlich zu einer anerkannten feministischen Frau. Diese Männer können Freunde oder Liebhaber sein, heterosexuell oder homosexuell, verheiratet oder ledig, zusammen oder getrennt lebend, all das ist unwichtig. Was zählt, ist ihr öffentliches gemeinsames Auftreten. Denn dies verleiht diesem Mann einen Status: die gestempelte Visitenkarte eines Militanten, die den Namen dieser berühmten Frau trägt und ihm attestiert: ›Ich bin von einer Feministin geprüft worden.‹ Er zeigt diese Karte vor, wenn er sie braucht, versteckt sie jedoch in seiner Tasche, wenn er Pornographie kaufen will. Wenn er zu ihr geht, lässt er die Wäsche im Waschbecken liegen.«, ebd., S. 234-235. Kurz gesagt, der Feminismus der Männer wird zum Etikett, das der maskulinen Dominanz dient.
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of the women’s or the gay emancipation movements must be incomplete. Taking the measure of men makes a hoped-for contribution to our understanding of the society in which we live and in this manner may provide some signposts of possible change.«32 Die Komplexität der sozialen Transformationen des 20. Jahrhunderts beweist, dass das männliche Ideal im Endeffekt nicht aufgelöst wurde und dass der klassische soziopolitische Rahmen die große Krise und die verschiedenen Dekadenzphasen überlebte. Was hier beont werden sollte, ist die Notwendigkeit, die kritische Reflexion über die Männlichkeit fortzusetzen. Auch in westlichen Kontexten, wo die feministische Emanzipationsbewegung lange Jahre Erfahrungen gesammelt und viele soziale Erfolge errungen hat und wo die Studien über die Männlichkeit große Fortschritte gemacht haben, scheint die Männlichkeit immer noch großen Widerstand zu leisten. Laut Badinter33 befindet sie sich in einer Phase der ›Mutation‹. Überall auf der Welt schwankt der zeitgenössische Mann zwischen unterschiedlichen Bildern. Er nimmt immer noch nicht seine Wirklichkeit in einer Versöhnung zwischen den als männlich gelesenen und als weiblich gelesenen Tugenden wahr. Diese Tugenden schrieb die lange Geschichte in gegensätzliche Geschlechter ein. Aber es ist an der Zeit, dass die soziologische und philosophische Kritik zeigen, dass sie weder gegensätzliche noch voneinander getrennte Tugenden sind, denn das menschliche Wesen ist ein und dasselbe. Aus dem Französischen übersetzt von Hedi Ouanes
32 G.L. Mosse: The image of man, S. 194. 33 Vgl. Badinter, Elisabeth: XY. De l’identité masculine, Paris: Ed. Odile Jacob 1992.
Die Transformation von Geschlechterverhältnissen im postrevolutionären Tunesien Amel Grami
EINLEITUNG Tunesien verfügt hinsichtlich der Frauenrechte über einen langjährigen Ruf als eines der fortschrittlichsten arabischen Länder. Der besondere Status tunesischer Frauen ist das Ergebnis einer reformistischen Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Sie konsolidierte sich schon 1956 mit der Verabschiedung des Personenstandsgesetzes (Code du Status Personnel, CSP) als, für die Region, revolutionärer Gesetzgebung. Ohne diese Rechte wären Frauen schutzlos, abhängig von den Launen und der Herrschaft ihrer Ehemänner bzw. manchmal ihrer männlichen Verwandten. Modernisierungs- und Reformbestrebungen des ersten Präsidenten Tunesiens nach Erlangen der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, führten zu rapiden Fortschritten hinsichtlich der Rechte und Bildung von Frauen, die von keiner anderen arabischen Nation in vergleichbarer Weise erzielt werden konnte. Innerhalb weniger Monate nach der Unabhängigkeitserklärung 1956 überarbeitete die Regierung das frühere Familiengesetz, verbot Polygamie und Verstoßung, förderte die einvernehmliche Heirat und führte ein für beide Geschlechter gleiches Scheidungsverfahren ein. Um es mit der tunesischen Soziologin Mounira Maya Charrad zu sagen: »Ein wichtiger Aspekt des CSP ist, dass nicht nur die Macht von Ehemännern, sondern auch die von männlichen Verwandten wie Vätern, Onkeln und Brüdern über das individuelle Leben von Männern und Frauen eingeschränkt wird. Mit dem Inkrafttreten des CSP
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gab es im ganzen Land große Entschleierungskampagnen, die Frauen dazu ermutigten, den Schleier fallen zu lassen.«1
Weitere Änderungen des Personenstandsgesetzes, Arbeitsgesetzes und des Strafgesetzbuches stärkten die Rechte der Frauen in Tunesien. Diese erste tunesische Reformwelle veränderte die rechtliche Struktur von Geschlechterrollen innerhalb der Familie nachhaltig. Die kürzlich verabschiedete Verfassung sieht eine neue Grundlage für strukturelle Geschlechterreformen vor, die auf den Grundsätzen der und Gleichheit der Gleichstellung basieren. In Kraft getreten in den Folgejahren der Revolution, geht die Verfassung von 2014 weiter als andere Verfassungen in der Region, indem sie Aussagen zugunsten der Geschlechtergleichheit und Gleichstellung enthält. In Artikel 46 der neuen tunesischen Verfassung, die im Januar 2014 verabschiedet wurde, heißt es: »Der Staat garantiert die Chancengleichheit von Männern und Frauen bei der Wahrnehmung der verschiedenen Verantwortlichkeiten in allen Bereichen. Das Parlament strebt die gleiche Vertretung von Frauen und Männern im gewählten Gremium an. Der Staat ergreift alle notwendigen Maßnahmen, um die Gewalt gegen Frauen zu beseitigen.«2
Medien und Wissenschaftler*innen haben sich auf die Sichtbarkeit von Frauen, ihr Handeln, Widerstand und Partizipation konzentriert. Der Fokus auf weibliche Handlungsmacht kann durch die Kämpfe von Frauen während und nach der Revolution erklärt werden. Diese stehen im Widerspruch zum allgemein verbreiteten westlichen Bild fügsamer, unterdrückter arabischer Frauen. Die politische Übergangszeit hingegen zeigte tunesische Frauen, die sich ihrer Rechte bewusst sind – starke, aktive Mitwirkende, politisch engagierte und gut informierte Aktivistinnen. Aufgrund der Art und Weise, wie sie Teil der Agenda in der öffentlichen Debatte wurden, betrachteten viele Menschen Gender-Themen als »weibliches Geschäft« und als wenig relevant für Männer. In fast allen politischen Diskussionen bedeutet eine Gender-Perspektive einzunehmen im Wesentlichen, die An-
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Charrad, Mounira Maya: Progressive Law: How it Came About in Tunisia, in: Transnational Law & Contemporary Problems 24 (2015), S. 303-311. Vgl. Amel Grami, Gender Equality in Tunisia in: British Journal of Middle Eastern Studies 2008, S. 349361.
2
Vgl. Verfassung der Republik Tunesien, 26. Januar 2014. Online unter: https://www. kas.de/c/document_library/get_file?uuid=78440ca0-cee2-4369-7ed6-7f248127d3c0& groupId=272546 vom 08.06.2019.
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liegen von Frauen anzusprechen. Obwohl die Dynamik der global wirksamen Geschlechterordnung Männer und Jungen ebenso betrifft wie Frauen, wurde diese Erkenntnis von Wissenschaftler*innen kaum diskutiert. Auch die Forschung zu Gender und sozialen Bewegungen vernachlässigte die Notwendigkeit, sich auf jene Dynamiken zu konzentrieren, wie das Wirken bestimmter männlicher Kategorien im postrevolutionären Tunesien oder in anderen Ländern. In der Zeit nach der Revolution formten sich jedoch neue Realitäten, die unterschiedliche Interessen hervorriefen. Nach dem Aufkommen extremistischer religiöser Gruppen begannen Forscher*innen, der Radikalisierung der Jugend mehr Aufmerksamkeit zu schenken und über ihre Beteiligung am Terrorismus zu diskutieren. Einige Wissenschaftler*innen haben sich auf das Verhalten von »Jihadist*innen« konzentriert, während andere versuchten zu verstehen, warum Menschen überhaupt in extremistischen religiösen Gruppen aktiv werden. Es ist vertreten worden, dass Faktoren, wie zum Beispiel mangelnde Freiheit, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Marginalisierung dazu beitragen, dass tunesische Jugendliche dem IS beitreten. Einige Soziolog*innenen vertreten den Standpunkt, dass jüngste Umwälzungen im familiären Umfeld, die die Geschlechterordnung destabilisiert haben, möglicherweise zur Ausweitung von Gewalt, Angst und Identitätskrisen beigetragen haben.3 Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Spezifika der Geschlechterbeziehungen – der Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern – in der tunesischen Gesellschaft vor der Revolution in ihrer vollen Komplexität nicht leicht zu erfassen sind. Die Komplexität ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Geschlechterverhältnisse (wie alle sozialen Verhältnisse) das Materielle, das Emotionale und das Ideologische verkörpern. Sie zeigen sich nicht nur in der Rollen-, Arbeits- und Ressourcenverteilung zwischen Frauen und Männern, sondern auch in Ideen, Normen, Werten und Repräsentationen. Diese enthalten ausnahmslos Zuschreibungen (vorgeblich) unterschiedlicher Fähigkeiten, Einstellungen, Wünsche, Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster.4 Anstatt sich der männlichen Wahrnehmung der Rechte von Frauen in Tunesien zu widmen und nach Gründen für die Welle der Gewalt gegen Frauen und das Auftreten misogyner Einstellungen in der tunesischen Gesellschaft zu su chen, wird der Fokus im Folgenden auf einer Kategorie von Männern liegen, die
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Die Radikalisierung der Jugend, Arbeitslosigkeit, Marginalisierung sowie andere Faktoren bestätigen, dass die tunesische Gesellschaft eine Männlichkeitskrise erlebt (heute sind mehr als 54 % der Frauen Opfer von Gewalt).
4
Bina Agarwal, ›Bargaining‹ and Gender Relations: Within and beyond The Household, Feminist Economics 3(1), 1997, 1-51 1354-5701 IAFFE 1997.
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in feministischen, soziologischen, geschlechterforschenden Studien noch unsichtbar sind. Sie können als »pro-feministische Männer« definiert werden. Dieser Artikel ist ein Versuch, Geschlechterbeziehungen zu analysieren und zu beleuchten, wie geschlechtsspezifische Asymmetrien im post-revolutionären Tunesien konstruiert und angefochten werden.
GESCHLECHT, POLITIK UND KULTUR Während des gesamten 20. Jahrhunderts ging die Frage des Status von Frauen in Tunesien in politischen Kriegen unter, die weitgehend über andere Themen wie Kolonialismus, Nationalismus, Modernität und islamische kulturelle Authentizität ausgetragen wurden. Auch zuvor wurden Frauenrechtsfragen die längste Zeit der tunesischen Geschichte hindurch bestenfalls für politische Kämpfe instrumentalisiert. In Reden an die Nation forderte Habib Bourguiba Frauen wiederholt dazu auf, ihre Schleier fallen zu lassen, und ermutigte sie, Familienplanung und Geburtenkontrolle zu übernehmen. Seine Regierung nutzte die Medien für diese Zwecke zur generellen Legitimierung seiner Politik. Viele erachten die Maßnahmen des tunesischen Staates im Jahr 1956 als revolutionär, andere bezeichneten sie als ›feministisch‹. Mounira Charrad hingegen betont: »Der CPS war kein Erfolg des Feminismus. Er war der Triumph einer Regierung, die stark genug war, Ansprüche an den Islam zu erheben und eine reformistische Interpretation der islamischen Tradition durchzusetzen.«5 Der CPS war Teil des »Krieges gegen Unterentwicklung«, zu dem (neben anderen Aufgaben) die Beseitigung von Hindernissen für einen modernen Staat aus Sicht der Regierung gehörte. Die Reformen waren zwar sehr fortschrittlich, aber das bedeutet nicht, dass feministische Interessen sie angeregt hätten, denn: 1. Feminismus war kein Bestandteil des politischen Diskurses und der Kämpfe der 1950er-Jahre in Tunesien. Damals existierte auch keine feministische Bewegung. 2. Ein genauerer Blick auf die Reformen zeigt, dass ihr überwiegender Vorstoß nicht die Gleichstellung der Geschlechter betraf. Ziel der Reformen war die Modernisierung des Landes.
5
Mounira Charrad, Tunisia at the forefront of the Arab World, in Women in the Middle East and North Africa: Agents of Change, Edited by Fatima Sadiqi & Moha Ennaji, Routledge, New York, 2011.p108.
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Es muss weiter darauf hingewiesen werden, dass die Verknüpfung der Gleichheit der Geschlechter mit der wirtschaftlichen Entwicklung die Regierung veranlasste, sich mit der Personenstandsgesetzgebung zu beschäftigen, da das Land an internationale Standards angebunden werden musste, um internationale Hilfen und Anerkennung zu erhalten. Als Ergebnis dieser politischen Instrumentalisierung waren Frauen verpflichtet, unter dem Schutz des ›Vaters der Nation‹ und Kontrolle in Form von ›Staatsfeminismus‹ zu leben. Die Befreiung der Frauen und die Behauptung ihrer Rechte und Würde wurden mit der Zeit Slogans des tunesischen Regimes, das sich somit selbst als Symbol eines demokratischen Systems und Wegbereiter der Modernität in der Region proklamierte. Tatsächlich wurde der Fortschritt in Bezug auf Frauenrechtsfragen als ›demokratische Fassade‹ eines nichtdemokratischen Regimes eingesetzt. Es ist wichtig anzumerken, dass sich in den späten 1980er und 1990er Jahren mehrere Frauenorganisationen wie der Tunesische Verband Demokratischer Frauen (ATFD) und der Tunesische Frauenverband für Forschung und Entwicklung (AFTURD) gründeten. Nichtregierungsorganisationen repräsentierten eine soziale Bewegung und einen Teil des Widerstands der Frauen. Frauenrechtsgruppen waren relativ mächtige politische Unternehmen, die trotz fehlender Popularität in der Gesellschaft oft erhebliche Vorteile erzielen konnten. Zusätzlich zu den rechtlichen und politischen Kämpfen, die Frauenrechtsorganisationen austragen, überwinden sie auch fortlaufend zentrale Hürden im Ausbau des Zugangs von Frauen zu den Früchten der Modernisierung. Sie sind immer noch zu einer Reihe von Themen aktiv. Ihre Stärkung von Frauen und der Gleichstellung der Geschlechter umfasst die Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen, die Unterstützung von Opfern sowie Kampagnen für Änderungen der Erbschaftsgesetze.6 Die Erforschung der Geschichte der Frauenbewegung trägt dazu bei, die Überschneidung von staatlichem Handeln, Politik, Diskurs und sozialen Bewegungen zu verstehen. Aufgrund des Ursprungs in autoritärer Politik (orig.: nature of authoritarian politics) konnten sich Frauenverbände nicht als Massenbewegungen mit Machtbasis und bedeutender Unterstützung der Bevölkerung entwickeln. In den meisten Fällen konnten so nur kleine Änderungen erlangt werden. Da die Aktivistinnen zudem als Gruppe druckvoll agieren wollten und sich weigerten, Regierungsinitiativen abzuwarten, wurde ihnen die Autonomie und Un-
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Erbschaft ist immer noch ungleich zwischen Männern und Frauen, letztere erben in ähnlichen familiären Situationen im Allgemeinen nur halb so viel wie Männer.
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abhängigkeit versagt, die erforderlich ist, um bedeutsame Veränderungen im Leben von Frauen voranzutreiben. Auch akademische Feministinnen versäumten es, sich Gehör zu verschaffen, auf die Medien zuzugreifen oder entscheidende Effekte auf die tunesische Gesellschaft zu bewirken und deren Mentalitäten somit tiefgreifend zu verändern.
DER NEUE KONTEXT: GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IM POSTREVOLUTIONÄREN TUNESIEN Nach jahrzehntelangem Widerstand waren tunesische Frauen für wirkliche politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Veränderungen bereit. Sie nahmen massiv an der Revolution vom 14. Januar 2011 teil. In Tunis marschierten alte Damen, junge Mädchen, verschleiert und unverschleiert, sowie Frauen in schwarzen Richterinnengewändern durch die Straßen und forderten den Rücktritt des ehemaligen Präsidenten Ben Ali. Männer und Frauen marschierten Seite an Seite, Hand in Hand, zeigten gemischte Gefühle der Angst und der Hoffnung darüber, was weitere Proteste gegen die Regierung bringen könnten, und sangen zusammen im Namen der Bürgerrechte, nicht der Religion. Als ferner Gewaltakte der Geheimpolizei nach dem 14. Januar einsetzten, übertraten einige junge Frauen ihre traditionellen Geschlechterrollen, indem sie nachts zusammen mit Männern zur Absicherung der Nachbarschaften beitrugen. Obwohl Frauen in der ersten Reihe standen, vollzog sich der Wandel für sie nicht leicht. Sie waren in den meisten Bereichen, vor allem in der Politik und in den Medien, immer noch Subjekte der Marginalisierung. Das Familienrecht geriet ins Zentrum hitziger Debatten und politischer Auseinandersetzungen in der nationalen Verfassungsversammlung und in den Medien. Es bot Gelegenheit, Gesinnungen zu ergründen und neue konservative und misogynische Diskurse zu vernehmen. Ungeachtet dessen machten tunesische Frauen ihre Stimmen in den Debatten nach der Revolution hörbar. Tatsächlich war die aktivistische Auseinandersetzung um die neue Wahlquote in Tunesien, die auf verpflichtender Gleichberechtigung mit alternativen Kandidat*innen basiert, ein Sieg für die tunesischen Frauen und für die fortschrittlichen Kräfte des Landes. Gleichzeitig war jedoch zu erkennen, dass Religion als Werkzeug für politische Mobilisierung überraschend stark zu einer Zeit schien, als man glaubte, Tunesien werde zunehmend säkularer. Stattdessen wurde die tunesische Gesellschaft immer konservativer. Viele leitende Politiker*innen und Abgeordnete in der konstituierenden Versammlung, Islamisten und ›Demokraten‹, waren gegen das Paritätsgesetz und
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gegen die volle Partizipation von Frauen an der Politik. Im Sommer 2011 sahen sich viele Kandidatinnen, die sich für die ANC-Wahlen beworben hatten, einem feindseligen Diskurs und verbaler Gewalt ausgesetzt. Für viele Feministinnen hat sich der Diskurs linker Parteien, wonach Frauenrechte das Produkt der Demokratie wären, diskrediert, da er nicht zu wesentlichen Änderungen geführt hat. Ein Jahr nach den ersten Wahlen im Jahr 2011 äußerten Aktivistinnen zunehmend Bedenken über: Verletzungen der Menschenrechte, insbesondere die Gewalt gegen Frauen; Den Willen einiger Politiker*innen, das Personenstandsgesetz (CPS) zu ändern, um die patriarchale Kontrolle über Frauen aufrechtzuerhalten (Anspruch auf Polygamie, illegale Ehe, traditionelle Ehe, Kontrolle von Scheidung und Abtreibung, das Proklamieren von Komplementarität,7 den Aufruf zur Anwendung der Scharia, der eine islamistische Agenda und ein Projekt für die Zukunft Tunesiens darstellt); Das Aufkommen salafistischer Frauen, die ihre Feindseligkeit gegenüber dem CPS zum Ausdruck bringen und die Einbindung von Frauen in den Salafismus vorantreiben, eine neue Kleiderordnung, die das Recht einfordert, den Niqab zu tragen (vollständig gesichtsbedeckender Schleier), und Polygamie verlangt. Es besteht kein Zweifel, dass die Beteiligung der Frauen an radikalen islamischen Bewegungen ihre untergeordneten Identitäten und Subjektivitäten als ideale muslimische Frauen neu definiert. Diese Islamisierung von unten wird von einer Reihe säkularer Frauenrechtsgruppen im Land als problematisch empfunden. Auch die politische Linke hat sich besorgt über diesen Prozess geäußert. Dies veranlasste einige feministische Wissenschaftler*innen, die Einstellungen von Männern zu reflektieren und der Entstehung neuer Diskurse, die den Islamisierungsprozess legitimieren, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie versuchten zu verstehen, warum Männer ihr Verhalten ›ändern‹ und neue Strategien anwenden, um Frauen vom partizipativen Prozess demokratischer Transition auszuschließen. Darüber hinaus war es für Frauen, die mit dem CPS aufwuchsen, unfassbar, als komplementär im Sinne von ›Männer ergänzend‹ zu gelten, nachdem Richtlinien und Gesetze sie seit
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Der beanstandete Artikel 25 legt fest, dass der Staat »den Schutz der Rechte der Frau [...] unter dem Grundsatz der Komplementarität mit dem Mann innerhalb der Familie und als Partner des Mannes in der Entwicklung des Landes« garantiert. Dieser Artikel der Verfassung beschränkt die staatsbürgerlichen Rechte der Frau auf das Prinzip der Komplementarität zu Männern und geht nicht von ihrer Gleichheit aus.
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1956 gleichgestellt hatten. Sind all diese Fakten Anzeichen für einen Wandel in der tunesischen Kultur, der sozialen Strukturen und der Geschlechterverhältnisse? Wie wirken sie sich auf die Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter aus? Lässt sich über einen Gesinnungswandel, eine soziale Transformation sprechen, oder sind nur existierende frauenfeindliche Einstellungen sichtbar geworden?8 Obwohl sie immer wieder Gewalt ausgesetzt waren, demonstrierten tunesische Frauen stets den Willen, ihre Rechte zu verteidigen, und behaupteten sich daher als politisch handlungsmächtig im Einfordern der vollen Staatsbürgerschaft. Sie fochten viele Kämpfe erfolgreich aus, zum Beispiel den Kampf um das Gesetz über Parität und Gleichheit. Diese Erfolge wurden jedoch nicht zufällig erzielt. Sie waren das Ergebnis ihres Aktivismus’. Frauen verfügten über die Fähigkeit, sich mit mehr Kraft und klarer Zielsetzung auszudrücken. Das Konzept der Komplementarität zugunsten des Konzepts der Gleichstellung aufzugeben war Ergebnis einer ›bottom-up‹ agierenden sozialen Bewegung und unterscheidet sich von den Top-down-Reformen des Familienrechts im Jahr 1956. Im Jahr 2014 manifestierte sich die Geschlechterpolitik von unten als Ausdruck der Zivilgesellschaft in all ihrer Komplexität und durch eine Vielzahl von Stimmen – einige plädieren für die volle Staatsbürgerschaft, Gleichstellung der Geschlechter und Parität, andere für komplementäre Gleichheit der Geschlechter. Wiederum ist anzuerkennen, dass Frauen ihre Ziele erreicht haben, da sie von ›profeministischen Männern‹ unterstützt wurden.
MÄNNER, DIE FRAUENRECHTE UNTERSTÜTZEN Die Unterstützung feministischer Bewegungen und Anliegen durch Männer ist in Tunesien nicht neu. Sie hat ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte Tunesiens. Tahar Haddad, ein nationalistischer Intellektueller, rief laut und deutlich zu Reformen auf, indem er ein polemisches Buch mit dem Titel »Frauen in Gesetz und Gesellschaft« (1930) veröffentlichte. In diesem Werk beschrieb Haddad die Position von Frauen in der tunesischen Gesellschaft und umriss die negativen Effekte ihres subalternen Status auf Frauen selbst und die Gesellschaft insgesamt.
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Es ist wichtig anzumerken, dass die TV-Kanäle der Golfstaaten im Laufe der Zeit sowohl in Hinblick auf religiöse Programme als auch Unterhaltungsprogramme, die sie anbieten, eine große Bedeutung erlangt haben, so dass eher ein nahöstlicher als ein nordafrikanischer sozialer Verhaltens- und Wertemodus viele einfache Bürger*innen beeinflusst.
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Er forderte Reformen des Ehe-, Scheidungs- und Erbrechts. Viele religiöse Persönlichkeiten verurteilten das Buch als Angriff auf Religion, Moral und die Scharia-Gesetze. Als Fürsprecher von Frauenrechten verbrachte Tahar Haddad seinen Lebensabend in öffentlicher Schande. Habib Bourguiba, der erste Präsident Tunesiens, nannte den Schleier 1957 »einen abscheulichen Lappen« und forderte die tunesischen Frauen auf, ihn abzunehmen. Er ist bekannt als »«محرر ال مرأة ال تون س ية, der »Befreier der tunesischen Frauen«. Die erste Regierung verkündete das Personenstandsgesetz, das das Familienrecht reformierte und einige der extremsten Aspekte der Unterordnung von Frauen abschaffte, wodurch Frauen neue gesetzliche Rechte eingeräumt wurden. Zu beachten ist, dass die Unterstützung von Männern für feministische Bewegungen und Beweggründe weiterhin besteht. Männer verurteilen die Unterdrückung von Frauen, sexuelle Gewalt, Ungerechtigkeit und jede Form von Ungerechtigkeit. Einige von ihnen haben begonnen, ihr Privileg als Männer infrage zu stellen. Obwohl das Patriarchat in seinen vielen verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Ausprägungen immer noch eine beträchtliche Stabilität besitzt, erweisen sich seine sozialen, politischen, wirtschaftlichen und emotionalen Strukturen zunehmend als nicht mehr praktikabel. Einige Männer reagieren darauf mit Insistieren, während andere zaghaft oder eindringlich in den Wandel eintreten. Während der Übergangsphase nahmen Gruppen von Männern an zahlreichen Demonstrationen und Aktivitäten teil, verteidigten den CPS, forderten die Gleichheit der Geschlechter und brachten ihre Unterstützung für Gleichstellungspolitik und weibliche Führungspositionen zum Ausdruck. In der Tat eignet sich der historische Kontext, Männlichkeiten in Tunesien aus der Perspektive der Men’s Studies zu untersuchen, welche Harry Brod fasst als »die Erforschung von Männlichkeiten und männlichen Erfahrungen als spezifische und veränderliche sozial-historische-kulturelle Formationen. [... Als solche] situieren die Studien Männlichkeiten als Forschungsgegenstand auf einer Ebene mit Weiblichkeiten«. Unter den pro-feministischen Männern finden sich Intellektuelle (die meisten aus Geistes- und Sozialwissenschaften wie Islamologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Jura und Psychologie) und anderen Disziplinen wie Anglistik, moderne Sprachen, Geschichte. Sie haben deutlich mehr Interesse an den Beziehungen von Männern und an einer Allianz mit dem Feminismus gezeigt. Hinzu kommen eine Gruppe aktiver Künstler sowie Politiker und Menschenrechtsaktivisten. Diese erste Gruppe von Männern identifizierte sich nicht als Feministen, die für die Rechte der Frauen kämpften, sondern als ›fortschrittliche Männer‹, die die
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Moderne verteidigten. Sie schreckten stets vor der Selbstbezeichnung Feminist zurück, möglicherweise, weil Feminismus in der Region mit starken MissDeutungen belegt ist. Es sollte bedacht werden, dass wir immer noch in einer patriarchalen Welt leben, in der Feminismus negative Bedeutungen anlasten, insbesondere für Männer und unabhängig von ihrem Umfeld. Die zweite Gruppe von Männern erklärt, dass sie inhaltlich, wenn auch nicht immer begrifflich, mit dem Feminismus einverstanden sind und hat feministische Ideen und Handlungen oft eher in der Theorie als in der Praxis aufgegriffen. Sie verstehen sich als feministisch und sind stolz auf ihr Engagement im Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen. Die dritte Gruppe von Männern ist der Ansicht, dass sie Feminismus und die Befreiung der Frauen unterstützen (um den Begriff zu nutzen, der Ende der 1970er-Jahre vielleicht zu hastig aufgegeben wurde). Die vierte Gruppe fühlt sich mit dem Begriff ›Gleichstellung der Geschlechter‹ wohler als mit dem Wort Feminismus und bezeichnet Männer, die sich für Frauenrechte einsetzen, als ›Pro-Feministen‹ oder ›Verbündete von Feministinnen‹. Obwohl sie ihre Mentalität und Haltung ändern, glauben die meisten Männer nicht, dass sie Feminist*innen im engsten Sinne des Wortes in der heutigen Gesellschaft sein können. Sie glauben, dass Männer sich in diesem patriarchalischen System nicht von ihrer Macht und ihren Privilegien gegenüber Frauen lösen können. Doch was sind ihre Gründe für die Akzeptanz des Feminismus und die Beteiligung an der Förderung der Rechte von Frauen? Beweggründe pro-feministischer Männer Die postrevolutionäre Phase zeigt möglicherweise unterschiedliche Motivationen und Einstellungen auf, die zur offensichtlichen Veränderung des männlichen Charakters beigetragen haben. Männer können geschlechterpolitische Reformen unterstützen, da Gleichberechtigung ihren politischen oder ethischen Grundsätzen entspricht. Dies können religiöse, sozialistische oder weitgefasste demokratische Überzeugungen sein. Politische Beweggründe Trotz der Tatsache, dass die meisten Politiker*innen es versäumten, die Rechte von Frauen zu unterstüzen, nahm eine kleine Anzahl von leitenden Politiker*innen aus dem ›demokratischen Block‹, darunter Al Massar, 9 Attakatol und
9
Al Massar forderte in einer am 8. März 2016 am Rande des Internationalen Tages der Frauenrechte abgegebenen Erklärung die Umsetzung von Artikel 46 der Verfassung, in dem Gleichheit, Chancengleichheit und die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen festgelegt sind. 41,1 % der jungen Universitäts-Absolvent*innen sind Frauen, 21,4 %
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Nida Tounis, eine ›pro-feministische‹ Position ein. Bei vielen Gelegenheiten befassten sie sich mit Problemen im Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt, Marginalisierung junger Frauen, frauenfeindlicher Sprache und Praktiken usw. Aber ›verschiedene Stimmen‹ zu ermutigen, sich auszudrücken, bedeutete nicht in allen Fällen, institutionalisierte männliche Vorrechte zu begrenzen oder zu reduzieren. Wie Bourguiba und Ben Ali nutzen neue politische Akteure Fragen der Gleichstellung der Geschlechter in einer Reihe von politischen Agenden wie der Konfrontation mit dem politischen Islam. Diese Agenden spiegeln die komplexen Wechselwirkungen zwischen Politik und Geschlecht wider. Soziale und kulturelle Gründe Längerfristige Bildungsaufenthalte in europäischen Ländern trugen dazu bei, dass eine Gruppe tunesischer Männer das Patriarchat, soziale Normen, geschlechterspezifische Erwartungen und allgemeinere Fragen der Menschenrechte aus verschiedenen Perspektiven thematisieren und verstehen. Neben ihrem kulturellen Hintergrund wurde sich eine Gruppe von Männern ihrer Verantwortung und der Notwendigkeit, in das Geschehen einzugreifen, bewusst: Sie waren Teil der Debatten über Ungerechtigkeiten und die Unterdrückung von Frauen und haben über Frauenrechte geschrieben. Indem sie die Rechte der Frauen verteidigen, sind andere Gruppen von Männern der Ansicht, dass sie für tiefgreifende soziale und politische Veränderungen eintreten und für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Ihrer Ansicht nach können die Frauenrechte zu einer allgemein menschlichen Befreiung führen. In der Tat zeigt dieses Verständnis aller systemischen Unterdrückungen Einsatz für die soziale Bewegung. Persönliche Gründe Studien zeigen, dass die Unterstützung feministischer Überzeugungen und Werte oft mit persönlichen Erfahrungen zusammenhängt wie:
Empörung über Ungleichheit Dem Einfluss einer Partnerin, eines Familienmitglieds oder Freund*in Der persönlichen Wahrnehmung von Ungerechtigkeit durch andere Männer Einem Gefühl der gemeinsamen Unterdrückung Sexueller Orientierung Schuldgefühlen
der Männer, während später 22,5 % der Frauen und 12,2 % der Männer von Arbeitslosigkeit betroffen sind. »Die Arbeitslosenquote von Frauen ist eine wirtschaftliche und soziale Gewalt«.
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Entsetzen über die Gewalt von Männern Persönliches Werteempfinden Es ist hilfreich zu berücksichtigen, dass einige Männer den Feminismus als Söhne, Brüder, Väter und Partner annehmen. Ermutigt, die Zwänge des ›Gefängnisses Mann‹ hinter sich zu lassen, die darauf abzielen, eine starre Definition von Männlichkeit durchzusetzen, begannen immer mehr von ihnen, ihre Gefühle auszudrücken und ihre Einstellung zu ändern. Der Fall Hamma Hammami (ein linker Aktivist, Führendes Mitglied einer linken politischen Partei und Präsidentschaftskandidat) ist besonders interessant. Als Vater von zwei Töchtern und Ehemann einer Aktivistin, die ihn im Gefängnis unterstützte, erklärte Hamma Hammami in vielen Reden, dass seine Partei die Gleichheit der Geschlechter und insbesondere die Ungleichheiten am Arbeitsplatz bekämpfen werde. Es ist wichtig zu erwähnen, dass sehr viele der Männer Väter, und etwa die Hälfte ihrer Kinder Mädchen sind. Einige Männer sind alleinerziehend und engagieren sich dann intensiv in der Pflege – ein wichtiger Beweis für die Fähigkeit der Männer zu pflegen. Auch in intakten Partnerschaften mit Frauen haben viele Männer enge Beziehungen zu ihren Kindern, und psychologische Studien zeigen, wie wichtig diese Beziehungen sind (Kindler 2002). Daher verwundert es nicht, dass Männer an der Geschlechtergleichstellung beteiligt sind und versuchen, neue Geschlechterbeziehungen aufzubauen. Dafür Sorge zu tragen, dass Töchter in einer Welt aufwachsen können, die jungen Frauen Sicherheit, Freiheit und Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Talente bietet, ist für viele ›sensible Männer‹ ein wirkmächtiger Grund, die Gleichheit der Geschlechter zu unterstützen, an Demonstrationen von Frauenverbänden teilzunehmen und den Wandel der Geschlechterbegriffe zu unterstützen, weil sie dessen Bedeutung für das Wohlergehen ihrer Familien und ihrer Gemeinschaft insgesamt anerkennen. Auch können Männer ein ›empathisches feministisches Bewusstsein‹ entwickeln, weil sie der Auffassung sind, dass Frauen nicht über ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen verfügen. Einige Männer nahmen an vielen Demonstrationen teil, die von Frauenrechtskoalitionen organisiert wurden (13. August 2013) – in der Überzeugung, dass es eine ihrer Aufgaben ist, Frauen vor salafistischen Gruppen zu schützen. Andere begleiteten ihre Frauen, Töchter oder Kolleg*innen. Diese Sympathie für »Frauenfragen« führt nicht immer zu Verhaltensänderungen oder zur Infragestellung der Privilegien von Männern. Die meisten jungen Männer betonen, dass sie wütend und verärgert über die Art und Weise waren, wie Gesellschaft funktioniert, nämlich durch Ungerechtigkeit und Gewalt. Dies bedeutet, dass Emotionen ein Faktor der Mobilisierung
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junger Männer sein können. Die spezifische Gruppe junger Männer, die bereit ist, ihre Gesellschaft zu verändern, geht Allianzen für Veränderungen ein. Sie argumentieren, dass Allianzen zwischen den Geschlechtern in diesem neuen historischen Kontext entscheidend sind. Zu berücksichtigen ist auch, dass einige soziale Bewegungen eine Weltanschauung der Geschlechtergleichheit kennzeichnet und dies ein günstiges Umfeld für Männer bietet, um den Wandel der geschlechterbegriffe zu unterstützen.10 Einige Wissenschaftler*innen argumentieren, dass das Konzept des Verbündetseins wichtig ist, um die Autonomie von Frauengruppen zu erhalten. Andere argumentieren, dass es einer weit verbreiteten Einsicht der Handlungsfähigkeit unter Männern bedarf, einer Einsicht, dass sie an dieser Transformation tatsächlich praktisch partizipieren können. Menschen zu befähigen, Wissen zu erlangen und zu erkennen, dass es ihre Verantwortung ist, Unrecht und Ungerechtigkeiten zu widersprechen und zu verwerfen ist, macht das Dasein als aktive und verantwortungsbewusste Bürger*innen aus. Es besteht zudem kein Zweifel, dass die meisten Menschen einen Moment in ihrem Leben nennen können, in dem sie erlebt haben waren, wie jemand aufgrund des Geschlechts ungerecht behandelt wurde; es braucht nur eine Person, die dies ausspricht. Wenn wir die Erfahrungen von Männern mit der Beteiligung von Frauen an den Rechten der Frauen vergleichen, stellen wir fest, dass Frauen eher bereit sind, ihre Rollen in Frage zu stellen. Es ergibt Sinn, dass die Menschen, die diskriminiert werden, schneller erkennen, dass sie das System infrage stellen müssen als diejenigen, die es nicht sind. Frauen wenden Feminismus auf drei wesentlichen »Wegen« oder aus den folgenden Gründen an: Eigeninteresse, Gruppenbewusstsein und politische bzw. ideologische Werte. Einige entwickeln ein Kollektivbewusstsein, während andere den Feminismus aufgrund persönlicher Anliegen und der Werte der Bewegung unterstützen. Viele Männer werden profeministisch, weil sie an die Ziele des Feminismus glauben und sich von seinem Narrativ und der empirischen Evidenz, die dessen Aussagen untermauern, überzeugt sind. Die Tatsache, dass einige Männer profeministisch wurden, spiegelt hingegen nicht die Geburt einer Solidaritätsbewegung wider, sie war auch nicht der Grund für die Entstehung einer Reflexion über Männlichkeiten oder Veränderungen im Geschlechterverhältnis. Pro-feministisch zu sein ist in vielen Fällen eine individuelle Entscheidung, eine persönliche Wahl und in einigen Fällen auch ein »kosmetisches« Werkzeug, um Geschlechterverhältnisse zu verändern.
10 Vgl. Connell, Raewyn W.: Masculinities, Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1995; Segal, Lynne: Is the future female? Troubled thoughts on contemporary feminism. London: Virago 1987.
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DIE AUSWIRKUNGEN DES WANDELS DER NORMATIVEN MÄNNLICHKEIT AUF DIE GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE Die Untersuchung eines Aspekts der Geschlechtertransformation verdeutlicht die Konstruktion von Machtverhältnissen und ermöglicht es, den Zusammenbruch der Legitimität patriarchaler Macht zu verstehen: Der Einfluss der »westlichen« Ideale der Geschlechtergleichstellung Neue Gesetze (einschließlich Familiengesetzen, die häusliche Gewalt kriminalisieren), Die politische Förderung von Frauenrechten (zumindest diskursiv) Die Stärkung geschlechtergerechter Werte in Schulen, welche die traditionelle weibliche Macht legitimer gemacht haben könnten. Bürger*innenschaftliche Kultur Offensichtlich bauen einige Männergruppen neue Formen der Männlichkeit auf, die die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit unterstützen und zu einer Transformation der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führen, insbesondere durch die gleichverteilte Übernahme von emotionaler und administrativer Arbeit in Familien. Einige dieser »sensiblen Männer« begannen, patriarchale Praktiken zu vermeiden und andere Männer herauszufordern, indem sie feministische Prinzipien der Frauenpolitik unterstützen, sich für soziale und wirtschaftliche Gleichheit aussprechen, alle Formen frauenfeindlichen Verhaltens und sexistischer Einstellungen ablehnen und allen Frauen Respekt zollen: Diese Gruppe von Männern, die Frauen auf jede erdenkliche Weise unterstützen, teilt oft die Verantwortung im Zuhause und in der Erziehung. Männer, die sich als pro-feministisch definieren, lehnen offen ihre eigene Autorität und Privilegien ab. Sie verweigern sich dem gegenwärtigen Geschlechtssystem in der Gesellschaft, während sie selbst in den ersten Reihen des Patriarchats stehen. Sie repräsentieren eine andere Art von Männlichkeit, eine »protestierende Männlichkeit« bzw. »Widerstandsmännlichkeit«. Indem sie Gefühle teilen und Aktionen zugunsten von Frauen organisieren, beteiligen sie sich schließlich am »doing gender« und fordern traditionelle Männlichkeitsvorstellungen heraus. Aber wie manifestiert sich die Geschlechtertransformation? Einige Tunesier*innen bewundern Männer, die Frauen dabei unterstützen, die Gegebenheiten zu verändern. Andere verstehen nicht, warum Männer ihre Privilegien verlieren, kritisieren diese oder machen sich lustig über das, was sie schreiben. Die Mehrheit ist gegen Männer, die eine »pro-feministische« Position
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einnehmen oder zum Ausdruck bringen, dass sie keine institutionellen Privilegien mehr genießen wollen. Viele Forscher*innen weisen darauf hin, dass Debatten über Gewalt, das Patriarchat und Möglichkeiten zur Veränderung des Verhaltens von Männern unter dem Druck der zeitgenössischen westlichen kommerziellen Kultur stattgefunden haben, die Geschlechterordnungen und Männlichkeitsmodelle in der arabischen Welt und anderswo destabilisiert habe.11 Es ist auch wichtig anzumerken, dass viele Frauenverbände zwar die Inklusion von Menschen, Gruppen und Ideen in ihrer Vorgehensweise verankert haben, die meisten von ihnen nach wie vor nicht bereit sind, Männer in ihren Gremien aufzunehmen. Bislang weigern sie sich, einige entscheidende Fragen zu diskutieren, wie z.B.: Wie können wir Männer ermutigen, zu erkennen, dass die Unterstützung des Feminismus mehr bedeutet als die Unterstützung institutioneller und gesetzlicher Veränderungen, sondern auch persönliche Veränderungen in ihrem eigenen Leben? Wie lassen sich Männer ermutigen, stärker an den sozialen Sphären zu partizipieren, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind, und ihr Verständnis von Feminismen zum Ausdruck zu bringen? Wie versuchen Feministinnen, das Interesse der Männer am Schreiben über Geschlechterfragen zu fördern und sich an der Interpretation, Anwendung, Erweiterung und Ansprache feministischer Ideale und Methoden zu beteiligen? Wer hat Angst vor dem »doing feminism« von Männern nach der Revolution in Tunesien? Und warum? Ist es möglich, einen geschlechtsneutralen Ansatz zu identifizieren, der als Neuformulierung verstanden wird, aber dazu dient, jede fortfahrende feministische Stimme und somit weitere Initiativen für den sozialen Wandel zu marginalisieren? Wir sollten anerkennen, dass das Interesse an diesem neuen Forschungsgebiet fehlt, vielleicht aufgrund von Effekten der Polarisierung in der tunesischen Gesellschaft während der Transformationszeit. Die meisten feministischen Forscher*innen vermeiden es, Männlichkeiten zu dekonstruieren oder Projekte zur kritischen Bewertung der Geschlechter-Machtverhältnisse zu initiieren. Einige Wissenschaftler*innen bekräftigen ihr Engagement für soziale Gerechtigkeit, doch vernachlässigen es, Männer und ihre Praktiken sowie Einstellungen während der Revolution in der Übergangszeit zu analysieren. In der Tat, wenn Wissenschaftler*innen sich für Geschlechtergerechtigkeit und eine gerechte Gesellschaft engagieren, sollten Fragen nach Männern, Macht, Herrschaft, der Konstruktion von Männlichkeit gestellt und Theorien in Bezug zu Geschlechterforschung, Religionswissenschaft und Feminismus gesetzt werden.
11 Vgl. Ghoussoub, Mai und Emma Sinclair-Webb (Hg.): Imagined Masculinities: Male Identity and Culture in the Modern Middle East, London: Saqi Books 2000.
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FAZIT Wie von vielen erwähnt (Mernissi; Kondioty, Charrad), vermag ein genauer Blick auf machtvolle Systeme im Laufe der Zeit Zusammenhänge zwischen Religion, Kultur, Politik, Geschlecht und Familienrecht zu erschließen. Sowohl konstitutieren sich Geschlechterverhältnisse durch Praktiken und Ideologien im Zusammenspiel mit anderen Strukturen sozialer Hierarchie wie Klasse, Alter und race, als auch tragen sie dazu bei, diese zu reproduzieren. Wie Connell argumentiert, »ist das Geschlecht ein System ungleicher, aber sich wandelnder und zuweilen umstrittener Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern«.12 Damit feministische Veränderungen politisch umgesetzt können, müssen die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit neu definiert werden. Man kann nicht einfach die Art ändern, wie Frauen sind, sondern muss auch Männer dazu drängen, sich zu ändern. Die feministische Theorie muss genauer untersuchen, wie Doktrinen Männlichkeit konstruieren. Wissenschaftler*innen müssen die Erforschung der Geschlechtsidentitäten und -praktiken von Männern, Männlichkeiten mehr fokussieren ebenso wie die sozialen Prozesse, die kulturelle und mediale Bilder von Männern und verwandte Themen konstruieren. Die Ereignisse der Revolution haben gezeigt, dass von einem repressiven Regime unterminierte Männlichkeitsvorstellungen die Bedingungen des ›patriarchalen Handels‹ merklich verschoben haben. Aus meiner Sicht ist »undoing the patriarchal system« der fruchtbarste Weg für feministische Studien und die Männerforschung, das patriarchale System rückgängig zu machen, der über eine bloße Konfrontation von Theorien hinausgeht. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Alexi
12 Connell, Reawyn: Gender and Power: Society, the Person and Sexual Politics, Stanford: Stanford University Press 1987.
Feminismus/Staatsfeminismus in Tunesien: Geschichte, Erbe und Folgen
Die tunesische Frauenbewegung und der Kampf um die Frauenrechte Hafidha Chekir
Tunesische Frauen haben schon immer unermüdlich für ihre Rechte gekämpft. Unterstützt wurden sie dabei von einem Staatsfeminismus, der durch die nationale Vaterfigur des ersten Präsidenten Habib Bourguiba und dessen Politik seit der Unabhängigkeit geprägt war. Wie in allen muslimisch-arabischen Ländern sollte sich die Emanzipation der Frauen am Kampf um die Verschleierung herauskristallisieren. Während einer Konferenz in Tunis im Jahr 1924 forderte Habiba Menchari die Abschaffung des Schleiers, legte in der Öffentlichkeit ihren Schleier ab und enthüllte so ihr Gesicht. Im Jahr 1928 plädierte sie für die Abschaffung der Polygamie. In den Jahren 1924 und 1929 führten zudem zwei Reden der sozialistischen Frauenrechtsaktivistinnen Manoubia Ouertani und Habiba Menchari zu einem Aufschrei unter den Konservativen, die in den Forderungen beider Frauen die befürchteten Ergebnisse von Frauenbildung und okzidentalen Einflüssen sahen. In dieser Zeit nahm sich die muslimische Elite des Themas der Frauen an. Der marokkanische König und der Regent Afghanistans ließen ihre Töchter ohne Schleier in der Öffentlichkeit auftreten, um die Modernisierung ihrer Länder zu signalisieren. Die emanzipatorische Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die arabischen bzw. muslimischen Länder bestimmte, ähnelte im Grunde der heutigen regressiven Bewegung des politischen Islam, der von der Gleichheit aller Bürger spricht, diese jedoch in der Praxis ablehnt. In all diesen Ländern bildete die Förderung der Stellung von Frauen in der Familie ein wichtiges Element der Modernisierung. In Tunesien ging sie sogar dem Aufbau des modernen Staates selbst voraus, denn das Personenstandsgesetz CSP (Code du Statut Personnel) wurde 1956, noch vor der Gründung der Tunesischen Republik 1957, geschaffen, die erste tunesische Verfassung trat erst drei
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Jahre später in Kraft. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Modernisierung des Staates zunächst die Modernisierung der Familien und der innerfamiliären Beziehungen voraussetzt. Darüber hinaus wurde das CSP als ein Gründungsakt der Moderne angesehen. Es trug wesentlich dazu bei, die vorherrschende Diskriminierung zu verändern, da es den Frauen ermöglichte, Rechte zu beanspruchen, die ihnen in ihren Familien vorenthalten wurden. Bourguiba selbst war der Vordenker dieser Modernisierungskampagne. Er war davon überzeugt, dass der Wandel des sozialen Status der Frauen einen wesentlichen Ansatzpunkt für die Modernisierung der Gesellschaft darstellte. Er rechtfertigte seine kühnen Maßnahmen gegenüber der Öffentlichkeit, indem er zum iǧtihād aufrief, d. h. zu einer Neuinterpretation der heiligen Texte. Er durfte jedoch in der innovativen Auslegung dieser Texte gesellschaftliche Grenzen nicht zu weit überschreiten. Die grundlegend modernistische Frauen- und Familienpolitik Tunesiens basiert folglich auf verschiedenen Widersprüchlichkeiten. Durch das CSP kamen tunesische Frauen in den Genuss bestimmter Rechte, wie dem der persönlichen, freien und unvermittelten Zustimmung zur Ehe oder dem der freien Wahl des Ehepartners. Die Polygamie wurde abgeschafft und die zivilrechtliche Scheidung eingeführt. Tunesische Frauen wurden zu ›privilegierten‹ Rechtspersonen, denn sie durfte fortan ohne die Zustimmung eines Vormundes oder Ehemannes lernen, studieren, sich frei bewegen, arbeiten, Bankkonten eröffnen oder Unternehmen gründen sowie Verhütung betreiben, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen oder Kinder adoptieren. Das CSP gilt für alle Tunesier*innen unabhängig von ihrer Religion und zeugt von der neuen zivilrechtlichen Gesetzgebung, die das religiöse Rechtssystem ablösen sollte. In bestimmten Bereichen, die die Wirtschaft und die traditionelle Symbolik betreffen, bleibt die tunesische Gesetzgebung jedoch unterschwellig den Traditionen verbunden, um dem Konservatismus der Gesellschaft bzw. der Religion gerecht zu werden. Im Erbrecht werden Frauen zugunsten männlicher Erben benachteiligt und im CSP ist eindeutig das Vorrecht des Mannes verankert, da die Mitgift weiterhin Voraussetzung einer gültigen Ehe ist und der Ehemann das Familienoberhaupt bleibt. Der Staatsfeminismus Bourguibas wird daher von Anfang an durch Grenzen beschränkt, die er sich selbst setzte: Die Anerkennung patriarchalischer Normen, die meist, aber nicht immer mit dem Verweis auf heilige Texte begründet wird, schwächt den entschlossenen Willen zur Modernisierung. Dieser Staatsfeminismus offenbarte sich kontinuierlich und in regelmäßigen Abständen als egalitärer Diskurs, der anlässlich des nationalen tunesischen Frauentages aktualisiert wurde. Er nahm eine politische Dimension an und diente als Alibi für Menschenrechtsverletzungen, für die Unterdrückung von Rechten und Freiheiten sowie als Legitimierung der herrschenden Partei, die von 1963 bis
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1981 als Einheitspartei des Staates fungierte, da er von der praktizierten Demokratie in Tunesien zeugte. Die Verschärfung der sozioökonomischen Widersprüche und die Unterdrückung der öffentlichen Freiheiten mündeten in eine Oppositionsbewegung und führten zur Verurteilung linker Aktivist*innen vor den Gerichten der Staatssicherheit. Dies löste wiederum eine neue Dynamik des Protestes von Intellektuellen, Gewerkschafter*innen, fortschrittlichen Aktivist*innen und verschiedenen Frauengruppen aus. In diesem Kontext entstand die autonome Frauenbewegung, die sich als unmittelbare Nachfolgerin der feministischen Bewegung vor der Unabhängigkeit verstand. Diese Bewegung wurde auf Initiative progressiver oder linksgerichteter Frauen, insbesondere Studentinnen und Lehrerinnen, ins Leben gerufen und fand im Kulturclub Tahar Haddad in der Medina von Tunis ihren ersten Anlaufpunkt. Später wuchs sie im Rahmen der tunesischen Gewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail). Hier wurde in den Jahren 1982/1983 zum ersten Mal für Arbeiterinnen die Frauenkommission der Gewerkschaft gegründet. Anschließend fand sie eine noch umfangreichere und aktivistischere Aufgabe im Rahmen der Gruppe Femmes Démocrates, die später in die Organisationen ATFD (Association Tunisienne des Femmes Démocrates) und AFTURD (Association des Femmes Tunisiennes Universitaires pour la Recherche et le Développement) umgewandelt wurde.1 Dieser Beitrag soll den Fragen nachgehen, welche Rolle diese Frauenbewegung spielte und was sie erreichen konnte. Daher wird zunächst die Frauenbewegung als Oppositionsbewegung zum offiziellen Diskurs der Geschlechtergleichheit eingeordnet. Anschließend wird auf aktuelle Aktionen der Frauenbewegung zugunsten der Förderung von Frauenrechten eingegangen.
1.
DIE FRAUENBEWEGUNG – KONTERPART ZUM OFFIZIELLEN DISKURS DER GESCHLECHTERGLEICHHEIT
Die Frauenbewegung entwickelte sich abseits vorherrschender Macht und außerhalb staatlicher und parteipolitischer Strukturen. Als autonome Bewegung stellte sie sich gegen die staatliche Politik, führte im Gegensatz zum Diskurs
1
Vgl. Marzouki, Ilhem: Le mouvement des femmes en Tunisie au XXème siècle, Tunis: CERES Productions 1993 und Ghanmi, Azza: Le mouvement féministe tunisien. Témoignage sur l’autonomie et la pluralité du mouvement des femmes (1979-1989), Tunis: Chama éditions 1993.
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über die Gleichstellung der Geschlechter einen Diskurs über Ungleichheit und Diskriminierung, in dem sie versuchte, den Ausgangspunkt, die Ursachen sowie die Auswirkungen dieser Diskriminierung zu untersuchen. 1.1 Der feministische Diskurs über die Rechte der Frau: Der Staatsfeminismus und ein auf Gleichberechtigung basierender feministischer Ansatz Erstmalig im Bereich der Frauenrechte in Tunesien stellte die Frauenbewegung eine Alternative zum offiziellen Diskurs vor. Dies geschah auf Grundlage einer Kritik des CSP, das bis zu diesem Zeitpunkt für die Regierung, die Einheitspartei und die ihnen angegliederten Organisationen, wie die UNFT (Union Nationale de la Femme Tunisienne), als unantastbar galt.2 Die Frauenbewegung betrachtete das CSP zunächst als ein Erbe der reformistischen Bewegung im Tunesien des 19. Jahrhunderts. Die reformistischen Vordenker, wie Ahmed Ibn Abi Dhiaf, Kaireddine und Tahar Haddad setzten sich für einen besseren sozialen Status der tunesischen Frauen ein. Folglich versuchte die Frauenbewegung, die Ursachen der Diskriminierung von Frauen aus der von Religiosität geprägten Vorherrschaft des Patriarchats abzuleiten. Neben der Verteidigung der Errungenschaften des CSP, die sowohl für die Anerkennung der Menschenrechte im privaten Bereich, als auch für einen Wandel in den Beziehungen zwischen den Ehepartnern in der Familie und für den Mentalitätswandel in der Gesellschaft bedeutsam sind, zeigte die Frauenbewegung die Grenzen des CSP auf, wie etwa das Monopol des Mannes als Familienoberhaupt, die bis 1993 gültige Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber dem Mann, die Mitgift als Voraussetzung für die Rechtskräftigkeit einer Ehe und die ungleiche Verteilung des Erbes nach Geschlecht, die die Diskriminierung der Frauen im CSP zeigen. Dieses Bewusstsein für die Grenzen des CSP ließ die Forderung nach einer Überarbeitung der Gesetzestexte laut werden. Ziel musste sein, eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter zu garantieren, welche die Emanzipation der Frauen und die Förderung ihrer Rechte ermöglichte. Zu diesem Zweck wurden regelmäßig, insbesondere aber anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März, Diskussionsrunden, Seminare und Tagungen über die Rechte der Frau, die
2
Im Zuge der Unabhängigkeit Tunesiens wurde im Januar 1956 unter Schirmherrschaft der Neo-Destour-Partei die UNFT gegründet. Ihre erste Präsidentin war Radhia Haddad. Diese Organisation agierte nie unabhängig, sie unterstand jeweils den regierenden Parteien unter Bourguiba und Ben Ali.
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Rolle des Rechts bei der Frauenförderung und beim Mentalitätswandel in der Bevölkerung, über das Verhältnis zwischen Patriarchat und Religion, die Grundlagen der Diskriminierung, die Grenzen des CSP oder den Beitrag der Reformbewegungen zur Problematik der Frauenrechte organisiert. Der Internationale Frauentag stellte dabei einen von staatlicher Seite seit der Unabhängigkeit verkannten Feiertag dar, weil er als westliche Tradition betrachtet wurde, die dem tunesischen Erbe fremd erschien. Er konnte nie den Nationalen Frauentag am 13. August ersetzen. Nur langsam wurde der 8. März akzeptiert, doch das Bewusstsein für diesen Tag drang allmählich in alle Bereiche, wie Schulen und Universitäten, ja sogar in öffentliche Einrichtungen und politische Parteien vor. 3 1.2 Die Menschenrechte als zentrale Achse der Frauenbewegung Im Zuge der Entwicklung neuer Ansätze der Menschenrechtsbewegung betrachtete die Frauenbewegung allmählich ihr Ringen für die Förderung der Frauenrechte als einen Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Anders als verschiedene Menschenrechtsaktivisten, die den Schutz der Frauenrechte aus ihrem Programm ausschlossen, organisierte die Frauenbewegung mit verschiedenen Partnern der Zivilgesellschaft zahlreiche Aktivitäten gegen die Verletzungen und für die Achtung der Menschenrechte. Zu diesen Partnern gehörten die 1977 gegründete Tunesische Liga für Menschenrechte (Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme, LTDH), die tunesische Gewerkschaft UGTT oder der Verband der tunesischen Journalisten (Association des Journalistes Tunisiens), der inzwischen ins Syndicat des Journalistes Tunisiens pour la Consolidation des Droits Humains et leur Protection umgewandelt wurde. Es wurde eine Gruppe geschaffen, in der sich unabhängige, aktivistische Organisationen mit verschiedenen Zielen für eine gemeinsame Überwachung und Anklage von Menschenrechtsverletzungen zusammenschlossen. Diese Gruppe existiert bis heute, konzentriert sich derzeit jedoch auf bestimmte Themen, wie Homosexualität oder die Verteidigung individueller Freiheiten. So beteiligte sich die Frauenbewegung an Solidaritätsaktionen mit inhaftierten Menschenrechtsaktivistinnen oder Gewerkschafterinnen, die wegen ihrer Mitarbeit in verbotenen Gewerkschaften oder Organisationen verfolgt wurden oder zu Unrecht ihre Arbeitsstellen verloren. Ein typisches Beispiel stellt das der
3
Heute stellt niemand mehr diesen Feiertag in Frage. Er hat jedoch auch die aktivistischen Forderungen und Ansprüche verloren und konzentriert sich auf Feierlichkeiten für alle Bürger*innen und Politiker*innen.
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Tunesischen Liga für Menschenrechte LTDH dar, die in den 2000er Jahren Opfer einer umfangreichen Kampagne der Verunglimpfung und Repression wurde, weil sie sich der Vereinnahmung durch die vorherrschende Einheitspartei entzog. Einige Gruppen der Frauenbewegung beherbergten Vertreter dieser Organisation in ihren Räumlichkeiten, unterstützten und verteidigten sie vor Gericht und den zuständigen Behörden. Ferner entwickelte die Frauenbewegung einen umfassenden Menschenrechtsansatz, der alle bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte umfasst. Sie stützte sich dabei nach der Internationalen Menschenrechtskonferenz vom Juni 1993 in Wien auf einen neuen Ansatz, der die Menschenrechte in ihrer Einheit, Ganzheitlichkeit, Unteilbarkeit und Universalität betrachtete. So verteidigte die Frauenbewegung die Identifizierung der Frauenrechte mit den Menschenrechten sowie die Integration der Frauenrechte in die allgemeinen Menschenrechte und intervenierte bei jeder Verletzung eines Rechts, unabhängig von dessen Art oder von der Person, die betroffen war. Zugleich wurden große Kampagnen zur Verteidigung der Universalität der Menschenrechte durchgeführt, die umstritten war und sogar von bestimmten reaktionären politischen Strömungen in Frage gestellt wurde. Diese Strömungen beabsichtigten, die kulturellen Besonderheiten auf Kosten der Universalität der Menschenrechte aufzuwerten, da diese für sie als ein Erbe des Westens galt. Diese Debatte ist heute immer noch aktuell. Sie betrifft alle Menschenrechte, doch insbesondere die Rechte der Frauen, die im Namen des Kulturrelativismus eingeschränkt und in Frage gestellt werden. Dabei geht es auch um internationale Normen, insbesondere um internationale Konventionen zu den Menschenrechten der Frauen, die immer wieder von Politikern angefochten, abgelehnt oder geleugnet werden. Einige dieser Politiker forderten gar von den nationalen Behörden, auf die Ratifizierung bestimmter Konventionen der Frauenrechte zu verzichten, wie beispielsweise auf die Internationale Konvention zur Abschaffung jeglicher Diskriminierung gegenüber Frauen (CEDAW-Konvention). In diesem Zusammenhang sei auch anzumerken, dass die feministische Bewegung den Kampf gegen die Gewalt gegenüber Frauen in einer Zeit angestoßen hat, in der die öffentlichen Behörden dieses Phänomen als unbedeutende Einzelfälle abtat. Basierend auf den Erlebnissen von Frauen, die Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal die Mauer des Schweigens über ihr Leiden gebrochen haben, konnte die Frauenbewegung einen eigenen Ansatz entwickeln, der diese Gewalt als Verstoß gegen die Menschenrechte im Allgemeinen, als Verletzung der Menschenwürde, als Angriff auf die physische, moralische und sexuelle Integrität von Frauen sowie als Ergebnis traditionell ungleicher sozialer Beziehun-
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gen betrachtete.4 Lange wurde die Gewalt gegen Frauen als nebensächlich abgetan und nicht in ihrer Gesamtheit angegangen. Doch wegen ihres Ausmaßes und wegen der 20105 und 20166 durchgeführten Untersuchungen machten sich die offiziellen Behörden den feministischen Ansatz zur Anklage der Gewalt zu eigen und verabschiedeten ein Gesetz zur Abschaffung der Gewalt gegen Frauen. 7 Es wurde ersichtlich, dass der Beitrag der Frauenbewegung bei der Betrachtung der Frauenrechte in Tunesien nicht zu leugnen ist, doch er ist ebenso grundlegend bezüglich der Förderung dieser Rechte.
2.
DIE FRAUENBEWEGUNG UND IHRE MASSNAHMEN ZUR FÖRDERUNG DER FRAUENRECHTE
Die Frauenbewegung steht sinnbildlich für den kontinuierlichen Kampf für die Förderung der Frauenrechte. Dieser Kampf konzentrierte sich auf drei Maßnahmen: die Förderung der Parität oder Geschlechtergleichheit, die Aufhebung von Einschränkungen in gesetzlichen Regelungen und die Konstitutionalisierung der Frauenrechte. Im Folgenden werden diese Maßnahmen vorgestellt. 2.1 Die Paritätsregelung Frauenbewegungen auf der ganzen Welt fordern Parität. Ein bedeutender Teil der Forderungen dieser internationalen Bewegung betrifft das Geschlechtergleichgewicht in Entscheidungsgremien. Die Geschlechtergleichheit wurde mit der Annahme der CEDAW-Konvention konsolidiert. Artikel 7 dieser Konvention fordert die Vertragsstaaten auf, al-
4
Vgl. ATFD: Les violences à l’égard des femmes. Actes du séminaire international de Tunis, 11, 12, 13 novembre 1993 (zensiert bis 2011), und Casablanca, Alger, Tunis. Femmes unies contre la violence: Analyse de l’expérience maghrébine en matière de violences subies par les femmes, Casablanca: Editions le fennec 2001.
5
Vgl. ONFP, AECID: Enquête nationale sur la Violence à l’égard des femmes en Tunisie. Rapport Principal, Tunis 2010.
6
Vgl. CREDIF: Les violences fondées sur le genre dans l’espace public en Tunisie. Étude élaborée sous la coordination de Slim Kallel, Tunis: Editions du CREDIF 2016.
7
Vgl. das Gesetz Nr. 2017-58 zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, in: JORT (Journal Officiel de la République Tunisienne), Nr. 65 (15. August 2017), S. 2604.
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le notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung der Gleichstellung der Geschlechter im Bereich der politischen Rechte zu ergreifen. 8 In Tunesien wurde die Parität 2011 im Rahmen des Wahlgesetzes angewendet, das die Wahlen zur Nationalversammlung regelte, die eine neue Verfassung für das Land ausarbeiten sollte. So wurde die Paritätsregelung in Artikel 16 des Gesetzesdekrets Nr. 35-2011 für die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung9 verankert. Nur für diese Wahlen war es gültig. Die Zivilgesellschaft spielte bzgl. der Akzeptanz des Prinzips der Parität in der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Der erste Entwurf dieses Wahlgesetzes, der von den Mitgliedern der Expertenkommission für die Ausarbeitung des Textes vorgelegt wurde, ließ die Wahl zwischen der Paritäts- und der Quotenregelung. Darüber sollten die Mitglieder der Hohen Instanz für die Realisierung der Revolutionsziele, für die politische Reform und für die demokratische Transition10 Tunesiens 2011 entscheiden. Ziel war es, entweder die volle Parität zu akzeptieren oder aber die Parität im Prinzip anzunehmen und die Möglichkeit einer Quotenregelung offen zu lassen, falls die Durchsetzung der Parität in der Praxis schwierig wäre. Die Debatten dieser Instanz waren von einer tiefen Spaltung zwischen erbitterten Gegner*innen der Parität auf der einen Seite und ihren Befürworter*innen auf der anderen gezeichnet. Vor allem Menschenrechtsverteidiger*innen und -aktivist*innen, Vertreter*innen von Frauenorganisationen oder der Gewerkschaft UGTT sowie der Tunesischen Liga für Menschenrechte LTDH sprachen sich neben einigen Vertreter*innen politischer Parteien für die Gleichstellung der Geschlechter aus. Für Frauenbewegungen, insbesondere für die ATFD 11, stellte die Parität eine alte Forderung der weiblichen bzw. feministischen Zivilgesellschaft dar. 12 Seit der Gründung der ATFD im Jahr 1989 forderten feministische Aktivistinnen Geschlechtergleichheit, um Frauen zu ermutigen, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren und ihre Beteiligung in Entscheidungsgremien, in denen sie nur be-
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Artikel 7 der CEDAW-Konvention. Diese Konvention wurde am 18. Dezember 1979 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen und trat am 3. September 1981 in Kraft, nachdem sie von 20 Ländern ratifiziert wurde.
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Franz. Assemblée Nationale Constituante (ANC).
10 Franz. Haute Instance pour la réalisation des objectives de la révolution, de la réforme politique et de la transition démocratique; im Folgenden kurz Transitionsinstanz. 11 ATFD: Femmes et République, Tunis 2008. 12 Viennot, Éliane: »Parité : Les féministes entre défis politiques et révolution culturelle«, in: Nouvelles Questions Féministes Vol 15 Nr. 4 (1994), S. 65-89.
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grenzt aktiv waren, zu verstärken. Daher verteidigten sie die Parität erbittert, was auf heftigen Widerstand stieß. Die Gegner*innen der Parität begründeten ihre Ablehnung hauptsächlich damit, dass sich diese Idee nicht aus der tunesischen Realität heraus entwickelt hatte, sondern eine Reaktion auf okzidentale Ansprüche sei, über die die tunesische Regierung und die Transitionsinstanz beeinflusst werden sollen. Die Parität anzuerkennen, würde bedeuten, den Interessen des Westens nachzugeben. Angesichts der ständig wachsenden Zahl politischer Parteien in der Übergangszeit hätte die Parität zudem ein Hindernis für den Wahlprozess dargestellt, da die kleinen Parteien noch nicht gut organisiert waren, kein breites Publikum hatten und keine weiblichen Aktivistinnen aus ihrer Mitte rekrutiert hatten. Ihnen Parität aufzuerlegen hätte bedeutet, sie von der Teilnahme an den Wahlen innerhalb der gesetzten Fristen auszuschließen. Außerdem hätte die Anwendung der Paritätsregelung die Wahlteilnahme von Vertreter*innen aus dem Landesinneren und dem Süden verhindert, da in diesen Regionen Tunesiens die Frauen nach wie vor unter patriarchalischen Traditionen und der traditionellen Trennung zwischen dem Privaten und der Öffentlichkeit bzw. zwischen familiären und politischen Räumen litten. Andere Gegner*innen der Parität waren der Ansicht, dass die Anwendung der Parität zu einer Anerkennung der Diskriminierung von Frauen und der männlichen Vorherrschaft in der tunesischen Gesellschaft führe. So würde offensichtlich werden, dass Frauen eine positive Diskriminierung brauchten, um in Entscheidungsgremien mitarbeiten zu können. Doch selbst wenn dies eine positive Diskriminierung darstellen würde, impliziere sie einen diskriminierenden Inhalt, der die Gleichstellung der Geschlechter untergrabe. Eine weitere Herausforderung für das Geschlechtergleichgewicht war das Kriterium der Kompetenz. In dem Moment, wo die Gleichstellung angewendet wird, treten die Fähigkeiten der Frauen bei der Auswahl der Kandidat*innen in den Hintergrund. Daher wäre es vernünftiger, dem Kriterium der Kompetenz vor dem des Geschlechts den Vorrang zu geben. Es sei auch darauf hingewiesen, dass diese Debatte sowohl innerhalb der Transitionsinstanz stattfand als auch in den Zeitungen und Zeitschriften oder bei Seminaren, die im Rahmen der Wahlvorbereitungen organisiert wurden. Als der Text den Mitgliedern der politischen Kommission der Transitionsinstanz vorgelegt wurde, debattierte man dort nicht mehr über die Frage, ob die Parität akzeptiert werden sollte oder nicht, sondern vielmehr über die Entscheidungsfreiheit zwischen einer umfassenden Paritätsregelung oder einer prinzipiellen Parität, die in Ausnahmefällen die Anwendung einer Quotenregelung erlauben würde.
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Schließlich wurde für die vollständige Parität entschieden. Artikel 16 des Gesetzes zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung lautete wie folgt: »Die Kandidaturen erfolgen nach dem Grundsatz der Parität von Frauen und Männern, indem in den Wahllisten abwechselnd weibliche und männliche Kandidaten angeordnet werden. Listen, die diesem Grundsatz nicht entsprechen, werden abgelehnt. Einen Ausnahmefall bilden Listen, bei denen eine ungerade Anzahl von Sitzen für bestimmte Wahlkreise vorbehalten sind.« Nachdem über den Gesetzestext im vollen Umfang abgestimmt worden war, wurde er im Ministerrat diskutiert. Das Zögern des Premierministers und der Regierung zeigte sich unter dem Vorwand, dass Frauen in Tunesien bereits viele Rechte zustehen und dass es nicht zusätzlich notwendig sei, die Paritätsregelung anzuwenden. Diese Haltung führte zur Empörung der Frauen und der frauenund menschenrechtsaktivistischen Organisationen. Diese betrieben Lobbyismus und setzten sich für die Stimmen und Protestbekundungen ein, die den Premierminister und andere Regierungsmitglieder dazu aufforderten, die Parität nicht in Frage zu stellen. Man solle diese Regelung akzeptieren und unterstützen, da sie Teil der Errungenschaften der Revolution sei und eine wahre Anerkennung der Stellung der Frauen und ihrer Rolle im Land darstelle. Schließlich wurde das Wahlgesetz angenommen und im Amtsblatt veröffentlicht. Es trat am 10. Mai 2011 in Kraft. Lässt sich nun daraus schließen, dass die Frauenbewegung den Kampf um die Parität gewonnen hat? Hinsichtlich der Gleichstellungsforderungen von Aktivistinnen, besonders in der arabisch-muslimischen Welt und im Mittelmeerraum galt die Abstimmung der Mitglieder der Transitionsinstanz über Artikel 16 des Gesetzesdekrets Nr. 35-2011 als bedeutendes Moment. In Tunesien vollzog sich ein entscheidender Schritt in Richtung Förderung der Frauen- und Menschenrechte. Die Annahme der Parität wurde mit der Einführung des CSP im Jahr 1956 kurz nach der Unabhängigkeit verglichen. Das CSP, Symbol des Gründungsaktes der Moderne, konnte wesentlich dazu beitragen, die vorherrschenden diskriminierenden Einstellungen zu ändern, da es den Frauen ermögliche, Rechte zu erwerben, die ihnen in ihren Familien vorenthalten wurden, sowie diese Rechte zu leben. Die Parität ist eine Errungenschaft der Revolution, sie stellt eine Rehabilitierung der Staatsbürgerschaft oder eine Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft dar. Alle Kandidat*innen hielten sich bei den Wahlen an diese Regelung und dank ihr waren 2011 mehr als 26 % Frauen in der Verfassungsgebenden Versammlung vertreten. Heute ist die Parität eine unumkehrbare Errungenschaft in Tunesien, da sie in der neuen Verfassung und im neuen Wahlgesetz verankert ist
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und 2017 als horizontale und vertikale Parität bei Kommunal- und Regionalwahlen durch das Parlament konsolidiert wurde. 2.2 Der Kampf um die Aufhebung von Regelungsvorbehalten Schon bei der Ratifizierung der CEDAW-Konvention im Jahr 1985 forderte die Frauenbewegung die Aufhebung der Vorbehalte zu einigen Regelungen und erreichte deren Aufhebung mit Ausnahme der Allgemeinen Erklärung. Die Regelungsvorbehalte wurden in Form einer Allgemeinen Erklärung sowie spezifischer und interpretierbarer Vorbehalte gegenüber einigen Bestimmungen der CEDAW-Konvention formuliert.13 Bezüglich dieser Regelungsvorbehalte sah sich die tunesische Regierung nicht an die internationalen Bestimmungen gebunden, die Frauen und Männern gleiche Rechte garantieren sollten, etwa in Ehe- und Kinderfragen, bei Bestimmungen zum Familiennamen oder bei den Erbregelungen, da dies den Bestimmungen des CSP widersprach. Dabei sind diese Regelungsvorbehalte keineswegs rein technischer Art, sondern zeigen die Dominanz einer ungleichen Gesellschaftsordnung. Sie stehen selbst im Widerspruch zu Artikel 28 Absatz 2 der Konvention, der Vorbehalte verbietet, die mit den Zielen der Konvention unvereinbar sind, und zu Artikel 19
13 Zur Allgemeinen Erklärung der CEDAW-Konvention: Die tunesische Regierung erklärt, dass sie kraft dieser Konvention keinen administrativen oder legislativen Beschluss treffen wird, der gegen die Bestimmungen von Artikel 1 der tunesischen Verfassung verstoßen würde. Regelungsvorbehalt bzgl. Artikel 9, Paragraph 2: Die tunesische Regierung erklärt einen Regelungsvorbehalt bzgl. Artikel 9, Paragraph 2 der Konvention, der nicht gegen die Bestimmungen von Artikel 6 des tunesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes verstoßen darf. Regelungsvorbehalt bzgl. Artikel 16, Absätze c, d, f, g und h: Die tunesische Regierung sieht sich nicht an die Absätze c, d und f des Artikels 16 der Konvention gebunden und erklärt, dass die Absätze g und h desselben Artikels nicht im Widerspruch zu den Bestimmungen des CSP bzgl. der Erteilung des Familiennamens an Kinder und des Erwerbs von Erbschaftsvermögen stehen dürfen. Erklärung bzgl. Artikel 15, Paragraph 4 der Konvention: Laut Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23. Mai 1969 hebt die tunesische Regierung hervor, dass die Bestimmungen von Artikel 15, Paragraph 4 der CEDAW-Konvention, vor allem bzgl. des Rechts von Frauen, ihren Wohnsitz und ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, nicht gegen die Bestimmungen von Artikel 23 und 61 des CSP verstoßen dürfen, die sich mit derselben Fragenstellung befassen.
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Absatz 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969. Sie verletzen zudem die Universalität der Menschenrechte der Frauen, die ihre Einheit, Interdependenz und Unteilbarkeit voraussetzt. Somit konnte sich trotz der Ratifizierung der CEDAW-Konvention der soziale Status der Frauen in der Familie nicht verändern. Die Autorität der Ehemänner als Familienoberhaupt bleibt vorherrschend. Der Familienname bleibt dem Ehemann vorbehalten. Der eheliche Wohnsitz ist der des Mannes. Die Nationalität der Kinder ist zuerst die des Vaters und erst in zweiter Linie die der Mutter. Die Hauptverantwortung für die Kinder obliegt dem Vater und die Frau kann im Gegensatz dazu nur Vormundschaftsrechte ausüben. Das volle Sorgerecht wird ihr nur im Falle des Versagens oder des Todes des Vaters zugesprochen. Die unverheiratete, alleinerziehende Mutter bleibt gleichzeitig ohne juristischen Status, da ihr sogenanntes ›natürliches‹ Kind außerehelich geboren wurde. Auch im Erbrecht genießen Frauen keine Gleichstellung, da eine aus dem religiösen Gesetz übernommene Regelung im CSP aus einem Erbvermögen Frauen nur die Hälfte des Anteils von Männern zugesteht. Diese Vorbehalte blieben trotz anhaltender Ermahnungen der Vertrags- und Nichtvertragsorgane der Vereinten Nationen wie dem CEDAW-Ausschuss zur Überwachung der Konventionsumsetzung, dem Menschenrechtsausschuss und dem UN-Menschenrechtsrat mittels UPR (Universal Periodic Review) sowie nationaler, regionaler und internationaler NGOs bis zur Revolution 2010/2011 bestehen. Es sei dabei zu erwähnen, dass Tunesien im Juni 2008 einige seiner fast ähnlichen Regelungsvorbehalte zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes aufhob, insbesondere die Erklärung Nr. 1 14 und die Vorbehalte Nr. 1 und 3. Seit der Ratifizierung der CEDAW-Konvention forderte die Frauenbewegung unentwegt die Aufhebung der tunesischen Regelungsvorbehalte. Ab 1989 wurden diese Aktionen von der neu gegründeten ATFD übernommen, die wiederholt die Aufhebung von Vorbehalten und Kampagnen zu diesem Thema unterstützte. Seit 2005 weiteten sich diese Aktionen in Tunesien auf eine Reihe von Menschen- und Frauenrechts-NGOs aus, wie die Tunesische Liga für Menschenrechte LTDH, die tunesische Regionalgruppe von Amnesty International, die AFTURD und die tunesische Gewerkschaft UGTT. Alle diese NGOs verschrieben sich dem Motto der Aufhebung von Regelungsvorbehalten und organisierten zu diesem Zweck verschiedene Aktivitäten. Ab 2006, nach Gründung der Aktionsgruppe Frauenrechte (Groupe d’Actions des Droits des Femmes, GADF)
14 Erklärung Nr. 1: Die Regierung der Tunesischen Republik erklärt, dass sie bzgl. der vorliegenden Konvention keine legislative Entscheidung oder gesetzliche Verordnung umsetzen wird, die im Widerspruch zur tunesischen Verfassung steht.
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innerhalb der FIDH15, erhielten die Aktionen zur Aufhebung von Vorbehalten internationale Unterstützung. Die ATFD forderte die tunesische Regierung auf, alle Vorbehalte zur CEDAW-Konvention aufzuheben und die betreffenden Bestimmungen im CSP abzuändern, um deren Übereinstimmung mit der Konvention, vor allem bzgl. der Bestimmungen zur Familie, d.h. Artikel 16, gewährleisten zu können. Sie forderte zudem die Einrichtung einer unabhängigen öffentlichen Institution, die die Einhaltung der CEDAW-Konvention beaufsichtigen und darüber wachen soll, dass Richter*innen gemäß Artikel 20 der Verfassung systematisch die CEDAWKonvention als Norm mit einem höheren Wert als das innerstaatliche Recht anwendeten. Außerdem wurde gefordert, dass das Fakultativprotokoll zur CEDAW-Konvention in der Öffentlichkeit Verbreitung finden soll und die Frauen für dessen Bedeutung für die Verteidigung der Frauenrechte sensibilisiert werden sollen. Im Dezember 2010 reagierte die tunesische Regierung auf die Forderungen der tunesischen Zivilgesellschaft und der internationalen Beobachtungsinstitutionen, indem sie ihre Absicht bekundete, die Allgemeine Erklärung und den Regelungsvorbehalt zu Artikel 9, Paragraph 2 aufzuheben. Es blieb jedoch nur noch Zeit dafür, den Vorbehalt durch eine Änderung von Artikel 6 des tunesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes mittels Gesetz Nr. 2010-55 vom 10. Dezember 2010 aufzuheben, das besagt, dass nun sowohl das Kind eines tunesischen Vaters als auch das einer tunesischen Mutter die tunesische Staatsbürgerschaft erhalte.16 Nach dem 14. Januar 2011 wurden im ganzen Land, insbesondere in den zivilgesellschaftlichen Organisationen, Stimmen laut, die die Aufhebung aller tunesischen Regelungsvorbehalte forderten. Die erste demokratische Übergangsregierung versuchte, diesen Forderungen nachzukommen, stieß jedoch auf den Widerstand eines Großteils der Regierungsmitglieder, ausgenommen den damaligen Bildungsminister Taieb Baccouche und den Außenminister Ahmed Ounaies.17
15 Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme (FIDH), internationaler Verband verschiedener Menschenrechtsorganisationen. 16 Vgl. JORT (Journal Officiel de la République Tunisienne), Nr. 97 (10. Dezember 2010), S. 3276. 17 Vgl. mündliche Erklärung von Ahmed Ounaies, Außenminister der ersten Regierung von Mohamed Ghannouchi vom 17. Januar bis 13. Februar 2011, anlässlich der von der ATFD am 8. März 2011 organisierten Sitzung zum Thema Frauenrechte in der Zeit des demokratischen Übergangs.
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Erneut veranstalteten die Frauen-, Feministen- und Menschenrechtsorganisationen Demonstrationen und riefen anlässlich des Nationalen Frauentages am 13. August 2011 dazu auf, die Vorbehalte aufzuheben. Die Aktivist*innen, die Mitglieder der Transitionsinstanz waren, insbesondere die Mitglieder des Expertenkomitees, forderten unterstützt vom damaligen Präsidenten der Tunesische Liga für Menschenrechte LTDH Mokhtar Trifi öffentlich bei einer Audienz mit dem damaligen Premierminister, die Vorbehalte aufzuheben. Die ATFD und viele andere Frauenorganisationen verlangten zudem die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze, die diese Vorbehalte rechtfertigten, sowie deren Ersetzung durch Gesetze, die die Gleichstellung der Rechte und Pflichten innerhalb der Familie sowie in allen öffentlichen und privaten Räumen verankerten. Am 16. August 2011 ging die tunesische Regierung auf die Forderungen ein, eine auf den ersten Blick sehr bedeutsame Entscheidung. Sie erklärte, dass sie die Vorbehalte aufheben werde und strich alle spezifischen Regelungsvorbehalte zu den Artikeln 9, 15, 16 und 29. Dies stellte einen ersten wichtigen Schritt dar. Am Ende blieb der Beschluss jedoch unvollständig, da er an der Allgemeinen Erklärung zur CEDAW-Konvention festhielt, in der geschrieben steht, dass die tunesische Regierung keine administrativen oder legislativen Beschlüsse treffen werde, die gegen die Bestimmungen von Artikel 1 der tunesischen Verfassung verstoßen würden.18 Tunesien unternahm von offizieller Seite die notwendigen Schritte, um eine Aufhebung der Regelungsvorbehalte verwirklichen zu können. Es teilte am 17. April 2014 gemäß den Bestimmungen von Artikel 2 des Gesetzesdekrets Nr. 103 vom 24. Oktober 2011 dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Aufhebung der Vorbehalte mit.19
18 Die Aufrechterhaltung dieser Allgemeinen Erklärung ließ Zweifel an der Aufhebung anderer Vorbehalte auf Grundlage religiös inspirierter Vorschriften aufkommen, wie der Regelung des Monopols väterlicher Autorität, der Regelungen zur Mitgift oder der zum Vererben von Vermögen. Trotz der Aufhebung der spezifischen Vorbehalte besteht durch die Beibehaltung der Allgemeinen Erklärung, insbesondere in dieser Form der Ausformulierung, weiterhin die Gefahr, dass sie weder zu einer Änderung der Stellung von Frauen in der Familie noch zur Änderung oder gar Aufhebung diskriminierender Gesetze führt, die eine Übereinstimmung mit den Bestimmungen von Artikel 2 der CEDAW-Konvention gewährleisten würde. 19 Vgl.https://treaties.un.org/doc/Publication/Monthly%20Statement/2014/04/monstate. pdf vom April 2014, S. 11.
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2.3 Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Ausarbeitung der neuen Verfassung Die ATFD begleitete und verfolgte über Lobbyarbeit den Entwurf der neuen tunesischen Verfassung vom 27. Januar 2014. Schon im Februar 2012 organisierte sie eine fiktive Verfassungsgebende Versammlung, deren Arbeit in der Verabschiedung einer »Verfassung der Staatsbürgerschaft und Gleichberechtigung aus Frauenperspektive« in Bezug auf die Konstitutionalisierung der Menschenrechte mündete. Gleichzeitig führte sie eine Sensibilisierungskampagne sowie Lobbyarbeit unter den Mitgliedern der Verfassungsgebenden Versammlung Tunesiens für eine egalitäre Verfassung durch. In ihren grundlegenden Empfehlungen bekräftigte die ATFD, dass die Frauenrechte einen unteilbaren Bestandteil der Menschenrechte darstellten, an deren Universalität, Integrität, Unteilbarkeit und Interdependenz erinnert werden muss. Sie forderte, den Grundsatz des Diskriminierungsverbots und den Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit mit dem Verbot der Gewalt gegen Frauen in die Verfassung aufzunehmen, sowie dass, der Staat die erforderlichen Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Grundsätze ergreift. Zudem soll ein bürgerrechtlicher Staat errichtet werden, um die Trennung des politischen vom religiösen Bereich zu gewährleisten. Sie postulierte, die Rechts- und Chancengleichheit in allen öffentlichen und privaten Bereichen zu garantieren und explizit die Gleichheit im Erbrecht zu verankern. Um die Staatsbürgerschaft von Frauen und Männern in allen Bereichen gewährleisten zu können, müssen die Gesetze die notwendigen Mechanismen und Regelungen für ihre Umsetzung schaffen. So sollten auch Maßnahmen der positiven Diskriminierung zum Schutz der Rechte von Frauen und Minderheiten in allen Bereichen verfolgt werden. Es gelte die Priorität internationaler Menschenrechtsverträge gegenüber nationalen Gesetzen anzuerkennen, Rechtsmechanismen wie Parität in allen gewählten oder ernannten Institutionen zu gewährleisten sowie eine Kontrollinstanz zum Schutz der Frauenrechte und ein Verfassungsgericht zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit und der Umsetzung von Gesetzen zu schaffen. Nachdem diese Empfehlungen vorgelegt worden waren, machte sich die ATFD für die Beobachtung der Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung stark. Sie verfolgte aufmerksam den Verfassungsprozess sowohl in der Verfassungsgebenden Versammlung selbst als auch in den öffentlichen Debatten. Sie organisierte Kampagnen gegen die Aufnahme des islamischen Rechts Scharia als Rechtsquelle in die Verfassung und begrüßte deren Ablehnung durch die politischen Parteien im März 2012. Die Aufnahme des islamischen Rechts in den Verfassungstext hätte eine ernsthafte Bedrohung für die Gleichstellung und die Auf-
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hebung der Diskriminierung dargestellt, da die Scharia ausschließlich dann im Personenstandsrecht geltend gemacht wird, wenn die Rechte der Frauen eingeschränkt werden sollen. Am 13. August 2012 organisierten verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter die ATFD, eine Großdemonstration gegen den ersten Verfassungsentwurf, der anstelle von Gleichheit die Komplementarität zwischen Männern und Frauen festschrieb. Diese Mobilisierung der Massen trug letztendlich dazu bei, dass die Komplementarität in keinem weiteren Verfassungsentwurf erschien bzw. zugunsten der Gleichheit aufgegeben wurde. 20 Auch danach blieb die ATFD wachsam und engagierte sich dafür, die Bestimmungen der CEDAW-Konvention zu verteidigen, die immer wieder von konservativen Kräften angegriffen wurden, welche die Inhalte verzerrten, um diese als Bedrohung für die arabischen und muslimischen Sitten, die Moral und die Identität darzustellen. Die Verankerung des Islam als Staatsreligion in allen Entwürfen sowie der endgültigen Version der tunesischen Verfassung war ein weiterer Kritikpunkt der ATFD. Sie sah darin eine Hintertür zur Wiederherstellung des islamischen Rechts als Gesetzesquelle. Gemeinsam mit den anderen Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft unterstützte die ATFD die Verankerung eines bürgerrechtlichen Staates in der Verfassung, der auf dem Vorrang des positiven Rechts beruhte. Dieser sollte den gleichen Status in der Verfassung haben, wie Artikel 1 der Verfassung, der wiederum Gegenstand eines Konsenses war, sodass er in seinem Wortlaut von 1959 unverändert blieb.
3.
DIE TUNESISCHE VERFASSUNG VOM 27. JANUAR 2014: ERFOLGE UND HERAUSFORDERUNGEN
Bei der Verfassungsabstimmung am 27. Januar 2014 entschied sich alles mit der Frage nach der Verankerung der Parität, gegen die sich die konservativen Abgeordneten ausgesprochen hatten. Sie drohten damit, im Falle ihrer Aufnahme in die Verfassung gegen den Verfassungsentwurf zu stimmen. Die Parität wurde schließlich angenommen, ebenso wie die Chancengleichheit, in Absatz 2 und 3 von Artikel 46 steht nun, dass der Staat die Chancengleichheit von Frauen und Männern garantiert und sich bemüht die Parität von Männern und Frauen in gewählten Ausschüssen zu gewährleisten. Auch Artikel 36 geht auf Repräsentativität von Frauen in gewählten Gremien ein. Die Gleichheit der Bürgerinnen und
20 Siehe dazu auch den Beitrag von Lotfi Mathlouthi.
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Bürger im und vor dem Gesetz ohne Diskriminierung, wurde nach hartem Ringen schließlich in Artikel 21 der Verfassung verankert. Dieser Artikel blieb unter den Forderungen der Frauenbewegung, da die ATFD sowohl die Gleichstellung in der Familie als auch eine Liste der verbotenen Diskriminierungsformen in aller Klarheit benannt haben wollte. Absatz 1 von Artikel 46, der innerhalb der Verfassungsgebenden Versammlung wie in der Öffentlichkeit ebenso hart umkämpft war, kann Artikel 21 leicht ausgleichen, indem er die Zusage birgt, dass sich der Staat verpflichtet, die erworbenen Rechte von Frauen zu schützen, zu unterstützen und zu verbessern. Auch das Verbot jeglicher Gewalt, eine der Hauptforderungen der ATFD, wurde in der Verfassung verankert. Dieses Verbot wurde jedoch nie kontrovers diskutiert, schon im ersten Verfassungsentwurf wurde es auf- und angenommen. Im letzten Absatz von Artikel 46 wird garantiert, dass der Staat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um Gewalt gegenüber Frauen zu unterbinden. Die Forderung eines bürgerrechtlichen Staates und einer Vorrangstellung des positiven Rechts, die den gleichen Status wie Artikel 1 innehaben, wurde in Artikel 2 umgesetzt. Schließlich wurde zwar die Auslegungsregelung der Grundrechte und freiheiten unter Bezugnahme auf die Internationalen Menschenrechtskonventionen nicht angenommen, jedoch begrüßte die ATFD, dass Artikel 49 die Grenzen der Rechte und Freiheiten im Einklang mit den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit festlegt. Zudem wurde diesem Artikel der gleiche verfassungsmäßige Status wie den Artikeln 1 und 2 verliehen. So können diese Rechte und Freiheiten nicht Gegenstand einer etwaigen Verfassungsänderung werden. So fanden zahlreiche Forderungen und Empfehlungen der tunesischen Frauenbewegung Eingang in die neue Verfassung. Die ATFD konnte jedoch einen bestimmten Widerstand gegen die vollständige Gleichstellung feststellen sowie den Wunsch, den privaten und familiären Bereich vom Diskriminierungsverbot auszuschließen. Die Unbestimmtheit der Verfassung hinsichtlich des Begriffs der Errungenschaften von Frauen (Artikel 46), das Fehlen einer ausdrücklichen Berufung auf das CSP, bis auf den Verweis, dass jede Reform diesbezüglich eines Referendums bedarf (Artikel 82), zeigt die Richtung zukünftiger Debatten über die Gleichstellung auf, deren Ausgang ungewiss bleibt, wenn sie nicht gar unmöglich sind. Die ATFD und andere zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich zu einer nationalen Koalition zusammengeschlossen haben, bleiben engagiert und aktiv, insbesondere hinsichtlich der Umsetzung eines organischen Gesetzes zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder.
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So lässt sich festhalten, dass die tunesische Frauenbewegung einen menschenrechtsbasierten Ansatz entwickelte und eine bedeutsame Lobbyarbeit für die Anerkennung der Gleichstellung der Geschlechter und das Verbot der Diskriminierung leistete. Es bleibt jedoch auch zu betonen, dass der Kontext, in dem sich Tunesien befindet, die Schwäche des Staates, die sich verstärkende regressive Entwicklung im Land und der Wunsch bestimmter politischer Parteien, die Modernität des Staates und der Gesellschaft in Frage zu stellen, Faktoren sind, die die Aufrechterhaltung der Frauenrechte und der Demokratie im Land bedrohen. Aus dem Französischen übersetzt von Caja Fischer und Ina Khiari-Loch
Der staatliche Frauendiskurs in Tunesien in der Ära Ben Ali: Wandel und Kontinuitäten am Beispiel der Zeitschrift InfoCREDIF Ina Khiari-Loch
1. EINLEITUNG Frauenpolitik, d.h. eine Politik, die gezielt die Stellung von Frauen in der Gesellschaft adressiert, diese ggf. ändern will oder auf verschiedene Art und Weise instrumentalisiert, spielte und spielt in Tunesien seit der Unabhängigkeitbewegung eine bedeutende Rolle und impliziert eine starke, in allen politischen Lagern wahrnehmbare Symbolwirkung. In der Zeit des französischen Protektorats galten die Tunesierinnen den Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung als die Bewahrerinnen von Familie und Tradition, waren Symbol für die vom Kolonialismus bedrohte tunesische Identität. Mit der Unabhängigkeit Tunesiens 1956 begann das modernistische Projekt des ersten tunesischen Staatspräsidenten Habib Bourguiba (1903-2000) für den Aufbau eines säkularen Staates mit gleichberechtigten, verantwortungsvollen und die Unterstützung des Staates anerkennenden Bürgerinnen. Der zweite tunesische Präsident Ben Ali entwickelte sein Projekt schließlich als eine dem historischen Kontext angepasste Fortsetzung der Politik seines Vorgängers. Seine staatliche Gewährleistung der Rechte tunesischer Frauen wurde aus nationaler wie internationaler Perspektive als Indikator für die Wahrung der Menschenrechte und der Demokratie im Land wahrgenommen. Diese Symbolik wirkt bis in die Zeit nach 2010/2011 mit ihren Kontroversen zwischen den säkularmodernistisch und islamisch-konservativ geprägten politischen Strömungen fort; das Thema Frauen im muslimischen Land Tunesien ist von außerordentlichem nationalen und internationalen Interesse. Da die Frauen mit ihren bürgerlichen
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Rechten und Pflichten in der politischen Geschichte des Landes derartig stark instrumentalisiert wurden und immer Teil des internationalen Ansehens Tunesiens waren, ist der Diskurs über sie von offizieller nationaler wie oppositioneller oder internationaler Seite vorrangig politisch geprägt. Mein Beitrag konzentriert sich auf den staatlichen Frauendiskurs in Tunesien unter Ben Ali. Als Korpus meiner Untersuchung dient die Zeitschrift InfoCREDIF der staatlichen tunesischen Organisation CREDIF (Centre de Recherches, d’Études, de Documentation et d’Information sur la Femme), die zu Beginn der Ära Ben Ali gegründet wurde und sich als ein Dokumentations- und Informationszentrum versteht, das historische und aktuelle Dokumente, Statistiken und Studien zum Thema Frauen im staatlichen Auftrag Tunesiens archiviert und veröffentlicht. Die Untersuchung beabsichtigt, im Korpus Deutungsmuster zu rekonstruieren, diese auf Wandel und Kontinuitäten zu untersuchen und mögliche Gründe dafür aufzuzeigen. Ziel ist es schließlich, das Paradox zu beleuchten, dass der Feminismus in Tunesien, das als fortschrittlichstes Land bzgl. der Frauenförderung in der arabischen Welt präsentiert wurde und wird, im Lande selbst sogar von vielen Frauen Ablehnung erfuhr. Die zentrale These dieses Beitrags ist dabei, dass die für Tunesien spezifische Art der Frauenförderung ›von oben‹ sowie die staatliche Vereinnahmung des Feminismus durch die Regime Bourguiba und Ben Ali, die als Staatsfeminismus definiert werden kann1, zu dieser Form der Ablehnung führte. Nach einem historischen Abriss über die Frauenpolitik Tunesiens bis ins Jahr 1991, dem Erscheinungsjahr der Erstausgabe von InfoCREDIF, konzentriert sich der Beitrag auf die Analyse des Frauendiskurses in dieser Zeitschrift von 1991 bis 2010. Dabei werden die Ausgaben der Zeitschrift und die rekonstruierten Deutungsmuster »der tunesischen Frau« im Rahmen der historischen Entwick-
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Für den Begriff Staatsfeminismus verwende ich die folgende Definition von Weber »Wenn Frauenförderung nicht nur fester Bestandteil praktischer Politik, sondern auch ihrer diskursiven Darstellung ist und der Staat seine eigene Legitimationsbasis zu Teilen aus dieser Frauenpolitik bezieht und sich selbst darüber definiert, kann von Staatsfeminismus gesprochen werden. Der Begriff ist insofern irreführend, als er keinen Zusammenhang mit einer (radikal)feministischen Theorie oder feministischen Bewegung bezeichnet, die das Geschlechterverhältnis grundlegend in Frage stellt. Vielmehr meint Staatsfeminismus a) eine besondere staatliche Aufmerksamkeit für die Belange von Frauen und b) das Anliegen, Frauen neue Möglichkeiten zu eröffnen, ohne eine fundamentale Veränderung des Geschlechterverhältnisses anzustreben.«, Weber, Anne F.: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien (Mitteilungen, Bd. 62), Hamburg: Dt. Orient-Inst 2001, S. 17-18.
Der staatliche Frauendiskurs in der Ära Ben Ali | 121
lung der staatlichen Frauenpolitik und -förderung unter Ben Ali dargestellt. Durch eine Einschätzung des Wandels und der Kontinuitäten im Frauendiskurs der InfoCREDIF geht der Beitrag schließlich der Frage nach der paradox erscheinenden Ablehnung des Feminismus in Tunesien unter Ben Ali nach.
2. DIE STAATLICHE FRAUENFÖRDERUNG IN TUNESIEN 2.1 Beginn tunesischer Frauenpolitik und Staatsfeminismus unter Bourguiba Als erster prominenter Vertreter der Frauenemanzipation in Tunesien gilt Tahar Haddad (1899-1935), der 1930 mit seinem Werk »imra’atunā fī l-šarīʿa wa lmuǧtamaʿa« umfangreiche Debatten über die Stellung der Frauen in der tunesischen Gesellschaft auslöste. Er plädierte für einen offenen Islam, wies religiöse Gründe für die Unterdrückung der Frauen zurück, stellte vielmehr deren Ursachen in den damaligen gesellschaftlichen Strukturen dar. Damit brachte er die religiöse Elite des Landes, die Gelehrten der großen Zaitouna-Moschee, gegen sich auf. Er verlor nicht nur seine akademischen Titel, auch die politische Elite Tunesiens, damals geeint in der Unabhängigkeitsbewegung, wandte sich gegen seine Ideen.2 Denn die Frauen galten der Unabhängigkeitsbewegung als Bewahrerinnen der Tradition und der Identität, die es in Konfrontation mit der französischen Kolonialmacht zu verteidigen galt.3 Auch Bourguiba wandte sich in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung gegen die Entschleierung, sah den Schleier als Symbol des Widerstandes gegen die Kolonisierung.4 Mit der Unabhängigkeit am 20. März 1956 wandelte sich die Zielrichtung der Politik Bourguibas bezüglich der Stellung tunesischer Bürgerinnen, nicht
2 Zu Leben, Werk und Kritik Tahar Haddads vgl. Hajji, Iman: Ein Mann spricht für die Frauen. Aṭ-Ṭāhir al-Ḥaddād und seine Schrift ›Die tunesische Frau in Gesetz und Gesellschaft‹ (= Islamkundliche Untersuchungen, Band 291), Berlin: Schwarz 2009. 3
Zu den Debatten um die Entschleierung und den Tätigkeiten tunesischer Frauenorganisationen in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung siehe Bakalti, Souad: La femme tunisienne au temps de la colonisation, 1881-1956 (= Histoire et perspectives méditerranéennes), Paris, Montréal: Ed. l’Harmattan 1996, S. 69-89.
4
Vgl. Richter-Dridi, Irmhild: Frauenbefreiung in einem islamischen Land, ein Widerspruch? Das Beispiel Tunesien, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1984, S. 98.
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aber sein Denkansatz. Als Präsident des unabhängigen Tunesiens verfolgte Bourguiba sein Projekt des Aufbaus einer modernen Nation. So kämpfte er gegen die mit einem modernen Staat nicht zu vereinbarenden überkommenen Werte der Gesellschaft und Religion im Namen von Modernität, Fortschritt, Entwicklung und Säkularismus. Da es dafür eines Identitätswandels innerhalb aller Bevölkerungsgruppen bedurfte und die Frauen als Trägerinnen von Identität und Tradition galten, musste gerade die Frauenpolitik Bourguibas Engagement als Staatsoberhaupt prägen. Sinnbildlich für diese Politik steht bis heute das tunesische Personenstandsgesetz CSP (Code du Statut Personnel), das noch vor Bourguibas Ernennung zum Präsidenten im August 1956 erlassen wurde, am 1. Januar 1957 in Kraft trat und im Sinne der einen Nation für alle tunesischen Staatsbürger*innen unabhängig ihrer Herkunft und Religion galt. Trotz Kritik der Bevölkerung und einer nur schrittweisen Anpassung bzw. Erweiterung der Gesetze als Grundlage für das Verhältnis zwischen modernem Staat und Staatsbürger*innen konnte Bourguiba über das CSP die Gesellschaftsstrukturen Tunesiens nachhaltig verändern. Über die Abschaffung der Polygamie, das Verbot der Verheiratung von Kindern oder die Einführung der zivilrechtlichen Ehe und Scheidung konnte er den Einfluss der religiösen Eliten verringern und eine moderne Gesellschaftsstruktur mit dem Ideal der 3-Kinder-Kleinfamilie anstelle patriarchalisch organisierter Großfamilien schaffen. Zudem veranlasste Bourguiba Anpassungsmaßnahmen im Arbeitsund Wahlrecht im Sinne der Gleichberechtigung der Geschlechter, unternahm enorme Investitionen in das Bildungswesen und führte die Schulpflicht für Jungen und Mädchen ein. Gerade über die Alphabetisierungspolitik konnten die Handlungsbeschränkungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen wie die der Frauen eingedämmt werden. Seine Familienplanungspolitik stärkte einerseits den Mutterschutz, andererseits bekämpfte sie mit der Legalisierung von Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen effektiv die hohen Geburtenraten im Land. Diese Veränderungen kamen vor allem den Bürgerinnen zu Gute. Dennoch blieb innerhalb der Familie der Anspruch des Mannes als Familienoberhaupt bestehen und etwa das Erbrecht nach islamischem Recht (šarīʿa) organisiert.5 Im Zuge parteiinterner Machtkämpfe entwickelte sich Bourguiba zunehmend zum autoritären Machthaber Tunesiens. Über die Führungsriege der Neo-
5
Vgl. zu Einführung und Umsetzung des CSP sowie seinen Auswirkungen im Detail I. Richter-Dridi: Frauenbefreiung in einem islamischen Land, ein Widerspruch?, ab Seite 109.
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Destour-Partei,6 die als Einheitspartei die Politik des Landes beherrschte, entstand ein Regime, das mittels seiner Sicherheitskräfte hart gegen jede Form von Kritik vorging. Zivilgesellschaftliche und religiöse Organisationen sowie Gewerkschaften wurden von der Regierungspartei vereinnahmt, Kritiker und Oppositionelle verfolgt, inhaftiert und gefoltert. In dieser Atmosphäre gediehen Nepotismus und Klientelismus.7 Auch die Frauenorganisationen wurden 1958 in der von der Neo-DestourPartei dominierten Organisation UNFT8 zusammengefasst. Diese wurde zum Aushängeschild für Bourguibas Frauenpolitik. Er initiierte den Nationalen Frauentag am 13. August, dem Tag der Einführung des CSP, eröffnete die Kongresse der UNFT und präsentierte sich als Förderer der Frauen sowie das CSP als sein Geschenk an alle Tunesierinnen. Die Organisation spielte eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der von Bourguiba veranlassten Alphabetisierung und Ausbildung von Frauen sowie der Familienplanung. Bourguiba finanzierte über die UNFT die Frauenförderung im ganzen Land. In den meisten Siedlungszentren gab es Abteilungen dieser Vereinigung. Im Umkehrschluss konnte Bourguiba so die Unterstützung vieler Tunesierinnen für sich und seine Politik gewinnen, was für sein Projekt eines modernen Staates unabdingbar war. In ihr wirkten vor allem Frauen der Mittel- und Unterschicht. Viele Landfrauen fanden hier
6
Die Neo-Destour-Partei, franz. Néo-Destour (arab. al-ḥizb al-ḥurr ad-dustūrī alǧadīd) wurde 1964 in Sozialistische Destourpartei, Parti Socialiste Destourien/ PSD (arab. al-ḥizb al-ištirākī ad-dustūrī) umbenannt.
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Sigrid Faath spricht in diesem Zusammenhang von neopatrimonialen Herrschaftsstrukturen und erläutert ausgehend davon das Entstehen der mit Gewalt niedergeschlagenen Aufstände der 1970er und 1980er Jahre, vgl. Faath, Sigrid: Herrschaft und Konflikt in Tunesien. Zur politischen Entwicklung der Ära Bourguiba, Hamburg: Ed. Wuqûf 1989. Vgl. im Detail zur autoritären Herrschaft Bourguibas auch Ruf, Werner K.: Der Burgibismus und die Außenpolitik des unabhängigen Tunesien, Bielefeld: Bertelsmann-Universitätsverl. 1969 und ders.: »Politische Entwicklung und Perspektiven seit der Unabhängigkeit«, in: Konrad Schliephake (Hg.), Tunesien. Geographie, Geschichte, Kultur, Religion, Staat, Gesellschaft, Bildungswesen, Politik, Wirtschaft, Stuttgart: Thienemann 1984, S. 340-367.
8
Nationale tunesische Frauenvereinigung, franz. Union nationale de la femme tunisienne (arab. al-ittihād al-waṭanī li-l-mar’a at-tūnisīya); Internetseite der Organisation: http://www.unft.org.tn.
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einen Anlaufpunkt. Frauen der intellektuellen und wirtschaftlichen Elite standen der Organisation distanziert gegenüber.9 Durch ihre Nähe zu Bourguiba, der Staatspartei und der Führungsriege konzentrierte sich die UNFT auf ihren Gesellschafts- und Bildungsauftrag. Der Name der UNFT zeigt durch die Benennung der Frau im Singular sowohl im Arabischen als auch im Französischen10 deutlich, dass es darum ging, eine ideale Staatsbürgerin zu formen. Die Macht zu bestimmen, welche Attribute diesem Typus Frau zukommen, lag in den Händen des autoritären Staatsoberhauptes. Nach Weber kann für die gesamte Amtszeit Bourguibas ein Staatsfeminismus par excellence attestiert werden. Um das Modernisierungsziel erreichen zu können, musste der Staat den Belangen von Frauen ein besonderes Interesse widmen. Über das CSP und andere Frauenförderungs- bzw. Gleichstellungsmaßnahmen wurden für Tunesierinnen neue Perspektiven erschaffen. Dabei blieben jedoch die patriarchalen Strukturen auf der Ebene der Kleinfamilie und auf der des Staates erhalten.11 Es scheint, dass Bourguiba diese Strukturen von der Großfamilie weg auf den Staat projizierte, um die nationale Einheit gewährleisten zu können. Am deutlichsten sichtbar wird dies im Kult um seine Person. Organisationen, die gegen die staatliche Vereinnahmung der Interessen und Identität von tunesischen Frauen opponierten, wurden unterdrückt. Dies geschah parallel zur Unterdrückung anderer Oppositionsgruppen wie politischer Parteien oder der Gewerkschaften. Bourguiba regierte als Autokrat und stilisierte sich zum alleinigen Frauenförderer. Die Interessen der Frauen wurden nur insofern erhört, als dass sie ihm und seinen Zielen dienen konnten. 12 So setzte sein Staatsfeminismus die Arbeitskraft der Frauen für den Staat frei und sicherte diese gegenüber der Familie ab. Frauen behielten jedoch ihre traditionellen Handlungsbereiche in den Familien. Über die Frauenförderung kamen Handlungsräume als ausgebildete, erwerbstätige und aktive Staatsbürgerin hinzu. Diese Tunesierinnen sollten adrett und modern gekleidet sein und keinesfalls das Symbol der überkommenen Traditionen, das Kopftuch, tragen.13
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Vgl. A.F. Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, S. 27-28.
10 Bei Weber wird der korrekte Name verwechselt, sie nennt im Französischen den Plural, siehe ebd. S. 27. Später im Text geht sie auf das Problem der fehlenden Pluralität in der staatlichen Frauenpolitik Tunesiens ein, siehe ebd., S. 74. 11 Vgl. ebd., S. 30-31. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. im Detail Khiari-Loch, Ina: »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der
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2.2 Die tunesische Frauenpolitik unter Ben Ali und die Gründung des CREDIF Wie Bourguiba wandelte sich Ben Ali nach der Machtübernahme 1987 trotz einer anfänglichen Öffnung hin zum Pluralismus bald in einen autoritären Herrscher. Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1989 vereinnahmte er schrittweise die Opposition und vergrößerte so den Einflussbereich seiner Staatspartei RCD14 oder unterdrückte sie mittels seines stetig anwachsenden Sicherheitsapparates. Die demonstrativ von ihm 1988 eingeführte Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf drei Legislaturperioden wurde 2002 abgeschafft. Ben Ali regierte, wie Bourguiba vor ihm, als Alleinherrscher.15 Es gab jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden. Dort, wo Bourguiba seine Herrschaft mittels seiner Verdienste beim Aufbau eines modernen Tunesiens legitimieren konnte, musste Ben Ali seine Legitimationsbasis neu erschaffen. Seine Ära stand im Zeichen der wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes. Auch wenn er die Demokratisierung des Landes bald einstellte, benannte er den Kampf gegen den Extremismus und die Förderung der Menschrechte als seinen Amtsauftrag. Angesichts der massiven Menschrechtsverletzungen im Land im Zuge der Repressionen gegen oppositionelle Gruppen, vor allem gegen den Islamismus, aber auch gegen die Linke, konzentrierte sich Ben Ali auf die Rechte der Frauen, die sinnbildlich für die Wahrung der Menschenrechte stehen sollten. Der Kampf gegen den Islamismus und die Förderung von Frauenrechten stießen international auf Anerkennung, was Ben Ali die Unterstützung der USA und der europäischen Staaten garantierte. Diese Verbindung zwischen dem Kampf gegen den Islamismus und dem für die Frauenrechte zeigte sich schon 1989, als Ben Ali im Wahlkampf gegen die Anhänger*innen des politischen Islam Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte propagierte. Um seine Macht zu erhalten, war er nach dieser Wahl gezwungen, die politische Pluralisierung zurückzunehmen. Gerade zu Beginn der 1990er Jahre kämpfte Tunesien mit vielfältigen Problemen wie anhaltenden
Freiheit?«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’homme. Cottbus-Medenine 2013, Medenine, 2013, S. 104-122. 14 Die RCD, franz. Rassemblement constitutionnel démocratique (arab. at-taǧammuʿ addustūrī ad-dīmuqrāṭī), ist die Nachfolgepartei der Neo-Destour-Partei bzw. PSD und erhielt 1988 unter Ben Ali diesen Namen. 15 Vgl. im Detail zur Entwicklung des Regime Ben Alis bei Erdle, Steffen: Ben Ali’s ›New Tunisia‹ (1987-2009). A case study of authoritarian modernization in the Arab world (= Islamkundliche Untersuchungen, Bd. 301), Berlin: Klaus Schwarz 2010.
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Wirtschaftsproblemen, dem Erstarken des politischen Islam u.a. als Reaktion auf den Golfkrieg, oder der Unstetigkeit seiner Nachbarländer, dem mit Sanktionen belegten Libyen und dem Bürgerkriegsland Algerien. Ben Ali suchte nach Lösungen im wirtschaftlichen Bereich und wandelte auch unter dem Druck der Vorbereitung auf ein Freihandelsabkommen mit Europa, das wirtschaftlichen Aufschwung verhieß, zahlreiche staatliche Organisationen, unter ihnen die UNFT, in NGOs um. So konnte er auf die Demokratisierung des Landes aufmerksam machen und zugleich internationale Finanzhilfen für diese Organisationen sichern. Gleiches gilt für die Neugründung von dem Anschein nach eigenständigen Institutionen, wie dem CREDIF. Die UNFT blieb auch unter Ben Ali die bedeutendste Frauenorganisation im Land, war in allen größeren Siedlungszentren vertreten und kümmerte sich vor allem um die Ausbildung und Alphabetisierung von Frauen.16 Wie unter Bourguiba stand sie für die Frauen auf dem Land und die der einfachen Stadtbevölkerung. In dieser Zeit entstand das CREDIF. Es wurde 1990 gegründet17 und ist ein Zentrum der Dokumentation und Information mit dem Ziel, im staatlichen Auftrag Tunesiens historische und aktuelle Dokumente, Statistiken und Studien zum Thema Frauen zu archivieren und zu veröffentlichen. Das CREDIF ist international gut vernetzt und erhält finanzielle Unterstützung von verschiedensten Organisationen.18 Es wurde zunächst als eigenständiges Zentrum gegründet, 1993 jedoch dem damaligen Ministerium für Frauen und Familie 19 angegliedert. Es präsentiert sich als öffentliche Einrichtung ohne Verwaltungsaufgaben (établissement public à caractère non administratif).20
16 Vgl. A.F. Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, S. 34-38. 17 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 0 (Dezember 1991), S. 1. 18 Auf der Webseite der Organisation werden verschiedene Institutionen und Stiftungen der internationalen Zusammenarbeit aus Kanada, Skandinavien, Südkorea und den Arabischen Ländern, verschiedene Einrichtungen der UNO, die Weltbank, die EU, die Afrikanische Union erwähnt. Vgl. http://www.credif.org.tn/-index.php/a-propos/nospartenaires/partenaires-internationaux vom 28.09.16. 19 Unter Ben Ali wurde 1992 zunächst ein Staatssekretariat für Frauen und Familie eingerichtet, 1993 dann das Ministerium für Frauen und Familie: Diesen Namen behielt das Ministerium bis 2001 bei. Zwischen 2001 und 2004 trug es den Namen Ministerium für Frauen, Familie und Kinder, ab 2004 bis 2011 Ministerium für Frauen, Familie, Kinder und Senioren. 20 Die Webseite des CREDIF verweist bei dieser Art der Organisation auf Gesetze aus dem Jahr 1993 und 1999, vgl. http://www.credif.org.tn/index.php/a-propos/presen
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Ziel des CREDIF sei es, aktiv zur Verbesserung der Situation von Frauen beizutragen, indem es Studien, Untersuchungen, Berichte und Konferenzen über die Stellung tunesischer Frauen durchführt und die Ergebnisse dieser Studien veröffentlicht. Zudem stelle die Institution Informationen über Frauenrechte in Tunesien und die Teilhabe tunesischer Frauen am öffentlichen und politischen Leben für Wissenschaftler*innen und Regierungsorganisationen sowie Parteien zur Verfügung. Das CREDIF arbeite in verschiedenen nationalen Kommissionen zum Thema Frauen mit und setze sich für die Institutionalisierung des sozialen Geschlechts ein. 21 Das CREDIF lässt sich so als fehlendes Glied in einer umfassenden Frauenförderung des Staatsfeminismus verstehen. Es stellt den Versuch dar, die bisher der Frauenpolitik und den Aktivitäten der UNFT kritisch bzw. distanziert gegenüberstehenden Gesellschaftsgruppen, wie Intellektuelle, in die Politik zu integrieren. Dies lässt sich als ein entscheidendes Merkmal der Frauenförderung Ben Alis festhalten, der über die gesamte Amtszeit hinweg, anders als Bourguiba, explizit Frauen in Verantwortungs- und Entscheidungsfunktionen der Politik und Wirtschaft einsetzte.
3. DER STAATLICHE FRAUENDISKURS IN DER INFOCREDIF – WANDEL UND KONTINUITÄT 3.1 Die Zeitschrift InfoCREDIF Die erste Ausgabe erschien 1991 unter dem Namen InfoCREDIF. Dieser Name wurde unter Ben Ali beibehalten und wechselte nach dem Sturz des Regimes 2012 mit der Ausgabe 42 in Revue du CREDIF. Von den 40 Nummern aus den Jahren 1991 bis 2010 waren weder im CREDIF selbst noch in der tunesischen Nationalbibliothek alle Ausgaben einzusehen. Dabei ist auffällig, dass für die Zeit von 2000 bis 2010 von insgesamt 22 Ausgaben 13 nicht zugänglich waren. tation/presentation-du-credif vom 30.8.2016. Weber schreibt, dass das CREDIF 1991 als vom Staat unabhängige Einrichtung gegründet und 1992 in eine öffentliche Einrichtung umgewandelt wurde, diese sei ab 1993 an das Frauenministerium angegliedert worden, vgl. A.F. Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, S. 39. 21 Vgl.
auf
Französisch
http://www.credif.org.tn/index.php/apropos/presentation/
missions-et-prerogatives-du-centre vom 30.08.2016 und auf Arabisch http:// www.credif.org.tn/index.php/ar-aa/2016-08-02-17-01-38/2016-11-03-22-18- 46/201611-03-22-07-34 vom 02.03.2016.
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Verglichen mit drei fehlenden Ausgaben von insgesamt 19 für die Zeit von 1991 bis 1999 ist das enorm. Die Zeitschrift erschien in unterschiedlichen Abständen von einmal bis dreimal pro Jahr. Es finden sich zudem Doppelnummern sowie Sonderausgaben zu speziellen Anlässen. Gemäß den Zielen des CREDIF richtet sich die Zeitschrift InfoCREDIF vor allem an tunesische, aber auch ausländische Akteur*innen und Multiplikator*innen im öffentlichen und staatlichen, politischen und wissenschaftlichen Bereich. Da das CREDIF eine öffentliche Institution darstellt, der im autoritär regierten Tunesien eine bedeutende Rolle zukam, ist davon auszugehen, dass die Zeitschrift bis 2010 streng den Richtlinien des Regimes folgte und dessen Sprachrohr in Bezug auf die staatliche Frauenförderung war. Auffällig ist vor allem ein uniformistischer Ansatz in Bezug auf ein Idealbild »der tunesischen Frau«, ein Ausdruck, der sowohl im Arabischen »al-marʾa attūnisīya« als auch im Französischen »la femme tunisienne« im Namen der Institution CREDIF, dessen Präsentation im Internet und den Ausgaben der Zeitschrift InfoCREDIF überwiegend im Singular gebraucht wird.22 Die immer wieder erwähnten Themen Entwicklung und Frauenförderung sowie die Motive Frauenrechte und politische bzw. öffentliche Teilhabe zeugen zum einen vom Anspruch dieser Einrichtung auf öffentliche Meinungsbildung und zum anderen davon, dass eine bestimmte Entwicklung innerhalb der tunesischen Gesellschaft angestrebt wird. Hinzuweisen sei auch auf ein durchgehend binäres Geschlechterverständnis, etwa auf Französisch »les rôles sociaux des deux sexes« bzw. auf Arabisch »al-adwār al-iǧtimāʿīya li-l-ǧinsayn«.23 Die Zeitschriften enthalten jeweils einen französischen und einen arabischen Teil. Beide Teile sind meist von gleichem Umfang und ähnlicher Thematik. Erst ab dem Jahr 2002 lässt sich ein zunehmendes Ungleichgewicht zugunsten des arabischen Teils feststellen, wobei diese Einschätzung wegen der wenigen zugänglichen Ausgaben in diesem Zeitraum nicht abschließend ist.24 In beiden Teilen der Zeitschrift folgen bis 2005 dem Titelblatt ein Inhaltsverzeichnis und ein Editorial der Leiterin des CREDIF. Nach dem Leitartikel zu einem aktuellen Thema finden sich verschiedene Artikel, in denen Vereine, Organisationen und
22 Dies gilt auch für die (Internet)Präsentation des CREDIF und im geringeren Maße für die Zeitschrift Revue du CREDIF nach 2010/2011. 23 Ebd. 24 Obwohl nach 2002 nur noch wenige Ausgaben zur Verfügung stehen, soll darauf hingewiesen werden, dass der größere Umfang des arabischsprachigen Teils auf die seit dem Jahr 2000 zunehmende Arabisierungspolitik unter Ben Ali zurückgeführt werden könnte.
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verschiedene Aktivitäten von bzw. über Frauen in Tunesien vorgestellt werden. Zudem präsentiert das CREDIF sich selbst und seine Arbeit wie Konferenzen, Festivitäten, Weiterbildungsveranstaltungen oder Publikationen. Ein Extrabereich stellt ausgewählte literarische Publikationen von Frauen vor. Die Thematik der vorgestellten Sachverhalte ist eng mit den Themen der Gleichberechtigung und Emanzipation von Frauen verknüpft. Zu speziellen Anlässen, wie der Weltfrauenkonferenz, erschienen 1996 und 2000 englischsprachige und arabischenglischsprachige Sonderausgaben. Nach einer ersten Globalanalyse des Korpus v.a. hinsichtlich des Layouts, des Aufbaus und des Inhalts der Zeitschrift, lassen sich die Ausgaben in verschiedene Gruppen einteilen. Die (a) erste Gruppe umfasste die Ausgaben Nr. 0/1991 bis 2/1993. Diese konzentrieren sich auf die Gründung und Etablierung des CREDIF als Plattform für verschiedene tunesische Frauenorganisationen und -vereine. Die (b) zweite Gruppe der Ausgaben von Nr. 03/1994 bis 09/1996 steht im Zeichen der intensiven Arbeit in Vorbereitung und Nachbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking im Jahr 1995. In der (c) dritten Gruppe der Ausgaben von Nr. 10/1996 bis 30/2003 lässt sich die zunehmende Politisierung und Instrumentalisierung des Regimes Ben Ali feststellen, obwohl andere Akteur*innen der Frauenförderung sichtbar bleiben. Die (d) vierte Gruppe, in der zugleich die meisten Ausgaben nicht zugänglich waren, umfasst Nr. 31/2005 bis 40/2010 und ist geprägt vom Personenkult um das Präsidentenpaar. Diese Gruppen werden im Folgenden in den jeweiligen historischen Kontext politischer Entwicklungen und dem der Frauenförderung der Ära Ben Ali eingeordnet, bevor der Frage nachgegangen wird, welche Attribute bzw. Deutungsmuster dem Konstrukt »die tunesische Frau«25 zugeschrieben werden. Da der staatliche Frauendiskurs nicht isoliert existiert, stellt sich die Frage, in welche anderen staatlichen Diskurse bzw. öffentlichen Diskurse im nationalen und internationalen Bereich er eingebunden ist. Auf diese Frage wird jedoch nur eingegangen, insofern sie im jeweiligen historischen Kontext wichtig für die Rekonstruktion der Deutungsmuster erscheint.
25 Ziel ist hierbei die Charakteristika herauszuarbeiten, die das vom Staat erwünsche Verhalten der Frauen betreffen. Es geht nicht darum, eine Gruppenzugehörigkeit zu bestimmen. Es sei jedoch zu erwähnen, dass in der Zeitschrift InfoCREDIF implizit von weißen, muslimischen Frauen ohne extreme politische Einstellung ausgegangen wird.
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3.2 Der Diskurs in der Zeitschrift InfoCREDIF und die Frauenpolitik unter Ben Ali 3.2.1 Etablierung des CREDIF als Plattform von und für Frauen (1991-1993) Der Erscheinungszeitraum der ersten Gruppe der InfoCREDIF-Ausgaben ab 1991 bis 1993 deckt sich mit der Gründungszeit des CREDIF als eigenständiges Zentrum der Frauenforschung bis zu seiner Umwandlung in eine dem Frauenund Familienministerium angegliederte öffentliche Einrichtung. Abgesehen vom ähnlichen Layout der Ausgaben lassen sich inhaltlich Gemeinsamkeiten erkennen wie die Gründung und Etablierung des CREDIF, seine beginnende nationale und internationale Vernetzung sowie die pluralistische und demokratische Orientierung des Zentrums als Plattform für verschiedene tunesische Frauenorganisationen und -vereine. Viele inhaltliche Übergänge erscheinen fließend. So stellt bis 1996 die Vor- und Nachbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 ein Leitthema dar. Jedoch ändert sich 1994 sowohl das Layout als auch die Selbstpräsentation des CREDIF als national und international etablierte Einrichtung mit eigenem Sitz, die nun an das Frauen- und Familienministerium angegliedert wurde. Die erste Ausgabe der Info CREDIF Nr. 0/1991 erschien als Gründungsausgabe in schwarz-weiß und im großformatigen Zeitungsstil. Passend zum Gründungsthema findet sich auf der französischen Titelseite das Foto einer Bogenschützin mit dem Untertitel »Die Sache angehen«. Die arabischsprachige Titelseite trägt das Foto einer Frau in Abwehrhaltung, die von einem Mann geschlagen wird, mit der Aufschrift »Nein«. Beide Editorials thematisieren die Gründung des CREDIF im Jahr 1990; es gebe eine Notwendigkeit für dieses Zentrum, da bisherige Berichte über die Situation der tunesischen Frau nicht der Lebenswirklichkeit entsprächen, die Frau das Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung sei und eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft und im sozialen Leben spiele. Was fehle, sei jedoch die Sichtbarkeit der Frau, weswegen das CREDIF gegründet wurde. Das Zentrum biete allen eine Bühne, die für Pluralität und Demokratie einstehen. Die Artikel der Ausgabe behandeln ein Interview mit einer südtunesischen Soziologin, Studien zum sozialen Geschlecht in tunesischen Schulbüchern, zum Frauenbild in der tunesischen Presse und zu den Menschen- und Frauenrechten sowie die europäisch-maghrebinische Zusammenarbeit im Bereich der Frauen. Wie auch in den folgenden Zeitschriften werden zudem Neuerscheinungen der Frauenliteratur, der Studien und Aktivitäten des CREDIF sowie verschiedene Frauenorganisationen und -vereine vorgestellt.
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Die Ausgaben 01/1992 und 02/1993 ähneln einander im Layout einer bunten Zeitschrift und sind umfangreicher. Sie betonen die Errungenschaften der Frauenförderung, wie das CSP und seinen Feiertag am 13. August, ohne Bourguiba oder den von ihm eingeführten Nationalen Frauentag zu erwähnen. Sie mahnen, dass diese Errungenschaften nur dann erfolgreich sein können, wenn sich die Frau in der Zivilgesellschaft und der Kultur stark mache. Das CREDIF biete dafür einen Anlaufpunkt, da es den Frauen erlaube, über Publikationen, Konferenzen und andere Aktivitäten in ihrer Diversität öffentlich sichtbar zu werden. Zudem wird auf die Bedeutung der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 hingewiesen. Tunesien habe 1991 die internationalen Konventionen gegen sexuelle Diskriminierung unterzeichnet, nun sei es Zeit das tunesische Recht anzupassen. Dies sei die Herausforderung an die neue Regierung unter Ben Ali. Das CSP wird anschließend mit dem internationalen Frauentag am 8. März in den internationalen Kontext gestellt. Die Artikel der Zeitschrift behandeln Themen wie die Wirtschaftspolitik (der 8. tunesische Frauen- und Entwicklungsplan, Landfrauen als Zukunft der Welt bzw. die Förderungsmaßnahmen für Landfrauen, das politische Engagement der Frauen, die Rolle von Frauen in der Gewerkschaft), Recht und Bildung (Frau und Gesetz, das CSP, Tahar Haddad, maghrebinische Hochschulabsolventinnen), Gesundheit (Aids) und Familienplanung sowie Kultur (Frauenfestival, das Sagbare und Nichtsagbare in der Frauenliteratur, Neuerscheinungen, tunesische Künstlerinnen). Die Frauenpolitik wird als aktuelle Notwendigkeit dargestellt, die mit der unvollständigen Umsetzung national und international garantierter Frauenrechte in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit von Frauen begründet wird. In der Praxis konzentriert sich die Frauenförderung wie unter Bourguiba auf den ländlichen Bereich und benachteiligte städtische Räume sowie auf die Themen Bildung, Arbeit (Alphabetisierung, Berufsausbildung, alternative Zukunftsperspektiven) und Gesundheit (Geburtenkontrolle, Krankheitsaufklärung), zudem auf Maßnahmen der Sichtbarkeit der Frau in der Öffentlichkeit (Festivals, Publikationen, Forschung) und auf Demokratie, Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Dabei wird auf die Bedrohung der Frauenrechte durch reaktionäre und radikale Gruppen hingewiesen. Ein letzter Punkt ist die Internationalisierung der Frauenpolitik. In dieser Gruppe der Zeitschriften erscheint zunächst das Bild einer mehrfach belasteten Frau durch die Verstrickung traditioneller und gesellschaftlicher Rollen. Dabei werden die traditionellen Rollen als die der Ehefrau, Hausfrau und Mutter definiert und den sozialen Rollen als Arbeiterin und Angestellte gegenübergestellt. Es wird somit ein Dualismus gezeichnet, in dem die Familie für die Tradition steht und als solche der Gewerbstätigkeit in der Gesellschaft oder viel-
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leicht treffender in der Öffentlichkeit entgegenhandelt. Um diese Verstrickung zu lösen, sei es Ziel der Frauenförderung, die Mentalität auch bei den Männern zu ändern. Als Beispiele für die Frau als Opfer überkommener Tradition stehen häufig Landfrauen, die in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Gleichberechtigung gefördert werden müssen. Artikel zu diesem Thema zeigen Bilder von älteren Frauen in traditioneller Kleidung bei harter, uneffektiver Handarbeit als Bäuerinnen oder Hausfrauen. Sie lachen nicht und bilden einen Kontrast zu den stolzen Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen oder etwa den ausgelassen feiernden Künstlerinnen in moderner Kleidung ohne Kopftuch. Die folgende Karikatur zeichnet das Thema der Mehrfachbelastung treffend nach: Eine Frau in Absatzschuhen und knielangem, schwarzem Kleid zieht einen Karren, auf dem es sich der Ehemann gemütlich gemacht hat und raucht. Zwei Kinder zerren an der Mutter, das Baby schreit, das Essen kocht über. Die Frau hat einen Kochtopf auf dem Kopf und an der Deichsel des Karrens hängt eine Wäscheleine. Als Titel trägt die Karikatur die Frage »saʿīda?«, die durch die feminine Singularendung des Adjektivs eindeutig eine weibliche Person adressiert und diese fragt, ob sie glücklich sei. Abbildung 1: Karikatur mit der Frage »Glücklich?«
Quelle: InfoCREDIF, Nr. 1 (August 1992), S. 22 (arabisch)
Das durchaus ambivalente Idealbild »der tunesischen Frau« ist konstruiert als »aktive, teilhabende, sichtbare Bürgerin, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst ist und kein Kopftuch trägt. Als Beispiel gelten junge Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Verantwortliche von Frauenorganisationen und Politikerin-
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nen in moderner Kleidung. Diese Frauen sind gebildet, erwerbstätig, betreiben Geburtenkontrolle und interessieren sich für Wissenschaft, Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, Kunst und Innovationen. Als Gegenkonstruktion wird die unsichtbare, untätige bzw. uneffektiv arbeitende, sich mühende Frau kritisiert, die sich allein an den traditionellen Rollen der Ehefrau, Hausfrau und Mutter orientiert, Kopftuch trägt und ihre Töchter gleichartig erzieht. Diesbezüglich entspricht »die tunesische Frau« dem Ideal unter Bourguiba. Neu ist die Kritik am uniformistischen Ideal der Familie, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern, bzw. dem eines Lebens in der Stadt, das die Siedlungs- und Familienpolitik unter Bourguiba widerspiegelt. Im Tunesien Ben Alis soll hingegen die Pluralität der Lebensweisen von Frauen einbezogen werden. »Die tunesische Frau« weiß dennoch die Frauenförderung der Regierung wegen der Gewährleistung ihrer Rechte und im Kampf gegen die Bedrohung durch den Islamismus zu schätzen. Im Diskurs wird deutlich, wie Ben Ali sein Projekt der Frauenförderung in Abgrenzung zum Frauenbefreier Bourguiba zu etablieren sucht. Der staatliche Diskurs stützt sich auf die internationale Anerkennung und Verankerung der neuen Regierung durch die Implementierung internationalen Rechts in Tunesien, die Garantie von Pluralismus, Demokratie und Menschrechten, die Betonung der Unterzeichnung internationaler Konventionen sowie die Anerkennung internationaler Feiertage. Ziel dieser internationalen Verankerung ist auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, die durch das Freihandelsabkommen mit Europa verbessert werden sollte. Der internationale Druck in Richtung Demokratie und Pluralität sowie finanzielle internationale Anreize führten zur Gründung von NGOs und Zentren wie dem CREDIF, das sich als Plattform für die tunesische Zivilgesellschaft und Organisator von Publikationen, Konferenzen und anderen Aktivitäten im Sinne der Diversität und Pluralität darstellt. Zugleich zeigt sich auch die beginnende staatliche Vereinnahmung der neugeschaffenen zivilgesellschaftlichen Institutionen, wenn etwa die Forschungseinrichtung CREDIF ab 1992 an das Staatssekretariat für Frau und Familie angegliedert wird. Der Wahlkampf für das Wahljahr 1994 wird in den vorliegenden Ausgaben nicht thematisiert, da jedoch die Ausgabe 03/1993 oder 1994 fehlt, ist nicht auszuschließen, dass dort die Wiederwahl Ben Alis behandelt wurde. 3.2.2 Die Weltfrauenkonferenz in Peking – Das CREDIF international (1994-1996) Ab 1994 lässt sich eine zweite Gruppe abgrenzen, die bis in das Jahr 1996 reicht. Dieser Zeitraum ist geprägt von der abgeschlossenen Etablierung des CREDIF und seiner intensiven Arbeit in Vorbereitung und Nachbereitung der Weltfrau-
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enkonferenz in Peking im Jahr 1995. Das CREDIF ist nunmehr Forschungszentrum mit eigenem Sitz in Tunis-Manar und stolz, an das 1993 gegründete Frauenund Familienministerium angegliedert zu sein. Die Gründung dieses Ministeriums geschah, wie bei Bourguiba, in Vorbereitung auf eine Weltfrauenkonferenz.26 Politisch ist diese Zeit geprägt von der Unterzeichnung internationaler Menschrechtskonventionen. Ben Ali musste das tunesische Recht anpassen und beabsichtigte, sich durch Reformen als Frauenförderer zu beweisen. So wird die Gehorsamspflicht der Ehefrau im CSP gestrichen, ohne jedoch die Stellung des Mannes als Familienoberhaupt anzutasten. Ein Fond für Unterhaltszahlungen an geschiedene Frauen wird eingerichtet, Tunesierinnen können ihre Staatsbürgerschaft auf ihre Kinder übertragen. Rachemorde von Seiten des Ehemannes bei Ehebruch der Frau werden als Morde bestraft, auch Gewalt in der Ehe wird zur Straftat. Im Arbeitsrecht wird Diskriminierung strafrechtlich verfolgbar und die Schulpflicht wird bis auf das Alter von 14 Jahren ausgedehnt.27 Global erscheinen die vorliegenden sieben Ausgaben der Zeitschrift Info CREDIF28 (04/1994 bis 09/1996 mit Sonderheft zu Peking 1995) als buntes Potpourri aus verschiedenen Themen, die von bzw. für Frauen zusammengestellt wurden. Die Politik und das Regime bilden dabei nicht das Hauptaugenmerk, sie erscheinen als Unterstützer*innen der Zeitschrift. Ein Extraheft 1996 und eine Sondernummer zu Peking 1995 erscheinen in englischer Sprache. Alle Ausgaben ähneln sich im Layout und widmen sich v.a. der Weltfrauenkonferenz in Peking. Das CREDIF präsentiert sich als etabliertes Zentrum mit eigenem Sitz in Tunis und als Geschenk des Präsidenten an die tunesische Gesellschaft. Die neue Ministerin für Frauen und Familie stellt sich und ihre Politik vor. Das CSP wird wieder als Geschenk der Frauenförderung am 13. August, dem Nationalen Frauentag, gefeiert. Die Notwendigkeit der Frauenförderung wird hingegen nicht mehr so stark in den Mittelpunkt gerückt. Auf der Weltfrauenkonferenz in Peking präsentiert man das Erreichte und das CREDIF reflektiert, es habe seine Aufgabe gut gemacht.29
26 Schon unter Bourguiba wurde 1983 ein Familien- und Frauenministerium unter Leitung von Fathia Mzali, der Frau des damaligen Premierministers Mohamed Mzali, zwei Jahre von der Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985 gegründet, vgl. A.F. Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, S. 28. 27 Vgl. ebd., S. 37. 28 In arabischer Sprache heißt die Zeitschrift nun »maǧallat al-krīdīf« (dt. Zeitschrift des CREDIF) anstatt »aḫbār al-krīdīf« (dt. Nachrichten des CREDIF). 29 Vgl. InfoCREDIF, Sonderausgabe Konferenz Peking (September 1995).
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Die Artikel thematisieren zum einen Studien, die die tunesischen Frauen in ihrer Diversität darstellen; der Begriff »Frau« wird in arabischer wie französischer Sprache nun auch im Plural verwendet. Sie berichten über Unterstützungsmaßnahmen für Frauen in den Medien (junge tunesische Journalistinnen bei der Weltfrauenkonferenz) sowie in der Industrie, bei Dienstleistungen und im Finanzbereich (Miniunternehmen in Landwirtschaft, Handwerk, Handel und Transport). Über die Arbeit von Frauen auf dem Land und in klassischen Handwerkbereichen wird respektvoll berichtet. Es wird jedoch betont, dass diese Tätigkeiten einer größeren Effektivität und Wertschöpfung bedürfen. Zum anderen finden sich Artikel zu verschiedensten Themen mit dem Auftrag der Aufklärung über die Rechte und Verantwortung der Frauen in der Gesellschaft und der Problematik der Gleichberechtigung der Geschlechter. Auf diese Themen, wie die Aufgabenteilung und Verantwortlichkeiten in den Familien, Gewalt gegen Frauen, die Verantwortung der Frauen bei der Sozialisation zukünftiger Generationen oder die Problematik von Aids, Familienplanung, Ernährung oder Schwangerschaftsabbrüchen, bezieht sich der Großteil der Artikel. Als neues Thema werden die Rechte von Kindern und Jugendlichen vorgestellt und die Bemühungen der Regierung, diesen gerecht zu werden. Zudem werden Frauenpersönlichkeiten aus der Geschichte Tunesiens präsentiert, was einen Beitrag zur Sichtbarkeit von Frauen leistet. Die Thematik der Internationalisierung erweitert sich im Zuge der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 von den maghrebinischen und arabischen Staaten auf den Mittelmeerraum, Afrika und die Welt. Wie von Anfang an bietet die Zeitschrift Informationen zu regionalen Frauenvereinen, zu Kulturfestivals und Literatur. Es lässt sich nun eine Konzentration des Kulturbereiches auf Theater und Kino feststellen. Zudem gibt es eine Rubrik Humor und Werbeanzeigen für Kindernahrung, Margarine und Banken. Die Zeitschrift erscheint als buntes Magazin zum Thema Frauen, das auch einen Informations- und Bildungsauftrag der Regierung erfüllt. Die Politik der RCD und des Präsidenten werden als Förderer des Zentrums und seiner Aktivitäten präsentiert. Eine Vielzahl an Personen, Organisationen, Geschichten und Aktivitäten ergänzen sich zu einem Bild von Toleranz, Diversität, Einheit und Demokratie. Bezeichnend ist, dass verschiedene Ausgaben der InfoCREDIF in englischer Sprache erscheinen, die internationalen Repräsentationszwecken im Rahmen der Weltfrauenkonferenz in Peking dienen. Dort konnte sich Tunesien international als Vorreiter der Frauenförderung in der arabisch-muslimischen Welt etablieren. Die Frauenförderung stellt nun wieder einen festen Bestandteil der tunesischen Politik dar und das Land rühmt sich seiner Errungenschaften und bezieht einen Großteil seines Ansehens in der Welt aus der Frauenpolitik, die folglich als Staatsfeminismus zu bestimmen ist.
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Bei der Rekonstruktion der Deutungsmuster zur »tunesischen Frau« wird deutlich, dass die Mehrfachbelastung, die durch die Akkumulation alter und neuer Aufgaben entstand, kaum noch thematisiert wird. Vielmehr werden die traditionellen Frauenbilder mit ihren begrenzten weiblichen Verantwortlichkeiten kritisiert, etwa im Beispiel der Hausfrau, die das Haus selbst nicht besitzt und kein Geld für ihre Arbeit erhält30, oder dem der Frau, die nicht in ein Café geht, da dies Männern vorbehalten sei31. Diese Traditionen gelte es aufzulösen. So soll durch mehr Verantwortlichkeit mehr Gleichberechtigung erzielt werden, ohne jedoch die Zuständigkeiten als Ehefrau, Hausfrau und Mutter mit dem männlichen Pendant zu teilen. Die Mehrfachbelastung wird demnach anerkannt und das Bild »der tunesischen Frau« zeichnet eine sich ihrer gesellschaftlichen Rechte und Pflichten bewusste, selbständige, arbeitstätige und sichtbare Bürgerin, die den Verantwortlichkeiten im Bereich Familienplanung, Gesundheit, Erziehung und Pflege im Sinne des tunesischen Staates nachkommt. Dabei wird auf ein diversifiziertes Bild von Frauen in ihren familiären und gesellschaftlichen Lebenswelten Wert gelegt und alternative Bilder wie das der Taxifahrerin, der Miniunternehmerin, der ledigen Frau gezeigt. Oft dienen die Geschichten und Studien dazu, dem Staat für die Bemühungen in der tunesischen Frauenförderung zu danken. Auffällig bleibt zuletzt, dass die Rechte der Frauen und die Frauenförderung eine positive Beschreibung erfahren und die Bedrohung durch den Islamismus nicht (mehr) thematisiert wird. Die Religion spielt eine Randerscheinung im Leben der Frauen, die allenfalls bei der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine Rolle spiele.32 Fotos von Frauen zeigen Wissenschaftlerinnen, Verantwortliche, Künstlerinnen und Politikerinnen im Kostüm, Hosenanzug, Jeans oder Uniform, mit Absatzschuhen und aktuellem Haarschnitt, Frauen vom Land tragen die traditionelle Kleidung mit Rock oder bunten Wickeltüchern und lockerem Kopftuch und nur auf historischen Bildern finden sich traditionelle Kleidung mit Sefsari33 und Gesichtsschleier. Die Tradition erscheint auch in den Fotos als unzeitgemäß.
30 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 5 (August 1994) und InfoCREDIF, Nr. 6 (November 1994). 31 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 5 (August 1994). 32 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 6 (November 1994). 33 Ein Sefsari ist ein traditionelles tunesisches Wickeltuch von hell-beiger Farbe, das über der Hauskleidung getragen wird, auch den Kopf und ggf. das Gesicht bedecken kann.
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3.2.3 Autokratisierung des Regimes – Politisierung der InfoCREDIF (1996-2003) Nach der Weltfrauenkonferenz in Peking und der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Europa 1995 sah sich der tunesische Staat vor neuen Herausforderungen. Es galt, das Land auf die wirtschaftlichen Veränderungen, die das für 1998 geplante Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit Europa mit sich bringen sollte, mittels einer Umstrukturierung des Arbeitsmarktes vorzubereiten. Ben Ali legte sich, angesichts der von Europa und internationalen Unternehmen in Industrie- und Tourismusbranche geforderten Pluralität und Demokratie sowie Stabilität und Sicherheit bzw. unveränderter, sich verschärfender wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten auf eine autoritäre Staatsführung fest.34 In diesem Kontext lässt sich die dritte Gruppe der Ausgaben der InfoCREDIF (10/1996 bis 30/2003) einordnen. Von den insgesamt 22 Nummern dieser Gruppe waren 15 zugänglich. Es gibt eine englisch-arabische Sondernummer aus dem Jahr 2000 anlässlich der Konferenz »Peking +5« in New York. Auffällig ist eine zunehmende Politisierung in Richtung Regime Ben Ali. Das bisherige bunte Potpourri verschiedener Themen wird zunehmend schmaler, doch obwohl immer mehr dem Präsidenten und der RCD gehuldigt wird, finden auch andere Akteur*innen der Frauenförderung Erwähnung. Die Zeitschrift konzentriert sich auf die Aktivitäten des CREDIF, betreibt Eigenlob und präsentiert sich als staatliche Institution, die den Erziehungs-, Bildungs-, Förderungs- und Emanzipationsauftrag übernimmt. Sie feiert sich als Errungenschaft bzw. anlässlich des fünfjährigen Bestehens als »natürliche Konsequenz des Rechtsstaates unter Ben Ali« 35 sowie als wissenschaftliche Beobachtungseinrichtung, Wegweiser und Stütze der Kultur.36 Die Artikel über Kunst, Literatur oder Kino werden weniger, jedoch wird der CREDIF-Literaturpreis als Errungenschaft gepriesen, der prominent von einer RCD-Funktionärin überreicht wird.37 Die Präsentation der eigenen Aktivitäten, Publikationen und Dokumentationen stehen anstelle der Vielfalt unterschiedlicher Vereine, Studien und Personen. Die zunehmende Politisierung der Zeitschrift und Autokratisierung des Regimes zeigt sich im vermehrten Auftreten des Präsidenten Ben Ali, der Erwähnung seiner Machtübernahme, der Jasmin-Revolution am 7. November 1987, oder im Gebrauch der damit verbundenen Farbe Lila. Im geringer werdenden
34 Vgl. S. Erdle: Ben Ali’s ›New Tunisia‹ (1987-2009), S. 117-121. 35 InfoCREDIF, Nr. 10 (August 1996). 36 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 30 (August 2003). 37 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 17 (Mai 1999).
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Umfang sind die RCD, das Frauenministerium oder die UNFT erwähnt, im zunehmenden Maße Ben Ali und seine Frau Leila. Die Artikel danken diesen Figuren für die Errungenschaften der Frauenpolitik, durch die sich Tunesien zum Musterbeispiel der Frauenförderung in der arabischen Welt entwickeln konnte. Gesellschaftliche Defizite werden trotz der umfassenden staatlichen Maßnahmen eingeräumt. Sie bedürften gesellschaftlicher und privater Anstrengungen, durch die die traditionelle Unterdrückung der Frau im privaten Bereich aufgebrochen werden könne. Eine dem Präsidenten zugesprochene Maßnahme der Frauenförderung stellt die Gleichstellungspolitik38 dar, vor allem im Bereich des politischen, öffentlichen, kulturellen und sozialen Lebens. Ben Ali erhöhte den Frauenanteil in der RCD vor den Wahlen 1998 auf 20 % und 2003 auf 25 % und wird für den hohen Frauenanteil in seinem Kabinett und im Zentralkomitee des RCD gerühmt. Dieser hohe Frauenanteil wird jeweils als Beweis für Toleranz, Pluralität und Demokratie im Land angeführt. Frauen sind der andere Teil der Gesellschaft, der für einen gelungenen demokratischen Prozess einbezogen werden müsse. Sie sind der Ausgleich für die vom Staat unterdrückte Opposition. Zugleich wird die Verantwortung eines geglückten tunesischen Modells an die Frauen weitergegeben. Der Staat habe den Grundstein gelegt, nun sollen die Frauen in der Politik und Wirtschaft aktive, entscheidungstragende, verantwortliche Funktionen übernehmen, um die Zukunft zu formen, denn sonst drohe der Verlust aller Errungenschaften. Besonders werden die Maßnahmen zur Chancengleichheit thematisiert, etwa in Artikeln über alleinerziehende Elternteile, den Mentalitätswandel und die Rollenneuverteilung in Familie und Gesellschaft, die Verteilung der Finanzen in der Ehe, Schwangerschaft, Geburtenkontrolle und Menschenrechte oder das neue Ehe- und Scheidungsrecht in Tunesien (Zugewinngemeinschaft, Alimentefond). Die Diversität und Sichtbarkeit tunesischer Frauen kommt in verschiedenen Aktivitäten vor allem anlässlich des nationalen und internationalen Frauentags zum Tragen, es gibt Auszeichnungen und Ausstellungen von und für die Frauen in den Regionen, die von politischen Ent-
38 Die Betonung der Maßnahmen im Rahmen der Gleichstellungspolitik ist im internationalen Kontext zu sehen. So verstand sich die Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 als eine Evaluierung der Umsetzung von Gleichstellungsmaßnahmen. Auch in Europa, mit dem Tunesien das Freihandelsabkommen unterzeichnet hatte, wurden in dieser Zeit vermehrt Gleichstellungsmaßnahmen umgesetzt. Vgl. Klammer, Ute: »Gleichstellungspolitik: wo Geschlechterforschung ihre praktische Umsetzung erfährt«, in: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft, v. 65), Wiesbaden: Vieweg 2019.
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scheidungsträgern besucht werden. In der InfoCREDIF finden sich jeweils Abbildungen des Präsidenten bzw. seiner Frau. In der Milleniumsausgabe Nr. 1920/2000 werden Bilder von Frauen zusammengestellt, die identisch mit Bildern aus den Vorgängerzeitschriften sind. Es erscheinen kaum noch neue Studien in der Zeitschrift. Auch die Artikel im Bereich Gesundheit werden weniger und sind eher dem Bereich der Chancengleichheit zuzuordnen, wenn etwa über Erholung als Luxus für Frauen, 39 gesellschaftliche Chancen und Probleme von Seniorinnen40 oder die Sozial- und Krankenversicherung für Hausangestellte 41 geschrieben wird. Charakteristisch für diese Ausgaben ist, dass ab Nr. 17/1999 die internationale Vorreiterrolle Tunesiens in den Arabischen Ländern, Afrika oder den Entwicklungsländern sowie internationale Entwicklungen der Frauenförderung immer mehr Aufmerksamkeit finden. Sie präsentieren Tunesien als vernetzt mit der ganzen Welt und in der Tradition der internationalen Frauenrechts- und Menschenrechtsorganisationen. Das CREDIF und der tunesische Staat feiern den Internationalen Frauentag und die Menschenrechtserklärung. Tunis ist stolz, 1997 Kulturhauptstadt der Arabischen Welt zu sein. Die Welt ist zu Gast in Tunesien und lobt seine Vorreiterrolle hinsichtlich der Frauenförderung in der Arabischen Welt und Afrika. Es werden die Defizite anderer Staaten aufgezeigt oder diese für ihre beginnenden Bemühungen gelobt. Tunesien übernimmt für die arabisch-afrikanische Frauenförderung Vorbildfunktion. Die Ministerin ist in Vorbereitung auf die Konferenz »Peking + 5« in Afrika und den arabischen Ländern unterwegs. Minister*innen und Botschafter*innen besuchen Tunesien. Selbstbewusst macht das Land Vorschläge für eine Frauenförderung nach tunesischem Vorbild. Stolz zeigt sich über die Beziehungen mit Nordeuropa und Nordamerika; in Nr. 17/1999 lobt Hillary Clinton die vorbildliche Frauenpolitik Tunesiens, Leila Ben Ali und Clinton werden in identischer Rednerposition nebeneinander abgebildet, sie besuchen die staatlichen Frauenförderungsinstitutionen UNFT und CREDIF. Die Amtszeit Ben Alis ab 1995 ist geprägt von einer Politik der Zugeständnisse vor wichtigen Ereignissen wie Wahlen oder internationalen Gipfeln, sowie von Repressionen danach, die einzig der Verstetigung und der Ausdehnung der Macht des Regimes dienten. Dieses setzte sich zunehmend aus Geschäftsleuten der Entourage des Präsidenten und dessen Familie zusammen. In die RCD-
39 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 10 (August 1996). 40 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 18 (September 1999). 41 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 30 (August 2003).
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Führung erhielten nicht nur mehr Frauen Zugang, sie wurde auch verjüngt. 42 Ben Alis pulsierende Öffnungs-Repressionspolitik ließ im Zuge erleichterter Vernetzung über das Internet stetig mehr Raum für Regimekritik, welche dann mit noch härterer Hand zurückgedrängt werden musste. Gerade zu Beginn der 2000er Jahre, als verschiedene Affären im Umfeld des Regimes laut wurden und es in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 zum erneuten Irakkrieg und zu Gegendemonstrationen kam, bereitete Ben Ali das Referendum zur Verlängerung seiner Amtszeit vor. Unter den Augen zahlreicher internationaler und nationaler, auch regimekritischer zivilgesellschaftlicher Organisationen gesteht das Regime Menschenrechtsverstöße und Internetüberwachung ein, zugleich werden Regimekritiker auf offener Straße misshandelt und inhaftiert. Tunesische Medien dienten einzig der Propaganda für die Zustimmung zur Wiederwahl Ben Alis.43 Zur Wahl 1999 und zum Referendum der Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten im Mai 2002 stellt InfoCREDIF den Präsidenten Ben Ali in die Tradition großer Namen, etwa Alyssa, der Gründerin Karthagos, Thaalibi, des Pioniers der Unabhängigkeitsbewegung, und des Reformisten Tahar Haddad. Es scheint, dass dabei der Name Bourguiba vermieden wird, er findet nur einmal löbliche Erwähnung. Die als Errungenschaft gefeierten Frauenrechte werden aus gleichem Anlass direkt mit den Menschenrechten verbunden, dabei spielt die Frauenpolitik meist nur eine Nebenrolle, auch die Konvention für den Schutz von Kindern und Menschen mit Handicap wird thematisiert. Schlüsselwörter sind Modernität, Fortschritt, Globalisierung, Stabilität und im geringeren Maß Sicherheit, Demokratie, Pluralität. Die Frauen, v.a. die in Führungspositionen, müssten wachsam sein und ihre Rechte umsetzen. Immer wieder wird betont, dass diese Rechte in Tunesien ohne Ben Alis Unterstützung und Stabilität bedroht seien. Daher sei die Fortsetzung der Herrschaft Ben Alis eine Notwendigkeit. Auffällig ist, dass die Zeitschrift bis 2002 das Thema Religion nicht anspricht, weder positiv noch negativ. Es gibt Anspielungen auf die Religion, wenn auf überkommene, der Modernität abträgliche Traditionen oder bestimmte bedrohliche gesellschaftliche Faktoren verwiesen wird, dabei ist jedoch nie explizit von Religion, Islam oder Islamisten die Rede.
42 Erdle zählt für 1989 11 weibliche Deputierte, 22 für das Jahr 1993, 48 im Jahr 1999 und 66 im Jahr 2003. Für die Regionalwahlen 2005 wurden 25 % der Sitze für Politikerinnen reserviert, siehe S. Erdle: Ben Ali’s ›New Tunisia‹ (1987-2009), S. 121. 43 Vgl. ebd. S. 122-123. Noch kurz vor dem Referendum im Mai 2002 wird auf der Ferieninsel Djerba am 11. April 2002 ein Anschlag auf eine von Touristen*innen besuchte Synagoge verübt.
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Neben Maßnahmen zur Chancengleichheit ist die Amtszeit Ben Alis vor dem Hintergrund des 1998 in Kraft getretenen Freihandelsabkommens mit Europa und der Anpassung des nationalen Marktes an internationale Normen geprägt. InfoCREDIF berichtet ausführlich von Kongressen der Parteiführung über Gender und Wirtschaft in der Globalisierung, Seminare und Diskussionsrunden in den Regionen. Dabei konzentriert sie sich auf Gleichstellungspolitik für Führungspositionen in der Politik, in Medien, in Wissenschaft und Technik sowie in geringerem Maße auf die Stärkung von Frauen in ländlichen Gebieten und im Kunsthandwerk. Ab 1998 wird zunehmend die Frau des Präsidenten, Leila Ben Ali, in der Zeitschrift abgebildet. Sie findet Eingang in die staatliche Frauenförderung als Unternehmensförderin, Repräsentantin des Regimes auf verschiedenen Verkaufsausstellungen für Handwerksprodukte oder in der arabischen Welt als Vertreterin des beispielhaften Tunesiens; sie hält Reden und vergibt Auszeichnungen. Im Zuge der politischen Krisen zu Beginn der 2000er Jahre und der Auswirkungen der seit den 1990er Jahren begonnenen wirtschaftlichen Umorientierung wandten sich viele Jugendliche wegen wachsender Arbeitslosigkeit und steigender Kosten in allen Bereichen weniger Europa zu, das im Krieg gegen den Terrorismus seine eigenen Werte der Humanität verraten habe, sondern verstärkt durch die neuen Medien, wie das Internet, sowie alternative Medien, wie den internationalen arabischsprachigen Fernsehsender Al-Jazeera, in Richtung Naher Osten. Bärte und Kopftücher kamen in Mode. Diese Mode stellte ein Aufbegehren gegen die Zwänge des Regimes dar, hatte aber nur wenig Bezug zum politischen Islam. Es brachte vielmehr zum Ausdruck, dass sich ein Bewusstsein jenseits des konservativ-islamistischen und des diktatorisch-laizistischen Lagers formierte. Im Kontext des islamistischen Terrorismus deutete das Regime in der Folgezeit jedoch jeden Bart und jedes Kopftuch als islamistisches Symbol, ihr Tragen wurde in allen öffentlichen Einrichtungen verboten, kopftuchtragenden Studentinnen und Schülerinnen der Zugang in Bildungseinrichtungen untersagt sowie Lehrerinnen und Dozentinnen die Verbeamtung verweigert. 44 Nach dem Referendum bricht InfoCREDIF die Politik des Schweigens über die Religion
44 Ähnlich wie unter Bourguiba war somit das Kopftuch auch unter Ben Ali tabu. Die Wertung war jedoch unterschiedlich: Bourguiba verbannte es mit der Begründung, dass es ein Zeichen für Obskurantismus sei, der nicht ins moderne Tunesien passe. Ben Ali verbot es hingegen als stillen Protest der einfachen Bürgerinnen, die er ohne weitere Differenzierung als Staatsgegnerinnen bzw. Terroristinnen brandmarkte. Vgl. im Detail I. Khiari-Loch: »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein«, S. 104-122.
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und den Islam. Im Juli 2002 wird die Präsidentengattin als Unterstützerin Palästinas präsentiert und ruft in der InfoCREDIF Nr. 27/2002 »Im Namen Allahs, des Gnädigen und Barmherzigen« gegen die Aggressionen Israels und zur Gründung einer Hilfsorganisation für palästinensische Kinder in Jenin auf. Zugleich findet sich eine historische Studie, die das muslimische Frauenbild der eitlen Verführerin kritisiert. Dieses gelte im Tunesien der Frauenrechte unter Ben Ali als überwunden. Auch in Nr. 29/2003 findet sich das Thema Religion und Islam, wenn etwa Kritik am Irak-Krieg geübt oder dem Präsidenten und seiner Gattin zur Hadj gratuliert wird. Die dritte Gruppe der Zeitschriften konzentriert sich wie Gruppe zwei auf die Verantwortung der Frau für die Familie und Gesellschaft. »Die tunesische Frau«, nun wieder meist im Singular verwendet, wird ähnlich wie unter Bourguiba als Stütze der Gesellschaft und des Wandels sowie integraler Bestandteil der Gesellschaft betrachtet. Pathetisch titelt die Zeitschrift »Zement der Nation«, 45 »fortwährende Stütze des Wandels und festes Fundament des Erwachens und Erblühens« oder »Bollwerk des Ansehens«.46 Sie wird als verantwortliche Bürgerin dargestellt, die die Errungenschaften der Ära Ben Ali wie Freiheit, Fortschritt und Stabilität zu schätzen weiß. Dabei wird immer wieder betont, dass sie selbst aktiv werden müsse, um die Errungenschaften zu sichern. Daher wird das Idealbild einer stolzen, bewussten, regierungstreuen und wachsamen Partnerin des Staates in Sachen Familie und Nation konstruiert. Die Attribute wie gebildet, aktiv, erwerbstätig, sichtbar und kreativ in Kultur, Wissenschaft, Technologie, Kultur, Kunst und Sport, in moderner Kleidung bzw. mit lockeren Kopftüchern allenfalls bei älteren Hausfrauen oder einfachen (Land)Arbeiterinnen, bleiben. Betont werden jedoch die entscheidungs- und verantwortungstragenden Funktionen der Frau in Politik und Wirtschaft als Unternehmerin, Ministerin, Führungskraft, Richterin, Polizistin, Soldatin, Wählerin, Wissenschaftlerin, Chemikerin, Bauarbeiterin, Kamerafrau, Sportlerin. Verantwortungstragend sind auch die Alleinerziehende, Seniorin oder Schülerin. Ihre Diversität wird nun im Kampf aller tunesischen Frauen für Heimatland und Nation vereint. »Die tunesische Frau« ist eine Heldin wie Alyssa, eine Unabhängigkeitskämpferin für die Rechte der Frau. Selbst die Frauen auf dem Land und die Frauen im häuslichen Handarbeitssektor werden als verantwortlich dargestellt: Das Bild einer Korbflechterin findet man mit dem Untertitel »Die Arbeit
45 Original: »ciment de la nation«, InfoCREDIF, Nr. 14 (Mai 1998), S. 5 (französisch). 46 Original: »al-mar’a sanad dā’im li-t-taġayyur wa muqawwim ṯābit li-n-nahḍa wa al’izdihār« sowie »wa ḥiṣn min ḥuṣūn al-ʿizza«, InfoCREDIF, Nr. 18 (September 1999), S. 4 (arabisch).
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der Frau auf dem Land unterstützt den Mann für die Sicherung einer besseren Zukunft«47 oder eine auf dem Feldrand Pflanzengift sprühende Bäuerin mit dem Untertitel »Die Bemühungen der tunesischen Frau in der landwirtschaftlichen Arbeit stellt eine der Sicherheiten für die Entwicklung des Sektors dar«. 48 Das neue Gegenbild wird nun außerhalb des Vorzeigemodells Tunesien gesucht. Historisch gesehen im Tunesien vor der Unabhängigkeit, etwa in einer Studie in Nr. 22/2001 zur tunesischen Frau 1875 bis 1930, deren Leben geprägt war von religiöser Unterdrückung, Hochzeit und Verstoßung, oder in anderen Ländern der Arabischen Welt, die keine engagierte Frauenförderung nachweisen können. Tunesien habe diese überkommenen Vorstellungen überwunden. »Die tunesische Frau« sei die Vorreiterin in der Arabischen Welt. Ihre verbesserte Situation gefährde dennoch nicht den Zusammenhalt der Familie, in Nr. 29/2003 werden Frau, Familie und Kinder als »heilige Trilogie« 49 präsentiert. 3.2.4 Autokratie des Präsidenten und seiner Frau – InfoCREDIF im Dienste des Präsidentenpaars (2005-2010) Das geglückte Referendum und das weltweit gestiegene Sicherheitsbedürfnis ermöglichten Ben Ali nach 2002 die persönliche Autokratie. Vor allem nach den Wahlen 2004 entwickelte die Familie dynastische Ambitionen. Die Privatisierung in bisher staatlich dominierten Bereichen, beispielsweise Medien, Kommunikation, Bildung oder Luftfahrt, kam den Geschäftsleuten aus dem Umfeld der Familie Ben Ali zugute. Diese Business-Elite wird zunehmend auch in die Partei RCD integriert. In der Partei gibt es nunmehr eine mögliche Nachfolgeperson auf den Präsidenten und es entsteht sein privater Sicherheitsapparat. 2005 wird Ben Alis erster Sohn geboren. Daraufhin tritt Ben Alis Frau Leila sehr prominent in Erscheinung und übernimmt gerade im Bereich der Frauenpolitik zahlreiche repräsentative Funktionen.50 Die vierte Gruppe der Ausgaben von InfoCREDIF (31/2005 bis 40/2010) war schwer zugänglich, von insgesamt zehn Ausgaben konnten nur drei durchgesehen werden. Die Zeitschriften sind geprägt von den Gesichtern und Namen des Präsidenten und seiner Frau. Es zeigt sich ein deutlicher Personenkult um das Präsidentenpaar. Andere Akteur*innen der Frauenförderung verschwinden.
47 Original: »ʿamal al-mar’a ar-rīfīya mušāraka li-r-raǧul min aǧli ḍamān mustaqbal ’afḍal«, InfoCREDIF, Nr. 24 (September 2001), S. 64 (arabisch). 48 Original: »maǧhūd al-mar’a at-tūnisīya fī l-ʿamal al-filāḥī ṯābit min ṯawābit taṭwīr alqiṭāʿ«, ebd., S. 66. 49 Original: »la trilogie sacrée«, InfoCREDIF, Nr. 29 (März 2003), S. 2 (französisch). 50 Vgl. S. Erdle: Ben Ali’s ›New Tunisia‹ (1987-2009), S. 125-128.
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Die Ausgaben erscheinen in einem ganz neuen Design, das mit der Farbe Lila arbeitet. Zudem ist der arabische Teil viel umfangreicher als der Französische; es scheint, dass es mehr ursprünglich arabisch geschriebene Artikel gibt, die für den französischen Teil als Zusammenfassungen aufbereitet wurden. Obwohl nur wenige Ausgaben zur Verfügung standen, ließen sich über Abbildungen aller Zeitschriften dieser Gruppe in Nr. 40/2010 die auffälligen Gemeinsamkeiten bestätigen. Alle haben den gleichen Stil, sie zeigen auf den Titelbildern ausschließlich den Präsidenten oder seine Frau als Redner oder Rednerin bzw. bei Preisverleihungen. In den Artikeln geht jedes Anzeichen von Pluralismus verloren. Berichtet wird von Reden und Aktivitäten des Präsidentenpaars, des Frauen-, Familien, Kinder- und Seniorenministeriums, des CREDIF und im geringen Maß der UNFT. 2006 verkommen selbst letztere Akteur*innen zu dankenden Statist*innen. Das Editorial wird nunmehr von der Ministerin für Frauen, Familie, Kinder und Senioren und nicht mehr von der Leiterin des CREDIF verfasst. In den Zeitschriften dominieren großformatige Bilder des Präsidentenpaars. Lange Texte in sehr kleiner, enger Schrift sind keinesfalls lesefreundlich. Ab 2006 werden in diesen Texten jeweils der Name des Präsidenten und der seiner Frau sowie deren Wiederaufnahme mittels Titelbezeichnungen wie »Staatspräsident«, »Staatschef«, »Präsidentengattin« oder »Erste Dame Tunesiens« fett geschrieben. Diese heben sich neben der Überschrift vom eintönigen Text ab, fünf bis zehn Mal pro Seite. Die Ausgaben beginnen zudem nicht mehr mit Editorial und Inhalt, sondern jeweils mit einer Rede des Präsidenten bzw. seiner Frau. Alles wirkt wie eine Übernahme der Zeitschrift durch das Präsidentenpaar und spiegelt die autokratische Herrschaft des Präsidenten wider. Der Präsident und seine Gattin werden zu den Vorzeigetunesier*innen, zu DEM tunesischen Mann und DER tunesischen Frau. Inhalte verlieren sich in politische Floskeln, Tunesien dankt, ist stolz, verteilt und erhält Preise. InfoCREDIF berichtet ausführlich darüber, wenn Ben Ali die Goldmedaille der italienischen Universität Cagliari für seine humanistische Vision51 oder den Preis der Organisation Arabischer Frauen (OFA) für seinen Einsatz in der Frauenförderung 52 erhält. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des CSP wird Ben Ali mit einer Richterin bei einer Danksagung53 abgebildet. Seine Frau Leila erhält den Preis der Weltorganisation der Unternehmerinnen in Afrika,54 von einer italienischen Friedensorganisation 2005 einen Friedenpreis für ihre Unterstützung im Beitrag der tunesischen Frau zur
51 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 31 (Juli 2005). 52 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 40 (Januar 2010). 53 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 34 (August 2006). 54 Vgl. ebd.
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Entwicklung und Modernisierung,55 wird im März 2009 Präsidentin der OFA56 und von selbiger Organisation für ihr bedeutendes Engagement in der authentischen Modernisierung der arabischen Gesellschaft ausgezeichnet. 57 Sie vergibt den Preis für die beste arabische Medienproduktion über arabische Frauen 58 sowie zahlreiche Auszeichnungen für Mini-Unternehmerinnen. Abbildung 2: Leila Ben Ali als Präsidentin der OFA
Quelle: InfoCREDIF, Nr. 40 (Januar 2010), Titelblatt (französisch)
Argumentiert wird auf nationaler wie internationaler Ebene, dass das Tunesien Ben Alis nach dem Umsturz des 7.11.1987 eine Vorreiterrolle innehalte, da die gelebten Frauenrechte zeigen, wie menschenrechtstreu und demokratisch Tunesien sei. Garant dafür sei Ben Ali, der Tunesiens Identität, mit ihrer tiefen Verankerung von Frauen- und Menschenrechten, Toleranz, Demokratie und Gleichheit, gegen jegliche Form von Angriffen schütze. Da das tunesische Modell als authentische, ureigene zivilisatorische Kreation und Vorzeigemodell vollkommen erscheint, wird nunmehr das Projekt der Förderung der Frau in anderen Ländern in Angriff genommen. InfoCREDIF Nr. 31/2005 berichtet darüber, dass Tunesien Weiterbildungstagungen in afrikanischen Staaten organisiere oder die 55 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 31 (Juli 2005). 56 InfoCREDIF zeigt auf dem Titelbild Leila Ben Ali auf dem Podium der OFA im Hintergrund die Flaggen der arabischen Mitgliedsstaaten und im Vordergrund groß das Schild mit dem Titel »Präsidentin«. Vgl. InfoCREDIF, Nr. 40 (Januar 2010). 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 34 (August 2006).
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Frau des südafrikanischen Präsidenten und die afro-asiatische Anwaltsunion der tunesischen Frau eine führende Position auf afrikanischem und arabischislamischem Niveau bescheinigen. Anlässlich des Weltgipfels der Informationsgesellschaft 2005 in Tunis, für den auch InfoCREDIF warb, gab es wieder Amnestien und Zugeständnisse des Präsidenten, wie die Schaffung einer Beraterkammer und die Zulassung kleinerer Parteien. InfoCREDIF titelt zur Kommunalwahl in Nr. 31/2005 »Ein Fest der Demokratie« mit dem Bild des Präsidentenpaares an der Wahlurne. Über konkrete Maßnahmen der Frauenförderung finden sich hingegen immer weniger Artikel, die etwa über Seminare und Konferenzen zu den Möglichkeiten des Frauen-Empowerments für die Regionalentwicklung Tunesiens oder über die Rechtsund Chancengleichheit tunesischen Frauen im Arbeitsbereich berichten. Eine Reihe von Workshops sei in acht Gouvernoraten des Landes vom CREDIF organisiert und die Ergebnisse anschließend auf einer Tagung mit dem Minister für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit präsentiert worden. Wenige wissenschaftliche Studien finden den Weg in die Zeitschrift, etwa zum Tasfih 59 oder zum System der Menschenrechte in Tunesien, die betont, dass universelle Werte der Menschenrechte60 Raum für Eigenheiten lassen. Es gibt auch eine historische Studie über die Frauenrechte in Tunesien 61 seit der reformistischen Bewegung.
59 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 31 (Juli 2005). In Tunesien ist das Tasfih (arab. taṣfīḥ) ein magisches Ritual, das bei jungen Mädchen durchgeführt wird, um ihre Jungfräulichkeit bis zu ihrer Hochzeit zu schützen. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. InfoCREDIF, Nr. 34 (August 2006).
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Abbildung 3: »Mit Ben Ali eilt Tunesien von einem Erfolg zum anderen«
Quelle: InfoCREDIF, Nr. 40 (Januar 2010), S. 2 (arabisch)
Zur gleichen Zeit verschärften sich die Repressionen. Die hohe Arbeitslosigkeit und die steigenden Lebenshaltungskosten kombiniert mit den Privatisierungen zugunsten des Regimes führten immer wieder zu Ausschreitungen, wie die in der Phosphatminenregion bei Gafsa 2008, die mit der erneuten Wahl Ben Alis zum Präsidenten im Jahr 2009 zusammenfielen. Die Demonstrationen wurden verschwiegen oder abgetan und gewaltsam unterdrückt. 62 InfoCREDIF zeichnet noch in Nr. 40/2010 das Bild des erfolgreichen Vorzeigemodells Tunesiens. Ben Ali sei ein Mann der Realisierung gehaltener Versprechen, im neuen Programm des Präsidenten stelle man sich gemeinsam den Herausforderungen. Das tunesische Modell mit der Frau als aktiver Partnerin in Familie und Gesellschaft bringe authentische arabische Werte in Einklang mit nachhaltiger globaler Entwicklung. Tunesien sei das beste Beispiel für diesen Erfolg. 2009 wird Leila Ben Ali Präsidentin der OFA. InfoCREDIF Nr. 40/2000 rühmt sie als eine Vertreterin von Humanität, Entwicklung und Engagement. Sie gründet als Präsidentin der OFA ein Forschungszentrum für soziale und politische Gesetzgebung, das die Bedingungen für Frauen in arabischen Ländern untersucht, eine Kommission der Arabischen Frau für internationale Menschenrechte und ruft gegen Gewalt an Frauen in arabischen Gesellschaften auf. Auf dem Treffen der OFA in Tunis zum Thema »Arabische Frau – Exzellenter Partner einer nachhaltigen Entwicklung« 62 Vgl. S. Erdle: Ben Ali’s ›New Tunisia‹ (1987-2009), S. 125-128.
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berichten die Vertreter aus 16 Ländern über die Stellung der Frau im jeweiligen arabischen Land. Tunesien wird dabei vor allem in der Ära Ben Ali als Vorzeigemodell gerühmt. Die Deutungsmuster »der tunesischen Frau« gleichen denen in der dritten Gruppe. Sie ist aktiv, arbeitstätig, aktivistisch, kreativ, Bürgerin, die Entscheidungen und Verantwortung trägt, Partnerin im Familienleben und im nachhaltigen globalen Entwicklungsprozess, in ihrer Diversität staatlich unterstützt und entwickelt, erobert Männerdomänen der Naturwissenschaft, Wirtschaft, Politik und Technologie. Argumentiert wird wie in der dritten Gruppe, dass Tunesien ideale Bedingungen für die Frauen geschaffen habe, die es nun zu nutzen und zu bewahren gelte. »Die tunesische Frau« ist Symbol der Modernität und Familie, Stütze des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und feste Stütze der Zivilgesellschaft. Sie exportiert das Erfolgs- und Exzellenzmodell Tunesiens in die Arabische Welt und die afrikanischen Staaten. Auffällig im Vergleich zu den früheren Ausgaben ist jedoch, dass nun neben den »idealen Frauenförderer« Ben Ali als Idealbild »der tunesischen Frau« die Präsidentengattin gestellt wird. Sie überschattet alle Ministerinnen und anderen engagierten Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
4. SCHLUSSBETRACHTUNG: PLURALITÄT, UNIFORMISMUS UND ELITARISMUS – DER DISKURS DES TUNESISCHEN STAATSFEMINISMUS Es lässt sich festhalten, dass auch in der Ära Ben Ali Frauenbelange von großem staatlichen Interesse waren, Frauen gefördert wurden, ihnen neue Chancen ermöglicht wurden, ohne bestehende Geschlechterverhältnisse fundamental zu verändern. Es herrschte durchgängig ein Staatfeminismus vor. Dieser Staatsfeminismus diente jedoch nicht mehr, wie unter Bourguiba, der Modernisierung des Landes, er war bloße Maskerade. Frauen standen dabei stellvertretend für alle benachteiligten Gruppen, deren Teilhabe am öffentlichen Leben in einer pluralistischen Gesellschaft und einem demokratischen Staat gesichert werden sollte. Ben Ali wandte sich im Namen der Menschenrechte zunächst gegen die Diskriminierung von Frauen, dann gegen die von Frauen und Kindern und schließlich gegen die von Frauen, Kindern und Senior*innen, ersichtlich wird das auch an der Entwicklung des Namens zum Frauen-, Familien-, Kinder- und Seniorenministerium. In Tunesien kam diesen Bevölkerungsgruppen, solange sie keine regierungskritischen Einstellungen vertraten, die notwendige Toleranz eines demokratischen Systems zu. Die Förderung und die Einhaltung der Frauenrechte
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sollten die Menschenrechtsverletzungen und den Mangel an Demokratie verdecken. Trotz allem bleibt der Fakt, dass Ben Ali die Bedingungen tunesischer Frauen praktisch verbesserte, v.a. durch die Reformen des CSP zu Beginn seiner Amtszeit sowie durch die Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen in der Regierung, der Partei, den regimetreuen Kulturorganisationen, in der Wissenschaft und der Wirtschaft. Ben Alis Frauenförderung konzentrierte sich zudem, wie unter Bourguiba, dessen Rolle in der Frauenförderung in der InfoCREDIF nur selten Erwähnung findet, auf die Bereiche Bildung, Gesundheit und Familienplanung. Der Bereich der patriarchalischen Strukturen innerhalb der Familie wurde durch die CSP-Reformen berührt, die Umsetzung jedoch weitestgehend im Privaten belassen. Das Regime feierte vielmehr seine frauenpolitischen Maßnahmen und bemängelte, dass diese in der Gesellschaft nur ungenügend umgesetzt wurden, weshalb sich die patriarchalischen Strukturen verstetigten. Mit Weber lässt sich für diese Zeit folgende Bilanz ziehen: Erfolgreich war die Frauenförderung im Bildungsbereich, insofern beide Geschlechter gleich eingeschult wurden, sowie in der erreichten Selbstverständlichkeit von Verhütungsmitteln und von Erwerbsarbeit für Frauen. Frauen gingen dennoch weniger als Männer einer Anstellung nach, die zudem bestimmten Sektoren, wie der Textilindustrie oder Erziehungs- und Pflegeberufen zugeordnet werden konnte. Die vom Regime propagierte Förderung der Frauen in der Politik führte zu zahlenmäßigen Zuwächsen, Führungspositionen seien jedoch kaum weiblich besetzt gewesen und falls doch, dann nur für repräsentative Zwecke. Es fänden sich immer noch in der Verwandtschaft arrangierte Ehen, besonders für weibliche Familienmitglieder. Voreheliche sexuelle Beziehungen für Frauen seien tabu, ebenso die Thematik der ehelichen Gewalt. Selbst im öffentlichen Bereich, in dem Frauen quantitativ stark vertreten seien, arbeiteten sie meist als einfache Angestellte.63 Im Diskurs zur Frauenförderung der InfoCREDIF werden kontinuierlich der Kampf um Frauenrechte als Menschenrechte, Gleichberechtigung und Chancengleichheit als Anstrengungen der staatlichen tunesischen Frauenpolitik und seltener als zivilisatorische Leistung aller tunesischen Bürger*innen thematisiert. Der Wandel in den gesellschaftlichen Strukturen wird als Fortschritt in allen Bereichen dargestellt. Dabei wird das Thema Religion bis 2005 großzügig ausgespart bzw. als traditionelle, familiäre Problematik umschrieben. Die anfänglich
63 Vgl. A.F. Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, S. 40-41.
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als Notwendigkeit dargestellte staatliche Frauenförderung, wandelte sich ab 1994 in die Präsentation der Errungenschaften und 1996 zur Mahnung an die Verantwortung der Frau, für den Erhalt der Privilegien zu kämpfen, die nur durch das Regime Ben Ali garantiert werden könnten. Ab 2005 gipfelt diese Entwicklung in Regimepropaganda und den Personenkult um das Präsidentenpaar. Bedeutend ist auch die zunehmende Internationalisierung der Frauenförderung. Was als Finanzierungslösung und pluralistisches Indiz begann, wandelte sich in ein Vorzeigemodell. Tunesien sieht sich nach Peking 1995 in der Vorreiterrolle der Frauenpolitik in Afrika und dem Nahen Osten. »Die tunesische Frau« wird durchgehend als moderne, arbeitstätige, aktive Bürgerin dargestellt. Dabei wird die Arbeitstätigkeit von Frauen im Sinne der Darstellung alternativer Handlungsräume behandelt und Frauen als Taxifahrerinnen, Fischerinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Soldatinnen, Politikerinnen o.ä. präsentiert. Der Staat unterstützt diese Frau als Mini-Unternehmerin oder Kulturschaffende. Die Frau sei die Stütze der Gesellschaft und trage Verantwortung für die Zukunft Tunesiens, die das Regime Ben Ali ermöglicht. Ihre Pluralität und Diversität werden vor internationalen Konferenzen, wie der in Peking 1995, betont. Insgesamt lässt sich für die Zeitschrift InfoCREDIF eine zunehmende Spezialisierung des Diskurses feststellen: Anfangs erscheint der Diskurs mit seinen breitgefächerten Inhalten offen, später spezialisiert er sich in Richtung wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Themen, um schließlich in RegimePropaganda zu enden. Der Diskurs der Frauenförderung in InfoCREDIF war in zweierlei Hinsicht elitär: zum einen, weil das CREDIF von Anfang an die elitäre Stellung eines Forschungszentrums einnahm, zum anderen, da das CREDIF im Zuge der Autokratisierung immer stärker von Funktionären der RCD bzw. der Führungselite des Regimes vereinnahmt wurde. Daran schließen direkt die Gründe für die ablehnende Haltung vieler Tunesier*innen gegenüber der staatlichen Frauenförderung an. Zuerst ist der Frage nachzugehen, welche Frauen im öffentlichen Frauendiskurs Tunesiens unter Ben Ali zu Wort kommen, der durch eine direkte staatliche Einflussnahme dem staatlichen Diskurs gleichkommt. 64 InfoCREDIF stellte zunächst eine Plattform für verschiedene Akteur*innen dar, war am Ende jedoch reine Projektionsfläche für das Präsidentenpaar. In der Zwischenzeit diente die Frauenförderung zur Wahrung des pluralistisch-demokratischen Anscheins trotz der Menschenrechtsver-
64 Als weiterführende Literatur zu diesem Thema vgl. Weber (ebd.), die die Beziehung zwischen Staatsfeminismus und autonomer Frauenbewegung in Tunesien in den 1990er Jahren analysiert.
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letzungen und Unterdrückung von Oppositionellen im autokratischen Regime. Zudem wurden für die Bevölkerung bedeutende Themen, wie die Religion oder die Benachteiligung der Frauen im Alltag, nicht thematisiert. Stattdessen wurde auf die Verantwortung der Frauen selbst verwiesen. Ab 1998 und im enormen Ausmaß ab 2005 tritt die unbeliebte Frau des Präsidenten, Leila Ben Ali, als Unterstützerin tunesischer Frauen auf, zunächst im Wirtschaftsbereich, später als Vertreterin zahlreicher repräsentativer Funktionen. 2009 wird sie oberste Frau der Arabischen Liga als Präsidentin der OFA. Gerade sie und ihre Familie waren mit Vorwürfen der Korruption, des Klientelismus und Nepotismus behaftet, was dem Ansehen des Präsidentenpaares und seiner Politik schadete. Dass die in der Bevölkerung so unbeliebte Frau des Präsidenten zum Ideal der tunesischen Frau erhoben wurde, führte aber weder zu ihrer höheren Popularität noch zu einem positiven Ansehen der Frauenpolitik. Dem international anerkannten Vorzeigeprojekt der Frauenförderung begegnete die tunesische Bevölkerung meist mit Resignation oder Ablehnung: Das konservative Lager lehnte die säkularistische Frauenpolitik ab, da sie an den traditionellen Geschlechterkonstruktionen rüttelte. Das regimekritische Lager kritisierte den Staatsfeminismus wegen der staatlichen Vereinnahmung, die jegliche Form differenzierter Befürwortung als Regimetreue uminterpretierte. Selbst die unpolitischen Tunesier*innen fühlten sich unwohl bei dem Gedanken, sich mit der unbeliebten Frau des Präsidenten identifizieren zu müssen. Auf dem Höhepunkt der Regimepropaganda in der InfoCREDIF im Jahr 2010 bahnten sich der Umbruch und der Sturz des Regimes an.
Geschlecht in Tunesien in öffentlichen Diskursen und sprachlichen Alltagspraktiken
Geschlechterkonstruktionen in Verpackungsaufschriften von Haushaltspflegeprodukten Moez Maataoui
1. EINLEITUNG Im heutigen Tunesien ist die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in der neuen Verfassung von 2014 (Art. 21 und Art. 46) verankert 1 und durch die relativ hohe Präsenz von gut ausgebildeten Frauen an Universitäten, in Wirtschaft und Politik, die als Ergebnis der seit Mitte der fünfziger Jahre verfolgten Modernisierungspolitik gilt,2 bekräftigt. Nichtsdestotrotz herrscht in der tunesischen Gesellschaft nach wie vor ein traditionelles Geschlechterverhältnis, das die Haushaltsarbeit und die Kinderbetreuung in erster Linie den Pflichten der Frauen zuschreibt. Es wird hier davon ausgegangen, dass kommunikative Praktiken diese Wirklichkeit nicht nur widerspiegeln, sondern auch sprachlich konstruieren und verbreiten, denn »[m]it Sprache werden Geschlechterverhältnisse etabliert, repräsentiert, gerechtfertigt und reproduziert«.3 In Tunesien richten sich Hersteller*innen von zu den Konsumartikeln des täglichen Gebrauchs gehörenden Haushaltswaren wie etwa Reinigungs- und 1
Vgl. Verfassung der Republik Tunesien, 26. Januar 2014. Online unter: https://www. kas.de/c/document_library/get_file?uuid=78440ca0-cee2-4369-7ed6-7f248127d3c0& groupId=272546 vom 08.06.2019.
2 3
Vgl. dazu den Beitrag von Ina Khiari-Loch in diesem Band. Spieß, Constanze/Reisigl, Martin: »Noch einmal: Sprache und Geschlecht – Eine Thematik von bleibender Aktualität«, in: Martin Reisigl/Constanze Spieß (Hg.), Sprache und Geschlecht. Band 2: Empirische Analysen (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), 91), Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2017, S. 9-33.
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Waschmittel nicht selten auf den Verpackungsaufschriften ihrer Produkte ausdrücklich an weibliche Personen. Auf Verpackungen liest man u.a. Empfehlungen für die richtige Anwendung eines Produktes. Diese Tipps auf Verpackungen von auf dem tunesischen Markt angebotenen Produkten bestehen oft aus kurzen aneinandergereihten Sätzen im Modus des Imperativs mit einem instruktiven Sprechakt und sprechen bisweilen durch den Gebrauch des Imperativs explizit weibliche Personen als Adressatinnen an. Eine solche Differenzierung zwischen einer weiblichen und einer männlichen Person ist im Sprachsystem des Standardarabischen, das die Imperativform mit der 2. Person Singular Femininum aufweist, möglich. Das Ziel der vorliegenden sprachkritisch orientierten Untersuchung besteht darin, die Häufigkeit derartiger im öffentlichen ökonomischen Diskurs vorkommender Sprachmittel durch das Sammeln und Auswerten von Verpackungsaufschriften von Reinigungs- und Waschmitteln empirisch zu erkunden. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Gebrauch dieser Sprachmittel sexistische, »herkömmliche Geschlechterrollen befürwortende«4 Handlungsmuster darstellt, die keinem geschlechtergerechten Sprachgebrauch folgen, und dass man nach anderen Alternativformen suchen sollte. Anhand der Analyse von Verpackungsaufschriften von Reinigungs- und Waschmitteln wird der Versuch unternommen, folgende Fragen zu beantworten: Wie häufig kommt die geschlechtsspezifische sexistische Imperativform mit der 2. Person Singular Femininum vor und welche Funktionen hat sie? Von welchen anderen verfügbaren Ausdrucksformen wird Gebrauch gemacht und inwieweit können sie als Alternativen für die kritisierte Form betrachtet werden? Durch die Beantwortung dieser Fragen will der vorliegende Aufsatz einen Beitrag zu der Erforschung des Themas des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs leisten, das bisher »im arabischsprachigen Raum weder in der gesellschaftspolitischen Debatte über Frauenrechte noch in der sprachwissenschaftlichen Literatur zum Verhältnis von Sprache und Geschlecht von Relevanz ist.« 5
4
Eckes, Thomas: »Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3., erweiterte und durchgesehene Auflage (= Geschlecht und Gesellschaft, Band 35), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 178-189.
5
Sahel, Said: »Die sprachliche Realisierung von geschlechtsspezifischer und geschlechtsübergreifender Referenz im Standardarabischen«, in: Martin Reisigl/Constanze Spieß (Hg.), Sprache und Geschlecht. Band 1: Sprachpolitiken und Grammatik
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2. VERPACKUNGSAUFSCHRIFTEN VON HAUSHALTSPFLEGEPRODUKTEN Verpackungsaufschriften von Haushaltspflegeprodukten können anhand der hierarchischen Stufung von Text-Klassen von Heinemann und Heinemann6 als eine Textsortenvariante der Textsorte Verpackungsaufschrift betrachtet werden, die dem Text-Typ der Alltags-Texte7 untergeordnet werden kann: Abbildung 1: Hierarchische Stufung von Text-Klassen nach Heinemann und Heinemann
Für die Textsorte Verpackungsaufschrift hat sich die bisherige linguistische Forschung wenig interessiert. Steves’ Dissertation »Verpackungsaufschriften als Text – eine linguistische Analyse«,8 auf die hier Bezug genommen wird, zählt zu den wenigen linguistischen Arbeiten, die sich dieser Textsorte widmen. Steves begründet das fehlende Interesse seitens der Linguistik für diese Texte mit der Tatsache, dass »die Verpackung eines Produktes Teil einer absatzwirtschaftlichen Strategie ist, die zum Verkauf der Ware beitragen soll.« 9 Damit gehören Verpackungsaufschriften vor allem zum Gegenstandsbereich der Produzent*in-
(= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), 90), Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2017, S. 213-240. 6
Vgl. Heinemann, Margot/Heinemann, Wolfgang: Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs (= Reihe Germanistische Linguistik 230), Tübingen: Niemeyer 2002, S. 143.
7
Fandrych, Christian/Thurmair, Maria: Textsorten im Deutschen. Linguistische Analysen aus sprachdidaktischer Sicht, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2011, S. 325.
8
Vgl. Steves, Sonja: Verpackungsaufschriften als Text – eine linguistische Analyse, BoD – Books on Demand 2000, S. 153.
9
Ebd., S. 17.
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nen von Verpackungen, nämlich Techniker*innen, Designer*innen und Betriebswirt*innen.10 Man findet Verpackungsaufschriften an unterschiedlichen Stellen auf Produktverpackungen. Sie richten sich in einer öffentlichen Kommunikationssituation an eventuelle Verbraucher*innen in schriftlicher Form, folgen einer monologischen Kommunikationsrichtung und stellen keinen unmittelbaren Kontakt zwischen den Kommunikationspartner*innen her.11 Verpackungsaufschriften dienen in der Regel der Vermittlung von Werbeund Informationsinhalten an Rezipient*innen, wie etwa Namen des Produktes und des herstellenden Unternehmens, Gattungsbezeichnung, Benutzungsempfehlungen, Inhaltsstoffangaben, knappe Werbetexte oder Entsorgungshinweise. 12 Auf der kommunikativ-pragmatischen Ebene werden Verpackungsaufschriften verschiedene kommunikative Funktionen zugeschrieben, wobei die Informations- und Appellfunktion als dominierend gilt. Die Appellfunktion in dieser Textsorte lässt sich in eine indirekte und eine direkte Variante teilen. Die erste Variante zielt durch den Einsatz sprachlicher und nicht sprachlicher Mittel darauf ab, die Rezipient*innen meist durch indirekte Aufforderungssignale zum Kauf des Produktes zu veranlassen. Die zweite Variante mit direkten Aufforderungen, die sich vor allem Imperativ- und Infinitivkonstruktionen bedienen und in den Textteilen mit Benutzungsempfehlungen und Entsorgungs- bzw. Sicherheitshinweisen zu finden ist, teilt die Textsorte Verpackungsaufschrift mit den Textsorten Gebrauchsanweisung, Bedienungsanleitung und Kochrezept. »In der Forschung wird diese spezifische Ausprägung der Appellfunktion in Arbeits-, Handlungs- und Gebrauchsanleitungen durch den Begriff der Instruktion zu kennzeichnen versucht.«13 Ähnlich wie bei Gebrauchsanweisungen und Bedienungsanleitungen haben Verpackungsaufschriften noch eine Kontaktfunktion, »die sich in der persönlichen Ansprache des Adressaten oder werbesprachlichen produktaufwertenden Aussagen äußert«.14 Diese kontaktherstellenden Aussagen be-
10 Ebd. 11 Vgl. Brinker, Klaus/Cölfen, Hermann/Pappert, Steffen: Linguistische Textanalyse – Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden (= Grundlagen der Germanistik, 29), 8., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2014, S. 141. 12 Vgl. S. Steves: Verpackungsaufschriften als Text, S. 159 f. 13 K. Brinker/H. Cölfen, Hermann/S. Pappert: Linguistische Textanalyse, S. 111 (Hervorhebung im Original). 14 Grossmann, Simone: »Die Textsorte ›Spielanleitung‹: Eine textgrammatische Analyse unter besonderer Berücksichtigung von DaF-Lehrwerken«, in: German as a Foreign
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trachtet Dieter Möhn als »eine Folge der nicht individuellen Rezeptionssituation, durch die die räumliche, zeitliche und sachliche Distanz überwunden und somit der ausbleibende persönliche Kontakt kompensiert wird.«15 Kennzeichnend für diese Textsorte ist zudem die Interaktion zwischen Text und Bild. Häufig findet man Abbildungen, die »Verwendungserläuterungen visuell unterstützen sollen«,16 wie etwa Piktogramme für Sicherheitshinweise, oder solche, die »ausschließlich der Produktwerbung dienen«, 17 wie beispielsweise die Abbildung der als Ikone der Werbung geltenden Kuh auf hellviolettem Hintergrund auf Verpackungen der Schokoladenmarke Milka. Schließlich können Verpackungsaufschriften auch einiges über die Kultur einer Gesellschaft verraten, wie das folgende Zitat der Marktforscherin Helene Karmasin verdeutlicht: »Packungen stellen exemplarische Beispiele für das Phänomen der verdichteten Kommunikation dar: verdichtet in Raum und Zeit. Dies können sie nur, weil sie in großem Umfang von unserem kulturellen Wissen Gebrauch machen: also von unserer Art zu denken, zu klassifizieren, zu bewerten, von unseren Überzeugungen, Erfahrungen, Sehnsüchten, Konzeptionen des Wünschenswerten, von dem, was wir wissen und zu wissen glauben. Sie sagen also viel über die Gesellschaft aus, in der wir leben, und sie sind ein sehr interessantes Medium, weil sich hinter ihrer einfachen Oberfläche eine hoch komplexe Tiefenstruktur verbirgt.«18
Bevor die Frage nach der Frequenz und Funktion der Ausdrucksform Imperativ mit der 2. Person Singular Femininum bei Verpackungsaufschriften von auf dem tunesischen Markt angebotenen Haushaltspflegeprodukten erörtert wird, wird im Folgenden der Imperativ im Standardarabischen, der im Unterschied zum Deutschen eine Differenzierung nach Genus ermöglicht, kurz beschrieben.
Language (gfl-journal) 1 (2002), S. 66-103. Online-Version: http://www.gfljournal.de/1-2002/grossmann.html vom 10.6.2019. 15 Möhn, Dieter: »Instruktionstexte. Ein Problemfall bei der Textidentifikation«, in: Brinker, Klaus (Hg.), Aspekte der Textlinguistik, Hildesheim: Olms 1991, S. 183-212. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Karmasin, Helene: Verpackung ist Verführung. Die Entschlüsselung des Packungscodes, Freiburg: Haufe Lexware 2015, S. 10.
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3. DER IMPERATIV IM STANDARDARABISCHEN Direkte instruktive Sprachhandlungen werden im Standardarabischen in der Regel durch den Gebrauch des Imperativs vollzogen. Der Modus Imperativ richtet sich an die zweite grammatische Person, die die erwünschte Handlung erfüllen soll. Eine Differenzierung zwischen weiblichen und männlichen angesprochenen Personen ist im Genussystem des Standardarabischen, wie eingangs erwähnt wurde, möglich, weil die zweite Person (die angesprochene Person) nicht nur nach Numerus: Singular, Dual und Plural, sondern auch nach Genus, Maskulinum und Femininum, unterschieden wird. Der Singular und der Plural zeigen jeweils eine Form für Maskulinum und eine andere für Femininum. Im Dual gibt es nur eine einheitliche Form für beide Genera. Folglich lässt dieses System außer beim Dual das Genus der angesprochenen Person im Imperativ anhand der Flexionsform auch ohne Bezug auf den Kommunikationskontext erkennen. Die Differenzierung nach Genus ist modusübergreifend und sowohl an den Personalpronomen als auch an der Verbflexion sichtbar. »Im Unterschied zum Deutschen ist das Genus im Standardarabischen auch eine Kategorie des Verbs. Ein Verb kongruiert mit seinem Subjekt nicht nur im Numerus, sondern auch im Genus.«19 Dabei muss das Personalpronomen nicht vor dem Verb stehen und »wird nur zur Betonung des Subjektes benutzt.«20 Als Beispiel für Imperativkonstruktionen im Standardarabischen sei hier die Konjugation des Verbs kataba (schreiben) angeführt. Dabei erfolgt die Markierung der verschiedenen Formen durch das Hinzufügen von Flexionsmorphemen:
19 S. Sahel: Die sprachliche Realisierung von geschlechtsspezifischer und geschlechtsübergreifender Referenz im Standardarabischen, S. 215. 20 Ebd., S. 219.
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Tabelle 1: Imperativkonstruktionen im Standardarabischen 2. Person Singular Maskulinum 2. Person Singular Femininum 2. Person Dual
2. Person Plural Maskulinum 2. Person Plural Femininum
ʾanta (du: eine männliche Person) ʾanti (du: eine weibliche Person) ʾantumā (ihr: zwei männliche Personen; zwei weibliche Personen; eine männliche und eine weibliche Person) ʾantum (ihr: mehr als zwei männliche Personen) ʾantunna (ihr: mehr als zwei weibliche Personen)
ʾuktub (schreib!) ʾuktubī (schreib!)
ʾuktubā (schreibt!)
ʾuktubū (schreibt!)
ʾuktubna (schreibt!)
Beim Ansprechen von mehr als zwei Personen, die gemischtgeschlechtlich sind, wird die 2. Person Plural Maskulinum ʾantum mit generischer Bedeutung verwendet. Die 2. Person Singular Maskulinum wird in der Regel generisch v.a. in schriftlichen Kommunikationssituationen benutzt, in denen man sich öffentlich an eine gemischtgeschlechtliche Gruppe von Rezipient*innen richtet, wie etwa auf Wahlprospekten, Werbeplakaten und Packungsbeilagen von Arzneimitteln, auf denen man beispielsweise Folgendes liest: 1.
ʾitbaʿ bidiqqa waṣfat aṭ-ṭabīb.21 (Folgen Sie exakt den ärztlichen Hinweisen.) ʾitbaʿ Imp.2.Pers.Sg.Mask.
2.
lā taqtaʿ muddat al-ʿilāǧ al-muḥaddada laka.22 (Unterbrechen Sie nicht die vorgeschriebene Behandlungsdauer.) lā taqtaʿ Imp.2.Pers.Sg.Mask.
21 .اتبع بدقة وصفة الطبيب 22 .ال تقطع مدة العالج المحددة لك
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Der zweite Beispielsatz enthält eine Verneinung. Im Standardarabischen wird der Imperativ durch die Kombination vom Verneinungswort lā und dem Verb im Apocopatus negiert, der auch eine Differenzierung des Genus markiert, wie die folgende Tabelle zeigt: Tabelle 2: Apocopatus mit Verneinungswort lā 2. Person Singular Maskulinum 2. Person Singular Femininum
ʾanta
2. Person Dual
ʾantumā
lā taktubā (schreibt nicht!)
2. Person Plural Maskulinum
ʾantum
lā taktubū (schreibt nicht!)
2. Person Plural Femininum
ʾantunna
lā taktubna (schreibt nicht!)
ʾanti
lā taktub (schreib nicht!) lā taktubī (schreib nicht!)
Das Tunesisch-Arabische sowie andere arabische Dialekte weisen ein reduziertes System der Personalpronomen und der Verbflexion auf, das keine Dualformen benutzt und stattdessen die entsprechenden Pluralformen gebraucht. Neben der Nicht-Verwendung der Dualformen kommen im Tunesisch-Arabischen die geschlechtsspezifischen Verbformen der zweiten Person Plural Femininum beim Ansprechen von mehr als zwei weiblichen Personen nicht vor. Sie werden durch den generischen Gebrauch der Verbformen der zweiten Person Plural Maskulinum ersetzt. Für die vorliegende Untersuchung sollten diese Unterschiede zwischen dem Standardarabischen und dem Tunesisch-Arabischen keine Rolle spielen, da die untersuchten Texte ausschließlich in der Standardvarietät verfasst sind. Mit Ausnahme der Dual-Form, die für die untersuchte Textsortenvariante nicht zu erwarten ist, können die in Tabelle 1 angeführten Flexionsformen des Imperativs und ihre entsprechenden Verneinungsformen in Verpackungsaufschriften von Haushaltspflegeprodukten für den Ausdruck instruktiver Sprechakte gebraucht werden. Ob und wie oft die vier Formen vorkommen, welche Form überwiegt und ob für den Ausdruck instruktiver Sprechakte von anderen Sprachmitteln Gebrauch gemacht wird, wird im Zuge der folgenden Analyse gezeigt.
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4. INSTRUKTIVE SPRECHAKTE IN VERPACKUNGSAUFSCHRIFTEN VON HAUSHALTSPFLEGEPRODUKTEN IN TUNESIEN 4.1 Korpus Das Korpus der Untersuchung bilden insgesamt 18 Textabschnitte von Verpackungsaufschriften von Handwaschpulver, Maschinenwaschmittel und Geschirrspülmittel. Die drei Produktsorten werden je durch sechs Produkte vertreten, die auf dem tunesischen Markt angeboten werden und zum Sortiment von sechs tunesischen Marken (CODIFA, El Fanac, Ennadhafa Judy, SODET, SORIAC und TID) und vier multinationalen Marken (Henkel, Procter & Gamble, Reckitt Benckiser und Unilever) gehören. Die Produkte wurden im Frühjahr 2017 zu unterschiedlichen Zeiten bei verschiedenen Filialen von bekannten Einzelhandelsketten in Tunis gesammelt und decken einen großen Teil des Angebots ab. Die Einschränkung des Korpus auf nur drei Produktsorten dient dem Ziel, möglichst viele Verpackungsaufschriften der gleichen Produktsorte zu untersuchen und der Grundmenge weitgehend zu entsprechen, um möglichst allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Die Entscheidung für die drei genannten Produktsorten basiert darauf, dass sie auf dem Markt eine größere Auswahl als andere Produkte bieten. Dies soll ein möglichst treues Bild vom gesamten Angebot auf dem Markt sichern und eine gezielte Selektion von Texten, die die Ergebnisse der Untersuchung in eine bestimmte Richtung leiten können, vermeiden. Bei der Analyse der Ergebnisse wird nicht systematisch zwischen den Verpackungsaufschriften der drei untersuchten Sorten differenziert. Alle 18 Texte werden als Gesamtkorpus einheitlich und nur teilweise vergleichend behandelt. Gegenstand der Untersuchung sind die Abschnitte der Verpackungsaufschriften, die instruktive Elemente enthalten. Es geht um Benutzungsanleitungen und Sicherheitshinweise, die in der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Texte zu finden sind und zum Teil durch entsprechende Titel voneinander getrennt werden. Alle darin enthaltenen Ausdrucksformen, die instruktive Sprechakte ausdrücken, werden gezählt, klassifiziert und als Grundlage für die folgende Analyse benutzt.
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4.2 Analyse Die Daten weisen insgesamt sechs Ausdrucksformtypen auf, wobei drei davon direkt-instruktiv den Imperativ bzw. dessen negierte Form gebrauchen, während die drei anderen indirekt-instruktiv unpersönliche Formen verwenden:
Tabelle 3: Überblick über die vorkommenden Ausdrucksformtypen Imperativkonstruktionen
Unpersönliche Formen
Imperativ 2. Person Singular Femininum Imperativ 2. Person Singular Maskulinum Imperativ 2. Person Plural Maskulinum
Passivkonstruktion Modalverbkonstruktion mit dem Modalverb waǧaba (müssen) Nominalphrase mit einem Verbalsubstantiv im Genitiv
Dieses Ergebnis zeigt, dass die Textemittent*innen auf verschiedene Möglichkeiten zum Ausdruck instruktiver Sprechakte zurückgreifen. Von den fünf möglichen Imperativkonstruktionen im Standardarabischen treten nur drei Formen, nämlich die feminine Singularform, die maskuline Singularform und die maskuline Pluralform auf. Für die Imperativkonstruktionen mit der Dualform und der geschlechtsspezifischen femininen Pluralform wurden keine Belege gefunden. Das Nicht-Vorkommen der Dualform entspricht, wie eingangs erwähnt, den Erwartungen, da man im vorliegenden Kontext entweder eine einzige Person oder alle Leser*innen ansprechen will. Dass die geschlechtsspezifische feminine Pluralform in keinem der untersuchten Texte auftritt, ließe sich dadurch erklären, dass sie als typisch standardarabische Form, die in den Dialekten nicht vorkommt, den Normen des einfachen alltäglichen Sprachgebrauchs nicht entspricht und als zu umständlich für die Verpackungsaufschriften gelten könnte. Zusätzlich zu den drei Imperativkonstruktionen wurden drei unpersönliche Formen: Passivkonstruktion, Modalkonstruktion mit dem Modalverb waǧaba und Nominalphrase mit einem Verbalsubstantiv im Genitiv festgestellt, die in den untersuchten Daten insgesamt seltener auftreten. Die folgende Tabelle gibt einen allgemeinen Überblick über die Frequenz der sechs Ausdrucksformtypen:
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Tabelle 4: Frequenz der vorkommenden Ausdrucksformtypen Ausdrucksform Imperativ 2. Person Singular Femininum Imperativ 2. Person Singular Maskulinum Passiv Präsens Imperativ 2. Person Plural Maskulinum Modalverb waǧaba Nominalphrase mit Verbalsubstantiv Gesamt
Anzahl absolut 80 31 20 2 1 1 135
Anzahl relativ 59,25 22,96 14,81 1,48 0,74 0,74 100
Insgesamt wurden 135 Ausdrucksformen mit einem instruktiven Sprechakt gezählt, von denen 80 Ausdrucksformen, d.h. ca. 60 %, die Imperativform des femininen Singulars benutzen. Die anderen festgestellten Formen gebrauchen die generischen Imperativformen im maskulinen Singular und Plural oder sind unpersönlich, da sie keinen Imperativ benutzen und dadurch kein Genus markieren. Dieses erste Ergebnis zeigt eine deutliche Präferenz für die Imperativform des femininen Singulars, die darauf zurückgeführt werden könnte, dass weibliche Personen die bevorzugte Zielgruppe der Textemittent*innen sind. Nachfolgend wird der Blick auf die festgestellten Ausdrucksformtypen gerichtet, wobei der Frage nachgegangen wird, inwieweit die geschlechtsspezifische Imperativform mit Referenz auf weibliche Personen durch die fünf anderen festgestellten Sprachformen ersetzt werden kann, um das explizite sexistische Ansprechen weiblicher Personen in Bezug auf Haushaltsaufgaben zu vermeiden. 4.2.1 Imperativkonstruktionen Die Ergebnisse zeigen, dass die eindeutige Mehrheit der gefundenen Ausdrucksformen den Imperativ benutzt, wie aus Tabelle 5 hervorgeht: Tabelle 5: Frequenz von Imperativkonstruktionen vs. unpersönlichen Formen Ausdrucksform
Anzahl absolut 113
Anzahl relativ 83,70
Unpersönliche Formen
22
16,30
Gesamt
135
100
Imperativkonstruktionen
Von 135 gefundenen Ausdrucksformen benutzen 113 den Imperativ, was einen Prozentsatz von mehr als 80 % ausmacht. Diese Vorliebe für den Imperativ kann
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dadurch erklärt werden, dass die Emittent*innen die persönliche Ansprache der Rezipient*innen suchen, um die durch die Kommunikationssituation bedingte räumliche Entfernung, die keinen Face-to-Face Kontakt erlaubt, direkter zu gestalten. Diese Suche nach dem persönlichen Kontakt zu den einzelnen Leser*innen lässt sich zudem im eindeutig häufigeren Gebrauch des Imperativs mit der zweiten Person Singular wiederfinden, wie die folgende Tabelle zeigt: Tabelle 6: Frequenz von Imp.2.Pers.Sg vs. Imp.2.Pers.Pl.Mask. Imperativform Imperativ 2. Person Singular Imperativ 2. Person Plural Maskulinum Gesamt
Anzahl absolut 111 2
Anzahl relativ 98.23 1,76
113
100
Mit nur zwei Belegen und weniger als 2 % der gesamten Imperativformen sind die maskulinen Pluralformen deutlich in der Unterzahl. Mit der Imperativform im Singular richtet man sich an eine einzelne Person, den einzigen Leser bzw. die einzige Leserin, die sich dadurch persönlich angesprochen fühlen und die Botschaft besser aufnehmen könnte. Imperativ 2. Person Singular Femininum Aus den Ergebnissen geht eine eindeutige Präferenz für den Gebrauch der geschlechtsspezifischen weiblichen Imperativform hervor: Tabelle 7: Frequenz von Imp.2.Pers.Sg.Fem vs. Imp.2.Pers.Sg.Mask. Imperativform Singular Imperativ 2. Person Singular Femininum Imperativ 2. Person Singular Maskulinum Gesamt
Anzahl absolut 80 31 111
Anzahl relativ 72.07 27, 92 100
Mehr als zwei Drittel der gebrauchten Imperativkonstruktionen im Singular benutzen die weibliche Form, was nochmals den Befund bestätigt, dass weibliche Personen die bevorzugte Zielgruppe der Textemittent*innen sind. Es ist jedoch hier wichtig darauf hinzuweisen, dass die Hälfte dieser Formen (40 von 80) aus einer einzigen Verpackungsaufschrift stammt, nämlich der von dem im Königreich Bahrain hergestellten Maschinenwaschmittel Vanish (Reckitt Benckiser), die auf der Rückseite der Verpackung einen relativ langen bilingualen Text
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(Arabisch-Englisch) mit Benutzungshinweisen enthält. Doch auch wenn man diesen Text bei der Analyse nicht mitberücksichtigen würde, würde die Frequenz der femininen Singularformen im Vergleich zu den maskulinen in der Überzahl bleiben (40 zu 31). Reckitt Benckiser ist jedoch nicht die einzige multinationale Marke, die die geschlechtsspezifische feminine Imperativform benutzt. Bei Produkten von allen untersuchten multinationalen, ursprünglich europäischen bzw. US-amerikanischen Marken, nämlich Henkel, Unilever, Reckitt Benckiser und Procter & Gamble kommt die geschlechtsspezifische Form vor, während sie nur bei zwei von vier untersuchten lokalen Marken festzustellen ist. Dieses Ergebnis zeigt, dass multinationale Marken, die auf dem tunesischen Markt vertreten sind, feminine Imperativformen bevorzugen und sich dadurch lieber explizit an weibliche Personen richten. Eine mögliche Deutung wäre, dass sie in ihrer Marketingstrategie von einer Kulturspezifizität im arabischen Raum ausgehen, in der Haushaltsarbeit ausschließlich von Frauen verrichtet wird und dass sie die gleichen Produkte in Europa und den USA in einer anderen neutralen Art und Weise vermarkten würden. Die Gültigkeit dieser Interpretation dürfte jedoch anhand des Vergleichs mit Verpackungsaufschriften auf Produkten dieser Marken in deren Ursprungsländern schwer zu überprüfen sein, da etwa Englisch, Deutsch oder Französisch eine geschlechtsspezifische Differenzierung im Imperativ wie im Standardarabischen nicht ermöglichen. Imperativ 2. Person Singular Maskulinum Die maskuline Singularform wird eindeutig seltener als die feminine benutzt (31 von 111), wie aus Tabelle 7 ersichtlich wird. Der Gebrauch dieser Form ist typisch für die bekannte lokale Marke Ennadhafa Judy, die einen bedeutenden Marktanteil innehat. Sie zeigt 16 Fälle mit instruktiven Sprechakten, wobei 14 davon mittels der Imperativform im maskulinen Singular und zwei im Passiv Präsens formuliert werden. Die feminine Imperativform kommt auch auf Verpackungsaufschriften anderer Produkte dieser Marke, die eine breite Palette anbietet, nicht vor. Der Gebrauch des generischen Maskulinums, der vor allem für die Marke Ennadhafa Judy typisch ist, sollte jedoch nicht ohne Bezug auf begleitende Bildelemente auf den Verpackungsaufschriften betrachtet werden. Auf der Verpackungsaufschrift eines Fliesenreinigers von Ennadhafa Judy, die nicht zum untersuchten Hauptkorpus gehört, erfolgt die Zuweisung der Haushaltsarbeit der weiblichen Personen bildlich, wie folgende Abbildung zeigt:
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Abbildung 2: Auszug aus der Verpackungsaufschrift von Judy-Fliesenreiniger
Man liest zwei Sätze im Standardarabischen in der maskulinen Singularform des Imperativs und im Französischen in der Form einer Infinitivkonstruktion: lil-fatḥ: (1) ʾiḍġaṭ ʿala as-saddād. (2) ʾadirhu fī ǧihat al-ashum. ʾiḍġaṭ ʾadirhu
(Zum Öffnen: (1) auf den Deckel drücken. (2) in Richtung der Pfeile drehen.)
Imp.2.Pers.Sg.Mask. Imp.2.Pers.Sg.Mask.
Der sprachliche Hinweis wird ergänzt durch die Abbildung einer Hand mit rotem Nagellack, die, den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen entsprechend, eher als weiblich gelesen wird. Diese Abbildung suggeriert neben der einseitigen, problematischen Zuweisung der Haushaltsarbeit zu weiblichen Personen, dass die Benutzung dieses chemischen Produktes mit Ätz- bzw. Reizwirkung auf die Haut ohne Putzhandschuhe durchgeführt werden kann und die Gesundheit und Schönheit weiblicher Hände nicht gefährdet. Man bekommt den Eindruck, dass man es mit einem schonenden Kosmetikartikel zu tun hat und nicht mit einem giftigen chemischen Produkt. Dieses Bild steht in einem klaren Kontrast zu einem am Ende des Textes stehenden Sicherheitshinweis, der Benutzer*innen zum Tragen von Schutzhandschuhen auffordert. Eine ähnlich paradoxe Bild-Text-Beziehung, in der das Bild auf weibliche Personen verweist und der Text nicht, zeigt ein multimodales Online-Werbekommunikat für das Sortiment der Haushaltspflegeprodukte auf der Homepage der deutschen Discounter-Kette Aldi Süd. Es geht um folgende aus dem Frühjahr 2019 stammende Internetwerbung, die kurz erläutert werden soll, ohne jedoch eine vollständige Bild-Text-Analyse zu beabsichtigen:
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Abbildung 3: Screenshot Internet-Werbung von Aldi Süd (Frühjahr 2019)
Quelle: https://www.aldi-sued.de/de/sortiment/haushalt-wohnen/putzen-leicht-gemacht/ vom 8.6.2019.
Diese Werbung gibt Haushaltstipps für das Putzen von Küche, Bad und Boden mit Haushaltspflegeprodukten aus dem Sortiment von Aldi Süd, die durch das Anklicken von drei entsprechenden Rubriken unter dem im Screenshot angezeigten Text in neuen Fenstern geöffnet werden. Bei diesem Bild handelt es sich um ein Foto, das eine erwachsene weibliche Person und ein weibliches Kind zeigt, die wie in einer Mutter-Tochter-Beziehung zu sehen gegeben werden. Da die abgebildeten Personen zwei weibliche Personen sind, die hinsichtlich ihrer Kleidung und ihrer Hautfarbe deutschen Stereotypen entsprechen, (re)produziert die Abbildung eine Realität, in der Haushaltsarbeit weiblichen Personen zuzuschreiben sei. Die abgebildeten Personen tragen bunte Kleidung und das gleiche traditionelle für Hausfrauen typische Putzkopftuch, lachen und spielen, was einen dynamischen lebensfrohen Eindruck erweckt und die Putzarbeit als eine angenehme spaßvolle und keine bisweilen harte zeitfressende körperliche Arbeit darstellt, die gerne mit anderen weiblichen Personen generationsübergreifend geteilt werden kann. Es wird hier auch die Vorstellung (re)produziert, dass traditionelle Rollenbilder an jüngere weibliche Personen tradiert werden. Schließlich kann
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hier darauf hingewiesen werden, dass das Foto, ähnlich wie bei Abbildung 2, die von chemischen Produkten ausgehende Gefahr überspielt, da zwar die Frau Putzhandschuhe trägt, das kleine Mädchen aber nicht. Der kurze Text unter dem Foto zeigt dagegen keinen klaren sprachlichen Bezug auf weibliche Personen. Im Gegenteil, man liest auf der vorletzten Zeile den folgenden Satz: »Doch eines gilt sicherlich für alle Hausfrauen und Hausmänner, jegliche Arbeitserleichterung ist willkommen.« In diesem Satz werden Hausmänner neben Hausfrauen als mögliche Zielpersonen genannt und männliche Personen sprachlich als eventuelle Benutzer der Haushaltspflegeprodukte miteinbezogen. Doch die Wirkung des Fotos auf die Textrezipient*innen dürfte viel stärker als die Wirkung des Wortes sein, da das Foto im Vordergrund steht und ein wesentlicher Bestandteil der Werbebotschaft ist: »Bilder dienen laut Werbepsychologie als wichtiger Blickfang, werden auch beiläufig meist zuerst wahrgenommen und schneller als Texte inhaltlich erfasst.«23 Dieser kleine Exkurs auf die Text-Bild-Beziehung mit einem Beispiel aus Tunesien und einem aus Deutschland24 zeigt die Bedeutung von Bildelementen bei der Analyse sprachlicher Kommunikation mit Bezug auf traditionelle Geschlechterrollen. Imperativ 2. Person Plural Maskulinum Der Gebrauch der maskulinen Pluralform kommt, wie eingangs erwähnt, nur in zwei Belegen vor, in weniger als 2 % der festgestellten Imperativkonstruktionen und kann somit als nicht typisch für die untersuchte Textsorte betrachtet werden. Es geht um die beiden folgenden Sätze aus den Verpackungsaufschriften von
23 Janich, Nina: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch, Tübingen: Narr Verlag 2013, S. 76. 24 Ein weiteres ähnliches Beispiel liefert die gleiche Internetwerbung von Aldi Süd unter der Rubrik »Küche putzen«. Da sieht man im Vordergrund ein Foto einer jungen lächelnden weiblichen Person mit Putzkopftuch beim Putzen der Küchentheke. Der darunter stehende Text beginnt jedoch mit dem folgenden Satz: »Die Küche ist längst nicht mehr ein Ort nur für die Hausfrau. Gemeinsames Kochen mit dem Partner oder mit Freunden erfreut sich größter Beliebtheit.«
https://www.aldi-sued.de/de/
sortiment/haushalt-wohnen/putzen-leicht-gemacht/kueche-putzen/ vom 8.8.2019. Es gibt auch Werbungen, die sich auf Männer beziehen und sie als ungeeignet für die Hausarbeit darstellen, wie etwa der umstrittene, sowohl von Männern als von Frauen als sexistisch kritisierte Werbespot der deutschen Lebensmittel-Kette Edeka zum Muttertag 2019. Vgl. https://www.nzz.ch/panorama/edeka-werbung-zum-muttertag-alsmaennerfeindlich-kritisiert-ld.1480301 vom 8.8.2019.
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zwei Geschirrspülmitteln, nämlich Pril von Henkel (1) und Fairy von Procter & Gamble (2): 1.
ʾiktašifū ʾāḫir ǧīl min munaẓẓifāt al-awānī maʿa Pril quwwat 100 laimūna al-ǧadīd.25 (Entdecken Sie die letzte Generation der Spülmittel mit Pril 100 lemons power.) ʾiktašifū Imp.2.Pers.Pl.Mask.
2.
fī ḥālati mulāmasat al-ʾaʿyun ʾiġsilū fawran wa ǧayyidan bil-māʾ.26 (Bei Kontakt mit den Augen spülen Sie sofort gründlich mit Was-ser.) ʾiġsilū Imp.2.Pers.Pl.Mask.
Wie bereits unter 3 erwähnt wurde, kann man mit dem Gebrauch der maskulinen Pluralform entweder eine Gruppe männlicher Personen oder eine Gruppe gemischtgeschlechtlicher Personen generisch ansprechen. Auf den vorliegenden Kontext würde die zweite generische Verwendungsweise zutreffen. Die beiden generischen Imperativkonstruktionen des maskulinen Singulars und Plurals könnten jedoch aus der Perspektive der feministischen Sprachkritik als geschlechterungerecht betrachtet werden, da sie gegen das Prinzip der sprachlichen Symmetrie verstoßen, das vorsieht, »dass bei der Anrede bzw. Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Personengruppen Männer und Frauen gleich behandelt werden.«27 Diese Kritik könnte aus zwei Gründen zurückgewiesen werden. Auf der einen Seite ist das generische Maskulinum die im System verankerte und in der tunesischen Gesellschaft mehrheitlich anerkannte Form für die Anrede gemischtgeschlechtlicher Gruppen. Auf der anderen Seite könnte man sagen, es wäre für den vorliegenden Kontext der Haushaltsarbeit gerade der Gebrauch des generischen Maskulinums geboten, da man dadurch die traditionelle Zuschreibung der Hausarbeit zu weiblichen Personen weniger reproduzieren würde. So ließe sich sogar argumentieren, dass für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch hier das generische Maskulinum dem geschlechtsspezifischen Femininum vorzuziehen sei. Eine weitere Möglichkeit wäre der Gebrauch von Paarformen, da man dadurch sowohl die sexistische feminine Form als auch die generi25 . ليمونة الجديد100 اكتشفوا آخر جيل من منظفات األواني مع بريل قوة 26 .في حالة مالمسة األعين اغسلوا فورا وجيدا بالماء 27 S. Sahel: Die sprachliche Realisierung von geschlechtsspezifischer und geschlechtsübergreifender Referenz im Standardarabischen, S. 223.
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schen maskulinen Formen ersetzen könnte. Solche Paarformen erscheinen jedoch für die untersuchte durch Kürze gekennzeichnete Textsortenvariante nicht geeignet, da die Texte dadurch länger und unübersichtlicher würden. Als Fazit der Analyse der Imperativkonstruktionen lässt sich festhalten, dass sie am häufigsten vorkommen, weil durch die persönliche Anrede vor allem die wichtige kontaktive Funktion der untersuchten Textsortenvariante stärker zum Tragen kommt. Die feminine Form kommt am häufigsten vor und kann hier als sexistische Variante gewertet werden. Die beiden maskulinen Formen können im tunesischen Kontext der Aufschriften auf Haushaltspflegeprodukten jedoch, obwohl sie das generische Maskulinum benutzen, als bessere Alternativen für die feminine Form betrachtet werden. Die beiden maskulinen Formen verdecken im Kontext der Aufschriften auf Haushaltspflegeprodukten die Geschlechtsspezifizität und dadurch auch die sexistische Konnotation. 4.2.2 Unpersönliche Formen Neben den besprochenen Imperativkonstruktionen zeigen die Daten, wie oben erwähnt, drei unpersönliche Formen, nämlich Passivkonstruktion, Modalverbkonstruktion mit dem unpersönlichen Modalverb waǧaba und Nominalphrase mit einem Verbalsubstantiv im Genitiv. Unter diesen drei Formen ist die Passivkonstruktion die produktivste mit 20 Belegen, während die beiden anderen Ausdrucksformen jeweils nur ein einziges Mal vorkommen und für die untersuchte Textsortenvariante kaum ins Gewicht fallen. Im Folgenden wird jedoch auf alle drei Formen eingegangen und der Frage nachgegangen, ob sie als Alternativen für die feminine Imperativform gelten können. Modalverbkonstruktion mit waǧaba Für diese Form tritt nur der folgende Beleg auf der Verpackungsaufschrift des Geschirrspülmittels Choc von CODIFA auf: fī ḥālat lams al-ʿaynayn yaǧibu al-ġasl bil-māʾ fawran. 28 (Bei Kontakt mit den Augen sofort mit Wasser spülen.) yaǧibu al-ġasl Modalverbkonstruktion mit waǧaba Das Modalverb waǧaba drückt eine Notwendigkeit aus und entspricht etwa dem deutschen Modalverb müssen. Der seltene Gebrauch der Modalverbkonstruktion mit waǧaba im Präsens mit der 3. Person Singular Maskulinum yaǧibu + Nominalphrase könnte auf der semantischen und der strukturellen Ebene erklärt werden. Semantisch wird dadurch eine Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht, was 28 .في حالة لمس العينين يجب الغسل بالماء فورا
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nicht optimal zum Inhalt der Textsorte Verpackungsaufschrift vor allem in den Benutzungsempfehlungen passt, die einen unverbindlichen Charakter haben und eher als Tipps für ein optimales Ergebnis zu verstehen sind. Strukturell ist dieses sprachliche Mittel als zweiteiliger Verbalkomplex länger als andere Formen und verletzt das Prinzip der Sprachökonomie. Die Textsorte der Verpackungsaufschrift ist nämlich durch kurze Sätze gekennzeichnet, die schnell gelesen werden können. Nominalphrase mit einem Verbalsubstantiv im Genitiv Dieses Sprachmittel ist mit der infiniten Verbalphrase im Deutschen vergleichbar, die häufig in Verpackungsaufschriften gebraucht wird, wie etwa der Hinweis »Pflegehinweise in den Textilien beachten« aus der Verpackungsaufschrift von Persil Vollwaschmittel. Im gesamten untersuchten Korpus wurde nur der folgende Beleg auf der Verpackungsaufschrift vom Maschinenwaschmittel Ariel von Procter & Gamble gefunden: farz al-malābis29 (Wäsche vorsortieren) Verbalsubstantive im Standardarabischen sind typisch für den Nominalstil, der als unlebendig bezeichnet werden kann und Kommunikationssituationen des Alltags nicht entspricht. Der instruktive Sprechakt kommt dadurch nicht stark zum Ausdruck. Dieser Stil eignet sich nicht für Texte mit einer werbenden kontaktiven Funktion, die darauf zielen, Rezipient*innen durch den Gebrauch einer dynamischen Sprache im Verbalstil in den Mittelpunkt zu stellen. Passivkonstruktion Die Belege für Passivkonstruktion haben die Form des Passiv Präsens. Das Passiv Präsens ist eine neutrale Form, die keine Referenz auf eventuelle Rezipient*innen zeigt und den instruktiven Sprechakt indirekt zum Ausdruck bringt. Insgesamt wurden 20 Belege für diese Form gefunden, was 14,81 % des gesamten Korpus ausmacht. Von den 20 gefundenen Belegen für Passiv treten nur sieben Ausdrucksformen in den Abschnitten zu den Benutzungsanweisungen auf, wobei sechs davon aus einem einzigen Text, nämlich der Verpackungsaufschrift vom Handwaschpulver FINO von Henkel stammen, der ausschließlich das Passiv für die Benut29 فرز المالبس
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zungsanleitung gebraucht und die Sicherheitshinweise nur in französischer Sprache mit entsprechenden Abbildungen darstellt. Die übrigen 13 Belege kommen in den Sicherheitshinweisen vor. Die Häufigkeit des Gebrauchs des Passivs in Sicherheitshinweisen könnte dadurch erklärt werden, dass man sich damit nicht an die eigentlichen Benutzer*innen des Produktes, d.h. an die Personen, die den Vorgang des Waschens bzw. Spülens durchführen, richtet, sondern an alle, die Kontakt mit dem Produkt haben, sei es in einem Haushalt oder in der Handelskette. Die Beachtung der Sicherheitshinweise könnte somit, im Gegenteil zum Akt des Saubermachens, nicht als eine typische Pflicht für weibliche Personen gelten, sondern betrifft gleichwohl weibliche wie männliche Personen. Ein interessantes Beispiel aus den Belegen bekräftigt diese Interpretation. Es geht um den Abschnitt zu den Sicherheitshinweisen aus der Verpackungsaufschrift des Geschirrspülmittels JIF von Unilever, den man auch bei OMO Handwaschpulver derselben Marke findet. Abbildung 4: Auszug aus der Verpackungsaufschrift von JIF-Geschirrspülmittel
Man liest neben entsprechenden Abbildungen drei Sicherheitshinweise in standardarabischer und französischer Sprache in der folgenden Reihenfolge von rechts nach links: 1. lā yublaʿu (Nicht schlucken) 2. yuḥfaẓu baʿīdan ʿan mutnāwal al-aṭfāl (Außer Reichweite von Kindern aufbewahren) 3. šallilī wa naššifī yadayki ǧayyidan baʿd al-ġasīl (Nach Gebrauch Hände gründlich spülen und abtrocknen) Während die beiden ersten Sicherheitshinweise allgemeine Warnungen ausdrücken, die nicht mit dem Vorgang des Geschirrspülens in direkte Verbindung zu bringen sind und im geschlechtsneutralen Passiv formuliert werden, steht der dritte, sich direkt auf den Spülvorgang beziehende Hinweis in der femininen Imperativform. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Spültätigkeit zu den Aufgaben weiblicher Personen gehört, was durch die begleitende Abbildung
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eines als weiblich zu lesenden Körperausschnitts beim Akt des Geschirrspülens visuell unterstützt wird. Ferner wird durch die Abbildung zum zweiten Hinweis mit Mutter und Kind suggeriert, dass die Achtung auf die Sicherheit der Kinder zu Hause vordergründig zu den Aufgaben der Mütter gehört. Man sollte jedoch hier beachten, dass es sich bei dem zweiten und dritten Sicherheitshinweis um Formulierungen handelt, die für eine Palette verschiedener Produkte mit ähnlichen Gefahren gesetzlich vorgeschrieben sind. Es geht dabei um feste Wortverbindungen, also um Phraseme in der Form von Passivkonstruktionen, die von den Emittent*innen nicht produziert, sondern reproduziert werden. Für diesen phraseologischen Charakter mancher Sicherheitshinweise spricht die Tatsache, dass der zweite Hinweis in sechs unterschiedlichen Texten im Korpus in der gleichen Form wiederholt wird. Die relativ hohe Frequenz von Passivkonstruktionen im Korpus könnte u.a durch diese Tatsache erklärt werden. Das Passiv drückt in einer neutralen Weise Warnungen vor möglichen Gefahren aus, die beachtet werden müssen und unterscheidet sich in dieser Hinsicht von den für Benutzungsempfehlungen typischen Imperativkonstruktionen, die eine bestimmte Handlungsmöglichkeit vermitteln und den Kontakt zu der Zielgruppe in einer lebendigen Sprache herstellen. »Das Passiv bricht jeder Aussage die Spitze ab, verhindert ihre Stoßkraft. Häufig klingt es steif und umständlich. Das Passiv sagt nicht, ›wer was tut‹, sondern ›wem was widerfahrt‹: eine Sendung wurde abgeschickt, ein Mann wurde geheiratet, das Kind wurde geschlagen.«30
Aufgrund dieser Merkmale des Passivs eignet es sich nicht als optimale Alternative für die einseitige feminine Imperativkonstruktion und kann sie nicht ohne weiteres ersetzen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei beschriebenen unpersönlichen Ausdrucksformen nicht als passende Alternativformen für die feminine Imperativkonstruktion vorgeschlagen werden können, da sie die für die Textsortenvariante Verpackungsaufschrift wichtigen Stilmerkmale eines lebendigen und ökonomischen Stils nicht optimal erfüllen.
30 Briese-Neumann, Gisa: Professionell Schreiben. Stilsicherheit und Spracheffizienz im Beruf, Wiesbaden: Gabler Verlag 1993, S. 225.
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5. FAZIT Anhand der sprachkritisch ausgerichteten Analyse wurde gezeigt, dass in der Textsortenvariante von Haushaltspflegeprodukten überwiegend auf die sexistische geschlechtsspezifische Imperativkonstruktion im femininen Singular zurückgegriffen wird, was traditionelle, die Haushaltsarbeit weiblichen Personen zuschreibende Rollenbilder konstruiert und verbreitet. Als Alternativformen für die feminine Anrede finden sich die maskulinen Singular- und Pluralformen des Imperativs, die durch ihren generischen Charakter die Geschlechtlichkeit innerhalb dieses traditionell weiblich konnotierten Kontexts verdecken und marginalisieren. Die unpersönlichen Ausdrucksformen (Modalverb, Passiv und Verbalsubstantiv) eignen sich dagegen in der untersuchten Textsortenvariante aufgrund ihrer Struktur und Semantik nicht als passende Ersatzformen für die feminine Form. Die im Rahmen des Beitrags untersuchte Textsortenvariante bezog sich nur auf einen einzigen Bereich, der traditionell Frauen zugeschrieben wird. Interessant wäre die Gültigkeit der Ergebnisse anhand der Untersuchung von anderen Varianten der Textsorte Verpackungsaufschrift, wie die von industriell hergestellten Lebensmittelprodukten oder Produkten für Babypflege. Möglich wäre auch eine vergleichende Analyse der untersuchten Textsortenvariante, die verschiedene arabische Länder einbezieht oder Produkte berücksichtigt, deren Verwendung traditionell Männern zugeschrieben wird.
Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs nach 2010/2011 Majdi Chaouachi
1. EINLEITUNG Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf Äußerungen innerhalb des Pressediskurses zum Thema ›Frau‹ in enger Korrelation mit der Thematik des politischen Islam. Er geht der folgenden Frage nach: Wie verhält sich der Pressediskurs im soziokulturellen Kontext des postrevolutionären Tunesien, das vom Erstarken islamistischer Kräfte geprägt ist, in Bezug auf die Stellung der Frauen? Vor dem Hintergrund der tunesischen Revolution von 2010/2011 sei kurz erwähnt, dass gesellschaftliche Umbrüche durchaus zu erwarten waren, denn plötzlich konnten die beiden wichtigsten ideologischen und bis dato in Öffentlichkeit und Politik verbotenen Bewegungen – die allgemein linksgerichtete Strömung und der konservative, politische Islam – offen agieren.1 Gerade die konservative, islamistische Bewegung stellt für die tunesische Gesellschaft mit der von ihr propagierten Lebensweise eine Herausforderung, wenn nicht gar Provokation, dar. Sie beabsichtigt, neue politische und sogar soziale Institutionen aufzubauen, indem sie eine Rückkehr zum islamischen Recht, der Scharia, anstrebt. Dies würde über eine Art ›Umverteilung der Karten‹ in allen sozialen Kategorien zu einer tiefgreifenden Restrukturierung des Status quo führen. Die 1
Sowohl die islamistische als auch die linke Bewegung wurden vom Ben Ali-Regime verboten. Nach der Revolution vom 14. Januar 2011 und dem Sturz der Regierung emanzipierten sich beide Bewegungen. Ihre Verbindung, die sich einst aufgrund der Verfolgung durch einen gemeinsamen Feind ergeben hatte, bestand nach dem Sturz des Regimes nicht mehr. Vielmehr stellten sich beide Bewegungen als die beiden sozial und politisch am weitesten voneinander entfernten Ideologien auf. Im Gegensatz zum islamistischen Denkansatz ist die Linke eine Verfechterin der Frauenrechte.
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Islamist*innen versuchen vehement, die Bedeutung, die den Frauen vor der Revolution beigemessen wurde, zu schwächen und das tunesische Personenstandsgesetz (Code du Statut Personnel, CSP)2 anzugreifen, indem sie etwa ein Verbot der kulturellen Vielfalt, das Tragen des Kopftuchs oder gar des Niqab 3 für Frauen fordern. Kurz gesagt, an der Stellung der Frauen entzündete sich nach 2010/2011 eine regelrechte Identitätssuche. Der Beitrag behandelt im Folgenden die Reaktionen auf die beschriebenen Forderungen der Islamist*innen im journalistischen Diskurs. Es geht dabei vorrangig um die Reaktionen, die den sozialen Status der Frauen erneut bekräftigen und sich auf eine Konfrontation mit den islamistischen Forderungen einlassen. So lässt sich in der ersten Zeit nach der Revolution unter anderem ein zähes Ringen zwischen den Islamist*innen und den Pressestimmen, insbesondere aus den französischsprachigen Medien, beobachten. Das Korpus der in diesem Beitrag vorgestellten Studie umfasst die Ausgaben der französischsprachigen Zeitung La Presse aus dem Zeitraum vom Februar 2011 bis zum Dezember 2013. La Presse, die im Rahmen der vorgestellten Studie den Stichprobennahmen dient,4 ist die älteste tunesische Tageszeitung in französischer Sprache und gilt als eine unabhängige Tageszeitung, da sie keine klare politische Positionierung vertritt. Sie wurde erstmals 1936 veröffentlicht und ist die meistverkaufte tunesische Tageszeitung in französischer Sprache. Ihre Artikel sowohl zum Thema der Stellung der Frauen als auch zum Thema des Islamismus werden im Folgenden analysiert. Ein Pressediskurs bietet die Möglichkeit, in den historischen Kontext einzutauchen, da er als Verbalisierung sozialer Spannungen betrachtet werden kann. Durch ihn lassen sich die über das kollektive Denken transportierten sozialen Transformationen und Sensibilitäten herausarbeiten. Es ist die Doxa des Landes, die über Presseberichte reproduziert und verbreitet wird. Der Beitrag konzentriert sich auf die Art des Referierens auf die Frauen und ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil beschreibt die aussagekräftigsten Reaktionen, die sich im Korpus des Pressediskurses über eine Inhalts- und Argumentationsanalyse ermitteln lassen. Das analysierte Material besteht aus exemplarischen Presseclippings, die eine beträchtliche Anzahl von Artikeln derselben Thematik reprä-
2
Das tunesische Personenstandsgesetz, CSP, gilt als Vermächtnis des ersten tunesischen Präsidenten Bourguiba und als Symbol der modernen, säkularistischen tunesischen Republik.
3 4
Spezieller Schleier, der auch das Gesicht verdeckt. Gerade der Charakter als allgemeine Tageszeitung macht La Presse zum passenden Korpus der Untersuchung, da sie keine bestimmte politische Position einnimmt.
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sentieren. Der zweite Teil des Beitrags fokussiert die Unterschiede in der redaktionellen Arbeit von Journalistinnen und Journalisten. So wird versucht, über die Art des Verweisens auf die Stellung der Frauen die unterschiedlichen Ausdrucksformen von Journalistinnen und Journalisten in den Artikeln herauszuarbeiten. Diese Unterschiede bieten eine Möglichkeit, sich der Geschlechterproblematik zu nähern: »Der Widerstand gegen das Referieren auf etwas ist auch ein Weg, der Verdinglichung zu widerstehen, denn das Verweigern von Bezeichnung und Zuschreibung ist gleichbedeutend mit dem Auflösen des Geschlechts und dem Infragestellen von Sprache.«5
2. DER JOURNALISTISCHE DISKURS 2.1 Rückbestätigung der Stellung der Frauen Das Thema der erneuten Bestätigung der Frauen in ihren gesellschaftlichen Positionen wurde relevant, da das Aufstreben der Islamist*innen eine Infragestellung ihres sozialen Status implizierte. So gingen die Anhänger*innen des politischen Islam davon aus, dass die Revolution eine radikale Umwälzung der seit Bourguiba bestehenden Ordnung gewesen sei und folglich auch die Errungenschaften der Frauen seit der Kolonialzeit hinfällig seien. Zur Verteidigung der Frauen begann die Argumentation im Pressediskurs in den ersten Artikeln nach der Revolution an ihre gesellschaftliche Stellung zu erinnern, um die bereits bestehenden Errungenschaften zu schützen. Diese mahnende Haltung war vor der Revolution nicht üblich. Doch wegen des zunehmenden Auftretens der Islamist*innen in der tunesischen Öffentlichkeit stützte sich der Pressediskurs oft auf die schon für die Ära Bourguiba typische Aussage, dass das CSP für die Emanzipation der Frauen stehe. Dies zeigt das folgende Beispiel: »Man muss zugeben, dass Tunesien das Land des ›Modernismus‹ war und dass es die einzige arabisch-muslimische Nation ist, die eine Verfassung und ein Personenstands-gesetz zur Sicherung der Rolle und der Rechte der Frau innerhalb von Familie und Gesellschaft verabschiedet hat.«6
5
Louvel, Liliane: »Préface«, in: Binard, Florence/Guyard-Nedelec, Alexandrine/Leduc, Guyonne: Nommer les femmes, le sexe et le genre (= Des idées et des femmes), Paris: l’Harmattan 2015, S. 32.
6
Vgl. La Presse vom 03.12.2011.
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Verglichen mit anderen Ländern der arabischen Welt mag die Stellung der Frauen in Tunesien besser sein. Aber das Paradoxe ist, dass in diesen Äußerungen unerwähnt bleibt, dass Tunesien durchaus noch Nachholbedarf hat. In den ersten Monaten nach der Revolution findet man diese Art von Äußerungen in großer Überzahl in der Presse. In diesem Deutungsmuster geht es darum, die Errungenschaften der Frauen zu bewahren und ihre etablierte Position zu verteidigen. Das In-Erinnerung-Rufen der Stellung der Frauen geht Hand in Hand mit einer Mahnung vor der Gefahr des Islamismus. So werden Darstellungen und Visionen eines von Islamist*innen regierten Tunesiens oft durch eine Warnung vor der islamistischen Misogynie begleitet, wie im folgenden Beispiel: »In Analogie dazu werden wir die Zeit, in der wir aktuell in Tunesien leben, d.h. die Zeit zwischen arabischem Frühling und Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Apparates durch die Anhänger des Islamismus, ›Normalisierung‹ nennen. ›Normalisierung‹ bedeutet die ›Rückkehr zur Normalität‹, in diesem Fall zur ›islamistischen Norm‹, d.h. zu einer Reihe von populistischen, ultrakonservativen und reaktionären sowie pathologisch frauenfeindlichen Denkansätzen.«7
Der grundlegende Gedanke dieser Äußerung ist die Inkompatibilität: Der Islamismus ist mit dem Tunesien des 21. Jahrhunderts unvereinbar – eine Idee, die von tunesischen Historiker*innen und Soziolog*innen geteilt wird. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Bedui: »Im 21. Jahrhundert hat im postrevolutionären Tunesien das Wiederaufleben des wahhabitischen Islamismus mehr als nur Aufregung hervorgerufen. Es hat zu Recht Sorge, Angst, Empörung und die Mobilisierung der gesamten modernistischen und avantgardistischen Gesellschaft gegen diesen anachronistischen und obskurantistischen Eindringling ausgelöst.«8 Die Inkompatibilität kann grundsätzlich viele Bereiche betreffen, wie die Staatsform oder die Wirtschaft, aber der Pressediskurs betont in erster Linie die Unvereinbarkeit der islamistischen Ideologie mit dem Personenstandsge-setz, dem CSP, also mit der Freiheit und der Emanzipation von Frauen. Tatsächlich muss gesagt werden, dass ihre emanzipatorischen Errungenschaften auch Gegenstand der immer wieder fortgesetzten Diskussion zur Frage sind, ob Frauen ›zu viele Rechte‹ haben. Die Antwort der Islamist*innen würde wahrscheinlich lauten, die tunesischen Frauen hätten zu viele Rechte und man müsse sie reduzie-
7 8
Vgl. La Presse vom 15.11.2011. Bedoui, Abdelmajid: Grandeurs et misères de la Révolution tunisienne, Paris: Harmattan 2014, S. 160.
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ren. Die Journalist*innen der Zeitung La Presse vertreten genau die gegenteilige Ansicht. Sie schreiben, dass Frauen nicht genug Rechte hätten und ihnen noch mehr zugesprochen werden müssten. Es handelt sich also um ein Kräftemessen. Zeineb Ben Said Cherni bestätigt die Diskussion in ihrer Arbeit über die Frauen im postrevolutionären Tunesien und argumentiert: »Es irritiert heutzutage in Tunesien, dass die öffentliche Meinung vorgibt, Frauen hätten alles erreicht. Die Menschen sagen, dass Frauen keine außergewöhnlichen Probleme hätten, denn sie besäßen alle Rechte.«9 In den Äußerungen des Pressediskurses wird die Absicht deutlich, die bereits erworbenen Rechte zunächst in Erinnerung zu rufen, um sie zu schützen, bevor weitere eingefordert werden können. Das grundlegende Ansinnen dieser Presseresonanz besteht in der Konsolidierung der Stellung der Frauen angesichts der zunehmenden Präsenz von Islamist*innen, die versuchen, ihre Rolle auf die einer Handlangerin des Mannes zu reduzieren. Diese Gefahr wurde bereits nach den ersten öffentlichen Auftritten der Islamist*innen thematisiert: »Das gesamte normative Dispositiv in Bezug auf Frauen zeigt deutlich, dass die tunesische Frau einen sehr privilegierten Status genießt. Doch mit den neuen nationalen Entwicklungen seit dem 14. Januar 2011 müssen diese beachtlichen Errungenschaften nicht nur bestätigt, sondern verstärkt werden.«10 Die in den ersten Monaten nach der Revolution beschriebene islamistische Gefahr zeigt die Frau als deren erstes Opfer. In den Artikeln finden sich zahlreiche Prognosen, welche vorwegnehmen, wie Islamist*innen die Rechte der Frau beeinflussen würden: »Das Scheitern der nationalistischen Ideologie, das von der Übernahme der arabischen Länder durch autoritäre und kriminelle Regime begleitet wurde, warf Millionen gedemütigter und verzweifelter Frauen in die Arme des Islamismus.«11 In diesem Ausschnitt führt der Autor die Erfahrungen anderer arabischer Länder, die sich nicht für die Rechte der Frauen einsetzen, als Beispiel an. Der journalistische Beitrag vermittelt die Angst um die Frauenrechte im Zusammenhang mit dem aufstrebenden Islamismus – sei es in Tunesien oder anderswo: »Islamist[*inn]en beanspruchten für sich einen positiven Zugang zur Natur, um Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen hervorzuheben, die sie als göttli-
9
Ben Said Cherni, Zeineb: »La question de la femme en Tunisie entre l’universel et le spécifique«, in: CREDIF: Égalité de Genre et Transition Démocratique, Tunis: CREDIF 2013, S. 165.
10 Dridi Kraïem, Mouna: »Le statut de la femme en Tunisie: entre la préservation des acquis et leur consolidation«, in: CREDIF: Égalité de Genre et Transition Démocratique, Tunis: CREDIF 2013, S. 74. 11 Vgl. La Presse vom 08.12.2011.
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chen Willen darstellen. Ausgerüstet mit einer dichotomen Vision und im Namen des Islam versuchten sie nun, diese ›natürliche‹ Stabilität der Geschlechterkategorien und der hierarchischen Gesellschaftsordnung zu untermauern.« 12 Zur Versicherung der Stellung der Frauen nach der Revolution lassen sich zwei wesentliche Äußerungsformen finden: zum einen das Hervorheben der Gefahr durch den aufstrebenden politischen Islam und zum anderen das Bewusstmachen der etablierten Position der Frau vor seinem Auftreten. Es ist verstänndlich, dass die Sorge um die Erinnerung an die bereits erkämpften Frauenrechte vor der Revolution nicht vorrangig war. Erst mit dem Auftreten der Anhänger*innen des Islamismus beginnt die Verteidigung der Frauenrechte: »Deshalb müssen der Säkularismus und die Gleichstellung von Männern und Frauen als Grundwerte der Republik in der neuen Verfassung verankert werden. Die Rechte der Frauen müssen so bleiben, wie sie im Personenstandsgesetz festgelegt sind. Weitere Rechte, beispielsweise die Gleichstellung im Erbrecht und die Gleichberechtigung in gewählten Parlamenten, wie der Nationalversammlung und den Gemeinderäten, sollten hinzugefügt werden.«13
2.2 In vorderster Reihe die Frau Das Bemerkenswerte ist, dass sich das Ringen um die Frauenrechte auf andere Kampfplätze ausdehnt. ›Die Frau‹ wird zum ›Flaggschiff‹ der journalistischen Feder in allen Kämpfen gegen den Islamismus – auch in politischen und wirtschaftlichen Texten. Damit wird ein wesentlicher Aspekt des Diskurses der Zeit vor 2011 fortgesetzt. ›Die Frau‹ wird erneut zur Avantgarde, die sich dem Aufmarsch der religiösen Ideologie stellt: »Wichtig dabei ist, dass das Geschlecht nicht als einfache, unverständliche ›Norm‹ erscheint, die von Individuen mechanisch angewendet wird, sondern als Machtspiel.«14 Mit ›Flaggschiff‹ ist nicht immer zwangsläufig ein feministischer Kampf gemeint. Es handelt sich vielmehr um eine Karte, die immer dann ausgespielt wird, wenn die islamistische Gefahr heraufbeschworen wird. Frauen spielten diese Rolle bereits in der Ära Bourguiba, als das Regime in den 1960er Jahren der internationalen Diplomatie das Bild einer modernen, freien Frau präsentieren
12 Azadeh Kian: »Les droits des femmes entre universalité et relativisme culturel«, in: CREDIF: Égalité de Genre et Transition Démocratique, Tunis: CREDIF 2013, S. 99. 13 Vgl. La Presse vom 18.03.2011. 14 Bereni, Laure/Chauvin, Sébastien/Jaunait, Alexandre/Revillard, Anne: Introduction aux études sur le genre (= Ouvertures politiques), Bruxelles: De Boeck 2012, S. 116.
Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs | 183
wollte, obwohl im Inneren des Landes genau das für viele von ihnen nicht der Realität entsprach. ›Die Frau‹ ist zentrale Akteurin, die sich im Kampf den Islamist*innen stellt – jedoch nicht als Anführerin, sondern als eine schon im Voraus verlassene Reserveeinheit. Es geht hier nicht um Geschlechtergerechtigkeit, sondern um ein Mittel zum Zweck für die Profilierung vieler politischer Akteur*innen. So wird die Frauenbewegung zur Quelle der Inspiration für journalistische Arbeit und grundlegendes sprachliches Argument für die Presseartikel, die gegen das Aufstreben islamistischer Kräfte anschreiben. ›Die Frau‹ dient in den meisten Artikeln zum Thema des politischen Islam als Standarte, die man schwenkt, um die Unvereinbarkeit reaktionären Denkens mit den gegenwärtig in Tunesien vorherrschenden gesellschaftlichen Werten zu verdeutlichen. Hierzu zwei Beispiele: »Angesichts der Islamisten, die eine konservative und doppelzüngige Front bilden, sind die progressiven Kräfte immer noch ungebündelt. Ich glaube, dass die Parteien und Vereinigungen, die prodemokratisch sind und sich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und die Achtung von Vielfalt und Freiheit einsetzen, sich zu einer demokratischen und progressiven Einheit formen müssen, um die Errungenschaften der Revolution zu bewahren und einen möglichen Rückschritt zu vermeiden.«15 »Es liegt in den Händen der Tunesier, sich als eine geeinte Front gegen religiöse Intoleranz und Fanatismus zu präsentieren, die beide darauf abzielen, Frauen zu unterwerfen und auf ihr einfachstes Dasein zu reduzieren, dem Willen des Mannes, ihres Herren und Meisters unterworfen zu sein, der sich nun nicht mehr auf eine einzige Ehefrau beschränkt.«16
Die Themen ›Frau‹ und ›Emanzipation der Frauen‹ sind durchgehend Teil des Kampfes gegen die religiösen Einflüsse auf die Gesellschaft sowie gegen die islamistische Ideologie. Auch hier ist nicht zu übersehen, dass die innerhalb des journalistischen Diskurses gewählte Strategie eine erwartbare Reaktion auf die islamisch-konservativen Forderungen darstellt. Auch die Islamist*innen decken mit ihrem Diskurs nicht unterschiedliche Themen ab, um die Gesellschaft in Frage zu stellen, sondern nur ein Themenfeld, das immer mit ›Der Frau‹ in Verbindung steht, wie etwa der Schleier oder die Geschlechterdiversität. Im journalistischen Diskurs lässt sich somit dieselbe Hartnäckigkeit gegenüber Frauen feststellen, nur in entgegengesetzter Richtung.
15 Vgl. La Presse vom 03.04.2011. 16 Vgl. La Presse vom 21.02.2011.
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2.3 Tunesische Frau und islamisch-konservativer Mann Die beschriebene Rolle ›der Frau‹ als ›Flaggschiff‹ und Jokerkarte im Kampf gegen den Islamismus weist der tunesischen Gesellschaft im Diskurs eine weibliche Bedeutung zu und ignoriert dabei gleichzeitig die tunesischen Männer. Parallel bekommt der politische Islam eine männliche Identität zugeschrieben, während Islamistinnen im Diskurs vernachlässigt und dethematisiert werden. Die statistischen Ergebnisse zu den entsprechenden Darstellungen in den Artikeln bestätigen die männliche Identität islamisch-konservativer Gruppen. Nur äußerst selten, in lediglich 2,00 % der Äußerungen, finden Islamistinnen Erwähnung. So wird die Existenz islamisch-konservativer Frauen im journalistischen Diskurs dethematisiert. Das heißt, der politische Islam als Ideologie wird im Pressediskurs nahezu ausschließlich durch männliche islamisch-konservative Gruppen repräsentiert, obwohl es auf Demonstrationen, wie im Fall Nessma und in Abdellya oder Manouba,17 Niqab tragende Frauen in beträchtlicher Anzahl vertreten sind. Doch die journalistische Textproduktion spricht nur von männlichen Vertretern des politischen Islam. Zwei mögliche Gründe können dafür angeführt werden. Zum einen ignoriert der politische Islam in seinen Grundprinzipien das Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit. Zum anderen passt das Bild der Islamistin nicht zu einer journalistischen Perspektive, die mithilfe tendenziöser Darstellungen gewalttätige Aspekte hervorheben will. Fasst man den sprachlichen Trend zusammen, so sind sich die Presseaussagen in dieser Auseinander-
17 »Nessma TV« ist der Name eines tunesischen Privatsenders, der im Oktober 2011 einen französischen Zeichentrickfilm »Persepolis« in tunesisch-arabischer Synchronisation ausstrahlte. Der Sender wurde von Hunderten Demonstrant*innen angegriffen, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlten, da er Gott als einen alten Mann darstellte. Im gleichen Monat begannen zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba zwischen einer Gruppe von islamistischen Studierenden, die vor allem das Tragen des Niqabs im Unterricht forderten, und dem wissenschaftlichen Rat der Fakultät, in deren Folge die Fakultät für ca. einen Monat geschlossen wurde. Bei den AbdellyaEreignissen geht es um Proteste, die im Juni 2012 von Islamisten gegen eine Ausstellung moderner Kunst gerichtet waren, die im Palais Abdellya in la Marsa, einem Vorort von Tunis, stattfand und in der einige Kunstwerke präsentiert wurden, die als Verstoß gegen den Islam betrachtet wurden. Diese Proteste mündeten dann in gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei in unterschiedlichen Orten des Landes mit mehreren Verletzten.
Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs | 185
setzung über die Repräsentation der tunesischen Gesellschaft durch ›die Frau‹ und die der islamischen Konservativen durch ›den Mann‹ einig. »Der Islam hat dem arabischen Mann den Weg zur Zivilisation geebnet, während die Moderne im Abendland einer Aufstandsbewegung gegen das Christentum entsprang.«18 »Ich bin Salafist, ich trage keinen Bart und rasiere mich jeden Morgen [...]«19
Diese beiden Artikel machen das Implizite im journalistischen Schreiben deutlich, denn es wird zum einen die Opposition zwischen Orient und Okzident, die in diesem Sinne auch oft das Abendland und das Arabische/den Islam gegenüberstellt, ausgedrückt. Zum anderen wird der Ausdruck »der arabische Mann« in Opposition zum nicht näher beschriebenen Okzident verwendet. Das zweite Zitat ist der Titel eines Editorials, in dem der verantwortliche Journalist seine Meinung zur Diskussion über die islamistische Bewegung bekundet, die für ihn eine friedliche und unpolitische Doktrin vertritt. Die konservativ-islamische Bewegung fordere die Nachahmung des spirituellen Lebens des Propheten in der religiösen Praxis. Der Autor äußert, dass salafistischer Islamismus nicht zwangsläufig das Tragen eines Bartes bedeute und dass er für eine friedliebende Lebensweise stehen könne. Interessant ist, dass für den Journalisten die islamistische Strömung durch einen Mann, mit oder ohne Bart, repräsentiert wird. Diese Betrachtungsweise offenbart einen Mechanismus der Stereotypen – so wie man eine Zitrone eher gelb zeichnet, obwohl es auch grüne gibt. Es geht um den Prototyp, der die jeweilige Kategorie repräsentiert. Das gilt auch für die moderne tunesische Gesellschaft, die im Pressediskurs als Opposition zum Islamismus präsentiert wird und deren Aushängeschild nicht der Mann, sondern die Frau ist. Die untersuchten Artikel reproduzieren auch die Gegenüberstellung der Begriffe ›Frau‹ und ›Islamisten‹, diese wird in insgesamt 257 Suchergebnissen deutlich. Dabei steht die Frau im Singular, die Islamisten werden hingegen im Plural angeführt, der eine quantitative und zugleich persönlichere Konnotation hat, da eine quantitative Bestimmung dem benannten Objekt einen greifbareren Aspekt gibt und dadurch die direkte Beteiligung von Individuen voraussetzt. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass Journalist*innen es vorziehen, Vertreter*innen eines politischen Islam auf individueller Ebene zu kritisieren, statt den Islamismus als Konzept anzugreifen, um in einem muslimischen Land religiöse Sympathien und Zwänge zu vermeiden. Dieselbe diskursive Gegenüber-
18 Vgl. La Presse vom 18.02.2011. 19 Vgl. La Presse vom 22.11.2011.
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stellung findet sich auch in den folgenden, in La Presse veröffentlichten Karikaturen wieder, die Tunesien oft als eine Frau und den Islamismus durch bärtige und aggressive Männer verbildlichen: Abbildung 1: Amel Aloui – Hoch die Fahne, runter mit der Kopfbedeckung!
Quelle: Chedly Belkhamsa, La Presse, 2011-2013
Abbildung 2: Anhänger der Ennadha-Partei/Islamisten
Quelle: Chedly Belkhamsa, La Presse, 2011-2013
Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs | 187
Abbildung 3: Niemals zurück in den Schatten!
Quelle: Chedly Belkhamsa, La Presse, 2011-2013
Abbildung 4: Der Staat stoppt die Gefahr
Quelle: Chedly Belkhamsa, La Presse, 2011-2013
Der Pressediskurs zeigt, dass das zunehmende Auftreten der Islamist*innen im Nachgang der Revolution als Bedrohung, insbesondere im Hinblick auf die Rechte der Frau, wahrgenommen wird. Um dem Erfolg des politischen Islam entgegenzuwirken, rufen Journalist*innen die Errungenschaften der Frauen aus der Zeit vor der Revolution in Erinnerung. Auch heben sie die Unvereinbarkeit des Islamismus mit der Gesellschaft im Allgemeinen und mit der Stellung der Frauen im Besonderen hervor. Durch die Instrumentalisierung ›der Frau‹ als ›Flaggschiff‹ in vorderster Reihe wird die tunesische Gesellschaft als weibliche Entität dargestellt, während der politischen Islam in der Regel männlich beschrieben wird.
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3. REDAKTIONELLE BESONDERHEITEN BEI JOURNALIST*INNEN Die folgende lexikologische Untersuchung konzentriert sich auf die Lexeme ›Frau‹ und ›Mann‹. Ihr Ansatz besteht darin, die beiden begrifflichen Einheiten sowohl quantitativ als auch qualitativ zu untersuchen. Dementsprechend sind neben der Anzahl beider Begriffe auch ihre syntaktische und semantische Verwendung Gegenstand der Untersuchung. Das gesamte Korpusmaterial des Pressediskurses wurde dafür verwendet. Im Folgenden werden die redaktionellen Unterschiede in der Textproduktion von Journalistinnen und Journalisten sowohl semantischer als auch diskursiver Art herausgestellt. Ziel ist es, Äußerungen aus geschlechtsspezifischer Perspektive zu analysieren. Die Fragestellung konzentriert sich auf die Art des Referierens auf die Frauen in der postrevolutionären Presse. Untersucht wird die redaktionelle Wahl der Begriffe ›femme(s)‹ (dt. Frau/Frauen), ›homme(s)‹ (dt. Mann/ Männer), ›citoyens‹ (dt. Bürger*innen) und ›tunisiens‹ (dt. Tunesier*innen). Die dafür analysierten 82 Artikel sind in gleicher Anzahl von Journalistinnen und Journalisten verfasst worden. Ihre Untersuchung erfolgte mithilfe der Software Antidote, die sowohl die Quantität eines Begriffs als auch seine grammatikalische Funktion und die ihn umgebenden Satzglieder, z.B. Subjekt, Verb, Adverb und Adjektiv, ermittelt. Eigennamen und Begriffe wie beispielsweise ›Ministerium für Frauen‹ werden dabei ignoriert. Die folgende Tabelle zeigt die bevorzugte Begriffswahl der Journalist*innen. Während Journalisten eher den Terminus ›femme‹ vorziehen, entscheiden sich Journalistinnen vorrangig für genderneutrale Sammelbezeichnungen wie ›citoyens‹ und ›tunisiens‹. Tabelle 1: Verwendung der Begriffe in den Artikeln weiblicher und männlicher Journalist*innen Verwendete Begriffe
Anzahl bei Journalisten
Anzahl bei Journalistinnen
›femmes‹ (dt. Frauen)
198
56
›les femmes et les hommes‹ (dt. die Frauen und die Männer) ›les citoyens‹ (dt. die Bürger*innen)
108
21
70
129
›les tunisiens‹ (dt. die Tunesier*innen)
83
111
Äußerungen zum Thema ›Frau‹ im tunesischen Pressediskurs | 189
Die quantitative Analyse liefert die Ergebnisse, dass männliche Journalisten es vorziehen, auf Frauen unter Bezugnahme auf deren Geschlecht zu referieren. Weibliche Journalistinnen hingegen entscheiden sich häufiger für eine grammatikalisch geschlechtsneutrale Bezeichnung. Dies ließe sich als Bemühen lesen, sexistische Binarismen aufzulösen: Für Roland Barthes durchkreuzt das Neutrum das Paradigma; die Suche nach dem Neutrum gelte »einer strukturalen Schöpfung, die den unerbittlichen Binarismus des Paradigmas durch den Rückgriff auf einen dritten Term auflöst.«20 Auch in »Nommer les femmes, le sexe et le genre« von Florence Binard wird die Idee der Tendenz zum Neutralen mit der Absicht, willkürliche Benennungen zu vermeiden, erklärt. 21 Die Ergebnisse bestätigen aber vor allem, dass die oben analysierten Äußerungen im Pressediskurs, der – mehrheitlich von männlichen Journalisten geführt – darauf abzielt, Frauen als Avantgarde im Kampf gegen den Obskurantismus darzustellen. Journalistinnen bevorzugen eine grammatische neutrale Begriffswahl, die sich unterscheidungsfrei weder auf Frauen noch auf Männer bezieht und entweder über den Plural ›les tunisiens‹ (dt. die Tunesier*innen) die Zugehörigkeit zu Tunesien betont oder mithilfe des Begriffs ›les citoyens‹ (dt. die Bürger*innen) an Werte wie Demokratie und soziale Gerechtigkeit appelliert. Das wird auch durch die quantitative Verteilung zwischen ›citoyens‹ (dt. Bürger) mit 113 Ergebnissen und › citoyennes‹ (dt. Bürgerinnen) mit 16 Ergebnissen deutlich. Bei Betrachtung der Merkmale von Pressetexten, in denen der Begriff ›Frau‹ eine Rolle spielt, kann man feststellen, dass männliche Journalisten eher die emanzipatorischen Werte der Frauenbewegung unterstreichen. Gleichzeitig aber sind sie es, die die Spielregeln des Kampfes um Anerkennung, das Ausmaß der Frauenrechte und den Umfang der Emanzipation diskursiv festlegen. Die weiblichen Journalistinnen beschreiben Frauen als den Männern gleichberechtigte tunesische Bürgerinnen und nehmen oft Abstand von der Unterscheidung, weil es für sie um Herausforderungen geht, die die gesamte tunesische Bevölkerung betrifft. An der Quantität des Begriffspaares ›Mann-Frau‹ zeigt sich, dass vor allem die männlichen Journalisten die Geschlechterunterscheidung reproduzieren. Während weibliche Journalistinnen insofern implizit die Meinung vertreten, dass das Thema die gesamte Gesellschaft betrifft, lehnen männliche Journalisten diese Überzeugung implizit ab, denn in ihren Äußerungen betrifft der Kampf
20 Barthes, Roland: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France1977-1978, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 33. 21 Vgl. Binard, Florence/Guyard-Nedelec, Alexandrine/Leduc, Guyonne: Nommer les femmes, le sexe et le genre (= Des idées et des femmes), Paris: l’Harmattan 2015.
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›die Frau‹. ›Sie‹ ist es, die in vorderster Reihe steht und, im Falle einer Niederlage, die Konsequenzen trägt. In diesem Sinne reproduzieren journalistische Diskurse Geschlechterstereotype im Verlauf der sozialen Transformationen. Aus dem Französischen übersetzt von Christian Ellwitz
Performative Initiativen, Öffentlicher Raum, Karneval Dimensionen der Performativen Demokratie im Rahmen der Tunesischen Revolution 2010/11 Imke Horstmannshoff
1. EINLEITUNG Mit der Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi im zentraltunesischen Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010 und den daraus resultierenden Unruhen in ganz Tunesien begann die Tunesische Revolution 2010/11. Sie mündete in den Umsturz des seit 23 Jahren bestehenden repressiven Regimes unter Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 sowie in die tunesischen Neuwahlen im Oktober desselben Jahres und wird gemeinhin als Beginn des sogenannten ›Arabischen Frühlings‹ beschrieben.1 Öffentlichen Aktionen wie beispielsweise sprachlichen Äußerungen, körperlichen Performances und Zusammenkünften kam während der Proteste im Rahmen der Tunesischen Revolution eine bedeutende Rolle zu – sei es im Fernsehen, im Internet oder auf der Straße.2 Um
1
Bis zur Schaffung einer demokratisch verfassten Staatsform dauerte es noch drei Jahre. Vgl. Jerad, Nabila: »The Tunisian Revolution: From Universal Slogans for Democracy to the Power of Language«, in: Middle East Journal of Culture and Communication 6 (2013), S. 232-255; Gaddes, Chawki: Die politische Ordnung Tunesiens gemäß der Verfassung von 2014, online unter https://www.boell.de/de/2014/10/21/ die-politische-ordnung-tunesiens-gemaess-der-verfassung-von-2014 vom 21.10.2014.
2
Vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution; Zahrouni, Rafika: »The Tunisian Revolution and the Dialectics of Theatre and Reality«, in: Theatre Research International 38
192 | Horstmannshoff
näher auf diese Dimension des Geschehens einzugehen, werden die Proteste im Rahmen der Tunesischen Revolution im Folgenden aus der Perspektive der Performativen Demokratie untersucht. Ausgehend vom historischen Beispiel der politischen Transformation Polens in den 1980er Jahren erarbeitete die Soziologin Elżbieta Matynia dieses Konzept, um eine Analyse der Rolle von Performativität und performativen (Sprech-) Akten 3 im Rahmen der Förderung bzw. Entstehung demokratischer Werte und Strukturen zu ermöglichen. Charakteristisch ist dabei, dass in der Analyse der Hintergründe politischen Wandels und politischer Bewegungen eine performative Perspektive eingenommen und damit die »Dynamik« fokussiert wird, »durch die eine kulturelle Ordnung erst etabliert wird«. 4 Für Matynia bilden dabei die spezifischen Erfahrungen lokaler Akteur*innen eine wichtige »micropolitical facet of modern politics«5 im Kontext demokratischer Strukturen, die beispielsweise durch die Zusammenfassung unter der Bezeichnung ›Zivilgesellschaft‹ oft in ihrer Spezifik verschleiert würden.6 Daher werden hier vor allem gewaltlose, demokratiefördernde Prozesse auf der ›Grassroots‹-Ebene in den Blick genommen, die auf lokalen Praktiken von Bürger*innen basieren. Sie könnten zur Förderung demokratischer Strukturen beitragen und so einer ›Aushöhlung‹ auch repräsentativer Systeme entgegenwirken. 7 Mit diesem Beitrag soll eine neue Perspektive auf die Protestbewegung und die Protestformen, die im Rahmen der Tunesischen Revolution sichtbar gewor-
(2013), S. 148-157; Omri, Mohamed-Salah: »A Revolution of Dignity and Poetry«, in: Boundary 2 39 (2012), S. 137-165. 3
Die Vorgänge, von denen hier die Rede ist, werden im Folgenden als ›performative (Sprech-)Akte‹ oder ›Initiativen‹ bezeichnet, da es sich dabei – wie im Laufe des Beitrags deutlich wird – nicht ausschließlich um verbale Äußerungen im Sinne der Austin’schen Sprechakttheorie handelt, siehe Abschnitt 1.
4
Volbers, Jörg: Performative Kultur. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer 2014, S. 15, Hervorh. i. Orig. Dadurch werden nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, die zu Praktiken führen, sondern auch reproduzierende bzw. verändernde Effekte solcher Praktiken berücksichtigt, vgl. ebd., S. 32. Zu Performativität als »Perspektive« (Hervorh. i. Orig.), nicht als »Theorie oder (…) Paradigma«: vgl. ebd., S. 3 f.
5
Matynia, Elżbieta: Performative Democracy, London: Paradigm 2009, S. 10.
6
Vgl. ebd., S. 8. »[A] situation that can lead to inaccurate policy guidelines, and often to disastrous policy decisions«, Matynia, Elżbieta: »Discovering Performative Democracy«, Vortrag vor der Societas Ethica, Warschau 2009.
7
Vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 5f.; Crouch, Colin: »Postdemokratie«, in: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 4 (2008), S. 4-7.
Performative Initiativen | 193
den sind, erschlossen werden: Dabei sollen die Handlungen lokaler Akteur*innen berücksichtigt und in ihren performativen Dimensionen sichtbar gemacht werden. Im Folgenden werden dafür zunächst die von Matynia genannten theoretischen Grundlagen des Konzepts vorgestellt und zu einer Perspektive der Performativen Demokratie zusammengeführt (1).8 Anhand der so erarbeiteten Aspekte erfolgt im Anschluss die eigentliche Analyse der Proteste zwischen Dezember 2010 und März 2011: Formen performativer Initiativen (2.1), die Entstehung eines ›Öffentlichen Raumes‹ (2.2) und karnevalistische Elemente (2.3) stehen in ihrem Mittelpunkt.9 Schlussendlich sollen fundierte Antworten auf die Frage gegeben werden, wie im Rahmen der Tunesischen Revolution demokratische Werte und Strukturen mittels performativer Initiativen von lokalen Akteur*innen formuliert, gefördert bzw. umgesetzt wurden. Ziel ist, abschließend aufzuzeigen, auf welche Weise(n) lokale, gewaltlose und demokratisch orientierte Praktiken im Rahmen der Tunesischen Protestbewegung performativ wirkten. Zugleich wird das Konzept der Performativen Demokratie selbst zum Gegenstand kritischer Prüfung bzw. Erweiterung.
8
Eine solche Herleitung und Zusammenstellung leistet Matynia in ihrer Arbeit eher unsystematisch in einer kurzen Einleitung, vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 1 ff.
9
Dabei wird auf deutsch- und englischsprachige wissenschaftliche Arbeiten verschiedener Disziplinen sowie teils auf journalistische Texte zurückgegriffen. In dieser Literatur wird kaum bis gar nicht auf die Rolle von Performativität oder gar Performativer Demokratie im Rahmen der Proteste eingegangen. Der vorliegende Beitrag füllt daher diese analytische ›Lücke‹ mit Hilfe qualitativer Textauswertungen. Dabei wird mit der Performativen Demokratie u.a. explizit eine Perspektive eingenommen, der ein liberales Demokratieverständnis zugrunde liegt. Hier wird auch deutlich, dass es in dieser Arbeit nicht darum gehen kann, ein vollständiges Bild der Proteste um die Tunesische Revolution zu zeichnen – aufgrund der spezifischen analytischen Perspektive werden zwangsläufig nur bestimmte Aspekte fokussiert.
194 | Horstmannshoff
2. DIE PERSPEKTIVE DER PERFORMATIVEN DEMOKRATIE 2.1 Austin und Butler: Performative Sprechakte und Performativer Widerspruch Grundlegender »Referenzpunkt«10 für das Konzept der Performativen Demokratie ist Austins Sprechakttheorie. Nach Austin lassen sich performative Sprechakte als Äußerungen verstehen, in denen »etwas sagen etwas tun heißt« und damit performativ eine Handlung vollzogen wird.11 Judith Butler betont in ihrer Arbeit zu Performativität12 das Potential, das solchen Sprechakten in politischen Veränderungsprozessen zukommen kann: Mit der Strategie einer »Resignifizierung« von Sprache könnten »neue und zukünftige Formen der Legitimation« 13 hervorgebracht werden. Ein solcher ›performativer Widerspruch‹ könne neue Formen des Sprechens legitimieren, was eine Möglichkeit für den Wandel gesellschaftlicher Wirklichkeiten darstellt.14 Die grundlegende Logik der Performativität, die für das Konzept der Performativen Demokratie entscheidend ist, geht jedoch über die sprachliche Dimension hinaus und beschreibt »das Phänomen, dass ›Wirklichkeiten‹, auf die sich bestimmte Handlungen beziehen, erst im Akt dieser Bezugnahme [...] hervorgebracht werden«.15 Für Austin wie für Matynia können diese performativen (Sprech-)Akte nicht ohne geeignete Umstände wirksam werden: Sie müssen von lokalen Akteur*innen getragen und in lokalen Kontexten mit Bedeutung ›erfüllt‹ sein, um Wandel anstoßen zu können.16 Andererseits scheint es notwendig, dass
10 J. Volbers: Performative Kultur, S. 20 f. 11 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), München: Piper 2002 [1956], S. 35. Bekannte Beispiele für solche Sprechakte sind die Schiffstaufe (»Ich taufe dieses Schiff auf den Namen [...]«), die Zustimmung zur Heirat sowie testamentarische Äußerungen, vgl. ebd., S. 28 f. 12 Butler wird bei Matynia nur am Rande erwähnt, vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 179. Da sie Austins Begriff der Performativität um eine politische Dimension ergänzt, erscheint ihre Arbeit hier dennoch als relevant. 13 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 71. 14 J. Volbers: Performative Kultur, S. 37 ff. 15 Ebd., S. 1. Hervorh. i. Orig. 16 Vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 6; J.L. Austin: Theorie der Sprechakte, S. 31.
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sich solche Akte in einem Spannungsverhältnis zwischen Konvention und Innovation bewegen; bei Matynia verdeutlicht dies der Begriff der »new convention«.17 Die Aufmerksamkeit wird dabei auf (Sprech-)Akte gerichtet, die die Infragestellung von Regimen auf gewaltlose Weise ermöglichen und auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Konsenses im Sinne einer Demokratisierung bzw. Demokratieförderung abzielen.18 Matynia untersucht jedoch nicht ausschließlich mündliche verbale Sprechakte (z.B. Reden), sondern versteht auch geschriebene Texte und Poesie, diverse politische Aktionen und die Existenz der Solidarność selbst (vgl. ebd.: 50) als »performative initiatives« 19. 2.2 Arendt: Öffentlicher Raum In Anlehnung an Hannah Arendts Unterscheidung zwischen ›Erscheinungsraum‹ und ›Öffentlichem Raum‹20 erweitert Matynia den Fokus der Untersuchung auf die soziale Dimension der Sprache. Wechselseitig wahrgenommenes Sprechen und Handeln könnten die Herausbildung eines »Erscheinungsraumes« befördern, in welchem die Vielfalt der Stimmen anerkannt und gehört werden könne. 21 Dieser wiederum ermögliche erst die Etablierung und das Bestehen eines »Öffentlichen Raumes«, in dem Menschen frei von privaten – ökonomischen, sozialen – Belangen zusammenkommen, voreinander erscheinen und politisch wirksam werden können. Erst in diesem Raum werde Realität konstituiert und friedliches Zusammenleben garantiert.22 Matynia versteht dieses Voreinander-Sprechen und -Handeln unter bestimmten Umständen als performativen Akt: Im Kontext eines repressiven Regimes könne das öffentlich wahrnehmbare, individuelle Sich-
17 E. Matynia: Performative Democracy, S. 11. Hervorh. i. Orig. 18 Das Konzept der Performativen Demokratie ist laut Matynia kaum operationalisierbar; performativ-demokratische Vorgänge seien viel eher zu beobachten; vgl. ebd., S. 5. Das Konzept wird somit von seiner Wirkung her gedacht: Wo Praktiken sichtbar geworden sind, die auf demokratische Werten und Strukturen abzielen, kann untersucht werden, welche Rolle Performativität in diesen Vorgängen spielte. 19 Matynia, Elżbieta: »1989 and the Politics of Democratic Performativity«, in: International Journal of Politics, Culture and Society 22 (2009), S. 264. Hervorh. i. Orig. Auch darüber hinaus kann Matynias Umgang mit Austins Sprechakttheorie eher als ›Aneignung‹ und ›Modifizierung‹ bezeichnet werden. 20 Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa oder vom tätigen Leben, München: Piper 2003 [1960]. 21 Vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 7, 57, 179. 22 Vgl. ebd., 50 ff., 199.
196 | Horstmannshoff
hörbarmachen die institutionell bestimmte ›autoritäre Stimme‹ zeitweise ersetzen und performativ zur Herausbildung eines Erscheinungsraumes und Öffentlichen Raumes beitragen.23 So könnten bestimmte (Sprech-)Akte schon durch ihren Vollzug performativ wirken. Performativ-demokratische Akte zielen laut Matynia darauf ab, »to construct sites for embryonic public spheres to gradually cultivate, maintain, and expand them«. 24 2.3 Bakhtin: Karneval und Ausnahmezustand In seiner Untersuchung des Karnevals als kulturhistorisches Phänomen versteht ihn Bakhtin als einen »Raum [...], wo ein von oben diktierter Stillstand und das Verlangen nach Wandel von unten [...] aufeinander treffen«.25 Ohne sich explizit auf Performativität zu beziehen, schreibt ihm Bakhtin ein transformatives Potential zu: Vor allem aufgrund der Aufhebung von Hierarchien, der Herausbildung neuer Kommunikationsmuster sowie der »Befreiung von […] der bestehenden Gesellschaftsordnung« könne das karnevalistische Fest als temporäre Realisierung des ›Idealen‹ verstanden werden – es sei eine »Lebensform auf Zeit, die man nicht inszenierte, sondern […] beinahe wirklich lebte«. 26 In der Performativen Demokratie steht es für einen von den Akteur*innen initiierten ›Ausnahmezustand‹, im Rahmen dessen durch ›außerordentliche‹ Momente performativ mit der Ordnung gebrochen wird: »In its most glorious instances it constitutes a site of both joyous and subversive experience in the carnivalesque public square, where fear and suffering are [...] degraded«. 27 Trotz seiner zeitlichen Begrenztheit und Affektgeladenheit könne der performativ-demokratische Karneval reale Veränderungen anstoßen: Die performativen Akte, die dabei stattfänden, könnten im besten Fall neue Konventionen zur Folge haben und auf institutionelle Strukturen zurückwirken.28 Wenn die Akteur*innen sich dabei als ›Bürger*innen‹ identifizierten und ihrer Handlungsfähigkeit bewusst würden, könne
23 Vgl. E. Matynia: »Discovering Performative Democracy«, S. 5. 24 E. Matynia: 1989, S. 267. 25 Clark, Katerina/Holquist, Michael: Mikhail Bakhtin, Cambridge: Harvard UP 1984, S. 297, zitiert nach: Lachmann, Renate: »Vorwort«, in: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 7-46, hier S. 8. 26 Ebd., S. 55 ff. 27 E. Matynia: Performative Democracy, S. 9. 28 Vgl. E. Matynia: Discovering, S. 7. Indem umgesetzt wird, was eigentlich zum »utopischen Reich der Universalität, der Freiheit, der Gleichheit und des Überflusses« (M. Bachtin, Rabelai, S. 57) gehört, wird hier ein Idealzustand performativ realisiert.
Performative Initiativen | 197
zudem eine ›zivile Kreativität‹29 erzeugt werden, die von Dauer sein und Demokratie fördern könne: »This is where the taste for democracy is discovered, this is where people discover their own performative capacities«. 30 Aus den beschriebenen theoretischen Aspekten ergibt sich somit eine Perspektive der Performativen Demokratie, aus der im Folgenden »a posteriori« 31 die Praktiken lokaler Akteur*innen während der Proteste der Tunesischen Revolution auf ihre performativen Dimensionen hin untersucht werden.
3. DIE TUNESISCHE REVOLUTION AUS DER PERSPEKTIVE DER PERFORMATIVEN DEMOKRATIE 3.1 Performative Initiativen 3.1.1 Sprache und Sprechakte: Slogans, Graffiti, Protestsongs In einer posthum erschienenen Arbeit argumentiert Nabila Jerad »that language during the revolution [...] was a performative political act by people from diverse backgrounds who united around the common cause of democracy and dignity«. 32 Sprachliche Protestformen sind im Rahmen der Tunesischen Revolution sowohl in oraler als auch in schriftlicher Form vollzogen worden: Demonstrationsslogans, Protestsongs, Graffiti, Posts und Blogeinträge können als Kommunikationsformen gelten, in denen nicht-institutionelle Stimmen öffentlich hörbar wurden.33
29 Vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 6 ff. 30 E. Matynia: Discovering, S. 10 f. 31 E. Matynia: Performative Democracy, S. 10. 32 N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 232. 33 Vgl. ebd.; Poell, Thomas/Darmoni, Kaouther: »Twitter as a multilingual space: The articulation of the Tunisian revolution through #sidibouzid«, in: Necsus – European Journal of Media Studies 1 (2012), S. 14-34; King, Stephen J.: »Social media and civil society in the Tunisian Revolution: Implications for Democracy and Peacebuilding«, in: Alphonse Keasley/Laura DeLuca/Sylvester B. Maphosa (Hg.), Building Peace from Within, Oxford: African Books Collective 2014, S. 268-279; Gandolfi, Paola: »Contemporary Artistic Production and Revolutionary Processes in Tunisia«, in: European Scientific Journal, Special 1 (2014), S. 518-530. Der Fokus liegt hier auf den Slogans der Bewegung. Für Weiteres zu virtuellen Sprechakten siehe Abschnitt 2.2.
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Auf Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung folgten in Sidi Bouzid erste von Angehörigen organisierte Demonstrationen, während derer die Protestierenden unter anderem öffentlich den Slogan ›Arbeit ist ein Recht, ihr Bande von Dieben‹ skandierten.34 Solche und andere Slogans konnten als performative Sprechakte fungieren, deren Effekte Machtstrukturen umkehren und politische Veränderungen anstoßen konnten.35 Doch im Verlauf der Revolution waren auch inhaltliche Veränderungen im Diskurs der Slogans festzustellen: Mit der Ausweitung der Proteste nach Tunis und in andere Regionen Tunesiens wurden aus der in Sidi Bouzid vorgetragenen Schuldzuweisung an die Regierung konkrete politische Forderungen insbesondere nach ›Arbeit, Freiheit, nationaler Würde‹, 36 die von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wurden. Wo anfangs hauptsächlich ökonomische Motive eine Rolle spielten, wurde bald eine zunehmende Politisierung der Proteste sichtbar, wie ein Demonstrationsslogan am Tag von Bouazizis Beerdigung verdeutlichte: ›Brot, Wasser und nicht Ben Ali‹. 37 Im Vordergrund standen außerdem die Kritik an der Korruption und der Ruf nach einer demokratischen Regierung.38 Ein weiterer Slogan, der – im Gegensatz zu den meisten anderen Slogans – auf Standardarabisch formuliert wurde, ›aš-šacb yurīd isqāṭ anniẓām‹,39 weist nach Jerad auf ein entstandenes Selbstbewusstsein der Protestierenden als »political actors« hin.40 Der bekannteste Slogan, ›Dégage!‹ bzw. ›Ben Ali, dégage!‹, wurde erst gegen Ende der Proteste in Kasserine und Tunis hörbar und muss laut Guessoumi als historisch bedeutsame, weil radikale Ablehnung
34 at-tašġīl istiḥqāq ya ʿiṣābat as-surrāq; vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 239. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Proteste in Sidi Bouzid die ersten ihrer Art in Tunesien oder in der Region gewesen sind. Für die Geschichte sozialer Proteste insbesondere auf dem tunesischen Zentralplateau siehe: Jdey, Ahmed: »A History of Tunisia, January 14, 2011: The End of a Dictatorship and the Beginning of a Democratic Construction«, in: Boundary 2 39 (2012), S. 69-86. 35 Vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, 238 ff. Siehe auch Abschnitt 2.2. 36 šuġl ḥurrīya karāma waṭanīya, vgl. ebd., 238. Die wörtliche Übersetzung lautet »Arbeit, Freiheit, nationale Würde«. Dieser Spruch stammt ursprünglich aus den 70er Jahren, wo er von linken oppositionellen Studierenden benutzt wurde. ›Nationale‹ Würde drückte damals eine linke antiimperialistische Haltung aus. Diese Haltung war 2010/11 nicht mehr so präsent wie früher. Es ging eher um Würde im Sinne von ›Menschenwürde‹. 37 ḫubz ū mā ū ben ʿalī lā, vgl. ebd., S. 240. 38 Vgl. ebd., S. 238, 244 f. 39 »Das Volk will das Regime stürzen« vgl. ebd., S. 240. 40 Vgl. ebd., S. 245. Siehe unten Abschnitt 2.3.
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von Ben Alis Versuchen, sich an der Macht zu halten, verstanden werden.41 Das französische Wort ›dégage‹, das im Tunesisch-Arabischen benutzt wurde, ist laut Jerad auch im Kontext des kolonialen Gedächtnisses Tunesiens zu sehen; die Revolution sei so mit dem Streben nach politischer Unabhängigkeit in Verbindung gebracht und Ben Ali als »new colonizer« abgelehnt worden.42 ›Dégage!‹ sollte im weiteren Verlauf der Revolution und danach u.a. auf Ben Alis Partei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), sowie auf die Übergangsregierung Mohamed Ghannouchis bezogen werden.43 Eine weitere Ebene, auf der sprachliche Kämpfe eine Rolle spielten, lässt sich im Kontext der internationalen Aufmerksamkeit für die Tunesische Revolution beobachten: Während internationale Medien schnell den Begriff ›Jasminrevolution‹ zur Beschreibung der Vorgänge verwendeten, damit gängige Klischees des tunesischen Tourismusmarketings unter Ben Ali reproduzierten und ein romantisiertes Bild gewaltfreier, vergleichsweise harmloser Aufstände zeichneten, reformulierten tunesische Protestierende diese Bilder und Sprüche und widersprachen ihnen damit performativ: ›Hebe deinen Kopf, du bist in Kasserine‹ bezog sich auf und ersetzte zugleich ›Lächle, du bist in Tunesien‹, statt ›Rosen und Jasmin‹ wurden ›Tränengas und Schießpulver‹ beschworen, um auf das politische Klima und die Gewalt im Land aufmerksam zu machen. 44 Die Verbindung von Sprache und Macht lässt sich außerdem in Tunesien noch auf anderer Ebene nachverfolgen: So nehmen die drei Sprachen derja (tunesischer Dialekt des Arabischen), fusha (Standardarabisch) und Französisch unterschiedliche Rollen im politischen und gesellschaftlichen Leben des Landes ein.45 Im Rahmen der Revolution wurden diese jedoch in Frage gestellt und vor allem die Rolle des Dialekts aufgewertet.46 Fragen nach Gleichheit, Identität und Partizipation sind somit immer auch über die Sprache, in der gesprochen wird, vermittelt, was zur Komplexität der Situation beiträgt und für die Analyse von Sprechakten eine weitere Dimension eröffnet.47
41 Vgl. M. Guessoumi: The Grammars, S. 31. 42 Vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 242 f. 43 Vgl. M. Guessoumi: The Grammars, S. 37. 44 »Hebe deinen Kopf, du bist in Kasserine« = »irfaʿ ra’sik anta fī gaṣrīn« statt »Lächle, du bist in Tunesien« = »ibtasim anta fī tūnis«; vgl. M.-S. Omri: A Revolution, S. 139 f.; M. Guessoumi: The Grammars, S. 20. 45 Vgl. N. Jerad: S. 236 f., 252 ff. 46 Vgl. M.-S. Omri: A Revolution, S. 141. 47 Wie die Slogans zeigen, waren auch die Proteste selbst multilingual organisiert, vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 241.
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3.1.2 Körper: Demonstrationen und die Rolle von Gewalt Zum Handlungsrepertoire der Protestierenden gehörten auch Protestformen, die auf Körperlichkeit basieren: »The uprising in Tunisia was, to a large degree, shaped by real-life performances«,48 so Zahrouni. Darüber hinaus wurden auch spezifischere, theaterartige Performances sichtbar, von Gesängen und Gedichtrezitationen bis hin zu Theatervorstellungen und weiteren »site-specific performances«.49 Matynias Konzept von Performativität wird an dieser Stelle auf körperliche Protestformen ausgeweitet.50 Die bloße Anwesenheit und Auseinandersetzung von Körpern während friedlicher und gewaltsamer Demonstrationen kann bereits als eine solche gelten: Von den ersten Protesten in Sidi Bouzid und auf dem Zentralplateau bis hin zur Großdemonstration am 14. Januar 2011 auf der Avenue Bourguiba, während derer die Menge auf mehr als 60.000 Menschen anwuchs, basierten alle Demonstrationen letztendlich auf der Präsenz von Körpern in bestimmten öffentlichen Räumen.51 Die »Caravane de la Liberté«, im Rahmen derer sich Protestierende aus verschiedenen Teilen des Landes am 22./23. Januar 2011 auf den Weg nach Tunis machten, um gegen die Zusammensetzung und Pläne der Übergangsregierung zu demonstrieren, stand symbolisch für die Partizipation der ›peripheren‹ Regionen in den Protesten. Aber auch und insbesondere während der Sit-Ins und Besetzungen der Kasbah im Januar, Februar und März 2011 repräsentierte
48 R. Zahrouni: Dialectics of Theatre, S. 155. 49 Vgl. Amine, Khalid: »Re-enacting Revolution and the New Public Sphere in Tunisia, Egypt and Morocco«, in: Theatre Research International 38 (2013), S. 87-103, hier S. 89 f. 50 Diese entsprechen am ehesten einem ›theatralischen‹ Verständnis von Performativität, welches u.a. von Erika Fischer-Lichte konzeptualisiert wurde. Zu dieser und zum Begriff der cultural performance vgl. J. Volbers: Performative Kultur, S. 29 ff., 75 ff. Im Vergleich zu beispielsweise den Gezi-Protesten 2013 in der Türkei blieben diese öffentlichen Performances aber marginal oder wurden zumindest in englisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Quellen weniger stark rezipiert. Vgl. Hanke, Christine: »Den Platz lesen«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 9 (2013), S. 115123. 51 Vgl. Governa, Francesca/Puttili, Matteo: »After a Revolution. Public Spaces and urban practices in the core of Tunis«, in: Michele Lancione (Hg.): Rethinking Life at the Margins. The Assemblage of Contexts, Subjects, and Politics, London: Taylor & Francis 2016, S. 42-59.
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und produzierte körperliche Präsenz die Ziele der Protestierenden und eine gewaltfreie politische Aktivität.52 Auch Bouazizis Selbstverbrennung wurde laut Jerad von den Protestierenden in Sidi Bouzid als politischer Akt interpretiert. Sie weist u.a. auf die starke lokale Identifikation der Protestierenden mit Bouazizis Schicksal und Motivation sowie auf seine spätere Heroisierung als Märtyrer der Revolution hin. 53 Bouazizis Selbsttötung wird hier jedoch nicht als politische Protestform im Sinne performativer Demokratie verstanden, da er – wie so viele Protestakte während der Revolution – auf Gewalt (gegen den eigenen Körper) basierte. Darüber hinaus kam es im Rahmen der Proteste an vielen Stellen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, mittels körperlicher und Waffengewalt.54 So reagierte die Regierung auf die Unruhen vor und nach Ben Alis Flucht größtenteils mit gewaltsamer Unterdrückung, und bis Ende Januar war eine dreistellige Opferzahl zu beklagen.55 3.1.3 Struktur und Gemeinschaft Die hier beschriebene tunesische ›Protestbewegung‹ lässt sich nur schwer unter einer Einheit zusammenfassen. Ohne von einer Partei oder einer anführenden Person vereinnahmt zu werden, nahmen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Klassen an den Demonstrationen, Streiks und Versammlungen teil: von den oft erwähnten »unemployed college graduates« 56 und jungen, internetaffinen Aktivist*innen über gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen und Be-
52 Vgl. Saidani, Mounir: »Revolution and Counterrevolution in Tunisia: The Forty Days that Shook the Country«, in: Boundary 2 39 (2012), S. 43-54, hier S. 51 ff. 53 Vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 239. 54 Vgl. ebd.; https://jungle.world/artikel/2011/03/die-revolution-wird-getwittert vom 20.1.2011. Insbesondere am Wochenende des 8./9. Januar waren die Reaktionen der Regierung auf die sich ausweitenden Proteste in verschiedenen Governoraten von Gewalt geprägt. Auch die erste Besetzung der Kasbah wurde Ende Januar gewaltsam aufgelöst. Vgl. M. Saidani: Revolution and Counterrevolution, S. 53. 55 Insbesondere mit Butler kann darüber hinaus gefragt werden, ob Sprache – gerade durch ihren performativen Charakter – nicht auch als Akt der Gewalt gesehen werden kann: vgl. J. Butler: Haß spricht. 56 Al-Sayyad, Nezar/Guvenc, Muna: »Virtual Uprisings: On the Interaction of New Social Media, Traditional Coverage and Urban Space during the ›Arab Spring‹«, in: Urban Studies 52 (2015), S. 2018-2034, hier S. 2019.
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schäftigte aus dem öffentlichen Dienst bis hin zu organisierten Anwält*innen. 57 Auf praktischer Ebene machten derartige Zusammenschlüsse die Revolution in dieser Form erst möglich: Während beispielsweise internetaffine Aktivist*innen Informationen bezüglich des Geschehens sowohl landesweit als auch international verbreiteten und Mitarbeiter*innen der größten tunesischen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) in lokalen Niederlassungen die nötige Infrastruktur für die Mobilisierung und den Schutz von Protestierenden bzw. Streikenden bereitstellen konnten, trugen Zusammenschlüsse von Anwält*innen zur juristischen Formalisierung der Proteste und ihrer Forderungen bei.58 Die Struktur der Protestbewegung folgte nach Jerad somit dem Konzept einer ›kollektiven Souveränität‹: »[A] new political concept; ›the people‹ as a new elite who, without structure or party, have shown that they can be the leaders and the actors of a revolution«.59 Laut Dietrich fand dabei weniger eine »geplante AktivistInnenarbeit und ideologische Mobilisierung« als viel eher eine Form der »Alltagsmobilisierung» und die »kollektive Aktion nicht-kollektiver AkteurInnen« statt.60 Die Geschehnisse seien von zumeist informellen Gruppen in improvisierten (Re-)Aktionen genutzt worden, um mentale und emotionale Ressourcen zu mobilisieren; zugleich konnte keine Gruppe entscheidende Kontrolle über die Proteste ausüben. Diese fehlende Formalisierung bzw. Institutionalisierung der Proteste ergab nach Mabrouk erst die entscheidende revolutionäre Situation.61 Darüber hinaus wurden auch ganz konkret neue Gemeinschaftsformen möglich, die sich zum Beispiel im Rahmen der Besetzungen der Kasbah manifestierten: In Form von Putzkolonnen, Ordnungsdiensten, Foren und Abstimmungen, Mediator*innen zwischen den Gruppen und einem Informationskomitee wurden
57 Vgl. Dietrich, Helmut: »Das Jahr V der arabischen Revolution – Beispiel Tunesien«, in: Sozial.Geschichte Online 18 (2016), S. 99-117, hier S. 105. 58 Vgl. ebd.; M. Mabrouk: A Revolution for dignity and freedom, S. 631 f.; M. Guessoumi: The Grammars, S. 33 f. 59 N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 245. Verhandlungen auf Augenhöhe, wie beispielsweise Roundtable-Gespräche haben jedoch im Kontext der Tunesischen Revolution zunächst nur intern, u.a. im Rahmen der Sit-Ins, stattgefunden. Erst im Streit um eine neue Verfassung im Jahr 2013 konnten zivilgesellschaftliche Verbände in Form des ›Quartetts der Zivilgesellschaft‹ direkteren Einfluss ausüben, vgl. https://www. boell.de/de/2014/10/21/die-politische-ordnung-tunesiens-gemaess-der-verfassungvon-2014 vom 21.10.2014. 60 Vgl. H. Dietrich: Das Jahr V, S. 103. 61 M. Mabrouk: A Revolution for dignity and freedom, S. 631 f.
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dort in Selbstmanagement Strukturen etabliert, die in Bezug auf das Zusammenleben und die demokratische Legitimation neue Möglichkeiten aufzeigen sollten:62 »The camps in fact allowed the protestors to [...] construct a unified image of the movement – creating a revolutionary identity as well as small group solidarities [...]. They were also spaces for exchange of ideas, [...] facilitating inter-class relations and the development of new practices.«63
Die Führerlosigkeit, die Vielfalt der Beteiligten und spontane Mobilisierungen trugen somit dazu bei, dass die tunesische Revolutions-›Bewegung‹ neue Formen der Gemeinschaft möglich erscheinen ließ, sich politisch nicht vereinnahmen ließ und dadurch schon auf der Ebene der Organisation und Mobilisierung performativ gesellschaftlichen Wandel anstieß. 3.2 Öffentliche Räume 3.2.1 Die Entstehung eines Öffentlichen Raumes Tunesien unter Ben Alis Präsidentschaft kann als stark repressiver Kontext beschrieben werden: Während sich die Regierung auf internationaler Ebene als ›fortschrittliche‹ und zuverlässige wirtschaftliche Partnerin darstellte, waren oppositionelle politische Vereinigungen und zivilgesellschaftliche Einrichtungen mit einem starken Polizeistaat konfrontiert und hatten kaum Möglichkeiten, aktiv zu werden bzw. ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. 64 Zugleich hatte sich eine teils politische Szene im Bereich der kulturellen Produktion entwickeln können, deren Akteur*innen vergleichsweise frei agieren konnten. 65 In den Bereichen Film, Theater, Kunst und Musik waren marginale, informelle Räume er-
62 Vgl. https://jungle.world/artikel/2011/02/nicht-nur-eine-brotrevolte vom 13.1.2011; https://nawaat.org/portail/2015/02/09/four-years-after-the-kasbah-sit-ins-taking-stockof-a-revolutionary-mission-confiscated/ vom 25.2.2015; siehe auch Abschnitt 2.3. 63 Della Porta, Donatella: Mobilizing for Democracy: Comparing 1989 and 2011, Oxford: UP 2014, S. 132. 64 Vgl. https://jungle.world/artikel/2011/02/nicht-nur-eine-brotrevolte vom 13.1.2011; Antonakis, Anna: »Der Quelltext der Tunesischen Revolution. Partizipation in der Gegenöffentlichkeit und an der Schnittstelle von virtuellen und realen Räumen: Ein medienanalytischer Zugang«, in: Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients, WP Series 5, S. 1-66, hier S. 29 f. 65 Vgl. M.-S. Omri: A Revolution of Dignity, S. 138.
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öffnet worden, innerhalb derer ›soziale Alternativen‹ und Imaginationen entwickelt und verbreitet wurden.66 Durch neue Medien und die Tätigkeiten von Internetaktivist*innen konnte diese Untergrundkultur weitere Verbreitung finden und einen der Grundsteine bilden, auf denen die Proteste der Revolution aufbauten:67 »[They] vindicated the decades-long culture of resistance [...] recalled alternative, marginalized, and repressed voices; gave rise to completely new voices; made others change course [...]«.68 Slogans wie das französische ›le silence est notre ruine‹ und das tunesisch-arabische ›ma ʿādiš sāktīn‹ unterstreichen die Bedeutung, die die Protestierenden selbst diesem schlussendlichen Bruch mit der repressiven (Selbst-)Zensur zuwiesen.69 So muss die Tunesische Revolution auch als Entstehung eines Öffentlichen Raumes gelesen werden, in dem Initiation, Entwicklung und Verbreitung politischer (Sprech-)Akte eine entscheidende Rolle spielten, über ihre inhaltliche Dimension hinaus und schon durch ihre bloße Präsenz performativ wirkten und politische Handlungsmöglichkeiten eröffneten.70 In den folgenden Wochen und Monaten konnte politische Partizipation immer mehr auch jenseits informeller Räume stattfinden und politischer Protest – trotz zunächst anhaltender Repression – öffentlich gemacht werden. Bis Oktober 2011 entstanden beispielsweise etwa 1700 neue Vereine und zivilgesellschaftliche Organisationen.71 Darüber hinaus folgte auf den entstehenden Meinungspluralismus auch die öffentliche Austragung von gesellschaftlichem Dissens, beispielsweise in Hinblick auf den Chef der Übergangsregierung Ghannouchi, gegen den im Februar in den Kasbah-Sit-Ins demonstriert wurde, während zugleich eine selbsternannte
66 Vgl. P. Gandolfi: Contemporary Artistic Processes, S. 523 f. 67 Vgl. ebd., 518 ff. 68 M.-S. Omri: A Revolution of Dignity, S. 142. 69 ›Schweigen ist unser Ruin‹ und ›Wir werden nie wieder still sein‹; vgl. N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 238. 70 Vgl. E. Matynia: Discovering Performative Democracy, S. 5. 71 Vgl. A. Antonakis: Der Quelltext, S. 24 ff.; Fortier, Edwige A.: »Transition and Marginalization: Locating Spaces for Discursive Contestation in Post-Revolution Tunisia«, in: Mediterranean Politics 20 (2015), S. 142-160. Laut Fortier erfuhren bestimmte Gruppen, z.B. sexuelle Minderheiten, im Verlauf des Jahres und mit zunehmender Polarisierung von islamistischen und säkularen Kräften verstärkte Marginalisierung. Vgl. ebd., 151 ff.
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»schweigende Mehrheit« zu Gegendemonstrationen und zur Unterstützung Ghannouchis zwecks Wahrung der sozialen Ordnung aufrief.72 Eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines Öffentlichen Raumes kam weiblichen Protestierenden zu, die teils ohne Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen immer sichtbarer wurden – in der Öffentlichkeit der Medien und sozialen Netzwerken, aber auch auf der Straße.73 Mit dem »Marsch der Frauen für Staatsbürgerschaft und Gleichheit«, der am 29. Januar 2011 in Tunis stattfand, wurde diese Sichtbarkeit sowie die Forderung nach Mitgestaltung des Öffentlichen Raumes noch einmal explizit gemacht: Die Protestierenden äußerten neue Forderungen nach Emanzipation im sozialen und politischen Bereich, die über die staatsfeministischen Verordnungen der vorherigen Regierungen unter Ben Ali und Habib Bourguiba hinausgingen.74 3.2.2 Öffentlicher Raum und Physischer Raum Im Sinne eines »physical subset« des Öffentlichen Raumes kann physischer öffentlicher Raum als eine Dimension fungieren, in der demokratische Praktiken vollzogen werden.75 Als sensible Erinnerungs- und Handlungsorte sind beispielsweise öffentliche Plätze »culturally thick«, was unter anderem die erbitterten Kämpfe um die Frage begründet, wem physische öffentliche Räume ›gehören‹ – und ihren hohen Symbolgehalt erklärt, der für Proteste eine zentrale Rolle
72 Vgl. https://jungle.world/artikel/2011/02/nicht-nur-eine-brotrevolte vom 13.1.2011. Die erwähnte spätere Polarisierung von Islamist*innen und Säkularen ist ein weiteres Beispiel, vgl. vorherige FN. 73 Vgl. www.taz.de/!5125703/ vom 1.3.2011; https://jungle.world/artikel/2012/03/keinfruehling-ohne-frauen vom 19.1.2012. 74 Vgl. Scheiterbauer, Tanja: »Nordafrikas Revolutionen: Eine Chance für mehr Geschlechtergerechtigkeit? Das Beispiel Tunesien«, in: Femina Politica 1 (2011), S. 131-135, hier S. 132 f. Im weiteren Verlauf und nach der Revolution sollten Frauen und Frauenrechte eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung zwischen islamistischen Kräften, wie beispielsweise der Partei Ennahda, und säkularen Parteien und Gruppierungen spielen, vgl. https://jungle.world/artikel/2012/33/gegen-regression vom 16.8. 2012. 75 Parkinson, John R.: Democracy and Public Space, Oxford: UP 2012, zitiert nach: Örs, İlay Romain: »Genie in the Bottle: Gezi Park, Taksim Square, and the Realignment of Democracy and Space in Turkey«, in: Philosophy and Social Criticism 40 (2014), S. 489-498, hier S. 490.
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spielen kann.76 Diesem Zusammenhang von physischen öffentlichen Räumen, Öffentlichem Raum im Sinne Arendts und demokratischer Praxis kam in der Tunesischen Revolution entscheidende Bedeutung zu. Von Sidi Bouzid verlagerten sich die Proteste bald in andere Regionen, doch erst mit Erreichen der Hauptstadt Tunis formierte sich eine sichtbare politische Massenbewegung in expliziter Opposition zur Regierung Ben Alis. 77 Die Place de la Kasbah und die Avenue Habib Bourguiba in Tunis fungierten bis 2011 vor allem als Sitze von Regierungsgebäuden und offizielle, prestigeträchtige Orte westlicher Prägung.78 Während der Proteste im Jahr 2011 wurden sie jedoch bald zu ›Bühnen‹ für verschiedene Protestformen – Demonstrationen, Sit-Ins, Graffiti-Tags und Performances – und zugleich zu Gegenständen der Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Staat.79 Öffentliche Plätze und Straßen mit hohem Symbolgehalt wurden auf diese Weise von Protestierenden als Räume des Voreinander-Erscheinens genutzt und waren somit zentrale Orte, an denen die Herausbildung eines Öffentlichen Raumes stattfinden konnte: Sie stellten mit Matynia ›Umstände‹ dar, unter denen die Akteur*innen performativ handeln, ›neue Konventionen‹ legitimieren und zugleich einen Wandel in der Bedeutung der Räume selbst anstoßen konnten.80 Die Besetzungen der Place de la Kasbah – die mit dem Sitz der Zentralregierung eine bedeutende Repräsentation politischer Macht in Tunesien beinhaltete – im Rahmen der Sit-Ins nach Ben Alis Flucht können als expliziteste Form der Aneignung des (physischen) öffentli-
76 Vgl. Göle, Nilüfer: »Public Space Democracy«, in: Transit. Europäische Revue 44 (2013). 77 D. Della Porta: Mobilizing for Democracy, S. 50 f. 78 Entstanden war die Avenue Habib Bourguiba (zunächst Avenue de la Marine) unter französischer Kolonialherrschaft und Stadtplanung als moderne Prachtstraße nach französischem Vorbild. Auch die Nutzung der Kasbah als Regierungssitz ist ein Erbe der Kolonialzeit. Vgl. N. Al-Sayyad/M. Guvenc: Virtual Uprisings, S. 2021. 79 Vgl. Sergy, Vittorio/Vogiatzoglou, Markos: »Think globally, act locally?«, in: Cristina Fominaya/Laurence Cox (Hg.): Understanding European Movements: New Social Movements, Global Justice Struggles, Anti-Austerity Protest, London: Routledge 2013, S. 220-235, hier S. 229 f.; N. Al-Sayyad/M. Guvenc: Virtual Uprisings, S. 2021; Georgeon, Dounia: »Revolutionary Graffiti«, in: Wasafiri 27 (2012), S. 70-75, hier S. 70. 80 »Squares and major boulevards cannot in and of themselves have fixed meanings; nor can meanings be assigned to them by decree. They earn their meanings through people’s actions«, N. Al-Sayyad/M. Guvenc: Virtual Uprisings, S. 2022.
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chen Raumes in Tunis verstanden werden. Sie erfolgten größtenteils entgegen massiver Eingriffe durch Sicherheitskräfte.81 3.2.3 Mediale Öffentliche Räume: Soziale Netzwerke und Al-Jazeera Dass Informationen über die Unruhen in Sidi Bouzid überhaupt in anderen Teilen des Landes bekannt wurden, war vor allem der Verbreitung über das Internet zu verdanken.82 Vor allem via Facebook, aber auch auf Twitter – unter dem Hashtag #sidibouzid – erfolgten die detaillierte Dokumentation des Geschehens und der Austausch über Ereignisse sowie die Koordination von Gruppen und Protestaktionen.83 Zugleich versuchte die Regierung mittels Sperrungen von Webseiten, Verbreitung von Falschinformationen, Cyberattacken und Verhaftungen von Internetaktivist*innen, weiterhin im virtuellen Raum Kontrolle auszuüben.84 Auch weil unzensierte Zugänge per VPN oder Hot-Spotting populär geworden waren, wurden regimekritische Positionen nichtsdestotrotz für immer mehr Menschen online zugänglich und Ängste vor Repressionen für die Internetnutzung immer weniger bestimmend. In diesem Kontext kann nicht nur das Teilen von Informationen, Slogans und Mobilisierungsaufrufen, sondern auch das Zugänglichmachen von Informationen im Sinne einer Teilnahme an »Gegenöffentlichkeiten», als Akt politischer Partizipation85 und im Sinne der Entstehung eines ›Erscheinungsraumes‹ als performative Initiative gelten. Diese Teilnahme an virtuellen Protestdiskursen schien auch politisierend zu wirken: Zwischen virtueller und ›herkömmlicher‹ politischer Partizipation sowie der He-
81 Vgl. ebd., S. 2021 f. Solche Aneignungen öffentlicher und weniger öffentlicher Räume fanden nicht nur in Tunis statt: Auch in anderen Regionen des Landes wurden SitIns abgehalten und öffentliche Plätze für Demonstrationen genutzt. Tunis und der Platz der Kasbah blieb jedoch zentraler Anlaufpunkt auch für Protestierende aus Regionen wie Sidi Bouzid, Kasserine, Kef oder Sfax. Vgl. Dietrich, Helmut: »Die zweite Welle», in: analyse & kritik 561 (2011). 82 Vgl. King, Stephen Juan: »Social media and civil society in the Tunisian Revolution: Implications for Democracy and Peacebuilding«, in: Alphonse Keasley/Laura DeLuca/Sylvester B. Maphosa (Hg.): Building Peace from Within, Oxford: African Books Collective 2014, S. 268-279, hier S. 272. 83 Vgl. https://jungle.world/artikel/2011/03/die-revolution-wird-getwittert vom 20.1.2011. 84 Vgl. A. Antonakis: Der Quelltext, S. 32 f.; https://jungle.world/artikel/2011/02/nichtnur-eine-brotrevolte vom 13.1.2011. 85 Vgl. A. Antonakis: Der Quelltext, S. 17 f.
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rausbildung einer ›zivilen politischen Kultur‹ ließ sich ein Zusammenhang feststellen.86 Virtuelle soziale Plattformen und Blogs von Aktivist*innen bargen für die tunesische Protestbewegung ein enormes Mobilisierungspotential, das sich in physischen Räumen manifestieren konnte. So wurde beispielsweise zu den ersten Großdemonstrationen im Stadtzentrum von Tunis mit Posts und Veranstaltungseinladungen auf Facebook aufgerufen.87 Dieser »hybrid public space«,88 bestehend aus virtueller Kommunikation einerseits und der Besetzung physischer öffentlicher Räume andererseits, formierte sich auch auf Basis von und in den Praktiken von Aktivist*innen, die beispielsweise während der Kasbah-Sit-Ins mittels Surfsticks Informationen über die Vorgänge in anderen Regionen des Landes empfangen, diese weiterleiten und so unmittelbar darauf reagieren konnten.89 Das Internet hat in Tunesien somit in besonderer Weise zur Schaffung eines (virtuellen) Erscheinungsraumes beigetragen, in dem Stimmen Einzelner hörbar wurden, unterschiedliche Protestformen zusammenflossen und multipliziert wurden. In Form von Videos, Artikeln und Blogposts konnten über soziale Netzwerke auch reale politische Äußerungen und Aktionen eine weite Öffentlichkeit finden und unter lokalen, nationalen und internationalen Umständen wirksam werden. Dadurch, dass die virtuellen Diskurse staatlicher Kontrolle zu großen Teilen entzogen waren, konnte ein vergleichsweise freier, Öffentlicher
86 Vgl. ebd., 52 f.; vgl. Breuer, Anita/Groshek, Jacob: »Online Media and Offline Empowerment in Post-Rebellion Tunisia: An Analysis of Internet Use During Democratic Transition«, in: Journal of Information Technology & Politics 11 (2014), S. 25-44, hier S. 28. 87 Vgl. N. Al-Sayyad/M. Guvenc: Virtual Uprisings, 2027 ff.; A. Antonakis: Der Quelltext, S. 42, 53 f. 88 Castells, Manuel: Networks of Outrage and Hope: Social Movements in the Internet Age, Cambridge: Polity Press 2015, S. 23. 89 Vgl. A. Antonakis: Der Quelltext, S. 52 ff. Ein weiteres Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Straße und Medien ist ein Video, das den Tunesier Abd-End-Nasser Laouini zeigt, der während der nächtlichen Sperrstunde in einer Hauptstraße von Tunis spontan seiner Freude über die Flucht des Diktators und den politischen Neuanfang Ausdruck verlieh (vgl. R. Zahrouni: Dialectics of Theatre, S. 155). Es fand in den sozialen Medien und über Al-Jazeera weite Verbreitung und verdeutlicht, dass zwischen Protest auf der Straße und der ›Cyber-Zivilgesellschaft‹ nur noch schwer unterschieden werden konnte. Vgl. ebd.; Marzouki, Nadia: »From People to Citizens in Tunisia«, in: Middle East Report 259 (2011), S. 16-19, hier S. 16.
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Raum entstehen, der über das Virtuelle hinausging und auf diese Weise zur Verschiebung der Machtverhältnisse beitrug.90 Davon abgesehen spielten auch die ›traditionellen‹ Medien, insbesondere das Fernsehen, eine entscheidende Rolle in der Mobilisierung der Proteste. Der katarische Sender Al-Jazeera konnte auch während der Proteste via Satellitenfernsehen empfangen werden. Schon während der ersten Proteste im Dezember berichteten Al-Jazeera-Reporter von den Vorgängen aus dem Landesinneren und trugen innerhalb und außerhalb des Landes zur Verbreitung und Multiplikation von Videos und Slogans der Protestbewegung bei. Vor allem in Kombination mit internetbasierter Berichterstattung, auch durch Protestierende, konnte dabei staatliche Zensur erfolgreich umgangen werden.91 Somit wurden auch mit dem Medium Fernsehen Erscheinungsräume geschaffen, die als Basis für einen Öffentlichen Raum dienen konnten. 3.3 Karneval: Utopien und Zivile Kreativität Während der Proteste zwischen Dezember 2010 und März 2011 ließ sich ein hohes Maß an ziviler Kreativität beobachten, die sich sowohl in humoristischen Slogans, Songs, Graffiti und Onlinebeiträgen manifestierte, als auch in spontan organisierten, symbolischen Protestaktionen wie der Caravane de la Liberté und der spontanen Besetzung physischer öffentlicher Räume.92 Ähnlich den von Matynia beschriebenen ›karnevalistischen Ausnahmezuständen‹ wurden dabei wiederholt utopisch erscheinende Lebens- und Gemeinschaftsformen zugleich gefordert und performativ umgesetzt. Die Sit-Ins in der Place de la Kasbah bedeuteten als »communal performances«93 sowohl die Erprobung eines gemeinschaftlichen, solidarischen Zusammenlebens als auch die spontane Selbstorganisation abseits (und entgegen) staatlicher Institutionen – »very much like a carnival’s
90 Vgl. A. Antonakis: Der Quelltext, S. 22, 58. 91 Vgl.
http://www.wiwo.de/unternehmen/tv-sender-al-jazeera-tausend-und-eine-nach
richt/4637974-all.html vom 14.5.2011; N. Marzouki: From People to Citizens, S. 16 f.; Wagner, Ben: »›I Have Understood You‹: The Co-Evolution of Expression and Control on the Internet, Television and Mobile Phones During the Jasmine Revolution in Tunisia«, in: International Journal of Communication 5 (2011), S. 1295-1302, hier S. 1299. 92 Vgl. https://nawaat.org/portail/2015/02/09/four-years-after-the-kasbah-sit-ins-takingstock-of-a-revolutionary-mission-confiscated/ vom 25.2.2015. 93 K. Amine: Re-enacting Revolution, S. 100.
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way of sensing the world, with its joy at change and its joyful relativity«. 94 Der Ablauf der Geschehnisse und die Resultate erschienen vor allem aufgrund der fehlenden Führerschaft und Formalisierung der Proteste unkontrollierbar, unvorhersehbar und offensichtlich kontingent. Doch auch auf Ebene der Mobilisierung und Kommunikation wurde von der weiteren ›Protestbewegung‹ an vielen Stellen performativ mit den bis dato in Tunesien üblichen, vorstellbaren Ordnungen gebrochen: Unter den Selbstbezeichnungen »aš-šaʿb« (das Volk) und ›Revolution der Würde‹ entstanden vielfältige solidarische Bündnisse sozialer Gruppierungen, die eine temporäre Überbrückung kultureller, regionaler und generationeller Grenzen beinhalteten.95 Mit ihren horizontalen inklusiven Strukturen, die so vor allem durch die Nutzung von sozialen Medien und Online-Netzwerken ermöglicht wurden, verwiesen die daran Partizipierenden direkt auf alternative Formen der Kommunikation und Organisation von Gemeinschaften, in denen eine Vielfalt an Stimmen hörbar sein konnten.96 Hier werden auch die Nachteile solcher Strukturen deutlich: Ihre utopische Orientierung, das Fehlen einer übergeordneten Strategie und Idee sowie die horizontale, partizipative Ausrichtung97 ließen eine langfristige Umsetzung der geforderten Veränderungen auf der Ebene politischer Strukturen zunächst schwierig erscheinen: »The illusion of change on the ground is actually stuck in the stasis of utopianism«. 98 Dennoch erweiterten die meist kurzweiligen performativen Umsetzungen von Utopien nicht nur den Rahmen des Möglichen in der Gestaltung von Politik und Gemeinschaft, sondern hatten wiederum auch Einfluss auf das kollektive Bewusstsein der Protestierenden, das sich in Richtung eines »self-discovered autonomously speaking ›I‹«,99 sozialer Solidarität, einer Selbstwahrnehmung als »aš-šaʿb« und potentiell hin zu einem neuen Verständnis von Bürgerschaft entwickelte. 100
94
Ebd.; vgl. https://nawaat.org/portail/2015/02/09/four-years-after-the-kasbah-sit-instaking-stock-of-a-revolutionary-mission-confiscated/ vom 25.2.2015.
95
›Revolution der Würde‹; vgl. M. Guessoumi: The Grammars, S. 18 f.; N. Marzouki: From People to Citizens, S. 16.
96
Vgl. ebd., S. 17; https://nawaat.org/portail/2015/02/09/four-years-after-the-kasbahsit-ins-taking-stock-of-a-revolutionary-mission-confiscated/ vom 25.2.2015; D. Della Porta: Mobilizing for Democracy, S. 131 f.
97
Vgl.
https://nawaat.org/portail/2015/02/09/four-years-after-the-kasbah-sit-ins-taking-
stock-of-a-revolutionary-mission-confiscated/ vom 25.2.2015. 98
K. Amine: Re-enacting Revolution, S. 100.
99
N. Jerad: The Tunisian Revolution, S. 268.
100 Vgl. N. Marzouki: From People to Citizens, S. 17; M. Guessoumi: The Grammars, S. 37 ff.
Performative Initiativen | 211
4. FAZIT Spätestens mit den Neuwahlen im Oktober 2011 und einer neuen Verfassung, die allerdings erst 2014 rechtskräftig wurde, erschien der Übergang von »concentrated power structures«101 zu einer demokratischen Staatsform in Tunesien erreicht.102 In der Analyse der Geschehnisse von Dezember 2010 bis März 2011 hat sich das Konzept der Performativen Demokratie als durchaus ergiebige Perspektive erwiesen. Dabei ist jedoch auch deutlich geworden, dass an verschiedenen Stellen Präzisierungen und Erweiterungen des Konzepts und seiner theoretischen Bezüge notwendig sind, um die Vorgänge in ihrer Vielfalt und Komplexität zu erfassen. In den Protesten spielten herkömmliche Sprechakte wie beispielsweise Slogans, eine wichtige Rolle; die performativen Initiativen lokaler Akteur*innen, die den Prozessen der Performativen Demokratie zugrunde liegen, gehen jedoch schon bei Matynia über Austins Verständnis vom Sprechakt hinaus. Auch in dieser Arbeit wurden unter dem Begriff der performativen Initiativen vielfältige Protestformen zusammengefasst; Slogans, Graffiti-Tags, Beiträge in sozialen Netzwerken und Blogs, Performances, aber auch die Organisations- und Kommunikationsstrukturen der Bewegung waren dabei Teil der Analyse. Dabei wurde auch deutlich, dass Performativität im Rahmen der Tunesischen Revolution in unterschiedlichen Dimensionen beschrieben werden kann. Die temporäre zivile Kreativität, die im Rahmen der Proteste im Januar, Februar und März vor allem in Tunis sichtbar wurde, reflektierte ein neu entstandenes politisches Bewusstsein in Tunesien. In den Slogans und Graffititags ließ sich nicht nur eine Politisierung der Proteste und ein performativer Widerspruch gegen die Deutungsweisen internationaler Medien beobachten, sondern auch eine Reflexion der Protestierenden über den eigenen performativen Bruch mit staatlicher Repression. Sowohl die körperliche Präsenz während der Demonstrationen und Besetzungen der Kasbah als auch die virtuelle Partizipation an ›Gegenöffentlichkeiten‹ im Internet repräsentierten und produzierten eine gewaltfreie politische Aktivität, die im Gegensatz zur staatlichen Repression stand. Jedoch ist die Revolution weit entfernt davon, grundsätzlich als gewaltfrei gelten zu können, da – auch vonseiten der Protestierenden – teils ein hohes Maß an Gewalt sichtbar wurde; Matynias Anspruch auf Gewaltlosigkeit im Rahmen performativ-demokratischer Prozesse scheint somit nur in Graden umsetzbar zu
101 E. Matynia: Discovering Performative Democracy, S. 2. 102 Vgl.https://www.boell.de/de/2014/10/21/die-politische-ordnung-tunesiens-gemaessder-verfassung-von-2014 vom 21.10.2014.
212 | Horstmannshoff
sein. Darüber hinaus erschließt sich eine weitere, von ihr nicht explizit thematisierte Dimension von Performativität im Hinblick auf die Organisationsstrukturen der tunesischen Protestbewegung: Diese stützte sich vor allem auf die führungslose, selbst-organisierende Souveränität der Protestierenden sowie die temporäre Überbrückung gesellschaftlicher Differenzen; damit und mit der Selbstorganisation während der Ausnahmezustände u.a. in der Kasbah wurden scheinbar utopische Alternativen zu bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Organisationsformen aufgezeigt und somit performativ mit diesen gebrochen. Mit Arendts Konzept des ›Öffentlichen Raumes‹103 lassen sich die performativen Effekte von Zusammenkünften verschiedener Menschen sowie ihres gemeinsamen Sprechens und Handelns untersuchen: Auf der Grundlage vorheriger Entwicklungen, wie z.B. einer Ausweitung der Internetzugänge oder Aktivitäten im Bereich der kulturellen Produktion, wurde im Rahmen der Tunesischen Revolution mit der staatlichen Repression gebrochen, wurde die öffentliche Sichtund Hörbarkeit einer Vielfalt an Handlungen und Stimmen möglich gemacht und wurden neue Formen des Sprechens und Handelns legitimiert. Auf dieser Basis konnte ein Erscheinungsraum und schließlich ein Öffentlicher Raum entstehen und erhalten werden. Öffentlicher Raum war dabei untrennbar verbunden mit den physischen Räumen, in denen die Mikropraktiken der lokalen Akteur*innen stattfanden: Unter anderem in den Besetzungen der Kasbah wurden beide explizit zurückgefordert, in Anspruch genommen und neu belebt. Auch das Internet konnte als kaum kontrollier- oder zensierbarer Raum gelten, in welchem die Verbreitung von Informationen, eine weitere Partizipation und Mobilisierung von Akteur*innen sowie die Multiplikation von ›realen‹ Protestaktionen – in Verbindung mit ›traditionellen‹ Medien wie dem Fernsehen möglich wurde. Herkömmlicher Protest ›auf der Straße‹ und virtuelles Engagement standen dabei in stetiger Wechselwirkung. Sichtbarkeit in und Teilhabe an all diesen Räumen wurden dabei auch von weiblichen Protestierenden erreicht oder eingefordert. Mit der Perspektive der Performativität in der Untersuchung der Tunesischen Revolution konnte aufgezeigt werden, dass Performativität in verschiedenen Dimensionen wirken und eine kulturelle Ordnung mittels performativen Initiativen somit vergleichsweise gewaltlos auf unterschiedliche Weise in Frage gestellt bzw. etabliert werden kann: von alternativen Bedeutungsproduktionen über die modellhafte Umsetzung von Utopien bis hin zur vielfältigen Entstehung Öffentlichen Raumes. Dabei ist insbesondere die Relevanz der Handlungen Einzelner, aber auch ihres Zusammenschlusses zum Kollektiv als ›mikro-politische Facet-
103 H. Arendt: Vita Activa, S. 198.
Performative Initiativen | 213
te‹104 moderner Protestbewegungen ersichtlich geworden. Diese performativen Dimensionen der tunesischen Proteste wurden, wenn auch ohne Bezugnahme auf Matynias Arbeit, in einigen der ausgewerteten Arbeiten auf unterschiedliche Weise thematisiert, was für eine neue Aufmerksamkeit der Forschungsgemeinschaft für performative Phänomene und Prozesse im Rahmen politischer Protestbewegungen spricht. Für weitere Analysen der Proteste der Tunesischen Revolution stellen französisch- oder arabischsprachige Texte mehr potentielles Quellenmaterial dar, das in diesem Beitrag nicht ausgewertet werden konnte. Darüber hinaus könnten eine weitere Präzisierung und Systematisierung des Konzepts von Performativer Demokratie sowie eine vergleichende Analyse verschiedener Protestbewegungen weitere Gegenstände für Forschungen auf diesem Gebiet darstellen.
104 Vgl. E. Matynia: Performative Democracy, S. 10.
Deutsche Perspektiven auf Geschlecht in Tunesien
Transformation repräsentativer Ordnungen? Der deutsche Pressediskurs um protestierende Frauen in Tunesien Lina Brink
Dieser Beitrag interessiert sich für die deutsche Presseberichterstattung über Proteste in Tunesien, die seit den Umbrüchen 2011 vermehrt auch in westeuropäischen Medien Aufmerksamkeit finden und knüpft damit an Debatten an, die vor dem Hintergrund neuer kosmopolitischer Ansätze die Möglichkeiten mediatisierter Anerkennung diskutieren. Gerade die Proteste 2011 in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern der Region werden aufgrund des globalen medialen Interesses an diesen Ereignissen immer wieder als Beispiele für eine Solidarisierung über nationale Kontexte hinaus und die mediatisierte Anerkennung der Protestierenden genannt. Diese Deutung möchte der vorliegende Beitrag in Frage stellen und richtet, in der Überzeugung, dass eine geschlechtertheoretische Perspektive die Komplexität sozio-kultureller Phänomene hervorbringen kann und Machtstrukturen in den Fokus rückt, sein Augenmerk dabei auf die Verhandlung von Geschlecht in der Berichterstattung über Proteste in Tunesien. Schon bei der ersten Sichtung des Materials fiel auf, dass die gesellschaftliche (Be)Deutung der Kategorie ›Geschlecht‹ vor allem anhand eines Beispiels explizit diskutiert wurde: verschiedene Protestaktionen der Tunesierin Amina Tyler1 und darauffolgende Aktionen der Gruppe Femen. Am Beispiel des deutschen Pressediskurses um diese Proteste wird im Folgenden diskutiert, wie eine postkolonial-feministisch geprägte Perspektive den Blick auf das ›Potential‹ medialer Diskurse zur Transformation
1
Ihr bürgerlicher Name lautet Amina Sbouï. Da jedoch sowohl in der Selbstbezeichnung als auch im internationalen Diskurs meist der Name Amina Tyler Verwendung findet, wird dieser auch hier genutzt.
218 | Brink
von Anerkennungs- und Repräsentationsordnungen erweitern kann und die Bedeutung machtvoller Strukturen in der Analyse berücksichtigt. Gefragt wird daher nach der Reproduktion und/oder Verschiebung etablierter Repräsentationsund Anerkennungsordnungen im Diskurs um die Femen-Proteste in Tunesien. Anfang März 2013 veröffentlichte Tyler auf Facebook ein Foto, auf dem sie mit nacktem Oberkörper zu sehen ist. Auf ihre Haut ist auf Arabisch geschrieben: »Mein Körper gehört mir, er ist niemandes Ehre«. Aus Solidarität mit Tyler organisierten verschiedene Femen-Gruppen am 4. April 2013 einen so genannten »Internationalen Oben-Ohne Djihad-Tag« und protestierten vor Moscheen und tunesischen Botschaften in Europa. Am 19. Mai 2013 sprühte Tyler dann das Wort »Femen« in Kairouan auf eine Friedhofsmauer unweit des geplanten Tagungsortes einer salafistischen Gruppe und wurde daraufhin verhaftet. Ende Mai protestierten daraufhin drei Femen-Aktivistinnen, darunter eine Deutsche, mit nacktem Oberkörper vor einem Gericht in Tunis gegen die Inhaftierung von Tyler und riefen: »Der Frühling der Frauen kommt.« Auf der nackten Haut trugen sie die Aufschrift »Revolution«. Daraufhin wurden sie festgenommen und zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Nach vier Wochen wurden sie frühzeitig entlassen.2 Anfang August wurde Tyler frei gelassen und verließ Mitte August 2013 die Gruppe Femen, nach eigenen Angaben, weil sie nicht Teil einer »islamfeindlichen Bewegung«3 sein wollte. Bereits die Fokussierung des Pressediskurses auf diese Ereignisse kann als ein relevantes Ergebnis gewertet werden, welches dieser Beitrag näher beleuchten möchte. Anhand der Vorstellung einer postkolonial-feministischen Erweiterung von Analysen der Möglichkeiten einer mediatisierten Anerkennung wird im Folgenden zunächst diskutiert, welche spezifischen Fragen an das Material gestellt wurden. Anschließend wird auf bestehende Repräsentations- und Anerkennungsordnungen eingegangen, die für den untersuchten Diskurs relevant erscheinen. Dies sind vor allem Ordnungen der Repräsentation von Geschlecht innerhalb von Orient-/ Okzidentkonstruktionen und etablierte diskursive Deutungen in Bezug auf Proteste der Gruppe Femen. Es folgt eine kurze Vorstellung des methodischen Vorgehens der Studie, bevor die Ergebnisse der exemplarischen Diskursanalyse vorgestellt werden.
2
Vgl. Reestorff, Camilla M.: »Mediatised affective activism: The activist imaginary and the topless body in the Femen movement«, in: Convergence 20 (2014), S. 478495, hier S. 480.
3
Volkert, Lilith: »Tunesische Aktivistin verlässt Femen. Nackter Verrat«, in: SZ.de vom 21.08.2013.
Transformation repräsentativer Ordnungen? | 219
POSTKOLONIAL-FEMINISTISCH GEPRÄGTE PERSPEKTIVEN AUF KOSMOPOLITISMUS IN MEDIENKULTUREN Auf die aktuellen Debatten um Kosmopolitismus in Medienkulturen, in denen sich diese Analyse verortet, soll im Folgenden kurz eingegangen werden, bevor die aus Sicht dieses Beitrages nötigen Erweiterungen aus postkolonial-feministischer Perspektive diskutiert werden. Neuere sozialwissenschaftliche Ansätze grenzen sich von politisch-philosophischen Kosmopolitismen ab, die auf Antike und Aufklärung zurückgehen und insbesondere aufgrund ihrer Verankerung in einem westlich geprägten Universalismus kritisiert wurden,4 der marginalisierte Gruppen systematisch ausschließt und den Blick auf globale Ungleichheiten verdeckt. 5 Es geht diesen aktuellen kosmopolitischen Diskursen weniger um die theoretische Erörterung von Kosmopolitismus im Sinne eines politischen Projektes, sondern vielmehr um die – empirische und theoretische – Auseinandersetzung mit alltäglichem Kosmopolitismus6 oder Kosmopolitisierung7 und dessen möglichen Auswirkungen auf Einstellungen und Handlungen von Menschen. Dieser neue oder kritische Kosmopolitismus richtet sich erstens auf eine Pluralisierung von Bezügen zwischen lokaler und globaler Ebene in der Lebenswelt von Menschen und zweitens auf daraus hervorgehende mögliche Folgen im Sinne einer neuen ›Offenheit gegenüber der Welt‹, die Delanty auf moralischer Ebene insbesondere als Anerkennung der Anderen versteht.8 Auch neuere Entwürfe sind dadurch mit einer normativen Hoffnung auf eine positive Veränderung der Beziehungen zwischen Menschen weltweit verbunden: »A major normative feature of cosmopolitanism is the hope that war, racism and global injustice can be effectively countered through some
4
Vgl. Reilly, Niamh: Womens Human Rights, Cambridge u.a.: Polity Press 2010, hier S. 8.
5
Vgl. u.a. Gilroy, Paul: »Postcolonialism and cosmopolitanism. Towards a worldly understanding of fascism and Europe’s colonial crimes«, in: Rosi Braidotti/Patrick Hanafin/Bolette Blaagaard (Hg.), After cosmopolitanism, New York: Routledge 2013, S. 111-131.
6
Vgl. Cohen, Robin/Vertovec, Steven (Hg.): Conceiving cosmopolitanism: theory, context, and practice, Oxford u.a.: Oxford Univ. Press 2002.
7
Vgl. Beck, Ulrich: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter: neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002.
8
Vgl. Delanty, Gerard: The cosmopolitan imagination: the renewal of critical social theory, Cambridge: Cambridge University Press 2009, hier S. 86.
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kind of over-arching human solidarity«9. Dies zeigt sich auch in der Forschung zu Kosmopolitismus in Medienkulturen, welche sich vornehmlich mit der Frage beschäftigt: Inwiefern wirkt sich eine alltägliche Kosmopolitisierung der Medienkulturen auf die Offenheit gegenüber der Welt/ gegenüber Anderen aus? 10 Dabei wird in den wenigen empirischen Arbeiten die Möglichkeit mediatisierter Anerkennung11 oder eines mediatisierten Kosmopolitismus12 hervorgehoben. Dieses normative Verständnis kosmopolitischer Ansätze verhindert es, neben den angenommenen wünschenswerten Folgen von Kosmopolitismus auch mögliche andere Zusammenhänge und Ausschlussmechanismen in den Blick zu nehmen. Diese Leerstelle kann durch eine Verknüpfung mit postkolonialfeministisch geprägten Perspektiven erfolgen.13 Für die vorliegende Auseinandersetzung zur Repräsentation von Femen-Protesten in Tunesien im deutschen Pressediskurs ist dabei besonders die Berücksichtigung von drei Aspekten relevant: Zunächst ist dies die auf Spivaks Überlegungen zur (Un-)Möglichkeit subalterner Handlungsmacht zurückgehende Frage nach möglichen Subjekt- und Sprechpositionen im Diskurs. In ihrem einflussreichen Essay Can the Subaltern Speak? argumentiert Spivak,14 dass die Möglichkeit, bestimmte Positionen im Diskurs zu hören, immer schon durch hegemoniale Repräsentationsordnungen begrenzt sei, die diesen die Einnahme einer Sprechposition verwehre. Fraglich
9
Holton, Robert J.: Cosmopolitanisms: New thinking and new directions. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2009, hier S. 83.
10 Vgl. Überblick zu aktueller Forschung bei Ong, J. Corpus: »The cosmopolitan continuum: locating cosmopolitanism in media and cultural studies«, in: Media, Culture & Society 31 (2009), S. 449-466, hier S. 450. 11 Vgl. Cottle, Simon: Mediatized conflict. Maidenhead u.a.: Open University Press 2006. 12 Vgl. Robertson, Alexa: Mediated cosmopolitanism. The world of television news, Cambridge u.a.: Polity Press 2010. 13 Vgl. De Wolff, Kaya/Brink, Lina: »Kosmopolitismus, Anerkennung und Sichtbarkeit – Postkoloniale und feministische Ansätze zur Konturierung einer kritischen Medienkulturforschung«, in: Tanja Thomas et al (Hg), Anerkennung und Sichtbarkeit. Perspektiven für eine kritische Medienkulturforschung, Bielefeld: transcript 2018, S. 4766, hier S. 51ff. 14 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern speak?«, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg), Marxism and the interpretation of culture, Chicago: University of Illinois Press 1988.
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ist also, welche Protest-Akteur*innen im hegemonialen Diskurs überhaupt eine Stimme haben und damit sicht- und hörbar werden. Eine Erweiterung bieten postkoloniale Ansätze, zweitens, durch einen kritischen Blick zurück auf das Eigene und damit eine Provinzialisierung des Eigenen und dessen Konstruktion über eine Abgrenzung vom als ›Anderes‹ konstituierten. Als zentral für die Legitimation und Festigung von Herrschaftsverhältnissen gerade im deutschsprachigen und europäischen Raum kann die von Said als ›Orientalismus‹ bezeichnete Konstruktion eines als rückständig im Gegensatz zum fortschrittlichen Westen repräsentierten Orients gelten. 15 Aus postkolonialer Perspektive ist nun aber nicht nur die Frage, wie dieses Orientbild konstruiert wird, sondern gerade wie darüber eine okzidentale Norm (re)produziert wird, von Interesse. Diese Umkehrung des forschenden Blickes zu einer Perspektive des kritischen Okzidentalismus16 richtet das Interesse auf die Konstruktion des Eigenen als Normalität und hegemoniales Prinzip über das Andere. Drittens, so soll hier ergänzt werden, ist nicht nur die Frage nach der Anerkennung vom ›Eigenen‹ abgrenzbarer Personen, sondern gerade die Anerkennung (globaler) Interdependenzen entscheidend für die Entstehung von Offenheit. Die zentrale Bedingung für Sozialität und eine menschliche Ethik liegt nach Butler darin, ob mit dem Erkennen des eigenen Gefährdetseins eine »Anerkennung gemeinsamer Gefährdung«17 und die Anerkennung einer gegenseitigen Abhängigkeit18 einhergeht. Auch die Anerkennung einer gemeinsamen Verletzbarkeit ist dabei aber Normen der Anerkennbarkeit unterworfen. Entsprechend sollen folgende Fragen an das Material gestellt werden: Wer findet im Diskurs Gehör? Welche als weiblich konstruierten Subjektpositionierungen werden angeboten? Inwiefern werden bestehende Anerkennung- und Repräsentationsordnungen gefestigt, inwiefern zeigt sich ein Potential der Transformation? Inwiefern werden (globale) Interdependenzen im Diskurs sichtbar und anerkannt?
15 Vgl. Said, Edward W.: Orientalism. New York: Vintage Books 1979. 16 Vgl. Dietze, Gabriele: »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 23-54. 17 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a. M., New York: Campus-Verlag 2010, hier S. 34. 18 Vgl. ebd., S. 37
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ETABLIERTE REPRÄSENTATIONEN VON WEIBLICHKEIT UND DIE DEBATTE UM FEMEN-PROTESTE Um die Ergebnisse der Analyse in ein bestehendes diskursives Feld einordnen zu können, wird nun zunächst auf bestehende Studien eingegangen, die Auskunft zu etablierten Repräsentations- und Anerkennungsordnungen geben können. Relevant ist dabei zunächst die Konstruktion von Geschlecht und insbesondere Weiblichkeit im Kontext von Orient-/ Okzidentkonstruktionen. Orientalisierende Bilder von Weiblichkeit thematisieren kommunikationswissenschaftliche Studien sowohl im Hinblick auf deutschsprachige Diskurse um Migration19 als auch in der Analyse von Diskursen, die sich mit globalen Fragen, wie etwa dem Militäreinsatz in Afghanistan20 beschäftigen. Die Inszenierung einer unterdrückten, passiven und bedeckten orientalen Weiblichkeit lässt sich als wesentliches Vehikel der Konstruktion einer dieser gegenüberstehenden emanzipierten, freien und sichtbaren okzidentalen Weiblichkeit verstehen. Schon 1989 wies Helma Lutz21 mit Blick auf deutsche Diskurse darauf hin, dass die Hegemonie europäischer Frauen über die Rückständigkeit orientalisierter Frauen konstruiert werde. Auch Dietze hebt hervor: »Bilder und Selbstbilder ›unserer‹ Emanzipation benötigen sozusagen die tägliche Rekonstruktion der Unterdrückung und Rückständigkeit islamischer Frauen.«22 Damit wird auch das gesellschaftliche Problem des Sexismus im ›eigenen‹ Kontext negiert und als Problem der ›Anderen‹ definiert, was Magret Jäger dazu bringt von einer »Ethnisierung von Sexismus« 23 zu sprechen. Lünenborg und Maier geben einen umfassenden Überblick zur Erforschung medialer Darstellungen von Migrant*innen und weisen darauf hin, dass neben hegemonialen Darstellungen, die Migrantinnen als fremd, passiv und unterdrückt zu sehen geben und ihre ›Andersheit‹ besonders über äußere Merkmale wie das Kopftuch konstruieren, auch andere Bilder sichtbar werden, in denen Migrantinnen als erfolgreich und modern dargestellt werden, was bei-
19 Vgl. u.a. Lünenborg, Margreth/Maier, Tanja: Wir und die Anderen? Eine Analyse der Bildberichterstattung deutschsprachiger Printmedien zu den Themen Flucht, Migration und Integration, Güthersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2017. 20 Vgl. Nachtigall, Andrea: Gendering 9/11. Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror« – Kultur und soziale Praxis, Bielefeld: transcript 2012. 21 Lutz, Helma: »Unsichtbare Schatten? Die »orientalische« Frau in westlichen Diskursen – Zur Konzeptualisierung einer Opferfigur«, in: Peripherie 37 (1989), S. 51-65. 22 G. Dietze: Okzidentalismuskritik, S. 237. 23 Jäger, Margret: Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs, Duisburg: DISS 1996.
Transformation repräsentativer Ordnungen? | 223
spielsweise über westliche Kleidung symbolisiert wird. 24 Eine insbesondere von Mohanty diskutierte »discursive colonization«25 von ›anderen‹ Frauen zeigt sich damit nicht nur in ihrer Subjektivierung als unterworfene Opfer und damit in der (Re-)-Konstruktion binärer Oppositionen, sondern auch in der Repräsentation von ermächtigten Frauen (»empowered womenhood«26). Mohanty kritisiert, dass auch solche Repräsentationen zentral die eigenen Normen (re-)konstruieren, weswegen gefragt werden muss: »whose agency is being colonized?«27. Die Einschreibung orientalisierter weiblicher Körper in tradierte Formen der Sichtbarkeit ›handlungsfähiger‹ weiblicher Körper (re-)produziert eine diskursive Normalität, die Angela McRobbie in ihrem Buch Top Girls beschreibt und die in der Regel insbesondere jungen, vor allem Weißen Frauen, über die »Teilhabe an Konsumkultur und Bürgergesellschaft«28 eine bestimmte gesellschaftliche Rolle jenseits feministischer Politik anböte. McRobbie beschreibt das Aufgreifen von Elementen des Feminismus wie denen der Wahlfreiheit oder der Ermächtigung und deren Integration in individualistische, neoliberale Diskurse als Strategie gegen die Etablierung neuer Frauen-Bewegungen.29 Sie hebt hervor, dass Anerkennung dann gewährleistet werde, wenn Weiblichkeit als produktiv, aktiv und handlungsfähig inszeniert werde, etwa durch die individuelle Wahl der Erfüllung gegenwärtiger Normen von Mode und Schönheit.30 Mit der Ablösung eines politischen Feminismus durch individualisierte Handlungsmacht ginge auch eine diskursive Abkehr von anti-rassistischen Kämpfen einher, da solche strukturellen Auseinandersetzungen aufgrund der globalen individuellen Erfolge von Women of Color ebenfalls nicht mehr relevant seien: »Auch das Andere (Otherness) wird anerkannt: Kulturelle Differenz bekommt auf genau vorgezeichneten Wegen und in einem genau abgesteckten Rahmen ihren Platz zugewiesen.«31 Relevant für die vorliegende Analyse ist zudem der Diskurs über aktuelle feministische Protestformen, spezifisch die Proteste der Gruppe Femen, die teil-
24 Vgl. M. Lünenborg/T. Maier: Wir und die Anderen?, S. 14ff. 25 Mohanty, Chandra Talpade: »›Under Western Eyes‹ Revisited: Feminist Solidarity through Anticapitalist Struggles«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28 (2003), S. 499-535, hier S. 501. 26 Ebd., S. 528. 27 Ebd. 28 McRobbie, Angela. Top Girls: Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, hier S. 18. 29 Vgl. ebd., S. 17. 30 Vgl. ebd., S. 96. 31 Ebd., S. 107.
224 | Brink
weise an diese Deutungen eines neoliberalen Post-Feminismus anknüpfen. Tanja Thomas bemerkt, dass im Diskurs um Femen-Proteste oftmals zwei unterschiedliche Deutungen miteinander konkurrierten: »Häufig werden in dieser Diskussion zwei Positionen eingenommen, die entweder (Selbst-)Pornografisierung konstatieren oder aber dem Versuch einer Resignifikation des weiblich codierten Körpers, mittels derer für Gleichberechtigung gekämpft wird, etwas abgewinnen können.«32
Für die (Be)Deutung der Proteste sei dabei auch entscheidend, an welchem Ort sie stattfänden. Proteste, die in westeuropäischen Ländern stattfinden, werden dabei oft als Reinszenierung heteronormativer und hegemonialer männlicher Ideale des weiblichen Körpers verstanden und kritisiert, dass diese Inszenierung nicht oder nur unzureichend als Parodie gekennzeichnet werde. 33 Reestorff beschreibt, dass die Inszenierung des weiblichen Körpers durch Femen gerade in einem westeuropäischen Kontext daher oft als ›zu anerkennbar‹, also als zu angepasst an geltende Normen der Repräsentation, verstanden werde: »Through the focus on hot boobs they adhere to a recognizable ideal of the female body. This entails that for some Femen are too recognizable.«34 Die Möglichkeit, Ordnungen von Anerkennung und Umverteilung durch die Proteste zu verschieben werde dieser Deutung nach durch die Reinszenierung bestehender Anerkennungsnormen verhindert. O’Keefe ordnet die Proteste von Femen daher auch in ein Feld der Überschneidung zwischen Postfeminismus und Third Wave Feminismus ein, welches dadurch gekennzeichnet sei, dass hier patriarchale und kapitalistische Werte durch die Fokussierung auf Wahlfreiheit und Freiheiten des Konsums verkörpert werden.35 Bei der Lokalisierung von Femen-Protesten etwa in Tunesien geht Reestorff hingegen davon aus, dass die für die Gruppe typische Inszenierung des weiblichen Körpers hier gerade nicht geltenden Normen der Anerkennung entspreche, sondern nicht anerkennbar sei: »The recognizable female body might be less recognizable in an affective environment of conflict. This is evident in the Free
32 Thomas, Tanja: »Blanker Protest – Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Handlungsfähigkeit in Medienkulturen«, in: Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur, 01 (2014) S. 18-31, hier S. 25. 33 Vgl. O’Keefe, Theresa: »my body is my manifesto! SlutWalk, FEMEN and femenist protest«, in: Feminist Review 107 (2014), S. 1-19, hier S. 5. 34 C.M. Reestorff: Mediatised affective activism, S. 485. 35 Vgl. O’Keefe 2014: 5.
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Amina protest; the recognizable female body is certainly not recognizable in front of the courthouse in Tunis.«36 Diese Nicht-Anerkennbarkeit könne einerseits bestehende Anerkennungsordnungen in Frage stellen und möglicherweise auch transformieren, andererseits könne es gerade dadurch auch zu problematischen Konstruktionen von Gegensätzlichkeiten kommen. Kritisiert wird innerhalb dieser diskursiven Deutung vor allem die Verquickung von antimuslimischem Rassismus mit den Protesten. Die Zentralisierung und damit Universalisierung der Protestform der Entblößung des weiblichen Körpers beachte nicht, dass dies in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gedeutet werde und nicht nur mit einer Sexualisierung, sondern beispielsweise auch mit einer Beschämung der Frauen in Verbindung gebracht werden könne.37 Zudem wurden gerade im Umfeld der Proteste in Tunesien oft muslimische Frauen homogenisiert und viktimisiert: »Their opposition to veiling routinely slips into uncomplicated derision of Islam, Islamophobia and the universalisation of Muslim women as ›Other‹ to be saved by western, ›enlightened‹ women.«38
MEDIALE REPRÄSENTATIONEN UND GESELLSCHAFTLICHE WIRKLICHKEIT Journalistische Diskurse werden in diesem Beitrag als eine spezifische Arena verstanden, in der gesellschaftliche Deutungen ausgehandelt werden. In der Analyse geht es demnach um »gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme oder Ordnungen, die in und durch Diskurse produziert werden«. 39 Für die methodische Umsetzung bietet sich daher die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) nach Reiner Keller an, die auf die Diskurstheorie Foucaults einerseits und die soziologische Wissenstheorie von Berger/Luckmann andererseits zurückgeht. Gemeinsam ist diesen beiden Ansätzen die Annahme, dass wir keinen unmittelbaren Zugriff auf die Welt haben, sondern Wirklichkeit immer gesellschaftlich geprägt ist und in und durch Diskurse konstruiert, legitimiert und objektiviert wird. Entsprechend lautet das Ziel der WDA: »Die Wissenssoziologische Diskursanalyse untersucht diese gesellschaftlichen Praktiken und Prozesse der kommunikativen Konstruktion, Stabilisierung und Transformation symboli-
36 C.M. Reestorff: Mediatised affective activism, S. 486. 37 Vgl. O’Keefe 2014: 14. 38 Ebd., vgl. auch Reestorff 2014: 493. 39 Keller, Reiner: Diskursforschung, 4. Auflage, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss 2011., S. 59.
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scher Ordnungen«.40 Für die Entscheidung einer Orientierung an der WDA im methodischen Vorgehen spricht zudem, dass diese die Bedeutung von Diskursakteur*innen betont und konkrete, an der Grounded Theory orientierte Vorschläge zur Vorgehensweise in der Analyse macht. Der Datenkorpus wurde im Sinne eines theoretical samplings erstellt. Das bedeutet, dass zunächst eine umfangreiche Datenbanksuche in verschiedenen Medien (Zeit, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, Spiegel, FAZ) vorgenommen wurde, bei der Artikel recherchiert wurden, die die Suchbegriffe Tunesien und Frau* enthielten und zwischen Dezember 2010 und Ende 2013 erschienen. Manuell wurde dann durchgesehen, welche der Artikel sich explizit mit Protesten und der Beteiligung von Frauen beschäftigten. Anschließend wurden orientiert am Erkenntnisinteresse und dem Verfahren der maximalen und minimalen Kontrastierung Artikel für die Feinanalyse ausgewählt. Dabei wurden anhand von Querverweisen in den Texten und gezielten Nachrecherchen auch weitere Artikel aus anderen Medien ergänzt, die für die Analyse ergiebig erschienen. Ziel war somit nicht eine vermeintliche Repräsentativität der ausgewählten Beiträge, sondern eine theoretische Sättigung, also die Erfassung möglichst aller im Diskurs vorkommender Deutungen. Der Korpus für die Feinanalyse umfasste schließlich 30 Beiträge aus den On- und offline- Ausgaben der Zeit, Süddeutscher Zeitung, FAZ, Spiegel, taz, tagesspiegel, Cicero, Emma und Jungle World, welche fast ausschließlich zwischen März und September 2013 erschienen und über die Ereignisse rund um die Femen-Proteste berichteten.
SICHTBARKEIT UND ANERKENNUNG IM DEUTSCHEN PRESSEDISKURS UM FEMEN-PROTESTE IN TUNESIEN Bezüglich der Frage, wer im Diskurs sprechen darf bzw. Gehör findet, kann zunächst konstatiert werden, dass, wie oben bereits erwähnt, schon die Auswahl des Diskursereignisses ein interessantes Ergebnis zu dieser Frage darstellt. Das Ereignis der Femen-Proteste in Tunesien wurde ausgewählt, da sich in der deutschen Berichterstattung über protestierende Frauen in Tunesien seit Dezember 2010 eine besondere Fokussierung auf die Femen-Proteste zeigt. Hervorgehoben werden kann zudem, dass die Repräsentation von Frauen und deren Einnahme von Sprechpositionen auf wenige Individuen beschränkt ist, wobei zudem der größere Teil der Frauen explizit als Nicht-Tunesierinnen eingeführt wird. Gehör finden neben der tunesischen Femen-Aktivistin Amina Tyler lediglich Lina Ben
40 Ebd., S. 59.
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Mhenni als international bekannte Bloggerin und die Menschenrechtsaktivistin Bochra Belhadj Hamida als Anwältin von Tyler. Darüber hinaus treten als weibliche Akteurinnen vor allem Femen-Aktivistinnen aus Deutschland, Frankreich und der Ukraine sowie Personen, die im deutschsprachigen Diskurs als Sprecherinnen etabliert sind, auf. Gerade zu Beginn der Berichterstattung werden dabei fast alle Akteurinnen als mutige ›Aktivistinnen‹ positioniert, die für ihren Einsatz für Frauenrechte unterdrückt und teilweise auch selbst Opfer von Übergriffen werden: »Kurz bevor sie festgenommen wurde, schrieb die 19-jährige tunesische Feministin Amina: ›Ich habe keine Angst, ich bin in die Freiheit verliebt.‹ Sie hatte es gewagt, an die Friedhofsmauer einer Moschee den Namen der Feministinnengruppe ›Femen‹ zu sprühen – jener internationalen Bewegung, deren Aktivistinnen vorzugsweise mit nacktem Oberkörper gegen Diskriminierung protestieren.«41
Sowohl Tyler selbst als auch die Formulierung ›sie hat es gewagt‹ positionieren sie hier als mutig und ordnen sie in eine als international und feministisch gedeutete Protestbewegung ein. Innerhalb dieser Subjektpositionierung nehmen die Akteurinnen auffällig häufig Sprechpositionen ein, auch wenn keine direkten Interviews möglich sind, wie etwa zeitweise bei Tyler, werden wie in obigem Ausschnitt direkte Zitate aus anderen Interviews oder sozialen Medien in die Texte eingebracht. Mit Tylers Austritt aus der Gruppe und der insbesondere in sozialen Medien zunehmenden Debatte um die Femen-Proteste findet sich auch im Diskurs eine Veränderung der Subjektpositionierungen, die eine distanziertere Haltung zu den Aktivistinnen einnimmt und ihr die Position der ›verärgerten Muslima‹, die ebenfalls oft eine Sprechposition erhält, gegenüberstellt: »Nein danke, sagt Kübra Gümüsay. ›Das ist eine herrische Erhebung über die muslimische Frau, die sich nicht selbst helfen kann.‹ Arrogant, eurozentristisch, sie redet sich in Rage. ›Wenn eine Tunesierin das in Tunesien macht, ist das in Ordnung, weil sie den kulturellen Kontext kennt. Aber wenn eine Europäerin glaubt, dass sie alles schon weiß und besser weiß, ist das unerträglich.‹«42
Bis auf wenige Ausnahmen, die an späterer Stelle diskutiert werden, ist die Formulierung einer solchen Kritik durch Frauen, die im deutschen Diskurs wie die 41 Schule, Ralph: »Porträt Amina. Feministin aus Tunesien: ›Ich bin in die Freiheit verliebt‹«, in: tagesspiegel.de vom 25.05.2013. 42 Bullion, Constanze von: »Unter Schwestern«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.06.13, S. 3.
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Bloggerin Kübra Gümüsay als »praktizierende, kopftuchtragende Muslima« 43 bekannt sind, typisch für den untersuchten Diskurs. In Bezug auf die Konstitution von Geschlecht im Diskurs lässt sich zunächst allgemein feststellen, dass in den auch hier reproduzierten Orient-/ Okzidentkonstruktionen eine Verschiebung innerhalb der Repräsentation von Weiblichkeit bemerkbar ist, während die Repräsentation von Männlichkeit etablierten Ordnungen entspricht. Durch die Fokussierung auf die Subjektpositionierungen als ›Aktivistin‹ erscheint Weiblichkeit im Diskurs vor allem als selbstbestimmt und aktiv und entspricht damit den von McRobbie beschrieben Aufmerksamkeitsräumen, die ihr zufolge insbesondere für Frauen in Europa und Nordamerika gelten. Dies äußert sich zunächst in der für die diskursive Repräsentation von Weiblichkeit typischen Fokussierung auf Beschreibungen äußerer, körperlicher Merkmale: »die junge Frau mit blondgefärbtem Haar und kurzen Hosen«44. Entscheidend ist hier scheinbar die Hervorhebung des selbstbestimmt gestalteten Äußeren der Frauen, wobei sich dieses oft mit etablierten weiblichen Schönheitsidealen wie blondem Haar oder dem Tragen von Lippenstift deckt. Nicht nur in der Gestaltung ihres Körpers, auch in ihrem sonstigen Handeln werden Weiblichkeit verkörpernde Personen im Diskurs als dynamisch und aktiv beschrieben: »Diese Frauen waren weder traurig noch wütend, aber sehr entschieden.«45 Nicht die Emotionalität von Frauen über Gefühle wie Wut oder Trauer, sondern eine eher rational konnotierte ›Entschiedenheit‹ werden hier hervorgehoben. Zudem werden Frauen an mehrere Stellen als engagiert und mutig dargestellt: »Mut hat sie, die 19-jährige Tunesierin, die sich Amina Tyler nennt. Die als erste arabische Femen-Aktivistin bekannt gewordene Tunesierin«.46 Die Konstruktion von Männlichkeit knüpft hingegen direkt an etablierte Orientkonstruktionen an und verbindet diese vor allem mit der Verbreitung eines politischen, konservativen Islams, der zentral über seine Frauenfeindlichkeit gekennzeichnet wird. Männer treten vor allem als »radikale Religiöse«47, »Fundamentalisten«48 oder als »die
43 https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCbra_G%C3%BCm%C3%BC% C5%9Fay vom 18.07.19. 44 Wendler, Reiner: »Amina in Tunesien verhaftet. Femen auf Arabisch geht zu weit«, in: taz.de vom 22.05.2013. 45 Ben Slimane, Souad: »Tunesien. Land der Paradoxe«, in: Der Spiegel vom 20.08.2012, S. 87. 46 R. Wendler: Amina in Tunesien verhaftet. 47 Wendler, Reiner: »Femen-Bewegung in Tunesien. Nackte Brüste lösen Wut aus«, in: taz.de vom 24.03.2013.
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radikalislamistischen Salafisten mit ihren frauenfeindlichen Ansichten« 49 auf. Die Abwehr der Proteste von Tyler, die im Diskurs als sehr drastisch beschrieben wird, wird dabei sowohl mit einer durch Männer vertretenen radikalen Auslegung des Islams50 als auch mit Männlichkeit an sich in Verbindung gebracht: »Bevor sie einer Meute aufgebrachter junger Männern in die Hände fiel, wurde sie verhaftet.«51 Typisch für den Diskurs ist zudem, dass Männer hier insbesondere als (bedrohliche) Gruppe auftreten, während Frauen individualisiert und personalisiert werden. Mit der Konstruktion von Geschlecht ist somit auch die Herstellung von Nähe und Identifikationsmöglichkeiten mit weiblich codierten Personen verbunden, während zu Männlichkeit eher Distanz aufgebaut wird. Zudem zeigen sich Aushandlungen zum Ideal der Sichtbarkeit, welches aufgrund der Form der Proteste eng mit Nacktheit in Verbindung gebracht wird, als bedeutsam für die Konstruktion von Weiblichkeit im Diskurs. Eine zentrale Deutung ist dabei die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Sichtbarkeit und Nacktheit als körperlicher Selbstbestimmung auf der einen und Unterdrückung auf der anderen Seite. »›Wir sind frei, wir sind nackt und das ist unser Recht! Niemand darf Religion missbrauchen, um Frauen zu unterdrücken und zu misshandeln‹, sagt Alexandra Shevchenko, Femen-Mitgründerin aus der Ukraine, direkt nach der Aktion.«52 Nacktheit wird hier nicht nur explizit mit Freiheit und einer Ausübung des eigenen Rechts in Verbindung gebracht, sondern auch als Gegensatz zu einer mit Religion begründeten Unterdrückung von Frauen gedeutet. Zudem wird die öffentliche Sichtbarkeit des weiblichen Körpers mit der selbstbestimmten Kontrolle über diesen assoziiert, wie im folgenden Zitat Josephine Witt, die in Tunesien inhaftierte Femen-Aktivistin aus Deutschland, verdeutlicht: »›Bei Femen geht es uns um die Frage, wem in der Gesellschaft der Körper der Frau gehört‹, sagt Witt im Interview. ›Wenn wir nackt auf die Straße gehen, tun wir das selbstbe-
48 O.A.: »Befreit Amina! Femen protestieren weltweit gegen Islamismus«, in: EMMAonline vom 05.04.2013. 49 R. Schule: Porträt Amina. 50 Vgl. dazu: »Der tunesische Prediger Adel Almi forderte, die 19-Jährige gemäß des Scharia-Rechts mit 80 bis 100 Peitschenhieben zu bestrafen und anschließend zu Tode zu steinigen. Damit nicht noch mehr Frauen auf solche Ideen kämen und womöglich ›eine Epidemie‹ ausbräche.« (O.A.: Befreit Amina!). 51 R. Wendler: Amina in Tunesien verhaftet. 52 O.A.: Befreit Amina!
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wusst und selbstbestimmt. Wir unterstreichen damit die Kontrolle über unseren eigenen Körper.‹«53 Gleichzeitig wird damit die Bedeckung weiblich codierter Körper implizit universell als Unterdrückung gedeutet, was auch explizit in den Femen-Protesten formuliert wird.54 Während diese Deutung vor allem über direkte Zitate von Femen-Aktivistinnen im Diskurs auftaucht, finden sich an einigen Stellen auch Deutungen, die die öffentliche Sichtbarmachung des weiblichen Körpers kritisch betrachten: »Um im Femen-Jargon zu bleiben: Irgendwann überschatten die Möpse die Message. Und irgendwann guckt auch keiner mehr hin oder drauf.«55 Kritisiert wird an dieser Stelle die Fokussierung von Femen-Protesten generell auf das Zeigen des weiblichen Körpers, die Form des Protests überschatte hier dessen Inhalt. Es folgt, entsprechend oben erwähnter Differenzierungen der Proteste nach ihrer Verortung, der Hinweis, dass dies vielleicht noch in einem »Konfliktgebiet« funktioniere: »Es sei denn, man galoppiert mit dem Getöse der rettenden Elitetruppe ins nächste Konfliktgebiet – ohne Ahnung und Rücksicht auf die Folgen.«56 Gleichzeitig klingt auch hier bereits die ebenfalls oben benannte Kritik an einer mangelnden Kontextualisierung der Proteste an, deren Präsenz im Diskurs an späterer Stelle noch einmal genauer thematisiert werden soll. Für die Thematisierung und Anerkennung von Interdependenzen zwischen lokalen Protesten und globalen Strukturen sind besonders die Deutungen zur Verortung und Kontextualisierung der diskutierten Proteste und deren Ziele von Interesse. Die Femen-Proteste werden im Diskurs zunächst lokal bzw. regional verortet und auch mit regional spezifischen Zielen in Verbindung gebracht. Thematisiert wird hier eine als für muslimisch geprägte Länder spezifisch verstandene Unterdrückung von Frauen und auch durch Frauen organisierter Proteste, die insbesondere mit der Verbreitung eines politischen Islams verknüpft wird.57 Zugleich findet sich im Diskurs ein lokaler Bezug spezifisch auf Tunesien, der die Sonderstellung des Landes in Frauenrechtsfragen hervorhebt: »Gelegentlich, sehr selten, gibt es doch noch gute Nachrichten aus Arabien. […] Tunesiens Frauen, seit Langem geschützt durch die liberalsten Gesetze der Region,
53 Kerbusk, Simon et al: »Tunesien: Wem hilft der Nacktprotest?«, in: Zeit online vom 14.06.2013. 54 Wettig, Hannah: »Nackt sein reicht nicht«, in: jungle world vom 29.08.2013. 55 Böhm, Andrea: »Femen-Aktivistinnen: Zieht euch an«, in: Zeit online vom 20.06.2013. 56 Ebd. 57 Vgl. u.a. O.A.: Befreit Amina!
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sind Männern nun in Pflichten und Rechten gleichgestellt, ja, der Staat hat die Aufgabe, Frauenrechte zu schützen.«58 Hier wird der lokale Schutz von Frauenrechten hervorgehoben, gleichzeitig jedoch genutzt, um entsprechend der oben diskutierten Deutung die Unterdrückung von Frauen in der gesamten Region »Arabien« hervorzuheben, indem betont wird, dass aus dieser Gegend (und zu diesem Thema) meist nur ›schlechte‹ Nachrichten zu hören seien. Mit der Fokussierung auf die Proteste von Femen in der Berichterstattung über protestierende Frauen in Tunesien wird auch eine bestimmte Zielsetzung feministischen Protests in den Blickpunkt gerückt. Thematisiert werden als Ziele feministischen Protests damit die individuelle Freiheit und körperliche Selbstbestimmung von Frauen, die hier besonders als Befreiung von der Unterdrückung durch den Islam gedeutet wird: »Die Femen-Frauen bezeichnen ihren Protest als ›Oben-ohne-Dschihad‹ gegen den Islamismus, von dem sie die Selbstbestimmung ihrer Körper bedroht sehen.«59 Gleichzeitig werden durch diese Fokussierung andere mögliche Ziele feministischen Protests, wie z.B. ökonomische Sicherheit, nicht sichtbar. Zugleich finden sich im Diskurs jedoch auch Deutungen, die die Ereignisse im Kontext eines feministischen Protestes gegen eine global verbreitete Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen verorten. So wird das Ziel der Gruppe als »Kampf für Gleichberechtigung und gegen Machismus«60 gedeutet und betont: »Femen wollen für die Rechte aller Frauen kämpfen – und zwar weltweit«.61 Insbesondere nach dem Austritt Tylers bei Femen bezieht sich eine kritische Deutung des Diskurses gerade auf diese globale Verortung der Proteste. Reflektiert wird hier, dass Interdependenzen eben nicht anerkennt würden, sondern eine Universalisierung der spezifischen Positionierung der (westeuropäischen) Femen-Aktivistinnen stattfände: »Tunesische Frauenrechtlerinnen wiederum fluchen über den Aufruhr, den ihnen europäische ›Radi-
58 Volkert, Lilith: »Tunesische Aktivistin verlässt Femen. Nackter Verrat«, in: SZ.de vom 21.08.2013. 59 O.A.: »Oben-ohne-Protest in Tunesien. Deutscher Femen-Aktivistin droht Haft«, in: Spiegel online vom 31.05.2013 oder auch: »›Selbstbestimmung ist die Maxime‹, sagt Anna Schmidt, für die zur Freiheit die Abwesenheit des lieben Gottes und seiner Kleiderordnung gehört. Ihre erste Femen-Aktion war ein Nackt-Protest vor einer Berliner Moschee. Es ging um Amina Tyler, die in Tunis im Knast sitzt, möglicherweise für Jahre.« (Bullion, Constanze von: Unter Schwestern). 60 R.Wendler: Femen-Bewegung in Tunesien. 61 Reinbold, Fabian: »Femen-Prozess in Tunis. Verrannt im ›Oben-ohne-Dschihad‹«, in: Spiegel online vom 05.06.2013.
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kalfeministinnen‹ eingebrockt haben. Und sie sind wütend über deren Anmaßung, ihnen erklären zu wollen, was radikaler Protest ist.« 62
REPRODUKTION ETABLIERTER REPRÄSENTATIONSORDNUNGEN Im Diskurs finden sich an einigen Stellen durchaus Reflektionen, die eine Transformation etablierter Repräsentationsordnungen anstoßen könnten und eine Polyphonie des Diskurses im Gegensatz zu dessen Polarisierung anstreben. 63 Primär werden jedoch etablierte Orient-/Okzidentkonstruktionen und damit polarisierende Deutungen reproduziert. Auch wenn weiblich codierte Personen im Diskurs vor allem als mutige, aktive und handlungsfähige Aktivistinnen positioniert werden, so geht die Einnahme dieser Subjektpositionen über die Sichtbarkeit bereits etablierter Positionen im deutschen Diskurs und solcher Subjekte, die entsprechend gängiger Normen als anerkennbar gelten können, nur selten hinaus. So wenig andere, nicht etablierte Stimmen zu Wort kommen, so wenig werden gerade durch die Fokussierung des Diskurses auf Proteste, die mit Femen in Verbindung gebracht werden, andere, etwa sozioökonomische, Inhalte feministischer Aktionen, sondern vor allem oft als postfeministische Schlagworte kritisierte Forderungen nach Selbstbestimmung und Freiheit thematisiert.
62 A. Böhm: Femen-Aktivistinnen, vgl. auch: »Die an sich richtige Aussage ist deshalb falsch, weil Femen gar keine Diskurse führen. Ihre Botschaft, die Befreiung der Frau, ist zwar universell, aber mangels jeglicher theoretischen Reflexion stellen sie die immer gleichen Forderungen bar jeden Kontextes auf.« (H. Wettig: Nackt sein reicht nicht). 63 Vgl. dazu Silverstone, Roger: Mediapolis. Die Moral der Massenmedien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 129ff.
Genderspezifische Förderung durch deutsche politische Stiftungen in Tunesien: eine Bestandsaufnahme Abir Tarssim
1. EINLEITUNG: FRAUENRECHTE UND GESCHLECHT IN TUNESIEN Durch die tunesische Revolution und den Sturz des alten Regimes am 14.1.2011 trat der tunesische Staat in einen demokratischen Transitionsprozess ein. Unterschiedliche internationale Organisationen und Stiftungen versuchten und versuchen, den Staat und die Gesellschaft bei diesem demokratischen Übergang zu unterstützen. Schon seit der Unabhängigkeit Tunesiens hatten die tunesischen Frauen diverse Rechte erlangt. Zu nennen ist hier vor allem das Personenstandsgesetz aus dem Jahr 1956 (Code du Statut Personnel).1 Dieses Gesetz schuf die Polygamie in Tunesien ab und ermöglichte es Frauen, die Scheidung selbst einzureichen. Auch ging das Sorgerecht für Kinder nicht zwangsläufig an den Vater. Dieses für die damalige Zeit progressive Gesetz garantierte Freiheiten und Rechte der Frauen. In der Region und der gesamten arabischen Welt war dies eine beispiellose gesetzliche Reform. In der Tat ist es jedoch so, dass dieses Gesetz aus politisch eigennützigen staatsfeministischen Beweggründen entstand,2 dies aber gleichzeitig mit dem positiven Effekt, dass Frauen in Tunesien
1 2
Vgl. den Beitrag von Ina Khiari-Loch in diesem Band. Zum Begriff des Staatsfeminismus vgl. Weber, Anne F.: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien (Mitteilungen, Bd. 62), Hamburg: Dt. OrientInstitut 2001, S. 17-18; El-Ouerghemmi, Nadia und Steffi Hobuß: Sprachliche Resignifikation im Kontext der Diktatur. Der Begriff der Frauenrechte in Tunesien, er-
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Rechte und Freiheiten genießen, die durch die Verfassung garantiert werden.3 Nach den Parlamentswahlen im Oktober 2011 und dem Sieg der moderaten islamistischen Partei Ennahdha sahen viele Modernist*innen ihre freiheitlichen gesetzlichen Errungenschaften in Gefahr. Auch während der Revolution zwischen dem 17.12.2010 und dem 14.1.2011 spielten Frauen eine maßgebliche Rolle, sei es als Aktivistinnen, Online-Bloggerinnen oder aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft. Trotz des gesellschaftlich aktiven Charakters der Tunesierinnen und der vom Staat garantierten Rechte entspricht es aber der Realität, dass Frauen auf Grund des seit der Ära Bourguiba gepflegten Staatsfeminismus zwar von einigen positiven Effekten profitieren konnten, trotzdem im Ganzen aber kaum bis keine gesellschaftlichen Schlüsselpositionen besetzten. In vielen Wirtschaftssektoren, wie z.B. in der Landwirtschaft, werden Frauen zudem finanziell ausgebeutet. Bisher ist in der tunesischen Gesellschaft ein Verständnis der Geschlechter, das über eine binär gedachte Zweigeschlechtlichkeit hinausgeht, nur wenig vorhanden und wird weder vom Staat noch der dominanten Gesellschaft akzeptiert. Jedoch wurden und werden Themen bezüglich der Geschlechtsidentität wie z.B. die Entkriminalisierung der Homosexualität in der tunesischen Gesetzgebung öffentlich und parlamentarisch diskutiert, wenn auch begleitet von Diskursen der Ablehnung.4 Tunesische Aktivist*innen in unterschiedlichen Gruppen wurden dabei auch von wenigen internationalen Organisationen, wie z.B der HeinrichBöll-Stiftung, unterstützt. Das feministische Kollektiv Chouf (dt. »Schau her!«) ist eine tunesische Nichtregierungsorganisation, die einen inklusiven Begriff von Frauen* vertritt und sich seit 2013 für das Recht von Frauen* auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung einsetzt. Seit 2015 organisieren ihre Mitglieder jedes Jahr das internationale feministische Kunstfestival Chouftouhonna in Tunis und weitere Aktionen im Feld von Kunst und Politik im öffentlichen Raum, um intersektionale feministische Kämpfe sichtbarer zu machen. Mawjoudin (dt. »Wir
scheint in: Sarhan Dhouib (Hg.): Philosophieren in der Diktatur, Weilerswist: Velbrück 2019. 3
Vgl. I. Khiari-Loch, »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der Freiheit«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’Homme, Cottbus-Medenine 2013, S. 105.
4
Vgl. Haïfa Mzalouat: LGBT-Rechte in Tunesien: Der Kampf kommt ins Fernsehen (17.6.2016), verfügbar unter: https://www.boell.de/de/2016/06/17/lgbt-rechte-tunesiender-kampf-kommt-ins-fernsehen?dimension1=division_nona vom 06.08.2019.
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existieren «) ist eine tunesische Menschenrechtsorganisation, die für LGBTQI*Rechte kämpft und seit 2018 das erste queere Filmfestival in Tunesien und ganz Nordafrika veranstaltet. Die Vereinigung Shams (dt. »Sonne«, eine Anspielung auf Shams-e Tabrizi und seine Liebesbeziehung zum Dichter und Mystiker Rumi) ist seit 18. Mai 2015 als erste LGBT-Bürgerrechtsorganisation im tunesischen Vereinsregister registriert. Sie kämpft für die Rechte sexueller Minderheiten, gegen Homophobie und für die Entkriminalisierung von Homosexualität durch die Abschaffung des Artikels 230 im tunesischen Strafgesetzbuch, der vorsieht, dass einverständliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen gleichen Geschlechts mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Die LGBTQI*-Vereinigungen Damj (»l’association tunisienne pour la justice et l’égalité«) und Kelmty sind weitere Nichtregierungsoragnisationen, die für Menschenrechte, gegen Homophobie und die Abschaffung des § 230 eintreten. Im vorliegenden Beitrag befasse ich mich mit der genderspezifischen Förderung in Tunesien durch deutsche politische Stiftungen. Dabei wird die Arbeit von drei Stiftungen, nämlich der Konrad Adenauer Stiftung, Friedrich Ebert Stiftung und der Heinrich Böll Stiftung genauer betrachtet. Die anderen genannten Stiftungen haben auf die Interviewanfrage nicht geantwortet. Auf der Basis von Interviews mit den jeweiligen Stiftungsvertreter*innen und Projektverantwortlichen, die im Frühjahr 2017 geführt wurden, und der Teilnahme an einigen Veranstaltungen und Workshops der Stiftungen gehe ich den folgenden Fragen nach: Auf welche Weise, in welchem Umfang und mit welchen Inhalten werden Genderthemen aufgegriffen und bearbeitet? Wie gestaltet sich die Förderung von Gruppen und Veranstaltungen und die Kooperation mit den jeweiligen Stiftungspartnern?
2. GENDER MAINSTREAMING, GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT UND FRAUENFÖRDERUNG Stiftungen sind auf internationaler Ebene im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Innerhalb dieses Kontextes spielt die Genderthematik bzw. die Geschlechtergerechtigkeit eine wesentliche Rolle. Der Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen und für Geschlechtergerechtigkeit gewann im Zusammenhang internationaler Konferenzen und Abkommen an Bedeutung. So wurde auf der vierten Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 eine Reihe von Verpflichtungen und Abkommen zur Verbesserung der wirtschaftlichen, politischen und juristischen Lage der Frauen in den jeweiligen Ländern vereinbart. Die Un-
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gleichbehandlung aufgrund dem Geschlecht zugeschriebener Unterschiede sollte bekämpft werden. Festgehalten wurden diese Verpflichtungen auf der Pekinger Aktionsplattform, die für alle UN-Mitgliedsstaaten verpflichtend ist. Ziel ist es damit, vor allem der kulturellen, gesellschaftlichen und strukturellen Diskriminierung von Frauen entgegenzuwirken. Zur Umsetzung dieses Ziels steht den jeweiligen Akteur*innen ein Instrumentarium zur Verfügung, zu dem die Strategie des Gender Mainstreamings, die Frauenförderung bzw. das Empowerment von Frauen gehören.5 Frauenförderung richtet sich auf speziell für Frauen konzipierte Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Situation und auf die Verringerung ihrer politischen Benachteiligung. Das Empowerment soll Menschen ermöglichen, ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu definieren und sie zur Beteiligung an politischer Partizipation motivieren.6 Eine zentrale Rolle bei dieser Strategie spielt das bereits vorhandene Potenzial der Menschen und seine Ausbaufähigkeit. Seit der Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 wurde die Strategie des Gender Mainstreamings als fester Bestandteil in allen Projekten der europäischen Entwicklungszusammenarbeit mit dem Ziel der Implementierung eines strategischen Rahmens zur Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit integriert. 7 Der Ausgangsgedanke bei der Strategie des Gender Mainstreamings ist, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt. Durch die soziale Konstruktion von Geschlecht etablieren sich auch Machtstrukturen, die es zu überwinden gilt. Durch diese Strategie, die als Querschnittsaufgabe verstanden wird, soll der Gleichstellungsgedanke auf jeweils allen Handlungsebenen eines Projektes integriert werden. Dies soll von der Projektleitung der jeweiligen Organisation, Einrichtung oder Firma durch eine Top-Down-Strategie und verbindlich für alle Mitarbei-
5
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=LEGISSUM:c11903
vom
06.08.2019. 6
Vgl. Eintrag »Empowerment«, in: Glossar des BMZ, verfügbar unter https://www. bmz.de/de/service/glossar/E/empowerment.html (10.8.2019).
7
Zum Begriff und der Politik des Gender Mainstreaming vgl. Jünemann, Annette: Geschlechterdemokratie für die Arabische Welt. Die EU-Förderpolitik zwischen Staatsfeminismus und Islamismus (= Essentials), Wiesbaden: Springer VS 2014; Frey, Regina: Gender im mainstreaming. Geschlechtertheorie und -praxis im internationalen Diskurs, Königstein/Taunus: Helmer 2003; Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft, Band 65), Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden 2019, besonders der Aufsatz von Ute Klammer: »Gleichstellungspolitik: wo Geschlechterforschung ihre praktische Umsetzung erfährt«, S. 1-10.
Genderspezifische Förderung durch deutsche Stiftungen in Tunesien | 237
ter*innen umgesetzt werden. Dabei sollen Gender Mainstreaming und Frauenförderung komplementär zur Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit eingesetzt werden. Es ist nicht die Absicht, eine Strategie durch die andere zu ersetzen. »Es setzte sich der Gedanke durch, dass die Marginalisierung von Frauen weniger ein Ergebnis von Defiziten an Fähigkeiten und Kompetenzen ihrerseits als vielmehr eine Folge sozial und kulturell erlernter Geschlechterbilder ist.«8 Obwohl die Strategien also grundsätzlich als komplementär gedacht werden und das Gender Mainstreaming sowohl Frauen als auch Männer einbezieht, ist es oft so, dass Gender Mainstreaming synonym zum Begriff der Frauenförderung benutzt wird. Frauenförderung zielt primär darauf ab, die Lebenssituation von Frauen zu verbessern und ihre politische und wirtschaftliche Benachteiligung zu verringern. Die Frauenförderung kann dabei ein Instrument des Gender Mainstreaming sein, wenn sie die Machtverhältnisse zwischen allen Geschlechtern hinterfragt und auf ihre Veränderung abzielt. Und auch das Empowerment kann als Instrumente für das Gender Mainstreaming eingesetzt werden. Die Gleichsetzung der Strategien steht jedoch letztlich im Widerspruch zum Begriff Gender, der davon ausgeht, dass Gender nicht gleichzusetzen ist mit dem des Geschlechts.9 Es ist ein soziales Konstrukt, das durch »kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische und historische Rahmenbedingungen«10 zustandekommt, so die Definition des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ursprünglich eingeführt als emanzipierender Hinweis darauf, dass Biologie nicht Schicksal ist, wird der Begriff Gender aber vor allem im dekonstruktiven Feminismus längst nicht mehr als Entgegensetzung zum als biologisch angenommenen Geschlecht gedacht, weil dies letztlich den Biologismus im Denken des Geschlechts reproduziert:11 »Wenn also das ›Geschlecht‹ (sex) selbst eine kulturell generierte Geschlechter-Kategorie (gendered category) ist, wäre es sinnlos, die Geschlechts12 identität (gender) als kulturelle Interpretation des Geschlechts zu bestimmen. « Deutlich weniger Beachtung als Frauen finden Genderminderheiten in den Be-
8
Venro (Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.): Gewusst wie – Gender in der Entwicklungszusammenarbeit. VENRO Gender Handbuch, Bonn 2010, S. 12.
9
Butler, Judith: Körper vom Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts 1997, S. 145.
10 BMZ: Glossar.www.bmz.de/de/service/glossar/gender.html. 11 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 [1990], S. 22-24. 12 Ebd., S. 24.
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griffsbestimmungen des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ähnliches gilt auch für die Arbeit der für diesen Beitrag untersuchten Stiftungen. Bei der Mehrheit der untersuchten Stiftungen bleibt sich das Genderverständnis auf ein binäres Verständnis von Weiblichkeit/ Männlichkeit begrenzt. Ihre strategische Vorgehensweise ist meist der Frauenförderung zuzuordnen. Obwohl diese Strategien seit dem Pekinger Abkommen 1995 und den UNMillenium Development Goals aus dem Jahr 2000 für alle UN-Mitgliedsstaaten bei der Durchführung von Programmen verpflichtend ist13, handelt es sich um ein »soft-law«, welches nicht einklagbar ist; die Nicht-Anwendung dieser Strategien wird nicht sanktioniert. Dennoch besteht der Anspruch der Entwicklungszusammenarbeit, alle Programme auf ihren Nutzen hin sowohl für Frauen als auch für Männer zu prüfen.
3. DEUTSCHE STIFTUNGEN IN TUNESIEN UND IHR UMGANG MIT GENDERFRAGEN In Tunesien gibt es sechs deutsche politische Stiftungen: die Konrad-AdenauerStiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Hanns-Seidel-Stiftung, die FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung. Die beiden letzteren eröffneten ihre Büros in Tunis erst nach der Revolution 2011. Politische Stiftungen sind Nicht-Regierungsorganisationen zum Zweck der politischen Bildung, die im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit agieren und jeweils einer politischen Partei nahestehen. Je nach Stiftung gibt es unterschiedliche Schwerpunkte und Grundwerte, auf die sie sich in ihren Projekten mit ihren inländischen und ausländischen Partnern konzentrieren. Die Konrad-Adenauer-Stiftung mit Büro in Tunis ist eine CDU-nahe Stiftung, deren Arbeit auf den Grundwerten der CDU beruht. Die Hauptachsen ihrer Stiftungsarbeit sind die Förderung der Demokratie, des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft. Sie arbeitet mit öffentlichen Institutionen, politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammen, und ihre Vertretung in in Tunesien besteht seit 1982. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist eine SPD-nahe Stiftung und eröffnete ihr Büro 1988 in Tunis. Sie steht für sozialdemokratische Grundwerte und die Zusam-
13 https://www.un.org/sustainabledevelopment/gender-equality/ vom 06.08.2019.
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menarbeit mit den Gewerkschaften. Es sollen sowohl der demokratische Dialog gefördert als auch die Lage der Arbeitnehmer*innen verbessert werden. Die Heinrich-Böll-Stiftung eröffnete im Mai 2013 ihr Büro in Tunis. Diese Stiftung vertritt die Grundwerte der Partei der Grünen, die sich auf die Demokratie, Menschenrechte, Umweltschutz und Geschlechtergerechtigkeit konzentriert. Bei meinen Untersuchungen bezüglich der Arbeit und Projekten der Stiftungen zur Genderthematik stellte ich die Frage nach der fachlichen Expertise der jeweiligen Genderbeauftragten der jeweiligen Stiftung in Bezug auf Geschlechtertheorien. Es ließ sich feststellen, dass wenn es überhaupt jemanden gab, der sich in den in Tunis ansässigen deutschen Stiftungen mit den Genderthemen befasste, diese maximal zwei Seminare zur Genderthematik besuchten. Dieses Phänomen ist international zu beobachten und beschränkt sich nicht nur auf die Projektbeauftragten in Tunesien. Nur zwei von drei untersuchten Stiftungen hatten überhaupt eine*n Genderbeauftragte*n.; die Friedrich- Ebert-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung. Nur bei der Heinrich-Böll-Stiftung haben die Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, Genderseminare zu besuchen. Sie ist die einzige Stiftung, welche als einzige den Begriff Gender in seiner Ganzheit behandelt.14 Für die Untersuchung galt es zunächst das Genderverständnis der jeweiligen Stiftung zu erfragen und herauszufinden. Dabei stellte sich heraus, dass trotz vorliegender Definitionen des Begriffs Gender durch Institutionen wie das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung15 das Verständnis des Begriffs unter den Stiftungen variiert. Für die Konrad-Adenauer-Stiftung Tunis gibt es keine für die Stiftung definierte Wahrnehmung des Begriffs. Programme werden geschlechtsunabhängig erstellt und durchgeführt. »Auf die Leistung des einzelnen Menschen kommt es an, das Geschlecht ist hierbei nicht ausschlaggebend«. 16 Geschlechtergerechtigkeit als Entwicklungsziel wie es in den »UN-Millenium Development Goals «17 und seit 2015 in den »Sustainable Development Goals « festgehalten ist, wird hier nicht wahrgenommen. Dies ist ein nicht ungewöhnlicher Umgang mit sogenannten »soft laws«, zu denen die Strategie des Gender Mainstreamings gehört. Projekte zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und zur Frauenförderung fehlen im Fall der Konrad-Adenauer-Stiftung vollständig.
14 Vgl. https://www.boell.de/de/themen/feminismus-gender vom 06.08.2019. 15 Vgl. http://www.bmz.de/de/themen/frauenrechte/index.html vom 06.08.2019. 16 Holger Dix, Leiter des Landesbüros Tunesien/Algerien der Konrad-Adenauer-Stiftung im Interview im Januar 2017. 17 Vgl. https://www.un.org/millenniumgoals/gender.shtml vom 06.08.2019.
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Innerhalb der Friedrich-Ebert-Stiftung, so die Programmkoordinatorin Leila Hassan, achte man auf die Gleichstellungsthematik.18 Man nehme diesen Aspekt in allen Programmbestandteilen zur Kenntnis; er sei jedoch keine Priorität. Ausgeklammert werde er lediglich bei der Terrorismusthematik. Bei der FriedrichEbert-Stiftung gibt es Projekte zur Frauenförderung, die auch Strategien des Empowerment mit einbeziehen. Hierzu einige Beispiele aus ihrer Arbeit: Bei dem Programm »Femme en action« der Friedrich-Ebert-Stiftung Tunis werden in einem Projekt Frauen, die sich zuvor auf das Programm beworben haben, bei der Selbstorganisation für einen Start in das Berufsleben unterstützt. Dies beginnt beim Vermitteln von Grundwissen zum Erstellen von Bewerbungsunterlagen bis hin zur Unterstützung bei der Wohnungssuche. Weiterhin werden im Rahmen dieses Projekts Workshops, Filmvorstellungen und Besuche von Frauenverbänden wie der »Association Tunisienne des Femmes Democrates « angeboten. In einem weiteren Projekt des Programms »Femme en action «, ist es das Ziel, den teilnehmenden Frauen ihre Ausbeutung durch (Zwischen-)Händler bewusst zu machen und ihnen durch Fortbildungen dabei zu helfen, diesen Zustand zu überwinden. In der Stadt Kerkenah im Südosten Tunesiens hatten Fischerinnen vor der Teilnahme an diesem Projekt ihr Produkt für 2 Dinar 19 das Kilo verkauft. Die Frauen wurden seit Jahren ausgebeutet und benachteiligt. Sie kommen aus sehr armen Verhältnissen und sind auf die Erträge ihres Verkaufs angewiesen. Ihnen fehlte es an Zugang zu staatlichen Strukturen und Transportmöglichkeiten für sich und ihre Ware. Mittlerweile liegt der Preis bei 14 Dinar pro Kilo.20 Durch dieses Projekt gründeten die Fischerinnen eine eigene Gewerkschaft, und 150 Frauen erhielten eine Sozialversicherungsnummer und eine staatliche Krankenversicherung. Die Strategie des Gender Mainstreamings wird hier faktisch angewandt, jedoch implizit und wohl eher zufällig. Dennoch ist bei den Projekten der FES sowohl die Förderung von Frauen als auch der Ansatz zur Veränderung tradierter Machtkonstellationen ersichtlich. Die Behandlung der Genderthematik ist ein wesentlicher Bestandteil der Selbstdefinition der Heinrich-Böll-Stiftung.21 Der Begriff Gender wird in seiner
18 Interview mit der Programmkoordinatorin Leila Hassan im März 2017 in Tunis. 19 Der Wechselkurs TND zu Euro lag im hier relevanten Zeitraum zwischen 3:1 und 3,25:1. 20 Auskunft der Programmkoordinatorin Leila Hassan im März 2017 in Tunis. 21 Interview mit Wafa Bel Haj Omar, Genderbeauftragter der Heinrich-Böll-Stiftung Tunis, Februar 2017 in Tunis.
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Ganzheit beachtet und inkludiert auch die Genderminderheiten, deren Rechte Schwerpunkt und Hauptbestandteil der Projekte und Kooperationen sind. Diese Schwerpunkte und die verpflichtenden Strategien zur Ausführung der Projektarbeiten sind in einer »Gender Categorization « verankert: »The gender democracy model at the HBS postulates equal right and opportunities, equal access an equal share in economic resource and political power – irrespectice of gender identity or sexual orientation [...] we (together with our partners) take political initiatives for the benefit of disadvantaged gender groups (e.g. lobbying for the rights of homosexuals, or encouraging exclusively women and their selforganization). «22 In der eben zitierten »Gender Categorization« sind auch die zu benutzenden Strategien verankert. Genannt wird als Umsetzungsmethode sowohl das Empowerment als auch die Strategie des Gender Mainstreaming: »Accordingly, both strategies the explicit (empowerment) and the implicit (cross-cutting approach) are justifiable in their own way, and neither one should ranked higher than the other.« 23
Unter den drei besuchten Stiftungen stellt die Existenz einer Gender Policy bei der Heinrich-Böll-Stiftung24 eine Ausnahme dar, so wie auch Projekte für und mit Genderminderheiten hier eine Ausnahme unter den Stiftungen darstellen. Während die FES Projekte speziell mit Genderminderheiten ausschließt, um Konflikte mit dem Gastland zu vermeiden, so die Programmkoordinatorin Leila Hassan25, gibt es bei der Heinrich-Böll-Stiftung mehrere Kooperationen und Projekte mit Verbänden für Genderminderheiten. Gemeinsam mit Projektpartner*innen wie der Association Shams, Chouf und Damj wurden Aufklärungsbroschüren zur Verhütung, Geschlechtskrankheiten und über Geschlechtsidentitäten veröffentlicht. Die Projektpartner*innen wurden dabei unterstützt, Workshops zum Thema Geschlechtsidentität und Selbstverteidigungskurs für Genderminderheiten zu organisieren.
22 Heinrich-Böll-Stiftung: Gender Categorization for Activities and Projects of the international Programs of the hbs, verfügbar unter https://www.boell.de/en/topics/ gender-policy-lgbti. 23 Ebd. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Interview mit der FES-Programmkoordinatorin Leila Hassan im März 2017 in Tunis.
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Aber auch hier wird die öffentliche Sichtbarkeit der Partnerschaft mit Partner*innen mit Vorsicht gepflegt: Bis Dezember 2015 hatte es die Heinrich-BöllStiftung vermieden, auf Veröffentlichungen, die gemeinsam mit dem jeweiligen Projektpartnern entstanden sind, das Stiftungslogo anzubringen, um so eine Stigmatisierung »als Stiftung für Homosexuelle« zu vermeiden.26 Was bei keiner der Stiftungen genannt wurde, sind mögliche Projekte zur Veränderung und Überwindung überlieferter Männlichkeitsbilder; Beiträge zur Dekonstruktion traditioneller Männlichkeitsvorstellungen sind derzeit bei keiner der Stiftungen vorgesehen, wie alle befragten Stiftungsmitarbeiter*innen bestätigten.
4. FAZIT Die verpflichtende Handhandhabung und Einsetzung von Genderförderung ist eine wertvolle Errungenschaft. Sie ist jedoch wenig wirkungsvoll, wenn den jeweiligen Verantwortlichen Kompetenzen im Bereich Gender fehlen, die durch eine entsprechende Qualifikation sichergestellt werden könnten oder in Weiterbildungen hätten erworben werden können. Im Ergebnis zeigt sich, dass Genderfragen immer dann einbezogen werden, wenn sich die jeweiligen Themen der Projekte explizit mit der Frauenförderung befassen. In Projekten jedoch, die nicht der Frauenförderung zuzuordnen sind, wird der Genderansatz von den meisten Stiftungen und Institutionen ignoriert. Gender wird – anders, als es mit dem Begriff möglich wäre – nicht über eine binäre Zweigeschlechtlichkeit hinausgedacht. Die Zweigeschlechtlichkeit wird als gegeben hingenommen. Statt die Binarität der Geschlechter zu überwinden, wird sie kontinuierlich reproduziert und damit gefestigt. Wenn von »Gender« die Rede ist, handelt es sich überwiegend um Frauen und ihre Förderung. Die Konstruiertheit von Geschlecht und die Konstruktion der Binarität Frau/Mann wird in der Regel nicht reflektiert. Doch je größer das Bewusstsein über die Konstruiertheit der Geschlechter ist, um so effizienter könnte eine Rekonstruktion und Dekonstruktion, ein »Undoing Gender« sein. Erst dann könnte eine genderspezifische Förderung dem Begriff Gender in seiner Ganzheit gerecht werden. Hierzu bedarf es jedoch eines noch umfassenderen Wissens über Gendertheorien und mögliche Strategien, damit traditionelle Geschlechterstereotype dekonstruiert werden können.
26 Interview mit Wafa Bel Haj Omar, Genderbeauftragter der Heinrich-Böll-Stiftung Tunis, Februar 2017 in Tunis.
Genderspezifische Förderung durch deutsche Stiftungen in Tunesien | 243
Wenn das Ziel darin besteht, dass kein Mensch wegen ihres*seines Geschlecht gegenüber anderen benachteiligt wird, sollten durch die Geschlechterförderung Machtstrukturen dekonstruiert und überwunden werden. Dies wird von den drei besuchten Stiftungen lediglich von einer beachtet. Einerseits ist es selbstverständlich positiv, dass Frauen von der jeweiligen Frauenförderung profitieren. Andererseits stellt sich jedoch die Frage, wer die Deutungshoheit über das, was eine Frau ist, hat und wer ihre Interessen definiert. Ein intersektionaler Blick auf Frauen* oder grundsätzlich die Dimension des Geschlechts bleibt ebefalls aus. So werden zum Beispiel intersektionale Überschneidungen mit der Rassialisierung Schwarzer Frauen in Tunesien nicht berücksichtigt. Ausnahmslos wurde der Frage nach dem intersektionalen Zusammenhang von Geschlecht und Rassialisierung die Antwort entgegengesetzt, es seien alle Frauen gemeint und dass man bei der Programmarbeit der Stiftungen nicht unter den Frauen differenziere.27 So bleibt festzuhalten, dass es begrüßenswert ist, dass tunesische Projektpartner*innen und Institutionen bei der Frauenförderung unterstützt werden. Begrüßenswert aber vor allem für diejenigen, die als Frauen definiert werden und einem binären Geschlechterbild entsprechen.
27 Vgl. Interview mit Interview mit Wafa Bel Haj Omar, Genderbeauftragter der Heinrich-Böll-Stiftung Tunis, Februar 2017 in Tunis.
Zeitgenössische Protestmusik und Geschlecht in Tunesien – journalistische und wissenschaftliche Erzählungen Katharina Alexi
Der vorliegende kulturwissenschaftliche Artikel legt dar, welchen Musiker*innen und Themen sich deutschsprachige Onlinemedien und Forschungsbeiträge in den Jahren 2011 bis 2017 im Zuge der Berichterstattung über die Tunesische Revolution vorrangig widmeten. Ziel ist es nicht, einen Überblick über die gegenwärtige (alternative) Musikszene Tunesiens zu geben. Vielmehr frage ich nach dem Phantasma populärer tunesischer Protestmusik in deutschsprachigen Ländern – welche Künstler*innen werden sichtbar gemacht und welche Aspekte ihres Schaffens hervorgehoben bzw. dethematisiert? Bei der Grobanalyse erzählerischer Bezüge auf Geschlecht im Material ließen sich Verwebungen identifizieren, zum Beispiel Verweise auf die Verehrung eines männlichen Popstars durch junge Fans oder dessen quasi-feministische Songtexte wie auch in Bezug auf eine Künstlerin das Narrativ der »Frau und Friedensmusikerin«, die mit Ina Kerner als »tückische Strategien«1 fassbar sind. In den untersuchten Artikeln
1
Kerner, Ina: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt am Main: Campus 2009, hier S. 360ff. Kerners (erweiterte) Intersektionalitätstheorie widmet sich der komplexen Verschränkung von progressiv gelesenen wie regressiven Elementen und Äußerungen. Es häufen sich etwa Hinweise auf die Existenz eines rassistischen bzw. rassistisch vereinnahmten Feminismus sowie nicht eines per se antisexistischen Antirassismus (vgl. ebd.). Für die Erforschung des Wechselverhältnisses von Feminismus und Antisemitismus gab schon 1996 Birgit Rommelspacher einen Anstoß. Vgl. Rommelspacher, Birgit: »Antisemitismus und Frauenbewegung in Deutschland«. In: Brigitte Fuchs/Gabriele Habinger (Hg.): Rassismen und
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tragen diese Stilisierungen dazu bei, offen oder subtil antisemitische Songtexte und Statements dieser beiden am häufigsten porträtierten Künstler*innen El Général und Emel Mathlouthi in das Erzählmuster von Revolutionsmusik als Erfolgsgeschichte einzubetten. Deshalb stellt der Artikel auch die Frage: Wie werden Bezüge auf Geschlecht im untersuchten Korpus intertextuell mit antisemitischen Äußerungen verknüpft? Auf die komplexen Wechselbezüge letzterer mit geschlechtsspezifischen Darstellungen und ihre (Nicht-)Erzählung wird nach Vorbemerkungen zu Material und Methode, einer kontextanalytischen Kurzvorstellung der beiden Künstler*innen sowie grundlegenden Analysen der Geschlechterbezüge in den untersuchten Artikeln eingegangen. Im Anschluss werden die spezifischen Erzählmodi der Texte mit narratologischen Ansätzen aufgeschlüsselt, um letztlich deutschsprachige journalistische und wissenschaftliche Deutungen der beiden in der Stichprobe als Hauptrepräsentant*innen hervorgetretenen bzw. popularisierten zeitgenössischen Protestmusiker*innen der Tunesischen Revolution und das (erzählerische) Gelingen der Entfaltung dieser Deutung zu reflektieren.
1. UNTERSUCHTE ARTIKEL, AUSWAHL DER MEDIEN UND METHODE Exemplarisch sind 192 Artikel untersucht worden, die die Phrasen und Termini »Stimme der Revolution«, Tunesien und Musik bzw. Rap enthalten. Die anteilige spezifische Stichprobe zum Musikgenre Rap (zehn Artikel) erfolgte theorie-
Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, Wien: Promedia 1996, S. 112-124. 2
Die zunächst 40 Ergebnisse wurden auf Überschneidungen geprüft und um Kontexte außerhalb der Tunesischen Protestmusik reduziert, etwa: Der Artikel »Mein Vater war eifersüchtig, als in Tunesien die Revolution begann«, erschienen am 16.06.2011 auf ZEIT Online, wurde für die Auswertung nicht berücksichtigt, da es sich nur um ein Interview mit dem Berliner Adel Tawil handelt, in dem nicht dieser, sondern der ägyptische Musiker Mohamed Mounir als »Stimme der Revolution« verhandelt wird. Nicht ausgewertet wurden ferner Ergebnisse wie Selbstpräsentationen von Botschaften und kurze Albumrezensionen. Das grundsätzliche Problem personalisierter Suchergebnisse wurde berücksichtigt, indem gespeicherte Suchläufe vor Abruf der Artikel gelöscht wurden. Bestehen bleibt die methodische Schwierigkeit, häufig nach Algorithmen strukturierte und individualisierte Ergebnisse in einer Erhebung abbilden zu können.
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gestützt (u.a. Demerdash 2012, Boubia 2015, Kimminich 2016)3; eine weitere Spezifizierung war zum Zeitpunkt der Analyse nicht ableitbar, weshalb zudem neun Genre-unspezifische Artikel zu Musik ausgewertet wurden. Als Quellenkorpus zugrunde liegen insgesamt 18 journalistische sowie ein wissenschaftlicher Beitrag, die zum Zeitpunkt der Textauswertung (Dezember 2017) über die deutschsprachige Website der Suchmaschine Google per Schlagwort abrufbar waren. Die Reuters Institute Digital News Survey dokumentierte schon 2013 die Relevanz von Google als Informations-Gatekeeper, um »überhaupt zu Onlinenachrichten zu gelangen«4. Weiterhin zeigt auch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage des Hans-Bredow-Instituts zu medienübergreifenden Informationsrepertoires, dass »Google selbst für die Meinungsbildung über politische Themen mittlerweile eine zentrale Rolle spielt«5. Die Suchmaschine wurde in dieser Umfrage direkt nach der Tagesschau als zweithäufigstes relevantes Angebot politischer Meinungsbildung genannt.6 Um online hegemonial verbreitete Erzählungen zu untersuchen, ist es mit Dieter Rucht, Mundo Yang und Ann Zimmermann weiterhin zielführend, den überwiegend genutzten Kommunikationsraum als Grundlage anzusetzen.7 Folgende Online-Medien wurden in der
3
Demerdash, Nancy: »Consuming Revolution. Ethics, Art, and Ambivalence in the Arab Spring«. In: New Middle Eastern Studies 2 (2012); Boubia, Amina: »Krach in der Kulisse«. Aktuelle Musikszene und gesellschaftspolitischer Wandel in Marokko und Tunesien im Kontext des Arabischen Frühlings«. In: Dietmar Hüser/Ulrich Pfeil (Hg.): Populärkultur und deutsch-französische Mittler. Akteure, Medien, Ausdrucksformen, Bielefeld: transcript (2014), S. 221-232; Kimminich, Eva: »Kollektive (R)Evolutionen – Rap als Medium der gesellschaftspolitischen Bewusstseinsbildung und der Resistenz im frankophonen Afrika«. In: Knut Holtsträter/Michael Fischer (Hg.): Musik und Protest (Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Zentrums für Populäre Kultur und Musik), Münster; New York 2016, S. 157–175.
4
Stark, Birgit: »Don’t be evil«: Die Macht von Google und die Ohnmacht der Nutzer und Regulierer. In: Dies./Dieter Dörr/Stefan Aufenanger (Hg.): Die Googleisierung der Informationssuche. Suchmaschinen zwischen Nutzung und Regulierung. Berlin; Boston: De Gruyter 2014, S. 1-20, hier S. 4.
5 6
Ebd., S. 5. Eine kritische Betrachtung des Stellenwerts von Google hat u.a. Astrid Mager 2014 mit ihrem Aufsatz »Ideologie des Algorithmus. Wie der neue Geist des Kapitalismus Suchmaschinen formt« vorgelegt.
7
In diesem Sinne wurden für die Analyse die jeweils ersten beiden Ergebnis-Seiten berücksichtigt, vgl. Rucht, Dieter/Yang, Mundo/Zimmermann, Ann: Politische Diskurse im Internet und in Zeitungen. Das Beispiel Genfood, Wiesbaden: VS Verlag für So-
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Stichprobe vom Dezember 2017 bei der Analyse berücksichtigt: taz.de, laut.de, Musikexpress, Zeit online, Wiener Zeitung Online (2), Kulturaustausch – Zeitschrift für internationale Perspektiven, The Gap, Cafébabel, qantara.de (2), Tagesspiegel Online, Schattenblick, Deutschlandfunk Kultur (2), br.de, Jetzt, Tages-Anzeiger, Neon. Zehn werden hier beispielhaft zitiert. Die Kurzporträts der am häufigsten thematisierten Künstler*innen orientieren sich zunächst methodologisch an Philipp Mayrings explikativem bzw. kontextanalytischem Ansatz, der über den Text hinausgehende Informationen über Autor*in, Adressat*innen, Interpret*innen, das kulturelle Umfeld etc. bereitstellt.8 Traditionelle wie neue Formen der Berichterstattung sind wie einleitend bereits angedeutet häufig narrativ strukturiert.9 Michael Müller und Petra Grimm stellen die Zunahme medialer Narrationen10 als Folge der Digitalisierung fest, u.a. anhand des gesteigerten Anteils von Reportagen in online publizierten Tages- und Wochenmagazinen (ebd.). Vertreter*innen der Feministischen Narratologie plädieren hierbei seit Längerem für eine kontextorientierte Erzähltextanalyse, die den Zielen der kontextualisierenden Inhaltsanalyse ähnelt. Vera und
zialwissenschaften 2008, S. 182. Hingegen wird die Annahme eines »durchschnittlichen Internet-Nutzer[s]« (ebd., S. 181) im maskulinen Kollektivsingular, wie die Autor*innen »ihn« annehmen, nicht geteilt. 8
Vgl. Mayring, Philipp: »Qualitative Inhaltsanalyse«. In: Andreas Boehm, Andreas Mengel, Thomas Muhr (Hg.): Texte verstehen. Konzepte, Methoden, Werkzeuge, Konstanz: Univ.-Verl. (Schriften zur Informationswissenschaft 14) 1994, S. 159-175, hier S. 167f.
9
Vgl. Müller, Michael/Grimm, Petra: Narrative Medienforschung. Einführung in Methodik und Anwendung, Konstanz; München: UVK Verlagsgesellschaft 2016, S. 8.
10 Werner Früh unterscheidet zwischen journalistischer Narration und Storytelling implizit als »realitätskonform« und »realitätsverzerrend«, vgl. Früh, Werner: Narration und Storytelling. In: Ders., Felix Frey: Narration und Storytelling. Theorie und empirische Befunde. Köln: Halem 2014, S. 63-119, hier S. 79. Üblicher ist in der Erzählforschung die Unterteilung in Story und Diskurs, vgl. Viehöver, Willy: »Menschen lesbarer machen«. Narration, Diskurs, Referenz«. In: Markus Arnold/Gert Dressel, ders. (Hg.): Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 65-134, hier S. 68f. Mit Vera und Ansgar Nünning lohnt es, von Wirklichkeitserfahrung zu sprechen und festzustellen, wie deren Konstruktion spezifisch gelingt, vgl. u.a. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart (u.a.): Metzler 2004, hier S. 10, 165, 171.
Zeitgenössische Protestmusik in Tunesien | 249
Ansgar Nünning zufolge sollen erstens Erzählformen11 anhand von Analysekategorien einer erweiterten Narratologie ermittelt werden, wonach (anschließend) Darstellungsverfahren in Beziehung gesetzt werden können zu den »Diskursen, Machtverhältnissen und kulturgeschichtlichen Bedingungen, unter denen AutorInnen in der jeweiligen Epoche lebten und publizierten«12. Insgesamt stelle »eine Erzähltextanalyse aus der Sicht der Gender Studies die Frage ins Zentrum, wie soziale, ökonomische und politische Probleme einer Epoche in Form von Themenselektionen und spezifischen Erzählverfahren […] verarbeitet wurden«13.
Als ersten Schritt fokussiere ich in der vorliegenden Stichprobe das Emplotment, spezifisch die Hierarchisierung erzählter Ereignisse als Analysekategorie. Gegenwärtig vor allem von Müller und Grimm aufgegriffen,14 ist sie in der Feministischen Narratologie aktuell nicht nennenswert einbezogen und insofern eine erweiternde Kategorie. Den spezifischen Erzählverfahren widmet sich der Beitrag im Anschluss an die Vorstellung der beiden am häufigsten in deutschsprachigen Medien verhandelten tunesischen Künstler*innen El Général und Emel Mathlouthi einschließlich einer Kontextualisierung von Songtexten und Statements.
11 Vera und Ansgar Nünning setzen Erzählformen mit »textuelle[n] Strategien« gleich, vgl. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: »Making Gendered Selves: Analysekategorien und Forschungsperspektiven einer gender-orientierten Erzähltheorie und Erzähltextanalyse«. In: Sigrid Nieberle, Elisabeth Strowick (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006, S. 23-45, hier S. 33. Auch Lünenborg spricht im Kontext von Dokumentarfilmen von narrativen Strategien und unterteilt diese wiederum in dramaturgische, Erzähl- und Montagestrategien, vgl. Lünenborg, Margreth: Journalismus als kultureller Prozess. Zur Bedeutung von Journalismus in der Mediengesellschaft; ein Entwurf. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, hier S. 149). Die hier angewendete Methodik folgt zwar der »Allianz der beiden Ansätze« (V. Nünning/A. Nünning: »Making Gendered Selves«, S. 33), fokussiert aber die Erzählformen-Ermittlung als Grundlage für die (daran anknüpfende) Inbezugsetzung von Darstellungsverfahren zu Diskursen. Daher stütze ich mich auf den Begriff des Erzählverfahrens, speziell des Modus, und greife den Terminus der Strategie nicht auf. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 31. 14 Vgl. M. Müller/P. Grimm: Narrative Medienforschung, S. 77f.
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2. EMEL MATHLOUTHI UND EL GÉNÉRAL ALS STIMMEN DER TUNESISCHEN REVOLUTIO: (KON-)TEXTANALYSEN Die neun untersuchten Artikel, die allgemein zu (post-)revolutionärer tunesischer Musik verschlagwortet sind, stammen vom Februar 2012 bis Juni 2017. Sechs der Artikel bzw. Interviews verhandelten als Stimme der Revolution die Sängerin Emel Mathlouthi. Als weitere Künstler*innen erwähnt werden vier Rapper (El Général, Weld El 15, Phenix, Klay BB.J) sowie die Alternativmusiker*innen Badiaa Bouhrizi und Bendir Man.15 Ein Artikel porträtiert außerdem den Radiomacher Ali Rebah. In der Stichprobe der Rap-spezifischen Artikel vom Februar 2011 bis Dezember 2016 wird am häufigsten über den Rapper El Général berichtet: Acht der zehn Artikel handeln von ihm, darunter zwei Interviews. Ein einziger dieser Artikel porträtiert eine weibliche Künstlerin, die Rapperin Medusa.16 El Général erlangte Bekanntheit durch den Song »Rayes Lebled«, veröffentlicht am 7. November 2010.17 Der Song zirkulierte in tunesischen Medien, wurde kurz darauf verboten, die Berichterstattung im Land zum Teil zensiert. Anfang Januar 2011 folgte eine Verhaftung, drei Tage später wurde der Rapper nach Demonstrationen wieder freigelassen. In wissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen wird auf das genannte Lied als revolutionäre Hymne immer wieder rekurriert, während sonstige Stücke des Künstlers zumeist unbehandelt bleiben, etwa der Song »( نحو فلسطينDirection Palestine«) vom September 2011 mit dem Rapper Guito’n. In diesem lassen beide Künstler verlauten: »Heute müssen wir Jerusalem einnehmen. Das ist unsere Chance! Unsere Ehre kommt mit Palästina zurück, ansonsten Bricht durch die Panzer, welche sie lieben, das Armageddon los […]
15 Letzterer performte bereits 2010 den Song »Hbiba Ciao«, eine Adaption des italienischen Partisanenlieds »Bella Ciao«, in dem er Tunesien besingt. Im deutschsprachigen Journalismus und Forschungsbeiträgen fanden Song und Interpret bisher kaum Erwähnung. 16 Außerdem genannt werden die Künstler Noi Alusch, Balti, L’Imbattable, Psyco-M, Lak3y und Dya Hammadi. Am Rande erwähnt werden zudem die HipHopper Med Big M, Black Snake (Gruppe) und Malek Kemiri. 17 Zur symbolischen Aufladung dieses Datums: Am 7. November 1987 erlangte Ben Ali in Tunesien die Macht, der Tag ist seitdem zentraler Feiertag gewesen, ähnlich einem Nationalfeiertag.
Zeitgenössische Protestmusik in Tunesien | 251
Unser Schicksal ist es, wie Männer zu leben18 […] Nach der arabischen Revolution ist der zionistische Geist gelähmt«19.
In den untersuchten Artikeln wiederholt sich als Ausgangspunkt für eine affirmative Lesart von El Général eine Referenz auf das Time Magazin, das den Rapper 2011 in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt aufgenommen hatte. Inwiefern die Kreation einer panarabischen Identität bei El Général jedoch mehrfach mit Juden-, Israel- und Zionismushass verknüpft wird, hat Felix Wiedemann herausgestellt.20 »Ihm zufolge seien die Araber ›zu Knechten und die Juden zu Herren‹ […] geworden. […] Nach der tunesischen Revolution erhofft sich El Général ein Erstarken der Einheit arabischer Länder […], um mit vereinten Kräften und koordiniert Israel anzugreifen.« 21
Emel Mathlouthi kann hingegen als Künstlerin beschrieben werden, die international vorwiegend als »hochkulturell« etabliert ist. Ihr Song »Kelmti Horra« wird ebenfalls als Revolutionshymne rezipiert, er wurde von der Sängerin am 14. November 2011 (vor der Flucht Ben Alis) live auf der symbolträchtigen Avenue Bourguiba vorgetragen und begleitete den Beginn einer neuen Ära musikalisch. Auf einem gleichnamigen Studioalbum erschien das Lied (erst) im Januar 2012.
18 Eine solch dramatische Sicht auf »männliche Pflichten« findet sich auch in einem Protestsong des Rappers Lak3y, den dieser während der Revolution im Februar 2011 veröffentlicht. Im Lied »Tounes Horra« (»Tunesien ist frei«) lautet der Refrain: »Wir sind als Männer geboren, wir leben als Männer und werden als Männer sterben / Der Tunesier ist frei / Der Kopf des Tunesiers hoch erhoben / Die Flagge der Nation ist kostbar«. Die deutschsprachige Übersetzung erfolgt anhand des transkribierten Textes auf
http://revolutionaryarabraptheindex.blogspot.com/2011/12/lak3y-tounes-7orra-
tunisia-is-free.html . 19 Übersetzung nach Wiedemann, Felix: Der Rapper El Général im Prisma der Identitätsproblematik. Halle, Saale: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt 2017, hier S. 110f. 20 Wiedemanns Studie basiert auf einer Qualifikationsarbeit, betreut von der Arabistin Lale Behzadi. 21 Ebd., S. 42. Die hier zitierte Analyse bezieht sich auf den genannten Song sowie das Lied »Allah akbar«. Die Fantasien reichen im zitierten Song mit Guito’n so weit, dass am Ende ein konkretes Kriegsmanöver vorgeschlagen wird: »Und Marokko versperrt die Meerenge [von Gibraltar] und isoliert Israel / Bombardement aus dem Süden und Osten, aus Saudi-Arabien und Ägypten« (Übersetzung nach ebd.: 111).
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Mathlouthi performte es sogar bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 2015 und war somit Protagonistin des »Nobel Peace Prize Concert«. Sie wird häufig der sogenannten »Weltmusik« zugeordnet und lebt in den USA. Mitte August 2017 sagte die Sängerin auf ihrer Facebook-Seite einen Auftritt beim Berliner Festival Pop-Kultur ab und begründete dies so: »I realized the festival is sponsored by the Israeli embassy. Now that I know, I’ll have to pull out. […] As things get tougher inside and outside Palestine, what each one of us can always do is show solidarity and empathy. « 22
Am Tag vor der Veranstaltung äußerte Mathlouthi sich erneut. Nach einem Lob der »great art, great culture and amazing diversity« des Festivals schrieb sie mit Nachdruck ebendort: »Unfortunately, the involvement of an Israeli authority is not an acceptable option, especially after the announce that it won’t only support Israeli artists but all artists travels, according to the festival statement. I did not pull out because I am not open minded or that I have anything against Israeli artists […]« 23
Trotzdem sei sie nicht zu dem »Kompromiss« 24 bereit, die Bühne mit israelischen Künstler*innen zu teilen, die neben weiteren Festival-Akteur*innen Unterstützung vom israelischen Staat erhielten; selbstredend fahre sie aber fort mit ihrer »good art that is positive and open to everyone«. Mathlouthis Erläuterung bezieht sich auf humanistische Werte, Gerechtigkeit und enthält die Analogie, dass sie ja auch dem »involvement with any tunisian authority when my own country was under a totalitarian government« widerstanden habe. Zuvor hatte sich die Sängerin schon 2017 öffentlich als Unterstützerin der Kampagne BDS positioniert, deren deutschsprachige Website neben einem akademischen 25, kulturellen und »Verbraucher-Boykott« auch »Desinvestitionen« und Sanktionen 22 Siehe
https://www.facebook.com/E.Mathlouthi/posts/10159247009645626?
vom
15.8.2017. 23 Siehe
https://de-de.facebook.com/E.Mathlouthi/posts/10159281414360626?
vom
22.8.2017. 24 Ebd. 25 Ein einschlägiges Zitat der Website verdeutlicht die politischen Ziele von BDS: »Seit April 2004 ruft die Palästinensische Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels (PACBI) die Intellektuellen und AkademikerInnen in der ganzen Welt auf, »alle israelischen akademischen und kulturellen Institutionen umfassend und konsequent zu boykottieren« (http://bds-kampagne.de/boykott/akademischer-boykott/).
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für Israel fordert. BDS rief 2017 und 2018 auch zum Boykott des international ausgerichteten Pop-Kultur Festivals auf. Mathlouthis Absage war insgesamt eine von vier Aufkündigungen arabischer Künstler*innen, die das Festival wegen eines Reisekostenzuschusses26 in Höhe von 500 Euro der Kulturabteilung der Israelischen Botschaft mieden. Margarete und Siegfried Jäger verstehen unter Antisemitismus die »Ablehnung und Ausgrenzung gegenüber Juden«27. Hierunter subsumieren sie Antizionismus als eine Erscheinungsform, wenn dieser mit dem Bestreiten des Existenzrechts Israels, der generellen Ablehnung zionistischer Politik oder dem Infragestellen des Staats Israel als jüdischer Staat einhergeht (vgl. ebd., S. 29), wozu die explizite Aufforderung zur Bekämpfung Israels von El Général gezählt werden kann. Mathlouthis Festival-Absage geriert sich hingegen als Staatskritik, ohne tatsächlich eine solche inhaltlich-politisch zu formulieren. Zunächst einmal nimmt sie in ihrer Begründung zweifach den »Umweg« 28 über die Unterstützung von »israeli artists«, was bereits über eine Kritik am Staat Israel hinausgeht. Sie fokussiert in ihrer Missbilligung dann die finanzielle Beteiligung an einer Kulturveranstaltung durch nur einen Staat, den israelischen. Eine solche Argumentation vermittelt Elemente eines modernen kulturalistischen Antisemitismus,29 ruft an Verschwörungstheorien gekoppelte Vorstellungen von »Finanzmacht« auf und stereotypisiert implizit Jüdinnen und Juden als geschäftstüchtig und kapitalistisch.30 Auch Mathlouthis Engagement in der Kampagne BDS, die u.a. den akademischen Boykott aller israelischen Forschungseinrichtungen fordert (siehe oben), überschreitet Grenzen von Protest und Kritik hin zu pauschalisierenden politischen Isolierungsbestrebungen.31 Zahlreiche Stimmen der Antisemitismus-
26 Das Pop-Kultur Festival selbst widersprach BDS-Formulierungen einer »CoOrganisierung« und »Co-Finanzierung« durch den israelischen Staat, siehe »Statement: BDS-Kampagne gegen Pop-Kultur« (17.8.2017), www.pop-kultur.berlin/ blog/statement-bds-boykott-kampagne. 27 Jäger, Siegfried/Jäger, Margarete: Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus, Münster u.a.: Lit 2003, hier S. 26. 28 Vgl. Umwegkommunikation in der Antisemitismusforschung, u.a. bei Yves Pallade 2008, Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz 2012. 29 Vgl. S. Jäger/M. Jäger: Medienbild Israel, S. 26f. 30 Daneben baut sich ihr Statement auch ethnopluralistisch auf (»it won’t only support Israeli artists but all artists travel«). 31 Vorschläge zur Vermeidung antisemitischer Effekte der Jägers sind u.a. auf negative Charakterisierungen ganzer Personengruppen oder Staaten sowie dramatisierende Sprachbilder gänzlich zu verzichten (ebd., S. 339).
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forschung, darunter zuletzt Marc Grimm und Bodo Kahlmann (2018) oder Mitchell Bard (2016), schätzen die Kampagne BDS als antisemitisch ein. Wie Mathlouthi dennoch als »Friedenskünstlerin« rezipiert wird und sich diese Wahrnehmung auch aus Berufungen auf eine tradierte geschlechtsspezifische agency ergibt, zeigen die Analysen im Folgenden.
3. VON DER »WÜTENDEN SCHÖNHEIT« UND WÄCHTERINNEN DER »ARABELLION« – WEIBLICHE (ORIENTALISIERTE) REVOLUTIONSFIGUREN Im Februar 2012 porträtierte die Autorin Selina Nowak im Artikel »Kann Pop die Welt verändern?« für das Kultur- und Musikmagazin The Gap zwei Künstler*innen als Geschlechter-Kontrahent*innen: El Général und die Alternativmusikerin Badiaa Bouhrizi. Er wäre der »Bad Boy«, sie das »Good Girl«.32 Nur der männliche Künstler, dessen Vorstellung im Artikel doppelt so viel Platz einnimmt wie die der weiblichen Künstlerin, erhält die Zuschreibung »Stimme der Revolution«. Den Charakterisierungen El Générals als martialisch, mutig und politisch kontrovers stehen Beschreibungen von Bouhrizi gegenüber wie: »Die Texte drehen sich oft um Liebe und andere menschliche Gefühle« 33. Über ihre Performance heißt es weiter: »Wenn Bouhrizi singt, schließt sie die Augen und legt ihre ganze Leidenschaft in diesen Moment«. Zwar wird auch eine Flucht der Sängerin nach London thematisiert, ihr wird jedoch keine kämpferische Haltung assoziiert, im Gegenteil: Künstler*innen wie Bouhrizi seien »wie Friedensaktivisten auf den Anti-Vietnam Demos der 70er Jahre«34. Eine andere Autorin stellte Emel Mathlouthi der deutschsprachigen Leser*innenschaft im gleichen Monat in einem Interview auf Cafébabel als »wütende Schönheit«35 vor (und ihre Musik als »Mischung aus Melancholie und Aktivismus«36). Solche klischeehaften Geschlechterbezüge finden sich in fast allen
32 Nowak, Selina: »Kann Pop die Welt verändern«? in: The Gap, online unter https://thegap.at/kann-pop-die-welt-veraendern/ vom 10.02.2012. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Daycard, Laurène: »Emel Mathlouthi. Stimme der Jasmin-Revolution«, in: Cafébabel, online
unter
http://www.cafebabel.de/kultur/artikel/emel-mathlouthi-stimme-der-
jasmin-revolution.html vom 16.2.2012. 36 Ebd. Dieser Artikel enthielt auch die Anrede »Gesicht der Revolution«, die sich in der Stichprobe in Bezug auf männliche Künstler nicht feststellen ließ.
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Artikeln, nur wenige der 19 untersuchten Texte kommen ohne sie aus.37 Alexander Göbel, Autor von Deutschlandfunk Kultur, vermengt im umfangreichen Artikel »Wächterinnen der Revolution« ein journalistisches Resümee zur »Arabellion« mit O-Tönen tunesischer Akteurinnen. Der gesamte Artikel widmet sich dem spezifischen Wirken von Frauen in der Bewahrung des Revolutions»Erbes«. Der Verfasser konstatiert bereits im Vortext: »Vor allem Frauen setzen bewusst auf gewaltfreie Proteste gegen die schleichende Islamisierung« 38 – dies festigt ein Bild von Frauen als Befreierinnen der Gesellschaft, das schon die beiden ehemaligen tunesischen autokratischen Staatspräsidenten Bourguiba und Ben Ali implementierten. Die als »Wächterinnen der Revolution«39 deklarierten Frauen ergänzen im Artikel die »Märtyrer der Revolution«40. Göbels vorgenommene Unterteilung in aktive Akteure und Zeuginnen untergräbt die eigens eigenholten Äußerungen einer Aktivistin zu geschlechterspezifischer Erinnerungskultur, derzufolge staatliche Repressionen gegen Frauen weitestgehend undokumentiert und auch nicht im kulturellen Gedächtnis verankert seien. 41 Zudem mutet der Begriff der Wächterin «angesichts der zivilgesellschaftlichen, vielfach in digitalen Medien artikulierten tunesischen Proteste in den Jahren 2010/11 und danach nicht nur anachronistisch, sondern auch orientalisierend an.42 Das häufig auf Emel Mathlouthi bezogene und auch von ihr selbst genutzte Narrativ der Gewaltfreiheit begünstigt die Lesart ihrer Songs und Aussagen als progressiv und ist nicht unabhängig von der Kategorie Geschlecht zu lesen. Ein
37 Dies sind vor allem ein Interview von Martina Sabra mit Emel Mathlouthi sowie ein Porträt von Julia Neumann über die Rapperin Medusa, beide erschienen auf qantara.de. 38 Göbel, Alexander: »Wächterinnen der Revolution. Tunesiens Frauen und das Erbe der Arabellion«, in: Deutschlandfunk Kultur, online unter http://www.deutschlandfunk kultur.de/tunesien-waechterinnen-der-revolution.979.de.html?dram:article*id=286946 vom 26.05.2014. Zu Wort kommen bei Göbel Akteur*innen eines breiten politischen Spektrums, darunter die Ennahda-Abgeordnete Souad Abderrahim. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Eine solche Aufarbeitung leistete 2015 (nach Erscheinen des Artikels) der Film »À peine j’ouvre les yeux« von Leyla Bouzid, sie fand sich jedoch auch schon 2010 in El Générals bekanntestem Song (siehe unten). 42 Am Ende seiner Beobachtungen stellt Göbel auch einen Bezug zu musikalischen Protagonistinnen her, indem er seine Eindrücke eines alternativen Festivals »auf dem Hügel von Karthago« schildert, bei dem »zwischen antiken Säulen« Baadia Bouhrizi performe (ebd.).
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Beispiel: Die wissenschaftlich ausgebildete Musikjournalistin Susanne Kübler interviewte Mathlouthi 2017 im Zeitraum der Absage an das Pop-Kultur Festival. Für den Tages-Anzeiger entstand der Artikel »Es ist nicht leicht, es war nie leicht«, der Mitte September 2017 wenige Wochen nach Mathlouthis öffentlichen Statements erschien. Den Einstieg in das Interview bildet das Aussehen der Sängerin beim Posieren, zuletzt hebt die Journalistin deren Mutterschaft hervor, indem sie anspricht, dass Mathlouthi ja einmal ihre kleine Tochter mit auf die Bühne genommen habe. Die Frage, ob das weibliche Kind es einmal leichter haben werde, beendet das Gespräch.43 Obschon Mathlouthis Absage beim Pop-Kultur Festival großes Aufsehen erregte und von Online-Medien tagesaktuell oder kurze Zeit später kritisch begleitet wurde (u.a. Berliner Morgenpost, Süddeutsche Online, taz, Deutschlandfunk Kultur, Spiegel Online, Der Tagesspiegel), formuliert Kübler lieber den Hinweis, dass ein Song über Redefreiheit in den USA »doch durchaus auch aktuell«44 wäre. Der Israel-Boykott der Sängerin wird gänzlich ausgespart, der Fokus liegt auf einer nur geschlechtergerechten Welt.
4. DER »SCHÜCHTERNE PHARMAZIESTUDENT«, DER BEN ALI UND JUDEN ANGST EINJAGT: EL GÉNÉRAL Im Rap-spezifischen Teil der Stichprobe schreibt Reiner Wandler in der taz im Februar 2011 unter der Überschrift »Der Rapper, der Ben Ali Angst einjagte«45 begeistert über El Général. Wandler, in erster Linie Auslandskorrespondent für Spanien, nennt den Rapper im Vortext einen »schüchterne[n] Pharmaziestudent[en]«46, kehrt im ersten Satz des Artikels aber alsbald zum pathetischen Ton der Überschrift zurück, wenn er formuliert: »Das ist also der junge Mann, der Tunesiens Mächtigen Angst gemacht hat«47. Eingeholte O-Töne und Songzeilen aus »Rayes
43 Vgl. Kübler, Susanne: »Es ist nicht leicht, es war nie leicht«, in: Tages-Anzeiger, online
unter
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/pop-und-jazz/Es-ist-nicht-leicht-es-
war-nie-leicht/story/12818826 vom 16.09.2017. 44 Ebd. 45 Die Formulierung »Angst einjagte« hebt sich von den Artikeln ab, in denen Künstlerinnen porträtiert wurden. In diesen tauchte der Begriff Angst nur in einer Interviewfrage auf (»Hattest du keine Angst«, vgl. L. Daycard: »Emel Mathlouthi«). 46 Wandler, Reiner: »Der Rapper, der Ben Ali Angst einjagte«, in: taz, online unter http://www.taz.de/!5126544/ vom 17.2.2011. 47 Ebd.
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Lebled« durchziehen den Text, der am Ende auf die Anzahl der Facebook-Fans des Rappers und auf die Bedeutung sozialer Medien angesichts staatlicher Zensur verweist. Jonathan Fischer vom Musikexpress veröffentlicht wenig später im April 2011 den Beitrag »Rap und Revolte: Reimen für die Revolution«. Gleich zu Beginn wird auch hier die ungeheure Popularität des Rappers betont – »Millionen Menschen kennen die Lieder, die zu Hymnen der Revolten wurden«48 – bevor der Autor auf die mediale Inszenierung des Rappers eingeht. Dessen maskulinisierte »Kriegshelden-Pose«49 mit tunesischer Flagge und Waffe lasse »El Général wie das nordafrikanische Pendant eines Gangster-Rappers«50 wirken, was der Journalist durchaus mit Distanz schildert. Nach den kritisch anklingenden Beobachtungen gibt Fischer dann noch den Hinweis: »Dass der Musiker auch Texte dichtet, in denen er sich gegen Juden wendet, wurde dagegen kaum beachtet«51. Fischer selbst gibt keinen konkreten Song an. Er bewertet die angedeuteten Inhalte von El Général in einem zweiten Schritt zwar als »ernsthafte Herausforderung« spezifisch für die »autokratischen Machthaber«52, geht jedoch schnell zur Beschreibung der »einfachen Worte« über, die der Rapper finde und die dem »köchelnden Volkszorn« »unverblümt« Ausdruck über Armut, Polizeigewalt und Willkür des Regimes verleihe. Der Journalist nennt das politische Potenzial von Popstars gefährlich, kontextualisiert es aber als funktional-subversives Werkzeug gegen Repression. Am Ende liefert er schließlich noch eine musikästhetische Einordnung von Rapmusik in Tunesien: »Damit hatte niemand gerechnet: Dass die revolutionäre Hip-Hop-Energie [...] ausgerechnet in der nordafrikanischen Diaspora, dort wo offiziell der süßliche Schnulzen-Pop regiert, ganz handfeste politische Umwälzungen begleitet.«53
In der Essenz sticht hier »unverblümt« den Ausdruck »süßlich« aus, männlichkeitsbetonter Rap überwältigt in diesem Vokabular den weichen Pop. Die Typisierung des harten Rappers, der eben überall durchgreife, schafft eine Figur, auf die in vielschichten Bezügen rekurriert werden kann. Zwischen vagen Andeu-
48 Fischer, Jonathan: »Rap und Revolte: Reimen für die Revolution«, in: Musikexpress, online
unter
https://www.musikexpress.de/rap-und-revolte-reimen-fuer-die-revolution-
65987/ vom 18.04.2011. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd.
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tungen antisemitischer Songtexte und »revolutionärer Hip-Hop-Energie« entsteht so kein Widerspruch, sondern Synthese. Auch der ZEIT-Online-Journalist Fritz Schaap fand im August 2011 lobende Worte für El Général. Unter der Headline »Der Junge, der den Präsidenten stürzte« rekonstruiert der Autor, wie er den Rapper einige Tage begleitet habe. Den »Rebell[en]«54 beschreibt Schaap ähnlich wie Wandler als »fast schüchtern«55. El Générals äußere Erscheinung (»(d)en Bart fein geschnitten, blasslila Polohemd«) kommentiert er mit der Bemerkung: »er sieht aus wie die meisten MittelklasseKids hier«56. Eine Autofahrt zu einem Auftritt, bei dem der Rapper von einem DJ und zwei weiteren Personen begleitet wird, beschreibt der Journalist idyllisch: »Vier Freunde, die ihren Traum leben. Musik weht aus dem Fenster, die Köpfe nicken im Takt des Hip-Hops. Am Straßenrand stehen junge Männer mit Stöcken […] Die Jungs fahren lachend an ihnen vorbei durch die Abendsonne, deren Honiglicht über den Olivenplantagen schwebt.«57
Die anschließende Schilderung der Konzertatmosphäre und -inhalte unterbricht die Erzählung der vier glücklichen Freunde jäh, aber nur kurz. Jetzt heißt es über El Général plötzlich: »Der Mann führt einen Krieg – gegen alles, was ihm unrecht erscheint in Tunesien, in der Welt. Israel, die Juden, dort muss der Dschihad geführt werden, ist der Tenor eines Songs«58. Leser*innen bleiben im Unklaren über konkrete Liedzeilen; erneut beiläufig werden judenfeindliche Texte angedeutet, doch welcher Song eigentlich gemeint ist, wird nicht mitgeteilt. Die Erwähnung ist für den Autor auch kein Hindernis, seine Erzählung mit einem »Happy End« enden zu lassen. Nachdem in der Konzertschilderung düstere Trommelwirbel und »rohe Energie« schon eine aufregende Stimmung erzeugt haben, heißt es zum Schluss mit (infantilisierenden) Geschlechterbezügen: »Es geht um etwas. Diese Musik hat ihr Land verändert. Mädchen formen Herzen mit den Händen und recken sie Hamada (Klarname des Rappers, d. Verf.) entgegen. Er lächelt, und der unbändige Stolz eines großen Jungen schimmert durch den Panzer der coolen HipHop-Attitüde.«59 54 Schaap, Fritz: »Rapper El Général. Der Junge, der den Präsidenten stürzte«, in: Zeit online, unter http://www.zeit.de/2011/34/Arabische-Jugend-Rapper vom 18.8.2011. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd.
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5. PROTESTMUSIK, GESCHLECHT, ANTISEMITISMUS – MODI DER ERZÄHLUNG Es ist bemerkenswert, wie die kurzen Verweise auf antisemitische Äußerungen von El Général in die Artikel eingebunden sind. Besonders auffallend geschieht dies im letzteren ZEIT-Online-Artikel, in dem die kitschige, geschlechterstereotype Erzählung des Popstars wie ein Ausgleich zum Hinweis auf israelfeindliche Liedtexte fungiert, der die potenzielle Störung der Erzählung wieder glattbügelt. In der gesamten Stichprobe deuten sich drei Modi der Erzählung an: Erstens sprechen die Autor*innen zwar zum Teil die problematisierten Song-Inhalte und sogar deren kritische Rezeption durchaus an, sehen aber von einer vertiefenden Information ab – drei von neun Artikeln, die sich auf El Général beziehen, erwähnen die Existenz israelfeindlicher Texte (vgl. vorige Beispiele) vage. Zweitens lässt sich eine pauschale Einordnung des Rappers als sozialkritisch und emanzipatorisch feststellen. Drittens werden bestimmte Songtexte oder Statements nicht thematisiert, obwohl eine Kenntnis anzunehmen ist, bzw. eine Reaktion/kritisches Nachfragen ausgespart. Ich möchte diese drei Modi als relativierend, affirmativ und ausblendend60 differenzieren und nun in Bezug setzen zur Analysekategorie der Hierarchisierung61 von Ereignissen in Erzählungen. Anschließend untersuche ich den relativierenden Modus als narratologisch komplexesten näher, da in diesem Erzählverfahren die Verquickung mit Geschlecht62 besonders auffiel. Willy Viehöver legt mit Paul Ricœur dar, inwiefern für die » ›Anordnung der Fakten‹ [...] der Akt der Konfiguration (Emplotment) entscheidend ist«63. Emplotment organisiere u.a. Erinnerungskultur64 und »die Konfiguration der Ge-
60 Die drei Modi sind nicht zwangsläufig klar voneinander getrennt, etwa Affirmation und Ausblendung bedingen einander mitunter, wie im Folgenden gezeigt wird. 61 Auch Lünenborg nutzt den Begriff der Hierarchisierung für Erzählverfahren, bezieht ihn jedoch direkt auf Diskurse: Narrativität produziere »eine Hierarchie von Diskursen, die nicht explizit gemacht wird, sondern durch dominante Perspektiven (Erzählweise, Kameraperspektive usw.) naturalisiert wird«. M. Lünenborg: Journalismus als kultureller Prozess, S. 149. 62 Die erzählte Geschlechtsidentität des Rappers El Général ist wie dargelegt alles andere als eindeutig: Er ist mal posender Mackertyp, mal schüchtern; beschrieben wird auch in einem Text der Wandel vom schüchternen zum selbstbewussten Typen, den dieser in einem Musikvideo selbst inszeniert. 63 W. Viehöver: »Menschen lesbarer machen«, S. 70. 64 Vgl. ebd., S. 71. Positive Effekte fokussierend definiert Viehöver, Emplotment verkörpere »auch die kreative Komponente des erzählerischen Diskurses, dass Erzählen
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schichte im Akt des Erzählens [trägt] Sorge dafür, […] dass aus den verstreuten Vorkommnissen in der Welt eine einheitliche Geschichte wird«65. In diesem Sinne kann zum Beispiel die Artikelstruktur bei Schaap als Konfigurationsakt gefasst werden, in dem die ambivalenten Elemente Freundschaftspathos, Geschlechterkitsch, Judenfeindlichkeit und HipHop-Coolness in der Erzählung harmonisch aufgehen. Eine zweite Herangehensweise bietet Seymour Chatmans 1978 in Story and Discourse dargelegter Ansatz der Hierarchie narrativer Ereignisse, der zwischen kernels und satellites66 unterscheidet.67 In den Artikeln, in denen sich ein relativierender Effekt feststellen lässt, wird das Ereignis »antisemitische Songtexte« dem größer erscheinenden erzählten Ereignis »erfolgreiche (musikalische) Revolution«68 bzw. »Popstar-Verehrung durch weibliche Fans« untergeordnet. Chatman charakterisiert die satellites als »minor plot events«69, als zwar verzichtbare Elemente, mit deren Wegfall das Narrativ aber ästhethisch verkümmern würde. Auch in den untersuchten Artikeln würde Erzähl-Dramaturgie eingebüßt werden, kämen die Ereignisse gar nicht vor. Komplementär zur Figur der Antiheldin, die »auch gut« ist, verfügt die Erzählung des »komplexen« Künstlers El Général eben über »ein paar« negative Eigenschaften. Würden diese gelöscht, ergäbe sich ein erzählerischer Verlust auf Seiten der Figuren – und mitunter auch für die Erzählstimme, wie im Folgenden dargelegt wird.
nicht nur die Beschreibung von Ereignissen und die erzählerische Nachahmung von Handlungen umfasst, sondern auch die Neukombination von Elementen ermöglicht […] In diesem Sinne können Erzählungen auch als Geburtsstätten möglicher Welten gefasst werden.« Ebd., 69. 65 Ebd., S. 82. Ricœur nennt dieses Formprinzip auch »konsonante Dissonanz« (vgl. ebd.). 66 Anknüpfbar wäre womöglich auch an die Differenzierung in normale und Metaereignisse nach Jurij M. Lotman (vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1972). Grundsätzlich sind auf die Hierarchie von Erzählelementen verweisende Ansätze wie eingangs erwähnt nur noch wenig präsent in narratologischen Untersuchungen, wenn auch z.B. Chatmans Ansatz vereinzelt in Studien immer wieder kurz aufgegriffen wird (vgl. u.a. Orth, Dominik: Narrative Wirklichkeiten. Eine Typologie pluraler Realitäten in Literatur und Film. Marburg: Schüren 2013, hier S. 27). 67 Vgl. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca, NY (u.a.): Cornell Univ. Press 1980, hier S. 53-56. 68 Das jeweilige Happy End des Textes speist sich u.a. aus der Analogie von politischer und musikalischer Revolution (vgl. u.a. J. Fischer: »Rap und Revolte«, F. Schaap: »Rapper El Général«, S. Nowak: »Kann Pop die Welt verändern«). 69 Ebd.
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Der relativierende Modus kann in der Stichprobe in implizit und explizit unterschieden werden, wobei die explizit relativierende Erzählweise stark affirmative Züge aufweist. Während die beiden bisherigen Beispiele eher implizit relativierend verfasst sind, kommentiert die Autorin Selina Nowak ihren eigenen Hinweis auf El Générals Songs »gegen Israel«70 so: »Umgekehrt stellt sich jedoch die Frage, warum wir bei US-Rapper Kanye Wests ›Jesus Walks‹ mitwippen, aber Bauchweh bekommen, wenn junge Muslime ihre Religion propagieren. El Générals Aussagen mögen vielleicht nicht die reflektiertesten sein, doch drückte er zur richtigen Zeit das aus, was die wütende tunesische Jugend fühlte«.71
Musikalisch transportierte Vorschläge zur Bombardierung Israels werden als »Gefühle« legitimiert und als bloß ähnlich zur Religiosität eines christlichen Rappers stilisiert, ohne dass konkrete Textzeilen Eingang in den Artikel finden. Die Autorin stellt rhetorische Fragen, spielt mit Skepsis und Distanz. An zentraler Stelle kommt sie auf die Rezeption El Générals durch andere Journalist*innen zu sprechen. Hier zeigt sich die Stilisierung von Distinktion mithilfe des »satellite« – Nowak kann sich somit als die einzige ausweisen, die noch über den Rapper berichten würde: »Die internationalen Medien feierten ihn […]. Dann hörten ein paar Journalisten bei seinen Liedern genauer hin und bemerkten: Der Typ rappt zwar gegen Armut und Unterdrückung, aber ebenso gegen Amerika und Israel [...] Plötzlich wurde es in den westlichen Medien still um ihren einstigen Liebling.«72
Anzunehmen ist, dass eine tiefergehende Analyse der antisemitischen Zeilen des Rappers, also eine Vergrößerung dieses Elements 73 zum Ereignis bzw. dessen 70 S. Nowak: »Kann Pop die Welt verändern«. 71 Ebd. 72 Ebd. Der Eindruck einer »plötzlichen Stille« ist bereits mit der hier aufgezeigten Stichprobe widerlegt. Lediglich ist festzustellen, dass El Général als einzelner Künstler in den Überschriften der ersten deutschsprachigen Artikel 2011 noch sichtbarer war (»Der Rapper, der Ben Ali Angst einjagte«, »Der Junge, der den Präsidenten stürzte«) und diese Personifizierung von Revolution allmählich Formulierungen wich, die allgemein Rap in Tunesien addressierten (»Rap und Revolte: Reimen für die Revolution«, »Die Stimme des Rap ist stärker als Waffen«). 73 Zwar spricht Chatman grundsätzlich von satellites als Ereignissen. Mit dem erweiterten Ereignisbegriff von Müller und Grimm ließe sich aber fragen, ob in den dargestellten Beispielen die Aktivierung zu Ereignissen zum Teil überhaupt schon erfolgt ist. Er verstärkt Lotmans Ereignisdefinition von der Überwindung einer unüberschreitbaren
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Transformation vom satellite zum kernel, die Erfolgsgeschichte74 stören würde. Nowak blendet in ihrer Einschätzung dabei ein selbst geführtes Interview vom 14.10.2011 in der Wiener Zeitung Online aus. Dieses schließt mit der Frage, was sich der Rapper von einem Politiker wünschen würde. Die Antwort des Rappers – »Dass er dem Lande dient wie ein Mann!« 75 – zementiert einmal mehr das Geschlechterstereotyp des männlichen Märtyrers. Die Autorin monopolisiert El Général als »popkulturelle Symbolfigur« (»[k]einer steht so für die derzeitige musikalische Protestkultur«76) – und kürzt identifizierte Inhalte gegen »Amerika und Israel« (gleichermaßen affirmativ und ausblendend) euphemistisch zusammen: »von Palästina ist die Rede und der Befreiung aus der Sklaverei«.77 Auch nicht das Bemerken von Verschwörungstheorien und nationalistischer Positionierung mindert ihre Begeisterung. Eine weniger polemische Form der Affirmation findet sich in Form der pauschal als sozialkritisch und progressiv deutenden Lesart. Diese geht mitunter in den ausblendenden Modus über.78 Ein Interview mit El Général, veröffentlicht von Elise Graton Ende 2011 im Online-Magazin Kulturaustausch zeigt dies. Nach einer Frage zu der »Hymne der Ben-Ali-Gegner«79 kommt auch sie auf das Time Magazine als Ankerpunkt der Anerkennung zu sprechen, worauf der Künstler erwidert:
Grenze mit dem Begriff der Regelverletzung. Vgl. M. Müller/P. Grimm: Narrative Medienforschung, S. 71f. 74 Zum Schluss der journalistischen Stichprobe häuft sich eine Ernüchterung der Revolutionseuphorie. Doch auch nicht aus einer Salafismus-Kontextualisierung, in der zunehmend europäische Debatten in die Artikel über die Künstler*innen projiziert werden, ergibt sich eine Problematisierung von Antisemitismus. 75 Nowak, Selina: »Reimen für die Revolution«, in: WienerZeitung.at, online unter http://www.wienerzeitung.at/themen*channel/musik/pop*rock*jazz/?em*cnt=404494 vom 14.10.2011. 76 Ebd. 77 S. Nowak: »Kann Pop die Welt verändern«. 78 Das Interview mit Emel Mathlouthi, in dem ihre Festival-Absage nicht Thema ist, aber Aktualität als Relevanzkriterium formuliert wird, ist ebenfalls beispielhaft für die Kombination des ausblendenden und affirmativen Erzählmodus’ – bei einer solchen Betonung ist davon auszugehen, dass gegenwärtige Debatten zu einer Künstlerin mitverfolgt werden. 79 Graton, Elise: »Die Stimme des Rap ist stärker als Waffen«, in: Kulturaustausch, online
unter
https://www.zeitschriftkulturaustausch.de/index.php?id=5&tx*amkultur
austausch*pi1%5Bview%5D=ARTICLE&tx*amkulturaustausch*pi1%5Bauid %5D=1288&cHash=7545d4dd3e4ebcf5343f28aecc4ccbfa, o.A., 2011.
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»Die Aufmerksamkeit motiviert mich, […] mehr für mein Volk zu tun. Ich möchte mich weiter mit politischen Themen beschäftigen, die aber nicht nur mein Land, sondern die gesamte arabische Welt und Israel betreffen.«80
Hier hakt die Interviewerin nicht nach, was der Rapper konkret gedenke »für sein Volk« zu tun und wie dies Israel betreffen könnte, sondern geht direkt über zur Thematisierung der »enorme[n] Flüchtlingswelle« 81 nach der Tunesischen Revolution. Den Abschluss markiert eine Frage nach dem Künstlernamen des Rappers und die Erklärung: »Schon als kleiner Junge interessierte ich mich für das Militär und trug am liebsten eine Hose mit Tarnfleck-Muster«82. Erneut schließt hier ein Geschlechterbezug (erfolgreich) die Erzählung.
6. WISSENSCHAFTLICHE UND JOURNALISTISCHE ERZÄHLUNGEN TUNESISCHER PROTESTMUSIK IM VERGLEICH: EIN IMPULS Die untersuchte Stichprobe enthält einen wissenschaftlichen83 Artikel, der abschließend Anlass ist, auch auf wissenschaftliches Erzählen84 einzugehen. Auf die Bedeutsamkeit wissenschaftlicher Narrationen haben etwa Lünenborg und Viehöver aufmerksam gemacht.85 Eva Kimminichs Beitrag »Rap in Tunesien:
80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Der Artikel trägt die Publikationsangabe »inamo Heft 74 - Berichte & Analysen Sommer 2013«. Inamo steht für »Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten« und beschreibt seine Gründung selbst wie folgt: »Während des Zweiten Golfkriegs 1991 waren durch das Nachrichtenmonopol des amerikanischen Militärs die Massenmedien fast gleichgeschaltet und lieferten ein oft bis zur Karikatur verzerrtes Bild über den Nahen und Mittleren Osten. Diese Erfahrung veranlasste uns, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Berlin und Erlangen, eine Zeitschrift herauszugeben, die abseits aller Klischees über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der Region berichten sollte«. Siehe www.inamo.de/das-projekt/. 84 Lünenborg erinnert an Roland Barthes’ Feststellung eines »degree zero« als rhetorischen Stil wissenschaftlichen Publizierens (vgl. M. Lünenborg: Journalismus als kultureller Prozess, S. 161). 85 Vgl. ebd., W. Viehöver: »Menschen lesbarer machen«.
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Revolution oder Evolution?« erschien 2013 auf der Website Schattenblick86. Zu Beginn stellt die Autorin kurz Bezüge zwischen Rap, »Rassenkampf und spezifischen Lebensphilosophien und Ideologien«87 her. Sie verweist auf die Vereinnahmung von Rap durch die »Nation of Islam« und den US-amerikanischen Aktivisten Louis Farrakhan88 und kontrastiert diese mit dem von ihr Conscious Rap genannten HipHop in Person der tunesischen Rapper Balti, L’Imbattable, PsycoM, Lak3y und El Général. Aus El Générals Song »Rais Lebled« werden als Erstes die genderspezifischen Zeilen zitiert »Geh auf die Straßen und schau dich um, dort, [...] wo die Polizisten89 verschleierte Frauen schlagen«90, die sich auf einen Teil der Frauen der tunesischen Gesellschaft beziehen. Weiter spricht die Autorin die Veröffentlichung eines zweiten Songs (»Tounes Bladna« – »Tunesien, unser Land«) an. Mit dem Verweis auf die starke mediale Verbreitung des bekanntesten Songs und seine Popularität schließt die Passage über den Rapper. Kimminich folgert, Rap habe sich »als wichtiges Medium des Selbstausdrucks, der Kritik, der Information sowie der Solidarisierung bewiesen«91. Dass diese Entwicklung »insbesondere der männlichen Jugend Möglichkeiten« bietet, »[...] ihr Selbstbewusstsein zu stärken«, sieht sie als »bedeutende Evolution gesellschaftlichen Lebens«92. Hier wird die Progressivität El Générals anhand »quasifeministischer« Zeilen hervorgehoben, sodass auch ein gesteigertes männliches »Selbstbewusstsein« nicht weiter aufstößt. Explizit legitimiert sich El Générals Erfolg in wissenschaftlichen wie journalistischen Beiträgen über Popularität (und z.T. die intermediale Referenz auf das Time Magazine). Im Kontext der Tunesischen Revolution, die das Ende des autoritären Regimes unter Ben Ali bedeutet und den Weg für eine neue Verfassung
86 Nach eigener Auskunft werde Schattenblick als Quelle zunehmend wissenschaftlich rezipiert. Der Betreiber der Website, der MA Verlag, fördert dabei das (neurechte) Narrativ der »Lügenpresse« durch Buchpublikationen mit Titeln wie »LegendenLügen-Leid – über Gewalt und Immunität des kommerziellen Journalismus«. 87 Kimminich, Eva: »Rap in Tunesien: Revolution oder Evolution?«, in: Schattenblick, unter
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/fakten/mufhi194.html
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09.10.2013. 88 Farrakhan fordert »Rassentrennung« und wurde vom Simon Wiesenthal Center als einer der prominentesten Antisemiten und Israel-Hasser der Welt eingestuft. 89 Wiedemann übersetzt den arabischen Begriff abweichend mit Schergen. F. Wiedemann: Der Rapper El Général im Prisma der Identitätsproblematik, S. 37. 90 E. Kimminich, »Rap in Tunesien«. 91 Ebd. 92 Ebd.
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ebnete, wird Proteststimmen, die diese begleitet haben, nahezu demonstrativ Respekt gezollt. Auch der funktionale, mobilisierende Charakter der Musik wird betont. Was konkret eigentlich mobilisiert wird, bleibt wenig beachtet. Das Musikmagazin Musikexpress weist immerhin auf Songzeilen gegen Jüdinnen und Juden hin.93 Obwohl seit 2012 vermehrt Beiträge zur tunesischen Protestmusik erarbeitet wurden, findet sich dieser Hinweis bislang in der Forschung nur bei Wiedemann. Indes können der affirmative und ausblendende Modus auch in wissenschaftlichen Texten festgestellt werden, (noch) seltener finden die hier problematisierten Inhalte überhaupt Eingang. In journalistischen wie wissenschaftlichen Beiträgen hat die Betonung des Revolutionären in der behandelten 94 Protestmusik bislang mehr Konjunktur als Hinweise auf regimestützende oder reaktionäre Anteile. Sabine Mecking und Yvonne Wasserloos betonen jedoch das Potenzial von sowohl Machterosion als auch Machtstabilisierung durch Musik.95 In der Literatur speziell zur zeitgenössischen tunesischen Protestmusik erwähnt Nancy Demerdash als Kontext zumindest auch eine »nationalistic reclamation« und »ambivalent positions«96, während sie unter marxistischen Gesichtspunkten die Konsumierung von Revolution und revolutionärer Ästhetik im »Arab Spring« fokussiert. Dervla S. Shannahan und Qurra Hussein identifizier-
93 Außerhalb der Stichprobe kritisierte der Journalist Malte Lehming im Tagesspiegel frühzeitig (am 29.3.2011) einen weniger rezipierten Song El Générals: »Er ist stolz darauf, auch den Song ›Allah Akhbar‹ geschrieben zu haben. Darin beklagt er eine Welt, in der ›Juden die Herrscher‹ und ›Muslime die Sklaven‹ seien«. Siehe https://www.tagesspiegel.de/meinung/kontrapunkt-arabischer-voelkerfruehlinghaetten-sies-gewusst/3999710.html . 94 Hanspeter Mattes schreibt zur Instrumentalisierung von populärer Musik noch im Regime Ben Alis: »Bekanntestes Beispiel hierfür ist der tunesische Rapper Balti […], der […] Antiraucherkampagnen der Regierung unterstützte und deshalb schnell der ›offizielle Rapper der Regierung Ben Ali‹ genannt wurde« (Mattes, Hanspeter: »Herr Präsident, ihr Volk stirbt!« Protestmusik und politischer Wandel in Nordafrika/Nahost. In: Giga Focus 9 (2012), S. 2–8, hier S. 4). Eva Kimminich weist darauf hin, dass sich der Rapper Psyco-M »in den Dienst der Ennahda« gestellt habe und bei Parteiveranstaltungen rappe (vgl. Kimminich 2016: 160). 95 Vgl. Mecking, Sabine/Wasserloos, Yvonne: Musik – Macht – Staat. Exposition einer politischen Musikgeschichte. In: Dies. (Hg.): Musik, Macht, Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne. Göttingen: V & R Unipress 2012, S. 11-38, hier S. 16ff. 96 N. Demerdash: »Consuming Revolution«, S. 2, 4.
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ten »female-derogatory phrases and terminology«97 in einigen tunesischen Raptexten, deuten Israel-Aussagen und »sceptical views of the ›wars‹ in Afghanistan and Iraq« in diesen, welche sich mit diffusen Verweisen auf Öl, Wohlstand und internationale Politik vermengen, aber als »notable elements of political resistance«98. Zum Teil hat sogar ein explizit antisemitisches Vokabular Einzug in Beiträge erhalten, das sich in der journalistischen Stichprobe so nicht beobachten ließ. Nouri Gana rekurriert schon 2012 ohne Kommentierung in seinem Aufsatz »Rap and Revolt in the Arab World« beispielsweise auf den Rapper Psyco-M, der eine »Zionist conspiracy against Islam« unterstellt; der Artikel stützt sich weiter auf Terminologie wie »Israel’s shameless rhetoric of democracy […] and practice of state terrorism«99. Eine schlechte komplementäre Situation ist, dass nur wenige Arbeiten Antisemitismus in gegenwärtiger populärer (Rap-)Musik behandeln.100
97 Shannahan, Sara/Hussain, Qurra: »Rap on ›l’Avenue‹; Islam, Aesthetics, Authenticity and Masculinities in the Tunisian Rap Scene«. In: Cont. Islam 5 (1) (2010/2011), S. 37-58, hier S. 54, 56. Bemerkenswert ist, dass Shannahan und Hussein in der Rhetorik des interviewten Rappers Hossam bereits unerschütterliche Verbindungen zwischen Äußerungen wie »and will all our tears rain into Israel and flood« und »gendererd roles« feststellen (ebd., S. 44): Emotionalisiert wird hier mittels Begriffen wie children und sisters. 98 Ebd., S. 44. 99 Siehe dort S. 31, 33. Ähnliche Töne wie Gana schlägt Mark LeVine in einem Aufsatz zu Protestmusik und »Rebirth« in der arabischen Welt an, wo er von Israel als »colonizer« (S. 358) spricht, sich gleichzeitig dennoch auf Theodor W. Adorno und Walter Benjamin stützt. Erschienen ist dieser Beitrag 2016 im 679 Seiten umfassenden Routledge »Handbook of the Arab Spring. Rethinking Democratization«. 100 Eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum lieferten 2017 Stefan E. Hößl und Jan Raabe. Sie untersuchen israelbezogenen Antisemitismus inhaltsanalytisch in den Texten der Rapper Hasan K., Yasser&Ozman und Makss Damage und kommen zu der Einschätzung, dass trotz Debatten um Antisemitismus im US-HipHop seit den 1980er-Jahren wissenschaftliche Analysen noch weitestgehend ausstehen (vgl. Hößl, Stefan E./Raabe, Jan: »Antisemitismus in Jugendkulturen und deren Musik«. In: Anne Broden/Stefan E. Hößl/Marcus Meier (Hg.): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n). Weinheim; Basel: Beltz Juventa 2017, S. 159-172, hier S. 163).
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7. FAZIT Dass in den untersuchten journalistischen und wissenschaftlichen Beiträgen zu musikalischen Stimmen der Tunesischen Revolution mehr Aufmerksamkeit auf den Mädchenschwarm oder Gewalt an Frauen thematisierenden Rapper El Générals gelegt wird als auf dessen israelfeindliche Äußerungen und Vernichtungsfantasien und dass eine geschlechtlich aufgeladene Popstar- oder RevoluzzerErzählung antisemitisches Engagement erzählerisch abgeschwächt, lohnt mit erweiterten101 intersektionalen Ansätzen näher betrachtet zu werden. Inwieweit die Stilisierung eines Vernichtungskriege fantasierenden Musikers zum modernen sensiblen Mann durch Verweise auf Schüchternheit und Männerfreundschaft, die das Bild einer »komplizierten«, nicht aber problematischen männlichen Identität evozieren, überhaupt gelingt, könnte Teil einer eigenständigen weiterführenden Untersuchung sein. Auch die (Selbst-)Zuschreibungen bei Emel Mathlouthi sind wie dargelegt geschlechtsspezifisch aufgeladen, was z.T. mit einer Dethematisierung des politischen Israel-Boykotts der Sängerin einhergeht. Als radikale politische Akteurin kommt sie mittels der Stilisierung zur »gewaltfreien Friedensfrau« nicht in Betracht. Es wurde methodologisch aufgezeigt, dass die Analysekategorie der Hierarchisierung erzählter Ereignisse, die Gewichtung einzelner Elemente in Erzählungen aufschlüsselt, in Verknüpfung mit der Feministischen Narratologie kontextorientierte Analysen ermöglicht. Drei Modi (relativierend, affirmativ und ausblendend) ließen sich im untersuchten Material feststellen mit dem Unterschied, dass Ereignisse (zumeist vage) miterzählt werden (im relativierenden Modus) oder auch gar nicht (in den hier affirmativ und ausblendend genannten Modi), obwohl von ihrer Kenntnis auszugehen ist. Frank Wittmann bemerkt, dass die »in den Cultural Studies häufig positiv konnotierten Begriffe Eigensinn, Ermächtigung oder Widerstand durchaus regressiv sein können«102. Es gebe »kei-
101 Ina Kerners Ansatz stützt sich auf die Annahme, dass »ein Modell, das Ähnlichkeiten, Unterschiede, Kopplungen und Intersektionen umfasst, weit zuträglicher ist als der Versuch, besagtes Verhältnis eindimensional zu fassen […]«. Kerner, Ina (2009b): Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus. In: Feministische Studien, Heft 27, S. 36-50, hier 38f. Dies könnte z.B. Ausgangspunkt für weitere Analysen der »quasi-feministischen« Raptexte zu geschlechtsspezifischer Polizeigewalt von El Général und dessen Antisemitismus andererseits sein. 102 Dieser kritische Einwand erschien in dem von Kimminich herausgegebenen Band »Rap – More than Words«. Wittmann, Frank: »Sexismus, Islamismus und Ghetto-
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nerlei Gründe, Populärkultur und ihre lokalen Aneignungsstrategien vorsätzlich zu feiern«103. Stattdessen bestehe die Notwendigkeit, textanalytisch 104 Selbstäußerungen von Künstler*innen einzubeziehen.105 Vera und Ansgar Nünning schätzen zudem Ahistoriztität und die Vernachlässigung des Wirklichkeitsbezugs als »blinde Flecke der (traditionellen) Narratologie« 106 ein. Wenn diese Hinweise für Analysen wissenschaftlicher Erzählungen und Deutungen von z.B. populärer Musik ernst genommen werden und konkrete (künstlerische) Inhalte im Blick bleiben, ermöglichen sie die Auseinandersetzung auch mit ambivalenten bzw. »tückischen« Verschränkungen von (re- wie progressiven) geschlechtsbezogenen Äußerungen im Kontext von Protestmusik und darüber hinaus. Die spezifische Analyse der zwei zwischen 2011 und 2017 in deutschsprachigen Online-Medien und Forschungsbeiträgen am stärksten popularisierten Künstler*innen zeigt, dass Protestmusik, die Revolutionserfolge und die Demokratisierung politischer Regime begleitet, nicht in jeder Hinsicht zwangsläufig progressive Transformationen einläutet. Weiter ist jedoch eine Einordnung der beiden behandelten Künstler*innen in die tunesische Musikszene unbedingt erforderlich: Wie (heterogen) werden diese in Tunesien rezipiert und inwieweit wurden und werden sie überhaupt als »Stimmen der Revolution« verhandelt? Welche Künstler*innen wurden bislang außerdem völlig außer Acht gelassen? Der Beitrag bietet möglicherweise Ausgangspunkte, diesen Fragen weiter nachzugehen.
romantik. Die Dakarer HipHop-Bewegung Bul faale im Kontext der globalen Postmoderne«. In: Eva Kimminich (Hg.): Rap – More than Words. Frankfurt am Main u.a.: Lang 2004, S. 181-204, hier S. 203. 103 Ebd., S. 202. 104 Auch Inhaltsanalysen audiovisueller Medien wären mitunter hilfreich. So zeigt ein Video Emel Mathlouthi in einem öffentlichen Protest während der Tunesischen Revolution, als sie wenig Beachtung in der Menge findet, was in Hinblick auf die Stilisierung zur »Stimme der Revolution« für weitere Untersuchungen relevant sein könnte. 105 Wittmann attestiert »WissenschaftlerInnen verschiedenster Provenienz [...] naives Wunschdenken und vornehme political correctness.« (ebd.). Diese mit dem letzteren Begriff operierende Kritik wird nicht geteilt. 106 V. Nünning/A. Nünning: »Making Gendered Selves«, S. 41.
Geschlechterverhältnisse in Kunst, Literatur und Film
Ägyptische Finsternis Gewaltverhältnisse und Subjektkonstitution im »Buch Franza« von Ingeborg Bachmann 1 Sven Kramer
Zwischen dem 17. April und dem 12. Juni 1964 reiste Ingeborg Bachmann mit Adolf Opel, einem Bekannten, über Griechenland nach Ägypten und in den Sudan: Sie fuhren »über Kairo […] nach Hurgada am Roten Meer […] mit dem Reisebus«, »nach Luxor und Theben, dann mit dem Flugzeug weiter nach Assuan, schließlich mit dem Raddampfer auf dem Nil weiter nach Abu Simbel und Wadi Halfa«2. Schließlich ging es über Kairo zurück nach Berlin. Diese Reise schlug sich in Bachmanns Werk der folgenden Jahre nieder; sie ging in das sogenannte ›Todesarten‹-Projekt ein, an dem die Autorin schon seit 1962 arbeitete und das sie bis zu ihrem Tod 1973 beschäftigte.3 Es handelt sich um viele hun1
Der einführende Charakter des Textes, der einige Ergebnisse aus der BachmannForschung zusammenfasst und dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ergibt sich aus dem Anlass seines Entstehens: Er wurde für die Tagung »Differenz – Gleichheit – Wandel. Tunesisch-deutsche Perspektiven auf Geschlecht in Umbruchssituationen« konzipiert, die im April 2017 auf Djerba und in Medenine stattfand.
2
Michael Fisch: »Sie sind in die Wüste gegangen. Das Licht erbrach sich über ihnen.« Ingeborg Bachmanns Reise nach Ägypten und in den Sudan im Mai 1964 und ihr »Todesarten«-Projekt, in: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland, Bonn 2011, S. 87-99, S. 90.
3
Zu dieser Datierung sowie den einzelnen Arbeitsabschnitten vgl. den Herausgeberkommentar von Monika Albrecht und Dirk Göttsche (1, 615). Die Ziffern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Band-, gefolgt von der Seitenzahl der Ausgabe Ingeborg Bachmann: »Todesarten«-Projekt, unter der Leitung von Robert Pichl hg. v.
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dert Seiten Prosa, von denen die meisten nicht zur Publikationsreife gelangten. Bachmann arbeitete die Stoffe und Motive immer wieder um, so dass Teile früherer Projekte in veränderter Gestalt in spätere eingingen. 1971 veröffentlichte sie den Roman Malina, von weiteren Romanen existieren im Nachlass Entwürfe unterschiedlichen Bearbeitungsstands. Die Herausgeber des Todesarten-Projekts, Monika Albrecht und Dirk Göttsche, betonen, die Ägyptenreise sei »für die weitere Entwicklung der Arbeit an dem ›Todesarten‹-Projekt von zentraler Bedeutung« (1, 498) gewesen. Zwischen Mitte 1964 und Mitte 1965 schrieb Bachmann an einem Manuskript mit dem Titel Wüstenbuch (vgl. 1, 237-283), das sie ursprünglich als eigenständiges Werk publizieren wollte. Diesen Plan gab sie jedoch auf, als das Material in das Folgeprojekt einwanderte, das in der Forschung Das Buch Franza genannt wird und das Bachmann zeitweilig als einen Roman mit dem Titel ›Todesarten‹ konzipierte. An diesem Text arbeitete sie zwischen dem »Sommer/Herbst 1965« (2, 393) und dem November 1966, als sie ihn beiseitelegte (vgl. 2, 397); sie nahm ihn später nicht wieder auf. Um den entsprechenden Arbeitsabschnitt zwischen 1964 und 1966 soll es im Folgenden gehen. Einigen öffentlichen Lesungen vom März 1966 stellte Bachmann eine kurze Inhaltsangabe des Buchs Franza voran: »Eine gewisse Franziska Jordan, die Frau eines berühmten Wiener Psychiaters, ist aus einer Klinik in Baden bei Wien verschwunden. Ihr jüngerer Bruder, Martin Ranner, Geologe, Assistent am Geologischen Institut in Wien, sucht und findet sie in Galicien, einem Dorf in Kärnten, aus dem sie beide stammen. Martin läßt sich von seiner Schwester, die nicht zurück nach Wien will, bestimmen, sie mitzunehmen auf eine Reise nach Nordafrika« (2, 350).
Das letzte von drei Kapiteln schildert diese Reise unter der Überschrift Die ägyptische Finsternis. Am Ende ist die Protagonistin, die von ihrem Bruder Franza genannt wird, tot. Über den Roman sagte Bachmann: »Dieses Buch will erzählen von den Verbrechen, die heute begangen werden.« Und mit einem Hinweis auf den Nationalsozialismus fügte sie an, sie wolle erzählen vom »Virus Verbrechen, der nach zwanzig Jahren nicht weniger wirksam ist als zu der Zeit, in der Mord an der Tagesordnung war, befohlen und erlaubt« (2, 348). Die
Monika Albrecht und Dirk Göttsche, 4 Bde., München und Zürich: Piper, 1995, Bd. 1: Todesarten, Ein Ort für Zufälle, Wüstenbuch, Requiem für Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman und andere Texte, Bd. 2: Das Buch Franza, Bd. 3: Malina.
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in diesen Sätzen liegende These hat sie 1971 in einem Interview bekräftigt: »Es ist ein so großer Irrtum zu glauben, daß man nur in einem Krieg ermordet wird oder nur in einem Konzentrationslager – man wird mitten im Frieden ermordet.«4 Dieser Befund klingt auch in den letzten Worten von Malina an, in denen ein Urteil über den dort erzählten Tod der Ich-Instanz gesprochen wird; sie lauten: »Es war Mord« (3, 695). Die Frage nach den Implikationen dieser Vorstellung von einer Ermordung im Frieden wird im Folgenden als Ausgangspunkt für eine Lektüre des Buchs Franza genommen, und zwar insbesondere des Ägyptenkapitels. Weil der Begriff des Mords einen Täter und ein Opfer voraussetzt, steht diese Dichotomie allerdings zur Diskussion. Die Umstände von Franzas Tod führen von der Frage des Mordes auf anonyme Strukturen der Gewalt, die den Einzelfall in den Zusammenhang von Gesetzmäßigkeiten rücken. Das betrifft zunächst die Geschlechterverhältnisse, dann auch Gewaltverhältnisse, die andere Bereiche betreffen und die in letzter Instanz mit der Subjektkonstitution selbst verbunden sind. Das eine ist bei Bachmann – so die These – ohne das andere nicht zu haben; jedes mit Franza verknüpfte Erzählelement ist überdeterminiert, in jedem wirken verschiedene Gewaltverhältnisse in unterschiedlichen Mischungsgraden. Damit wird die Täter-Opfer-Dichotomie zu eng: Bachmanns Schreibweise im Buch Franza charakterisieren komplexe Überlagerungen, keine einfachen Alternativen zwischen Täter und Opfer, zwischen Gut und Böse. Deshalb greift auch der Ruf nach politischen Lösungen für die in dieser Prosa thematisierten Gewaltverhältnisse zu kurz. Vielmehr verweist Bachmanns Poetologie auf eine umfassende und kaum revozierbare Präsenz gewaltdurchsetzter Strukturen. In ihnen bereitet sich vor, was sich im Handeln bis zum ›Mord‹ verdichtet. An erster Stelle stehen dabei die Geschlechterverhältnisse. Franza stirbt nach einer Vergewaltigung. Am Fuße der großen Pyramide von Gizeh wartet sie auf Martin, der hinaufgestiegen ist, als sich Franza ein Mann nähert, der als »ein Weißer« (2, 319) beschrieben und damit von den lokalen »echten und falschen Fremdenführer[n]« (2, 320) unterschieden wird. Er hält einen Stock in der Hand und schlägt sie. Sie empfindet es, »als hätte er sie mit einer Axt getroffen, dann erst sah sie, was er tat mit der anderen Hand und was er wollte von ihr. Sie […]
4
Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, hg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, München: Piper, 1983, S. 89. – Dass damit keine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen verbunden ist, betont zurecht Herbert Uerlings, vgl. ders.: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-) Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Köln u. a. 2006, S. 116-177, bes. S. 119 f., 144 f.
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bewegte sich nicht, bis er an ihr vorbeigegangen war. Sie […] hatte noch gesehen, wie er seine enganliegende Bluejeans zuknöpfte« (2, 320). Kurz darauf kehrt der Mann zurück und »packte sie von hinten, […] sie fiel gegen die Steinwand, er hielt sie mit schwachen Armen umklammert, dann stieß er ihr […] den Kopf gegen das Grab […]. Er entfernte sich« (2, 322). Ob eine sexuelle Penetration stattfindet, lässt Bachmann unerzählt. Sie deutet es allenfalls an, wenn sie schreibt, Franza »strich das Leinenkleid hinten glatt« (2, 322 f.). Auch die folgenden Gedanken der Protagonistin lassen alle Möglichkeiten offen: »Es ist nichts, nichts ist geschehen, und wenn auch. Es ist gleichgültig« (2, 323). Bachmann schildert hier eine durch Gewalt erzwungene, sexuell motivierte Nötigung, die zum Tatbestand der Vergewaltigung gehört. Franza wird zum Opfer gemacht. In vielfachen Variationen treten in dem gesamten Roman Situationen auf, in denen sie auf die subalterne Position verwiesen wird. Jenseits von Franzas Fall gilt das auch für andere Frauen. Verantwortlich dafür sind mehrere Faktoren; die durch Männer handgreiflich vollzogene Verfügung über den weiblichen Körper ist der hervorstechende. Körperliche Gewalt dominiert im Extremfall der Vergewaltigung, aber auch im Normalfall des Alltags. Eine entsprechende Szene gehört zur ältesten Schicht des Buchs Franza5: »Auf dem Bahnhof in Kairo hatte Franza […] die Frau gesehen. Die Frau war auf den Knien gelegen, mit Stricken gefesselt, die Hände […] auf dem Rücken […] mit Schnüren gebunden, die Füße […] auch zusammengebunden, […] der Kopf war zurückgebogen, so daß die Frau in die Höhe schauen mußte, […] und zuletzt erst nahm Franza den großen Araber wahr, der die Haare der Frau, zusammengezwirbelt, […] zu einem schwarzen festen Strick […] gedreht hielt in der einen Hand, damit sie den Kopf unbeweglich halten mußte, und mit der anderen Hand führte er sich genießerisch gelbe bohnengroße Körner in den Mund, lächelnd« (2, 306 f.).
In anderen Versionen ist von der »Mentalität des Besitzers« (1, 241) und von der »Erniedrigung« (1, 246) der Frau die Rede. Die entscheidende Wendung, die die Szene dann nimmt, kehrt in allen Entwürfen wieder: Franza reagiert spontan mit Abscheu und ruft aus, der Mann sei wahnsinnig. Auf dem Bahnhof umherstehende Männer korrigieren sie: »Nicht er ist verrückt. Sie«, die gefesselte Frau, sei »wahnsinnig« (2, 308). Der brachiale Akt der Fesselung steht im Konnex mit einer ihn legitimierenden diskursiven Praxis. Hier wird Dominanz, über die körperliche Gewalt hinaus,
5
Vgl. zu dieser von der Forschung vielfach interpretierten Szene zuletzt Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 128-130.
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auch mit Hilfe von Definitionsmacht etabliert. Das hat ganz reale Konsequenzen: Franzas Aufforderung einzugreifen – oder, in einer anderen Version, die Polizei zu rufen (vgl. 1, 274) – folgt niemand. Was normal, was zum Wahnsinn zu rechnen sei, bleibt umstritten, die hegemoniale Praxis regelt jedoch, was in dieser Situation als das Normale gilt: Die Definitionsmacht liegt nicht bei den Frauen. Diese werden vielmehr durch das männlich dominierte diskursive Regime definiert und auf eine Position festgelegt. Wo sie aus dem vorgezeichneten Rahmen des Normalen austreten, werden sie sanktioniert. In der so gefassten Normalität erkennt Franza die permanente und beide Kulturen umspannende Unterdrückung. Mit Bezug auf den geschilderten Vorfall heißt es aus ihrer Perspektive: »Seither ist die Frau wahnsinnig« (1, 241). In dieser Formulierung wird der konkrete Fall verallgemeinert zum Schicksal der Frauen überhaupt. Damit bezeichnet Bachmann die mögliche Reichweite der im Buch Franza beschriebenen Geschlechterverhältnisse. Zur Debatte steht eine tief verwurzelte, hegemoniale Struktur, die gleichermaßen das Denken und das Handeln betrifft. Die Autorin hat die Protagonistin als eine Figur angelegt, die auf die einhergehende Zurücksetzung idiosynkratisch und symptomatisch reagiert. Dadurch gerät sie in den Bannkreis des Anomalen. Hier setzt auch die Rede von ihrer Krankheit ein. Es ist Leopold Jordan, ihr eigener Ehemann, von Beruf Psychiater, der sie unablässig pathologisiert. In den entsprechenden Passagen, die chronologisch noch vor der Reise nach Ägypten liegen, erzählt Bachmann davon, wie die wissenschaftliche Definitionsmacht im Herrschaftsgefüge der Geschlechter funktioniert. Sie führt in einigen – zum Teil satirisch anmutenden – Abschnitten vor, wie Jordan Franzas Äußerungen seinen Realitätsdefinitionen unterwirft. So berichtet Franza ihrem Mann von ihren ersten Küssen, die sie vor Jahren einem britischen Besatzungsoffizier gegeben hatte und die sie »englische Küsse« (2, 186) nennt.6 Jordan, der »ohne Interpretation keinen Satz durchgehen ließ, unterbrach sie, das ist allerdings interessant, was du da sagst, englische Küsse, das ist eine Fehlleistung, denn du wirst gemeint haben angelische« (2, 186 f.) Küsse. Der psychoanalytische Begriff der Fehlleistung begründet hier eine Deutung des Gesagten, die den Wortlaut verwirft, einen übertragenen Sinn konstruiert und ihn als den einzig gültigen festschreibt. Franza versucht sich gegen diese Okkupation zu wehren: »sie sagte heftig, nein, aber nein, und er sagte, unterbrich mich bitte nicht immer, und er studierte das kleine Problem und analysierte ihre Küsse, von der sprachlichen Seite her und dann von der Erlebnisseite« (2,
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Vgl. dazu bereits Marianne Schuller: Wider den Bedeutungswahn. Zum Verfahren der Dekomposition in ›Der Fall Franza‹, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ingeborg Bachmann, München: text+kritik, 1984, S. 150-155, S. 152.
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187). Mit dem doppelten Nein – das später auch den Moment ihres Sterbens charakterisieren wird – artikuliert Franza deutlich ihren Widerspruch. Jordan ignoriert ihn jedoch und dreht ihr, wie es an anderer Stelle heißt, die Worte um (vgl. 2, 245). Franza unterbricht ihn daraufhin nicht mehr, »bis sie ihre englischen Küsse gewogen, zerlegt und pulverisiert, eingeteilt und untergebracht wußte, sie waren nun säuberlich und sterilisiert an den richtigen Platz in ihrem Leben und mit dem richtigen Stellenwert gekommen« (2, 187). Mit nicht zu überbietender Ignoranz verfehlt die von Jordan praktizierte Analyse die Wirklichkeit. Selbstsicher übersieht er, was nicht in seine schon vorab feststehende Deutung passt. Er setzt ein geschlossenes System der Welterklärung ein und zwingt es Franza auf. Hier wird der rationale Diskurs zum Herrschaftsinstrument; von ihrem eigenen Ehemann wird Franza zum klinischen Fall, zum »Fall F. […] gemacht« (2, 271). Sie kann dagegen kaum etwas ausrichten, weil die Gesellschaft den Psychiater Jordan als eine Kapazität akzeptiert und seine Sicht der Wirklichkeit in allen Fragen, die die als deviant eingestufte Psyche betreffen, übernimmt. Entsprechend wird er einmal als »das Exemplar, das heute regiert« (2, 230), bezeichnet. Würde sie sich wehren, so drohte ihr neben der Pathologisierung womöglich auch die Hospitalisierung. Schon im Wüstenbuch wird dieser Zusammenhang hergestellt, wenn das weibliche Ich dort denkt: »ich bin […] verstummt, weil jeder Schrei mich in die konzessionierten Irrenanstalten bringen würde« (1, 275).7 Im Buch Franza zeigt Bachmann dann mit dem Hinweis auf den historischen Extremfall der vom Nationalsozialismus betriebenen Euthanasie, wohin die ausgrenzende und pathologisierende wissenschaftliche Definitionsmacht führen kann: in die sogenannte »Ausmerzung unerwünschten Volkstums« (2, 302). Es waren Ärzte und Biologen, die die Kategorien dafür entwickelten, wer abweichend und minderwertig sei. Sie bereiteten die mörderische Politik der Nationalsozialisten ideologisch vor und begleiteten sie praktisch. Franza erblickt in Jordans Verhalten eine andere Spielart der Existenzvernichtung: »Er wollte mich auslöschen, mein Name sollte verschwinden« (2, 209). Einem lange zurückliegenden Versuch einer solchen Auslöschung, der die kulturgeschichtliche Kontinuität dieser Praxis anzeigt, begegnet sie in Ägypten, »in Dêr el-Báhrai, in dem Tempel der Königin Hatschepsut, von der jedes Zeichen und Gesicht getilgt war auf den Wänden, […] zu ihrer Zeit zerstört oder
7
Bachmann war in ihrer Berliner Zeit selbst in Behandlung. Hier liegt eine der autobiografischen Verbindungen zur Figur Franza, vgl. Ingeborg Bachmann: »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, hg. v. Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, München, Berlin, Zürich: Piper und Berlin: Suhrkamp, 2017.
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nach ihrem Tod, von dem dritten Tuthmosis« (2, 274).8 Franza stellt sofort den Bezug zu ihrer Gegenwart her: »Für sie […] war das nicht Stein und nicht Geschichte, sondern, als wär kein Tag vergangen, etwas, das sie beschäftigte« (2, 275). Die Tilgung der Bilder und Zeichen Hatschepsuts durch Tuthmosis gleicht dem Vorgehen Jordans, der Franzas Artikulationen herabwertet und stattdessen das eigene Sprechen über sie als das gültige durchsetzt. Franza kann sich Jordans unmittelbarem Einfluss entziehen, indem sie zu ihrem Bruder Martin flieht und ihn auf seine Reise nach Ägypten begleitet. Und auch die Tilgung Hatschepsuts gelingt nicht vollständig: »Siehst du«, sagt Franza, »er hat vergessen, daß an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, wo sie sein soll« (2, 274). Die Leerstelle wird hier zum Zeichen der versuchten Tilgung; jene übernimmt damit eine ähnliche Funktion wie das Schweigen Franzas in den Gesprächen mit Jordan. Unterdrückung hinterlässt Spuren, die von denen entdeckt – und manchmal auch entziffert – werden können, die ihr Fragen auf vergangene Auslöschungsereignisse richten. Während Franza die Geschichte Hatschepsuts in Analogie zu ihrer eigenen Existenz identifikatorisch auffasst, betrifft sie eine andere Episode unmittelbar, denn hier steht der Anteil der Kulturgeschichte an der Subjektkonstitution in Frage – und damit an jenen Prägungen, die in ihre eigene Persönlichkeit eingegangen sind. Die einhergehende Verankerung der Geschlechter- und Gewaltverhältnisse reicht in dem Romanfragment bis in kulturgeschichtlich weit zurückreichende Zeiten, nämlich bis in die monotheistische Schicht des abendländischen Bewusstseins hinein. Am Strand des Roten Meeres, an dem die Wüste beginnt, durchlebt Franza einen Zustand, der zunächst in eine Epiphanie Gottes zu münden scheint. Bachmann verlegt diese Begegnung mit Gott in einer oft kommentierten Szene in den Grenzbereich zwischen sinnlicher Wahrnehmung und halluzinierter Vision. Franza schläft zunächst in der Sonne ein, wacht dann auf und beginnt zu laufen. Die Sonne steht im Zenit, es ist gleißend hell, so dass nichts zu sehen ist. Als ihre Haut brennt und sie schließlich anhält, sieht sie, wie die Autorin formuliert, »das Bild […]. Nicht mehr die immer vorgestellten Bilder« (2, 286). Zu diesen Bildern zählt neben anderen auch das von der gefesselten Frau in Kairo. »Ich sehe«, heißt es nun in Franzas Gedankenzitat, »was niemand je gesehen hat […]. Ich habe meinen Vater gesehen. […] Aber es ist nicht er« (2, 286). Sie korrigiert sich: »Gott kommt auf mich zu […] Ich habe Gott gesehen« (2, 286 f.). Kurz darauf bricht mit der Halluzination auch die religiöse Emphase in sich zusammen:
8
Auch diese Passage ist von der Bachmannforschung schon intensiv durchgearbeitet worden, vgl. zuletzt Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 152-158.
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»Sie stürzte und kam auf die Knie zu liegen, und da lag Er vor ihr, ein schwarzer Strunk, aus dem Wasser geschwemmt, eine Seewalze, ein zusammengeschrumpftes Ungeheuer, keine dreißig Zentimeter lang, in dem ein leises Leben war. […] Sie […] griff nach dem Tier und schob es ins Wasser zurück« (2, 287).
Wegen des phallischen Charakters dieser Gotteserscheinung nehmen in dem Bild Vater, Gott und Phallus wechselweise dieselbe Stelle ein. Es ist diejenige einer zentralen, dominierenden Instanz. Sigrid Weigel sieht in ihr den »symbolische[n] Vater bzw. das Gesetz im Namen des Vaters (Lacan)«9, auf den die symbolische Ordnung ausgerichtet sei und verweist auch auf den Derrida’schen Begriff des Phallogozentrismus, der seinen Begriff der Schrift wesentlich bestimmt. Wenn die symbolische Ordnung unlösbar mit dem phallischen Prinzip – und damit dem Patriarchat – verbunden ist, argumentierte die Bachmannforschung,10 nehmen Männer in ihr eine andere Position ein als Frauen. In Übereinstimmung mit den so gesetzten Bedingungen kann ›die Frau‹ nur in der Unterwerfung gelangen. Wie Franza an ein Bild fixiert ist, in dem zwar die einzelnen Elemente variieren, die männliche Dominanz aber immer erhalten bleibt, so bleibe die weibliche Existenz im Buch Franza insgesamt auf das männliche Leitbild ausgerichtet, diesem untergeordnet und damit strukturell subaltern. Alle diese Szenen, von der Behandlung durch ihren Mann bis zu der Vergewaltigung mit Todesfolge in Gizeh, scheinen Franza und die Frauen in der patriarchalischen Ordnung auf die Opferrolle festzulegen. Nicht zuletzt deshalb widmete sich die feministische Literaturwissenschaft der achtziger Jahre diesem Romanfragment besonders intensiv. Hier, wie im Todesarten-Zyklus insgesamt, sah sie »die psychische Lage von Frauen in einer von Männern beherrschten Welt«11 thematisiert. »Die Frau«, so die These, sei das »schlechthin kolonialisierte […] Wesen«12. Diese Lesart wurde in der Folge befragt. 13 Angeregt unter
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Sigrid Weigel: »Ein Ende mit der Schrift. Ein andrer Anfang«. Zur Entwicklung von Ingeborg Bachmanns Schreibweise, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ingeborg Bachmann, München: text+kritik, 1984, S. 58-92, S. 78.
10 Vgl. einige der Beiträge in dem Band Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ingeborg Bachmann, München: text+kritik, 1984. 11 Sara Lennox: Geschlecht, Rasse und Geschichte in »Der Fall Franza«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ingeborg Bachmann, München: text+kritik, 1984, S. 156-179, S. 157. 12 Schuller, Wider den Bedeutungswahn, S. 152. 13 »Bis weit in die achtziger Jahre hinein hat sich im deutschsprachigen Raum die ›eindeutige Gleichung Frau = Opfer, Mann = Täter‹ hartnäckig gehalten, und nicht zuletzt
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anderem durch die postkolonialen Studien setzte seit den neunziger Jahren »eine postkoloniale Interpretation der Todesarten«14 ein. Die Bachmannforschung erkannte, dass die Autorin im Buch Franza auch den Kolonialismus zum Thema gemacht hatte. Sie fragte, inwiefern er im Text selbst reflektiert wird – oder ob der Text vielleicht sogar an jenem partizipiere. Sara Lennox formulierte die These, dass dies ambivalent bleibe und die Identität von Bachmanns weiblichen Figuren im Todesarten-Zyklus durchaus auch »auf rassenbezogenen und imperialistischen Diskursen beruht«15. Monika Albrecht zeigte, dass »Franzas Geschichtsauffassung […] bedenkliche Ähnlichkeit mit den Positionen, von denen aus […] in den sechziger Jahren das System des Kolonialismus und Imperialismus gerechtfertigt wurde«16, aufweist. Seither fällt auf die Figur Franza ein anderes Licht. Über die Position des weiblichen Opfers hinaus wird nun auch nach ihrer Verstrickung in die Mechanismen kolonialer Täterschaft gefragt. Da das koloniale Bewusstsein beide Geschlechter charakterisiert, verschiebt die postkoloniale Lesart den Akzent von den Unterschieden auf die Gemeinsamkeiten. Dabei werden die Unterschiede keineswegs nivelliert, denn mit den Geschlechterrollen wird die koloniale Position asymmetrisch ausgeprägt. Die spezifisch weiblichen Anteile im entsprechenden Verhalten Franzas erkennt Lennox in den von der Protagonistin verkörperten Zügen einer ›White Lady‹. Der von Lennox aus dem postkolonialen Diskurs entnommene Terminus antwortet auf
dieser Grundkonstellation dürfte Das Buch Franza seinen Erfolg in dieser Zeit verdanken. Diese Täter/Opfer-Konstruktion ist inzwischen sowohl in der feministischen als auch in der Postkolonialismus-Diskussion in Mißkredit geraten« (Monika Albrecht: »Es muß erst geschrieben werden«. Kolonisation und magische Weltsicht in Ingeborg Bachmanns Romanfragment Das Buch Franza, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Über die Zeit schreiben. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt, Würzburg 1998, S. 59-91, S. 63). 14 Sara Lennox: »White Ladies« und »Dark Continents«. Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt aus postkolonialer Sicht, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Über die Zeit schreiben. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt, Würzburg 1998, S. 13-31, S. 13. – Monika Albrecht skizziert den Paradigmenwechsel in der Rezeption des Buchs Franza, vgl. dies.: »Sire, this village is yours«. Ingeborg Bachmanns Romanfragment »Das Buch Franza« aus postkolonialer Sicht, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Literaturund kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns, Bd. 3, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 159-169, S. 159 f. 15 Lennox, »White Ladies« und »Dark Continents«, S. 15. 16 Albrecht, »Es muß erst geschrieben werden«, S. 82 f.
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Bachmanns Verwendung des Motivs der Weißen,17 das das gesamte Buch Franza durchzieht. Zivilisationskritisch erkennt Franza in den ›Weißen‹ die Kolonisatoren, die »den Schwarzen die Güter genommen haben« (2, 231) und die noch »mit ihrem Geist wiederkommen, wenn sie anders nicht mehr kommen können« (2, 278) – nur rechnet sie sich selbst nicht zu ihnen, sondern positioniert sich auf der Seite der Kolonialisierten: »ich bin von niedriger Rasse« (2, 230). Diese Haltung verdichtet sie in dem oft zitierten und vieldiskutierten Satz: »ich bin eine Papua« (2, 232).18 Immer wieder grenzt sie sich von den ›Weißen‹ ab. Noch ihre letzten Worte wendet sie gegen sie: »Die Weißen […] sollen verflucht sein« (2, 325). Doch trotz aller entschlossenen Parteinahme partizipiert Franza, wie die Forschung zeigen konnte,19 sowohl an den Verhaltensweisen als auch am Bewusstsein der von ihr so bezeichneten ›Weißen‹. So ist zum Beispiel ihre »Auffassung von Nordafrika als einem Ort des orientalischen Andersseins, das Franza vor Europa retten kann, […] selbst als Produkt von romantischen weißen Fantasien zu lesen«20. Nicht nur, dass sie am Rande der Wüste, wo »Europa zuende« (2, 257) ist, zur Coca Cola-Flasche – dem »Symbol des westlichen Kulturimperialismus«21 – greift, nicht nur die europäischen Hüte, die sie statt der im Land gebräuchlichen Tücher trägt, auch ihre orientalistischen sexuellen Phantasien, an denen sie ihr Handeln ausrichtet,22 kennzeichnen sie als Repräsentantin dessen, wogegen sie sich so vehement richtet. Franza artikuliert die Kritik am Kolonia-
17 Bachmann entnimmt das Motiv vor allem aus Arthur Rimbauds Une saison en enfer. Die Forschung hat darüber hinaus auf den Gebrauch des Terminus bei Frantz Fanon hingewiesen, vgl. Dirk Göttsche: ›Die Schwarzkunst der Worte‹. Zur Barbey- und Rimbaud-Rezeption in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, Bd. 17 (1987-90), S. 127-162, sowie Andrea Allerkamp: Stationen der Reise durch die Ich-Landschaften – Zwischen Arthur Rimbaud und Ingeborg Bachmann, in: Gerd Labroisse, Gerhard Knapp (Hg.): Literarische Tradition heute. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrem Verhältnis zur Tradition, Amsterdam: Rodopi, 1988, S. 159-179. 18 Vgl. hierzu ausführlich Albrecht, »Es muß erst geschrieben werden«, S. 70-83. 19 Vgl. insbesondere die schon genannten Texte von Lennox (»White Ladies« und »Dark Continents«), Albrecht (»Es muß erst geschrieben werden«) und Uerlings (»Ich bin von niedriger Rasse«). 20 Lennox, »White Ladies« und »Dark Continents«, S. 19. 21 Ebd., S. 21. 22 Vgl. vor allem die Diskussion über die sogenannte Orgia-Szene bei Lennox, »White Ladies« und »Dark Continents«, S. 19 f., und Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 147-149.
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lismus und allen Formen der Kolonialisierung, während ihr die eigene Verstrickung allenfalls teilweise bewusst wird oder sie sie sogar vollkommen verkennt. Solche Überlegungen waren geeignet, die Identifikation mit einer Figur zu reduzieren, die nun nicht mehr ausschließlich als Opfer wahrgenommen wurde und führten zu der Frage, inwieweit Bachmann die »Distanzierung eines Erzählers von der Figurenperspektive«23 mitgestaltet habe, ob also die Figurenperspektive von derjenigen des Textes abweiche. Uerlings antwortete auf Lennox’ und Albrechts diesbezügliche Skepsis und entwarf eine Lesart, die das bejaht; er spricht dem Roman »ein beachtliches postkoloniales Potential« 24 zu. Mit Bezug auf den Zusammenhang der beiden Bereiche struktureller Gewalt, die koloniale Situation und die Geschlechterverhältnisse, resümiert er, sie »erscheinen als strukturell verwandte, aber auch miteinander konfligierende und sich gegenseitig partiell dezentrierende Formen«, die dazu anleiteten, »die Widersprüche der ›Weißen‹ jeder Hautfarbe in sich auszutragen«25. Die Gleichzeitigkeit von Franzas Wissen um ihre subalterne Position in den asymmetrischen, gewalthaltigen Geschlechterverhältnissen und ihrem Verkennen der eigenen, strukturell dominanten Position in den kolonialen Verhältnissen führt auf das Neben- und Ineinander von Er- und Verkennen in dem Romanfragment insgesamt. Immer wieder verweist der Text auf die Verstrickungen des Handelns, des Denkens, des Glaubens und des Sprechens in kulturgeschichtlich verankerte Dispositive. Diese epistemologischen Grundierungen – etwa durch den Monotheismus oder das Patriarchat – gehen mit der realistischen Schicht des Romans – etwa den politischen Verhältnissen in Ägypten, 26 den Verweisen auf
23 Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 118. 24 Ebd., S. 176. 25 Ebd., S. 175. 26 Bachmann vergegenwärtigt durch unauffällige, präzise gesetzte Hinweise die zeitgeschichtliche sowie die aktuelle politische Situation Ägyptens. Sie wird mehrfach mit Gamal Abdel Nasser verbunden, der zwischen 1952 und 1954 Ministerpräsident war und das Land seit 1954 als Staatspräsident regierte. Er war 1952 an dem erfolgreichen Militärputsch gegen König Faruk I. beteiligt. Auf dieses Jahr verweist Bachmann in der Passage: »das Shepardshotel auch längst niedergebrannt in Kairo« (2, 268): Das Gebäude wurde im Zuge antibritischer Ausschreitungen am 26.1.1952 zerstört. Später wird auf die Suezkrise von 1956 angespielt: »Erstaunen über Suez, wo kein stattgefundenes Drama in die Augen sprang, keine Spur von einem vergangenen Kampf« (2, 250). 1956 verstaatlichte Nasser den Suezkanal, der sich bis dahin im Besitz britischer und französischer Unternehmen befand. England, Frankreich und Israel planten eine militärische Intervention zur Besetzung des Kanals und zum Sturz Nassers. Die Be-
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den Nationalsozialismus – vielfältige Verbindungen ein. Doch das Zugrundeliegende zeigt sich nie als es selbst, immer nur als Amalgamiertes und SichEntziehendes: als komplex Undurchschautes. Die Verbindungen erscheinen in vielfachen Variationen, zum Beispiel als Ambivalenz, als Schichtung, als Ineinander-Umschlagen der Extreme. Wie tief die Verstrickung der Einzelnen – ihres Bewusstseins, ihres Habitus, ihres Gewordenseins insgesamt – in die Gewaltverhältnisse anzusetzen sei, inwieweit sich diese Verstrickung also in den Subjekten als zweite Natur durchsetzt, ist mit der Subjektkonstitution verbunden, die sich in je bestimmten historischen Herrschaftsverhältnissen vollzieht. Im Buch Franza erhält dieses Thema auf dem Schauplatz der Wüste eine neue Wendung. Hier vergegenwärtigt Bachmann Franzas individuelle Disposition zusammen mit der kulturgeschichtlichen. Dabei nimmt das Thema der Krankheit eine zentrale Stellung ein. Es verweist auch auf die Rede vom »Virus Verbrechen« (2, 348), die Bachmann in der erwähnten Einleitung zur Lesung aus dem Text verwendet hatte. Franza wird
setzung durch israelische Truppen gelang zunächst, doch die USA und die Sowjetunion setzten bei den Vereinten Nationen durch, dass die eroberten Gebiete wieder geräumt werden müssten. Nasser, der eine Politik der Blockfreiheit verfolgte, näherte sich der Sowjetunion an, die die Finanzierung des Assuanstaudamms ermöglichte. Seine panarabische, gegen Israel gerichtete Politik trug ihm in der arabischen Welt nun eine Führungsposition ein, die er bis zur Niederlage im Sechstagekrieg 1967 behielt. Außenpolitisch betrieb Nasser die Unabhängigkeit Ägyptens; innenpolitisch setzte er auf die Modernisierung des Landes. Im programmatischen Zentrum dieser Fortschrittsorientierung stand das Großprojekt zum Bau des Assuanstaudamms. Franza sagt: »morgen ist doch der 15. Mai« und fügt an: »in den Geschichtsbüchern wird etwas stehen von diesem Tag […]. Dann werden sie die Schleusen öffnen, das Wasser wird kommen. Die Geschichte wird den Wassertag verzeichnen« (2, 270). Es ist der Tag der Fertigstellung des Damms und seiner Eröffnung durch Nasser und Nikita Chruschtschow, den Regierungschef der UdSSR, die im Mai 1964 in einem Festakt die Befüllung des zukünftigen Stausees freigaben. In der fiktionalen Welt des Romans sehen Franza und Martin in Luxor das Präsidentenschiff auf dem Nil vorbeiziehen. Neben den präzisen Orts- und Zeitangaben in dem Roman steht also ein weltpolitischer Bezug. Er wird allerdings nur am Rande erwähnt und greift in die Haupthandlung nicht ein. Diese Marginalisierung der politischen Ereignisgeschichte setzt ein eigenes Zeichen. Bachmann unterstreicht damit, dass der Titel ›Todesarten‹ sich nicht in erster Linie auf die weniger häufigen Fälle staatlicher Gewalt bezieht, wie sie in Kriegen und Genoziden vorkommen. Die Todesart, um die es hier geht, findet mitten in der politischen Normalität statt, sie gehört in den Frieden.
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durch die Versuche ihres Mannes sie zu pathologisieren genötigt sich mit dem Thema Krankheit auseinanderzusetzen. Im Zusammenhang mit der gefesselten Frau reflektiert sie den Übergang zum Wahnsinn. Bachmann fasst die Rede von der Krankheit allerdings noch viel weiter. Das wird deutlich, als sich Franza dem ehemaligen KZ-Arzt Dr. Körner als eine Todkranke vorstellt: »ich bin krank […]. Es ist mir nicht mehr zu helfen.« (2, 304). Diese Krankheit ist mitbedingt durch ihr Wissen um das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten (vgl. 2, 302), an dem Körner beteiligt war. Franzas ›Krankheit‹ werden im Verlauf der Handlung unterschiedliche Ursachen zugewiesen. Martin zum Beispiel bringt sie ganz generell mit Wien in Verbindung: »er wollte einen Keil treiben zwischen sie und die Krankheit oder zwischen sie und Wien« (2, 282). Wien aber bezeichnet den Ort, an dem Franzas gesellschaftliche Sozialisation stattgefunden hatte und an dem sie zu dem wurde, was sie ist. In topologischer Hinsicht kommt der Wüste die Funktion eines Anti-Wien zu. Sie erscheint als die »große Heilanstalt, das große […] Purgatorium« (2, 248). Der Weg durch die Wüste wird für Franza zum Weg »durch eine Krankheit« (2, 269). Bachmann setzt noch ein weiteres Wort für Franzas prekären Zustand ein. Neben dem der ›Krankheit‹ benutzt sie auch das der »Verwüstung« (2, 272), wodurch der äußere Schauplatz der Wüste auch als ein innerer etabliert wird. 27 Dieses Substantiv aktiviert viele Konnotationen, etwa das lebensfeindliche Element des Wüsten, also des Unwirtlichen, ferner das Öde im Sinne des Leeren, sowie ferner äußere Zerstörungen, wie sie zum Beispiel durch Kriege verursacht werden. Hinzu kommt die metaphorische Übertragung auf das Seelenleben einer Person. Charakteristisch für Bachmanns literarisches Verfahren ist, dass das Lexem Wüste, das in der Verwüstung enthalten ist, in dem Roman auf seinen Ursprungsreferenten bezogen wird, indem die Wüste als Landschaft und Ort der Handlung auftritt. Wenn die ersten Worte des Wüstenkapitels mit Bezug auf Franza und Martin lauten: »Sie sind in die Wüste gegangen« (2, 248), so führt dieser Weg an den Ursprung der Wortbedeutung, zum sinnlichen Substrat der Sprache, zum Zusammenhang von körperlicher Erfahrung und Benennung. Das verweist auf den grundlegenden Stellenwert der Sprache für die Wahrnehmung, Artikulation und Reflexion der Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse im Buch
27 Bachmann hat den Zusammenhang zwischen den äußeren und den inneren Schauplätzen in mehreren Vorreden zu ihrem Roman angesprochen. Oft zitiert wird die Passage: »Die Schauplätze sind Wien, das Dorf Galicien und Kärnten, die Wüste, die arabische, libysche, die sudanische. Die wirklichen Schauplätze, die inwendigen, von den äußeren mühsam überdeckt, finden woanders statt. Einmal in dem Denken, das zum Verbrechen führt, und einmal in dem, das zum Sterben führt« (2, 78).
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Franza. An der Modellierung und Positionierung der Subjekte ist das diskursivsprachliche Moment immer beteiligt. Es ist deshalb kein Zufall, dass viele von Franzas Befreiungsversuchen aus dem Gewaltzusammenhang ein poetologisches Pendant in Bachmanns Schreibweise haben. Wenn die als verwüstet bezeichnete Franza in die Wüste geht, wendet sie sich dem sie Charakterisierenden zu und begibt sich im wörtlichen und im übertragenen Sinn in das ihr Zugeschriebene hinein. Dieser im Roman entworfene, äußerst komplexe Vorgang kann kaum in allen seinen Teilen aufgefasst und analysiert werden. Er enthält auch eine sprachlich-poetische Seite. Auffällig an Bachmanns Arbeit mit dem Wort Wüste ist nun, dass es niemals festgeschrieben, sondern dauernd transformiert wird.28 Darüber hinaus zirkuliert es unablässig in unterschiedlichen Kontexten. So ist die Wüste sinnlich erfahrbar, sie hat einen »sauberen Geruch« (2, 248); sie ist geografisch definiert, zum Beispiel als »arabisch[e], libysch[e]« (2, 248); sie ist religiös konnotiert, etwa als »Purgatorium« (2, 248) oder der Ort, aus dem die »Prophetien« (1, 255) kommen, an dem »Gott einmal gewesen sein« muss (1, 273) und der mit »zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt« (2, 288) ist; als »Heilanstalt« (2, 248) ruft sie die Psychiatrie auf; als Ort der erhofften »Heilung« (1, 183) und »Erlösung« (1, 255) die Linderung von Franzas Leiden; die Wüste ist die einzige Landschaft, »die nichts zu sagen versucht« (1, 266); darüber hinaus ist sie es, »aus der unsere Gedanken und Ordnungen kommen« (2, 276) und die sich der Bestimmung entzieht (vgl. 2, 248). Die Wüste ist das Gegenteil des eindeutig Bestimmten, sie changiert, sie lässt sich nicht festlegen. Und dennoch hat sie etwas Gründendes, sie ist mit der Vorstellung des Ursprungs verbunden, wobei die Vorstellung und das einhergehende Narrativ den Ursprung in unterschiedliche Richtungen modellieren, ausbuchstabieren, imaginieren. Einerseits erscheint der Ursprung in der Form eines Ursprungsmythos, einer Ursprungserzählung, nämlich für eine der wirkmächtigsten Ursprungserzählungen in der europäischen Welt, das Alte Testament. Es schildert das Erscheinen Gottes sowie das Aufrichten des Bundes zwischen Gott und den Israeliten, der mit dem Exodus der Juden aus Ägypten und der Offenbarung des Dekalogs bekräftigt wird. Andererseits gilt diese Überlieferung im Zeitalter der zerbrochenen Gottesvorstellungen nicht mehr. Sie ist entwertet, al-
28 »Bachmanns Wüstenbild ist ein dichtes, vielschichtiges und vieldeutiges«, schreibt auch Astrid Starck-Adler, vgl. dies.: Ist die Wüste eine österreichische Landschaft?, in: Régine Battiston-Zuliani (Hg.): Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur, Bern: Lang, 2004, S. 151-159, S. 159.
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lerdings noch nicht gänzlich verschwunden. Bei Bachmann umsäumt sie die Wüste. Die Wüste selbst ist das Unbestimmte, die Leere, das Nichts. Und genau diese Qualität macht sie im Romanfragment zum Hauptbezugspunkt für die Überwindung des Tradierten, also jener Zustände, in denen sich Herrschafts- und Gewaltverhältnisse festgesetzt haben. Die Wüste rechtfertigt den Gedanken an einen Ausweg, an eine Unterbrechung der Wiederholung, an die reale Möglichkeit des Neuen und an die Utopie. An sie knüpft sich die Hoffnung, dass es ein Entkommen aus der Krankheit, der Zurichtung der Subjekte in den überlieferten Gewaltverhältnissen geben könne. In ihr entscheidet sich auch, ob das bis in die Konstitution der Individuen hineinreichende Gewaltverhältnis in diesen überwunden werden kann, letztlich also, ob Befreiung für jede Einzelne und jeden Einzelnen möglich ist. Und in der Tat gibt es in dem Romanfragment Momente, in denen das Herrschaftsgefüge aufbricht und die Wüste als ›große Heilanstalt‹ erscheint. Als Franza erkennt, dass sie eine Seewalze für Gott gehalten hat, lacht sie, und dieses Lachen wird als »die Einfallsstelle für die Dekomposition« (2, 287) bezeichnet. Der Abschnitt endet mit den Worten: »Die arabische Wüste ist von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt« (2, 288). Diese Formulierung bezieht die Dekomposition auf die Stellung Gottes in der säkularisierten Welt; hier »zerbricht die Vorstellung eines geoffenbarten Gottes«29. Die Passage nimmt ein Motiv aus der Religionskritik auf, das Ludwig Feuerbachs herausgearbeitet hat, der auf den einhergehenden Anthropomorphismus aufmerksam machte: »Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, gereinigt, befreit von den Schranken des individuellen Menschen, verobjektiviert, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum menschliche Bestimmungen.«30 Die von Feuerbach und anderen betriebene Aufklärung arbeitet der Säkularisierung zu. Noch das säkularisierte Bewusstsein enthält jedoch negativ, in der Zurückweisung Gottes, zugleich den Gedanken an Gott. Noch als zerbrochene wirken die Gottesvorstellungen fort: Im Akt der Befreiung bleibt das, wogegen die Befreiung sich wendet, weiterhin gegenwärtig – sei es in der Kritik Gottes, des Patriarchats oder des Kolonialismus.
29 Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 164. 30 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 5: Das Wesen des Christentums, 3. Aufl., Berlin: Akademie, 2006 [EA 1841], S. 48 f.
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Entsprechend weitreichende Fragen stellt Franza im Anschluss an die Begegnung mit der Seewalze: »wer bin ich, woher komme ich, was ist mit mir, was habe ich zu suchen in dieser Wüste« (2, 287). Wenn die Identität einer Person festgeschrieben wird durch den ihr zugewiesenen – subalternen – Platz in der symbolischen Ordnung, so stellt das Aufbrechen dieser Ordnung die bisherige Identität in Frage. Das Wort Dekomposition, das Bachmann in diesem Zusammenhang verwendet, weist in viele Richtungen.31 Immanent betrachtet bezeichnet es einen der Komposition entgegengesetzten Prozess. Neben der musikalischen Bedeutung ist damit die künstlerisch-darstellende insgesamt angesprochen. Der Terminus wird aber im Todesarten-Projekt auch im lebensweltlichexistenziellen Sinn gebraucht. So ist an einer Stelle des Wüstenbuchs davon die Rede, dass die »Komposition Liebe« (1, 263) sich als unhaltbar erwiesen hätte. Und in Malina gibt es eine Passage, in der das Ich sich ein Kleid gekauft hat und es nun vor dem Spiegel anprobiert. In diesem Vorgang »entsteht eine Komposition, eine Frau ist zu erschaffen für ein Hauskleid« (3, 448). Die Funktion ist vorgegeben, die Gesamterscheinung muss noch synchronisiert werden, wozu der Körper entsprechend hergerichtet wird: »Es müssen die Haare zwanzigmal gebürstet, die Füße gesalbt und die Zehennägel lackiert werden, es müssen die Haare von den Beinen und unter den Achseln entfernt werden, die Dusche wird an- und ausgemacht, ein Körperpuder wolkt im Badezimmer, es wird in den Spiegel gesehen« (3, 448). Komposition bedeutet in diesen Parallelstellen also die aktive Modellierung des eigenen Selbsts im Sinne eines ebenso vorgeprägten wie imaginierten Rollenbildes. Die Dekomposition entzieht einem solchen Handeln die vorgegebene Richtung. Im Zerbrechen der prekären Identität liegt die Möglichkeit einer Befreiung. Wenn dabei aber nichts an die Stelle der abgelegten Ordnung tritt, kann ein Prozess der existenziellen Erosion einsetzen, in dessen Verlauf das Weiterleben prekär wird und der damit auch zur Todesursache werden kann. So treten neben die herrschaftskritischen und tendenziell befreienden Momente der Dekomposition auch einige schädliche. Als ein möglicher Ausweg aus den Gewaltverhältnissen bleibt die Dekomposition also ambivalent. Im Buch Franza gibt es jedoch auch einige Episoden, die als unverstellt utopische aufgefasst wurden. An die Stelle hierarchischer Beziehungen sei dort eine nichthierarchische Differenz getreten. Einerseits betrifft dies das Verhältnis zwischen den Geschlechtern,32 andererseits die postkoloniale, antirassistische Kom-
31 Weigel hat schon früh auf die poetologische Bedeutung des Terminus hingewiesen, vgl. dies., »Ein Ende mit der Schrift. Ein andrer Anfang«, S. 84. 32 Zur utopischen Schicht des Romans wurde auch Franzas Beziehung zu Martin gezählt, in der Elemente einer nichthierarchischen Geschwisterlichkeit zwischen den
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ponente. In Wadi Halfa, einem Ort im Sudan, dessen Untergang in den Wassern des Assuanstaudamms unmittelbar bevorsteht (vgl. 1, 278), gelangt Franza in ein ihr unbekanntes Haus, wo sie die Bewohner zu einem Essen, bestehend aus Bohnen mit Brot, einladen: »vier schwarze Hände und eine weiße Hand sind abwechselnd im Teller, dann plötzlich alle Hände gleichzeitig, […] höfliche Hände alle, man müßte das Bild versteinern lassen in diesem Augenblick, in dem etwas vollkommen ist« (1, 281 f.). Aus Franzas Perspektive wird der utopische Gehalt klar bezeichnet: »es ist das erste und einzige gute Essen, wird vielleicht die einzige Mahlzeit in einem Leben bleiben, die keine Barbarei, keine Gleichgültigkeit, keine Gier, keine Gedankenlosigkeit, keine Rechnung […] gestört hat. Wir haben aus einem Teller gegessen. Wir haben geteilt und nicht gebetet, nichts zurückgeschickt, keine Bohne stehengelassen, nichts weggenommen, nicht vorgegriffen, nicht nachgenommen« (1, 282). Auch in diesem Fall hat die postkolonial ausgerichtete Forschung darauf verwiesen, dass die Szene nur Franza als ein Gegenbild des gelebten Andersseins erscheint. Wie die Frau, die das Essen aufträgt, die Situation empfindet, wird nicht gesagt. 33 »Fraglos gültige Modelle, nach denen Gleichheit und Verschiedenheit zusammengedacht und zusammengeführt werden könnten […], gibt es in dem Roman nicht«, resümiert Uerlings. Deshalb »sollte man darauf verzichten, in den utopischen Bildern den Fluchtpunkt des Romans zu suchen«34. Diese beherbergen dagegen häufig die Wunschphantasien der Protagonistin, deren Projektionsbedürfnisse nicht verallgemeinert werden sollten. Auch die utopisch aufgeladenen Bilder bieten somit keinen klaren Ausweg an. Der Ausweg, den Franza schließlich findet, der spontane Suizid im Anschluss an die Vergewaltigung, darf allerdings im emphatischen Sinne nicht als Ausweg bezeichnet werden: »Ihr Denken riß ab, und dann schlug sie, schlug mit ganzer Kraft, ihren Kopf gegen die […] Steinquader in Gizeh und sagte laut, und da war ihre andre Stimme: Nein. Nein« (2, 323). Ob sie an der Verletzung durch den Mann, der ihren Kopf zuvor schon »gegen das Grab« (2, 322) gestoßen hat-
Geschlechtern aufscheinen. Das Thema veränderter Sexualpraktiken kommt ebenfalls vor. In der sogenannten Orgia-Szene begibt sich die Ich-Erzählerin in einen erotischen Kontakt mit drei arabischen Männern, der auch den Beischlaf umfasst, und der die »arabische Liebe« (1, 272) genannt wird. Das Ich beschließt: »Ich möcht nie mehr mit einem Mann allein schlafen, das ist zu fürchterlich, zu gefährlich« (1, 273). – Lennox hat die hier wirksamen kolonialen Phantasien Franzas herausgearbeitet (vgl. Lennox, »White Ladies« und »Dark Continents«, S. 19 f.). 33 Vgl. Uerlings, »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 150-151. 34 Ebd., S. 172.
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te, oder an der von ihr selbst zugefügten stirbt, bleibt offen. Damit ist der Gedanke aufgerufen, dass noch im Suizid ein Moment der Befreiung wirksam sein könne. In der Tat verweist Bachmann schon im Wüstenbuch auf die asymmetrischen Positionen von Männern und Frauen im – wie es dort heißt – »Kampf […] der ›Geschlechter‹«. Sie geht auf die »Ohnmacht von Frauen, deren Ehre verletzt worden ist«, ein und schreibt: »Sie können den Stärkeren«, also den Mann, »nicht wirklich bedrohen. Sie können nur sich selber den Tod geben.« Der Suizid erhalte in diesem Fall einen veränderten Stellenwert. Es sei »ein Mord, an einem anderen vollzogen« (1, 248) – an sich selbst. Angewendet auf Franza hieße dies, dass sie im Akt der Selbsttötung ihre Unterwerfung zurückwiese und ihre Handlungsfähigkeit rekonstituierte. Da dies aber allenfalls auf den Moment des Entschlusses zutrifft, der mit ihrem Tod endet, bestätigt ihr Suizid die Unterwerfung zugleich. Ihr Tod verweist sie einmal mehr auf die Opferrolle. Wenn es also in der Vergewaltigungsszene heißt: »Nein. Nein. Die Wiederholung. Die Stellvertretung« (2, 322), dann ist damit beides zugleich gemeint: die erzwungene Einfügung in die subalterne Position sowie die Rebellion dagegen. Solch prekäres Aufbegehren taugt nicht zur Begründung eines heroischen Widerstandsnarrativs. Die weiblichen Figuren des Todesarten-Projekts streifen die Gewaltverhältnisse nicht einfach ab und finden zu sich selbst. Vielmehr beruht Bachmanns späte Prosa auf der Prämisse, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die mit der etablierten Ordnung einhergehen, bis in die Konstitution des Selbsts hineinwirken.35 Selbstbefreiung kann also auch heißen: Befreiung von jenem Selbst, das aus einem Jahrtausende alten kulturellen Prozess hervorgegangen ist und dabei zugleich in das Herrschaftsverhältnis hineinmodelliert wurde. Es gibt in diesem Selbst keinen Winkel, der nicht vom Herrschaftsverhältnis mitgestaltet worden wäre, keinen Ort, der als ein herrschaftsfreier – also positiv, affirmativ – in Anspruch genommen werden könnte. Die dergestalt schon immer Unterworfenen können zwar durch die Geste der Zurückweisung, durch die Negation des Bestehenden im ›Nein‹, eine Differenz zum schlechten Bestehenden markieren, sie befreien sich aber damit keineswegs aus seinem Bannkreis. Deshalb kann auch Franzas sogenannte Krankheit im Buch Franza nicht geheilt werden, indem sich die Figur den omnipräsenten, krankmachenden Bedin-
35 Franziska Frei Gerlach hat das an Malina gezeigt und dabei auf die Nähe Bachmanns zur Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hingewiesen, vgl. dies.: Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden, Berlin: Erich Schmidt, 1998, S. 269-277.
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gungen entzöge. Das ganze Buch Franza kann aber als ein Versuch gelesen werden, Ansätze für eine Ablösungsbewegung zu finden. Die Negation, das ›Nein‹, mit dem Franza ihre Dissidenz erklärt, ist eine solche Form der Ablösung. Nur dass es keinen Spielraum eröffnet, sondern in den Tod mündet. Der radikale Bruch, die vollständige Aufkündigung des Mitmachens, führt in die Vernichtung jenes Selbsts, das von der Unterdrückung mit konstituiert wurde und diese dadurch als Konstituens in sich trägt. Es wendet sich gegen sich, um das hier wirkende Herrschaftsverhältnis zu beenden. In eine andere Richtung gewendet impliziert dieser Gedanke, dass die Person, wenn sie überleben möchte, das alles durchdringende Herrschaftsverhältnis nicht vollständig, also nicht abstrakt negieren darf, sondern die Existenz von Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen zeitweise und partiell in Kauf nehmen muss, während sie Wege sucht, ihnen anders als durch Suizid zu entgehen. Das Überleben fordert ein Sich-Aussetzen, einen Umgang mit der »Wiederholung« (2, 322). Die Wiederholung wird im Buch Franza als eine immer wieder notwendige Praxis und als Verhaltensweise geschildert. Darüber hinaus erhält sie auch poetologische Relevanz; sie führt auf die zentrale Stellung der Sprache und der Spracharbeit. Anstatt den Gewaltverhältnissen und den durch sie verursachten Versehrungen auszuweichen, wendet sich Franza ihnen paradoxerweise immer wieder zu. Dieses Verhalten setzt ebenso intentional wie unwillkürlich ein, es entspricht einem Willensakt und einem Bedürfnis. Es kommt zur Geltung in der Anteilnahme am Schicksal anderer Unterdrückter, wie zum Beispiel an dem der gefesselten Frau in Kairo, auf das Franza identifikatorisch reagiert, als sie erkennt, dass deren Situation eng mit der eigenen korrespondiert: »ich bin die Frau geworden […]. Ich liege dort an ihrer Statt. Und mein Haar wird, zu einem langen, langen Strick gedreht, von ihm in Wien [gemeint ist Leo Jordan, S.K.] gehalten. Ich bin gefesselt, ich komme nie mehr los« (2, 308). 36 In einer empathischen, mimetischen Identifikation erfährt sich Franza als jene Frau, sie erlebt deren Unterdrückung auch als die eigene. Anstatt sich abzuwenden, wiederholt und durchlebt sie deren Herabsetzung ein weiteres Mal. Dabei geht es um mehr als eine intellektuelle oder ästhetische Erfahrung. Die Formulierungen legen nahe, dass es sich um eine die ganze Person ergreifende Anverwandlung handelt. Ähnlich begibt sich Franza auch im Kontakt mit Körner unter Einsatz ihrer Existenz in die Rolle des Opfers. Ihr Wunsch, von ihm getötet zu werden, provoziert die Wiederholung der einstigen Gewaltverhältnisse im KZ ebenso wie die Wiederholung patriarchaler Gewalt, die sie aus dem Verhältnis zu Jordan kennt.
36 Ganz ähnlich bezieht sie die Tilgung der Bilder Hatschepsuts mit der Wendung »als wär kein Tag vergangen« (2, 275) auf ihre eigene Gegenwart.
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Der hier wirksame mimetische Impuls stellt auch eine Facette der mit der Wiederholung verbundenen poetologischen Seite dar. Eine andere verknüpft Bachmann mit der Sprache als Medium und mit der schriftstellerischen Arbeit an ihr, auf die in den folgenden Absätzen nun noch näher eingegangen werden soll. Dafür kann noch einmal die sprachlich hergestellte Beziehung von Wüste und Verwüstung betrachtet werden. Sie folgt einem poetischen Sprachgebrauch, denn die durch das geteilte Lexem suggerierte Zusammengehörigkeit kann nicht dekodiert, sie kann immer nur interpretiert werden. Die in ihr gelegene Behauptung, dass das eine, die Wüste, mit dem anderen, der Verwüstung, zu tun hätte, ist nicht beweisbar, der Grund, auf dem die Zusammengehörigkeit ruht, bleibt unauslotbar und damit enigmatisch. Wenn der Status der Verwüstung also immer nur interpretations- und versuchsweise angegeben werden kann, so entziehen sich zentrale Gegenstände des Romans der gesicherten Bestimmung. Dies entspricht der literarischen Orientierung Bachmanns, in deren Schreibweise sprachkritische und sprachphilosophische Motive eingegangen sind. In einem vielzitierten Interview sagt sie über ihr Verhältnis zur Sprache: »Daß man ein Wort anders ansieht; schon ein einzelnes Wort […] ist doch schon mit sehr vielen Rätseln beladen« und bezieht sich dann auf einen berühmten Aphorismus von Karl Kraus, in dem er schreibt: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.«37 Nicht einmal auf der elementaren Ebene des Wortes bietet die Sprache also einen festen Stand, und auch darüber hinaus findet sich in ihr keine Sicherheit des Ursprungs. Wo hingegen suggeriert wird, die Sprache könne anders, vereindeutigend, gebraucht werden, setzt Bachmanns Sprachkritik ein. Dabei wendet sie sich gegen alles, was sie mit Kraus ›die Phrase‹ nennt: »in der Ansicht, in der Meinung […] regiert die Phrase«38. Alle, einschließlich der Schriftsteller, seien von ihr bedroht: »die Sprache, die wir sprechen und fast alle sprechen, ist eine Sprache aus Phrasen.«39 Jeder Sprachgebrauch tendiert zur Phrasenhaftigkeit. Wenn Bachmann die Phrase als sprachliche Form der Meinung versteht, dann greift sie zunächst auf die seit der Antike bestehende Unterscheidung von Meinung, Doxa, und gesichertem philosophischen Wissen zurück. Wird die Phrase als omnipräsent gedacht, bedeutet das: in jeder sprachlichen Äußerung ist ein Anteil von Meinungshaftigkeit enthalten. Dieser umfasst keineswegs nur die alltäglichen Formen des Vorurteils, er reicht vielmehr in das hinein, was in der Hermeneutik die Vorurteilsstruktur genannt wird, also in die
37 Karl Kraus: Schriften, Bd. 8: Aphorismen, hg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 291. 38 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 91. 39 Ebd., S. 84.
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unhintergehbare Perspektivierung, die mit jeder raumzeitlichen und persönlichen Situiertheit gegeben ist. Das gesicherte philosophische Wissen, das einst als Gegenbild zur Meinung fungierte, fällt allerdings bei Bachmann – wie in der gesamten Kunst der Moderne – als positiver, affirmativer Bezugspunkt aus. Im Buch Franza diskreditiert und verabschiedet die Autorin die wissens- und wissenschaftsgläubige Haltung in der Figur des Leo Jordan. Bachmanns künstlerischer Weg führt weder zur Wiedereinsetzung des Wissens noch zur Restituierung der Sicherheit in der Sprachverwendung; er führt vielmehr zum Umgang mit dem herrschaftsdurchsetzten, infizierten Sprachmaterial. Während die tradierte, omnipräsente Sprache eine phrasenhafte sei, müsse es die Literatur als ihre Aufgabe sehen, der Phrase zu widerstehen, indem sie eine andere Verwendung der Sprache ins Werk setzt. Für diese Praxis reserviert Bachmann den Begriff der Darstellung: »Ein Schriftsteller hat […] keine Phrasen zu verwenden. Jedes Wort, ob es nun ›Demokratie‹ oder ›Wirtschaft‹ oder ›kapitalistisch‹ oder ›sozialistisch‹ heißt, muß er in seinem Werk vermeiden, um darstellen zu können. Er kann sie jemand in den Mund legen, aber er selbst kann nicht so schreiben.«40 Damit hebt Bachmann die literarische Arbeit an der Sprache von anderen Sprachverwendungen ab. Dirk Göttsche hat die Bedeutung dieser Spracharbeit für ihre Texte treffend zusammengefasst: »Die konkrete utopische Kraft der Literatur gründet in ihrer Sprachreflexion und in ihrer ästhetischen Arbeit an der gegebenen Sprache der Gesellschaft und ihrer Diskurse.«41 In der Darstellung erhält sie eine Gestalt. Das Thema der Wiederholung erlangt, wird es auf die Sprache bezogen, einen poetologischen Stellenwert, denn Wiederholung bedeutet hier, dass Worte benutzt werden müssen, die unkontrollierbare Bestandteile ungeklärter Herkunft enthalten und Wendungen, die zur Phrasenhaftigkeit tendieren. Das Patriarchat, der Kolonialismus und andere Gewaltverhältnisse sind in der Sprache – wie in der Kultur überhaupt – sedimentiert. Sie werden mit jeder Artikulation in unterschiedlichem Ausmaß aktualisiert. Kraus hat für den Ersten Weltkrieg gezeigt, dass sich die Bereitschaft zur Denunziation des Gegners, zu seiner Verächtlichmachung, Ausgrenzung, Verfolgung und Tötung, an der Sprachverwendung ablesen lässt. Wenn Sprache und Mordbereitschaft dergestalt Hand in Hand gehen, wirkt der ›Virus Verbrechen‹ auch in der Sprache. Folgerichtig erklärt Bach-
40 Ebd., S. 91. 41 Dirk Göttsche: Politische Sprachkritik in Ingeborg Bachmanns Kritischen Schriften, in: ders. et al. (Hg.): Schreiben gegen Krieg und Gewalt. Ingeborg Bachmann und die deutschsprachige Literatur 1945-1980, Göttingen: V & R Unipress, 2006, S. 49-64, S. 51.
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mann, es sei die Aufgabe der Schriftsteller, die vorgefundene Sprache zu »zerschreiben«42. Während Bachmanns Protagonistin scheitert, weil sie an der scheinbar unabwendbaren Wiederkehr der Unterdrückung zugrundegeht, gelingt die literarische Arbeit der Autorin am Todesarten-Zyklus dort, wo sich inmitten der herrschafts- und gewaltdurchsetzten Sprache etwas sich ihr Entziehendes geltend macht. Dazu bedarf es einer Wiederholung, der jedoch durch die künstlerische Bearbeitung ein abweichendes Moment implementiert wird. Erst in der Darstellung, als einer variierenden, Differenz erzeugenden, widerständigen Wiederholung – einer Refiguration –, wird das Schreiben zum Zerschreiben des Gewaltzusammenhangs, die Komposition zur Dekomposition. Bachmanns Spracharbeit vollzieht sich an der gegeben Sprache ebenso wie in ihr. Ein realistisches Darstellungskonzept, in dem die Sprache hinter der Beschreibung der sogenannten Wirklichkeit zurückträte, ist diesem Begriff der Darstellung fremd. Im Buch Franza gibt es deshalb keine Landschaftsbeschreibungen der Wüste, wie sie in Reisereportagen zu finden wären. Vielmehr werden die verwendeten Textelemente intern aufeinander bezogen und innerhalb dieses Verweisungssystems mit Bedeutung aufgeladen. Zu den Bedeutungen, die den Wörtern und Begriffen in den natürlichen Sprachen zukommen, treten die in der Komposition entstehenden. Einige bilden im Buch Franza Knotenpunkte; zu ihnen zählt ›Ägypten‹. Mit ›Ägypten‹ komponiert Bachmann ein vieldeutiges Zeichen ins Zentrum des Wüstenkapitels. Es bezeichnet mehr als den Ort der Handlung, an dem Franza schließlich stirbt, mehr als das moderne Land, dessen politische Verhältnisse sowie dessen geografische und klimatische Gegebenheiten. Zusätzlich werden ihm die symbolisch aufgeladenen Orte der Wüste und der Zivilisation zugeordnet, die mit dem Thema der Gewaltverhältnisse eng verknüpft sind. Franzas tödliche Verletzung ereignet sich am Rande der Wüste, noch im Einzugsbereich der Zivilisation. Leitmotivartig kehrt der Wüstensand in der Passage wieder: In Gizeh »ging die Stadt im Sand verloren« (2, 319). 43 Die gestaltlose Wüste trifft auf die Monumente der Zivilisation, und zwar – mit der Stadt – zugleich auf die moderne wie auf die viele tausend Jahre alte: Franza »watete durch den Sand, der ihre ganze Kraft brauchte, mit einer Hand die großen Quader berührend wie ein Geländer« (2, 319). Stadt und Pyramide bilden ein Kontinuum der Zivilisation; ›wie ein Geländer‹ gewährt sie Orientierung. Indem Franza diesen Wegzeichen folgt, gelangt sie ein weiteres Mal an einen Peiniger und damit in die tödliche Wiederholung. Bachmann setzt Franzas Reise in die Wüste und ihren Tod unter
42 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 84. 43 Vgl. auch: »Sie hörte den Sand hinter sich rieseln« (2, 321).
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den Titel »Die ägyptische Finsternis« (2, 248); das Schicksal der Protagonistin rechtfertigt diese Charakterisierung. Auch die Schlussworte des Kapitels: »Die ägyptische Finsternis, das muß einer ihr lassen, ist vollkommen« (2, 333), korrespondieren mit dem Handlungsverlauf. Zugleich funktionalisiert Bachmann diese Wendung für die darstellerische Eigenlogik ihres Kunstwerks, denn die Wendung aktualisiert ein intertextuelles Ereignis: Im Alten Testament ist die Finsternis die neunte von zehn Plagen, die Gott gegen den Pharao sendet, damit dieser seine Meinung ändere und die Israeliten aus Ägypten ziehen lasse. 44 Bachmann implementiert ihrer Darstellung von ›Ägypten‹ also auch eine religiösmythologische Ebene. Der damit eingeführte Israelbezug aktiviert darüber hinaus zeitgeschichtliche und persönlich-biografische Seiten.45 Der Quader, an dem Franza tödlich verletzt wird, gehört zur großen Pyramide von Gizeh, die wie kaum ein anderes Bauwerk das alte Ägypten, die Zeit der Pharaonen, repräsentiert. An dieser Hinterlassenschaft aus biblischer Zeit und aus der Frühphase der Zivilisation kommt Franza zu Tode. Wenn Martin nach ihrem Tod resümiert: »Ägypten war ein Irrtum […] gewesen […] ein vieltau-
44 Vgl. 2. Mose 10, 21-22. – Die Bibel wird hier und im Folgenden mit den etablierten Abkürzungen für die einzelnen Bücher und der eingeführten Zählweise zitiert, und zwar aus der folgenden Ausgabe: Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017, hg. v. Heinrich Bedford-Strohm, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2016. – Dass Franza Vergewaltiger »einen Stock in der Hand« (2, 320) hält, verweist motivisch ebenfalls auf die Plagen. Dort wird u. a. Aarons Stab in eine Schlage verwandelt (vgl. 2. Mose 7, 10). 45 Einen intertextuellen Bezug, der auch biografisch relevant ist, bietet Paul Celans Gedicht In Ägypten (vgl. Paul Celan: In Ägypten, in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Erster Band: Gedichte I, hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 46). Das Gedicht erschien 1952 in der Sammlung Mohn und Gedächtnis. Celan datierte es auf den 23.6.1948. Auf demselben Blatt widmete er es Ingeborg Bachmann: »Für Ingeborg« und: »Der peinlich Genauen, / 22 Jahre nach ihrem Geburtstag« (Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel, hg. und kommentiert von Bertrand Badiou u. a., Frankfurt am Main 2008, S. 7). In einem Brief an Bachmann vom 31.10.1957 bekräftigt er den Zusammenhang des Gedichts mit der Freundin: »Denk an ›In Ägypten‹. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten« (Herzzeit, S. 64). Bachmann hatte einmal an Celan geschrieben: »Für mich bist Du aus Indien oder einem noch ferneren, dunklen, braunen Land, für mich bist Du Wüste und Meer und alles was Geheimnis ist.« (Brief vom 24.6.1949, Herzzeit, S. 11). – Celans Gedicht verweist auch auf die Shoah.
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sendjähriger grandioser Irrtum« (2, 330), unterstreicht Bachmann damit jene Konnotationen von ›Ägypten‹, die das unheilvolle Kontinuum der Kulturgeschichte betonen. In diesen versteinerten Herrschafts- und Gewaltverhältnissen erneuert sich von Generation zu Generation das den Mord in sich tragende ›Virus Verbrechen‹. Wenn in der Tat die Darstellung die Phrase überwindet, dann zeigt ›Ägypten‹ modellartig, wie das geschieht. Bachmann reichert das Wort mit einer Vielzahl Konnotationen an, von denen im Vorangegangenen nur wenige genannt wurden. Jede ist präzise auskomponiert, alle weisen in unterschiedliche Richtungen und knüpfen an andere Stränge an. Thematisiert werden – unter anderem – das historische Ägypten der Pharaonen (Pyramide, Hatschepsut), das mythologische der Bibel (Gotteserscheinung, Plagen), das kolonialisierte (Briten) und – in alter Zeit – selbst kolonialisierende, das mit dem Dritten Reich verbundene (Dr. Körner, El Alamein), das topografische (Wüste, Meer), das geostrategische (Israel, Sudan), das politische (Assuan-Staudamm), das arabisch-islamische, der touristische Ort, der ägyptische Alltag (Frau in Kairo) sowie zahllose Imaginationen, die sich als Hinweise, Konnotationen oder als Anspielungen an das Wort anlagern. ›Ägypten‹ bildet einen Knotenpunkt vieler Bedeutungen, den Bachmann in seinen einzelnen Teilen Stück für Stück auskomponiert. Zugleich klar konturiert und in der Mannigfaltigkeit nicht zu fassen, entzieht sich dieses Textelement jeder festlegenden Bedeutungszuschreibung. Keine einfache Positionierung kann es fassen, kein einzelnes Urteil wird ihm gerecht. In seiner Komplexität widersetzt es sich der Meinung und der Phrase. Wie ›Ägypten‹, so ergeht es auch anderen narrativen Elementen in Bachmanns Schreibweise. Franzas Todesumständen wird keine Phrase gerecht, während die Festlegung der Protagonistin auf die Position des Opfers leicht zur Phrase gerinnt. Auch die in dem Romanfragment aufgerufenen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse lassen sich nicht in einem Satz zusammenfassen oder durch eine Handlungsorientierung federstreichartig aus der Welt schaffen, wie es die Tendenzkunst und die engagierte Literatur gerne hätten. In der Darstellung entsteht ein sprachliches Artefakt, der eine Vielfalt von Aspekten integriert und auf den zum Beispiel auch die Metapher vom Virus Verbrechen deutet. Im Kunstwerk werden die Verhältnisse durch die Darstellung reflexiv. Es tritt aus den alltäglichen Vollzügen heraus und konstituiert sich als ein Gegenüber. Dadurch werden die Verhältnisse, die in ihm zur Darstellung kommen, an ihm kenntlich – jedenfalls so weit sie dem Bewusstsein überhaupt zugänglich sein können. Wo die Gewaltverhältnisse so tief in den Wahrnehmungs- und Denkapparat hineingebildet sind, dass sie als zweite Natur undurchschaut bleiben, herrscht, um einmal mehr metaphorisch zu sprechen: Finsternis.
Frauenfiguren und Geschlechterverhältnisse in Shukri Mabkhouts Debütroman Ettalyani Imen Taleb »Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es« Simone de Beauvoir1
1. EINLEITUNG Den Status der tunesischen Frauen radikal zu verändern und aus ihnen verantwortungsvolle, selbstbewusste Staatsbürgerinnen zu machen, war eines der Hauptziele des ersten Präsidenten der tunesischen Republik nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba (1903-2000). Das Ideal der Gleichheit der Geschlechter und gleicher Bildungschancen, zu denen der Reformer Tahar Haddad 2 ihn inspiriert hatte, waren Ziel für Bourguibas Gleichberechtigungspolitik und das Personenstandsgesetz (Code du Statut Personnel), das am 13. August 1956 verabschiedet wurde und Zeichen der Modernisierung des Staates nach dem Muster aufgeklärter europäischer Staaten ist. Wenn man Tunesien mit der arabischislamischen Welt im Hinblick auf die Rolle der Frauen in der Gesellschaft und ihre ökonomische, soziale und akademische Stellung vergleicht, stellt sich heraus, dass Tunesien zweifelsohne einen herausragenden Platz einnimmt. Die Ideen der Frauenemanzipationspolitik prägen auch das literarische tunesische Leben und es werden tunesische Frauen in vielen literarischen Werken als 1
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt, Hamburg 1951, S. 265.
2
Tahar Haddad, aṭ-ṭāhir al-ḥaddād (1899-1935) war ein tunesischer Schriftsteller, Sozialreformer und Aktivist für die Emanzipation der Frauen. Sein bekanntestes Buch heißt »Die tunesische Frau in Gesetz und Gesellschaft«. al-Ḥaddād, aṭ-Ṭāhir: Imraʼatunāfīaš-šarīʻawa al-muǧtamaʻ, 1930.
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frei, emanzipiert und sogar revolutionär in den Mittelpunkt gestellt. Der Roman Ettalyani3 (Der Italiener) des tunesischen Schriftstellers Shukri Mabkhout zeichnet ein Bild der verschiedenen Facetten weiblicher Emanzipation in Tunesien. Shukri Mabkhout, 1962 in Tunis geboren, ist ein tunesischer Literaturwissenschaftler, Kritiker und Schriftsteller. Neben seinem Debütroman hat er 2015 eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel Madame la Présidente4 und 2016 den Roman Baganda5 veröffentlicht. Für seinen erfolgreichen Debütroman Ettalyani gewann erden International Prize for Arabic Fiction 2015. Der Romanerzeugte Kontroversen, nachdem er in den Vereinigten Arabischen Emiraten zunächst verboten war, dann aber nach der Preisverleihung doch freigegeben wurde. In Mabkhouts Roman wird das hierarchische Verhältnis der Geschlechter dargestellt, indem jede weibliche Figur aus ihrer jeweiligen Perspektive und mit ihren eigenen Kräften gegen die Dominanz durch das männliche Geschlecht kämpft. Insofern kann der Roman als Teil einer Entwicklung hin zur literarischen Analyse von Geschlechterverhältnissen gelesen werden: »Die Frage nach der Geschlechterdifferenz als möglicher Ursache […] tritt mehr und mehr in den Hintergrund und die Analyse des Geschlechterverhältnisses als einer hierarchischen Organisationsform sozialer Beziehungen gewinnt an Bedeutung. An die Stelle vornehmlich subjekttheoretisch orientierter Konzepte zur Analyse der Schwierigkeiten, mit denen Frauen in männlich dominierten Berufsbereichen konfrontiert sind, treten gesellschafts- und strukturtheoretisch orientierte Konzepte der Analyse sozialer Schließungsund Ausgrenzungsprozesse.«6
Der Themenkomplex von Geschlechterdifferenz und Geschlechterverhältnissen soll am Beispiel der Romanfiguren untersucht werden. Bei der Betrachtung der weiblichen und männlichen Protagonist*innen wird gefragt, wer jeweils erzählt und aus wessen Sicht die dargestellte Welt und die Geschlechterkonstruktionen geschildert werden. In einem ersten Schritt untersuche ich die Veränderungen
3
Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī. Riwāyah, Tūnis: Dār al-Tanwīrlil-Ṭibāʻahwa-al-Našr 2014.
4
Mabḫūt, Šukrī: al-Sayyida al-raʾīsa. Qiṣaṣqaṣīra, al-Qāhira: Dār al-ʿAin li-l-Našr 2016.
5
Mabḫūt, Šukrī: Bāghandā. Riwāyah, Bayrūt: Dār al-Tanwīrlil-Ṭibāʻahwa-al-Našr 2016.
6
Thon, Christine: Frauenbewegung im Wandel der Generationen: Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen, Bielefeld: transcript 2008, S. 108.
Geschlechterverhältnisse im Roman Ettalyani | 297
der Protagonistin Zina (Zīna) in ihrer Beziehung zu ihrem Mann Abdel Nasser (ʿAbd al-nāṣr) ebenso wie die im Roman dargestellte Männlichkeit. Konträr dazu steht die dargestellte Weiblichkeit, die im weiteren Lauf des Beitrags betrachtet werden soll. In den Lebensbeschreibungen der weiblichen Hauptfigur wird die Frage aufgeworfen, wie sich Selbständigkeit und Liebe vereinbaren lassen, oder ob die Liebe im Kampf um die Selbstbehauptung keine Rolle spielt. Diese Punkte sollen durch die Fokussierung auf die Hauptfigur Zina untersucht werden. Liebe und Erotik gehören zu den Grundmotiven des Werks; Inszenierungen von Körperlichkeit, Sexualität und Erotik nehmen einen hohen Stellenwert ein. Anhand der Auseinandersetzung mit einer weiteren weiblichen Protagonistin, Nejla (Naǧlā), sollen diese Motive näher betrachtet werden. Sie ist für das dargestellte erotische Weiblichkeitsbild von Bedeutung. Als andere weibliche Figuren im Roman fungieren Zayneb (Zaynib), die Mutter der männlichen Hauptfigur Abdel Nasser, und Lella Jneyna (Lallāǧnayna), die als Vertreterin einer traditionellen Weiblichkeit und ohne weiterführende Bildung geschildert wird. Zwar stehen sie stellvertretend für die Rolle der Hausfrauen, jedoch werden sie als starke Frauen dargestellt. Der Beitrag geht damit den folgenden Fragen nach: Welche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit werden im Roman entworfen? Mit welchen Problemen der Frauen beschäftigt sich der Roman? Wie werden die Identitäten der weiblichen Figuren gestaltet? Welche Gründe führen bei den Frauenfiguren zu einem Identitätsverlust? Wie gehen die dargestellten Figuren mit dem Konflikt zwischen ihrer Selbstbehauptung und der patriarchalischen konservativen Umwelt um? Wie werden die zwischenmenschlichen Beziehungen, besonders die zwischen Männern und Frauen dargestellt? Wie ist das Verhältnis der Frauenfiguren zum Männlichen? Was verstehen die Frauen unter Freiheit bzw. Emanzipation?
2. DER ROMAN ETTALYANI Shukri Mabkhouts Debütroman ist 2014 erschienen. Er umfasst zwölf Kapitel unterschiedlichen Umfangs. Das Werk ist nicht nur in Tunesien auf ein großes Echo gestoßen, sondern auch in den anderen arabischen und westlichen Ländern. Das Thema des Romans ist der Kampf der weiblichen Figuren um ihre Persönlichkeitsrechte, berufliche Emanzipation und Gleichberechtigung in einer patriarchalischen Gesellschaft. Dabei folgt die Handlung der männlichen Hauptfigur Abdel Nasser, der aufgrund seiner Schönheit Ettalyani, der Italiener, genannt
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wird.7 Die Ereignisse des Romans spielen im Tunesien der späten 1980er und frühen 1990er Jahre und untersuchen die politischen Auseinandersetzungen zwischen Linken, Islamisten und den Kräften, die Zine el-Abidine Ben Ali an die Macht brachten. Der Ort der Handlung ist die Hauptstadt Tunis. Abdel Nasser studiert Jura und war als Kommunist in der linksradikalen Studierendenbewegung aktiv. Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre lernt er die schöne und ebenfalls regimekritische Zina kennen. Er ist von ihrer Schönheit und von ihrer logischen, tiefsinnigen Kritik fasziniert. Ihre Bekanntschaft wird zu einem Wendepunkt im Leben von Abdel Nasser. Zina ist eine Studentin, die vom Land kommt und in der Hauptstadt Philosophie studiert. Sie tritt völlig unerwartet in sein Leben und ist keiner politischen Ideologie verpflichtet. Sie ist vielmehr eine philosophische Aktivistin, die auf dem Campus der Universität eine mitreißende, kritische Rede hält.
3. AUKTORIALES ERZÄHLEN Die Erzählweise des Romans folgt dem auktorialen Erzählen. Er ist durch einen deprivatisierten und objektivierenden Erzählstil gekennzeichnet, da der Erzähler allwissend und kommentierend ins Geschehen eingreift. Durch die Perspektive des allwissenden Erzählers wird eine kritische Auseinandersetzung mit den geschilderten Geschlechterverhältnissen ermöglicht, weil der allwissende Erzähler die Geschichte aus seiner eigenen Sichtweise und Betrachtung darstellt und kommentieren kann. Er lässt die Leser*innen die Welt der Figuren nicht aus deren Augen wahrnehmen: »Das Konzept der auktorialen ErzählerIn, das im 19. Jahrhundert dominiert, impliziert dagegen, dass eine allwissende ErzählerIn die Begebenheiten aus seiner[sic] übergeordneten Sichtweise erzählt, aber auch mit den Augen der verschiedenen Figuren sehen, in den Gedanken der verschiedenen Figuren lesen kann. Wahlweise können so die Perspektiven der verschiedenen Figuren privilegiert oder marginalisiert werden.«8
7
Dieser titelgebende Spitzname verweist auf ein in Tunesien hegemoniales Schönheitsideal, das zum Beispiel mit »italienischem« Aussehen verbunden wird.
8
Gantert, Ruth/ Kelan, Elisabeth/ Saxer, Siylle: »Die narrative Konstruktion von Geschlecht im Gespräch«, in: Dominique Grisard/ Jana Häberlein/ Anelis Kaiser/ Sibylle Saxer (Hg.), Gender in Motion: Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2007, S. 140.
Geschlechterverhältnisse im Roman Ettalyani | 299
Als Allwissender Erzähler in Ettalyani fungiert eine Figur, die Professor der Philosophie und ein Freund sowohl der männlichen als auch der weiblichen Hauptfiguren ist. Er berichtet mit einer Mischung aus Begeisterung und Sympathie und schildert detailgetreu das Leben der Figuren mit narrativen, beschreibenden und manchmal erklärenden Äußerungen zu politischen Ereignissen und der Komplexität der Beziehungen zwischen den weiblichen und männlichen Hauptfiguren. Er kennt die Biographie jeder Hauptfigur von ihrer Kindheit über die Studentenphase in den 1980er bis zu den 1990er Jahren bis zur Reife und erscheint als Vermittler und Vertrauter der Hauptfiguren. Er ist fähig, das Innere der Protagonisten zu zeigen und sogar ihre Gedanken und Emotionen zum Ausdruck zu bringen: »Er berichtet das Geschehen in der erzählten Welt [...] aus einer gottähnlichen Position, die es ihm erlaubt, nach Belieben Ereignisse der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu montieren, um kausale Strukturen offenzulegen.«
9
Es ist ihm möglich, sowohl das Aussehen der männlichen und weiblichen Figuren als auch die Vorgänge im Kopf der Protagonist*innen zu beschreiben ist. Darum handelt es sich um eine Nullfokalisierung im Sinne von Gérard Genettes Modell: »Dabei umfasst die Nullfokalisierung zwei eigentlich recht unterschiedliche Phänomene. Einerseits handelt es sich hier um die gottähnliche Perspektive des klassischen allwissenden Erzählers, der häufig in auktorialen Erzählungen auftaucht. Diese Perspektive ist so breit, dass sie im Grunde gar nicht mehr als bestimmte Perspektive auszumachen ist – daher der Ausdruck ›Nullfokalisierung‹. Andererseits kann ein Erzähler auch mehr wissen als jede einzelne der von ihm beschriebenen Figuren, wenn er das Wissen mehrerer Figu10
ren einfach addiert.«
9
Lahn, Silke/Meister, Jan C./Aumüller, Matthias: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S. 68.
10 Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme (= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium, Bd. 6), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004, S. 120.
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4. DIE GESCHLECHTERSTEREOTYPE UND -VERHÄLTNISSE IN ETTALYANI 4.1 Die männliche Hauptfigur Abdel Nasser Abdel Nasser stammt aus der tunesischen Bourgeoisie von Tunis. Er führte die kommunistische tunesische Partei an und tritt selbstbewusst auf. Anhand der Hauptfiguren Abdel Nasser und Zina werden im Roman das Studentenleben am Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts und die Konflikte zwischen den Kommunisten und Islamisten dargestellt. Nachdem er sein Jurastudium abgeschlossen hat, arbeitet er als Journalist. In dieser Phase ändern sich seine Persönlichkeit und seine Prinzipien. Es geht um die Zensur, die Heuchelei und die Verfälschung, die die Presse im Dienst des politischen Systems betreiben musste. Es ist eine Scheinwelt voller Verzerrungen und Umdeutungen, Verdrängung und Verschweigen: »Die Welt der Presse ist eine schimmelige Welt, sie ist voller Verrat, voller Gier und Verachtung«.11 Da er als Jurist keine Arbeit findet, ist er gezwungen, als Journalist zu arbeiten und muss sich der Zensur des Systems unterwerfen. Seine Anpassung an das herrschende System und das damit verbundene Gefühl, moralisch versagt zu haben, markiert die Entfremdung des Subjekts von seiner Umwelt und von sich selbst. Deutlich wird das vor allem in einem Abschnitt über die Nacht des Machtwechsels von Bourguiba zu Ben Ali. Obwohl er unzufrieden mit der Machtübernahme ist, muss er eine Lobrede auf Ben Ali schreiben. Hier zeigt der Roman an seiner männlichen Hauptfigur die Zerrissenheit zwischen seinen politischen Überzeugungen und den Interessen der regimetreuen Funktionäre: »Nasser wird Journalist in einer staatlichen Zeitung, in der er nicht mehr unabhängig bleiben kann; die Zensur verlangt ihm erniedrigende Verrenkungen ab. Doch die zunehmende islamistische Gefahr lässt vielen Intellektuellen eine Verbrüderung mit dem Regime als das kleinere Übel erscheinen.«
12
Die politischen Schwierigkeiten greifen auf Nassers Privatleben über. Zina, die inzwischen seine Ehefrau geworden ist, verachtet seine Unterwerfung gegenüber dem herrschenden diktatorischen System. Mabkhout präsentiert uns eine männli-
11 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī. Riwāyah, 6. Auflage, Tunis/ Kairo/ Beirut: Dār alTanwīrlil-Ṭibāʻahwa-al-Našr 2015, S. 235. 12 https://de.qantara.de/inhalt/shukri-al-mabkhouts-roman-der-italiener-scheitern-aufganzer-linie vom 18.06.2015.
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che Hauptfigur, die mehrere Frauen kennenlernt. Diese Figur sucht ihre männliche Selbstbehauptung in der sexuellen Beziehung zu Frauen, weil er seine Selbstbehauptung gegenüber dem herrschenden Regime aufgegeben hat. Sex und Frauen sind für ihn eine Flucht aus der Monotonie seiner sinnlosen Existenz. 4.2 Die weibliche Hauptfigur Zina Im Mittelpunkt des Romans steht die starke Persönlichkeit von Zina, die sich von den Abhängigkeitsverhältnissen, in denen sie lebt, losreißt. Sie wird als eine unabhängige Frau geschildert, die keine Form der Autorität akzeptiert, weder die ihres Vaters, ihres Bruders, ihres Professors noch ihres Ehemanns Abdel Nasser. Zina hat emanzipierte und rebellische Ideen und wird als eigenwillig und selbstständig in ihren Entscheidungen dargestellt. Ihr Erfolg im Studium und ihre Karriere, ihre Freiheit und Selbstbehauptung sind für sie wichtiger als ihre Beziehung zu ihrem Mann Abdel Nasser. Sie ist sowohl der kommunistischen als auch der islamistischen Ideologie gegenüber kritisch eingestellt, weil die extremistische Ideologie der Islamisten und die kommunistische Ideologie von Lenin und Mao Zedong für sie nichts mit der tunesischen Realität zu tun hat. So sagt sie: »Die Islamisten bleiben in einer heiligen Unwissenheit und die Kommunisten sprechen über verlogene Grundlagen.«13 Sie kritisiert in vielen Fällen die Widersprüche in der politischen Überzeugung ihres Mannes Abdel Nasser und seinem Verhalten im Berufsleben. Sie beobachtet, dass er seinem politischen Glauben nicht treu ist. 4.3 Das Verhältnis von Zina und Abdel Nasser zueinander Mabkhouts weibliche Protagonist*innen sind rebellische Figuren. Sie brechen scharfe Grenzziehungen auf, lassen Trennlinien verschwimmen und zeigen Möglichkeiten des flexiblen Rollenwechsels zwischen den Geschlechtern. Sie möchten selbstbestimmt leben, sich von der gesellschaftlichen Tradition emanzipieren und von der politischen Zensur befreien. Betrachtet man das Bild, das Mabkhout von seiner starken weiblichen Figur, Zina, zeichnet, ist zunächst festzustellen, dass sie so emanzipiert dargestellt wird, dass sie sich von allen gewohnten, traditionsgebundenen Rollen lösen kann, um ein Leben nach dem Idealbild der europäischen Frauen zu führen:
13 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 58.
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»Er staunte über ihre Französischkenntnisse […] Es genügt, wenn sie sich wie Pariser Damen anzieht, damit er meint, sie sei eine französische, amerikanische oder deutsche Wissenschaftlerin und keine Philosophiestudentin aus einer entlegenen tunesischen ländli14
chen Region.«
Ihre Lektüre und Beschäftigung mit der Philosophie von Hannah Arendt stärken ihre Haltung gegenüber der männlich dominierten Gesellschaft: »Ihr Traum ist, eine Professorin für politische Philosophie an der Universität zu werden. Sie las eifrig Hannah Arendt und dachte, dass die muslimischen Araber das Reich der Freiheit erst betreten, wenn eine Dekonstruktion der Beziehungen, die auf der Idee von Herrscher und Untertan basieren, und eine Enthüllung der patriarchalen Grundlage des Herrschaftsbegriffs stattfinden.«
15
Zina hat ihre Masterarbeit über die Philosophie Hannah Arendts geschrieben und hat sogar die deutsche Sprache gelernt, damit sie sie besser versteht. Wenn man genau betrachtet, wie der Erzähltext die Persönlichkeit Zinas schildert, wird deutlich, dass ihre Handlungen und Einstellungen nach dem Vorbild Hannah Arendts inszeniert werden: Sie glaubt an ihre Gedanken. Sie hat keine Angst vor den Angriffen männlicher Intellektueller, die sie als »Prostituierte der proletarischen Revolution oder willenlose Mitläufer der Revolutionsführung« 16 bezeichnet, sondern nimmt sich »die Freiheit, die Linken und Rechten zu kritisieren.« 17 Sie spielt die Rolle einer Denkerin, die zu keiner politischen Richtung gehört und fungiert als eine Intellektuelle, die alles ohne Kalkül kritisiert. In dieser Rolle feuert sie auf alles, was sich bewegt. Immer fragt und hinterfragt sie: »Sie erschüttert das Bestehende.«18 Zina ist quasi die tunesische Hannah Arendt. Durch ihren rebellischen, kompromisslosen Charakter und ihre umfangreichen Kenntnisse erschüttert sie die Gedanken von Abdel Nasser. Ihr gegenüber fühlt er sich schwach und unwissend, obwohl seine Freunde ihn als Vorbild betrachten. Im Roman wird Zina mit verschiedenen Bezeichnungen charakterisiert; sie wird als »gefährliche Philosophin«, »reine Vernunft«, »weltanschaulicher Dämon« und als »starke Kämpferin« bezeichnet. Sie verkörpert das Bild einer mo-
14 Ebd., S. 69. 15 Ebd., S. 81. 16 Ebd., S. 50. In wörtlicher Übersetzung heißt es im zweiten Teil des Satzes »Kuh der Revolutionsführung«. 17 Ebd., S. 60. 18 Ebd., S. 60.
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dernen, tunesischen Frau: »Sie ist die Tochter Bourguibas, der die Frauen stärker und dominanter gegenüber den Ehemännern, den Vätern und den Brüdern gemacht hat.«19 Stellvertretend verkörpert sie die Generation der tunesischen Frauen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die den Weg des Studiums, der Wissenschaft und der Arbeit als Form der Selbstverwirklichung gewählt hatten. Im Laufe ihrer Persönlichkeitsentwicklung versucht sie sich vom patriarchalischen Kreislauf zu befreien. Dabei zeigt sie stets ihre starke Seite, argumentiert gegen die absolute Liebe und beteuert, auch ohne Abdel Nasser weiterleben zu können. Zina als Frau, die auf Ehe und Mutterschaft verzichtete, hat den Weg des Geistes und der Wissenschaft gewählt, denn »die Begierde des Schreibens und die Liebe zur Weisheit sind für sie stärker als Liebe und Sex.«20 Aus feministischer Perspektive könnte man ihre Abtreibung als eine sinnbildliche Ablehnung der Reduktion auf die Rolle einer Hausfrau und Gebärmaschine interpretieren: »Und wäre ich eben egoistisch, wie du sagst, ich habe mir die Freiheit genommen, über meinen Körper zu entscheiden, ohne dich zu fragen. Jetzt weißt du [über die Abtreibung] Bescheid. Denk doch, was du willst…«
21
Zina lehnt den Zyklus des weiblichen Sexuallebens ab. Sie sieht in Schwangerschaft und Geburt nicht den Orientierungspunkt einer weiblichen Identität. Die Gestaltung der Figur erscheint so als Herausforderung der patriarchalischarabischen Denkweise. In einem Gespräch zwischen ihr und Abdel Nasser legt sie ihre Ansicht über den arabisch-muslimischen Mann dar. Sie bezeichnet ihn als einen Jäger, der jede Gelegenheit nutzt, um die Beute bzw. die Frau zu ergreifen. Diese Eigenart bezeichnet sie als die Natur des Mannes, der das Geld, den Reichtum, die Frau und die Macht monopolisiert. Sie versucht auch die Polygamie anthropologisch zu erklären. Ihrer Ansicht nach hat Polygamie nichts mit der islamischen Religion zu tun. Die Polygamie sei eine Art männlicher Besitzergreifung und der Ehevertrag in diesem Fall nichts anderes als ein »Handelsgeschäft«.22 Zinas Geschlechteranthropologie ist weitreichend, wenn man ihren philosophischen Blick hinsichtlich des Ehebruchs analysiert. Sie behauptet, dass sich
19 Ebd., S. 47. Hier wird die Ambivalenz der Berufungen auf Bourguiba deutlich, vgl. dazu den Beitrag von Ina Khiari-Loch in diesem Band. 20 Ebd., S. 139. 21 Ebd., S. 264. 22 Vgl. ebd., S. 141.
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der Ehebruch nur auf den Mann bezieht, weil er von Natur aus untreu sei. Hingegen sei die Frau von Natur aus treu. Die Untreue einer Frau sei nichts anderes als ein Zeichen dafür, dass sie die Moral der Männer nachahme. In diesen Passagen findet sich in der Perspektive Zinas trotz der dezidiert feministischen Kritik eine naturalisierende Reproduktion der Geschlechterdichotomie, die letztlich nicht überschritten wird. Zinas Diskussionen mit Abdel Nasser enden immer in einem Konflikt und einer tiefen Kluft, weil Zina in aller Deutlichkeit den Triumph des revolutionären, emanzipierten Geistes über das Patriarchat demonstriert. Sie fasst die Ehe als eine Fessel auf, die ihr die Rolle der Frau aufzwingt und sie an der Ausübung einer wissenschaftlichen Berufstätigkeithindert. Das führt dazu, dass sie sogar die Heirat und Ehe mit Abdel Nasser als traditionelle Konvention relativiert und behauptet, dass ihr Verhältnis zu Abdel Nasser lediglich auf einem Vertrag basiere. Sie betrachtet sie als »die umfassendste Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes.«23 Sie sieht die Ehe grundsätzlich als eine Gegenüberstellung von männlicher Selbständigkeit und weiblicher Unselbständigkeit: »Du sollst wissen, dass ich frei bin und dass mir der Ehevertrag, den ich unterschrieben habe, nichts bedeutet. […] Denk nicht, du marxistisch-leninistischer Kämpfer, dass du 24
mich durch ein Stück Papier knechten wirst.«
Das ist eine klare Kritik von Zina gegen ein Verhältnis von »Herrschaft und Knechtschaft«25 wie es Hegel in der Phänomenologie des Geistesanalysiert. Zina betrachtet die Ehe als eine Art Vereinnahmung und Knechtschaft der Frau in einer konventionell patriarchalischen Ordnung. Neben den Anspielungen auf Arendt und Hegel wird ihre Kritik zudem von den Ideen Simone de Beauvoirs abgeleitet. Wie de Beauvoir sucht sie nach einem Ausweg aus dem endlosen Kampf um Anerkennung aus »der unerbittlichen Dialektik von Herr und Knecht«26. Sie negiert »ihre Bindung an den Mann als notwendig« 27. Wenn sie
23 Hartlieb, Elisabeth: Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 136), Berlin, New York: De Gruyter 2006, S. 87. 24 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 130. 25 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich, Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Suhrkamp 1988, S. 140. 26 De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht, Hamburg: Rowohlt 1992, S. 192. 27 Ebd., S. 17.
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äußert, dass sie »Mutter ihrer selbst«28 ist, will sie trotz aller Risiken die volle Verantwortung für ihr Leben tragen. 29 Daher zieht Zina eine freie Beziehung einer Ehe im patriarchalischen Sinne vor: »Sie insistiert hartnäckig auf der Freiheit.«30 Ihre Ablehnung der Institution der Ehe ist nichts anderes als eine Ablehnung der patriarchalischen Konvention, die die Frau in der Ehe als Sklavin betrachtet. In einem Streit zwischen ihr und ihrem Ehemann wegen ihrer Geheimehe, die Zina keinesfalls öffentlich machen möchte, klagt sie ihn verärgert an, dass er egoistisch sei. Er sei unfähig, auf ihre wissenschaftliche Karriere Rücksicht zu nehmen: »Sie beschuldigte ihn, egoistisch und verständnislos zu sein, ihr Dinge aufgezwungen zu haben, die sie nicht ausgesucht hat. Er habe daran gearbeitet, ihre Ziele zu zerstören und sie auf eine traditionelle Frau zu reduzieren, die der rebellische Kämpfer als Sklavin behandelt. Dieser Revolutionär hat die Revolution aufgegeben und sich dem bestehenden System angepasst. Er arbeitet wie ein Wachhund in einer regimetreuen Zeitung, in einem ideologischen Instrument, das die Politik der Unterdrückung und der Ausbeutung rechtfer31
tigt.«
In diesem Zusammenhang zeigt der Autor anhand der weiblichen Hauptfigur Zina die verkrustete, starre Struktur des Patriarchats und thematisiert soziale Ungerechtigkeit. In der Protagonistin Zina inszeniert Mabkhoutalso eine emanzipierte Frau und erzählt zugleich ein authentisches Bild der Situation einer gut ausgebildeten Frau Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in Tunesien. Dennoch werden zahlreiche Schwierigkeiten, Widersprüche und Ambivalenzen in den Wünschen nach Emanzipation, wissenschaftlich-akademischem Aufstieg und Unabhängigkeit deutlich. Die gender-orientierte Erzähltextanalyse32 hat sich außerdem mit der Raumdarstellung beschäftigt. Der Raum als kulturelles Phänomen spielt für die soziale Realität der Geschlechter und die stets gegenderte Subjektwerdung eine wichtige Rolle. Daher ist die Raumdarstellung von großer Bedeutung auch in der Erzähltextanalyse. Unter diesem Aspekt lässt sich im Roman eine Umwertung patriar-
28 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 240. 29 Vgl. De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht, S. 90. 30 Ebd., S. 143. 31 Ebd., S. 193. 32 Nünning, Vera; Nünning, Ansgar; Stritzke, Nadyne (2004): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Weimar: Metzler (Sammlung Metzler, 344).
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chalischer Zuschreibungen erkennen. Die weibliche Hauptfigur wird durchwegmit dem öffentlichen Raum in Verbindung gebracht: Gymnasium, Nationalbibliothek, Charles-de-Gaulle-Bibliothek, die Universität und das Treffen mit ihrem Betreuer. Für sie ist das Leben in der Hauptstadt ein Raum neuer Bewegungsfreiheit und vielfältiger Erfahrungen durch universitäre und nicht-universitäre Bildungsangebote, die nur die Hauptstadt bieten kann. Der öffentliche Raum lässt sich dabei als Andeutung verstehen, dass die geistige Tätigkeit Zinas gegen die Regelnder patriarchalischen konservativen Umgebung verstößt, dass diese Frauengeneration über das traditionelle Bild der Hausfrau und Mutter hinausgeht und sich neue, offene gesellschaftliche Räume erobert. Zinas Beziehung zu Abdel Nasser wird thematisiert, indem dargestellt wird, wie Zina das konventionelle Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau zu Hause umkehren will. Das Haus als weiblicher Raum im traditionellen patriarchalischen Sinne spielt für sie keine wesentliche Rolle. Sie hat kein Interesse an der Ausstattung des Hauses und am Kochen. Sie wird in ihren Handlungen und auch beim Einnehmen der Mahlzeiten immer außerhalb des häuslichen Umfelds geschildert. Das Haus ist für sie lediglich ein Ort zum Schlafen. Die männliche Hauptfigur trägt im Roman die Verantwortung für den Haushalt. Zinas Suche nach Wissen und Bildung wird in der Perspektive Abdel Nassers jedoch als naturwidrig wahrgenommen, und er bringt sie mit dem Verlust ihrer spezifisch weiblichen Attraktivität in Verbindung. Einige Passagen des Romans zeigen daher keinen glücklichen Alltag in der Ehe, sondern die Situation der viel beschäftigten, schreibenden Frau, die sich vorwiegend mit ihrer Recherche und ihrem Beruf befasst. Ihr Interesse liegt vor allem im Bereich des akademischen Lebens. Abdel Nasser klagt über den Verlust der Wärme und Zuneigung von Seiten seiner Frau. Mit schmerzlicher Sehnsucht nach der früheren weiblichen Anmut seiner Frau und nach dem nur kurzen Eheglück spricht er ärgerlich und ironisch aus, »dass sie nie die richtige Rolle einer Ehefrau, oder Geliebten oder Freundin spielt. Sie begnügt sich mit den Büchern und mit ihrer beruflichen und wissenschaftlichen Zukunft auf Kosten seines Lebens und Gefühls.«33 Der Unterschied der beiden aufgrund ihrer ethnischen und geographischen Herkunft spielt zusätzlich eine wesentliche Rolle. Abdel Nasser hat andalusische und türkische Wurzeln und ist in der Hauptstadt geboren und aufgewachsen. Zina hingegen hat berberische Wurzeln und ist in einem entlegenen, kleinen Dorf im Nordwesten Tunesiens geboren und aufgewachsen:
33 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 193.
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»Zina stammt aus einem Berberdorf im Nordwesten. Ihr richtiger Name ist Arnouz (arnūz). Ihr Amazighname kannten nur ich und Abdel Nasser. Bourguiba zwang die Berber, ihre Kinder mit arabischen Namen zu registrieren, und die Berbernamen blieben lediglich innrehalb der familiären Sphäre und Häuser. Die Kinder werden erzogen, ihre wahren Namen zu verstecken, um Probleme der Diskreminierung und Ausgrenzung zu vermeiden oder um die Vernehmung und Bestrafung zu entfernen.«
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Auch unter diesem Aspekt nimmt der Roman also eine Umkehrung vor: Die männliche Figur aus der Hauptstadt mit türkisch-andalusischem Hintergrund wird als emotionaler Mann und deutlich weniger rational und progressiv zu lesen gegeben als die weibliche Figur, deren familiäre und ländliche Herkunft üblicherweise viel eher mit Stereotypen von Traditionalität und Rückständigkeit in Verbindung gebracht wird. In ihren Diskussionen drückt Zina ihre Meinung argumentativ logisch aus. Abdel Nasser verwendet hingegen emotionale Ausdrücke in seinem Gespräch mit ihr: »du bist meine Berberprinzessin, die mich zu den Abenteuern der Liebe führt.«35 An einer anderen Stelle behauptet er leidenschaftlich: »Ich liebe dich, die Liebe bedeutet Großzügigkeit und Sich-Anbieten ... wir, du und ich, werden erneut die Geschichte unserer Körper schreiben... wir werden sie zusammen mit unserem Willen und mit der Kraft unserer Seelen aufs Neue schreiben.«
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Das trotzdem kalte Verhältnis zwischen den beiden führt dazu, dass Abdel Nasser seine Ehefrau mehrfach betrügt: Er flüchtet sich in außereheliche Beziehungen, anstatt seine Eheprobleme mit seiner Frau zu lösen. Zahlreiche sexuelle Abenteuer bieten ihm eine Flucht aus der Realität, aber auch der Alkohol. Eine wichtige Ersatzbeziehung Abdel Nassers wird in der Figur der Nejla beschrieben: »Während [Zina] ihre Zulassungsprüfung vorbereitet, macht sich Nasser ihre Cousine Najla gefügig. Daraus wird eine zweite große Liebesgeschichte und im Roman zudem eine
34 Ebd., S. 49. 35 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 104. 36 Ebd., S. 113.
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der längsten, poetischsten und mutigsten Liebesszenen der modernen arabischen Literatur. De facto ergibt sich eine heikle Dreierbeziehung, die wiederum nur scheitern kann.«
37
Das Beziehungsgefüge beschränkt sich aber nicht auf ein klassisches Dreieck: Zina führt während ihrer Ehe mit Abdel Nasser eine Beziehung mit dem Franzosen Eric, zunächst über den Austausch von Briefen. Eric ist ein älterer französischer Mann, den Zina bei einer Veranstaltung im Bereich der Soziologie kennengelernt hat. Er ist von ihrer Schönheit und Intelligenz fasziniert. Nach ihrer Scheidung von Abdel Nasser entscheidet sie sich dafür, mit Eric in Frankreich zusammen zu leben. Nachdem er Zinas Beziehung zu Eric entdeckt hat, äußert Abdel Nasser eine sexistische und patriarchalische Ansicht über sie: »Eine weltoffene Universalphilosophin möchte ihre Beine für einen Mann von der anderen Seite der Welt breit machen.«38 Die Figur der Zina wird in ihrer Beziehung zu Abdel Nasser als äußerst selbstbestimmt und rational geschildert. Zina hat nicht auf den Mann verzichten wollen, hat sich von ihm aber nicht ausnutzen lassen, sondern die Beziehung zu ihrem eigenen Vorteil genutzt. Zum Beispiel ermöglicht ihr die Heirat mit Abdel Nasser, ihre Versetzung auf eine Stelle in den Süden abzuwenden. Und sie betrachtet die Männer in einer patriarchalischen Gesellschaft grundsätzlich so, dass sie Frauen als Körper und Lustobjektesehen. Für Zina sind schließlich alle Männer Heuchler: »Sie betrachten ihr Gesicht, während ihre Gedanken abschweifen, um einen Weg zu finden, mit ihr zu schlafen.«39 An einer anderen Stelle bringt sie dennoch zum Ausdruck, warum sie ihren Ehemann schätzt: »Vielleicht weil du mir gefällst. Deine Persönlichkeit. Deine Schönheit. Weißt du, ich fühlte mich, als ich mich an deinem Arm festhielt, als eine Frau unter deinem Schutz.«40 Im peripheren Nordwesten Tunesiens, wo Zina aufwuchs, ist das Leben fernab der autoritären Zentralmacht im Vergleich zu den Großstädten wie Tunis patriarchalischer strukturiert. In ihrer Heimatstadt fühlt sich Zina daher unfrei; die einzige Verbindung zu ihrer Heimatstadt ist ihre Mutter, und sie besucht ihre Heimatstadt nur um ihrer Mutter Willen. Nach deren Tod behauptet sie ihre Unabhängigkeit vom Dorf: »Meine letzte Bindung ans Dorf ist vorbei. Ich bin jetzt
37 https://de.qantara.de/inhalt/shukri-al-mabkhouts-roman-der-italiener-scheitern-aufganzer-linie vom 06.07.2015. 38 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 215. 39 Ebd., S. 102. 40 Ebd., S. 74.
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frei, frei wie der Wind.«41 An einer anderen Stelle sagt sie: »Ein neues Kapitel meines Lebens hat angefangen. Ich werde nie wieder ins Dorf zurückkehren. Ich bin Mutter meiner selbst.«42 Zina hat eine enge Bindung zu ihrer Mutter, die sich wünscht, dass ihre Tochter einen höheren akademischen Grad erreicht und die Zukunft ihrer Tochter nicht in Unterdrückung und Vernachlässigung wie bei ihr selbst endet. Zinas Beziehung zu ihrem Vater und Bruder wird hingegen als schlecht beschrieben. Sie verachtet sie und empfindet Hass ihnen gegenüber, weil sie sich als die »Herren des Hauses«43 sehen. Ihr Vater ist in ihrer Sicht ein betrunkener und rückständiger Mann. Ihre Mutter arbeitet den ganzen Tag als Putzfrau, während sich ihr Vater im Geschäft des Dorfs herumtreibt, um Rommé zu spielen und Tee zu trinken. Für Zina hat sein Lebensstil nichts mit Männlichkeit zu tun, und sie erlebt ihre Mutter männlicher als ihn. Aus Zinas Perspektive erfahren die Lese*innen zudem, dass sie entweder von ihrem Vater oder ihrem Bruder in ihrer Pubertät vergewaltigt wurde, was ihr seelisches und körperliches Leid verursacht. Zusätzlich zu dieser Vergewaltigung kommt es zu einer weiteren Missbrauchserfahrung, auch wenn die erwachsene Zina sich diesmal der körperlichen Gewalt entziehen kann: Ihre Prüfung als Philosophiedozentin scheitert daran, dass sie sich weigert, mit ihrem Professor zu schlafen: »[S]ie habe die Prüfung nicht bestanden. Es gelingt ihr nicht, die Unileitung davon zu überzeugen, dass ihr Scheitern nur auf ihre Weigerung zurückzuführen war, dem Professor Sex zu gewähren.«44
Zina zieht den Kampf vor, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Nach ihrem Scheitern in der Prüfung entscheidet sie sich, nach Frankreich zu gehen, um ihr Schicksal neu zu gestalten. Auch ihre Flucht nach Frankreich lässt sich als ein Kampf gegen die männliche Vorherrschaft lesen. Sie flieht vor ihrem Mann und vor der tunesischen Gesellschaft, weil beide Feinde und Hindernisse auf dem Weg zu ihrer Selbstbehauptung darstellen. Sie möchte sich selbst ein neues Leben aufbauen:
41 Ebd., S. 235. 42 Ebd., S. 240. 43 Ebd., S. 107. 44 https://de.qantara.de/inhalt/shukri-al-mabkhouts-roman-der-italiener-scheitern-aufganzer-linie.
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»Sie wird alles zurücklassen: das Haus, die Arbeit und den Ehemann, um ein neues Leben bei null anzufangen. In einer Stunde der Wahrheit erklärte sie ihm deutlich, dass das Leben im Heimatland seit dem Tod ihrer Mutter keinen Sinn mehr hat. Sie erinnerte ihn daran, dass sie weder gescherzt noch metaphorisch gesprochen hatte, als sie ihm sagte, dass sie ›Mutter ihrer selbst‹ sei, sondern ein wahres Gefühl ausgedrückt hatte.« 45
Ihre Handlungen nach ihrem Misserfolg in der Prüfung lassen sich als ›sustine et abstine – ertrage und entsage‹ bezeichnen. Einerseits leidet sie seelisch unter der Willkür und Korruption ihres Professors, als sie sich geweigert hat, sein Angebot anzunehmen. Andererseits entsagt sie ihrem ursprünglichen Ziel, indem sie nach Frankreich flieht. In den bis dahin im Roman beschriebenen Kontexten betrachtet sich Zina als Außenseiterin; sie nimmt sich in ihren Handlungen und ihren Gedanken als einzigartig und einsam wahr, daher gibt es für sie keine Möglichkeit, ihre eigene Identität innerhalb einer männlich dominierten Gesellschaft zu entwickeln. So wird sie sich darüber klar, dass ihre innere, geistige Unabhängigkeit nicht ausreichend sein wird, um ein wirklich freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie glaubt, an einem anderen Ort weit weg von den patriarchalischen Zwängen als freie Denkerin leben zu können. Daher flieht Zina nach Europa, um dort mit Eric, dem älteren Soziologen, ein neues freies Leben ohne Ehevertrag zu führen. Ihre Erfahrungen in Paris markieren aber ein erneutes Scheitern, denn sie kann ihren Traum, Philosophieprofessorin zu werden, auch dort nicht verwirklichen. Sie lebt nun unter Erics Bevormundung. Der allwissende Erzähler kommentiert ihr schreckliches Ende folgendermaßen: »Es war eine traurige Geschichte. Dieses Land, Tunesien, wie Abdel Nasser und Si bzw. Herr Abdel Hamid sagten, ist verantwortlich für die Zerstörung und Verlorenheit seiner Kinder. Es schließt seine Elite aus.«46 Im Endeffekt ist Zina als intellektuelle Frau gescheitert. Man kann das Ende so interpretieren, dass Mabkhout mit diesem Roman die Bewusstseinslage einer gescheiterten Frau und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen darstellt. 4.4 Die Figur der geschiedenen Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft – Nejla Nejla ist Zinas Cousine und Freundin. Später wird sie die Liebhaberin von Abdel Nasser. Sie repräsentiert das Bild einer geschiedenen Frau; sie wird als eine jun-
45 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 283. 46 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 290.
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ge, sportliche Frau dargestellt, die auch ihre Emanzipation sucht. In erotischer Hinsicht agiert sie als Liebhaberin und Verführerin. Im Zuge ihrer gescheiterten Ehe hat auch sie begriffen, dass die weibliche Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Fesseln nicht innerhalb einer Ehe realisiert werden kann. Wie Zina ist sie davon überzeugt, dass Frauen selbst bestimmen sollten, wie sie ihre eigene Freiheit und ihr Leben gestalten wollen. Nejla muss nach ihrer Scheidung keine Angst mehr davor haben, dass ihre Körperlichkeit und Sexualität tabuisiert werden, da sie keine unverheiratete Frau mehr ist, deren Ehre mit der Jungfräulichkeit verbunden wäre. Im Kontext einer patriarchalischen Tradition, die Frauen sowohl als Produkte als auch Gefangene ihrer Geschlechtsorgane sieht, wird die Figur der Nejlaals nach ihrer Scheidung frei geworden dargestellt. Gleichzeitig thematisiert der Roman jedoch die Unwissenheit und die Vulgarität des früheren Ehemannes von Nejla in der intimen ehelichen Sexualbeziehung, die sie sexuell unbefriedigt ließ, weil ihr Exmann nur seine eigene Befriedigung suchte und die Bedürfnisse seiner Frau vernachlässigte. Deshalb zieht sie die Scheidung dem Leben mit ihrem Mann vor, dem ihre Gefühle gleichgültig sind. An einer Stelle äußert sie Abdel Nasser gegenüber, dass »sie die Ehe hasst.«47 In einer Passage des Romans beklagt sie ihre Situation als geschiedene Frau, die als Schande in einer unbarmherzigen Gesellschaft gilt. Sie sieht das Elternhaus als »ein kleines Gefängnis und die Gesellschaft als ein großes Gefängnis, wo es Männer gibt, die die Frauen sexuell belästigen.«48 Nejla möchte wie Zina ohne Ehevertrag leben, scheitert aber ebenfalls am Ende des Romans. Durch die Stimme des allwissenden Erzählers wird ihr Schicksal folgendermaßen beschrieben: »Sie ist ein Körper ohne Seele, eine Maschine der Wollust geworden.«49 Damit tritt sie nach ihrer Trennung von Abdel Nasser als Objekt auf, das auf den Partys reicher Männer betrachtet und begehrt wird. Doch das Leben der Figur Nejla hat viele Facetten und selbst dieses sexuelle Verhalten wird als wohlüberlegt beschrieben. Insofern hat der Erzähler mit seiner Kritik nicht das letzte Wort, und Nejla bleibt eine ambivalente Figur, in der sich Selbstbestimmung und Scheitern als gesellschaftlichen Normen verknüpft bleiben.
47 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 197. 48 Ebd., S. 190. 49 Ebd. S. 294.
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4.5 Zayneb: Die Figur der »eisernen Mutter« Die Begriffe Matriarchat und Patriarchat sind zwei Begriffe, die im Roman eine wichtige Rolle spielen. Innerhalb des Elternhauses von Abdel Nasser herrscht das Matriarchat. Seine Mutter Zayneb hat das letzte und führende Wort. Ihr Ziel liegt einzig und allein darin, das Ansehen ihrer Familie in der Gesellschaft zu wahren. Zaynebs Autorität und Einfluss innerhalb der Familie sind offenkundig. Sie wird zu Hause charakterisiert als die »eiserne Hausfrau«50. Ihr Ehemann – Vater von Abdel Nasser – gehorcht ihr widerstandslos und verhält sich seiner Frau gegenübernachgiebig. Er akzeptiert ihre volle Freiheit im Haus, das Abdel Nasser durch seinen rebellischen Charakter und seine Hartnäckigkeit zerstören möchte: »Der Junge [Abdel Nasser] ist erwachsen geworden und die Mutter hat erkannt, dass die Fortsetzung ihres Weges einen Verlust ihres Ansehens in ihrem eigenen Reich mit sich bringen würde. Wahrscheinlich hat sie daher einen Teil ihres Reiches [zugunsten ihres Sohnes] aufgegeben und dessen Unabhängigkeit verkündet.«
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Abdel Nasser lehnt grundlegend ihre Herrschaft über ihn ab. Er möchte sein Dasein ohne ihr Diktat gestalten. Der Konflikt mit seiner Mutter könnte als eine Befreiung aus der »Gebärmutterhöhle«52 gelesen werden: Sein Widerstand gegen ihre Vorherrschaft im Elternhausstellt für ihn eine Art zweite Geburt dar, die seine Freiheit, Unabhängigkeit und Männlichkeit hervorbringen soll. 4.6 Lella Jneyna: Die Darstellung einer traditionellen Frauenfigur Die letzte in diesem Beitrag vorgestellte Frauenfigur des Romans ist Lella Jneyna. Mabkhout charakterisiert sie als Frau, deren Leben durch traditionelle Werte geprägt ist. Dadurch ist sie gefangen in einer Welt männlicher Unterdrückung. Sie verfügt weder über Schulbildung, noch besitzt sie die Möglichkeit, Dinge in Frage zu stellen. Lella Jneyna hat ihr Leben in Abhängigkeit von Männern gelebt, zunächst ihres Vaters, danach ihres Ehemanns. Trotzdem protestiert sie
50 Ebd., S. 8. 51 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015, S. 36. 52 Hubrath, Margarete (2001) Geschlechter-Räume. Konstruktionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag. Köln: Böhlau (Literatur – Kultur – Geschlecht. Grosse Reihe, Bd. 15). S. 55.
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stets gegen ihre Situation. In ihrer Ehe findet sie keine Erfüllung und fühlt sich auch emotional unterdrückt. Sie streitet sich häufig mit ihrem Ehemann und schlägt ihn sogar heftig, weil sie unzufrieden ist. Auch hier bietet die Narration eine Umkehrung an: Hier ist es das Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern, dass sich in der Figur der Lella Jneyna umkehrt: Es ist nicht der Mann, der Gewalt gegen seine Frau ausübt, sondern die Frau wird als Täterin dargestellt, deren Tat wiederum im Unterdrückungssystem begründet liegt, deren Opfer sie ist. Die Ehe zwischen Lella Jneyna und ihrem Mann wird als Feindesbeziehung ohne erstrebenswerte Liebe und Leidenschaft charakterisiert. Diese Form der Ehe lässt sich als gezwungene oder notgedrungene Verbindung zweier Individuen sehen: Eine wenig gebildete und traditionsgebundene Frau muss unbedingt irgendeinen Mann heiraten, um ihre Stellung innerhalb einer konservativpatriarchalischen Gesellschaft wahren zu können, obwohl eine solche Ehe von Anfang zum Scheitern verurteilt scheint. Hier problematisiert der Autor die ungleichen Herrschaftsverhältnisse unter den Geschlechtern, indem er auch auf die Unterdrückung der Männer anspielt. Mabkhout verhandelt einen Männlichkeitsentwurf, der in der Gewalt des Weiblichen gefangen ist und in einem Konfliktverhältnis zu ihm steht. Aber die Gewalt verleiht der Figur Lella Jneyna Selbstvertrauen, sie kann sich so einen Teil ihrer Individualität und Unabhängigkeit bewahren. Sie wird außerdem dadurch beschrieben, dass sie spontanetwas tut, ohne die gesellschaftlichen Konsequenzen zu bedenken. Da für sie beispielsweise das Haus einem Gefängnis gleichkommt, sieht man sie stets vor der Tür ihres Hauses, in der Gasse oder im Elternhaus von Abdel Nasser. Auch mit diesem Bild wird das Überschreiten gesellschaftlicher Grenzen ausgedrückt. Lella Jneyna überschreitet die Grenze zwischen dem ›Drinnen‹ und dem ›Draußen‹, sie tritt aus der Haustür und sucht einen Sinn für ihr Leben, die Liebe und ein Stück Emanzipation. Es ist ein winziger Schritt über die Türschwelle, in dem sich die Eigenwilligkeit und Selbstständigkeit dieser Figur verkörpert.
5. SCHLUSS Mabkhout konstruiert im vorgestellten Romantunesische Frauenfiguren, die sich auf verschiedensten Wegen gegen die Abhängigkeit von ihren männlichen Bezugspersonen und damit gegen die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen auflehnen. In einem Interview sagt er, »dass die Figuren Lella Jneyna, Zina, Nejla […] sinnbildlich für die Situation der tunesischen Frauen stehen. Sie streben
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nach ihrer Emanzipation innerhalb einer konservativen und heuchlerischen Gesellschaft.«53 Die weiblichen Protagonistinnen durchbrechen den engen Erwartungsrahmen der patriarchalischen Gesellschaft und überschreiten die Grenzen der in der Gesellschaft vorgeschriebenen weiblichen Rollen. Sie verstärken die Idee einer Befreiung von patriarchalischen Normen, sind in unterschiedlichen Grenzen sprachmächtig und handlungsfähig. Der Autor gibt für seine weiblichen Figuren jedoch einen Handlungsrahmenvor: Seine Protagonistinnen können nur dann ihr Glück finden, wenn sie sich gegen die Traditionen und Konventionen einer patriarchalisch-konservativen Kultur ankämpfen bzw. sie ignorieren und überschreiten. Und die männliche Hauptfigur Abdel Nasser mag die Frauen, »weil die Zukunft seiner Ansicht nach eine Frau ist.« 54 Ohne die weiblichen Figuren hätte er nicht die Kraft; seinen eigenen Weg zu gehen. Seine Existenz endet nach dem Scheitern der Ehe absurd. Er hat sich getäuscht: Liebe und Sex bieten ihm keinen Ausgleich für sein Scheitern in der sozialen Realität und im politischen Kampf. Und so steht am Ende eigentlich keine Befreiung, weder für die weiblichen noch die männlichen Figuren, sondern immer nur die (versuchte) Umkehrung der genannten Herrschaftsverhältnissen und Dichotomien. Das Streben nach Freiheit würde aber wie in Hegels Herr-Knecht-Dialektik eine Aufhebung der Dichotomien erfordern.
53 http://mubasher.aljazeera.net/opinion/ 01.06.2015 المارقة-الرواية-وتلك-،الطلياني 54 Mabḫūt, Šukrī: al-Ṭalyānī, 2015 S. 260.
Narration und Geschlecht in ausgewählten Erzählwerken der tunesischen Autorinnen Amel Mokhtar und Hayat Rais Idris Chouk
1. EINLEITUNG Dem Begriff Narration wird seit geraumer Zeit und infolge des »Cultural Turn« 1 in vielen Bereichen der Geistes- und Humanwissenschaften eine enorme Bedeutung zugesprochen; er wird schon längst nicht mehr als ein der Literatur und der Literaturwissenschaft vorbehaltener Terminus begriffen. Mit Blick auf den Boom der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsinteressen in allen Zweigen der Kunstanalyse wird die literarische Narration aber selbst im Rahmen der Literaturwissenschaft nicht nur nach den alten Mustern und Richtlinien der klassischen strukturalistischen Narratologie untersucht.2 Der besondere Gewinn besteht in der Aufwertung des kulturellen Kontextes der erzählenden Literatur und in der Erweiterung und Schärfung des Forschungsblicks für gewisse Zusammenhänge, die relevante Auskünfte über für die narrativen Ausdrucksformen maßgebende außerliterarische Bezüge und Problemstellungen erteilen. 1
Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006.
2
Zur Veranschaulichung der fruchtbaren Impulse, die sich allgemein aus dem kulturwissenschaftlich angelegten Ansatz bei der Analyse von literarischen Erzähltexten ergeben, eignet sich eine Reihe von Forschungsbeiträgen; darunter sind beispielsweise Wolfgang Müller-Funk »Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung«, Springer Wien/ New York 2002, und der von Alexandra Strohmaier herausgegebene Sammelband mit dem Titel »Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften«, Bielefeld 2013.
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Der literarische Text und insbesondere der narrative Text wird nicht mehr ausschließlich nach ästhetischen und poetologischen Kriterien unter die Lupe genommen, sondern als eine Art kulturelles Artefakt, das eine bestimmte symbolische Konfiguration der kulturellen Wirklichkeitserfahrung beinhaltet. 3 Die literarische Narration wird als einer der vielen Räume betrachtet, in denen ein symbolischer individueller oder kollektiver Weltbezug artikuliert wird. Thema und Form der Narration bieten eine Form der imaginären Rekonstruktion der Welterfahrung, die das Zusammenwirken der sinnstiftenden kulturellen Referenzen in bestimmter Konstellation darstellt. Narration offenbart eine sozial und kulturell interaktive Welt, die die psychologischen und weltanschaulichen Strukturen der zwischenmenschlichen Beziehungen vor Augen führt. Die Geschlechtszugehörigkeit stellt oft eine Dimension der narrativen Konfiguration der vermittelten Wirklichkeit dar. Die Perspektive der Geschlechterforschung ist eine bedeutende Erweiterung der Untersuchungsinstrumentarien von literarischen Texten, in der das Geschlecht zu einer Analysekategorie der literarischen Narration wird. Viele Studien aus der gendertheoretisch orientierten Literaturwissenschaft haben überzeugend den Erkenntnisgewinn für die literaturwissenschaftliche Forschung herausgestellt, der sich aus der systematischen Fokussierung auf die vielfältigen Implikationen der Geschlechterfragen ergibt. 4 Dabei geht es nicht mehr um die klassische Frage nach der literarischen Darstellung der Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder, sondern um die offensichtliche und latente Wechselbeziehung zwischen Geschlecht und inhaltlicher sowie formaler Strukturierung narrativer Texte. Zu Recht nimmt die gendertheoretisch orientierte Literaturanalyse an, dass in den meisten literarischen Texten eine bestimmte Form der Thematisierung und Problematisierung von geschlechterrelevanten Bezügen und Zusammenhängen zu verfolgen ist.5 Sowohl formal als auch
3
Vgl. Barbara Schmidt Haberkamp: »Aus der Einsicht heraus, dass Kulturen sich nicht nur durch die Sujets ihrer Erzählungen unterscheiden, sondern vor allem auch durch ihre Konstruktionsweise des Erzählens, verbindet die kulturwissenschaftliche Narratologie textanalytische Verfahren, wie die Untersuchung der Perspektivenstruktur narrativer Texte, ihrer Raum- und Zeitkonzepte oder der Dialogizität und Polyphonie des Erzählens mit kulturwissenschaftlichen Fragen nach der Konstruktion individueller und kollektiver Identität oder der Hierarchisierung kultureller Werte und Normen.« In: Bonner Enzyklopädie der Globalität, Bd. 2, Wiesbaden 2017, S. 99.
4
Vgl., Vera und Ansgar Nünnig. Von der feministischen Narratologie zur genderorientierten Erzähltextanalyse. In: Erzähltextanlyse und Gender Studies. Hrsg.von Vera und Ansgar Nünnig. Stuttgart 2004 S. 23-29.
5
Vgl. Vera und Ansgar Nünnig, ebd. S. 22. Siehe Anm. 4.
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inhaltlich beinhalten Erzähltexte eine mittelbare oder unmittelbare Auseinandersetzung mit tradierten Geschlechtervorstellungen und damit verbundenen Rollenmustern, mit diskursiver Implementierung soziokultureller Stereotypen und Hierarchien bezüglich der Geschlechterbegriffe und -differenzen. Die fruchtbare und vielversprechende Verwendung der Analysekategorie »Geschlecht« für die Literaturwissenschaft wäre kaum denkbar ohne die durch die Gender Studies ermöglichte Einsicht in die kulturell und historisch bedingte Ausformung der Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterdifferenzen. Vor diesem Hintergrund bietet die Literatur einen Spielraum für den Entwurf neuer und subversiver Geschlechterentwürfe, das gilt vor allem und im besonderen Maße für die narrative, die gezielt die Dekonstruktion und Destabilisierung von soziokulturell festgeschriebenen Geschlechterkonstruktionen anstrebt.6 Die Genderperspektive in der Auseinandersetzung mit Literatur richtet sich daher auf die distanzierte Ergründung der Erscheinungsformen und Wirkungsmechanismen der Geschlechtszuschreibungen im Allgemeinen und im Bereich der Literatur im Besonderen. Darüber hinaus kann die enge Wechselbeziehung zwischen Narration und Geschlecht noch auf einer weiteren Ebene ausgelotet und verfolgt werden. Diese Ebene entspringt der fruchtbaren Interaktion zwischen soziologischen, psychologischen und sprachphilosophischen Überlegungen und betrifft in erster Linie die sprachliche Konstitution subjektiver und kollektiver Identitäten. Als eines der meist zitierten Stichworte in dieser Hinsicht sei beispielsweise der Begriff der »narrativen Identität« erwähnt.7 Das Narrative ist unter anderem ein Akt der Selbstkonstitution, aber verläuft nicht jenseits der tradierten und perpetuierten Diskurse in einer Kultur. Auf der anderen Seite gestaltet sich die individuelle Identität in hohem Maße aufgrund und ausgehend von einer geschlechtsspezifischen Identitätsbildung, die selbst sprachlich, d.h. diskursiv vermittelt ist. Die Narration bietet in diesem Sinne eine Schnittstelle, wo sich sprachliche Aneignung und Geschlechtsidentität verquicken und gegenseitig orchestrieren und de-
6
Vgl. Nadyne, Stritzke, Subversive narrative Performativität. In: Narration und Geschlecht. Text – Medien – Episteme. Hrsg. von Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick, Köln 2006, S. 93-113.
7
Paul Ricoeur. Narrative Identität. In: Heidelberger Jahrbücher, Band 31. Berlin/ Heidelberg 1987, S. 57-67. Vgl. N. Meuter. Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluss an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricoeur. Stuttgart 1995. Vgl. Wolfgang Krause. Identität als Narration. Die narrative Konstruktion von Identitätsprojekten (1999). Veröffentlicht auf der Interseite der Freien Universität Berlin. Abgerufen am 15.01.2017. http://web.fu-berlin.de/postmodernepsych/berichte3/kraus.htm
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terminieren bzw. dekonstruieren und neu entwerfen. Denn wenn man Butlers richtungsweisender These folgen will, ist die Sprache keine aposteriorische Artikulation einer naturgebundenen geschlechtlichen Identität, sondern sie ist eher eine der vorrangigen Voraussetzungen zur Perpetuierung und Naturalisierung von geschlechtsspezifischen Identitätsentwürfen.8 Die Narration kann in diesem Sinn in ihrer fiktiven Flexibilität und ihrem kreativen Umgang mit der Sprache eine Umwertung geschlechtsspezifischer Diskurse und Vorstellungen vor Augen führen. Ausgehend von der allgemeinenen Einsicht in die enge und vielfältige Verflochtenheit von Geschlecht und Narration wird im vorliegenden Beitrag der Versuch unternommen, Aspekte der Verquickung von Geschlecht und Narration in ausgewählten Erzählwerken der tunesichen Autorinnen Amel Mokhtar und Hayat Rais aus Genderperspektive auf erzähltechnischer und inhaltlicher Ebene aufzuzeigen. Es gilt also zu fragen, inwiefern sich der narrative Diskurs in der tunesischen Literatur von Frauen durch die kulturell erworbene Geschlechtsidentität des Erzählenden bestimmen lässt und umgekehrt: Inwieweit äußert sich im narrativen Diskurs eine Stabilisierung oder Destabilisierung dieser diskursiv bzw. iterativ konstruierten Geschlechtsidentität?9 Offenbart sich in der Art und Weise, wie die Autorinnen Amel Mokhtar und Hayat Rais ihre Figuren konzipieren und ihre Geschichten erzählen lassen, eine narrativ vermittelte Stellungnahme zu genderrelevanten Problemstellungen wie Geschlechterhierarchien, Geschlechterrollen, Frauenemanzipation etc.? Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass das literarische Schreiben tunesischer bzw. arabischer Frauen überhaupt vor dem Hintergrund der persistent hierarchischen und patriarchalischen Geschlechterstrukturen der islamisch-arabischen Gesellschaften als ein traditionelles Artikulationsfeld dissidenter Frauenstimmen fungiert, wie es einst im westlich-europäischen Kontext der Fall war. Wird sich diese These im Hinblick auf die ausgewählten Erzählungen von Mokhtar und Rais bewahrheiten?
8
In diesem Sinne schreibt Butler: »Die Schranken der Diskursanalyse der Geschlechtsidentität implizieren und legen von vornherein die Möglichkeiten der vorstellbaren und realisierbaren Konfigurationen der Geschlechtsidentität in der Kultur fest.« Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991, S. 27. Vgl. Judith Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, Frankfurt/Main 1991, S. 129.
9
Vgl. Judit Butler, Körper von Gewicht, Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995, S. 135.
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2. SELBSTNARRATION ALS PROZESS DER (GESCHLECHTLICHEN) IDENTITÄTSFINDUNG BEI MOKHTAR UND RAIS 2.1 Selbstthematisierung und Geschlechtsidentität Der erste hervorstechende Wesenszug dieser Literatur besteht darin, dass die Narration hier überwiegend eine selbst psychologisierende Selbstnarration ist, in der eigene Persönlichkeitsaspekte problematisiert, beschrieben und neu definiert werden. Es herrscht weitgehend eine Tendenz zur psychologischen Selbstbeschreibung und Selbstbefragung durch die Ich-Erzählerinnen. Diese Form der Selbstnarration äußert sich vor allem in langen inneren Monologen, die in den meisten Erzählwerken von Rais und Mokhtar das Fundament der Narration bilden.10 Es handelt sich dabei meistens um eine homo- oder autodiegetische Erzählhaltung, bei der die Ich-Erzählerin ihre vergangene und gegenwärtige Situierung in Beziehung zueinander setzt und ihr Verhältnis zur sozialen Umwelt durch eine introspektive und kritische Fokussierung narrativ überdenkt und zum Teil neu entwirft. Die meisten Selbstnarrationen bei Mokhtar und Rais sind eine narrative Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, die als problematisch oder gespalten oder konfus empfunden wird. In der Kurzgeschichte »Geheimrituale und meine Leidensgeschichte«11 (2009) von Hayat Rais wird weitgehend aus der Perspektive einer verheirateten Frau erzählt, die in der Form der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung ihr seelisches und körperliches Unbehagen im Zuge des entfremdenden Ehelebens zur Sprache bringt.
10 Vgl. Andrea Gutenberg: »Weiblich konnotierte romance plots zeichnen sich daher zumeist durch Psychologisierung und die Betonung innerer Handlung aus.« Andrea Gutenberg, in: Erzähltextanalyse und Gender Studies, hrsg. von Ansgar/Vera Nünnig, Stuttgart 2004, S. 108. 11 Der hier angeführte Titel und die anderen Titel der in arabischer Sprache verfassten Werke sind eine Übersetzung des Verfassers. Es wird auch im Laufe des Beitrags aus den Werken der bereits genannten Autorinnen in von mir angefertigter deutscher Übersetzung zitiert. Dennoch sei hier der Titel der zitierten Werke und die jeweils zitierten Seite in der arabischen Originalfassung angegeben: لبنان. و جسدي المبعثر على العتبة.. أنا و فرنسوا: في. و جحيم. ... طقوس سرية: حياة الرايس2009
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In »Toast aufs Leben«12 (1993) von Amel Mokhtar kommt das Wort »Identität« mehrmals vor, und an einer Stelle wird explizit die Unterscheidung zwischen weiblicher und allgemeinmenschlicher Identität als eine kulturell fehlgeleitete soziale Entwicklung thematisiert und bedauert.13 Die Ich-Erzählerin hält es für sinnlos, sich geschlechtlich oder kulturell zu identifizieren, da ihr Menschsein als Identitätsbestimmung genüge. In dem zweiten Roman Mokhtars »Der Schaukelstuhl«14 (2003/2016) legt die Ich-Erzählerin und die Hauptfigur Mouna Abdessalem bereits zu Beginn ihrer Erzählung den thematischen Kern und das Motiv ihrer zu erzählenden Geschichte offen, indem sie schon auf der zweiten Seite des Romans die*den Leser*in in die Genese ihres problematischen Selbstverständnisses einweiht. Diesbezüglich schreibt sie: »Als mein Denken zu reifen begann, wurde mir bewusst, dass ich einer anderen Person gehöre, die mir körperlich fern, aber zugleich beinahe mein Ich ist […]«15 Diese Mitteilung klingt wie eine implizite Erklärung der persönlichen Beweggründe der Narration oder besser gesagt der Selbstnarration, die hier geradezu als akutes psychologisches Bedürfnis nach narrativer Rekonstruktion eines dissoziierten Identitätsbildes empfunden wird. Die ganze erzählte Geschichte lässt sichals eine introspektive Ergründung der schmerzhaften Selbstfindung einer weiblichen16 Figur lesen, die mithilfe der Selbstnarration um die Bewahrung einer minimalen Selbstkohärenz ringt. 17 Außerdem kommen im Verlauf der Narration zahllose Formulierungen vor, die die narrativ intensive Beschäftigung mit der eigenen delikaten Selbstbewusstseinslage verdeutlichen, wie zum Bei-
12 Der Titel ist eine vom Verfasser dieses Beitrags vorgeschlagene Übersetzung aus dem Arabischen. Das gilt auch für die später zitierten Stellen aus diesem Werk. Hier sei der Titel in arabischer Originalfassung erwähnt: بيروت, دار اآلداب,نخب الحياة آلمال مختار 1993. 13 Amel Mokhtar, ebd. S. 9. 14 Übersetzung aus dem Arabischen. In arabischer Originalfassung lautet der Titel: تونس, دار محمد علي للنشر, الطبعة الثانية, الكرسي الهزاز آلمال مختار2016 15 Amel Mokhtar, ebd. S. 8 16 Das Attribut »weiblich« wird hier in Anlehnung an die Perspektive bzw. an die Selbstdefinition der Ich-Erzählerin verwendet, die ihre Weiblichkeit keineswegs in Frage stellt, sondern neu und unkonventionell zu definieren und zu rekonstruieren sucht. Hier wie in den meisten Erzählwerken tunesischer Autorinnen werden die dualistische Geschlechterdifferenz und die als »natürlich« verstandene geschlechtliche Zuordnung kaum angezweifelt. 17 Vgl. Eveline Kilian, Zeitdarstellung, in: Erzähltextanalyse und Gender Studies, ebd., S. 84.
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spiel: »Ich flüstere meinem zerrütteten Ich zu.« 18 An einer anderen Stelle ist die Rede vom »Trümmerhaufen in meinem Inneren«. 19 An einer anderen Stelle heißt es: »In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die Wahnsinnige, die ich in meinem Inneren einsperre, sich nun von ihrem Kerker losgelöst hat und sich der Ausschweifung hingab«.20 Auf Seite 86 des Romans verwendet die IchErzählerin folgende Formulierung: »Ich war versunken in der Reinigung meiner Seele von ihrem Schmutz.«21 Ferner benutzt die Ich-Erzählerin im Zuge der narrativen Selbstreflexion mehrmals das Wort »Weiblichkeit«, verbunden mit Adjektiven, die diese Weiblichkeit näher bestimmen und charakterisieren. Im Hinblick auf den konstituierenden Effekt der Narration im Prozess der Selbstfindung ist eine Stelle im Roman besonders interessant. Dort heißt es: »Ich flüstere mir selbstfragend zu: Hast du wieder die Einzelheiten der Geschichte geändert und weißt du auch diesmal nicht, weswegen. Ich erzähle ganz spontan eine Geschichte, die ich auch gerade entdecke.«22 Die Fokussierung auf die fragile Selbstbefindlichkeit und die narrative Rekonstruktion der eigenen Geschlechtsidentität und deren Entwicklung verlaufen nicht ohne Vergegenwärtigung von interaktiven Situationen mit wichtigen Personen aus dem familiären oder intimen Milieu der Ich-Erzählerin. Was die meisten hier untersuchten literarischen Erzähltexte kennzeichnet, ist die starke Präsenz der narrativen Selbstreflexivität. Dass diese Selbstreflexivität jeweils mit der Geschlechtszugehörigkeit des erzählenden Ich zusammenhängt, wird vor allem in der Selbstbeobachtung und der Aufspaltung zwischen alter und neuer geschlechtsbezogener Selbstdefinition offenkundig. Der Übergang in eine neue Identitätsform ist aber mit unausweichlichen Momenten der Verwirrung, der Verlegenheit und des Selbstzweifels verbunden, was sich in den meisten Erzählwerken im häufigen Einsatz von Selbstgesprächen äußert, in denen Bewusstseinsinhalte wie psychische Ambiguität, widerspruchsvolle Aufarbeitung von vergangenen und verdrängten Erfahrungen und Erlebnissen vor Augen treten. Es ist die Sorge um den Selbstverlust und soziale Ächtung im Prozess der Identitätsumbildung, die in auffälliger Häufigkeit in der Narration weiblicher Figuren der tunesischen Frauenliteratur thematisiert wird.
18 Ebd. S. 16. 19 Ebd. S. 142. 20 Ebd. S. 85. 21 Ebd. S. 86. 22 Ebd. S. 150.
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2.2 Identitätsumbildung und Verwerfung herkömmlicher Geschlechterverhältnisse und Frauenbilder Ein besonderer Paradigmenwechsel der Identitätsumbildung manifestiert sich in der Umwertung der Beziehungshaftigkeit23 im Kontext der Selbstdefinition. Im Zuge der intensiven Selbstreflexion bemüht sich das weibliche Subjekt, sein Verhältnis zur männlich dominierten Welt neu zu definieren, seine weibliche Identitätsbildung über ihre Beziehung zu dieser Welt zu relativieren oder zu beenden. Narrativ vollzieht sich also der Übergang zu einer selbstreflexiv revidierten Existenzform, zu einer neuen Selbstdefinition, zu einer neuen Auffassung vom Geschlechterverhältnis. In diesem Sinne versucht beispielsweise die IchErzählerin in »Toast aufs Leben« sich von ihrer alten früheren Identitätsvorstellung zu befreien und ein neues Selbstbild zu entwerfen. Eine zentrale Dimension früherer Existenzform besteht in der Überbewertung der Mann-Frau-Beziehung für die eigene Selbstdefinition, die nun radikal aber latent schmerzhaft bei der Gestaltung eines neuen Selbstbewusstseins außer Kraft gesetzt wird. Dieser Vorgang gleicht der leidvollen Geburt eines neuen »weiblichen« Ich, das nicht bereit ist, sich über eine männliche Bezugsperson zu definieren.24 Es geht hier ganz deutlich um ein revidiertes Verständnis von Partnerschaft und Geschlechterbeziehungen, als Paradigma eines »Identitätsumbaus«, wie Wolfgang Kraus es einmal in seiner Studie »Identität als Narration« genannt hat.25 Die Skepsis an den konventionellen Frauenbildern und Geschlechterverhältnissen bezieht sich bei Amel Mokhtar auf das kulturelle System und dessen Erziehungsnormen. In »Toast aufs Leben« bricht die Ich-Erzählerin in eine neue Welt (Deutschland) auf, um sich Klarheit über die grundlegenden Dimensionen ihres Selbstverständnisses zu verschaffen. Das kann nur jenseits der Einengung und Kontrollmechanismen der eigenen Kultur gedacht werden. Dort kam sie am Ende zur grundsätzlich kulturkritischen Schlussfolgerung, dass die Kultur und die Zivilisation den Menschen schlechthin um seine natürliche Güte gebracht habe, und selbst der Wunsch nach grenzenloser Freiheit, die sie in Bonn erfahren wollte, erweist sich am Ende als eine Illusion, eine unerreichbare Phantasie: Die Grenzen und die Hindernisse sind tief innerlich verankerte Mächte, denen
23 Siehe unten Anm. 35. 24 Im Roman »Toast aufs Leben« und zwar ganz im Auftakt der Narration spricht die Ich-Erzählerin während ihrer Selbstbespiegelung und in Hinblick auf den ins Gedächtnis wachgerufenen männlichen Partner folgenden bedeutenden Satz aus: »Ich löschte ihn einfach weg«. Ebd. S. 10. 25 Wolfgang Kraus, siehe Anm. 8.
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die*der Handelnde nie gänzlich entrinnen kann. Der Roman »Schaukelstuhl« von Amel Mokhtar beginnt mit der Klage über den zwanghaften Anfang der patriarchalisch geprägten Sozialisierung der Erzählerin, die im Laufe der folgenden Jahre nur eine gestörte und konfuse Geschlechtsidentität erzeugte: »Ich trage das genetische Erbe, worauf ich keinen Einfluss hätte haben können. Und ich trage das moralische Erbe, das ich mit der Muttermilch einsog, seitdem ich eine menschliche Masse war, die sie nach ihrem Belieben formten [...] Ich trage das Erbe eines Namens, ohne dass ich dazu die mindeste Wahlmöglichkeit gehabt hätte. Als mein Denken zu reifen begann, wurde mir bewusst, dass ich einer anderen Person gehöre, die mir körperlich fern aber zugleich beinahe mein Ich ist… ich soll gehorchen… nichts anderes als Gehorsam wird von mir verlangt, sonst werden sich alle zusammentun, um mich des Ungehorsams zu bezichtigen. Aber wo bleibt mein Ich im Geflecht dieser sanften ›Annektierung‹ und dieser emotionalen und zärtlichen Umzingelung? Wo bleibt meine Persönlichkeit … meine Autonomie. Und weil diese Persönlichkeit wachsen muss, tut sie das zwangsläufig innerhalb der Grenzen der Umzingelung genauso wie ein Unkraut, das wie gepresst ohne das für sein normales Wachstum und Gedeihen dazu nötige Licht und ohne die dafür notwendige Luft aufwächst, …deswegen wird diese Persönlichkeit unausgeglichen, kleinwüchsig, durchdrungen von Komplexen…bin ich auch so?«26
Die Problematik der soziokulturellen Verortung der eigenen Person wird in diesen Zeilen und im ganzen Roman sinnbildlich aufgeworfen. Hier wird ein subjektiv unbehagliches Verhältnis eines weiblichen Ich zur sozialen Umwelt thematisiert. Es handelt sich um eine klare konfliktreiche Divergenz vom subjektiven Selbstbestimmungswunsch und -anspruch einerseits und den Diktaten der soziokulturellen Normen einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft einschließlich der eigenen familiären Sphäre andererseits. Angesichts der kulturell bedingten Unterordnung der Frauen in islamisch-arabischen Kontexten bildet die Frage nach der eigenen Identität und dem erwünschten und kaum zugänglichen Rahmen einer emanzipatorischen Selbstdefinition eine zentrale Thematik der tunesischen Frauenliteratur, da die geschlechtsbezogene Einengung der weiblichen Handlungs- und Selbstartikulationsräume viel fester und inhärenter ausfiel und ausfällt, als es beim männlichem Subjekt der Fall ist. Aufgrund der sozialen Tradierung bestimmter Sozialisationsnormen, wobei der Faktor »Geschlecht« eines der relevanten Kriterien dieser »normativen« Erziehung bildet, wird Frauen* der Weg zu einer autonomen Selbstdefinition oder -situierung besonders erschwert, da sie oft im Kindesalter darauf eingestimmt werden, sich über ihre Beziehungen
26 Ebd. S. 8-9.
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zu anderen Personen zu definieren,27 während Männer* eher zur Autonomie erzogen werden. Gerade in diesem Kontext bietet sich die literarische Fiktion für schreibende Frauen als geeigneter Raum der kritischen, selbstemanzipatorischen und subversiven Auseinandersetzung mit etablierten Identitätsentwürfen und bildern. Interessanter als die Rede der Ich-Erzählerin von dem »genetischen Erbe« in der oben zitierten Textstelle ist vor allem die Rede vom »moralischen Erbe«, das zwanghaft ihre Identität und ihren Lebenslauf bestimmt. Sie prangert später viel deutlicher alle Erziehungsinstanzen und sinnstiftenden Mächte in der etablierten Gesellschaft, allen voran die väterliche Erziehungsdoktrin, an, die die anschaulichste Form und Grundlage der patriarchalisch hierarchisierten Geschlechtervorstellungen und -differenzierungen liefert. Bei ihrer Klage geht es um den Protest gegen eine Gesellschaftsordnung, die mit den von ihr vorgegebenen geschlechtsspezifischen Lebensentwürfen und Identitätsentwicklungsmustern autoritär, despotisch, unterjochend wirkt. Daran sind sowohl Männer als auch Frauen beteiligt. Dies wird im Roman weiter bekräftigt, wo die Ich-Erzählerin ihrer Mutter die Rolle der Vater-Informantin innerhalb der Familie zuschreibt und sie somit als die Manneskomplizin bei der Stabilisierung der sozialen und Aufrechterhaltung der geschlechtlich vorgegebenen Verhaltensmuster hinstellt. Die Mutter übernimmt laut der Ich-Erzählerin eine Kontrollfunktion hinsichtlich der Achtung bzw. Missachtung der tradierten und gebotenen Erziehungsschemata. Als sie sich die Haare kurz schneiden ließ, wurde sie sanktioniert. Jedoch entschied sich die Hauptfigur Mouna Abdessalem, einen anderen Lebensweg einzuschlagen und den wesentlichen Geschlechtererwartungen, die an sie gerichtet sind, eine grundsätzliche Absage zu erteilen. Dies manifestiert sich konkret in einem für Frauen eher ungewöhnlich ausschweifenden Liebesleben und der kategorischen Ablehnung der Ehe, die für sie eine bloß legalisierte, konventionalisierte und sinnentleerte Verbindungsform zwischen den Geschlechtern darstellt. Indem sie die Liebesleidenschaft als einzige angemessene Basis zwischengeschlechtlicher Partnerschaft anerkennt, verneint sie in revolutionärer Haltung die ethische und soziale Gültigkeit der Ehe und wertet die erzieherisch und gesetz-
27 Diese grundlegende These vertritt die amerikanische amerikanische Soziologin und Psychoanalytikerin Nancy J. Chodorow. Diesbezüglich schreibt sie: »masculine personality, then, comes to be defined more in terms of denial of relation and connection (and denial of feminity), whereas feminine personality comes to include a fundamental definition of self in relationship«. Nancy J. Chodorow. The Reproduction of Mothering: Psychoanalysis and the Sociology of Gender. California 1978, S. 169.
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lich verankerten Regelungsnormen der Geschlechterverhältnisse überhaupt ab. Sie setzt sie in ihrem Lebensentwurf quasi außer Kraft. In dem anderen kurzen Roman Mokhtars »Toast aufs Leben« verläuft die Selbstnarration nicht anders, denn dort stellt die Ich-Erzählerin schon zu Beginn der Erzählung in retro- und introspektiver Form die Weichen für eine neue Selbstsituierung, vor allem in der bewussten Abwendung von grundsätzlicher Hypostasierung der Partnerschaft zwischen den Geschlechtern als sinngebender Instanz der Selbstdefinition. In der fernen Stadt Bonn entscheidet sie, sich von ihrem männlichen Partner Ibrahim und von der von ihm ausgehenden psychologischen und emotionalen Einengung loszusagen. Die Ich-Erzählerin verspricht sich selbst, ihn loszuwerden. Dieses Versprechen wird mit der Verheißung der Wiedererlangung der eigenen Freiheit in Verbindung gebracht. Unzweideutig lässt die Hauptfigur erkennen, dass sie bisher in einer emotionalen oder gedanklichen Abhängigkeit von dieser männlichen Figur lebt, und sie ist nun äußerst bemüht, ihre verlorene Autonomie wieder zu erringen. Hier erschließt sich ganz deutlich jener bezeichnende Aspekt der traditionell dem Weiblichen zugeschriebenen Identitätsbildung oder Identitätsform, die durch den Charakter der Beziehungshaftigkeit28 geprägt ist, aber nun von der Ich-Erzählerin verworfen wird. Sie spricht dies explizit aus, indem sie in einer sprachlich markierten IchSpaltung einem Du verheißend zusichert, »ihm den Käfig aufzubrechen und es in der grenzenlosen Freiheit emporschwingen zu lassen.«29 Dieses Selbstgespräch verrät in unzweideutiger Klarheit ein Ringen um die Rekonstruktion eines Identitätsbildes, das mit vielen Aspekten der Vergangenheit bricht und die Relation zwischen dem eigene Ich und dem Anderen neu definiert. Dabei ist der Andere ein männliches Gegenüber (in diesem Fall der frühere Liebespartner), das aus der gegenwärtigen Sicht der Ich-Erzählerin als Begrenzung der eigenen Autonomie und der Selbstentfaltung wahrgenommen wird. Mit anderen Worten vollzieht sich hier ein Prozess der Loslösung und des Autonomiegewinns, wobei die tradierten und geläufigen sozio-kulturellen Bedingungen und Strukturen weiblicher Identitätsmuster abgelehnt werden; dieser Deutungsansatz erhärtet sich vor dem Hintergrund, dass dieser Selbstdefinitionswandel räumlich fern von dem ursprünglichen Lebensraum angegangen wird. Die räumliche Ferne fördert gerade die gedankliche und emotionale Distanzierung von der alten Existenzform und liefert den passenden Raum für die Korrektur
28 Siehe Anm. 36. 29 Amel Mokhtar. Ebd. S. 9.
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des alten Identitätsbilds.30 Den Kern dieses Wandels bildet vor allem der Wunsch nach Entgrenzungserfahrungen und grenzenloser Freiheit, die von der Ich-Erzählerin zu Beginn ihrer Erzählung mit voller Begeisterung und unaufhaltsamem Erlösungsdrang sinnlich und ästhetisch vorgestellt und ausgemalt werden.31 In der Kurzgeschichte »Geheime Rituale und meine Leidensgeschichte« kreiert die Autorin Hayat Rais eine Ich-Erzählerin, die sich in ihrer Selbstnarration gegen ihren aufgrund der ihr zugewiesenen Geschlechterrollen empfundenen Selbstverlust wehrt. Die Ich-Erzählerin lehnt sich gegen ihre Fremdbestimmung auf und versucht durch die Wiederaufnahme der einstigen Schreibtätigkeit, sich einen autonomen Raum für eine neue Selbstrekonstruktion zu verschaffen, bei der sich ihr Dasein nicht auf die vorgegebene Definition von Weiblichkeitsrollen beschränken soll.
3. DAS LITERARISCHE SCHREIBEN ALS AKT DER SELBSTBEFREIUNG UND DES AUTONOMIEGEWINNS In »Geheimrituale und meine Leidensgeschichte« bildet die abrupte Abwendung der Ich-Erzählerin von den typisch häuslichen Rollenzuweisungen und der fremdbestimmten Selbstdefinition die Hauptthematik der Erzählung. Die erzählende Hauptfigur möchte sich mit ihrer seit der Eheschließung eingestellten Schreibpraxis versöhnen, um der durch die normative Geschlechterordnung hervorgerufene Selbstentfremdung des weiblichen Subjekts entgegenzutreten. Im Gewühl des mühseligen Alltagslebens und der ehelichen Verpflichtungen spürt sie ein enormes Verlangen nach poetischem Schaffen, dem sie sich vor der Ehe leidenschaftlich hingegeben hatte. Dieses Schreibverlangen bezeichnet sie als ein »geheimes Ritual«, dem sie seit ihrer Eheschließung absagte. Die Rede vom »geheimen Ritual« stellt einen bemerkenswerten Ausdruck dar, der in Hinblick
30 Vgl. Natascha Würzbach. Raumdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies, ebd. S. 57. 31 Amel Mokhtar, Ebd. S. 11. Zurecht verweist Natascha Würzbach auf die geschlechtlich unterschiedliche Darstellungsformen des Raums, denn in den meisten Werken der tunesischen Autorinnen ist eine deutliche »Hingabe an Eindrücke und Stimmungen« seitens der Ich-Erzählerinnen bei der Wahrnehmung und Beschreibung der verschiedenen Räumlichkeiten und Ortschaften festzustellen, die sie betreten. Dies geschieht im Gegensatz zur sachlichen und emotional distanzierten Schilderung des Raumes, für die männliche Haltung typisch ist. Natascha Würzbach, ebd., S. 65-66.
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auf die vorgezeichneten Zwänge der soziokulturellen Ordnung auf den unzulässigen oder ungewöhnlichen Charakter dieses Rituals verweist. Die IchErzählerin begreift diese Tätigkeit des poetischen Schreibens als einen Akt der Schaffung eines individuellen Raumes der autonomen und schöpferischen Selbstbehauptung im Geflecht der auferlegten Rollenzuschreibungen und der konventionalisierten Rituale, die dem weiblichen Geschlecht vorgeschrieben werden. Zieht man die Überlegung Butlers zur Macht der ritualisierten und performativen Wirkung der sozialen Normen und Zwänge heran, erhält das Wort Ritual in diesem Kontext eine der geläufigen Normierung der sozial vermittelten Rituale zuwiderlaufende Bedeutung. Die Hinwendung zur Poesie versteht sich hier als Selbstermächtigung einer gemäß ihrer Geschlechtszugehörigkeit zur Einhaltung der entsprechend geläufigen Formen und regulierenden Rituale des Lebensvollzugs gezwungenen Person zur Etablierung eines eigenen Rituals, das schon allein aufgrund seiner ritualisierenden Konzipierung das Monopol der diskursiven Ritualisierung des individuellen Lebenslaufs durch die außerpersönliche Ordnung relativiert und in Frage stellt. Es geht hier, um mit Butler zu sprechen, um die weibliche Rekontextualisierung eines diskursiven Begriffs, der einen der unterwerfenden und sozialisierenden Mechanismen der dichotomischen und essentialistischen Geschlechterzuschreibungen verkörpert. Es ist ein Widerstandakt einer Frau, die sich den vorgegebenen Rollenmustern und erzwungenen identitätsstiftenden Normen zuwiderzusetzen sucht. Der Ritual-Begriff, dem eine enorme Bedeutung bei den diskursiven Regulierungspraktiken einer Kultur zukommt, wird in einen weiblich individualisierten Kontext gestellt. Die Ich-Erzählerin ficht das Ritualisierungsmonopol des hierarchischen konventionellen Kultursystems an, indem sie ein selbstentworfenes Ritual als gleichwertig oder gar vorrangig und lebenswichtig hinstellt. Es lässt sich in diesem Rahmen von der subversiven Resignifikation und weiblicher Subjektivierung des Rituals und der Ritualisierung überhaupt zu sprechen. Dass diesem Ritual das Adjektiv »geheim« beigefügt wird, kann als Ausdruck der berechtigten Sorge um die Sanktionen wie die Ausgrenzung oder Stigmatisierung durch die Gemeinschaft verstanden werden. Es ist aber besonders signifikant, dass die Ich-Erzählerin mitten im Eheleben von der Sehnsucht nach dem alten Schreibritual erfasst wird, denn die Sehnsucht danach wird von der Erzählerin im Zug der Erzählzeit durch das Gefühl der Selbstentfremdung und des Selbstverlustes empfunden, das sie innerhalb der konventionellen Ehebeziehung und wegen des monotonen häuslichen Daseins überkommt. Das weibliche Ich wird im Rahmen ihrer Wahrnehmung der Rolle der Ehefrau und der Kindererzieherin zur bloßen entindividualisierten und entpersonalisierten Funktionsträgerin degradiert, deren individuelle Existenzgrundlage und Lebensinhalt
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sich in der »guten« Erfüllung dieser Funktionen erschöpfen. Die Selbsterzählung fungiert hier als ein Versuch, sich gegen diese von außen diktierte und reduzierte Selbstverortung zu wehren und den übermächtigen Gefühlen des Selbstverlustes und der Selbstaufgabe Einhalt zu gebieten, die aus dem Druck der von ihrer sozialen Umwelt an sie gerichteten Rollenerwartungen resultierten. Das Erzählte bildet eine deutliche Artikulation der Skepsis an der Nützlichkeit und dem Sinn eines solchen Lebensentwurfs für den Anspruch der Selbsterfüllung und Selbstentfaltung. Nach einem Gespräch mit ihrem Ehemann begibt sich die Ich-Erzählerin in ein anderes Zimmer, um sich im Schreibakt wieder zu finden. Mit beispielloser Leidenschaft und Begeisterung beschreibt sie diesen Vorgang, als sei er ein gelungenes Aufbrechen in ein grenzenloses Universum, in dem ihr vieles Unbekannte und Unerhörte begegnen wird. Eine in diesem Zusammenhang sehr signifikante Stelle möchte ich zitieren: » […] und ich fange an, die Welt neu zu ordnen und stimme mich auf ein zeitloses Dasein ein.«32 Dem Schreiben wird hier eine weltumstrukturierende Funktion zugewiesen. Es fungiert also als ein Mittel, die Welt aus der imaginären oder vielleicht emotionalen Warte eines weiblichen Subjekts neu zu ordnen. Somit wird das Schreiben zu einem Vorgang des individuellen Verfügens über die Welt, das sich in der realen Welt, konkret gesagt im Rahmen der ehelichen Selbstaufgabe, als unmöglich erweist. Das weibliche Subjekt ringt um die Rückeroberung der eigenen Autonomie, die sich in der narrativ fiktionalen Umgestaltung der Weltwahrnehmung vollzieht. Hier wird jene bereits erwähnte These exemplifiziert, dass die Autorschaft als eine Art Selbstautorisierung,33 also ein Akt der Wiedererlangung des Anspruchs auf eine dem Subjekt eigenen Welt- und Selbstentwurf begriffen wird. Die Umgestaltung der eigenen Welt durch das Medium der literarischen Selbstartikulation kommt letztendlich einer Unternehmung der neuen Selbstverortung in die außerpersönliche Welt gleich. Dass dieser Widerstand durch das Mittel der sprachlichen Selbstartikulation erfolgt, verrät eine gewisse Einsicht in die Relevanz der sprachlichen Diskurse als eine der wirkungsvollen Praktiken bei der Stabilisierung oder gar Destabilisierung der Geschlechterzuschreibungen in einer Kultur. Das schreibende weibliche Subjekt versucht die festgeschriebenen und performativ wirkenden Verknüpfungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden zu durchbrechen und die vertrauten Vorstellungen und Praktiken, die mit den Worten eng verbunden sind, dem diskursiven Einsatz der Sprache zu entfremden, und in andere Kontexte einzubinden.
32 Rais, ebd. S. 14. 33 Vgl. Nünnig, Ansgar und Vera, ebd. S. 17.
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In der Kurzgeschichte von Rais verfällt die Ich-Erzählerin nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann in einen vielstimmigen inneren Monolog, in dem sie um die reflexive Klarheit ihres Handelns ringt. Dabei spaltet sich das selbstreflexive Ich in der Form des Selbstgesprächs in vier unterschiedlich gesinnte Stimmen: »Eine schlummernde Frau aus alten Zeiten wird in mir wachgerufen: ›Wenn du jetzt nachgibst, verlasse ich dich für immer.‹ Dann überfällt mich die Stimme des verletzten Tiers: ›Wenn du dich weiter versteifst, werde ich dafür sorgen, dass du es für immer bereust.‹ Die Stimme meiner Mutter meldet sich dazu aus den Reihen der Toten: ›Meine Tochter, die Frau hat nichts außer ihren Kindern und ihrem Mann‹. Nun spricht die Feder: ›Ich bin es, die dich aus der Herde befreit, kehr nicht zur Peitsche der Herdewächter zurück!‹ «34
Die Mutter steht für die tradierte Einstellung, die bewährte Geschlechtszuordnung und die Komplizenschaft der Frauen bei der Zementierung und Fortschreibung der Geschlechterhierarchie. Sie verkörpert ein unterwürfiges Frauenbild, bei dem die überkommenen Normen fraglos verinnerlicht und wieder reproduziert werden. Die Ermahnung der Mutter an ihre Tochter, für die Erhaltung der Familie und der Ehe um jeden Preis zu stehen, gehört einem historischen Geschlechterdiskurs an, der das weibliche Dasein auf die Wahrnehmung der familiären Pflichten und auf die Sicherung der Fürsorge für alle Familienmitglieder im häuslichen Raum reduziert. Die Frau ist in diesem Diskurs mehr ein Objekt als Subjekt, denn sie existiert nur dort, wo sie sich für andere nützlich macht. Die Ich-Erzählerin begehrt gegen diese traditionelle Vorstellung von selbstloser Weiblichkeit durch die Hinwendung zur literarischen Produktivität als Rückeroberung eines selbstreflexiven und gedanklichen Raumes für die Selbstentfaltung und autonome Selbstkonstitution auf. Aber die Stimme der Mutter, die die geläufige Komplizenschaft mancher Frauen für die Stabilisierung der alten und traditionellen Geschlechterverhältnisse und der Perpetuierung der männlich hierarchisch festgeschriebenen Geschlechterrollen verkörpert, liefert einen deutlichen Fingerzeig auf die Konstruierbarkeit der Wahrnehmung und der Definition der jeweiligen Geschlechterrollen und der Geschlechterverhältnisse überhaupt. Besonders relevant aus genderorientierter Perspektive sind die Argumentation der personalisierten, sprechenden Feder und der darin eingesetzte antikonformistische Diskurs. Die Feder steht für die geistige Tätigkeit des literarischen Schreibens. Hier wird das Schreiben explizit thematisiert und als eine emanzipa-
34 Rais. Ebd. S. 15.
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torische Unternehmung der Ich-Erzählerin aufgefasst. Dem literarischen Schreiben verdankt sie ihr Außenseitertum, ihre Befreiung vom Joch der Unmündigkeit und Unterwürfigkeit und ihre erfolgreiche Loslösung von den kollektiv vereinbarten und kaum reflektierten oder hinterfragten Zwängen der sozialen Denkmuster und Stereotypen. Eine weitere Formulierung ist auffällig, nämlich die Rede von der »Peitsche der Herdenwächter«. Es handelt sich hier um einen metaphorisch verkleideten Hinweis auf die repressive und sanktionierende Kontrollmacht der verschiedenen Sozialisations- und Einbindungsinstitutionen, die jeglicher individualisierten und subjektbetonten Lebensgestaltung und dissidenter Identitätsbildung mit symbolischen Sanktionen durch die verschiedenen soziokulturellen Homogenisierungsmächte entgegnen. Somit speist sich die Selbstnarration sowohl inhaltlich als auch diskursiv und im Hinblick auf die Frage der Geschlechtszugehörigkeit aus der Divergenz eines nach Autonomie und Selbsterfüllung strebenden Willens eines weiblichen Subjekts und dem ihm vorgezeichneten und essentialistisch entworfenen Frauenbild. Die Kurzgeschichte endet mit einem Satz, der eine Anspielung auf die heuchlerische Haltung der gebildeten Männer in der einheimischen Gesellschaft beinhaltet, denn der Ehemann arbeitet als Universitätsdozent, der Vorlesungen über Freiheit und Menschenrechte hält. Die Information wird gezielt erst am Ende vermittelt, um das Auseinanderklaffen zwischen dem theoretischen Wissen und dem realen Handeln, zwischen Wort und Tat des Ehemannes zu signalisieren. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das literarische Schreibritual als Hauptthema der Kurzgeschichte fiktiv und textintern eine sinnstiftende Bedeutung für die Rekonstruktion einer weiblichen Identität verleiht, die sich dadurch als tätiges und kreatives Subjekt zu rehabilitieren sucht. Die Relevanz des literarischen Schaffens bei der anvisierten Wiederherstellung einer kohärenten Selbstidentität, die aufgrund geschlechtsbedingter Rollenzuweisungen und zuschreibungen beeinträchtigt wurde, wird hier nicht zunächst als Ergebnis einer rezeptiven Deutung herausgearbeitet, sondern erzählerisch explizit von der IchErzählerin hervorgehoben. Es ist also ein Mittel der Korrektur einer für misslich und fehlgeleitet gehaltenen weiblichen Identitätsentwicklung. Bei den meisten Ich-Erzählerinnen, die uns in den Werken von Mokhtar und Rais begegnen, offenbart sich aber auch ein unverkennbares Mitteilungsbedürfnis, das besonders im Medium der fiktiven Narration gestillt und uneingeschränkt befriedigt werden kann, da die freien Artikulationsräume für weibliche
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Subjekte35 in einer männlich und patriarchalisch strukturierten Gesellschaft relativ begrenzt und von Normen der hierarchisch festgelegten Geschlechterdifferenzen bestimmt sind.
4. UMSEMANTIERUNG BZW. UMWERTUNG TRADIERTER BEGRIFFE UND VORSTELLUNGEN In den hier behandelten Erzählwerken von Rais und Mokhtar wird sowohl motivisch wie sprachlich ein gezielter Verstoß gegen kulturell-konsensuelle Normen des Geschlechts artikuliert. Dabei werden die Verwerfung und die Umkehrung der normativen Geschlechterbilder und Geschlechterrollen auf vielfältige Weise illustriert und inszeniert. Eines der wichtigsten Mittel dieser Inszenierung ist die sprachlich subversive Gestaltung der Narration, wie sie gerade in der Kurzgeschichte von Hayat Rais herausgestellt worden ist und an der subjektiv konnotierten Definition des Rituals erkennbar wurde. Es geht dabei um einen narrativen Diskurs, der an vielen Stellen der Erzählwerke vorsätzlich dissidiert und subversiv ausgestaltet wird. In dem ersten Roman Mokhtars ist kaum zu übersehen, dass die weibliche Hauptfigur, die sich weitestgehend des Erzählvorganges sowohl quantitativ als auch perspektivisch bzw. strukturell bemächtigt, von sich ein subversives und dissidentes Frauenbild entwirft. Selbst in ihrer retrospektiv aufgerollten Darstellung ihres Verhältnisses zum männlichen Geschlecht übernimmt sie eine Haltung, die in Hinblick auf die soziokulturell tradierten Normen dem Mann vorbehalten oder eher eigen ist. In ihrem szenisch vergegenwärtigten Gespräch mit ihrem Liebespartner stellt sie sich gegen die an das weibliche Geschlecht gerichteten Rollenerwartungen und die soziokulturell tradierte Argumentationslogik, indem sie Ibrahim zu überreden versucht, einen anti-konventionellen Lebensweg einzuschlagen und sich den sozial vorgegebenen Existenzvorstellungen zu entziehen. Die Hautfigur ist nicht wie im traditionellen Lebensentwurf einer Frau auf Ehe und Mutterwerden bedacht, sondern von dem Wunsch geleitet, alle Formen abenteuerlicher Selbst- und Welterfahrungen zu erleben. Diese Haltung der Entgrenzung und des abenteuerlichen Reisens in fremde Länder stellte lange Zeit selbst in der westlichen Tradition eine typisch männliche Unternehmung dar, und gerade in einer immer noch patriarchalen Gesellschaft verrät diese Um-
35 »Weiblich« im Sinne des Selbstverständnisses der Ich-Erzählerin, die während ihrer Reise in Deutschland neue Dimensionen und Aspekte des weiblichen Daseins ertasten und wahrnehmen konnte.
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kehrung der geschlechtsspezifischen Lebensläufe ein gezieltes Streben, ein anderes, subversives Geschlechtsbild zu inszenieren. Inhaltlich springt in den meisten Werken Mokhtars die leitmotivische Bedeutung des Alkoholkonsums im Sinne eines symbolischen Akts der subversiven Handlungen gegen die geschlechtsgebundenen Erziehungsschemata und Moralvorstellungen ins Auge. Einer der gemeinsamen Nenner ihrer Ich-Erzählerinnen ist die immer wieder geschilderte Trinklust, die in vielen Situationen in einer provokativen Geste und trotzigen Pose inszeniert wird. In Hinblick auf die wirksamen Tabus des kulturellen Kontextes, in dem die Figuren agieren, nimmt dieses ritualisierte Verhalten der Frauen die Dimension einer subversiven Enttabuisierung ein. Mit der vielfach inszenierten Enttabuisierung des Alkoholkonsums durch die erzählenden Frauen wird eine der konventionellen und frauendiskrimierenden Moralvorstellungen desavouiert. Ferner empfindet die Ich-Erzählerin in Mokhtars »Toast aufs Leben« gerade das kulturell festgelegte Diktat des Umgangs mit dem eigenen Körper als Last. Unmissverständlich wird in diesem Roman der weibliche Körper kulturkritisch problematisiert, denn in den festgelegten Umgangsformen mit dem weiblichen Körper kulminiert eine Reihe von zwanghaften Regelungen, die die IchErzählerin als einen Prozess der Beherrschung des weiblichen Subjekts begreift. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Formulierung, die sie für die metaphorische und sarkastische Bezeichnung des eigenen Körpers verwendet, als sie über ihren Wunsch nach Selbstentblößung reflektiert: »Ich vergaß jedoch meinen Sprengkörper zu bedecken. Ich zögerte, es ist aber egal, zum Teufel mit ihren Gesetzen.«36 Die sarkastische und kritikgeladene Bezeichnung des eigenen weiblichen Körper als »Sprengkörper« mag in metaphorischer Überdeutlichkeit die Bedeutung des weiblichen Körpers als einen der wichtigsten Orte der diskursiven Einverleibung und subversiven Überschreitung von hierarchischen Geschlechterzuweisungen verdeutlichen.37 Der Wunsch nach völliger Nacktheit ist nichts ande-
36 Mokhtar, ebd. S. 18 37 Vgl. Stefan Hirschauer, Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 18 (1989), S. 100-118. Julia Reuter Geschlecht und Körper: Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld 2011. Die Betrachtung des menschlichen Körpers als Raum der politisch-kulturellen Normierungen und Naturalisierungen von herrschaftsgebundenen Diskursen geht auf Michael Foucault zurück. Dieser Ansatz wurde von Judith Butler aufgenommen und weiter entwickelt. Dazu Judith Butler: »Anders gesagt, das biologlogische Geschlecht ist
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res als eine provokative Verwerfung der kulturellen und zivilisatorischen Vereinnahmung des weiblichen Körpers. Im ganzen Roman Mokhtars wird der weibliche Körper in zahlreichen antikonformistischen und subversiven Formen inszeniert.38 Seine Inszenierung entzieht sich gezielt den Regulierungspraktiken der kulturellen Werteordnung, die damit als diskursive und unnatürliche Zwangspraktiken entlarvt werden. Ein anderer augenfälliger Aspekt der subversiven Umwertung sprachlicher und moralischer Normen durch die Ich-Erzählerinnen ist die Profanisierung religiöser Begriffe und Vorstellungen, die meistens als Grundlage und unantastbare Autorität für die Hierarchisierung von Geschlechterdifferenzen und -verhältnissen in arabisch-islamischen Kontexten ins Feld geführt werden. Die Ich-Erzählerin in der Kurzgeschichte »Geheime Rituale und meine Leidensgeschichte« verweigert sich dem Beischlaf mit ihrem Mann und bittet ihn, dass er sie in Ruhe lasse, da sie eher ihrem Schreibverlangen nachgehen möchte. Der Ehemann antwortet darauf, sie könne in ihrer Freizeit schreiben. Als sie ihm entgegnet, dass sie beschlossen hat, diese eine Nacht für sich allein in Anspruch zu nehmen, verweist er sie auf ihre Pflicht als Ehefrau. Der Ehemann ermahnt seine Frau hier in einer typische Beurteilung ihrer Verweigerung, die dem theologisch-koranischen Diskurs entnommen ist, wo die Unfolgsamkeit der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann als »Widerspenstigkeit« bezeichnet wird, die im äußersten Fall mit Schlägen geahndet werden kann.39 Der Ehemann greift einen religiösen Begriff auf, um seinen aus seiner Sicht legitimierten Anspruch auf absolutes Verfügen über die eigene Ehefrau zu untermauern. Damit legt er die ethische und geistesgeschichtliche Provenienz dieser männlich dominierten Defini-
ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozess, bei dem regulierende Normen das biologische Geschlecht materialisieren und diese Materialisierung durch eine ständige erzwungene Wiederholung jener Normen erzielen.« Judith Butler. Körper vom Gewicht, Die diskursiven Grenzen des Geschlechts 1997, S. 145. 38 Mokhtar, ebd. S. 86, 96, 109, 120. 39 »Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) ausgeben. Die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben und bewahren das, was geheim gehalten werden soll, da Gott es geheim hält. Ermahnt diejenigen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und schlagt sie. Wenn sie euch gehorchen, dann wendet nichts Weiteres gegen sie an. Gott ist erhaben und groß.« 4,34 Sure.
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tion der Geschlechterverhältnisse offen, die sein egoistisches und menschenverachtendes Verhalten gegenüber seiner Frau festschreibt, rechtfertigt und legalisiert. Der Ehemann rekurriert auf die islamische Werteordnung und ihre oft heraufbeschworene Unantastbarkeit und Sakralität als schwer anzufechtende Grundlage der Legitimierung und Verankerung der verschiedensten Formen der Frauen-Unterordnung und Unterwerfung. Er verweist damit implizit auf den Subordinationsstatus der Frau im theologischen Diskurs. In ihrer Reaktion darauf verneint die Ich-Erzählerin nicht die Existenz dieser religiös definierten Verurteilung ihres »widerspenstigen« Verhaltens, sondern äußert in ihrer Antwort ihre Geringschätzung und gar Ablehnung der theologischen Deutung. In ihrer lakonischen Antwort »na und oder von mir aus« offenbart sich eine deutliche Profanisierung dieser Beurteilung, eine Art subversive Abwertung ihrer performativen Geltung. Damit unterliegt das Heranziehen religiöser Argumentationslinien in der Diskussion um die innerhalb der Ehe geltenden Regelungen dem narrativen Duktus der Entsakralisierung der koranisch-theologischen Begriffe und Denkmuster. Die Heiligkeit der theologischen Argumentation, die vom Mann ins Feld geführt wird, wird durch die damit einhergehende Verdinglichung der Frau als scheinheilig hingestellt und demaskiert. In ähnlicher Form werden in Mokhtars Erzählwerken zahlreiche religiöse Begriffe und Vorstellungen säkularisiert und profanisiert. 40 Beispielsweise wird das Wort »Gebet« sehr häufig in einem irreligiösen Kontext verwendet. Oft werden die Liebe und der Liebesakt mit dem »Gebet« gleichgesetzt.
5. DARSTELLUNG KULTURELLER UND HISTORISCHER VARIABILITÄT VON WEIBLICHKEITSBILDERN Zu den weiteren Aspekten der symbolischen Dekonstruktion der essentialistisch und normativ festgeschriebenen Geschlechterordnung durch die Narration gehört die narrative Darstellung der kulturell und historisch bedingten Variabilität von Weiblichkeitsbildern und Geschlechtsidentitäten, die an verschiedenen Stellen und Situationen der hier angesprochenen Erzählwerke illustriert wird. In den Erzählwerken »Geheimrituale und meine Leidensgeschichte« und »Schaukelstuhl« vertreten die Mütter der Erzählerinnen ein traditionelles Frauenbild, das auf ihre Rolle innnerhalb der Familie reduziert wird; sie stehen ihren erzählenden Töchtern gegenüber, die den Wunsch nach einem emanzipierten
40 »Wie wie ein Mystiker in Gottes Gegenwart« ebd. S. 27.
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und erfüllten Frauendasein hegen. Diese Gegenüberstellungen beider weiblichen Selbstbilder mag aus gendersensibler Betrachtung die Einsicht in die historische Variabilität der Geschlechterdefinition und Geschlechterrollen illustrieren, da die Mütter historisch gesehen für einen historisch zurückliegenden Weiblichkeitsentwurf stehen.41 Die Variabilität der Geschlechterattributionen und Geschlechterzuschreibungen wird auch in »Toast aufs Leben« inszeniert, wenn die Ich-Erzählerin auf ihrer Deutschlandreise mehrmals homosexuelle Frauen beschreibt und sie in ihren privaten Gedankengang einbezieht, ohne die Homosexualität gutzuheißen oder zu verurteilen. Dieser Hinweis auf die Existenz gleichgeschlechtlicher Beziehungen könnte durchaus vor allem hinsichtlich der extremen Tabuisierung der Homosexualität in arabisch-islamischen Kontexten und im Hinblick auf die in Deutschland mittlerweile weitgehend geschaffene Offenheit und Toleranz für nicht-heterosexuelle Geschlechterverhältnisse als ein impliziter Appell zur Überwindung naturalisierter Homophobie verstanden werden. Die implizit vermittelte Einsicht in die kulturelle Variabilität von Geschlechterzuschreibungen und geschlechtlichen Identitätsmustern42 bildet vor allem in den Erzählwerken von Amel Mokhtar eine wesentliche Thematik, die besonders durch den Vergleich mit westlichen Frauengeschichten und Verhaltensweisen zur Sprache kommt. Der narrativ subtil vermittelte Einblick in die kulturelle und historische Bedingtheit weiblicher Identitätsbildung zeigt die vielfache Verquickung von narrativer Gestaltung und geschlechtsrelevanten Gesichtspunkten in dieser Kurzgeschichte.
41 Vgl. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften von Menschen und das Weib, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Marion Gymnich, Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, in: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Ebd. S. 137. 42 Zum Begriff der kulturellen Variabilität der Geschlechterodnungen bieten sich zahlreiche aufschlussreiche Beiträge aus der soziokulturellen Forschung. Vgl. Regine Gildemeister. Soziale Konstruktion von Geschlecht. Doing gender. In: Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen: Ein Überblick über gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische Positionen. Hrsg. von Sylvia Marlene Wilz. Wiesbaden 2008, S. 167-198.
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6. GESCHLECHT UND NARRATION AUF ERZÄHLTECHNISCHER EBENE 6.1 Episodenhafte Erzählstruktur und Handlungsarmut Die Selbstnarration der weiblichen Hauptfiguren in den verschiedenen Erzählwerken von Mokhtar und Rais verrät eine enge Verbindung von Geschlechtszugehörigkeit und narrativer Gestaltung nicht nur auf inhaltlicher Ebene (eigene Geschlechtsidentität und Identitätsumbildung), sondern auch auf der sprachlichen und erzähltechnischen Ebene, denn auch in dieser Hinsicht zeigt sich eine enge Verflochtenheit zwischen Geschlecht und Narration. Unter den wichtigsten erzähltechnischen Kennzeichen, die bei den tunesischen Autorinnen vor allem anzutreffen sind, ist der Verzicht auf eine chronologisch geordnete Erzählweise zu nennen; stattdessen wird episodenhaft und situativ gebunden erzählt.43 Die Relation, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart der Erzählzeit hergestellt wird, beruht nicht auf einer temporal linear geordneten Struktur. Es gibt keine chronologische und lineare Erzählform bzw. Zuspitzung oder Steigerungsstruktur im Verlauf des Erzählten. Der Erzählvorgang steuert nicht auf ein Ende zu.44 Es bestehen viele Zeitsprünge beim Erzählvorgang, die durch den selektiven und willkürlichen Erzählbedarf der Ich-Erzählerin bedingt sind. Es werden vor allem Erlebnisse und Situationen geschildert, die als Anlass für die Wiedergabe und Thematisierung subjektiver Bewusstseinsinhalte und Gedanken dienen. Die
43 Dazu Andrea Gutenberg: »Diverse feministische Studien haben die Substitution von männlich konnotierten Konfigurationsprinzipien wie Progression und Teleologie durch Diskontinuität, Zirkularität, Wiederholung in frauenzentrierten Texten herausgearbeitet.« Andrea Gutenberg. Handlung, Plot und Plotmuster. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Ebd. S. 104 44 Man hat den Eindruck, sie seien nicht so sehr auf die Einhaltung herkömmlicher androzentrischer Erzähltraditionen bedacht; sie erzählen stattdessen in offenen und fragmentierten Strukturen. Diese Erzählform kann als typisch weibliche Erzählstrategie verstanden werden, wobei die gezielte Vernachlässigung der zeitlichen und handlungsmäßigen Kohärenz als eine typisch weibliche Erzählweise gedeutet wird, durch die eine symbolische Distanzierung von der männlich konnotierten Erzähltradition signalisiert werde. Diese Deutung geht auf die These der »écriture féminine« von Hélène Cixous zurück. Vgl. Hélène Cixous, Le Rire de la Méduse et autres ironies, Paris 1975. Vgl. Doris Feldmann und Sabine Schütling. Misogynie. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hrgs. Von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2001, S. 129.
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sprunghafte Erzählstruktur und die starke Selbstreflexivität bewirken eine gewisse Armut an Handlungsmomenten in den meisten Erzählungen, denn vordergründig ist hier die Gestaltung von Bewusstseinsinhalten und Reflexionsprozessen.45 6.2 Polyperspektivität und Selbstfragmentierung In den meisten Erzählwerken stößt man auf das erzähltechnische Phänomen der Polyperspektivität, die vor allem beim Vorgang der narrativen Selbstfindung oft eingesetzt wird und einer Art der Selbstfragmentierung gleichkommt. 46 In den hier untersuchten Erzählwerken lassen sich zahlreiche Beispiele für die typische Polyperspektivität und Selbstfragmentierung in der Narration weiblicher Figuren anführen. In der Kurzgeschichte »Geheime Rituale und meine Leidensgeschichte« von Hayat Rais findet sich der oben im dritten Abschnitt untersuchte vielstimmige innere Monolog der Ich-Erzählerin, in dem sie um die reflexive Klarheit ihres Handelns ringt. Wie es in vielen Erzählungen Mokhtars der Fall ist, spaltet sich auch hier in der Kurzgeschichte von Hayat Rais das selbstreflexive Ich in der Form des Selbstgesprächs in vier unterschiedliche Stimmen auf: die erste Stimme steht für ihr früheres emanzipatorisches Selbstverständnis, die zweite ist die Stimme der zur Unterwürfigkeit und Fügsamkeit verdammten Frau. Die dritte Stimme ist die der schon längst verstorbenen Mutter, die die IchErzählerin vor dem Heraustreten aus dem Eheleben warnt, da sich aus ihrer Sicht die weibliche Existenz in ihrer familiären Rollenposition erschöpft. Die vierte Stimme verkörpert die Haltung des ihr innewohnenden poetischen Ichs, das im Text durch die »Feder« personifiziert wird. Es ist eine Form der Darstellung von
45 Vgl. Eveline Kilian, ebd. S. 88. 46 Laut mehreren feministischen Studien lässt sich diese Tendenz zur Fragmentierung des Erzählten und zur Selbstfragmentierung in der weiblichen Schreibpraxis unterschiedlich begründen, zum einen kann es als ein Hinweis auf die inkohärente Verfasstheit des Selbstverständnisses gedeutet werden, zum anderen kann dies als eine bewusste weibliche Erzähltechnik verstanden werden, um einer der männlichen Normen der Narration und deren kompositorischen Geboten oppositionell zu entgegnen. Vgl. Anm. 44 und Sigrid Weigel, Die geopferte Heldin und das Opfer als Held. Zum Entwurf weiblicher Helden in der Literatur von Männern und Frauen. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Inge Stephan. Berlin 1983. S. 150. Vgl. Gaby Allrath und Carola Surkamp, Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Erzähltextanlyse und Gender Studies. Ebd. S. 159.
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Bewusstseinsvorgängen, die mehr als die Stimme zulässt und an der erzählten Situation die Selbstfragmentierung erkennen lässt. Hier wird ein permanentes Ringen um die Kohärenz und Kontinuität zwischen unterschiedlichen bis gegensätzlichen Handlungsantrieben und Selbstwahrnehmungen offenkundig. Es geht dabei um die Zerrissenheit des weiblichen Ich zwischen dem Anspruch der subjektiven Identitätsbildung und den kulturell vorgegebenen Linien und Grenzen der geschlechtsspezifischen Identitätsbestimmungen.47 Die Polyperspektivität und Selbstfragmentierung dienen in erzähltechnischer Hinsicht als Darstellungsmedium der Relativierung der Geschlechtsdefinitionen und der Sichtbarmachung des konstrukthaften und variablen Charakters weiblicher Geschlechtsidentitäten.48 6.3 Emanzipatorische weibliche Erzählhaltung Die enge Verflochtenheit von Geschlecht und Narration kann auch auf der Ebene der Erzählhaltung der Ich-Erzählerin verfolgt werden. In den meisten Geschichten handelt es sich um eine zentrale Frauenfigur, die als Ich-Erzählerin den Gang der Handlung und des Erzählvorgangs steuert und bestimmt. Alle anderen Figuren, die in dieser fiktiven Selbstnarration auftauchen, unterliegen der Logik und dem Konfigurationsschema der Ich-Erzählerin. Dies kann als ausgeprägte Auktorialität bezeichnet werden, durch die das weibliche Subjekt in dem autonomen Narrationsakt eine Form der Selbstbehauptung, eine Form der Selbstermächtigung zur Vereinnahmung der Sprache als Mittel der Dekonstruktion und Rekonstruktion von geschlechtsbezogenen Wahrnehmungsmustern der Wirklichkeit, also ein in der außerliterarischen Wirklichkeit kaum durchsetzbares Verfügen über Dinge und Personen, wie es die subjektive Gestaltung der narrativen Wirklichkeit möglich macht. Die weiblich dominierte Erzählhaltung zeigt sich aber auch in der subjektiven Figurenkonzipierung und -darstellung durch die Erzählerin, die aufgrund ihrer narrativ monopolisierten Verfügungsmacht vor allem über die männlichen Figuren durch eine emanzipatorische weibliche Perspektive die Männer fiktional entmachtet. Sie sind in den meisten Erzählwerken dem Duktus und dem Diktat der weiblichen Optik der Erzählerin ausgeliefert. Sie sind keine souverän handelnden Gestalten, sondern in vielen Situationen und Gesprächen werden sie in der narrativen Wiedergabe durch die Erzählerin als entmachtete Figuren inszeniert, die sich der weiblichen Gunst nicht mehr sicher sind. Die Ich-Erzählerin in
47 Vgl. ebd. S. 159. 48 Vgl. ebd. S. 167.
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»Toast aufs Leben« verfügt beispielsweise förmlich über die verschiedenen männlichen Figuren, die ihr begegnen. Sowohl sprachlich als auch handelnd übernimmt sie die Rolle der Figur, die lenkt und manipuliert. Das historische Objekt erhebt sich hier narrativ zum Stand des Subjekts. An vielen Stellen des Erzählten drückt sich der weiblich determinierte Wille, der Kontrolle zu entgehen oder den traditionellen Initiierungsanspruch des Mannes außer Kraft zu setzen. Selbst das Phänomen des erotisch heterogenen Begehrens unterliegt weitestgehend der weiblichen Willkür der Erzählerin und wird von ihr spielerisch und machtbewusst inszeniert. Dies versetzt die Erzählerin in eine Position der Überlegenheit. Der Erzählakt selbst wird zum Ausleben einer narrativ vollzogenen Souveränität des weiblichen Subjekts.
7. SCHLUSS Indem sie die Genese der wirksamen Phasen und Mechanismen der geschlechtlichen Identitätsbildung narrativ offenlegen und dabei die grundsätzliche Haltung der Skepsis und der sprachlichen und handelnden Destabilisierung der vorgegebenen Normen der weiblichen Selbstdefinition aufzeigen, liefern die genannten tunesischen Autorinnen ein Zeugnis ihrer Bewusstheit um den Konstruktcharakter von Geschlechterstereotypen und bieten einen imaginären Raum der Umstrukturierung der tradierten Sozialisationsformen und der Rekontextualisierung der eingesetzten Diskurse. Aus genderkritischer Perspektive artikuliert sich in ihren Erzählwerken eine deutliche Absage an essentialistische Festlegungen von Geschlechterbildern. Ihre imaginären Hauptfiguren rebellieren gegen patriarchalisch geprägte Formen der Identitätsstiftung und lehnen die durch autoritäre Konventionen und Normen fortgeschriebenen Lebensentwürfe ab. Die Dominanz der Auktorialität im Zuge der erzählerischen Vermittlung verleiht dieser Grundhaltung Festigkeit und Konsistenz, denn sie bieten damit ein Beispiel der diskursiven Umwertung der sprachlichen Rituale und Phrasen sowie männlich geprägter Erzählnormen. Trotz des narrativ vermittelten Wissens um den ritualisierend und diskursiv durchgesetzten Charakter der geschlechtsspezifischen Verhaltensparameter und der Gestaltung der weiblichen Identität gelingt es den Hauptfiguren jedoch nicht, sich von den zahlreichen stereotypischen Formen der Geschlechtszuschreibungen gänzlich zu befreien. Die Ich-Erzählerinnen hegen meistens keinen grundsätzlichen Zweifel an der als natürlich wahrgenommen Geschlechterdichotomie. Sie stemmen sich eher gegen eine männlich dominierte und geschlechtlich hierarchisch strukturierte Geschlechterordnung.
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Angesichts dessen, dass in vielen arabischen Kontexten kulturellen Veränderungen meist mit großer Skepsis und oft tautologischer Dogmatik begegnet wird, bildet jedoch diese Form der subversiven Literatur zur Frage der Genderdefinition einen gewagten Versuch, den Zwangscharakter geschlechtsspezifischer Identitätsentwürfe zu demontieren. Den Blick für die Konstrukthaftigkeit der Geschlechterdefinition und für die damit zusammenhängenden Klischees und Stereotypen zu schärfen, beschränkt sich keineswegs auf die Sphäre weiblicher Identitätsentwürfe, sondern berührt auch die überholten und entfremdenden Männlichkeitsvorstellungen, die sich vor allem in der Diskrepanz zwischen der verkündeten modernen und emanzipatorischen Selbstpräsentation einerseits und den praktisch patriarchal und von Herrschaftsansprüchen geprägten Verhaltensweisen andererseits49 kundtun.
49 Vgl. dazu auch den Beitrag von Ina Khiari-Loch in diesem Band.
Erinnerung, Dezentrierung und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in Rochdi Belgasmis Tanzperformance Oueld Jellaba1 Steffi Hobuß
1. EINLEITUNG Leuphana Universität Lüneburg, Libeskind-Auditorium, am 18. Juli 2018. Im Zuschauerraum herrscht leichtes Dämmerlicht. Es erklingen laute Geräusche, die an Kampfflugzeuge, Bombenabwürfe, Schüsse und Explosionen erinnern. Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein. Eine männliche Stimme zählt eine lange Reihe von Namen auf, die gleichzeitig als Schrift auf den Wänden erscheinen: »Oueld Kḫīra, Oueld ʿAzza, Oueld Umm as-Saʿd, Oueld Masʿūda, Oueld Umm azZīn [...], Oueld Jellaba«.2 Hinter einer Art hohem Zelt aus Tüll verborgen sehen die Zuschauer*innen den Tänzer, der sich auf seinen Auftritt vorbereitet. Er zieht
1
Erstaufführung Tunis 2016. Choreographie und Interpretation: Rochdi Belgasmi, Musik: Oussama Saidi, Percussion: Assem May, Kostüme: Raja Najar.
2
Es gibt zwei unterschiedliche Transkriptionen für Arabisch (ول دSohn), die sich beide nebeneinander finden: »Ouled« und »Oueld«. Im vorliegenden Beitrag wird die Schreibweise »Oueld« (Singular) bevorzugt; »Ouled« ist die Pluralform, die dem arabischen Original nicht entsprechen würde. Andererseits lässt sich die Pluralform des geläufigen Namensbestandteils »Sohn von ...«, also wörtlich »Söhne von ...«, vielleicht auch als eine gewisse Parodie lesen, die darauf hinweist, dass es hier einerseits um eine Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe, aber auch mit neuen Pluralismen geht. Auch die Transkriptionen »Jellaba/Jalleba/Jaleba« kommen nebeneinander vor.
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sich sorgsam an, wickelt sich Bandagen um die Knöchelgelenke, dann legt er eine Perücke mit langem Zopf an, eine mit Pailletten besetzte funkelnde Weste über seinem nackten Oberkörper, ein glitzerndes Diadem, eine beim Tanz schwingende Kordel um die Hüften, und schminkt sich das Gesicht. »Rochdi Belgasmi wird zu Oueld Jellaba.«3 Abbildung 1: Rochdi Belgasmi wird zu Oueld Jellaba
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
Später wechselt die Musik, wir hören rhythmisches Trommeln, SchalmeiMelodien, abwechselnd mit Elementen einer ruhigen Streicherkomposition, und der Tänzer, der nun trotz seines sichtbaren Bartes gleichzeitig einen schönen, geschmückten als weiblich gelesenen Körper darstellt, verlässt seine Garderobe aus Tüll wie ein Schmetterling seine Puppenhülle und beginnt auf der Bühne zu tanzen.
3
»Rochdi Belgasmi devient Ouled Jellaba«, Video »Ouled Jellaba de Rochdi Belgasmi à Marseille« (1:07), verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=oZ4CXtt4 re0, letzter Abruf 12.08.2019.
Rochdi Belgasmis Tanzperformance Oueld Jellaba | 343
Abbildung 2: Oueld Jellaba in Lüneburg
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
Die Schrift auf den Wänden lässt nun Daten und Ereignisse aus der tunesischen Geschichte aufscheinen, gleichzeitig werden sie von der Sprecherstimme vorgetragen. Es geht vor allem um Ereignisse aus der Zeit der beiden Weltkriege, um den Kolonialismus und die Unabhängigkeitskämpfe in Tunesien: »1930 la crise économique mondiale frappe la Tunisie de plein fouet« (»die Weltwirtschaftskrise trifft Tunesien mit voller Härte«) »02 Mars 1934, création de néo-Destour à Ksar Hellal« (»Gründung der Neo-DesturPartei in Ksar Hellal«)4
Noch später folgen spektakuläre Einlagen mit aufeinandergestapelten hohen Vasen, Karaffen und Gläsern, die der Tänzer auf dem Kopf balanciert.
4
Die Partei wurde am 2. März 1934 von Habib Bourguiba aus Protest gegen Mitglieder der Destur-Partei gegründet. Es kam zur Spaltung und anschließend zur Gründung der arabisch-nationalistischen Neo-Destur-Partei aus dem modernistisch und laizistisch orientierten Flügel der Destur. Das Ziel der neuen Partei war zunächst, die Unabhängigkeit Tunesiens von der französischen Protektoratsmacht zu erreichen. Nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 kam die Partei endgültig in Tunesien an die Macht. Die Neo-Destur war die jahrelang alleinregierende Partei innerhalb des Einparteiensystems von Tunesien.
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Abbildung 3: Oueld Jellaba in Lüneburg
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
Rochdi Belgasmi geht durch die Reihen nach oben und zwischen den Zuschauer*innen hindurch, wir halten den Atem an, wie wenn man Artist*innen im Zirkus zuschaut: Wird es gelingen, wird nichts herabfallen und auf dem Boden zerschellen? Aber es klappt alles, alle nehmen es mit Erleichterung wahr, statt Anspannung greifen nun Freude und richtige Lebensfreude Raum, Rochdi fordert alle auf, gemeinsam mitzutanzen und zu klatschen. Wir könnten uns auf einer großen Hochzeitsfeier oder auch einer Folkloreaufführung für Touristen befinden, so jedenfalls meine Wahrnehmung mit europäischen Augen und Ohren. Und trotz der ausgelassenen Stimmung, die sich am Ende einstellt, bleibt die beklemmende Erinnerung an Krieg, Gewaltherrschaft und Unterdrückung im Untergrund bestehen und wird nicht ausgeblendet.
Rochdi Belgasmis Tanzperformance Oueld Jellaba | 345
Abbildung 4: Rochdi Belgasmi und Publikum
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
Rochdi Belgasmi ist ein tunesischer Tänzer und Choreograph, der aus der Region von M’saken stammt, in Tunis lebt und mittlerweile auf internationalen Festivals in aller Welt auftritt. Im Jahr 2016 gewann er mit »Oueld Jellaba« den Preis der Olfa Rambourg Foundation und 2017 den Publikumspreis beim Tunis Capital of Dance Festival. Seitdem er mit der großen Vertreterin des tunesischen Tanzes Khira Oubeidallah zusammentraf und mit ihr arbeitete, verbindet er in seiner Arbeit den traditionellen tunesischen Tanz, populären Tanz und modernen klassischen Tanz: »la diagonale de fou entre les danses locales et la danse contemporaine«.5 Rochdi Belgasmi, der mittlerweile etliche Jahre damit verbracht hat, auf diese ›irre‹ oder ›verrückte‹ Weise sein eigenes Material zu entwickeln und Tanz zu unterrichten, erklärt, dass der tunesische Volkstanz in muslimischen Kontexten aufgrund seiner Herkunft nicht gut angesehen wird; er basierte ursprünglich auf Verführung und Sexualität und hatte Assoziationen zu Prostitution und Homosexualität.6 Zu Beginn seiner Karriere hielten viele seine Leistungen für bizarr. Er wurde angezeigt, und während einer Aufführung auf dem Tanzfestival in Tunis-Karthago bedeckten Mitglieder der Ennahdha-Partei ihre Augen, um ihn nicht mit nacktem Oberkörper und dem hüftbetonenden Band tanzen zu sehen.
5
Rochdi Belgasmi: Ouled Jalleba. Un projet choréographique de Rochdi Belgasmi. Unveröffentlichte Programminformation, S. 2.
6
Rochdi Belgasmi im persönlichen Gespräch in Lüneburg, 18. Juli 2018.
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Für Rochdi Belgasmi ist es wichtig, den tunesischen Volkstanz vom traditionellen »Orientalischen Tanz« oder Bauchtanz zu unterscheiden. Unabhängig davon, ob eine Tänzerin ein Mann* oder eine Frau* ist, ist für ihn die Körpersprache entscheidend. Tanzen sei eine Ausdrucksform wie Sprechen, und es könne verwendet werden, um alle möglichen Themen wie Politik, Religion, Geschichte und Gesellschaft darzustellen.7 Bei den von ihm organisierten Workshops für Frauen* und Männer* in ganz Tunesien ist es sein Ziel, die Werte der Toleranz und der Freiheit zu stärken und zu verbreiten.8 Im Folgenden soll zunächst die Performance »Oueld Jellaba« kurz vorgestellt werden, bevor ich sie unter den Aspekten der raum-zeitlichen Dezentrierung und kollektiven Erinnerung (3.) sowie der Geschlechternormen und der performativen Transformation (4.) betrachten werde. Abbildung 5: Oueld Jellaba in Lüneburg
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
2. OULED JELLABA Uraufgeführt 2016, hat die Performance seitdem mehrere Preise erhalten und war auf vielen internationalen Festivals zu sehen. Das Stück spielt im Tunis der 1920er Jahre, als der Tanz als ein gewöhnlicher Beruf betrachtet wurde. In großen Kaffeehäusern waren gefeierte Sänger, Zauberer, Akrobaten und auch Tän7
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zer zu sehen, die aus den ländlichen Regionen in die Hauptstadt kamen, um ihre lokalen Tänze zu präsentieren.9 Zu diesen Tänzern gehörte auch der berühmte Msekni, der als erster die »Qlels« (spezielle Krüge) auf seinem Kopf platzierte und einen langen, schwingenden weißen Rock trug, der an die Tänze der Inseln Djerba und Kerkenah erinnerte. Weitere berühmte Tänzer waren Chok el Osbana, Qonfida, und vor allem Oueld Jellaba, Travestietänzer, die zur Unterhaltung jener Männer auftraten, die als Aushilfen in den Kaffeehäusern arbeiteten und ursprünglich oft Hafen- oder Minenarbeiter gewesen waren. In dieser Zeit hatten Frauen nicht das Recht, in der Öffentlichkeit oder in den Kaffeehäusern zu tanzen; daher wurde der Tanz grundsätzlich an Männer delegiert, dabei auch weibliche Rollen als Travestie einzunehmen, und es entwickelte sich die Tradition der Travestie zur Darstellung als weiblich gelesener Gesten und Figuren in diesen ganz und gar männlichen sozialen Räumen.10 Oueld Jellaba, in den 1920er Jahren gefeiert, aber später in Tunesien in Vergessenheit geraten, trat im Kaffeehaus »Sallit Dziri« auf, das sich in der Medina von Tunis am Eingang zum Souk Zazara, dem Souk der Metzger befand. Er war Tänzer, Sänger, Jongleur – und zugleich Kellner, der Tee und Kaffee servierte. Mit dem Aufstieg der Widerstandsbewegung gegen den Kolonialismus, der Unabhängigkeit und der großen Welle der »Befreiung der tunesischen Frauen« 11 mit all ihren Ambivalenzen konnten auch die Frauen* öffentliche Räume nutzen, und in den Kaffeehäusern begannen Tänzerinnen aufzutreten. Dadurch verloren die männlichen Travestietänzer ihre Auftrittsgelegenheiten und ihren Platz in der tunesischen Gesellschaft, sie wurden zurückgewiesen, moralisch verurteilt und zogen sich aus der Medina in die Außenbezirke von Tunis zurück, wo sie wie Prostituierte behandelt wurden.12 In der Tanzperformance, die Rochdi Belgasmi dem Tänzer Oueld Jellaba gewidmet hat, geht es um bekannte und weniger bekannte Spuren der Geschichte des heutigen Tunesien sowie darum, an die Kaffeehäuser zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu erinnern; es geht um Geschlechterkonstruktionen und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen und Aporien in der Praxis des tunesi-
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Vgl. Rochdi Belgasmi: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, S. 2.
10 Vgl. ebd. 11 Vgl. I. Khiari-Loch, »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der Freiheit«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’Homme, Cottbus-Medenine 2013, S. 105, sowie den Text von Ina Khiari-Loch in diesem Band. 12 Vgl. Rochdi Belgasmi: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, S. 2.
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schen Tanzes. Und »es geht darum, ausgehend von der Geschichte der Körper und ihrer Expressivität die Entwicklung dieses Landes [Tunesien] zu verstehen, darum, ausgehend von diesem symbolischen Erbe der Gestik Oueld Jellabas das soziale und kulturelle Leben jener Epoche zu befragen«. 13
3. RAUM-ZEITLICHE DEZENTRIERUNG UND KOLLEKTIVE ERINNERUNG Jetzt könnte man meinen, bei »Oueld Jellaba« handle es sich um ein nostalgisches Stück, das vergangene Zeiten und Räume wieder aufleben lässt, verbunden mit dem Bedauern, dass diese Praktiken und Möglichkeiten verurteilt worden und in Vergessenheit geraten sind. Aber das wäre ein Missverständnis, das bei den anwesenden Zuschauer*innen auch gar nicht erst aufkommen kann, denn sowohl die Szenerie als auch die Erzählweise sorgen dafür, dass sich keine schlichte Nostalgie einstellt und nicht nur die Überbleibsel vergangener Zeiten gezeigt werden, die durch den sozialen Wandel obsolet geworden sind. Denn die »Tanz- und Erzählphasen folgen nicht einfach aufeinander, sie unterbrechen sich gegenseitig und provozieren immer wieder eine Distanz zu dem, was wir sehen oder hören.« 14 Am Beginn des Stücks ist zunächst im Raum die Stimme zu hören, die wie oben beschrieben die lange Reihe tunesischer Namen aufzählt, die alle mit »Oueld« (dt. »Sohn von [...]«) beginnen. Dann hört man die beschriebenen bedrohlichen Geräusche, sieht die auf die Wände projizierten Jahreszahlen und Sätze zur tunesischen Geschichte, und die Stimme fährt damit fort, die historischen Fakten aufzuzählen, die die tunesische Gesellschaft geprägt und auch die Entwicklung des Tanzes, der Kaffeehäuser und des Eintritts von Frauen in die Öffentlichkeit beeinflusst haben. Sehr deutlich wird, wie Tunesien als kleines und bedrohtes Land, hart getroffen vom Kolonialismus, den Weltkriegen und den Wirtschaftskrisen, doch nicht zerbrochen ist. Auf der Bühne selbst ist ein leerer Raum, in dem sich der Tänzer gleich unter diesen Projektionen und vor den Augen der Zuschauer*innen zu seiner Figur entwickeln wird.
13 Rochdi Belgasmi: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, S. 3 (übersetzt von mir, SH). 14 Marc Mercier: Eloge du trouble du regard, 23.11.2016, in: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, S. 5-8, hier S. 7. (übersetzt von mir, SH).
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Abbildung 6: Szenenaufbau
Quelle: Rochdi Belgasmi15
In der Mitte der Bühne befindet sich ein Quadrat, das von sechs Meter hohen Tüllbahnen umgeben ist. Schon wenn das Publikum den Raum betritt, sieht es den Künstler durch den Stoff hindurch. Abgetrennt und doch sichtbar in seinem intimen Kabinett aus Tüll zieht er sich an, frisiert sich, schminkt sich. Die Anfangsminuten »sind in jeder Hinsicht verunsichernd. Zum einen, weil der Tüll lichtdurchlässig ist und so beleuchtet wird, dass er nicht klar erkennbar ist. Dann, weil er [der Tänzer] durch die Verkleidung mit offensichtlich weiblichen Zeichen Zweifel an seiner sexuellen Identität aufkommen lässt.«16 Die Gleichzeitigkeit all dieser Eindrücke, die Brüche und Diskontinuitäten und die Verunsicherung führen dazu, dass sich keine nostalgische Stimmung einstellen kann, die die goldenen 20er Jahre verklären würde. Stattdessen wird eine Distanzierung vorgenommen, die noch dadurch verstärkt wird, dass im vorgesehenen Bühnenaufbau die Zuschauer*innen am Rand auf allen vier Seiten um die Bühne herum sitzen und einander gegenseitig wahrnehmen. Durch diese Anordnung wird ein spezielles Blickregime erzeugt:
15 Rochdi Belgasmi: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, Fiche technique, S. 10. 16 Ebd.
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»In der Gesellschaft stehen wir alle unter dem wachsamen Blick des Herrn, unter seiner engen Aufsicht. Für die einen ist es das allgegenwärtige Auge Gottes, für manche ist es der Blick der anderen, der uns richtet (›Die Hölle, das sind die anderen‹ sagte Sartre), für wiederum andere ist es der Polizeistaat, quasi in permanentem Ausnahmezustand, heute zum Beispiel mit all diesen Überwachungskameras, die jede einzelne unserer Handlungen oder Bewegungen im öffentlichen Raum ausspionieren. Der Blick des Meisters ist ein generalisiertes Panoptikum. Der Tanz kehrt den Prozess der Überwachung um.«17
Marc Mercier bezieht sich hier auf Foucaults Theorie des Panoptikums, wie sie Foucault in »Überwachen und Strafen«18 im Anschluss an Jeremy Benthams Gefängnisarchitektur entwickelt hat. In modernen Disziplinargesellschaften kann laut Foucault am Ende auch auf den von Bentham noch vorgesehenen einzelnen Bewacher verzichtet werden, weil die Regierung durch die Überwachung allein schon dadurch funktioniert, dass sich alle regelkonform verhalten, weil sie sich beobachtet wissen. In Rochdi Belgasmis Performance vollzieht sich hier ein doppelter Blick: Zum einen sehen und beobachten sich die Zuschauer*innen wie im Panoptikum durchaus gegenseitig von den jeweils gegenüberliegenden Seiten der Bühne über das Geschehen hinweg, zum anderen aber schauen sie der Performance des Tänzers zu, wo ihre Blicke konvergieren, ist der Tänzer in diesem Moment das Zentrum der Welt. Insofern nimmt die Performance zugleich eine Dezentrierung und eine Zentrierung vor. Der tanzende Körper kann nicht auf eine eindeutige historische Situation festgelegt werden, er ist nicht eindeutig sexualisiert, es handelt sich weder um ein Drama noch um eine Komödie, die Rollen zwischen denen, die beobachten und denen, die beobachtet werden, sind nicht eineindeutig verteilt: Rochdi Belgasmis Tanz vollzieht eine »raumzeitliche Dezentrierung des tanzenden Körpers«. 19 Und trotzdem kondensieren all diese raum-zeitlichen Dezentrierungen in der Figur im Zentrum der Bühne. Durch diese Anordnungen der Blicke werden die gewohnten Richtungen des Blicks verunsichert und in produktiver Weise gestört; diese Verunsicherung des
17 Mercier, Marc: Eloge du trouble du regard, 23.11.2016, in: Ouled Jalleba. Unveröffentlichte Programminformation, S. 5-8, hier S. 7. (übersetzt von mir, SH). 18 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. 19 Triki, Rachida: Transiter par le corps dansant, in: Dominique Rebaud (Hg.): Le Corps Dansant. (Les Carnets D’Archipel Méditerranées 3), Paris: L’Harmattan 2017, S. 8586, hier S. 85.
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Blicks macht deutlich: »Nicht alles ist sichtbar. Nicht alles ist verständlich. Nicht alles kann erinnert werden.«20 Abbildung 7: Rochdi Belgasmi in Oueld Jellaba
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
4. GESCHLECHTERNORMEN UND PERFORMATIVE TRANSFORMATIONEN Der Körper, den die Performance zu sehen gibt, stört aber nicht nur die Blicke, er wird nicht nur der Ort der Überschneidung individueller und kollektiver Erinnerung, er externalisiert21 sich nicht nur durch seine Verkörperung historischer Figuren des öffentlichen Raumes, sondern er vollzieht auch performative Übergänge, die Geschlechternormen überschreiten. In ihrem Kapitel über subversive Körperakte aus »Das Unbehagen der Geschlechter« beschreibt Judith Butler, wie sich die kulturellen Praktiken der Travestie und des Kleidertauschs im Lichte der Theorie der performativen Konstruktion des Geschlechts begreifen lassen:22 »Als Effekt einer subtilen und politisch erzwungenen Performanz ist die Geschlechtsidentität [gender] gleichsam ein ›Akt‹, der für Spalten, Selbstparodie, Selbstkritik und hyper-
20 M. Mercier, Eloge, S. 8. 21 Vgl. R. Triki, Transiter, S. 85. 22 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 190-218.
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bolische Ausstellungen ›des Natürlichen‹, die gerade in ihren Übertreibungen ihren grundsätzlich phantasmatischen Status offenbaren, offen ist.«23
Insofern zeigt die Performance von Rochdi Belgasmi, die die Figur des Oueld Jellaba mit ihrer Travestie wieder aufleben lässt, dass und wie die Geschlechtsidentität als ein Akt zu begreifen ist, der aus Handlungen, Gesten und Inszenierungen besteht und in den performativen Wiederholungen und in ihrer Zitathaftigkeit immer Verschiebungen unterliegen kann. Die Zuschauer*innen der Performance sind Zeug*innen des Anlegens der Kleider, des Schminkens, aber auch der viel- und mehrdeutigen Elemente der vorgenommenen Geschlechterinszenierung. Zum Beispiel gibt es Szenen, in denen der als männlich gelesene und inszenierte muskulöse Oberkörper des Tänzers zu sehen ist, der zugleich aber einen Rock trägt und den traditionellerweise Frauen zugeschriebene Tanzbewegungen und Gesten ausführt. Diese Kombination lässt ihre einzelnen Elemente aber nicht unberührt: Der Rock ist nicht mehr einfach nur ein »weiblicher« Rock, und der freie Oberkörper nicht einfach nur ein naturalisierter »männlicher« Oberkörper. Rochdi Belgasmi bezeichnet seine Arbeit selbst als Suche nach einem »dritten Körper« (»troisième corps«),24 der den Geschlechterbinarismus überwindet. Abbildung 8: Rochdi Belgasmi in Oueld Jellaba
Quelle: Leuphana, Foto: Patrizia Jäger
23 Ebd., S. 215. 24 Rochdi Belgasmi im persönlichen Gespräch in Lüneburg, 18. Juli 2018.
Genderperspektiven im tunesischen Film Malek Ouakaoui
1. EINLEITUNG Die tunesische Revolution ähnelt in vielerlei Hinsicht der französischen Revolution, bis auf das Detail, das in Tunesien einen schnellen demokratischen Übergang ermöglichte, nämlich das Fehlen von Revolutionsgerichten. Diese hatten im Frankreich der Ersten Republik bis zum Zweiten Kaiserreich zu einer Spirale der Gewalt und einer Rückkehr zur Tyrannei geführt. Die Fragen, die sich in Frankreich im 19. Jahrhundert kurz nach dem Fall der absoluten Monarchie stellten, ähneln aber denen, die in der tunesischen Gesellschaft der Transitionszeit angesprochen werden. So gibt es die Frage nach der Dezentralisierung der Macht, nach der Stellung, die die Religion in der neuen Gesellschaft einnimmt sowie danach, was im politischen oder wirtschaftlichen Sinn unter ›Freiheit‹ und unter Gleichheit, ob auf der Ebene der sozialen Schichten oder des Geschlechts zu verstehen sei. Diese Fragen, die die als romantisch bzw. realistisch bezeichnete Literatur des 19. Jahrhunderts durchziehen, fanden in der Filmbranche der französischen Avantgarde der zwanziger Jahre ebenfalls ihren Niederschlag und sind auch heute in der tunesischen Literatur und in den tunesischen Filmen präsent. Dieser Beitrag befasst sich daher mit der Genderproblematik im tunesischen Film, indem er eine Parallele zwischen den beiden Geschichten zu ziehen versucht und bis zu einem gewissen Grad den Einfluss des französischsprachigen Gedankenguts auf die im tunesischen Film behandelten Themen aufzeigt. Dazu werden Filme aus drei verschiedenen Epochen herangezogen. Es handelt sich erstens um die Zeit des französischen Protektorats, in der tunesische wie französische Filme der Nouvelle Vague zugeordnet werden können, zweitens um die Zeit unter der Präsidentschaft Ben Alis, in der es eine progressive intellektuelle, v.a. von in Frankreich und Belgien ausgebildeten Filmemacher*innen inspirierte
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Bewegung gab, und drittens die postrevolutionäre Zeit ab 2011, in der man ebenso Gedankengut und Formen des künstlerischen Ausdrucks nach dem Vorbild der Filme der Nouvelle Vague wieder entdeckte.
2. GENDERKONSTRUKTIONEN IM TUNESISCHEN FILM 2.1 Tunesische und europäische Klischees über Frauen in einer von Männern dominierten Welt Zur Untersuchung der Genderkonstruktionen im Film konzentriert sich der Beitrag auf die geschlechtspezifische Identität, die in einer von einem Protagonisten verkörperten Rolle dargestellt wird. Dabei geht es v.a. um die Darstellung von Frauen, deren Stellung in einer von Männern dominierten Welt genauer zu bestimmen ist. 1 2 Der Film Bent Familia von Nouri Bouzid mit dem Untertitel Tunisiennes, dt. Tunesierinnen, behandelt drei ganz unterschiedliche und eigene, aber repräsentative Lebenswege weiblicher Figuren in Tunesien: zwei Tunesierinnen und einer Algerierin. Letztere flüchtete in den 1990er Jahren, der Zeit des algerischen 3 Bürgerkriegs zwischen der FLN-Zentralmacht und den Islamist*innen, nach Tunesien. Die Präsenz dieser fremden Figur im Film, die doch mit den Einheimischen zusammenlebt, ist nicht unbedeutend. Sie erinnert an die Schlinge, die sich um die tunesische Gesellschaft in den Jahren nach dem Machtwechsel auf
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Bent Familia. Tunisiennes (Tunesien 1997, R: Nouri Bouzid). Der Regisseur Nouri Bouzid, linksgerichteter Mitarbeiter der bekannten, regimekritischen Zeitschrift Perspectives der 1970er Jahre, war kein Anhänger des DestourRegimes und prangerte schon in anderen Filmen wie Sabots en or (Tunesien 1998, R: Nouri Bouzid) die Folterung links eingestellter Personen unter Bourguiba und die Perspektivlosigkeit der Gesellschaft unter Ben Ali an. In seinem Film Making Of – Kamikaze (Tunesien 2006, R: Nouri Bouzid) zeigt er das schreckliche Dilemma einer zwischen einem Aufbruch ins Ausland um jeden Preis und einer Aufnahme in radikal islamistische Kreise hin und her gerissenen Jugend.
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Der FIS (Front Islamiste du Salut, dt. Islamistische Heilsfront) bestritt den korrekten Ablauf der Wahlen und rief zum Widerstand auf. Als die GIA (Groupes Islamiques Armés, dt. bewaffnete islamische Gruppen) gegründet wurden, wurde der Widerstand unkontrollierbar und entwickelte sich zum Bürgerkrieg.
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Ben Ali zusammenzog und auch Tunesien vor die Entscheidung zwischen islamistischer Bedrohung und Totalitarismus stellte. Die algerische Protagonistin des Films durchlebt ein posttraumatisches Syndrom und erinnert sich regelmäßig an blutige Ereignisse, die sie daran hindern, in die Zukunft zu schauen und das Vergangene hinter sich zu lassen. Die zweite Protagonistin des Films ist eine geschiedene Tunesierin, die wegen der Trennung von ihrem Mann von Mitgliedern der Gesellschaft, die sie als Bedrohung für die Gesellschaftsordnung betrachten, stigmatisiert wird. In der Tat wird sie bestenfalls als unfähig dargestellt, ihren Haushalt zu führen, wenn sie die Scheidung einreicht, oder schlimmstenfalls als untreue Frau, wenn sich der Mann von ihr scheiden lässt. Es ist interessant festzustellen, dass der verführerische Mann im Film oft wohlwollend zu sehen gegeben wird und seine sexuellen Abenteuer als Heldentaten dargestellt werden, während die weibliche Verführung eher mit Untreue in Verbindung gebracht wird. Die dritte Protagonistin des Films, die zentrale Figur des Intrigenspiels, verkörpert eine junge Frau aus gutem Hause der konservativen Mittelschicht, die mit einem recht wohlhabenden Mann verheiratet ist. Sie muss jedoch das Fehlverhalten dieses Ehemannes hinnehmen, der sehr oft abwesend ist und im Verdacht steht, heimlich andere Frauen zu treffen. Schon zu Beginn des Films wird diese Figur als zwischen der Tradition und dem Volksglauben einerseits und dem Drang zur Emanzipation andererseits hin und her gerissen dargestellt. Angesichts des Unverständnisses ihres Mannes beginnt sie, häufiger mit ihren beiden Freundinnen auszugehen und widersetzt sich damit ihrem Mann. Dieser, der zugleich die beiden anderen Frauen für bedrohlich hält, nimmt ihr das Auto, ihr einziges Fluchtmittel, weg. Dennoch gelingt es seiner Frau, ihn wieder zu besänftigen, und so endet der Film mit einem Kompromiss, bei dem diese Protagonistin ein Minimum an Rechten erwirbt: den Respekt ihres Ehemanns. Die umgekehrte Situation sieht man in einem neueren Kurzfilm mit dem Ti5 tel Tiraillement von Najwa Limam Slama, in dem sich der Freund einer emanzipierten jungen Frau in ihre verschleierte Schwester verliebt und beginnt, sie so weit zu verführen, dass er am Ende beide verliert.
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Die 1990er Jahre waren in Tunesien geprägt vom Machtwechsel auf das Regime des zweiten tunesischen Präsidenten Ben Ali, der von Reformen des politischen Systems, die nach der Absetzung vom ersten Präsidenten Bourguiba am 7. November 1987 eingeleitet wurden, gekennzeichnet war.
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Tiraillement (Tunesien 2010, R: Najla Limam Slama).
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Der nach der Revolution entstandene Film von Sonia Chemkhi Aziz Rouhou geht ebenso der Frage nach der Beziehung zwischen Mann und Frau nach, beschäftigt sich jedoch mit der v.a. nach 2010 in Tunesien offener diskutierten Homosexualität. In diesem Film geht es u.a. um einen homosexuellen Sänger, der zwischen einer heimlichen Liebesbeziehung mit einem anderen Mann und seiner Verpflichtung gegenüber seiner Verlobten hin und her gerissen ist. Er steht unter dem Druck seiner Schwester, die ihn verheiratet sehen will. Diese versinnbildlicht den gesellschaftlichen Druck, der die heterosexuelle Ehe mit einer religiösen Leistung gleichsetzt, denn die Hälfte des Glaubens wird nach islamischer Auffassung durch diesen Akt verwirklicht. Selbst wenn sich eine Gesellschaft wie die tunesische von der Religion distanziert, bleiben dennoch kulturelle Moralvorstellungen präsent. Die Filmkunst bezieht sich auf die Realität, auch wenn es um reine Fiktion 7 geht. Robert Martin spricht in seinem Buch Pour une logique du sens über das »Paradoxon der narrativen Fiktion«. Dieses Paradoxon besteht darin, dass die Leser*innen oder Zuschauer*innen eines fiktiven Werkes das für wahr halten, was manchmal nur reines Produkt der Phantasie ist. Dies ist möglich, da es immer auf die eine oder andere Weise eine Korrelation zwischen Szenario und Realität gibt, die allerdings auch allegorisch sein kann. Wie im italienischen Neorealismus werden tunesische Filme sehr oft im Freien inmitten realer Kulissen gedreht und haben somit einen quasi dokumentarischen Aspekt, auch wenn es sich um Fiktion handelt. Es ist auch eine Filmkunst, die nicht kommerziell, sondern eher künstlerisch und essayistisch ist, eine Autorenfilmbranche, die oft vom Staat subventioniert und von ausländischen Strukturen koproduziert wird. Dies ist wichtig zu betonen, um das Image zu verstehen, das der autoritäre Staat vermitteln wollte, und um zu begreifen, wie solche Filme oft die Stereotype bestärken, die sich der Westen über Gender in der mediterranen und insbesondere in der arabisch-islamischen Kultur bildet. Das heißt, die westlichen Zuschauer*innen erwarten oft, Exotik wiederzufinden, wenn sie einen tunesischen Film ansehen, auch wenn diese Exotik in den Be8 reich der Klischees fällt. Dies stellt eine Rückkehr zum Orientalismus dar, der die Literatur des 19. Jahrhunderts in Europa und insbesondere in Frankreich geprägt hatte: Die französischen Leser interessierten sich seit der Übersetzung von Tausendundeine Nacht durch Antoine Galland für die Reiseberichte aus der ara-
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Aziz Rouhou – Narcisse (Tunesien 2015, R: Sonia Chemkhi).
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Martin, Robert: Pour une logique du sens (= Linguistique nouvelle, 1992: 5), Paris: Presses universitaires de France 1992.
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Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt/M.: S. Fischer 2009 [1978].
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bisch-islamischen Welt. Schon Gérard de Nerval beschreibt in seinem Buch Le Voyage en Orient (1851) seine Ankunft in Ägypten mit einer gewissen Enttäuschung, denn er bemerkte sofort die westliche Architektur, obwohl er damit gerechnet hatte, etwas Exotisches zu entdecken. Dabei steht das tunesische Autorenkino, das sich avantgardistisch gibt, in der Tat im Gegensatz zu dem, was für die populäreren Medien wie das Fernsehen und das Radio produziert wird. 2.2 »Spleen et Idéal« – Das Begehren des Verbotenen Die Französische Revolution ließ die Hoffnung wachsen, dass sich die Gesellschaft grundlegend und radikal verändern würde, denn sie bedeutete nicht nur einen Wechsel des politischen Systems, sondern vielmehr eine tiefgreifende Veränderung, eine Transformation einer ganzen Gesellschaft, aller Mechanismen eines gesamten sozialen Systems, um eine bessere Welt zu schaffen. Diese Revolution hatte jedoch eine Monarchie von Gottes Gnaden zu Fall gebracht, um sie durch eine Reihe republikanischer oder imperialistischer Regime zu ersetzen, die ebenso tyrannisch waren, um schließlich das Königtum wiederkehren zu lassen. Dies hatte zu einer großen Enttäuschung und zum Wunsch geführt, an einen – oft in geografischer Hinsicht – anderen Ort aufzubrechen, was sich in der Ära des literarischen Orientalismus niederschlägt. Häufiger aber zogen sich die Menschen – auch unter Drogen – in eine Traumwelt zurück, die man zu jener Zeit ›künstliche Paradiese‹ nannte oder sie suchten den künstlerischen Ausdruck. Das ist die Romantik und spiegelt die Dichotomie von »Spleen et Idéal/ Schwermut und Ideal«9 wider: »Spleen«/Schwermut ist die existenzielle Langeweile, die durch eine Enttäuschung hervorgerufen wird und zu Perspektiv- oder Hoffnungslosigkeit führt. Er stellt eines der Schlüsselelemente der Romantik dar. Es geht um eine Suche nach dem Ideal, nach der Perfektion, die aber nie realisiert wird, als wären die irdische Welt und das Ideal miteinander unvereinbar. Edle Gefühle, Hingabe, Galanterie –
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Das englische Wort »spleen«, das »Milz« und im übertragenen Sinn die Melancholie bedeutet, wurde im 18. Jahrhundert in Frankreich ein populäres Modewort und bezeichnet seelische Erscheinungen aus dem Umkreis des taedium vitae (Lebensekel, Lebensüberdruss), Schwermut oder Weltschmerz. »Schwermut und Ideal«, (franz. Spleen et Idéal) ist eine Dichotomie, die Charles Baudelaire als Titel des ersten Teils seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du mal (1857) verwendete. Dieser Gegensatz bringt die Kluft zwischen den Bestrebungen des Menschen und der Unfähigkeit der Welt, sie zu erfüllen, zum Ausdruck.
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all diese Aspekte, die mit der Romantik in Verbindung gebracht werden, gehören eigentlich zur Höfischen Literatur, einem mittelalterlichen Genre, das erzählte, wie ein tapferer Ritter wichtige Proben besteht, um eine edle Dame oder Geliebte zu erobern, die einem anderen, mächtigen Mann versprochen ist, in den diese jedoch nicht verliebt ist. Man denke etwa an Tristan et Isolde, oder Lancelot, der Karrenritter, im übrigen auch oft verfilmte Werke. Motive der Romantik finden sich oft im Avantgardefilm der 1920er Jahre, als unabhängige Filmemacher*innen nach dem Zusammenbruch des kommerziellen Filmschaffens durch den Ersten Weltkrieg die Möglichkeit erhielten, zum Nachdenken anregende Filme zu schaffen, die schließlich auf die Leinwände der Kinos kamen. Diese Filme waren auch im Tunesien der französischen Protektoratszeit verbreitet. Auf zwei dieser Filme soll dieser Beitrag zunächst eingehen. Sie stammen von Germaine Dulac, einer der ersten französischen feministischen Filmemacherinnen. Dulac ließ sich in mehreren Filmen, die sie produzierte, von literarischen Werken inspirieren. So war etwa ihr Film La Souriante Madame Beudet10 aus dem Jahr 1922 von Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) inspiriert, und ihr Film L’invitation au voyage11 bezog sich auf Charles Baudelaires zwei gleichnamige Gedichte aus dem Gedichtband Les Fleurs du mal (1857). Der Titel La Souriante Madame Beudet spielt auf das vorgetäuschte, ironische Lächeln von Madame Beudet an, das ihren geheimen Wunsch verbirgt, in vollen Zügen zu leben, auch wenn dies bedeutet, gegen die sozialen Anstandsregeln zu verstoßen. Ihr Ehemann, ein Bettwäschehändler, kommt nach einem langen Arbeitstag spät nach Hause. Die beiden Figuren werden zunächst getrennt gefilmt, bevor sie in einer Gesamtaufnahme erscheinen. So wird ausgedrückt, dass es kein wirkliches Zusammenleben als Ehepaar gibt. Die einzigen Vergnügungsmomente bestehen in der Lektüre der Postsendungen, die die unterschiedlichen Interessen der beiden Ehepartner an den Tag bringt: Während der Mann versucht, seine Frau mit einer Aufführung von Goethes Faust zu unterhalten, träumt die Protagonistin von einem Tennischampion, der sie vom Ehemann und ihrem langweiligen Eheleben befreien soll. Die weibliche Hauptfigur in Dulacs Film L’invitation au voyage hingegen langweilt sich, da ihr Mann sehr oft abwesend ist. Sie entdeckt später, dass seine wiederholte Abwesenheit nicht wie im Film La Souriante Madame Beudet oder vom Mann behauptet auf die Arbeit zurückzuführen ist, sondern darauf, dass er heimlich mit anderen Frauen ausgeht. Sie sucht enttäuscht Zuflucht in einer Bar, wo sie von einem Seemann umworben wird, der sie schließlich in dem Moment
10 Souriante Madame Beudet (Frankreich 1922, R: Germaine Dulace). 11 L’invitation au voyage (Frankreich 1927, R: Germaine Dulace).
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verlässt, in dem er entdeckt, dass sie verheiratet und Mutter ist. Gleich zu Beginn wird im Film erklärt, dass diese Bar Kindern und jungen Männern verboten ist. Im Film L’invitation au voyage wird somit betont, dass das Verborgene begehrenswert ist sowie geheime und attraktive Wahrheiten offenbart. Diese Idee findet sich auch im neueren tunesischen Film wie in Halfaouine, L’Enfant des terrasses12 von Férid Boughedir wieder. Der Film zeigt den geschlechtsspezifischen Übergang eines tunesischen Jungen von der Kindheit ins Erwachsenenleben. Der Protagonist Noura begleitete in seiner Kindheit seine Mutter zum Hammam, als er sich aber dem Pubertätsalter näherte, wurde ihm der Zugang verweigert. Dies weckte in ihm mehr Interesse am Anblick der nackten Körper von Frauen, die zum Hammam kommen. Er wird von der weiblichen Welt ausgeschlossen, da er nicht mehr als unschuldiges Kind betrachtet wird, sondern als Mann mit einem scharfen, begehrenden Blick. So lernt Noura vor dem Hammam andere Jugendliche kennen, die abwechselnd Passantinnen ansprechen und versuchen, sie zu verführen. Sobald sich der Protagonist diesen jungen Männern jedoch nähert, jagen sie ihn weg, weil sie ihn wiederum als Kind betrachten. Es entsteht der Eindruck einer Art Teufelskreis, denn die Sakralisierung des Körpers und die radikale Trennung der Geschlechter schafft unerwünschte, den Normen widersprechende Situationen, die beispielsweise durch die dargestellten Belästigungen oder den obsessiven Willen, sich Zugang zu dem zu verschaffen, was begehrenswert, da unzugänglich ist, ausgedrückt wird. Aber dieses Herrschaftsverhältnis, das die Frau zu einem Objekt der Begierde macht und sie auffordert, sich entweder schön zu machen oder sich zu verstecken, um sich zu schützen, hat die Tendenz sich zu verstetigen. Das Begehren der Männer wird zur Norm und das der Frauen bleibt tabu. Mehdi Ben Attia zeigt genau das Gegenteil in seinem Film L’Amour des hommes,13 der, wie jedes Mal, wenn ein tunesischer Film die sozialen Normen verletzt, dem Zorn der Kritik und dem Boykott der tunesischen Zuschauer*innen ausgesetzt ist. So verließen viele Personen das Kino während der Vorführungen. Die Protagonistin des Films ist eine Fotografin aus Frankreich, die nach dem Tod ihres Mannes beschließt, das Leben in vollen Zügen zu genießen, indem sie sich ihrer Leidenschaft, der Fotografie hingibt. Sie versucht jedoch auch, die sozialen Spielregeln
12 Halfaouine, L’Enfant des terrasses (Tunesien 1990, R: Férid Boughedir), Dieser Film ist wahrscheinlich vom Film Les Quatre cent coups von François Truffaut (1959), einem französischen Filmemacher der Nouvelle Vage, beeinflusst worden. In diesem Film erhält der Jugendliche, dessen naives und emotionales Weltbild von anderen stigmatisiert wird, die Möglichkeit sich auszudrücken. 13 L’Amour des hommes (Frankreich/ Tunesien 2017, R: Mehdi Ben Attia).
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zu ändern, wonach die Frau in erster Linie als Körper, als Objekt der Begierde präsentiert wird und sich dem Diktat der Gesellschaft, den Normen der Schönheit unterwerfen muss, damit sie akzeptiert wird. Die weibliche Hauptfigur dieses Films beschließt hingegen, nackte Männer für eine Ausstellung zu fotografieren. Eine ähnliche Situation, bei der gesellschaftliche Normen umgekehrt werden, findet man in auch in Najwa Limam Slamas Kurzfilm Tiraillement, in dem die an eine Braut üblicherweise gestellte Forderung der Jungfräulichkeit an die Männer gerichtet wird: Die Protagonistin verlangt von dem Bewerber, bei der Hochzeit jungfräulich zu sein. 2.3 Konservatismus und Religiosität Obwohl ihre gesellschaftliche Stellung untergeordnet ist, erhalten Frauen im Film eine Verführungskraft, die komplementär zu ihrem Mangel an politischen und sozialen Rechten ist. Dieses Bild der gefährlichen und dominanten Femme fatale findet sich in Sternbergs Der blaue Engel14, aber auch in Claude Chabrols La Fleur du mal.15 Anfang der 1920er Jahre führte Albert Samama-Chikli Regie bei zwei tunesischen Filmen: dem Kurzfilm Zohra16 und dem Spielfilm Ain el Ghazel17, in denen die Hauptfigur eine Frau spielte. Zohra ist der allererste tunesische Film. In diesem Kurzfilm ist die Protagonistin eine Frau. Der Anfang dieses Films zeigt eine Aufnahme, in der diese Hauptfigur erscheint: eine junge Frau, die unter mehreren Beduin*innen ohnmächtig am Boden liegt. Sie sieht anders aus: Ihr Haar ist entschleiert, sie trägt ein Kleid im westlichen Stil der Zeit. Um sie herum versuchen Personen, sie wiederzubeleben. Dann adoptieren sie sie und integrieren sie ins Dorfleben. Sie beginnen damit, aus ihr eine der ihren zu machen. Sie geben ihr eine mit der Tracht der Frauen des Douars18 vergleichbare traditionelle Kleidung. Dann setzen sie ihr ein Kopftuch mit Beduinenornamenten auf und schminken sie mit Tätowierungen. Schließlich geben sie ihr einen neuen Namen: Zohra, der ›Glückskind‹ bedeutet. Dieser Name ist aber auch ein Paronym von Zahra, das auf Arabisch ›Blume‹ heißt. Obwohl diese Frau in den Douar integriert oder gar assimiliert ist, vermisst sie ihre Eltern, die sie eines Tages wiedersehen möchte. Die eingeblendeten Zwischentexte evozieren diese Nostalgie, die dadurch zum Aus-
14 Der blaue Engel (Deutschland 1930, R:Joseph von Sternberg). 15 La Fleur du mal (Schweiz 2003, R: Claude Chabrol). 16 Zohra (Tunesien 1922, R: Albert Samama-Chikli). 17 Ain el Ghazel (Tunesien 1924, R: Albert Samama-Chikli). 18 Ein kleines, abgelegenes Dorf im ländlichen Tunesien wird Douar genannt.
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druck kommt, dass diese Frau auf christliche Weise am Meer betet und Blumen hineinwirft. Es wird deutlich, dass sie eine Schiffbrüchige, die Überlebende eines Bootsunglücks ist, das in der Nähe des tunesischen Landes auf Grund gelaufen ist. Sie ist eine Art Robinson in weiblicher Gestalt. Der Kinostart dieses Films in den 1920er Jahren war ein großer Erfolg, doch was verbirgt sich hinter dieser Geschichte? Die fremde Frau wird im Dorf akzeptiert, aber ihre Integration ist durch eine Reihe von Sozial- und Bekleidungskodexen bedingt, die sie zu übernehmen hat. So erweist sich das traditionelle Milieu als gastlich und beschützend, gleichzeitig fordert es aber, dass man sich an ein gemeinsames Modell anpasst. Der Erfolg dieses Films bestärkte den Regisseur, der der Vater von Haydée Tamzali war, der Hauptdarstellerin. Er nahm die Regie des Spielfilms Ain el Ghazel in Angriff, in dem wieder seine Tochter Haydée, die das Drehbuch mitgeschrieben hatte, die Hauptrolle spielte. Der Titel bedeutet im Deutschen ›Das Auge der Gazelle‹, was zugleich das Pseudonym der Protagonistin ist. Dieser Ausdruck hebt die Schönheit der Heldin hervor, die vergleichbar mit einer anmutigen und gleichzeitig verletzlichen Gazelle ist. Als Tochter einer bedeutenden Persönlichkeit aus Carthage hegt sie geheime Gefühle für einen jungen Koranschullehrer, der auch Muezzin ist. Zwischen den beiden Figuren scheint sich ein Kontakt anzubahnen, der jedoch durch die Ankunft einer dritten Person bedroht wird. Es ist der Dorfscheich, eine Figur, die als unsympathisch, reich und zugleich brutal dargestellt wird und einseitig beschließt, Ain el Ghazel zu seiner Frau zu machen. Er nimmt Kontakt mit ihrem Vater auf, von dem er das Versprechen erhält, ihm die Tochter zur Frau zu geben und zwar gegen eine Summe von 20.000 Piastern, das doppelte der erforderlichen Mitgift. Es entsteht der Eindruck, dass die Ehefrau auf eine Ware reduziert wird, die man kauft und über deren Preis man verhandelt, geradeso als wäre sie eine Gazelle, mit der die Protagonistin unschuldig im Innenhof des Hauses spielt, während hinter den Mauern ohne sie über ihr Schicksal entschieden wird. Anschließend nimmt sie der Vater beiseite und erklärt ihr, dass sie den Scheich heiraten wird, da er eine wichtige Person ist und für sie eine gute Partie darstellt. Doch dieses Gespräch ist ein einseitiges Gespräch, es stellt ein bloßes Informieren dar. Über das Schicksal einer Frau entscheiden also zwei Männer. Angesichts dieser Situation geht Ain el Ghazel zu einer Wahrsagerin, die ihr mitteilt, dass sie einen reichen Bauern heiraten wird. Der Ausgang des Films wird offen gelassen, denn die Zuschauer*innen wissen nicht, ob sich diese dritte Alternative als die richtige erweisen wird. Es ist interessant festzustellen, dass sich der Druck, den die Familie auf die zukünftigen Eheleute ausübt, seit etwa einem Jahrhundert nicht wirklich verän-
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dert hat. Wenn in Ain el Ghazel gezeigt wurde, wie der Vater und der Brautbewerber über die eheliche Zukunft der jungen Frau entscheiden, findet man diese Konstellation heute nicht mehr genauso, aber der Druck der Familie ist immer noch sehr stark. In Mohamed Ben Attias Film Hedis Hochzeit19 sehen wir die umgekehrte Situation. Der Protagonist Hédi ist von einer Gruppe von Frauen umgeben, darunter seine Mutter, seine zukünftige Schwiegermutter und seine Verlobte. Diese entscheiden unter Frauen über die bevorstehende Hochzeit. Der Held selbst ist nicht gegen die Beziehung, die er mit seiner Verlobten führt, aber er hat das Bedürfnis zu träumen, den Nervenkitzel einer Geschichte zu spüren, die anders verläuft. In einer Szene des Hauptdarstellers und seiner Verlobten allein im Auto, wird für die Zuschauer*innen verständlich, dass sich beide schon lange kennen, dass ihr Treffen nicht organisiert ist, aber ihr Schicksal als Ehepaar entgeht ihnen. Dennoch steht die Frau als Garantin für diese Gesellschaftsordnung. Sie versteht ihren Verlobten nicht, wenn er ihr sagt, dass er noch anderes erleben und zugleich mit ihr zusammen bleiben möchte. Konfrontiert mit diesem Unverständnis, trifft Hédi eine andere Frau, die in einem Hotel arbeitet und ins Ausland zu gehen plant. Sie bringt ihm bei zu träumen und einen Traum von einem Projekt zu unterscheiden. Zu Beginn hat er vor, sie nach Montpellier zu begleiten. Darauf verzichtet er aber in letzter Minute mit dem Argument, dass man an Stabilität denken müsse. Nun wird ersichtlich, was der junge Mann anstrebt: den freien Willen in einer Beziehung und die Emanzipation von sozialrechtlichen Verpflichtungen. Diese schaffen einen sicheren und beruhigenden, aber zugleich erstickenden Rahmen. In den mediterranen Gesellschaften gibt es zwei Tendenzen, die Teil desselben Ganzen zu sein scheinen, aber dennoch unterschiedlich sind: Religiosität und Konservatismus. In Prendre femme20, einem Film von Ronit und Shlomi Elkabetz, wird der Protagonistin von ihrem Mann, der sehr religiös ist, ein Lebensrhythmus auferlegt, in dem sie sich als Frau oder als Mensch, der frei und in vollen Zügen leben will, nicht entfalten kann. Angesichts ihrer Isolierung und Vernachlässigung plant sie die Scheidung und steht dann unter starkem Druck ihres sozialen Umfeldes. In den monotheistischen Traditionen gibt es als einen gemeinsamen Nenner die Wahrnehmung der Frau als potenzielle Bedrohung für
19 Inhebbek Hédi, un vent de liberté (Tunesien, Belgien, Frankreich 2016, R: Mohamed Ben Attia). Dieser Film gewann auf der Berlinale 2016 den Preis für den besten Erstlingsfilm. Der Hauptdarsteller Majd Mastoura bekam den Silbernen Bären für den besten Darsteller. 20 Prendre femme (Israel, Frankreich 2004, R: Shlomit und Romit Elkabetz).
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die soziale und religiöse Ordnung. Das Bild von Eva, die für den Untergang Adams und der gesamten Menschheit verantwortlich ist, findet sich im Bild der Femme fatale wieder, die mit einem Verbündeten Satans assoziiert wird. So widersetzt sich die Protagonistin in Prendre femme ihrem Ehemann, der ihr mit Selbstgefälligkeit antwortet, dass sie sich dem Allmächtigen widersetzen würde, wenn sie die Haltung ihres Ehemanns kritisiert. Die Ablehnung der männlichen Autorität gegenüber Frauen erscheint hingegen in direkterer Form in einem Dokumentarfilm von Nadia El Fani, dessen Titel ein Oxymoron Laïcité Inch’Allah21 bildet. Hier geht es um eine klare und eindeutige sowie schonungslose Ablehnung der männlichen Autorität gegenüber Frauen. Der Film wurde dementsprechend der Apostasie beschuldigt, obwohl er keinen Angriff auf die Religion selbst beinhaltet, wenn man von der seltsamen Aufnahme einer umgedrehten Moschee absieht, die von den meisten Zuschauer*innen jedoch unbemerkt bleibt.22
3. DIE BEDEUTUNG DER FRAUEN IM UND FÜR DEN TUNESISCHEN FILM Der tunesische Film wurde seit vielen Jahrzehnten von Schauspielerinnen als Hauptfiguren, aber auch Regisseurinnen geprägt. Die Frage nach der Stellung der Frauen in der tunesischen Gesellschaft stellte von Anfang an ein zentrales Thema des tunesischen Films dar. Man könnte fragen, warum und ob es sich um eine tunesische Besonderheit handelt. Dabei lässt sich feststellen, dass dieses Frauenbild oft mit der Frage nach der Beziehung zwischen den Geschlechtern in Verbindung gebracht wird. In Halfaouine, l’Enfant des terrasses wurde der Blick, den der Jugendliche auf das Andere, auf den weiblichen Körper wirft, und das Erwachen seiner Sinnlichkeit inszeniert. Dieses Erwachen wird unterdrückt, gerügt: Wenn der Protagonist hinschaut, wird er vom Zuschauer gefragt, was er da mache, als ob das Hinschauen mit einer physischen Handlung, einem Geschlechtsakt verbunden wäre.
21 Laïcité Inch'Allah (Tunesien, Frankreich 2001, R: Nadia El Fani). 22 Es ist erwähnenswert, dass der ursprüngliche Titel dieses Films Ni Allah ni maître (dt. Weder Gott noch Meister) einen Skandal verursacht hatte und deshalb in Laïcité Inch’Allah (dt. So Gott will Laizismus) abgeändert wurde: Denn Laizismus ist kein Atheismus.
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Wenn dieses Thema als Leitmotiv wiederkehrt, dann nur, weil der weibliche Körper in dieser Gesellschaft als heilig verehrt wird. In Jeunesse du sacré23 erklärt Regis Debray, dass das Heilige überall und zu jeder Zeit existiert, doch von Ort zu Ort variiert. Dabei ist das Heilige nicht unbedingt religiös, es ist vielmehr unantastbar, unverletzlich. Die Republik in Frankreich wird zu einem heiligen Element erhoben, während es in anderen Ländern die Religion ist, die dieses Monopol hat oder beansprucht. In großen Teilen der arabisch-islamischen aber auch mediterranen Kulturen wird der weibliche Körper als heilig verehrt. Man denke an einen Filmausschnitt im zweiten Teil von Francis Ford Coppolas Film Der Pate, wo Apollonias Vater, der erfährt, dass Michael Corleone seine Tochter umwirbt, diesen dazu bringt, sich gebührend auszuweisen. In einer improvisierten Tirade bittet Michael Apollonias Vater, seine Tochter sehen zu dürfen; aber die Verlobten stehen in größerer Entfernung voneinander und der einzige körperliche Kontakt zwischen den beiden besteht darin, dass Apollonia die Halskette manipuliert, die Michael ihr geschenkt hat, indem sie ihm in die Augen sieht. In Ain el Ghazel sehen wir eine ähnliche Szene, in der die Protagonistin ihrem Geliebten zu trinken gibt, indem sie ihm einen Tonkrug reicht und schnell ihren Blick von ihm abwendet. Schließlich können wir aus Nouri Bouzids Millefeuille24 eine sehr starke Szene zitieren, die alle zwischen den Liebenden befindlichen Gegenstände zeigt: es gibt den Schleier, aber auch die Tür oder den glühend heißen Kaffee. In Férid Boughedirs Un Été à La Goulette25 beschließen drei unverheiratete weibliche Figuren, die aus drei unterschiedlichen mediterranen Gesellschaften stammen, noch vor der Ehe sexuelle Erfahrungen zu sammeln, was unter den Eltern Probleme schafft. Sie werden denunziert und bestraft, schließlich sprechen ihre Väter kaum noch miteinander. Ein Scheich, der sich von einer der Hauptfiguren angezogen fühlt, umwirbt sie und redet ihr zu, den Safsari 26 zu tragen. Sie lässt sich darauf ein, jedoch nur als Trick, um diesen Bewerber loszuwerden. In dieser Szene wird ein doppeltes Bild der Femme fatale vermittelt, deren Körper beim Anblick unheilvoll ist. Als sie den Safsari schließlich vor dem Bewerber ablegt, überrascht sie ihn mit der Nacktheit ihres Körpers derart, dass er an einem Herzinfarkt stirbt.
23 Debray, Regis: Jeunesse du sacré, Paris: Gallimard 2012. 24 Millefeuille (Tunesien, Frankreich, VAE 2012, R: Nouri Bouzid). 25 Un Été à La Goulette (Tunesien, Frankreich, Belgien 1996, R: Férid Boughedir). 26 Der Safsari ist der traditionelle helle Schleier, der von Frauen in Tunesien getragen wird.
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Die tunesischen Medien haben diesen lokalen Film oft negativ bewertet und warfen ihm vor, zu viele Nacktheits- und Liebesszenen darzustellen. Auch Férid Boughedirs Film Halfaouine wurde beispielsweise kritisiert, weil die Kamera in ein Hammam geführt wurde, in dem nackte Frauen zu sehen sind. Diese Art von Filmen erscheint selten im staatlichen tunesischen Fernsehen. Trotz ihres Feminismus zeigt die tunesische Filmproduktion oft die beherrschte Seite der Frauen, wie zum Beispiel in Nouri Bouzids Millefeuille. Ob der Film ein dominantes oder dominiertes Frauenbild zeigt, er reproduziert in diesen Fällen die sexistischen Klischees. Selten gibt es von Frauen gedrehte Filme, die sich nicht als solche präsentieren. Es ist dabei aber zu betonen, dass die Budgets von Regisseurinnen meist geringer sind: Die Filmproduzent*innen sind oft zaghaft, wenn es darum geht, große Budgets für Filme von Frauen zu mobilisieren. Kritiker haben darauf hingewiesen, dass die von Frauen gedrehten Filme mehr Festaufnahmen zeigen, weil diese weniger kosten.27 Zudem gibt es den Bechdel-Test, der in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde und den sexistischen Gehalt eines Films aufgrund charakteristischer Darstellungen von Frauen in ihm bewertet.28 Danach wiesen etwa die Hälfte der Filme und paradoxerweise fast alle feministischen Filme sexistische Klischees auf. Ein neuerer tunesischer Film ist der oben kurz erwähnte Film Millefeuille von Nouri Bouzid, der kurz nach der Revolutionszeit gedreht wurde und diese thematisiert. Die beiden Hauptfiguren des Films sind Frauen, die sich für einen Wechsel des politischen Regimes und nicht nur für ihre eigenen Rechte einsetzen. Ihre Gespräche drehen sich nicht um Männer, auch wenn insbesondere die körperliche Beziehung zum männlichen Geschlecht den Leitfaden der Erzählung bildet. Beide Protagonistinnen unterscheiden sich durch die Art ihrer Kleidung: Die Eine trägt ein Kopftuch und steht unter Druck, es abzulegen. Die Andere trägt keinen Schleier, ist jedoch dem entgegengesetzten Druck ausgesetzt. Dieser Druck wird als Vergewaltigung dargestellt, denen sie Widerstand leistet, aber am Ende gibt sie auf. Die Intrige zeigt dennoch immer wieder den Einfluss des französischen Denkens auf den tunesischen Film, da die Frage des Schleiers oder vielmehr die Tatsache, ihn als Problem wahrzunehmen, den französischen Laizismus widerspiegelt, der das Tragen ostentativer religiöser Symbole untersagt. Ein Film wie Millefeuille hätte vor 2011 nicht gedreht werden können, denn das Darstellen der Problematik zum Schleier war während des alten Regimes in
27 Kamerabewegungen wie Fahraufnahmen, Luftaufnahmen, Kamerakräne oder Drohnen erfordern mehr finanzielle Mittel als Festaufnahmen. 28 Ein Film gilt beispielsweise als nicht sexistisch, wenn er Frauen zeigt, die miteinander über andere Themen sprechen als über Männer.
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Tunesien tabu. In der Zeit von Bourguiba, aber auch von Ben Ali lehnten die tunesischen Behörden das Tragen des Schleiers ab. Bekannt und auch medial inszeniert wurde eine Szene, in der Bourguiba auf offener Straße eine Frau entschleiert. In diesem Sinne wurde das Tragen des Schleiers zu einer Art Freiheitsakt, obwohl diese Geste und die der Religion feindlich gesinnte Politik auch als mutiger Akt damaliger Behörden interpretiert wird, die die Gesellschaft von den überkommenen Sitten befreien wollten. Nach der Revolution erlaubte es eine Atmosphäre der Freiheit, alle möglichen und denkbaren Fragen zu stellen, was fast an Anarchie grenzte. So musste auch die Frage des Schleiers behandelt werden, denn während dieser vom Westen und insbesondere von Frankreich, das den Film Millefeuille koproduzierte, meistens als entfremdendes Symbol der Unterdrückung wahrgenommen wird, kam er im vorrevolutionären Tunesien einem Akt des Widerstands und der Freiheit gleich. Doch der Film thematisiert vor allem den sozialen Druck auf Frauen im Umgang mit dem Schleier: Während ihn die einen tragen sollen, stehen andere unter ähnlichem Druck, ihn abzulegen. Eine Analyse der Räume im Film Millefeuille zeigt das Untergeschoss, in dem sich die Küche befindet. Sie ist versteckt, und dort findet man die verschleierte Protagonistin. Im Café im Erdgeschoss hingegen finden sich die Kellnerinnen und weiblichen Gäste, die keinen Schleier tragen. Der unterirdische Raum erscheint somit als Symbol für das Verdrängte.
4. FAZIT In den behandelten Filmen ließen sich unterschiedliche Figuren und Geschlechterkonstruktionen herausarbeiten. In jedem Film geht es um spezifische Szenerien, Emotionen, Wünsche, die die Figuren erleben, oder um die Schwierigkeiten, die sie überwinden müssen bzw. die Mittel, die ihnen dafür zur Verfügung stehen. Dabei agieren diese Figuren niemals als freischwebende Teilchen. Sie haben Teil an einem sozialen Gewebe, einer kulturellen Tradition und an Geschlechterkonstruktionen, die ihre Subjektivierung und ihre Erlebnisse bestimmen. Dennoch bleibt unbestimmt, ob die Filme, die sich mit einem neuen Blick auf Gesellschaft, Geschlecht, Körper und Sex befassen, das Produkt von Aktivist*innen oder einfach Ausdruck ungewöhnlicher Ideen sind, die originelle, das Publikum interessierende Szenarien hervorrufen sollen. Ebenso bleibt zu fragen, ob dieselben Filme, die heute vom westlichen Publikum und einer bestimmten tunesischen Elite wertgeschätzt werden, die Anerkennung des tunesischen Publikums finden und eines Tages im tunesischen Fernsehen oder im Fernsehen der
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arabischen Welt ausgestrahlt werden können. Autorenfilme gelangen momentan aufgrund einer diesbezüglich immer noch strengen Gesetzgebung wohl leichter auf die Leinwand der Kinos in Frankreich. Aus dem Französischen übersetzt von Mourad Ben Abderrazak
Kunst in Transformation – das Dream City-Festival als Heterotopie Nina Glaab
1. EINLEITUNG Zeitgenössische Kunst mit gesellschafts- oder regimekritischen Inhalten war im Tunesien der Ära Ben Alis nicht sichtbar. Politische Zensur, Überwachung des öffentlichen Raums durch den staatlichen Kontrollapparat und nicht zuletzt die Dominanz eines elitär ausgerichteten Kunstkreises führten häufig zur Selbstzensur von Künstler*innen. Die Kunstszene im vorrevolutionären Tunesien orientierte sich in der Regel an einer unpolitischen Kunst, die dem kommerziellen Kunstmarkt zutrug. Mit dem Sturz des Ben Ali Regimes eröffneten sich für die tunesische Kunst neue Perspektiven und Möglichkeiten. Der Esprit der Revolution erweckte bei vielen Kunstschaffenden den Drang, ihre neugewonnene (künstlerische) Freiheit zum Ausbau und zur Mitgestaltung der Transformationsprozesse zu nutzen und Kunst in eine neue Formsprache zu übersetzen: eine sozial und politisch engagierte Kunst im öffentlichen Raum. Doch steht ein solches zeitgenössisches Kunstschaffen, das sich durch Bürgernähe und Kunstaktivismus auszeichnet, und dabei den frei zugänglichen Außenraum als Präsentationsfläche nutzt, vor fortwährenden Herausforderungen. Zeitgenössische Künstler*innen stehen häufig in der Kritik und sehen sich mit Anfeindungen bis hin zu Übergriffen konfrontiert. Öffentliche Wertschätzung der Künste und staatliche Fördersysteme sind jedoch unabdingbare Rahmenbedingungen, insofern man beabsichtigt, dass die künstlerischen Interventionen des postrevolutionären Tunesiens als Touch-down-Projekte zunehmen. Ein Kunstprojekt, das diese Bewegung von Beginn an entscheidend mitgetragen hat und sich den Herausforderungen der Gegenwart stellt, ist Dream City, ein interdisziplinäres Festival für zeitgenössische Kunst im öffentlichen Raum in Tunis. Die vor der Revolution im Jahr 2007 vom tunesischen Tänzer*innenduo
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Selma und Sofiane Ouissi initiierte Kunstbiennale widmet sich politisch und sozial engagierter Kunst, die vor wie nach der Revolution auf Widerstand stößt. Dream City ist als künstlerischer Möglichkeitsraum und demokratisches Denklabor angelegt. Als Produktions- und Ausstellungsfläche der Kunstwerke dienen den Künstler*innen (halb-) öffentliche Plätze in der Medina der Stadt. Als Veranstaltung eines unabhängigen tunesischen Künstler*innen-Kollektivs begonnen, entwickelte sie sich zum größten internationalen Kunstfestival im Land. Der Traum, der Dream City innewohnt, erscheint vor dem Hintergrund der schwierigen Genese der unabhängigen Kunstszene als Utopie, d.h. »die Kritik dessen was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll.« Darüber hinaus lässt sich mit Michel Foucault gleichwohl von einer Heterotopie sprechen, d.h. eine Utopie, die sich vom fiktiven Charakter der idealen Zukunft gelöst und sich als Ort in einer Gesellschaft realisiert hat. Die Heterotopie ist also ein real existierender utopischer Raum und damit eine Insel realisierter Ideen. Nachstehend wird das Kunstprojekt zunächst in seiner Entwicklung seit 2007 bis 2019 betrachtet. Daran anknüpfend werden mit Foucaults Charakterisierung von Heterotopien die Räume des Festivals ins Verhältnis zu Räumen der lokalen Kunstszene im vorund postrevolutionären Tunesien gesetzt. Ziel der Analyse ist es zu untersuchen, inwiefern Dream City von gewöhnlichen Kunstpraktiken abweicht und damit eine Heterotopie geschaffen wird, mit deren Hilfe die Herausforderungen für zeitgenössisches Kunstschaffen überwunden werden können.
2. VOM TRÄUMEN DER KUNST IN TUNESIEN »Si vous étiez opérateurs culturels, que rêveriez-vous de faire pour la Tunisie?« Mit dieser Frage wurde das tunesische Choreograf*innen- und Tänzer*innenduo Selma und Sofiane Ouissi im Jahr 2006 im Rahmen eines Förderprojekts vor die Aufgabe gestellt, ein Traumprojekt für Tunesiens Kulturlandschaft zu erdenken. Von der Förderung angestoßen, entwickelten die Geschwister Ouissi die Idee eines Möglichkeitsraums des künstlerischen Experimentierens, der sich entgegen herkömmlichen Kunstpraktiken ebenso als gesellschaftliche Dialogplattform zu verstehen wissen will. Damit möchten die Geschwister Ouissi die tunesische Bevölkerung für freie Meinungsäußerung sensibilisieren und Kunst in der breiten Gesellschaft stark machen. Trotz Zensur riefen die Initiatoren während einer Radiosendung die lokale Kunstszene dazu auf, sich ihrer erträumten Initiative anzuschließen. Rasch versammelte sich ein Kollektiv aus Kunstschaffenden und Wissenschaftler*innen, die ihre Ideen aufgrund politischer Zensur und Kontrolle von Medien und öffentlichem Raum nicht öffentlich reproduzieren konnten. Die
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»clandestinité totale« (dt. das geheime Operieren) der tunesischen Untergrundaktivist*innen führte zur Notwendigkeit, mit einem ›künstlerischen Putsch‹ gegen die Ben-Ali-Regierung aufzubegehren. In isolierten »remue dreams« (zu Deutsch: »durcheinander Träumen«) gingen sie ihren demokratischen Gedanken frei nach. Gemeinsam übertrug das Kollektiv seine Visionen in das Konzept einer Dream City, einer interdisziplinären Biennale zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum. Konkret plante das Kollektiv ein Festival mit Fokus auf ›in situ-Kunst‹. Die Kunstwerke, so die Idee, sollten in vorangehenden Künstler*innen-Residenzen für einen spezifischen Ausstellungsort kreiert werden. Als Produktionsfläche der ortsgebundenen Kunstwerke sollte der öffentliche Raum in der Medina von Tunis dienen.1 Seit nunmehr sechs Editionen besteht das Konzept der Initiative unverändert fort. Doch ist das Kunstfestival hinsichtlich seiner inhaltlichen und strukturellen Ausrichtung stets in Bewegung und in Anbetracht der gegenwärtigen Gegebenheiten wird von den Organisator*innen jede Auflage aufs Neue ausgelotet, stets die Vision eines neuen Möglichkeitsraums für Kunst und Gesellschaft in Tunesien im Blick.
3. DAS DREAM CITY-FESTIVAL VOR DER REVOLUTION (2007-2010) 3.1 Kunstfestival Dream City 2007 An der ersten Edition des Festivals nahmen acht Künstler*innen aus Tunesien teil. Mit einem Entwurf eines Kunstwerkes bewarben sie sich zuvor zur Teilnahme an der Kunstbiennale. Der Entwurf wurde schließlich im Rahmen einer zweimonatigen Künstler*innen-Residenz in ein insitu-Kunstwerk überführt. Inspiriert wurden die teilnehmenden Künstler*innen von der Architektur der Medina und dem Austausch mit deren Bewohner*innen. Am 7. und 8. November 2007 fand Dream City zum ersten Mal statt. Das Datum für den ›künstlerischen Putsch‹ wurde nicht zufällig gewählt, denn der 7. November war zu jener Zeit in Tunesien ein nationaler Feiertag zum Gedenken an den Amtsantritt Ben Alis im Jahr 1987.2 Als Produktionsfläche der Kunstwerke dienten den Künstler*innen (halb-) öffentliche Plätze wie Cafés, Häuser, Restaurants, Schulen, Bibliotheken, Straßen und Plätze in der Medina von Tunis
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sowie Stätten des kulturellen Erbes wie zum Beispiel das königliche Mausoleum Tourbet el Bey. Die Kunstwerke waren entlang eines Rundweges angeordnet und konnten mit Hilfe einer Karte der Altstadt von den Festivalbesucher*innen erkundet werden. Bereits am ersten Tag wollte die Polizei das Festival beenden, doch der Versuch war laut Produktionsleiterin von Dream City vergeblich. Obwohl das Festival lediglich durch einen Onlineblog kommuniziert wurde, drängten rund 5.000 Besucher*innen in die Medina und machten ein polizeiliches Einschreiten unmöglich.3 Wie Patricia Triki, teilnehmende Künstlerin der ersten Festivaledition, berichtet, stießen »[d]ie Künstlerinnen und Künstler auf ein äußerst interessiertes, neugieriges und dankbares Publikum. Voller Enthusiasmus durchstreiften die Menschen den öffentlichen Raum, um Orte zu erkunden, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren oder die sie lange nicht mehr besucht hatten.« Eine Besucherin berichtet davon, dass sie vor Dream City noch keine Ausstellung gesehen habe und es zugegebenermaßen ein Schock für sie gewesen sei. Doch wollte sie sogleich die nächste Edition als Ehrenamtliche begleiten. 3.2 Kunstfestival Dream City 2010 Während Dream City 2007 größtenteils von einer Initiative zur Förderung von Kunst im arabischen Raum finanziert wurde, fanden sich für eine Auflage 2009 keine Finanzierungsmittel. Daher entschloss das Kollektiv, sich für die Finanzierung nunmehr an ansässige ausländische Kulturinstitutionen wie Botschaften, das Institut Français oder das Goethe-Institut zu wenden. Ebenso übernahmen manche dieser Organisationen die Vermittlung ausländischer Künstler*innen. Schließlich bot ihnen der Kontakt zum Ausland die Möglichkeit, die staatlichen Behörden in Tunesien daran zu hindern, das Festival zu stören, da das Regime darauf bedacht war, ein gutes Image des Landes nach außen zu tragen. 4 Das Kollektiv vergrößerte sich schnell und professionalisierte seine Struktur. Während des Festivals 2010 kam so ein Kollektiv von rund 250 Ehrenamtlichen zusammen. Selma und Sofiane Ouissi wurden von nun an die künstlerischen Leiter*innen des Festivals. Während manche Künstler*innen der Voredition die Möglichkeit bekamen, ein zweites Mal am Festival teilzunehmen, um ihr vorheriges insitu-Kunstwerk weiterzuentwickeln, wurden ebenso neue Künstler*innen aus Tunesien wie aus dem Ausland ausgesucht. Zur Ankündigung des Festivals wurde eine Plakatserie der tunesischen Künstlerin Patricia Triki geplant. Die doppelte Plakatserie mit dem Titel »free
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art // free« zeigte zum einen bearbeitete Fotografien eines scheinbar perfekten Tunesiens. Die zweite Serie bestand aus Fotografien des realen Tunesiens. Aufgrund von Ärgernissen mit Passant*innen brach das beauftragte Unternehmen schließlich die Plakatierung der Fotoserien ab. »Man machte mir eindeutig klar, dass ich es vorziehen sollte, auf meine Fotos zu verzichten. Was ich dann auch tat.« Rund drei Monate vor der tunesischen Revolution fand schließlich die zweite Edition von Dream City in der Medina von Tunis statt. Mit rund 10.000 Besucher*innen hatte sich das Publikum verdoppelt. Während der vier Festivaltage konnten Kunstwerke von rund zwanzig Künstler*innen aus Tunesien und ebenso viele aus dem Ausland, insgesamt ein Fünffaches mehr als bei Dream City 2007, besucht werden. Doch war das Fehlen von Beiträgen politisch-kritischen Inhalts auffällig, so eine Kunstkritikerin in einem Beitrag über die Edition von 2010: »Statt zu politisieren oder Gesellschaftskritik zu üben, setzten die Festivalteilnehmer vielmehr auf eine Sensibilisierung der Sinne, was den Lustfaktor und Unterhaltungswert der Veranstaltung eher erhöhte.« Das Festivalprogramm wurde um Debatten über Kunst im öffentlichen Raum mit Wissenschaftler*innen der Soziologie, Architektur und Philosophie erweitert. Zudem wurde im Rahmen von Dream City 2010 eine zeitgenössische Kunstzeitschrift des Kollektivs publiziert. Die Zeitschrift mit Artikeln zum Thema »Kunst und öffentlicher Raum« wurde während des Festivals kostenlos ausgegeben. Darüber hinaus fanden Ausstellungsführungen für Schüler*innen der Grund- und Mittelschule (College: Klassen 7-9) statt, die von den Künstler*innen selbst sowie von Kunststudierenden geführt wurden. Das kunstpädagogische Projekt war nicht nur als Kunstvermittlungsangebot gedacht, sondern sollte ebenso den Studierenden praktische Erfahrungen bieten. Auch während der zweiten Festivaledition schritt die Polizei ein. Wie die Produktionsleiterin von Dream City schilderte, plante eine Künstlerin einen Sitzturm an einem zentralen Platz in der Medina, der bereits während dessen Entstehungsprozesses von den Sicherheitsbeamten zerstört worden sei. Beim Aufbauen sei die Künstlerin von Polizist*innen angemahnt worden, dass derartige Sitzgelegenheiten nicht gestattet seien. Kurz vor Beginn des Festivals sei das Kunstwerk eines Morgens in alle Einzelteile zerlegt aufgefunden worden.5
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4. DAS DREAM CITY-FESTIVAL NACH DER REVOLUTION (2012-2017) Nach der Revolution fand Dream City bislang weitere vier Mal statt, in den Jahren 2012, 2013, 2015 und 2017. Wieder änderte das jeweilige Kollektiv bei jeder neuen Auflage einige seiner Vorgehensweisen. 4.1 Kunstfestival Dream City 2012 Als nach der Revolution die Gründung von staatlich unabhängigen Vereinen in Tunesien möglich geworden war, wurde 2012 der tunesische Verein L’Art Rue gegründet. Seither dient L’Art Rue als Verein, der Dream City trägt. Seinen Sitz hat der Verein seit 2015 in einem alten Palast namens Dar Bach Hamba im südlichen Teil der Medina von Tunis. Der Ausstellungsort des Festivals wurde bei der dritten Edition erweitert. So fand Dream City 2012 sowohl in der Medina von Tunis als auch in der Medina von Sfax, Tunesiens zweitgrößter Stadt, statt. Dabei trafen die Organisator*innen auf ungeahnte Herausforderungen: Zum einen mussten die insgesamt vierzig teilnehmenden Künstler*innen ihre Werke aufgrund des insitu-Ansatzes für zwei unterschiedliche Orte konzipieren. Zum anderen fanden sich in Sfax keine Organisator*innen, weshalb das Team des Kollektivs auch dort die Vorbereitungen übernehmen musste. Aufgrund der unterschiedlichen Verwaltungsapparate der Regionen mussten sie sich neu einarbeiten.6 4.2 Kunstfestival Dream City 2013 Ein Jahr später fand eine spezielle Edition der Kunstbiennale statt. 2013 wurde Dream City von einer französischen Kulturorganisation, die sich Straßenfestivals widmete, ins französische Marseille eingeladen. Während der Festivitäten zur Kulturhauptstadt Europas 2013 wurde das tunesische Original als Dream City 2013 – Voyage à l’Estaque für Marseilles Randviertel Estaque adaptiert. Die war das erste Mal, dass Europa daran interessiert war, »eine Methode des Südens« kennenzulernen, wie Dream Citys Produktionsleitung im Interview anmerkte. 7 Zehn tunesischen Künstler*innen und einem Teil des Kollektivs bot sich die Möglichkeit, daran teilzunehmen und sich mit den hiesigen Künstler*innen und Organisator*innen auszutauschen.
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4.3 Kunstfestival Dream City 2015 Nach der Festivaledition in Marseille 2013 fanden sich finanzielle Mittel, einen Teil des Organisationsteams als Angestellte zu führen, die sich von nun an ganz dem Festival widmen konnten. Innerhalb eines Jahres nahmen sie an unterschiedlichen Fortbildungen teil, die von ausländischen Vermittlungsorganisationen wie dem Institut Français in Tunis angeboten wurden. 8 Bei der fünften Edition 2015 wurde Jan Goossens, künstlerischer Leiter am Staatstheater Brüssel in Belgien, als Gastkurator eingeladen. Seine Expertise als Kurator zeitgenössischer Kunstprojekte mit innovativen Ansätzen brachte erneut Bewegung in das Kollektiv. Es änderten sich sowohl das Verfahren der Künstler*innenauswahl, als auch der Ablauf der Kunstproduktion. Anstelle einer Bewerbung der Künstler*innen mit zuvor entworfenen Ideen eines Kunstwerkes, wurden nunmehr ausgewählte Künstler*innen von Selma und Sofiane Ouissi angefragt. Ohne vorherige Projektidee wurden nur halb so viele Künstler*innen wie in den Editionen zuvor zu einer Residenz eingeladen. Diese Erneuerung brachte auch ein neues Konzept der Kunstproduktion mit sich. Die Vorbereitungsphase verlängerte sich und wurde auf zwei aufeinanderfolgenden Künstler*innenresidenzen aufgeteilt. Während einer ersten Residenz erkundeten die Künstler*innen die Altstadt von Tunis und recherchierten über mögliche künstlerische Inhalte. Im Rahmen einer zweiten mehrwöchigen Residenz kreierten die Künstler*innen sodann ihr Kunstwerk. Mit dem neuen Konzept soll der künstlerische Prozess noch tiefer in lokale Begebenheiten eintauchen und das partizipative und ortsbezogene Arbeiten intensiviert werden. Die Materialien für die Kunstwerke wurden auf Beschluss des Kollektivs größtenteils bei Händler*innen in der Medina erworben. 9 4.4 Kunstfestival Dream City 2017 2017 zählte das Kollektiv insgesamt 465 angestellte und freiwillige Mitarbeiter*innen. Jan Goossens übernahm erneut die künstlerische Leitung von Dream City. Die Geschwister Ouissi sind nunmehr Leiter*innen des Vereins L’Art Rue. Neue Aufgabenbereiche kamen hinzu. So wurden zum Beispiel Jugendliche aus der Medina, die als freiwillige Sicherheitskräfte während des Festivals helfen sollten, rekrutiert. Andere Ehrenamtliche, meist Kunststudierende, halfen zudem bei der Kunstproduktion mit. Jedem und jeder Künstler*in wurden Assis-
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tent*innen zur Seite gestellt, die sich um organisatorische Aufgaben sowie um die Vermittlung zwischen Medinabewohner*innen und Künstler*innen kümmerten. Wie im internen Abschlussbericht von 2017 dargestellt wurde, sah das neu eingeführte Konzept vor, dass sich die Künstler*innen auch in außerfestive Aktivitäten einbringen. So hielten einige teilnehmende Künstler*innen im Vorfeld des Festivals Konferenzen an Kunsthochschulen ab. Die Veranstaltungen sollten den Studierenden die Alltagspraxis von Künstler*innen näherbringen und Erfahrungswerte vermitteln. Während die Festivaleintrittskarte 2007 noch zwei bis vier Tunesische Dinar kostete, stieg der Preis bis 2017 auf sieben bis zehn Tunesische Dinar an. Für Medinabewohner*innen ist der Eintritt hingegen kostenlos. Jedoch fand bei dieser Edition ebenso ein kostenloses Rahmenprogramm statt, mit dem Ziel, den Publikumskreis zu erweitern, Zugangsbeschränkungen zu lockern und das Programm noch mannigfaltiger zu gestalten. So gab es während der vier Festivaltage allmorgendlich die öffentliche Diskussionsrunde »Ateliers de rêves« (zu Deutsch: »Traumwerkstätten«). Hierzu wurden Wissenschaftler*innen eingeladen, um gemeinsam mit dem Publikum über ein zukünftiges Tunesien und die Rolle von Kunst im Transformationsprozess zu diskutieren. Am Abend fanden Konzerte auf einem großen Platz am südlichen Rand der Medina statt. Außerdem wurden Filme in einem angrenzenden Kino vorgeführt. Bei der bislang letzten Edition waren mit nahezu 12.000 Besucher*innen alle Karten ausverkauft. Ein Fünftel davon waren laut der Statistik von L’Art Rue Medinabewohner*innen. Das öffentliche Rahmenprogramm wurde ebenfalls gut besucht. So zählte der Verein insgesamt 3.400 Besucher*innen bei den kostenlosen Veranstaltungen. Wie eine Umfrage während Dream City 2017 zeigte, sind ein Großteil des Publikums junge Erwachsene aus der Mittel- und Oberschicht, die ein künstlerisches Studium verfolgen.
5. DREAM CITY ALS HETEROTOPIE In seinem Artikel »Des espaces autres« (1967) identifiziert Foucault Räume, deren Wesen und Funktion sich von gewöhnlichen Räumen in einer Gesellschaft grundlegend unterscheiden. Diese »anderen Räume« benennt Foucault mit dem Begriff der Heterotopie. Räume sind nach Foucault Netzwerke, die sich durch die Verbindung von Raumelementen aufspannen. Räume stehen zueinander in Relation, indem sie sich in verschiedenster Weise – nebeneinander, gegenüber, überlagert oder im Verhältnis von nah und fern – verorten. Die Elemente des
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Raums wie auch dessen Positionierung zu anderen Räumen definieren Form und Funktion des Raumes. Heterotopien tragen die wesentlichen Eigenschaften von Räumen in sich, so Foucault, doch unterscheiden sich Heterotopien hinsichtlich ihrer Form und Funktion von gewöhnlichen Räumen. Ihre Andersartigkeit gründe wesentlich auf ihrem utopischen Charakter. Die Anlehnung an Utopien beschreibt Foucault mit Hilfe einer systematischen Einteilung, die acht Merkmale umfasst. Erstens stehen Heterotopien mit allen anderen Räumen in Verbindung und verweisen somit auf deren Unvollkommenheit und Lücken. Sie sind zweitens kulturabhängig, d.h. nicht universell, drittens Orte einer Krise und Abweichung und fungieren viertens als Illusion oder Kompensation zu allen anderen Räumen. Heterotopien können mehrere Räume mit unterschiedlichen, nicht selten inkompatiblen Funktionen umfassen. Manche Heterotopien repräsentieren Zeitabschnitte, ferner Brüche mit der Gegenwart. Diese Zeitperioden nennt Foucault Heterochronien. Heterotopien sind letzens in- wie exklusive Orte, d.h. sie sind an ein System von Öffnungen und Schließungen gebunden, da der Eintritt und Ausgang in Form von Erlaubnis und Ritualen erfolgt. Im Folgenden wird besonders das dritte, eng mit dem vierten Merkmal verknüpfte Merkmal fokussiert, da es den utopischen Charakter von Heterotopien am meisten akzentuiert. Nach Foucault lassen sich Heterotopien in zwei große Typen differenzieren. Sie markieren entweder einen Krisenzustand oder eine Abweichung zu allen anderen Orten. Krisenheterotopien sind hierbei privilegierte oder verbotene Orte, in die Individuen eintreten, die sich im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft in einem Krisenzustand befinden. Aufgrund der Krise treten sie aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Heterotopien der Abweichung sind Orte, an denen sich Individuen befinden, deren Verhalten von der Norm der Gesellschaft abweichen. Als Heterotopie der Krise oder der Abweichung haben sie eine Funktion, die sich auf alle anderen Räume auswirkt. Entweder stellt die Heterotopie eine Illusion dar, der gegenüber alle anderen Räume noch illusorischer wirken, oder die Heterotopie fungiert als Kompensation, indem sie einen scheinbar perfekten Ort darstellt. Anstelle der Mängel aller anderen Räume zeigt sich die Heterotopie der Kompensation als der makellose, wohlgeordnete Ort und steht damit ersterem als Gegenplatzierung oder kritische Widerlager entgegen.
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6. ZEITGENÖSSISCHE KUNST IN TUNESIEN ZWISCHEN KRISE UND ABWEICHUNG Die Zensurpolitik des Ben Ali Regimes griff ebenfalls auf die tunesische Kunstproduktion über. Kunst mit politischem oder sozialem Inhalt war im vorrevolutionären Tunesien nicht gestattet. Die Nutzung des öffentlichen Raums als Präsentationsfläche für eine derartige zeitgenössische Kunstproduktion wurde durch polizeiliche Überwachung erheblich erschwert. Ziel der politischen Verantwortlichen war es, die Gefahr zu bannen, dass sich Künstler*innen in der Öffentlichkeit »womöglich Gehör verschaffen und aussprechen, was jeder im Stillen dachte«. Um der politischen Zensur zu entgehen, kam es häufig zur Selbstzensur der Künstler*innen. Doch solange Kunst keine kritische Haltung gegenüber der Regierung einnahm, zeigten Politiker*innen wenig Interesse für Kunstbelange. Das Desinteresse der politischen Verantwortlichen und deren mangelnder Kunstsinn, so argumentiert der Soziologe Hamdi Ounaina, führten dazu, dass ein kleiner Kreis von Kunstschaffenden die kulturpolitischen Aufgaben in Tunesien übernahm. Durch ihren Kontakt zur Politik wurden den Künstler*innen »sämtliche administrative und politische Ämter« im Kulturministerium zugesprochen. Doch anstelle einer Kulturpolitik, »die eine solche Bezeichnung verdienen würde«, nutzten sie ihre institutionelle Eingliederung, »um alles zu kontrollieren: die École des Beaux-Arts, das Kultusministerium, das Parlament, die Kunstzentren, die Dienststellen für künstlerische Dekoration usw.« Dadurch, dass alle kulturellen Aktivitäten ihrer Genehmigung bedurften, wurden Künstler*innen, die alternative Kunstpraktiken verfolgten, negiert. Die ›dekorativen‹ Kunstpraktiken der etablierten Künstler*innen, mit der diese sich sowohl ihre Position in der Politik und gleichzeitig das Wohlwollen des Kunstsammlerkreises in Tunesien sicherten, wurde damit zum »Gradmesser für ästhetische und künstlerische Tendenzen im Land.« So etablierte sich eine elitäre und kommerziell ausgerichtete Kunstszene von »Künstler/innen, Galerist/innen, die/den eine/n oder andere/n Sammler/in, ein paar Kulturjournalist/innen und Kurator/innen, ein Kulturministerium und ein kleines Kunstpublikum.« Während der Revolution im Jahr 2011 änderte sich die Situation für zeitgenössisches Kunstschaffen. Viele Künstler*innen protestierten neben der Zivilgesellschaft auf der Straße gegen das totalitäre System von Ben Ali. Kunstwerke wie Collagen, Graffiti, Performances oder Lieder dienten dabei als schöpferisches, kritisches Mittel. Fortan widmeten sich immer mehr Künstler*innen einer Kunst mit sozialen oder politischen Inhalten und intervenierten mit Kunstwerken im öffentlichen Raum. Fernab der tradierten Ausstellungsflächen platzierten sie sich in die Alltagswelt der Zivilgesellschaft und eröffneten damit einen öffentli-
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chen Dialog. In künstlerischen Interventionen thematisierten sie gegenwärtige (Miss-)Verhältnisse und verhandelten mögliche Zukunftsszenarien. Durch die Aneignung des öffentlichen Raums durch Kunst machten sich Künstler*innen für eine freie Meinungsäußerung stark, ein Engagement durch das sie zu bedeutenden Protagonisten im demokratischen Transformationsprozess in Tunesien wurden, die der Bevölkerung neugewonnene Möglichkeitsräume aufzeigten. Doch wird die künstlerische Freiheit im postrevolutionären Tunesien erneut bedroht, weshalb sich einige Künstler*innen aufs Neue der Selbstzensur beugen. Seit 2012 werden antidemokratische Bewegungen sichtbar, die sich auch gegen zeitgenössische Künstler*innen richten, sie stark kritisieren, bedrohen oder gar Gewalt anwenden. So berichtet Ounaina von »Angriffen auf Zeichenlehrer an den Gymnasien, Drohungen gegenüber Professor*innen der École des BeauxArts und deren Student*innen sowie Warnungen an die Adresse der Organisator*innen von künstlerischen Veranstaltungen.« Im Juni 2012 fanden diese Drohungen bislang ihren Höhepunkt, als während der im Palais Al Abdelliya in La Marsa unweit von Tunis jährlich stattfindenden zeitgenössischen Kunstausstellung Printemps des Arts Kunstwerke von religiösen Extremist*innen zerstört und verbrannt wurden, nachdem ein Imam einige Werke als blasphemisch bezeichnete. Mehrere beteiligte Künstler*innen erhielten Morddrohungen. Neben der Sicherheit fehlt es nach wie vor an öffentlicher Wertschätzung der Künste sowie einem staatlichen Fördersystem. Im postrevolutionären Tunesien fehlt die Unterstützung des tunesischen Staates vor allem für alternative, nichtkommerzielle Veranstaltungen. Anstelle Kunst an die breite tunesische Gesellschaft zu vermitteln, richtet sich der Großteil des Kulturangebotes an die tunesische Bourgeoisie. Auch im Bildungssystem fehlt es an kunstpädagogischen Maßnahmen. Viele Künstler*innen haben keinen offiziellen Künstler*innenstatus, weshalb eine internationale Karriere und eine Anerkennung des Künstler*innenberufs in Tunesien gehemmt werden.10 Die Marginalisierung von zeitgenössischen Künstler*innen durch Politik und einer exklusiven Kulturpolitik führten im vorrevolutionären Tunesien zu einer Krise der zeitgenössischen lokalen Kunstszene. Um dennoch ihre Kunst zu reproduzieren, betrieben tunesische Künstler*innen nicht selten Selbstzensur. Der öffentliche Raum und tradierte Kunstinstitutionen boten zeitgenössischen Künstler*innen keine Präsentationsfläche und damit keine Sichtbarkeit im In- und Ausland. Mit der neugewonnenen Meinungsfreiheit nach der Revolution ist diese Krisensituation weniger akut wie zuvor. Doch droht im postrevolutionären Tunesien eine gesellschaftliche Zensur, ausgehend von antidemokratischen Gruppierungen. Vorfäl-
10 Interview mit Rochdi Belgasmi am 15/11/2018.
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le wie während der Kunstausstellung Printemps des Arts gefährden die Bewegung der lokalen Kunstszene hin zu einer freien, kritischen und gesellschaftlich akzeptierten Kunst und lassen erneut Selbstzensur aufkommen. Um ein Rückfall in vorrevolutionäre Strukturen zu verhindern, bedarf es abweichender Kunstprojekte wie Dream City. Anders als tradierte Kunstpraktiken möchte die Initiative von Selma und Sofiane Ouissi der zeitgenössischen Kunstszene in Tunesien einen freien künstlerischen Möglichkeitsraum bieten und bürger*innennahe Kunst propagieren, die die demokratische Transformation des Landes aktiv begleitet. So kreierte das Kollektiv bestehend aus tunesischen Aktivist*innen 2007 ein zeitgenössisches Kunstfestival im öffentlichen Raum in der Medina von Tunis, dessen Räume sich von gewöhnlichen Räumen der Kunstszene bewusst abkehren. Der während den »remue-dreams«-Treffen entwickelte ›künstlerische Putsch‹ positioniert sich als Widerlager gegenüber politischer, gesellschaftlicher sowie berufsständischer Zensur. Kulturveranstaltungen in diesem Format waren vor allem im vorrevolutionären Tunesien eine Neuheit. So war Dream City 2007 das erste Kunstfestival im Land, das im öffentlichen Raum stattfand. »Für viele Künstler, die sich bisher nicht in den öffentlichen Raum begeben hatten, war Dream City der Beginn eines komplett neuen künstlerischen Ansatzes und lieferte den Anreiz für neue Arbeitsweisen, die es so in Tunesien noch nicht gegeben hatte«, meint die Künstlerin Patricia Triki. Anstelle von dekorativer, kommerziell ausgerichteter Kunst in geschlossenen Ateliers und Ausstellungsräumen, fokussiert Dream City eine Kunstproduktion und -präsentation von ortsspezifischen und partizipativen insitu-Kunstwerken im öffentlichen Raum. In ihren insitu-Kunstwerken widmen sich die teilnehmenden Künstler*innen kulturhistorischen Bauten der Medina und vereinen ihre Darstellung mit gegenwärtigen sozialen Belangen. Dream City möchte im Vergleich zu etablierten, staatlich unterstützen Kulturveranstaltungen anstelle einer Bourgeoisie alle Bevölkerungsschichten ansprechen. Dafür gewährleistet Dream City freien Eintritt für Ansässige und ein kostenloses Abendprogramm, das ebenso kunstfernere Bevölkerungsschichten anspricht. Damit platziert sich Dream City als niederschwelliges Kulturangebot inmitten der Gesellschaft und regt einen Dialog innerhalb der tunesischen Bevölkerung an. Durch die Nutzung des öffentlichen Raumes der Medina, die vom Kollektiv als der »Mikrokosmos von Tunesien« betrachtet wird, sowie durch den insitu-Ansatz trifft die breite tunesische Bevölkerung aufeinander. Besucher*innen des Festivals erkunden die Altstadt und treffen auf Medinabewohner*innen und ansässige Händler*innen. Künstler*innen kommen in Kontakt mit Publikum und Passant*innen. Während der öffentliche Raum der zeitgenössischen Kunstszene zu mehr Sichtbarkeit im Inland verhilft, ermöglicht die internationale Erweiterung des Kollektivs eine Präsenz auch außerhalb von Tunesien. Zusätzlich möchte sich das Kollektiv
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auch Interessierten außerhalb der professionellen Kunstszene öffnen. Dafür werden Medinabewohner*innen und Kunststudierende als ehrenamtliche Mitwirkende, etwa im Sicherheitsdienst, als Assistent*innen der Künstler*innen oder für Schulführungen involviert. Dem Defizit des tunesischen Bildungssystems begegnet Dream City, indem Vorträge an Universitäten organisiert und Kunststudierenden so mehr Praxisbezug vermittelt wird. Mit Dream City wurde ein privilegierter und zugleich verbotener Ort für Künstler*innen, als auch für Nutzer*innen des öffentlichen Raums im vorrevolutionären Tunesien geschaffen. Mit dieser Gegenplatzierung stößt Dream City seit Beginn an auf Herausforderungen. Auf diese Hindernisse versucht das Kollektiv hinsichtlich der inhaltlichen und organisatorischen Ausrichtung des Festivals flexibel zu reagieren, indem es das Konzept stets strategisch neu auslotet. Ohne auffällige Werbekampagnen wurde die erste Auflage des Festivals per Mundpropaganda angekündigt, woraufhin rund 5000 Besucher*innen in die verwinkelten Gassen der Medina von Tunis strömten. Der plötzliche Andrang ließ den Versuch der Polizei, das Festival zu unterbinden, fehlschlagen. Auch die abweichende Raumaneignung durch einen Sitzturm, der in Dream City 2010 von einer Künstlerin als Begegnungs- und Dialogort in der Medina errichtet wurde, erregte den Missmut von Polizist*innen und wurde noch vor Fertigstellung über Nacht zerstört. Vor allem nach den Vorfällen im Abdelliya-Palast entschied die Festivalorganisation von Dream City, einige Kunstwerke zu ›entschärfen‹, um den Ablauf des Festivals und die Sicherheit der Künstler*innen zu gewährleisten. Der Kontakt zu internationalen Kultureinrichtungen gab den Organisator*innen nicht nur die Möglichkeit, das Festival und seine Struktur zu finanzieren und internationale Künstler*innen zu rekrutieren, sondern ermöglichte es ebenfalls, strenge Vorschriften der tunesischen Behörden zu umgehen, von ihnen abzuweichen. Die Auflage in Frankreich im Jahr 2013 machte das Kunstprojekt auch auf der internationalen Kunstbühne bekannt und weckte das Interesse international renommierter Kurator*innen wie Jan Goossens, dessen Teilnahme im Kollektiv nunmehr weitere Möglichkeitsräume zu eröffnen vermag.
7. DAS DREAM CITY-KUNSTPROJEKT IN UND ALS BEWEGUNG – SCHLUSSBETRACHTUNG Die Vision von Dream City ist es, mit Hilfe von Kunst, die tunesische Bevölkerung zum kritischen Reflektieren der Gegenwart anzuregen sowie einen Austausch zwischen Künstler*innen und Bevölkerung anzuregen, um damit die Position von Kunst in der Gesellschaft zu stärken. Dream City steht für einen
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Möglichkeitsraum für Künstler*innen, in dem diese ohne Einschränkung von Kunstfreiheit zeitgenössische Kunst praktizieren können. Ebenso ist es ihnen hier möglich, im öffentlichen Raum Sichtbarkeit zu erlangen und in Kontakt mit unterschiedlichen Bevölkerungsschichten zu treten. Mit der Umsetzung dieser Vision in ein zeitgenössisches, im öffentlichen Raum der Medina von Tunis stattfindenden Kunstfestivals, das von einem lokalen und internationalen Netzwerk an professionellen Kulturschaffenden getragen wird und dabei stark die lokale Bevölkerung einbezieht, kreierten die Initiator*innen eine Heterotopie. Der utopische Ort wurde durch ein Konzept und eine Strategie ermöglicht, mit deren Hilfe die Initiator*innen und Organisator*innen Barrieren weit möglichst umgehen und neue Möglichkeitsräume eröffnen können. Ziel dieser Heterotopie ist es, der utopisch erscheinenden Vision der Wirklichkeit nach jeder Festivaledition näherzukommen. Gegenwärtig existiert die Heterotopie Dream City noch zwischen Krise und Abweichung; dies zeigt sich u.a. in der Zusammensetzung der Besucher*innen, den Berührungen der weniger wohlhabenden Gesellschaftsschichten mit Kunst, die in vielen anderen Ländern kaum vorhanden sind, als auch an Einschränkungen in der Öffentlichkeit für bestimmte Kunstwerke aufgrund von Bedrohungen durch religiöse Extremist*innen. Doch zeigt die Bilanz nach zehnjährigem Bestehen von Dream City, dass schon einige Barrieren überwunden und Teilziele erreicht werden konnten. Dank Heterotopien wie Dream City ist die zeitgenössische Kunstszene in Tunesien trotz einiger Rückschläge in Bewegung und gewinnt immer mehr an lokaler sowie internationaler Anerkennung.
Autor*innen
Alexi, Katharina, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg »Deutungsmacht« an der Universität Rostock und forscht an der Schnittstelle von Kulturwissenschaften, Popular Music Studies und feministischen Studien. Mitarbeit im DAAD-Forschungsprojekt »Transformation-Kultur-Geschlecht«. Lehrbeauftragte der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg. Promotionsprojekt u.a. zu Bewertungsdiskursen über Frauen in der Musik ausgehend vom US-Rock der 1960er-Jahre. Brink, Lina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Verbundprojekt »Das Bedrohungsszenario des ›islamistischen Terrorismus‹ aus den Perspektiven von Politik, Medien und muslimischen Communities – eine empirische Studie« an der Akkon-Hochschule. Arbeitsschwerpunkte: Cultural (Media) Studies, Gender Studies, Postcolonial Studies, Kosmopolitismus, Diskurstheorie und -analyse. Chaouachi, Majdi, Dozent für allgemeine Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Französisch am Institut Supérieur des Sciences Humaines der Universität Jendouba (Tunesien). Forschungsschwerpunkte: Diskursanalyse, Medienlinguistik. Chekir, Hafidha, Professorin für Öffentliches Recht an der Faculté de Droit et des Sciences Politiques, Université de Tunis El Manar; Menschenrechtsaktivistin und Feministin, Vize-Präsidentin der Fédération Internationale des Droits de l’Homme (FIDH), Vorstandsmitglied der Association Tunisienne des Femmes Démocrates (ATFD), Gründungsmitglied der Association des Femmes Tunisiennes Universitaires pour la Recherche et le Développement (AFTURD), Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Institut Arabe des Droits de l’Homme seit seiner Gründung. Menschenrechtspreis der vereinten Nationen für ihre Dissertation über »Le rôle du droit dans la promotion des droits des femmes: l’exemple de la Tunisie«.
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Chouk, Idris, Dozent für Literaturwissenschaft an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba (Tunis). Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 18. Jahrhunderts, Gender und Kultur in der neueren deutschen Literatur. Glaab, Nina, Absolventin des Masterstudiengangs »Kulturwissenschaften – Culture, Arts and Media« an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen des Projektes »Transformation – Kultur – Geschlecht« realisierte sie zwei Forschungsaufenthalte in Tunesien, während derer sie Interviews mit lokalen Kulturschaffenden über die hiesige Kunstszene führte. Die Ergebnisse der Interviews dienten ihrer Masterarbeit über »Vom Träumen der Kunst im postrevolutionären Tunesien: Das Dream City Festival zwischen Utopie und Wirklichkeit.« Arbeitsschwerpunkte: Kunstwissenschaften, Kulturorganisation. Grami, Amel, Professorin für Gender Studies an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba (Tunis) und Koordinatorin des Masterstudiengangs »Geschlecht, Gesellschaft und Kultur«. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Gender im Islam, Gender und gewalttätiger Extremismus. Hobuß, Steffi, Philosophin und Akademische Leiterin des Leuphana College an der Leuphana Universität Lüneburg; Projektleiterin des tunesisch-deutschen Projekts »Transformation – Kultur – Geschlecht«. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Sozialphilosophie, Ästhetik; im Besonderen: Philosophie der Bildung, Interkulturelle Philosophie, Postkoloniale Theorie, Philosophie der Erinnerung, Philosophische Gendertheorie. Horstmannshoff, Imke, hat Kulturwissenschaften und Global Studies in Lüneburg, Växjö und Leipzig studiert und dabei u.a. zu Performativität und Protestbewegungen in Tunesien und der Türkei geforscht. Derzeit befindet sie sich am Ende ihres Erasmus-Mundus-Masterstudiums in Global Studies an der Universität Wien. Kramer, Sven, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte: Kodierung von Gewalt in Literatur und Film; Holocaust-Literatur und -Film; Essay und Essayfilm; literaturtheoretische und ästhetische Fragestellungen im Umfeld von kritischer Theorie, Dekonstruktion und kritischer Hermeneutik.
Autor*innen | 385
Khiari-Loch, Ina, Ethnologin, promoviert im Institut für Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen und lehrt im Fachbereich Germanistik am Institut Supérieur des Sciences Humaines de Médenine/ Universität Gabès, Tunesien. Wissenschaftliche Mitarbeiterin des DAAD-Projekts mit der Universität Lüneburg »Transformation – Kultur – Geschlecht«. Forschungsschwerpunkte: Biographieforschung, sozialer Wandel und Geschlechterkonstruktionen, Soziolinguistik. Maataoui, Moez, Dozent für germanistische Sprachwissenschaft an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba (Tunis) und Koordinator des DAAD-Projekts mit der Leuphana Universität Lüneburg »Transformation – Kultur – Geschlecht«. Arbeitsschwerpunkte: Politolinguistik, Genderlinguistik, Kontrastive Linguistik, Phraseologie. Mathlouthi, Lotfi, Dozent im Fachbereich Philosophie am Institut Supérieur des Sciences Humaines de Tunis, Université de Tunis El Manar. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik und Kunstphilosophie, Kunstgeschichte, Politische Philosophie, Ethik. Mestiri, Soumaya, Professorin an der Faculté des Sciences Humaines et Sociales an der Université de Tunis. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Theorien der Gerechtigkeit, Gender Studies, Postkoloniale Philosophie. Möller, Martina, Germanistin und Filmwissenschaftlerin, hat seit 2003 als Dozentin für Literaturwissenschaft, Landeskunde und DaF an verschiedenen Universitäten in Deutschland, Frankreich und Marokko gearbeitet. Aktuell ist sie als DAAD-Lektorin an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba (Tunis) tätig. Ihre Doktorarbeit erschien im November 2013 unter dem Titel »Rubble, Ruins and Romanticism: Visual Style, Narration and Identity in German Post-War Cinema« im transcript Verlag (Bielefeld). Sie forscht zu interkulturellen Fragestellungen und hat mehrfach internationale Konferenzen mitorganisiert. Mtimet, Mohamed Adel, Dozent für Philosophie und Geistesgeschichte am Institut Supérieur des Sciences Humaines de Médenine/Universität Gabès (Tunesien), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts Dialog Transnational, Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Menschenrechte, Gender und Männlichkeitstheorie.
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Ouakaoui, Malek, Dozent für französische Literaturwissenschaft und darstellende Kunst am Institut Supérieur des Sciences Humaines de Tunis der Universität Tunis El Manar; aktuell Gastlehrer am Französischen Gymnasium in Baku (Aserbaidschan), Mitglied im DAAD-Projekt »Transformation – Kultur – Geschlecht«. Forschungsinteressen: Literatur- und Filmpoetik, Geopolitik, Anthropologie. Taleb, Imen, Literaturwissenschaftlerin. Gegenwärtig promoviert sie an der Leuphana Universität Lüneburg zum Thema »Die Wirkungsweise der Khakismus-Diktatur in den Frühwerken des irakisch-deutschen Schriftstellers Abbas Khider«. Forschungsschwerpunkte: Die Frage von arabischer bzw. irakischer Diktatur und die damit verbundenen Aspekte wie Flucht, Identität, Schreiben, Frauen, Folter und Gefängnis. Tarssim, Abir, Dozentin für deutsche Landeskunde und Geschichte an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba (Tunis). Arbeitsschwerpunkte: die 68er Bewegung, Migrations- und Integrationspolitik, Gender Studies.
Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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