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German Pages 384 Year 2002
Türken in Berlin 1871 —1945
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Türken in Berlin 1871 —1945 Eine Metropole in den Erinnerungen osmanischer und türkischer Zeitzeugen
Herausgegeben von Ingeborg Böer, Ruth Haerkötter und Petra Kappert unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Sabine Adatepe
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Türken in Berlin 1871-1945 : eine Metropole in den Erinnerungen osmanischer und türkischer Zeitzeugen / hrsg. von Ingeborg Böer ... Unter wiss. Mitarb. von Sabine Adatepe. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 ISBN 3-11-017465-0
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zusümmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Einbandgestaltung: +malsy, Bremen Einbandabbildung: Kemaleddin Sami Pascha in seiner Zeit als türkischer Botschafter in Berlin mit seiner Frau; ® ulistein bild, Berlin
Vorwort Im Sommersemester 1990 stand der Dichter Mehmet Akif auf dem literarischen Programm der Turkologie an der Universität Hamburg. Seine „BerlinErinnerungen" gaben die 1915 gewonnenen Eindrücke derart euphorisch wieder, daß sich sogleich die Frage stellte, ob andere Besucher aus dem Osmanischen Reich die Stadt Berlin ähnlich erlebt hätten. Die Recherche begann. Sie führte im Laufe vieler Jahre zu der hier vorliegenden Sammlung weitgehend unbekannter oder vergessener, bisher nicht übersetzter osmanischer und türkischer Selbstzeugnisse. Sie beleuchten sowohl die Eindrücke der BerlinBesucher als auch die vielfältigen Aspekte der deutsch-türkischen Beziehungen, die mehr als 300 Jahre zurückreichen und seit der deutschen Reichsgründung 1871 kontinuierlich ausgebaut wurden. Unsere Zeitzeugen waren namhafte Persönlichkeiten, die in vielen Fällen Deutschland und „den Deutschen" eine tiefe Bewunderung entgegenbrachten. Fast immer kamen sie mit einem festen Ziel nach Berlin: in öffentlichem Auftrag, auf offizielle Einladung, zur militärischen oder akademischen Ausbildung, als politischer Flüchtling und nur im Ausnahmefall zum Geldverdienen. Ihre Tätigkeitsfelder waren von so unterschiedlicher Art wie Wissenschaft und Kunst, Politik und Literatur, Militär und Mode. Für viele von ihnen gilt, daß ihr Aufenthalt in Berlin ein entscheidendes biographisches Ereignis darstellte. Nicht wenige stürzte das Erlebnis Berlin in ein Wechselbad von Gefühlen zwischen Euphorie und Verzagtheit, Selbstsicherheit aus dem Bewußtsein eigener historischer Größe und Verzweiflung angesichts der ungelösten Probleme von Gegenwart und Zukunft. Ihre Beobachtungen erwiesen sich nicht nur als Informationen zum Zeitgeschehen, sondern auch als Dokumente der Empfindungen. Die Ausrichtung auf solche charakteristischen Gesichtspunkte vollzog sich im Verlauf der Recherche und der Sammlung von Texten ganz allmählich und gleichsam von Fund zu Fund. Am Anfang stand nur die Idee einer Einladung an den Leser zur Besichtigung Berlins anhand ausgewählter Beschreibungen der Stadt und des Umlandes. Bald erweiterte sich die Dokumentation um Tagebücher, Briefe und schließlich um Memoiren als Rückblicke aus der Distanz. Hier konnte dank der Hilfe des unermüdlichen Antiquars Mustafa Karaca (Istanbul) aus einer reichhaltigen, aller-
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Vorwort
dings vom Markt weitgehend verschwundenen Erinnerungsliteratur geschöpft werden. Da gibt es zum einen die Autobiographien, in denen - meist in politischem Rahmen - ein Berlin-Aufenthalt erwähnt wird; der andere Teil der Memoirenliteratur enthält Texte, die ausdrücklich als „Berlin-Erinnerungen" konzipiert wurden. Manchmal erscheinen sowohl Fremd- als auch Selbstbild der BerlinBesucher sonderbar verzerrt. Doch es ist ihre Wahrheit. Ihre Reaktionen, Hoffnungen, Wertvorstellungen und Enttäuschungen werden in der vorliegenden Sammlung dokumentiert und rufen ihrerseits Gefühl und Anteilnahme hervor durch ihren unverwechselbaren Ton, die gänzlich unverstellte Stimme und ungehemmte Spontaneität. Auf diesem besonderen Merkmal beruht die Aussagekraft und nicht zuletzt der hohe Unterhaltungswert der Texte, in denen die Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten das AufeinandertrefFen sehr verschiedener, aber sich respektierender Welten spiegeln. Für das Mitwirken an den langwierigen Übersetzungsarbeiten ist Prof. Dr. Kerim Yavuz (Erzurum) und Eroi Meçeli (Ankara) zu danken, besonders aber Sabine Adatepe (Hamburg), Turkologin M. A. In den vielen Jahren des Sammeins all dieser Stimmen war es immer wieder ermunternd, von dem steten Interesse derer begleitet zu werden, die mit ihren Hinweisen weiterhalfen: Prof. Dr. Gürsel Aytaç (Ankara), Prof. Dr. A. Güner Sayar (Istanbul) und Prof. Dr. Gerhard Höpp (Berlin). Herr Çefik Okday (Istanbul) war so freundlich, die persönlichen Kontakte zu den Briefpartnern zu vermitteln und private Fotos und Dokumente zur Verfugung zu stellen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Ingeborg Böer
Inhalt Vorwort Einführung
I.
Kaiserzeit 1871-1918 Berlin wird Vorbild
V 1
21
1871
Basiretçi Ali Efendi Bismarck belohnt eine prodeutsche Berichterstattung
23
1877
Sadullah Pascha Ein verfemter Botschafter schaut das Paradies in Charlottenburg
29
1888
Ahmed Midhat Ein Schriftsteller plaudert über Hotels, Polizei und das Theater als Lehrer des Volkes
37
1890
Ahmed ihsan Tokgöz Ein weitgereister Publizist vergleicht Berlin mit Paris
43
1890
Hiiseyin Hulki Ein junger Arzt erfahrt die Achtung Robert Kochs und die Huld des Kaisers
49
1895
Ahmed Tevfik Pascha Der letzte Großwesir und seine preußischen Söhne Ismail Hakki und Ali Nuri
55
1909
Ismail Hakki Okday Von der Armee des Sultans in das Garderegiment des Kaisers
59
1909
Enver Pascha Vom hofierten Hoffnungsträger zum geächteten Flüchtling
69
Vili
Inhalt
1910
Ekrem Rü$tü Akömer Aus den Tagebüchern eines Waffenbruders
79
1910
Ahmed Hikmet Mfiftüoglu Anmerkungen eines eiligen Diplomaten zu den Sehenswürdigkeiten Berlins und dem Gottesbild der Europäer
91
1910
Ra§id Tahsin Tugsavul Eindrücke vom Kongreß der Psychiatrie und Neurologie
97
1911
ismayil Hakki Baltacioglu Über das Verschmelzen von Disziplin und Kreativität in der deutschen Reformpädagogik
101
1911
Fünfzig offizielle Gäste Die Studienreise der osmanischen Delegation ein Meilenstein in den deutsch-türkischen Beziehungen
107
1913
Celai Nuri ileri Selbstmitleid angesichts blühender Zivilisation und lebendiger Monarchie
117
1914
Mehmed Akif Ersoy Ein Dichter und Prediger idealisiert die Deutschen und Berlin
123
1915
Hüseyin Cahid Yalçin Eine umjubelte Reise türkischer Parlamentarier zur Ordensverleihung in Berlin
135
1915
HalilMenteçe Ein Parlamentspräsident auf Sondermission im deutschen Generalstab
139
1915
Halil Halid Soziale Dienste, Bildungsstätten und deutsche Zähigkeit in Zeiten des Mangels - eine Recherche an der „Heimatfront"
143
1917
M. Adii Von der Liebe der Deutschen zur Musik und den Vorzügen des deutschen Bildungssystems
161
1917
Cenab Çahabeddin Ein Dichter über das Wesen der Deutschen und der Stadt Berlin
165
Inhalt
IX
1917
Ahmed Tevfik Berkman Lebenswende in der Charité
179
1917
Mustafa Kemal Pascha Vom deutschen Hauptquartier ins weihnachtliche Adlon
185
II.
Z w a n z i g e r Jahre 1 9 1 9 - 1 9 3 2 Wechselnde Perspektiven
193
1918
Mehmed Talat Pascha Asyl und Tod in Berlin
195
1919
Vedat Nedim Tör...: Vom Sozialisten zum Kemalisten
203
1922
Rebia Tevfik Ba?okçu Überlebenskampf und Karriere einer Modistin in den „Goldenen Zwanzigern"
209
1928
Sabahattin Ali Berlin als literarischer Schauplatz
223
1929
Vasfi Riza Zobu Ein junger Schauspieler trifft Max Reinhardt
237
III.
Nationalsozialismus 1 9 3 3 - 1 9 4 5 Kritik und Beifall
243
1933
Ismail Habib Sevük Über den technischen Geist, die Tierliebe der Deutschen und den Unterschied ihrer Frauen zu den Französinnen
245
1935
Niyazi Berkes Hakenkreuze und Hitlergruß
255
1935
Mehmed Asim Us Freundlichkeiten von Hitler und Goebbels
259
χ
Inhalt
1938
Μ. Turban Tan Zwischen-Zustimmung und Unbehagen ein Beobachter im Zweifel
263
1942
Nadir Nadi Kriegsalltag, Audienz bei Goebbels und Propagandafahrt durch besetzte Gebiete
273
1943
M. Saffet Engin Bombennächte im November
283
1943
Celaleddin Ezine Wiederbegegnung mit Berlin im Krieg
289
1944
H. Kuraoglu Berlin im letzten Kriegsjahr
297
IV.
Ein Kapitel für sich
303
Die Studienzeit 1929-1943 in persönlichen Briefen prominenter Zeitzeugen Melahat Togar Çefik Okday Ekrem Akurgal Sabih Gözen Jale inan Zahide und Macit Gökberk Saadet Ikesus Altan Said Kuran
Epilog Literaturverzeichnis Hinweise zur Form Chronologie Personenregister Bildnachweis
305
327 335 347 349 371 374
Einführung Die deutsch-osmanischen Beziehungen
I. Vom Mittelalter bis zur Gründung des Deutschen Reiches
Die Anfänge Mit der Eroberung von Konstantinopel/Byzanz und damit der Geburt der osmanischen Metropole Istanbul (1453) etablierte sich die Existenz einer ernstzunehmenden muslimischen osmanisch-türkischen Macht im allgemeinen Bewußtsein des christlichen Abendlandes. Bekräftigt wurde dieser Anspruch alsbald durch die erste Belagerung Wiens (1529) unter Sultan Süleyman I., dem Prächtigen (1520-66). Luthers Predigten gegen die Türken taten ein übriges, das Gefühl einer Bedrohung durch „die Mohammedaner" zu nähren. Die bisher nur sporadischen persönlichen Begegnungen an Kriegsfronten oder beim wechselseitigen Durchzug der Heere hatten kaum die Möglichkeit geboten, Vorurteile an der Realität zu überprüfen. Infolge der „Türkenkriege", insbesondere des sogenannten „Großen Türkenkrieges" (1683-99), ausgelöst durch die zweite osmanische Belagerung Wiens, kamen nun erstmals Osmanen als Kriegsgefangene brandenburgischer Truppen, die den Habsburgern in Ungarn zur Seite standen, nach Berlin. Berühmt wurden Hassan und Aly, die als konvertierte Kammerdiener am Hofe Königin Sophie Charlottes von Preußen (1668-1705) dienten. Die Mächte in und um Brandenburg-Preußen haderten in landesherrlichen Rivalitäten untereinander und gegenüber dem Römisch-Deutschen Reich, als der osmanische Sultan Mustafa II. (1695-1703) zur Krönung Friedrichs I. zum König von Preußen 1701 Mektupçu Azmi Said Efendi, den ersten osmanischen Diplomaten in offizieller Mission, zur Überbringung großherrlicher Glückwünsche an den Berliner Hof entsandte. Zur Zeit Friedrich Wilhelms I. (1713-40) setzten nach einer erneuten Niederlage der Osmanen gegen Prinz Eugen mit einem Schreiben des osmanischen Großwesirs Niçanci Mehmed Pascha an den
2
Einführung
ersten Minister Preußens geheimdiplomatische Beziehungen zwischen den beiden Mächten ein. Friedrich Wilhelm I. ließ sich Pferde aus Istanbul, im christlichen Europa noch immer als Konstantinopel bezeichnet, kommen, darunter, als Geschenk Sultan Ahmeds III. (1703-30), ein edles Roß aus dem großherrlichen Marstall, das in Berlin allgemeine Bewunderung erregte. Als der Herzog von Kurland Friedrich Wilhelm I. 1731 zwanzig „türkische" - eigentlich muslimisch-tatarische - Gardesoldaten überließ, errichtete dieser seinen „Türken" 1732 in ihrem Quartier am Langen Stall in Potsdam eine Moschee. Er legte Wert auf die korrekte Religionsausübung seiner Untertanen, bat sich allerdings aus, den wöchentlichen Tag der Ruhe und des Gottesdienstes von Freitag auf Sonntag zu verlegen. Ein Dekret dieses Königs war die Voraussetzung fur die Gründung der ersten islamischen Gemeinde auf deutschem Boden (1731). Preußens Aufstieg und die damit aufkommende Konkurrenz zur Habsburgischen Krone ließen König Friedrich II. (1740-1786) die Nähe zur politisch bisher wenig beachteten Großmacht im Südosten suchen. Bereits kurz nach seiner Inthronisierung nahm er diplomatische Beziehungen zu Mahmud I. (1730-54) auf. Nach der preußischen Einverleibung Schlesiens wünschte sich Friedrich II. fur den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ein Bündnis mit den Osmanen zur Errichtung einer Südfront gegen Österreich-Ungarn und Rußland. Sein 1755 an den osmanischen Hof entsandter Vertreter von Rexin rang den Osmanen, nun unter Mustafa III. (1757-74), anstatt des angestrebten Verteidigungsbündnisses lediglich ein erstes Freundschafts- und Handelsabkommen ab (1761) Als der Sultan dann seinerseits 1763 Ahmed Resmi Efendi zu Verhandlungen über ein Militärbündnis nach Berlin entsandte, um die verlustreichen Kämpfe mit Rußland auszugleichen, war Friedrich II. nicht mehr interessiert. Ahmed Resmi Efendi, einst mit prunkvollem Gefolge eingezogen und als erster osmanischer Gesandter in Preußen2 in die Geschichte eingegangen, zog nach fünfeinhalb Monaten unverrichteter Dinge ab.3
1
2
3
Mit den Osmanen abgeschlossene Abkommen dieser frühen Zeit sind eher als großherrliche Willkürakte bzw. „vom Sultan gnädig gewährte Versprechen" zu verstehen denn als den Staat bindende Bündnisse, vgl. Ilber Ortayli: „Osmanli Diplomasisi ve Diçiçleri Örgütü" in TCTA, Bd. 1, S. 278. Als erster osmanischer Gesandter im Sinne eines dauerhaften diplomatischen Vertreters gilt, nach langer Phase zahlreicher Sonderbotschafter zu unterschiedlichsten Anlässen jeweils mit begrenzter, klar umrissener Funktion, allerdings erst der 1792 nach London entsandte Yusuf Agah Efendi. Ahmed Resmi Efendis Berlin-Eindrücke sind in seinem Bericht Viyana ve Berlin Sefaretnameleri (Gesandtschaftsberichte aus Wien und Berlin) nachzulesen, der, von Willi BeyBolland ins Deutsche übertragen, 1903 in den Mitteilungen des Deutschen ExkursionsKlubs in Konstantinopel veröffentlicht wurde. Der Gesandte bemühte sich, u.a. mit dem Besuch kultureller Veranstaltungen, die Unterschiede zwischen beiden Reichen und Kulturen zu verstehen.
Einführung
3
Erst den Nachfolgern Sultan Selims III. (1789-1807) und König Friedrich Wilhelms II. (1786-97) gelang es, 1790 ein osmanisch-preußisches Offensiv- und Defensivbündnis zu schließen, woran dem preußischen Gesandten zu Istanbul, Friedrich von Diez, entscheidender Anteil zugesprochen wird. Anfang 1791 traf der zweite osmanische Gesandte, Ahmed Azmi Efendi 4 , in Berlin ein. Dem zweiten folgte 1797 als dritter Gesandter Giritli Ali Aziz Efendi 5 , der bereits im Folgejahr in Berlin verstarb und durch seinen Tod einen Meilenstein besonderer Art in den türkisch-deutschen Beziehungen setzte. Der türkische Friedhof zu Berlin Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) ordnete die Bestattung des verschiedenen Gesandten der Hohen Pforte nach islamischem Ritus auf einem von der Krone bereitgestellten Gelände in der Tempelhofer Feldmark an. Begräbniszeremonie und der feierliche Zug, der dem Verstorbenen das letzte Geleit gab und in seiner ungewohnten Exotik zahllose Neugierige anzog, stellten die erste islamische Kulthandlung in der Berliner Öffentlichkeit dar. Nach der Bestattung eines weiteren osmanischen Gesandten, Mehmed Esad Efendi, (1804) geriet die außergewöhnliche Grabstätte in Vergessenheit. 1836 wiederentdeckt und mit einem Gedenkstein geehrt, wurden noch drei weitere Angehörige der osmanischen Gesandtschaft hier beigesetzt. 1856 kurzfristig erweitert, mußte der Friedhof 1866 einem Kasernenneubau weichen. Die Toten wurden, mit Zustimmung des Sultans, in ein neben dem Garnisonfriedhof gelegenes Gräberfeld am heutigen Columbiadamm in Neukölln umgebettet. Hier ruhten bereits die muslimischen Gefallenen der Freiheitskriege 1812-15. Auf dem umfriedeten Gelände, zugänglich durch ein prächtiges Portal mit osmanischer Inschrift, wurde eine von einem Halbmond gekrönte Säule mit den Namen der fünf Umgebetteten errichtet. Der seitdem als „Türken-Friedhof' bekannte Ort, mithin der erste islamische Friedhof auf deutschem Boden, auf dem bis in die 1960er Jahre hinein Muslime unterschiedlicher Herkunft beigesetzt werden sollten,
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Auch Ahmed Azmi Efendi nahm in den elf Monaten seines Berlin-Aufenthaltes rege am kulturellen Leben der Stadt teil. In seinem Gesandtschañsbericht geht er bewundernd auf das preußische politische und wirtschaftliche System ein und unterbreitet dem Sultan Vorschläge zur Reformierung der osmanischen Administration nach preußischem Vorbild. Vgl. Ilber Ortayli: „Berlin im Urteil türkischer Reisender und Intellektueller", S. 227; zum Report u.a. Gtlmeç Karamuk: Ahmed Azmis Gesandtschaftsbericht als Zeugnis des osmanischen Machtverfalls und der beginnenden Reformära unter Selim III., Bern/Frankfurt a. M. 1975. Der auch als Philosoph und Dichter bekannte Aziz Efendi wird gelegentlich als „Vater der modernen türkischen Literatur" bezeichnet. Über seine diplomatische Tätigkeit liegen kaum Quellen vor; er soll sich neben Treffen mit dem König, Kronprinzen und der späteren Königin Luise hauptsächlich mit literarischen und philosophischen Fragen befaßt haben.
4
Einführung
ging in den Besitz des Osmanischen Reiches über, dessen Eigentumsnachfolge später die Türkei antrat. Türkenmode Der Beginn der diplomatischen Beziehungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spiegelte sich in einer regelrechten „Türkenmode" in der abendländischen Gesellschaft. „Datteln essen gehört zum guten Ton in Berlin, und die Gecken pflanzen sich einen Turban aufs Haupt", ist ein Wort Friedrichs II. überliefert. Das diffuse Gefühl von Bedrohung früherer Zeiten wich der Attraktion exotischer Atmosphäre im Habitus der mit reichem Gefolge und Gepränge in die Stadt einziehenden osmanischen Gesandten. In Literatur und Theater wurden Türken zum „Inbegriff von Weisheit und Güte", auch zur „Projektionsfläche exotischer Phantasien" oder zur politischen Metapher. In Kunst, Architektur, Mode und Wissenschaften wurden türkisch-osmanische Einflüsse spürbar. Beginn der militärischen Kooperation Mit der Französischen Revolution und den Wirren der Napoleonischen Kriege endete die erste Ära osmanischer Gesandter in Berlin: Friedrich Wilhelm III. wünschte nach dem Tode Ali Aziz Efendis zunächst keine Neubesetzung der osmanischen Gesandtschaft. Inzwischen führten zunehmende Verfallserscheinungen im Inneren und Niederlagen der osmanischen Armee gegen Österreich und Rußland (1787—92) in der Istanbuler Führung zu der Erkenntnis, daß eine grundlegende Reformbewegung unerläßlich sei. Nachdem die von Sultan Selim III. (1789-1807) 1791 einberufenen Staatsmänner einstimmig fur Reformen votiert hatten, beschloß der Sultan eine Umstrukturierung der Streitkräfte nach europäischem Vorbild und lud ausländische Experten zur Inspektion und Unterbreitung von Vorschlägen ein. Neben Spezialisten vor allem aus Frankreich, dem sich die osmanische Elite traditionell verbunden fühlte, reiste 1798 als erster preußischer Offizier auch Oberst von Goetze nach Istanbul. Die Ablehnung der neuen Truppe Nizam-i Cedid (Neue Ordnung) mit insgesamt 12000 Mann, davon 1600 allein in Istanbul, sowie der Reform militärischer Ausbildungs- und Produktionsstätten durch die Janitscharen und die traditionelle geistliche Führung der Ulema (Religionsgelehrte) führte zu scharfen Auseinandersetzungen, in denen der Sultan, angesichts der latenten Gefahr eines russischen Angriffs, zunächst Kompromisse einging, aber dennoch im Mai 1807 durch einen Aufstand der Janitscharen aus dem Amt gehoben wurde. Nach einer kurzen Interimsphase unter Mustafa IV. nahm sich der als erster erfolgreicher Reformsultan in die Geschichte eingegangene Mahmud II. (180839) erneut des Reformwerks Selims III. an, zerschlug 1826 das Janitscharenkorps und baute nach europäischem Vorbild reguläre Heeresverbände auf: die
Einführung
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Asakir-i Mansure-i Muhammediye (Reguläre Soldaten Mohammeds), wozu er den ägyptischen Gouverneur Mehmed Ali Pascha, der seine Armee und Verwaltung kurz zuvor erfolgreich reorganisiert hatte, um Unterstützung bat. Diese blieb, ebenso wie die von Frankreich erbetene, aus; zudem erhob Mehmed Ali sich 1831 gegen die Istanbuler Zentralmacht, ermutigt durch den Frieden von Adrianopel (1829), von Preußen vermittelt, der infolge der osmanischen Niederlage im osmanisch-russischen Krieg 1828-29 nicht nur die Abtretung weitreichender Gebiete an Rußland vorsah, sondern zudem die 1830 umgesetzte Unabhängigkeit Griechenlands besiegelte. Mahmud II. wandte sich Ende 1835 um die Entsendung von Instruktionsoffizieren für seine neuen Streitkräfte an Preußen, den russischen „Erbfeind". Friedrich Wilhelm III. aber mochte sich zu einer offiziellen militärischen Zusammenarbeit nicht entschließen, stimmte jedoch der Entsendung türkischer Offiziersschüler in deutsche Militärverbände zu, womit eine jahrzehntelange fruchtbare Ausbildungshilfe einsetzte. Parallel dazu hielten sich die Offiziere von Moltke und von Bergh unter Dienstbeurlaubung während einer Mittelmeerreise in Istanbul auf. Zunächst unter dreimonatiger Fortsetzung besoldeten Urlaubs, ab 8. Juni 1836 jedoch per Kabinettsordre als kommandiert „zur Organisation und Instruktion der dortigen Truppen", blieb Oberst Helmuth von Moltke auf Wunsch der osmanischen Führung in der Türkei. Mit erst Mitte 1837 eingetroffenen drei weiteren preußischen Generalstabsoffizieren führte er zur Modernisierung in Ausbildung und Restrukturierung umfangreiche Inspektionen in Istanbul und nachfolgend in fast dem gesamten Reich durch. Vor ihm waren einige preußische Offiziere auf eigene Faust aus der preußischen Armee ausgeschieden und, zum Teil unter Konversion und Annahme osmanischer Staatsangehörigkeit, als aventuriers sans consistance oft dauerhaft in osmanische Dienste getreten. Die vier entsandten Offiziere der „ersten preußischen Militärmission" behielten nicht nur ihre Position in der preußischen Armee, ein Präzedenzfall für alle künftigen Militärberater, sondern waren zudem zum Rapport über militärische Angelegenheiten nach Preußen verpflichtet. Die Bürokratie des orientalischen Staates war trotz aller Reformbestrebungen starr; Verhandlungen und Umgang mit Vorschlägen verliefen kaum nach den Vorstellungen der preußischen Berater. Friedrich Wilhelm III. rief seine Offiziere im Herbst 1839 zurück, kurz bevor die verheerende osmanische Niederlage in der Schlacht um Syrien gegen Ibrahim Pascha, den Feldherrn Ägyptens, in Berlin bekannt wurde. Ebenfalls ohne den Ausgang der Entscheidungsschlacht erfahren zu haben, verstarb Sultan Mahmud II. in Istanbul, und sein 16-jähriger Sohn Abdülmecid (1839-61) übernahm die Regierung. Die Folgejahre, auch den Krimkrieg mit Rußland (1853-56), verbrachte die osmanische Armee ohne eine weitere preußische Militärmission. Preußen blieb neutral, während England und Frankreich die Osmanen unterstützten, um dem russischen Expansionsstreben auf dem Balkan einen Riegel vorzuschieben.
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Einführung
Die stürmische Zeit der Befreiungskriege und einsetzenden Industrialisierung bis zu Bismarcks Etablierung in den 1860ern verlief ohne direkte diplomatische Kontakte zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich, das seinerseits mit großherrlichen Edikten von 1839 und 1856 bis zur Aussetzung der ersten Verfassung und Auflösung des jungen Parlaments durch Sultan Abdülhamid II. 1878 eine nicht weniger stürmische Reformperiode durchmachte: die Zeit der Tanzimat (Neuordnung), die das Verhältnis von Bürger und Staat grundlegend änderte.
II. Von der deutschen Reichsgründung bis zum Ende der Waffenbrüderschaft Bismarcks Politik des Ausgleichs Preußens Sieg über den europäischen Hauptrivalen Frankreich im Krieg von 1870/71 führte zur deutschen Reichsgründung. In Versailles wurde Wilhelm I. zum deutschen Kaiser gekrönt. Der Architekt des Staatsvertrags zwischen Norddeutschem Bund und den süddeutschen Fürstentümern, der Grundlage des Reiches, der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, avancierte zum Reichskanzler. In den nun in Europa entstehenden neuen Machtverhältnissen steuerte er Deutschland, das nach kurzfristigem, doch umso rasanterem industriellen Aufstieg in wirtschaftlicher wie militärischer Hinsicht bald Frankreich und Österreich-Ungarn überlegen war, auf einer route de balance zwischen den europäischen Mächten bei streng kontrollierter Isolation Frankreichs, dessen Revanche für den verlorenen Krieg und die an Deutschland zu leistenden Reparationen er zu fürchten hatte. Für einen Ausgleich zwischen Österreich und Rußland, deren Interessen auf dem Balkan kollidierten, sorgte das Drei-KaiserAbkommen von 1873 als Grundstein seiner ausgeklügelten kontinentalen Bündnispolitik. Im Osmanischen Reich, das 1875 den Staatsbankrott hatte erklären müssen, setzte Sultan Abdülhamid II. (1876-1909) bald nach seiner Inthronisierung die in langem Mühen während der Reformperiode der Tanzimat errungene erste osmanische Konstitution außer Kraft. Rußland nutzte die Schwächung der osmanischen Macht auf dem Balkan; 1877 kam es zum osmanisch-russischen Krieg, aus dem das Osmanische Reich schwer geschädigt hervorging. Der Friede von San Stefano (März 1878) zerschlug die europäischen Besitztümer der Osmanen, und Rußland sorgte für die Gründung formell unabhängiger Vasallenstaaten auf dem Balkan. Der russische Erfolg mißfiel den konkurrierenden europäischen Imperialmächten, so daß Bismarck, als „ehrlicher Makler" im Namen der einzigen europäischen Macht ohne expansionistische Interessen in der osmanischen Sphäre, im Juni/Juli 1878 alle Konfliktparteien zur Konferenz nach Berlin lud, um - zur Bannung erneuter Kriegsgefahr - „im Geist einer europäischen Ordnung" die „orientalische Frage" zu beraten. Zahlreiche Ge-
Einführung
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bietsabtretungen im Westen und Nordosten, Reparationszahlungen an Rußland sowie Sicherheits- und Reformgarantien für die christliche Minderheit beendeten faktisch die osmanische Großmachtstellung, milderten aber dennoch die Schmach von San Stefano, insbesondere da auch Rußland schmerzliche Kompromisse eingehen mußte. Mit der Einrichtung der Osmanischen Schuldenverwaltung (Düyun-i Umumiye) zur Befriedigung der europäischen Gläubigerforderungen geriet 1881 die Kontrolle über Wirtschaft und Finanzwesen des Osmanischen Reiches vollständig in europäische Hand. Als England gemäß dem Berliner Abkommen Zypern übernahm und 1882 zudem Ägypten besetzte, fühlte sich nicht nur der als übermäßig furchtsam bekannte Sultan Abdülhamid II. bedroht. Sein Bestreben galt dem Erhalt zumindest der islamischen Territorien im Reich. Unter den europäischen Großmächten schien allein Bismarcks Deutschland keinerlei Ansprüche auf osmanisches Hoheitsgebiet geltend zu machen, sondern sich rein um die Anknüpfung freundschaftlicher Wirtschaftsbeziehungen zu bemühen. Wirtschaft Seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach Überwindung der Wirtschaftskrisen (1873-79 und 1882-86), nach denen Bismarck seine liberale Handelspolitik durch ein nationalökonomisches Konzept ersetzte, erlebte die Industrialisierung in Deutschland einen rasanten Aufstieg. Die Produktionserhöhung verlangte zur Beschaffung von Rohstoffen wie zur Erschließung von Absatzmärkten den Ausbau des Transportwesens, der wiederum die entsprechenden Industriezweige belebte. Die 1835 in Deutschland verlegten ersten sechs Schienenkilometer dehnten sich bis 1915 auf ein Streckennetz von 62 410 km aus. Deutsche Banken agierten als Handels- und Investitionsbanken und lenkten durch ihre Anteile an Großunternehmen auch in Vorständen mitbestimmend die deutsche Wirtschaft richtungweisend. Schon 1880 war Deutschland der weltweit viertgrößte Exporteur, überholte bald England und Frankreich und wurde die Nummer zwei nach den Vereinigten Staaten von Amerika. 1880 gründete sich in Berlin der Deutsche Handelsverein, zu dessen primärem Betätigungsfeld nach einer Informationsreise seines Vorstandes durch die Levante das Osmanische Reich und Griechenland erklärt wurden. 1884 und 1888 wurden versuchsweise Direktlinien Kiel - Istanbul bzw. Hamburg Istanbul eingerichtet, um das Problem der Warenverteuerung durch Fremdtransport zu lösen. Bis 1889 jedoch erwiesen sich diese Bemühungen als nicht ausreichend tragfahig. Die zweite deutsche Militärmission Die Niederlage im russisch-osmanischen Krieg, in dem russische Truppen bis in die Randgebiete Istanbuls vorgedrungen waren, ließ Sultan Abdülhamid II.
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Einführung
die Notwendigkeit energischer Reformen in der Struktur und Ausbildung seines Heeres einsehen. Nach Abschluß eines Abkommens über die Aufnahme deutscher Militär- und Verwaltungsexperten in den osmanischen Staatsdienst (1880) forderte er, seinem Mißtrauen gegenüber der eigenen Armee zum Trotz, 1882 von Deutschland Militärberater an und schlug zugleich die Entsendung türkischer Offiziere zur Ausbildung im deutschen Heer vor. Bismarck entsandte Oberst Otto Kaehler zur Inspektion, der schon bald Verstärkung anforderte. Auf seinen Vorschlag traf 1883 mit anderen Major Colmar Freiherr von der Goltz (1843-1916) als Instruktionsoffizier für militärische Bildung und Erziehung in Istanbul ein. Er unterrichtete an der Kriegsakademie und der neugegründeten Generalstabsschule. Goltz Pascha, wie die Osmanen ihn respektvoll nannten, hatte bald de facto das Kommando über diese zweite offizielle deutsche Militärmission inne. 1886 bis 1895 unterstand er dem osmanischen Generalstab als Sous-Chef und kehrte 1896 nach Deutschland zurück. Seine Reformvorschläge waren wohlwollend angehört, doch in keiner Weise umgesetzt worden: Sultan Abdülhamid II. erwies sich als unfähig und unwillig zur Neuerung. Von der Kontinental- zur Weltpolitik unter Wilhelm II. In Deutschland war 1888 Kaiser Wilhelm I. gestorben; nach einer nur dreimonatigen Regierung seines Sohnes Friedrich III. bestieg im selben Jahr, 29jährig, Kaiser Wilhelm II. den Thron. Der ambitionierte junge Kaiser mochte sich nicht mit der Schattenstellung seiner Vorgänger abfinden. Hielt sein Kanzler Briefe aus Istanbul noch fur kaum lesenswert, trat Wilhelm II. 1889 seine erste Orientreise an und besuchte Abdülhamid II. in Istanbul. Der mißtrauische osmanische Sultan erkannte in ihm den Gleichgesinnten, der als Freund ohne territoriale Ansprüche kam und zudem das Image einer schwächelnden Monarchie durch seine Autorität aufwertete, konnte sich jedoch aus Furcht vor Rußland und einer Brüskierung Frankreichs und Englands nicht zu einem verbindlichen Abkommen durchringen. Als Bismarck Anfang 1890 im Unfrieden aus dem Amt schied, war der Weg für Wilhelms II. Wende von der Kontinental- zur expansionistischen Weltpolitik frei. Die von Bismarck sorgsam vermiedene europäische Blockbildung setzte ein; durch die Annäherung Rußlands an Frankreich sah Deutschland sich rasch einer doppelten Front gegenüber. Doch Wilhelms II. Blick ging in die Welt, um in die Reihen der Imperialmächte aufzusteigen. Noch 1890 wurde im Außenministerium eine Kolonialabteilung für die Verwaltung der seit 1884 erworbenen afrikanischen Kolonien eingerichtet und mit dem Abschluß des deutsch-osmanischen Vertrags über Freundschaft, Handel und Schiffahrt der deutsche Orienthandel durch die Senkung der Importzölle für deutsche Produkte belebt.
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Eisenbahnen fur den Orient 1888 war es einem Konsortium unter Leitung der Deutschen Bank gelungen, die Konzession fur den Bau der ersten Teilstrecken Izmit - Ankara und den Anschluß Istanbul/Haydarpaça - Izmit der sogenannten Anatolischen Bahn zu erhalten, nachdem britische und französische Unternehmen bereits seit den 1860er Jahren im anatolischen Südwesten mehrere Bahnstrecken und Preußen den Anschluß Istanbuls an Strecken auf dem Balkan gebaut hatten. Der Abschnitt Izmit - Ankara ging 1892 in Betrieb, 1896 die Streckenerweiterung nach Konya, deren Konzession Wilhelm II. Sultan Abdülhamid II. bei seinem Besuch 1889 abgerungen hatte. Den Bahnbau begleiteten zunehmend deutsche Sondierungen im Bereich der Landwirtschaft; Bewässerungsprojekte und Agrarreformen wurden ins Leben gerufen. Weitere Strecken folgten und gipfelten 1899-1903 in der Konzession und Gründung der Bagdad-BahnGesellschaft fur die Realisierung des ehrgeizigen Projektes der BagdadBahnlinie und der Häfen Bagdad und Basra. Die wirtschaftliche Seite der Erschließung Kleinasiens mittels der Schiene verschleierte kaum die Möglichkeit, damit gegebenenfalls auch deutsche Truppen unverzüglich weit nach Osten, d.h. bis an die Grenzen britischen Kolonialbesitzes, zu verlegen. Durch die osmanische Verpflichtung, das gesamte Zubehör zum Bahnbau unter deutscher Konzession allein aus Deutschland zu beziehen, war auch der 1889 eingerichteten Deutschen Levante Linie eine regelmäßige Auslastung ihrer Transportkapazitäten gesichert. Zudem war nach sporadischen Kontakten bereits in den 1870er Jahren mit der Mission von der Goltz' der Waffenhandel aufgeblüht. Krupp, Mauser und Loewe konnten ab 1885 durch die Vermittlung des deutschen Instruktionsoffiziers die zuvor von englischen und französischen Unternehmen gehaltene Kontrolle des osmanischen Rüstungsimports brechen. Das Leben der regen deutschen Kolonie im Osmanischen Reich spiegelte sich auch in der Herausgabe deutschsprachiger Zeitungen wider: Osmanische Post (1890-95) und Konstantinopler Handelsblatt (ab 1896). Türkische Offiziere in deutscher Ausbildung Erst im Dezember 1895, nach der Entsendung eines ständigen deutschen Militârattachés nach Istanbul, kam die osmanische Führung auf die dreizehn Jahre zuvor geäußerte Bitte um militärische Ausbildung osmanischer Offiziere in preußischer Uniform in Deutschland zurück. Während die Präsenz deutscher Offiziere in osmanischen Diensten außer im technischen Bereich kaum längerfristigen Einfluß hatte, ist bei den zum Teil längere Jahre hindurch in Deutschland ausgebildeten osmanischen Offizieren von einer nachhaltigen Beeinflussung durch die deutsche Kultur auszugehen. Die Entsendung unterlag strengen Auswahlkriterien, bei denen soziale Herkunft von größerer Bedeutung war als soldatische Leistung. In Deutschland nahmen die jungen Offiziere denn auch
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mehr am gesellschaftlichen Leben teil, wohlwollend von ihren deutschen, meist ebenfalls aus dem Adel stammenden Kameraden eingeführt und aufgenommen, als sich diszipliniert dem Dienst zu widmen. Sultan Abdülhamid II. erkannte durchaus den Charakter der militärischen Ausbildung seiner Offiziere in Deutschland und beklagte besonders den Verlust von Moral und Sitten der jungen Osmanen, ließ sich jedoch aus Prestigegründen auf weitere Entsendungen ein. Das Ende der Ära Abdülhamid II. und die jungtürkische Herrschaft Wilhelm II. suchte zur Sicherung der osmanischen Gewogenheit 1898 noch einmal den osmanischen Sultan in Istanbul auf und unternahm eine ausgedehnte Orientreise. In seiner berühmten Damaszener Rede erklärte er sich zum Freund aller Muslime. Bedrängt von den europäischen Großmächten, die sich zusätzlich zu den Garantien und Vorrechten für die eigenen Staatsbürger im Osmanischen Reich, den Kapitulationen, als Schutzmächte der christlichen Minderheiten unter osmanischer Herrschaft gerierten, übergab Abdülhamid II. dem deutschen Kaiser symbolisch den Schutz über die Protestanten und Katholiken im Reich. Als Erbe der Jungosmanen, einer Gruppe Intellektueller, die vor allem die autoritäre Herrschaft des Sultanats kritisierten, hatte sich 1889 gegen das Regime Abdülhamids II. zunächst in Offizierskreisen das Komitee für Einheit und Fortschritt, im europäischen Ausland als Jeunes Turcs bzw. Jungtürken bezeichnet, mit der Forderung nach Wiedereinsetzung der Konstitution gegründet. Gezwungen, im Untergrund zu agieren, bemühte sich die jungtürkische Bewegung um Unterstützung der europäischen Mächte, auch Deutschlands, und publizierte ab 1900 ihr Organ Osmanli auch auf Deutsch. Während der Sultan weitere deutsche Unterstützung - etwa bei Ausbau und Reformierung von politischer Polizei und Geheimdienst wie bei der Ausbildung osmanischer Unteroffiziere an Schnellfeuergeschützen - anstrebte, wuchs die innere Opposition. Im Juli 1908 zwang die jungtürkische Revolution Abdülhamid II. zur Wiedereinsetzung der Konstitution. Nach dem Versuch einer Gegenrevolution im April 1909 wurde Abdülhamid II. in die Verbannung geschickt und durch Sultan Mehmed V. Re§ad ersetzt. Auf Bitten des osmanischen Generalstabs reiste 1909 erneut von der Goltz, inzwischen Generaloberst, zur Beratung der Armee nach Istanbul; im Oktober folgten weitere elf Offiziere, und zugleich nahm die deutsche Armee noch einmal vierzehn türkische Offiziere zur Ausbildung auf. Der Verlust Tripolitaniens (Libyens) im osmanisch-italienischen Krieg 1911-12, die Ersetzung der wechselnden, jedoch stets jungtürkisch dominierten Regierungen infolge des ersten Balkankriegs 1912-13 durch das deutschfeindliche Kabinett Kamil Paschas sowie der drohende Verlust Edirnes infolge der Londoner Balkankonferenz bildeten den Hintergrund für den Staatsstreich des Komitees für Einheit und
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Fortschritt, mit dem im Januar 1913 das jungtürkische Triumvirat Enver, Cernai und Talat an die Macht kam. Großwesir wurde Mahmud Çevket Pascha, der neun Jahre als Offizier in Deutschland gedient hatte. Im Friedensvertrag von London (Juni 1913) hatten die Osmanen den Verlust fast ihres gesamten europäischen Restterritoriums hinzunehmen. Nachdem Mitte Juni Mahmud Çevket Pascha einem Attentat zum Opfer gefallen war, rückte das jungtürkische Triumvirat mit seiner nun zunehmend turkistischnationalistischen Gesinnung vollends in den Vordergrund. Das Kabinett unter Said Halim Pascha, einem Vertreter des gemäßigteren islamisch-osmanistischen Flügels der Jungtürken, stand gleich dem Parlament unter scharfer Kontrolle des Triumvirats, dessen Macht mit der Rückeroberung Edirnes durch Enver im zweiten Balkankrieg Mitte 1913 noch gefestigt wurde. Enver, als Pascha (General) nun Kriegsminister und Vizegeneralissimus oberster Kriegsherr blieb de jure der Sultan - , betrieb in ausgesprochener Germanophilie eine weitgehende Annäherung an Deutschland. Im Mai 1913 war auf türkischen Antrag hin unter der Führung General Otto Liman von Sanders' (1855-1929) eine dritte offizielle Militärmission nach Istanbul gereist. Liman erhielt das Kommando über die in Istanbul stationierte Erste Armee und den Vorsitz über die osmanische Reformkommission. Auf Druck Rußlands mußte er zwar kurz darauf die aktive Kommandogewalt wieder abgeben, blieb jedoch maßgebender Führungsoffizier in der osmanischen Armee, ab 1914 im Rang eines Marschalls. Anfang 1914 waren 40 bis 70 deutsche Militärberater in der osmanischen Armee tätig. Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit In Berlin gründete sich im April 1914 die Deutsch-Türkische Vereinigung, unterstützt von deutscher Politik und Wirtschaft und maßgebend geleitet von dem Publizisten Ernst Jäckh, sowie in Istanbul auf Betreiben Envers die TürkischDeutsche Vereinigung. Gemeinsam strebten sie eine Koordination des deutschtürkischen Engagements in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht an. Mit Vorträgen, Unterrichtung der jeweilig anderen Sprache und insbesondere dem Austausch junger Menschen sollte über ein Konzept gegenseitiger Verbundenheit und Wertschätzung eine enge Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft errichtet werden. Traditionell waren die französische Sprache und Kultur von erheblichem Einfluß im Osmanischen Reich gewesen. So rangierten bis zum Kriegsausbruch 1914 mit rund 600 auch die französischen Schulen im Reich an erster Stelle, gefolgt von 500 angelsächsischen, 200 italienischen, 60 russischen und nur 22 deutschen. 1914 war eine Deutsche Kulturmission eingerichtet worden, deren Vorstand Geheimrat Schmidt als Berater fur den Erziehungsminister §ükri Bey fungierte und sich insbesondere fur Deutschunterricht und die Entsendung einer möglichst großen Zahl junger Türken zur Ausbildung nach Deutschland ein-
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setzte. Auf Anhieb konnten 300 junge Leute zur Unterweisung in handwerklichen Berufen, die nicht zuletzt den deutschen Projekten in der Türkei dienen sollten, nach Deutschland vermittelt werden. Der Deutsch-Türkischen Vereinigung gelang zwischen 1916 und 1918 die Verschickung von 733 türkischen Schülern und Lehrlingen nach Deutschland, die bei Unterbringung in deutschen Familien in Handwerk, Bergwerk oder Landwirtschaft ausgebildet wurden. Hinzu kam eine Gruppe von rund 500 jungen Arbeitern und Technikern, Schülern und Fachschülern, die vom osmanischen Kriegs-, Erziehungs- oder Marineministerium entsandt worden waren. 1918 befanden sich insgesamt 1500 junge Türken und Türkinnen zu Ausbildungszwecken in ganz Deutschland. In Berlin waren 1917 gut 2000 Türken registriert; die Mitgliederzahl der Deutsch-Türkischen Vereinigung betrug im Dezember desselben Jahres 5310 Personen. Während die entsandten Schüler zumeist aus Familien der osmanischen Elite ausgewählt waren, die zumindest die Hälfte der Finanzierung ihres Deutschland-Aufenthaltes selbst zu tragen hatten, handelte es sich bei den Lehrlingen überwiegend um mittellose Waisen, die sich freiwillig gemeldet hatten. Ein Viertel dieser zweiten Gruppe wurde nach Prüfung durch die DeutschTürkische Vereinigung in Berlin jedoch wegen „intellektueller oder moralischer" Nichteignung innerhalb der ersten zwei Monate zurückgeschickt. Wer bleiben durfte, verpflichtete sich zu einer mindestens vieijährigen Lehrzeit, darunter ein Jahr als Geselle, in einem Betrieb zu den ortsüblichen Bedingungen. Noch im Sommer 1917 wurde in Berlin-Grunewald ein türkisches Schülerheim eingerichtet, das als Anlaufstelle bei der Ankunft - mit Erteilung von Sprachunterricht und Heranführung an „die deutsche Disziplin" - und bei eventuellen künftigen Problemen diente. Zur Einrichtung des geplanten zweiten, für Erwachsene bestimmten Heimes kam es im Verlauf des weiteren Kriegsgeschehens nicht mehr. Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg Auf Betreiben Envers, der nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo dem deutschen Botschafter Wangenheim im Juli 1914 ein Defensivbündnis vorgeschlagen hatte, wurde die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft am 2. August 1914 mit der Unterzeichnung des geheimen Allianzvertrages besiegelt. Im Falle eines bewaffneten Konfliktes mit Rußland war gegenseitige Waffenhilfe zu leisten. Für den Kriegsfall sollte die bei den Osmanen befindliche deutsche Militärmission ganz der Türkei überlassen werden und Einfluß auf die gesamte Armeeführung erhalten. Am 1. August bereits hatte Deutschland Rußland den Krieg erklärt. Trotz des Geheimvertrags hielt die osmanische Führung sich nun neutral, schützte finanzielle Sorgen vor und konnte sich erst nach Erhalt einer hohen deutschen Anleihe im November 1914 zum Kriegseintritt auf der Seite der Mittelmächte entschließen, nachdem die osmani-
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sehe Flotte unter deutschem Kommando am 29. Oktober russische Schwarzmeerhäfen beschossen hatte. Nach schweren Rückschlägen gegen Rußland an der Kaukasusfront schon im Dezember 1914 landeten britische und französische Truppen im April 1915 bei Çanakkale an den Dardanellen. Die fünfte osmanische Armee leistete unter dem Kommando Liman von Sanders' heftige Gegenwehr bei Gallipoli und erreichte bis Januar 1916 den Rückzug der Entente-Truppen von den Dardanellen. Aus den Ost- und Nordostgebieten des Reiches wurde, vorgeblich zur Sicherung der Front, auf Kabinettsbeschluß unter der Verantwortung Innenminister Talat Paschas die gesamte christlich-armenische Bevölkerung in Richtung syrische Wüste deportiert, wobei Hunderttausende Armenier ums Leben kamen. Während des Krieges, 1917, besuchte Kaiser Wilhelm II. noch einmal Istanbul. Doch mit der Gegenoffensive Englands im gleichen Jahr wendete sich das Blatt: im März fiel Bagdad, im September Damaskus. Der Versuch, mit vereinten deutschosmanischen Kräften in der Yildirim-Armee mit einer deutschen Kerntruppe, dem sogenannten Asienkorps, unter dem Kommando Erich von Falkenhayns, Mesopotamien zurückzuerobern, scheiterte kläglich. Mit dem Waffenstillstand von Mudros (Oktober 1918) geriet Istanbul unter englische und weite Teile Anatoliens unter alliierte Besatzung, alle Eisenbahnlinien kamen unter Entente-Verwaltung; die osmanische Armee wurde entwaffnet und aufgelöst. Die über 10 000 deutschen Soldaten leiteten ihren Abzug ein bzw. wurden vorübergehend auf einer der Marmara-Inseln interniert. Mit einem der U-Boote der abziehenden deutschen Truppen floh auch das jungtürkische Triumvirat nach Odessa und von dort weiter nach Berlin. Die Nachkriegsregierung unter Ahmed îzzet Pascha verlangte vergeblich die Auslieferung der nunmehr als Kriegstreiber beschuldigten Jungtürken von Deutschland. Talat blieb unbehelligt in Berlin, bis er 1921 von einem armenischen Aktivisten erschossen wurde, und Enver machte sich auf, Solidarität unter den muslimischen Turkvölkern unter sowjetischer Herrschaft zur Errichtung eines großtürkischen Staates (Turan) zu stiften, bis er 1922 in einem Gefecht mit Rotarmisten in Turkmenistan fiel. Der alliierte Diktatfrieden von Sèvres besiegelte im August 1920 die Aufteilung des Osmanischen Reiches. Deutschland hatte sich, nachdem seine militärischen Ressourcen erschöpft waren, zum Friedensersuchen durchgerungen. Die Meuterei deutscher Marinesoldaten gegen den Befehl zur Flottenverlegung in den letzten Kriegstagen löste eine landesweite Aufstandsbewegung aus. Kaiser Wilhelm II. ging am 9. November ins Exil; am selben Tag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus, und am 11. November 1918 trat der Waffenstillstand in Kraft. Die Verträge von Mudros (30.10.1918), Versailles (28.06.1919) und Sèvres (10.08.1920) erklärten alle seit August 1914 bestehenden Verträge zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich für ungültig und untersagten den
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beiden Geschlagenen jede neue Kontaktaufnahme. Mit dem Abzug der gegenseitigen Botschafter waren die Beziehungen auf dem Nullpunkt angekommen.
III. Zwischen den Kriegen
Nationaler Befreiungskampf und Gründung der türkischen Republik Die Flucht der Jungtürken hatte in Istanbul ein Machtvakuum hinterlassen, das vier Gruppen miteinander konkurrierend zu füllen versuchten: der am 3.7.1918 inthronisierte Sultan Mehmed VI. Vahdeddin, der Ende 1918 das Parlament auflöste, eine Delegation zur Friedenskonferenz nach Paris entsandte und mit pro-westlichen Kabinetten eine der Entente genehme Politik zu verfolgen suchte, der liberale Flügel der Jungtürken unter Damat Ferit Pascha, die Parlament, Staatsapparat und die meisten staatstragenden Organisationen nach wie vor dominierenden alten jungtürkischen Garden und schließlich die Vertreter der alliierten Siegermächte, die mit militärischer Präsenz politischen Druck ausübten. Der Wilson-Plan einer Souveränität für mehrheitlich türkische Gebiete und die Besetzung Izmirs und Ayvaliks durch griechische Truppen im Mai 1919 trugen erheblich zum Erstarken der Befürworter einer türkischen Nationalidentität bei. Seit November 1918 formierte sich der Widerstand gegen die pro-alliierte Istanbuler Linie in den überall im Land gegründeten „Gesellschaften für die Verteidigung der nationalen Rechte", forciert durch die Untergrundtätigkeit der Karakol (Wache), einer als effiziente Nebenorganisation zu Enver Paschas Geheimdienst Te§kilat-i Mahsusa gegründeten Kerngruppe ehemaliger jungtürkischer Kader. Auf ihre Anregung hin wurde 1919 Mustafa Kemal Pascha, der zwar aus der jungtürkischen Schule stammte, doch durch persönliche Animositäten sowohl zu den deutschen Vorgesetzten im Heer als auch zu Enver Pascha unbelastet von den Mißerfolgen des Triumvirats während dessen Alleinherrschaft war, als Truppeninspekteur nach Anatolien entsandt. Gegen den Befehl begann er, im türkischen Kernland den Widerstand gegen die Istanbuler Regierung zu organisieren. Sein auf den Kongressen von Erzurum und Sivas aufgestelltes Paket zur nationalen Unabhängigkeit und Integrität wurde von dem auf seinen Druck hin im Januar 1920 in Istanbul neu gewählten Parlament als Nationalpakt (Misak-i Milli) verabschiedet. Die alliierten Siegermächte nahmen das Erwachen türkischen Selbstbewußtseins nicht hin und diktierten im August 1920 den Friedensvertrag von Sèvres. Mustafa Kemal, voraussehend, daß der türkische Nationalpakt nicht auf alliierte Gegenliebe stoßen würde, hatte bereits am 23. April 1920 die erste türkische Nationalversammlung in Ankara einberufen, die sich formell von der Istanbuler Regierung lossagte. Nach langwierigen Kämpfen (Machtzuwachs von Ost nach West) und dem endgültigen Zurückdrängen der Griechen bis
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wurde im darauf folgenden Monat in Mudanya mit der Entente ein Waffenstillstands- und Truppenstationierungsabkommen geschlossen. Sèvres war überwunden; in Lausanne wurde neu verhandelt. Noch standen sich die Regierungen von Istanbul und Ankara konkurrierend gegenüber, doch als Ankara entschlossen die Abschaffung des Sultanats (zum 1. November 1922) verfugte, übergab der letzte Großwesir seine Amtsgeschäfte an den Vertreter Ankaras in Istanbul. Der letzte Sultan ging auf einem britischen Schiff ins Exil. Nun saß nur noch eine türkische Delegation am Konferenztisch der Lausanner Gastgeber Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland. Mit Unterzeichnung des Lausanner Vertrages (24.07.1923) fand der türkische Nationalpakt weitgehend internationale Zustimmung; Anatolien wurde mit Ostthrakien als souveräner Staat anerkannt, und die britischen Besatzungstruppen räumten Istanbul. Am 29. Oktober 1923 erklärte die türkische Nationalversammlung per Verfassungsänderung in Ankara, das seit dem 13. Oktober Istanbul als türkische Hauptstadt abgelöst hatte, die Türkei zur Republik und wählte Mustafa Kemal zum ersten Präsidenten und Staatsoberhaupt. Entstehung der Weimarer Republik Ein erster Schritt zur Beruhigung der brodelnden politischen Lage seit Kriegsende im November 1918 war der Erfolg der Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919, die wegen der Berliner Unruhen in Weimar zusammentrat. Reichskanzler Ebert hatte maßgebenden Anteil an der Durchsetzung der Idee einer parlamentarischen Demokratie gegenüber radikaleren Projekten wie der Einfuhrung der Räterepublik; nun wurde er Reichspräsident. Die neue Verfassung vom August 1919 etablierte nicht nur die starke Stellung des Präsidenten und ermöglichte den Einsatz des Militärs auch im Inneren, sondern zeichnete sich vor allem durch die Festschreibung bürgerlicher Grundrechte und -pflichten aus. Die Reichsregierung unterzeichnete gezwungenermaßen den Versailler Vertrag, der Deutschland hohe Reparationszahlungen, Gebietsverluste und militärische Beschränkungen brachte und insbesondere von der erstarkenden nationalistisch gesinnten Opposition als Diktat betrachtet wurde. Zur bedrohlichen Krise fur die junge Demokratie geriet der Kapp-Putsch vom März 1920. Die Reichswehr unter dem Kommando General von Seeckts weigerte sich, gegen die Putschisten vorzugehen; erst ein Generalstreik beendete den Umsturzversuch. Doch die rasant ansteigende Inflation, die französische Besetzung des Ruhrgebietes und innere Unruhen in mehreren Reichsgebieten ließen das Land nicht zur Ruhe kommen, bis Ende November 1923 Reichskanzler Gustav Stresemann, als Führer einer großen Koalition, eine Währungsreform durchsetzte und nach Ausschreitungen in Bayern NSDAP wie KPD verboten wurden. 1924 begann eine Phase der Konsolidierung.
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Aufleben der Beziehungen Der auf Verhandlungen und Abbau ausländischen Mißtrauens setzenden Außenpolitik Stresemanns entsprechend, wurden noch Ende 1923 erste Kontakte zur Türkei aufgenommen. Im Februar 1924 begannen offizielle Gespräche, bezeichnenderweise in Ankara, das international noch nicht als neue Hauptstadt der jungen türkischen Republik anerkannt war. Mit der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Friedensvertrages am 3. März 1924 fand der 1918 unterbrochene politische Dialog seine Fortsetzung. Rudolf Nadolny (1873-1953), vormals als Botschafter in Schweden bereits in Mittlerrolle zur Türkei, ging im Mai 1924 als erster deutscher Nachkriegsbotschafter nach Ankara. Im Gegenzug entsandte die Türkei Kemaleddin Sami Pascha (1884-1934) nach Berlin. Reichspräsident von Hindenburg bekundete dem türkischen Staatspräsidenten Mustafa Kemal gegenüber schriftlich sein Interesse an Sicherung und Ausbau der neuen Beziehungen. In Anknüpfung an frühere Traditionen eines Bildungsaustausches wurde am 16.11.1924 die Deutsche Schule in Istanbul wieder eröffnet. Die Türkei bat um Entsendung deutscher Spezialisten diverser Fachgebiete. So berieten ab 1926 deutsche Experten türkische Behörden und Betriebe u.a. in Bereichen wie Agrar- und Forstwirtschaft, Topographie, Gesundheit, Bauwesen und Rüstungsgüter. Ab 1926 erschien - auf Anregung Botschafter Nadolnys - auch wieder ein deutschsprachiges, halboffizielles Blatt in Istanbul: die Türkische Post. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sollte das Organ seine bis dahin erfolgreich bewahrte Unabhängigkeit jedoch verlieren. Die neue Landwirtschaftliche Hochschule in Ankara wurde unter Leitung einer deutschen Expertendelegation aufgebaut. Nach der Eröffnung 1930 lehrten dort zunächst vier, bis 1938 dann unter Rektor Friedrich Falke etwa dreißig deutsche Professoren. Fünf deutsche Offiziere wurden als Lehrpersonal fur Kriegstechnik, Strategie und Kriegsgeschichte an der Kriegsakademie Yildiz tätig, während in der türkischen Marine deutsche Ausbilder dienten. Die Beschäftigung in der Türkei war für manchen durch die Versailler Entwaffnungsvorschrift brotlos gewordenen deutschen Offizier höchst willkommen. Die Diskussion über eine neue Militärmission wurde jedoch ausdrücklich vermieden. Gleichzeitig standen fur spezielle Ausbilderaufgaben auch einige französische Offiziere in türkischen Diensten. Bereits im Sommer 1924 wurden die ersten Studenten zur Ausbildung militärisch nutzbarer Fähigkeiten an deutsche Kunstund Ingenieursschulen geschickt. Sie verpflichteten sich, nach ihrer Rückkehr acht Jahre Dienst in der türkischen Rüstungsproduktion zu leisten. Es folgten Informationsbesuche türkischer Delegationen, und im Herbst 1928 kamen Studenten zur topographischen Ausbildung nach Berlin. Ende 1929 bis 1931 setzte sich die Entsendung türkischer Offiziere in deutsche Truppenteile zur jeweils einjährigen Ausbildung fort.
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Der Austausch beschränkte sich nicht auf militärische Belange. Türkische Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen kamen zur Aus- und Weiterbildung; für 1932 ist die Zahl von 137 Studenten in ganz Deutschland belegt. Auch in der Polizeiausbildung setzte die Türkei auf deutsche Unterstützung. 1925 hatte die Türkei einen Plan zum Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie aufgestellt. Kooperation mit offiziellen deutschen Stellen wie auch mit der deutschen Industrie wurde angestrebt. Schwierige Verhandlungen, auch unter Engagement auf höchster Ebene - Außenminister Tevfik Rûçtû Aras besuchte 1925 zweimal Berlin - führten zu ersten Bestellungen des türkischen Verteidigungsministeriums bei deutschen Unternehmen, etwa im Flugzeugbau. Die Türkei mußte deutschem Kapital als ideales Investitionsfeld gelten, lag doch die Wirtschaft der jungen Republik brach und hielten sich englische und französische Anleger aufgrund der politischen Spannungen noch zurück. Es kam zu verstärktem deutschen Engagement insbesondere in den Bereichen Zement, Energie, Bergbau, Bauwesen und Handel. 1927 wurde der Deutsch-Türkische Niederlassungs- und Handelsvertrag geschlossen und in Berlin die Türkische Handelskammer gegründet. Im gleichen Jahr wurden die deutschen Bahnprojekte im Orient mit dem Vertrag zwischen der türkischen Regierung und der Deutschen Orientbank über den Bau der Strecken Kayseri - Ulukiçla bzw. Kütahya - Bahkesir wiederbelebt. 1928 fand der Verkauf der Eisenbahnlinie nach Bagdad an die Türkei seine vertragliche Regelung. Im Sommer 1930 einigte sich das Krupp-Konsortium mit türkischen Regierungsvertretern darauf, daß deutsche Firmen das fur den Bahnbau benötigte Material bis 1934 auf Kreditbasis bereitstellten. Das Postabkommen (1930) zwischen dem türkischen Innenministerium und Lufthansa berechtigte das deutsche Unternehmen zur Beförderung von Post auf der Strecke Istanbul Berlin, garantierte jedoch nicht die gewünschten Monopolrechte. Die Handelsbeziehungen - der Vertrag von 1927 wurde bis zum Sommer 1939 regelmäßig verlängert bzw. neu aufgelegt - blieben bestimmt durch den Verkauf von Agrarprodukten und Industrierohstoffen von türkischer Seite und den Ankauf deutscher Industrieprodukte fur den türkischen Markt. Beamten des deutschen Außenministeriums gegenüber äußerte sich Botschafter Kemaleddin Sami Pascha im Sommer 1928 kritisch über die deutsche Österreichpolitik, mußte die Unterstützung Deutschlands für die - aus Sicht der Türkei bedrohliche - italienische Expansionspolitik jedoch hinnehmen. Anfang 1929 bekräftigte Außenminister Tevfik Rûçtû Aras dann bei Gesprächen mit seinem Amtskollegen Stresemann in Berlin die türkische Sympathie für Deutschland und äußerte sich bewundernd über die deutsche Rußlandpolitik. Im selben Jahr schlossen die beiden Staaten ein Schiedsgerichts- und ein Konsularabkommen. Im Folgejahr wurde die Auslieferung von Straftätern geregelt.
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Stagnation der Beziehungen In einer radikalen Wandlungsphase von der islamisch-osmanischen Ordnung unter Sultansherrschaft zur nationalen säkularen Republik explizit westlicher Prägung erlebte die Türkei 1923 bis Anfang der dreißiger Jahre eine Reihe einschneidender Reformen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Justiz unter Führung Staatspräsident Mustafa Kemals (ab 1934 Atatürk). Nach rigoroser Unterdrückung jeder Opposition und einer Phase politischer Gleichschaltung verkündete Ministerpräsident Ismet inönü 1936 auf dem Parteikongreß der 1923 von Mustafa Kemal gegründeten einzigen Partei CHP (Republikanische Volkspartei) die längst bestehende Deckungsgleichheit von Partei- und Staatsapparat zur Staatsdoktrin. Dem „Sechs-Pfeile-Programm" Atatürks gemäß verfolgte die etatistische Wirtschaftspolitik als Hauptziele die nationalstaatliche Industrialisierung und Entwicklung des Binnenmarktes. Private Unternehmen sahen ihren Wunsch nach staatlicher Förderung von Dirigismus überlagert, und allen Industrialisierungsbestrebungen zum Trotz blieb der Agrarsektor das herrschende Wirtschaftssegment. Die Außenhandelsbeziehungen waren von bilateralen Staatshandelsverträgen geprägt; Haupthandelspartner war mit rund der Hälfte des Gesamtvolumens Deutschland. Nach einer Aufwertung seiner Stellung in Europa (Locarno-Pakt von 1925, Beitritt zum Völkerbund 1926) ließ Deutschlands politisches Interesse an der fernen Türkei spürbar nach. Auch während der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise konnte die Türkei kein attraktiver Partner sein. Nach der Abreise Botschafter Nadolnys zur Genfer Konferenz als Leiter der deutschen Delegation Anfang 1932 blieb sein Posten knapp zwei Jahre de facto vakant, was von türkischer Seite mit Bedauern zur Kenntnis genommen wurde. Von Hitlers Machtergreifung bis zum Kriegsende Die Errichtung des nationalsozialistischen Regimes durch Hitler ab 30. Januar 1933 brachte keinen Wandel in den deutsch-türkischen Beziehungen. Solange die Außenpolitik sich „völkisch" gestaltete, gab es auf türkischer Seite gewisse Sympathien. Spannungen zeigten sich zunächst in indirekten Reaktionen auf politische Schritte des jeweils anderen. Gegen Deutschlands einseitig erklärte Wiedereinführung der Wehrpflicht, Italiens Übergriff auf Abessinien (beides 1935) sowie Deutschlands Einmarsch ins Rheinland (1936) schloß die Türkei sich den Protestmaßnahmen des Völkerbundes an. Deutschland hingegen lehnte den 1934 zwischen der Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Rumänien geschlossenen Balkanpakt, eines der wichtigsten Themen türkischer Außenpolitik jener Jahre, sowie die in Montreux (1936) beschlossene Wiederherstellung der türkischen Souveränität über die Meerengen ab. Den Anschluß Österreichs im März 1938 tolerierte die Türkei stillschweigend, war jedoch tief beunruhigt durch das Münchener Abkommen im September 1938 und den Übergriff Itali-
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ens auf Albanien 1939: Die Expansionspolitik Hitlers und Mussolinis begann die eigene Interessenssphäre zu tangieren. Seit Dezember 1933 residierte Hans von Rosenberg als neuer Botschafter in Ankara. Die deutsche Gemeinde in der Türkei spaltete sich in zwei einander entgegengesetzte Gruppen: hier die vom Auswärtigen Amt entsandten Diplomaten und Fachkräfte, dort die seit 1933 der Einladung der türkischen Regierung folgenden meist jüdischen Wissenschaftler, Künstler und Politiker, die in Deutschland Repressalien zu furchten hatten und Zuflucht am Bosporus 6 fanden - ein legendäres Kapitel in der Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen. Beim Aufbau des modernen türkischen Hochschulwesens leisteten sie herausragende Dienste. In Berlin starb nach einer Operation am 15.4.1934 der vom deutschen Regime hochgeschätzte Botschafter Kemaleddin Sami Pascha. Mit einem pompösen Trauerzug zum Anhalter Bahnhof wurde dem Toten die letzte Ehre erwiesen. Im Mai trat Mehmed Hamdi Arpag die Nachfolge an. Hitlers außenpolitischer Experte Joachim von Ribbentrop bemühte sich in Gesprächen mit Botschafter Arpag um die Sympathie, zumindest aber Neutralität der Türkei. Zugleich wurden mehrfach Delegationen aus Politik, Medien und Wirtschaft nach Deutschland eingeladen, um sich die türkische Öffentlichkeit gewogen zu halten. Nach dem offenen Ausbruch von Spannungen wegen der italienischen Besetzung Albaniens entsandte Ribbentrop, seit 1938 Außenminister, Franz von Papen als neuen Botschafter nach Ankara, der sich sehr um die deutsch-türkischen Beziehungen bemühte. Kurz zuvor reiste Joseph Goebbels im April 1939 zu einem Kurzbesuch nach Istanbul; eine türkische Delegation nahm im Gegenzug an den Feierlichkeiten zu Hitlers 50. Geburtstag in Berlin teil. Die offizielle Neutralität seines Landes hinderte den türkischen Außenminister Çiikrû Saraçoglu nicht daran, sich Botschafter von Papen gegenüber voller Bewunderung über Hitlers ökonomische Leistungen zu äußern. Die neue deutsche Wirtschaftspolitik, die im Außenhandel auf den Import von Industrierohstoffen und Agrarprodukten fur den heimischen Markt, vorzugsweise auf Substitutionsbasis, setzte, kam den landwirtschaftlich dominierten Ländern Südosteuropas zupaß. Durch die Hintertür gelang es Deutschland, auch in der Türkei seine ökonomischen Hegemonialbestrebungen weitgehend zu verwirklichen. Zu spät und aufgrund der Weltkonjunktur ohnehin ohne Chance auf Gegenwehr erkannte das die Türkei. Ernsthafte Unstimmigkeiten entstanden, als die Türkei im Mai 1938 einen englischen Kredit aufnahm. Das umgehende deutsche Gegenangebot wurde mit einem Kreditabkommen im Januar 1939 in Berlin angenommen. Der Austausch türkischer Studenten - im Studienjahr 1937/38 befanden sich gut hundert auf Kosten des türkischen Staates Studierende in Deutschland - wie 6
Vgl. Fritz Neumark: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953. Frankfurt am Main 1980.
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auch die Zusammenarbeit in der militärischen Ausbildung dauerte noch in dieser prekären Zeit, da die politischen Beziehungen abkühlten, an. Im Mai 1938 befanden sich zwölf türkische Offiziere in deutschen Diensten. Eine Bitte der türkischen Regierung, dieses Kontingent zu verdoppeln, wurde erst nach intensiver Überzeugungsarbeit Botschafter Kellers und General Rohdes, des deutschen Militârattachés in Ankara, positiv beschieden. Nach dem Tod Mustafa Kemal Atatürks im November 1938 übernahm ísmet Inönü das Amt des Staatspräsidenten. Trotz Unstimmigkeiten zwischen inönü und Atatürk in den letzten Jahren fand die kemalistische Linie ihre Fortsetzung auch in der Personalpolitik. Die defensive Außenpolitik inönüs war von dem Willen nach Neutralität und der Ablehnung von Abenteuern geprägt. Die beiden Gemeinschaftsdeklarationen mit England (Mai 1939) und Frankreich (Juni 1939) stießen auf heftige deutsche Kritik. Doch bei Kriegsausbruch versicherte Ankara Deutschland noch einmal, seine Neutralität aufrechtzuerhalten, solange Italien und die Mittelmeerregion nicht involviert wären. Ohne direkte Kriegsbeteiligung verhängte die Türkei im Januar 1940 das Kriegsrecht. Nach einem Dreierabkommen der Türkei mit England und Frankreich (Oktober 1939), unterzeichnete sie noch im Juni 1941 einen Freundschaftsvertrag mit Deutschland. Wenige Monate später sicherte ein neuer Handelsvertrag Deutschland türkische Lieferungen an Chromerz und Kupfer sowie landwirtschaftlichen Produkten mit der Gegenleistung von Kriegsmaterialien, Transportmitteln, Maschinen, Kupfererzeugnissen und Pharmazeutika zu. Die inländische Presse hielt sich weitgehend an das oktroyierte Neutralitätsgebot. Erst als der Krieg praktisch entschieden war, brach die Türkei im August 1944 die Beziehungen zu Deutschland ab, erklärte Deutschland noch am 23. Februar 1945 den Krieg und konnte damit als Gründungsmitglied der Vereinten Nationen zeichnen. Sabine Adatepe
I. Kaiserzeit 1871-1918 Berlin wird Vorbild
Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, daß sie niemals zerbrechen wird. "
Basiretçi Ali Efendi Bismarck belohnt eine prodeutsche Berichterstattung Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 erregte die Gemüter auch im Osmanischen Reich. Die „realistischere preußische Berichterstattung" veranlaßte den jungen Publizisten und Herausgeber Ali Efendi, seine Zeitung Basirei (Weitblick) auf propreußische Linie zu bringen. Diese mit zehntausend Exemplaren auflagenstärkste Tageszeitung ihrer Zeit markiert den Beginn der Professionalisierung im noch jungen, unter starkem politischen Druck leidenden osmanischen Pressewesen1. Ali Efendi (1838-1910)2 stand nach seiner Ausbildung in der Istanbuler Palastschule an verschiedenen Orten des Reiches in staatlichen Diensten. Früh schon betätigte er sich auch journalistisch, bevor er Anfang 1870 mit Basirei, die die Ideen der gemäßigten Jungosmanen vertrat und der er seinen Beinamen Basiretçi verdankt, auch zum Herausgeber wurde. Bismarcks Einladung an Ali Efendi im Jahre 1871 als Dank fur die deutschfreundliche Linie der Zeitung bot dem jungen Publizisten die Chance, auf deutsche Staatskosten Berlin zu besuchen. Ali Efendi, dem der deutsche Botschafter in Istanbul, Graf Keyserling, Bismarcks Wunsch mitteilte, holte die Reisegenehmigung von allerhöchster Stelle ein. Großwesir Ali Pascha3 gab ihm den Rat, sich „à la turka und nicht à la franga"4 zu benehmen, um die Zufriedenheit des Gastgebers zu erlangen. Eine Begegnung in Bad Gastein, wo Bismarck sich mit dem deutschen Kaiser zur Kur aufhielt, kam nicht zustande. Wegen der „vielen Spitzel, die über jede Unterredung des politischen Genies nach Wien berichten", schien Ali Efendi ein Treffen nicht ratsam5. 1 2 3 4 5
Vgl. Orhan Kologlu: Türkiye 'de Basin. Istanbul 1992, S. 37-38. Orhan Kologlu gibt in „Osmanli Basini: Içeriëi ve Rejimi" in TCTA, Istanbul 1985, Bd. 1, S. 86, als Todesjahr 1912 an. Ali Pascha (1815-1871) war 1866-1871 zum fünften Mal Großwesir. Ali Basiretçi: Istanbul'da Yarim Asirlik Vekayi-i Mühimme. Hg. v. Nuri Saglam. Istanbul 1997, S. 125. a.a.O., S. 127.
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Einige Tage später jedoch, im August 1871, gelingt die Zusammenkunft in Berlin. Ali Efendi erfahrt vom Hoteldirektor, daß Kaiser Wilhelm I., folglich auch Bismarck, aus Gastein zurückgekehrt sei. Mit seinem Dolmetscher läßt er sich zum „Palais des Fürsten Bismarck" bringen: Dort führte man uns in einen Raum im Parterre. Wir hatten Gelegenheit, Atem zu schöpfen, bevor ich um meine Karte gebeten wurde. Kurz darauf erschien ein Herr, der sich auf türkisch nach meinem Befinden erkundigte und mich hinaufführte, während mein Dolmetscher zurückblieb. Da ich den Fürsten persönlich nicht kannte, bat ich meinen Begleiter, mich ihm, falls er nicht allein sei, doch vorzustellen. Der winkte ab mit den Worten: „Seine Exzellenz wird Sie allein empfangen." Wir betraten einen Raum. Da stand der Fürst! Als ich, obschon europäisch gekleidet, mich tief zum Gruße verneigen wollte, streckte der Fürst mir seine Hand entgegen und hieß mich willkommen. Er bat mich, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Während er mir über den Dolmetscher Komplimente machte, bot er mir eine Zigarette an. Ich beteuerte, Nichtraucher zu sein, doch er bestand darauf, daß ich rauchte: "Die Türken sind Raucher, außerdem ist dies türkischer Tabak." So zündete ich mir die Zigarette an. Auf des Fürsten Nachfrage berichtete ich, daß ich eine angenehme, gar nicht anstrengende Anreise über die Donau hatte. Seine Exzellenz, der Fürst, sagte: „Als wir gegen Frankreich Krieg führten, ließ ich alle Ausgaben der Basirei im Original mit Übersetzung über unsere Botschaft aus Istanbul herschicken, um sie zu studieren. Ich möchte meine Zufriedenheit darüber ausdrücken, daß Sie die Ereignisse richtig geschildert haben. Außerdem möchte ich Ihnen danken für Ihre konsequente Meinung über unsere Armee. Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, daß sie niemals zerbrechen wird." 6 Nach nur etwa zwanzig Minuten bittet Ali Efendi um die Erlaubnis, sich verabschieden zu dürfen. Bismarck äußert seine Verwunderung über den eiligen Aufbruch, stellt seinem Gast jedoch ein zweites Treffen in Aussicht. Tatsächlich erhält Ali Efendi bald darauf erneut eine Einladung zum Fürsten: Auf der Fahrt zum Palais sah ich, daß in großer Aufregung Sonderausgaben einer Zeitung verkauft wurden. Der Fürst empfing mich mit den Worten: „Ich habe Sie zu mir rufen lassen, weil ich die Nachricht erhalten habe, daß Ali Pascha heute morgen gestorben ist. Ich bin sehr erschüttert. Die Türken haben einen Großwesir verloren, Europa einen großen Mann. Gegen Ende des Krieges war es zuerst Ali Pascha, der beide Seiten zum Frieden aufrief. Die Schriften, die er für den Frieden schrieb, habe ich in einem besonderen
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a.a.O., S. 127-128.
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Fach in unserem Archiv aufbewahren lassen. Der Tod eines solchen Diplomaten ist ein großer Verlust." Auf dem Rückweg zum Gästehaus erkannte ich den Grund für die Aufregung und die Menschenmenge auf den Straßen: der Tod des Großwesirs hatte den Absturz staatlicher Anleihen und weiterer Aktien ausgelöst!7 Ali Efendi nutzt die 29 Tage seines Aufenthaltes in Berlin zu einem umfangreichen Besichtigungsprogramm. Er besucht „viele Schulen, Fabriken und ähnliches" in dem ihm zur Verfugung gestellten „prächtigen Wagen". Schließlich bittet er Bismarck um die Erlaubnis, abreisen zu dürfen. Der Fürst schlägt vor, den Aufenthalt zu verlängern, doch Ali Efendi erklärt, bald nach Ägypten reisen zu müssen und zuvor noch in Augsburg eine Druckmaschine und diverse Gerätschaften erwerben zu wollen. Bismarck händigt ihm ein Empfehlungsschreiben an den befreundeten Fabrikanten aus, „damit dieser nicht zu viel Geld nähme". 8 Bismarcks Dolmetscher, Dr. Borch, von dem Ali Efendi inzwischen erfahren hatte, daß er nach dem Studium der Orientalistik in Berlin und einer Tätigkeit an der Deutschen Botschaft zu Istanbul nun Assistent des Direktors der Medizinischen Akademie war und zugleich als Bismarcks Privatsekretär fungierte, begleitet den Abreisenden zum Bahnhof, wo er ihm zum Abschied ein verschlossenes Couvert überreicht. Während der Fahrt erkundigt sich Ali Efendi, neugierig geworden, bei seinem Dolmetscher nach dem Umschlag. Dieser erläutert ihm, daß es zu den Angewohnheiten der Deutschen gehöre, einem Freund beim Abschied einen Roman zu schenken, damit die Zugfahrt schneller vergehe. Dies müsse so etwas sein. Ali Efendi öffnet den Umschlag und findet „zehn Banknoten à 100 Lira"9. Freudig überrascht steckt der Beschenkte die Scheine in seine Brieftasche. Am Tag nach seiner Ankunft in Augsburg sucht Ali Efendi den Fabrikanten auf, der ihn „als türkischen Besucher empfangt und Kaffee bestellt." Als ich ihm den Brief des Fürsten gab, verdoppelte er Gastfreundschaft und Respekt. Er führte mich in die Abteilung, wo Kriegswaffen hergestellt wurden, und wir besichtigten die 48 Maschinengewehre, die der türkische Staat bestellt hatte. Gerade arbeitete man die Gravuren ein.10 Der osmanische Gast schätzt die Zahl der Fabrikarbeiter auf 5000 und staunt darüber, wie leise die Arbeit vonstatten geht. Er entschließt sich zum Kauf einer Maschine, „die handbetrieben 2000 und mit Motor 5000 Exemplare drucken konnte, einer kleineren Maschine, einer Schere, französischer Lettern und wei7 8 9 10
a.a.O., S. 129. a.a.O. Es ist davon auszugehen, daB es sich um Mark handelte. a.a.O., S. 130.
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terer notwendiger Geräte und Werkzeuge."11 Ali Efendi erklärt, die Summe seiner Einkäufe von 1300 Mark („Lira") in zwei Raten zahlen zu wollen: „die Hälfte jetzt und den Rest am Zoll in Istanbul." Der Fabrikant widerspricht: Aber mein Herr, die Kosten gehen auf die Rechnung des Fürsten. So hat er es angeordnet. Ich kann keinen einzigen Pfennig von Ihnen annehmen. Diese Maschine ist ein Modell, sie wird eigens für Sie hergestellt. Sie können sie in einem Monat vom Zoll in Galata abholen.12 Auch privat kümmert sich der Fabrikant um seinen osmanischen Gast, lädt ihn zu sich nach Hause ein und stellt ihn seiner Familie vor. Als Ali Efendi an Typhus erkrankt, wünscht der Fabrikant, ihn bei sich zu Haus pflegen zu dürfen. Erst nach heftigem Widerspruch läßt er Ali Efendi in ein christlich geführtes Spital von hervorragendem Ruf bringen, und auch dort erfährt er herzliche Zuwendung der Familie: Eines hatte ich bemerkt: die Deutschen sind genauso gastfreundlich wie die Türken. Die Kinder kamen jeden Tag zu mir, als ob sie meine Kinder wären, drückten sich an mich und riefen: „Türkisch, türkisch." Erst als ich sagte, sie sollten nicht mehr kommen, weil ich nicht wollte, daß die kleinen Engel von mir angesteckt würden, brachte das Ehepaar mir die Medikamente. Die Deutschen glauben wie die Türken, daß die Pflege von Kranken ein Dienst an Gott ist. 13 Nach etwa zwanzig Tagen in der Obhut der Nonnen gebietet ihm sein Gewissen, dem Spendenkasten für Bedürftige „zwanzig osmanische Lira" zuzuführen, da man sich bei seiner Entlassung entschieden dagegen verwahrte, ein Entgelt fur die Pflege anzunehmen. Er verbringt noch einige Tage im Haus des Fabrikanten und reist dann weiter nach Wien. Zurück in Istanbul, gelang es Ali Efendi, auch mit Hilfe der unter so unverhofft günstigen Umständen erworbenen Druckmaschine, seine Zeitung Basirei weiter auszubauen. 1874 gab er daneben noch Kahkaha (Gelächter) heraus, eine der seinerzeit ebenso beliebten wie gefurchteten Satirezeitschriften. Doch die staatlichen Repressionen verschärften sich. Basirei wurde dreimal konfisziert, ihr Herausgeber mehrfach verwarnt und mit Bußgeldern belegt, bis sie am 20. Mai 1878 endgültig der Zensur zum Opfer fiel. Ali Efendi wurde nach monatelangen Ermittlungen gegen ihn wegen angeblich umstürzlerischer Umtriebe nach Jerusalem verbannt. Ihm wurde die Teilnahme am Überfall auf den Çiragan-Palast vorgeworfen, bei dem Murad V. 11 a.a.O. 12 a.a.O. 13 a.a.O., S. 131.
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befreit und wieder zum Sultan ausgerufen werden sollte. Bald schon kehrte er als Landrat in den Staatsdienst zurück. Erst im Jahre 1908, als die Wiedereinführung der Zweiten Konstitution durch Sultan Abdülhamid II. ein Jahr der relativen Ruhe und Meinungsfreiheit im Reich einläutete, befand sich Ali Efendi wieder in Istanbul. 1909/10 brachte der engagierte Publizist und Herausgeber seine Memoiren unter dem Titel Istanbul 'da Yarim Asirlik Vekayi-i Mühimme (Wichtige Ereignisse in 50 Jahren Istanbul) zu Papier: ein Rückblick auf seine Tätigkeit und die wichtigsten Ereignisse in der Zeit von 1866 bis 1908. Dem Versuch aber, Basirei noch einmal zum Leben zu erwecken, war aufgrund inzwischen großer Konkurrenz kein Erfolg von Dauer beschieden.
Es hat keinen Sinn zu vergleichen, da Orient und Okzident doch vollkommen gegensätzlich sind. "
Sadullah Pascha Ein verfemter Botschafter schaut das Paradies in Charlottenburg Sadullah Pascha (1838-1891), osmanischer Staatsmann und Dichter, wurde wegen seiner Verbindungen zur jungosmanischen Opposition im Jahre 1877 von Sultan Abdülhamid II. aus der Hauptstadt des Osmanischen Reiches entfernt. Er kam fur sechs Jahre als osmanischer Botschafter nach Berlin und übernahm anschließend, 1883, die osmanische Vertretung in Wien. Seine Briefe1, insbesondere aus der Korrespondenz mit den Paschas Safvet2 und Cevdet3 sowie Safvets Sohn Refet Bey4, gewähren Einblick in das Leben des Diplomaten auch außerhalb des Protokolls, in „sein Berlin": Wenn ich dienstlich nicht beschäftigt bin, lerne ich Deutsch oder studiere die literarischen Werke der alten griechischen und römischen Schriftsteller ...
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Bearbeitet anhand der Publikationen: I. Hakki Uzunçarçili: „Merhum Sadullah Paça'mn Safvet ve Cevdet Paralar ve Safvet Paçazâde Refet Beyle Mektuplaçmasi" in Belleten 15.58 (April 1951), S. 263-297; Ebuzziya Tevfik: Nûmûne-i Edebîyât-i 'Osmânîye. Istanbul 1308 [1891], S. 286-298. Safvet Pascha (1814-1883), mehrfach Außenminister unter AbdQlhamid II., Juni bis Dezember 1878 auch Großwesir, ab Dezember 1878 Botschafter in Paris, brachte das Allgemeine Bildungsgesetz (Maarif-i Umumìye Nizamnames, 1869) auf den Weg und setzte sich besonders für die Ausbildung von Mädchen und Frauen ein. Vgl. Uzunçarçih, a.a.O., S. 263. Ahmed Cevdet Pascha (1822 o. 1823-1895), Verfasser einer zwölfbändigen osmanischen Geschichte (Tarih-i Cevdet) sowie zahlreicher historischer, religiöser, religions- und literaturwissenschaftlicher Werke, mehrfach Minister (u.a. Justiz, Bildung), sorgte u.a. für die Bindung des Schulunterrichtes an ein Curriculum und das Verfassen genormter Lehrbücher. Verfechter eines Ausgleichs zwischen Verwestlichung und eigener Tradition sowie eines konservativen Reformismus. Vgl. Büyük Larousse. Bd. 5, S. 2289. Refet Bey (1846-1888), ausgebildet im Übersetzungsamt der Hohen Pforte, Tätigkeiten u.a. als Botschaftsattaché in Paris, erster Sekretär in Wien sowie Kanzleichef im Außenministerium. Vgl. Uzunçarçili, a.a.O., S. 264. Während Sadullah Pascha sich in seiner Korrespondenz den älteren Safvet und Cevdet Pascha gegenüber mit gebührender distanzierter Hochachtung verhält, ist sein Briefwechsel mit dem Altersgenossen Refet von Kameradschaft geprägt.
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berichtet er etwa am 18. Oktober 1879 an Refet Bey5, indem er zugleich über den Schulbesuch seiner Söhne in Berlin Auskunft gibt, über eigene Lektüre ebenso plaudert wie über die Notwendigkeit, den osmanischen Schreibstil anhand neuer Übersetzungen der Klassiker zu verbessern. In den Beginn der diplomatischen Laufbahn Sadullah Paschas in Berlin fallt seine Teilnahme als einer von drei osmanischen Delegierten6 am Berliner Kongreß (Juni-Juli 1878), dessen Verlauf mit Hoffnungen ebenso wie mit Spannung ob der Wortmeldungen von „Griechen und Persern"7 aus Istanbul verfolgt wird. Persönlich mag Sadullah anschließend an Refet Bey lediglich nüchtern berichten: Der Berliner Kongreß war sehr anstrengend für mich. Jetzt wird die Entscheidung und ihr Drumherum Istanbul anstrengen. Immer noch wüten jene Stürme, die die Orientfrage seit nunmehr drei Jahren auslöst. Wir leben in empfindlichen Zeiten, da kann aus einem kleinen Fehler großes Unglück entstehen.8 Im Herbst 1879 läßt der Diplomat sich u.a. über die Berliner Vorweihnachtszeit aus: Hier herrscht Winter. Vor einigen Tagen noch kletterte die Temperatur vormittags auf 17, nachmittags nur noch auf 13 Grad. Seit gestern ist sie der Jahreszeit angemessen. Schon sind alle mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Die Geschäfte wurden mit allerlei Hübschem und Feinem geputzt. An manchen Plätzen der Stadt sind Märkte errichtet. In der Politik ist es ruhig, der Funken der Zwietracht liegt unter der Asche. Die berühmtesten Schauspieler Europas reisen durch die deutschen Großstädte. Nun ist Berlin an der Reihe. Die berühmte italienische Tragödin Resnuri9 erhielt trotz ihrer 63 Jahre recht viel Applaus ob des Könnens, das sie in ihren Rollen zeigt. Betritt sie die Szene, hebt der Beifall der Zuschauer sie in den Himmel. Fällt der Vorhang, bricht die Hölle los, und die arme alte Künstlerin muß sieben, acht Mal zum Verbeugen raus. Im Winter sind die Armen auch hier in elendem Zustand. Ein, zwei Arme, die aus Not gezwungen waren, die Nacht im Tiergarten zu verbringen, hat man morgens erfroren wie Statuen sitzend aufgefunden. 10 5 6
Vgl. Uzunçarçih, S. 296ff. Erster Delegierter war Alexander Kara Todori, Minister für öffentliche Arbeiten, zweiter war M(l;ir Mehmed Ali Pascha, Mitglied des Staatsrates. Vgl. Uzunçarçili, S. 277. 7 Brief Refet Beys vom 26.06.1878 an Sadullah, a.a.O., S. 278. 8 Brief Sadullahs an Refet Bey, 16.07.1880, a.a.O., S. 299. 9 Die Schreibweise von nicht zu eruierenden Eigennamen wurde ohne Gewähr aus dem Original entnommen. 10 Brief Sadullahs vom 13. September 1879 an Refet Bey, a.a.O., S. 295.
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Abb. 1: Der Berliner Kongreß (13. Juni bis 13. Juli 1878) im
Reichskanzlerpalais
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Zu „Statuen" assoziiert der Diplomat sogleich eine Skulptur „eines berühmten Bildhauers aus Deutschland", dessen Namen er leider nicht mitteilt, im Nationalmuseum. Die Skulptur des im Kaukasus gefangenen Prometheus, „aus Marmor und in natürlicher Größe geschaffen", erlebe nach der Würdigung durch den Kaiser persönlich einen besonderen Publikumsansturm: Prometheus, auf einem Baumstumpf, die Arme auf den Rücken gefesselt, ein Kaiseradler sitzt auf seiner Schulter, die Kralle gen Leber ausgestreckt. Bestürzt und voll des Mitgefühls liegt eine Elfe dem Prometheus zu Füßen. Eine zweite streckt ihre Hand zu Prometheus' Brust, den Adler zu verscheuchen. Prometheus' Zustand stellt eindrucksvoll die Lage eines in Ketten geschmiedeten Gefangenen dar, zugleich läßt die erhabene Haltung des Adlers den Betrachter schaudern. Der Anblick der beiden Elfen in ihrer Blöße allerdings könnte in Istanbul wohl Fasten und rituelle Reinigung so manch eines Frömmlers zunichte machen." Der rege Briefwechsel informiert Sadullah über alles, was im Osmanischen Reich vor sich geht, wobei Reformen und Bildungsfragen eine große Rolle spielen. Seine eigenen Briefe zeichnen sich durch die Vielfalt der Gedanken und Beobachtungen aus, die er auf besondere Weise mit allgemeinen Betrachtungen verbindet. Beim Erhalt eines Briefes von Refet Bey etwa habe er gerade aus dem Fenster geschaut und „die gegenüber der Botschaft neu errichtete Statue Marschall Wrangeis12" betrachtet. Die Nachricht Refets über ein politisches Stühlerücken in Istanbul gibt ihm Anlaß zum Vergleich: An einem Ort wird ein toter Marschall auf einen Ehrensockel gehoben, woanders ein lebendiger aus dem Amt entlassen. Wie dem auch sei, es hat keinen Sinn zu vergleichen, da Orient und Okzident doch vollkommen gegensätzlich sind. Ihre Welten sind jeweils ganz eigen.13 Scheinbar unvermittelt wechselt der Diplomat im nächsten Absatz das Thema: Hier gibt es momentan ein Judenproblem. Im preußischen Parlament wurden viele Reden gehalten. Die Gegner mögen den Reichtum und die Fähigkeiten der Juden nicht ertragen. Hier liegt der eigentliche Kern des Problems, die vorgebrachten Einwände sind lediglich wahnhafte Verdrehungen. Die Regierung erklärte, sie werde die Gesetze nicht ändern, womit die Diskussion beendet wurde.14 11 12 13 14
a.a.O. Generalfeldmarschall Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel (1784-1877). Brief Sadullahs an Refet vom 24.11.1880, a.a.O., S. 298. a.a.O.
Abb. 2: Sadullah Pascha. Der Botschafter während des Berliner Kongresses
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Seine Werke, literarische Reflexionen über den Widerstreit der Kulturen in Orient und Okzident, über moderne Zivilisation und positive Wissenschaften, machten ihn zum Wegbereiter einer neuen Prosa in der Reformepoche der Tanzimat und Begründer der Edebiyat-i Cedidel$, der „neuen Literatur", die die Wende zur Moderne in der osmanischen Literatur markiert. Diese verdankt Sadullah Pascha eine der ersten reinen Beschreibungen baulicher Kunst: Schloß Charlottenburg Neulich, als es das Wetter erlaubte, ging ich zum Park des Schlosses Charlottenburg, welches nahe bei der Stadt liegt. Der Park ist wunderschön, und auch das Mausoleum Friedrich Wilhelms III. ist sehr sehenswert. Eine vergnügliche Abwechslung im Fastenmonat Ramadan, den Park zu beschreiben: Vor dem Schlosse stehend, fallt der Blick des Betrachters auf die Wohnräume in den Flügelbauten und auf einen Mitteltrakt, ein imposanter Turm mit abblätternder Farbe. Poetisch umschrieben träfe hier das Bild eines Adlers ungeheuren Ausmaßes, die Flügel zum göttlichen Flug geöffnet. Davor findet sich ein herrlicher Park, dessen Ausdehnung zu erfassen selbst ein weitschweifender Blick nicht genügt. Angesichts der anmutigen Gestaltung dieses Parks bekennen sogar Dichter bereitwillig, daß ihnen, ungeachtet aller Phantasie, die rechten Worte fehlen. Allein die Anlage des smaragdfarbenen Beetes beweist, wie vollkommen der Künstler die Kunstwerke der Natur nachzuahmen vermag. Überall führt der Blumengarten die Pracht des Frühlings vor.... Prachtvoll sitzt ein jeder Ast voller Blüten und Knospen, läßt die Sonnenstrahlen wie durch die Zinken eines Kammes hindurch und ist dem darunter Wandelnden eine wahre Wohltat. Götterbilder aus unpoliertem Marmor sind hier und da aufgestellt. Hier wird die Vorstellung greifbar, auf ihrem Weg ins Paradies würden die Verstorbenen königlicher Herkunft, die Toten der kaiserlichen Dynastien dieser Welt von Menschenaugen erblickt. Dieser Garten des Schweigens mutet an wie ein Ort sehnsuchtsvoller Ruhe. Hier treffen die beredten Worte des seligen Dichters Kamil Pascha über die Insel Kalypso:
15 Sadullah Pascha gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Edebiyat-i Cedide, einer an Europa orientierten Literaturbewegung, die sich in der Zeit Abdülhamids II. (1876-1908) entwickelte. Neben Sadullah gehörten noch 13 andere Dichter und Schriftsteller zu der auch nach ihrer Zeitschrift Servet-i Fünun benannten Literaturströmung (u.a. Ahmed Hikmet Müftüoglu, Hüseyin Cahid Yalçm und Cenab Çahabeddin). Vgl. Cevdet Kudret: „Tanzimat'tan Cumhuriyet'e Türk Edebiyati" in TCTA, Bd. 2, S. 388-408.
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Seltsames findet sich in diesem Garten, würdig, Paradies genannt zu werden. Warum nicht ihn Paradies nennen? Hier findet sich der Übergang in eine Welt, die ans Jenseits gemahnt. Hier stellt sich die Frage nach paradiesischem Vergnügen. In einem Winkel dieses weitläufigen Paradieses steht das Mausoleum Friedrich Wilhelms III., Vater des heutigen Kaisers, und seiner Gemahlin [Luise], Dorthin fuhrt den Besucher ein langer, entlegener Pfad, gesäumt von zypressenähnlichen Bäumen, die Melancholie des Ortes zu steigern geeignet. Der Pfad verläuft schnurgerade, am Ende: Finsternis.... Der Schatten der Bäume verleiht dem Ort etwas Geheimnisvolles, j a Beängstigendes. Schauerlich ächzen die Bäume im Wind. Der Besucher des Grabes gerät auf diesem Weg derart unter den Eindruck des Jenseits, daß er wohl das Grabtor, einem Höhlenspalt ähnlich, für den Zugang zum Paradies zu halten geneigt sein wird. Tritt er näher, fürchtet er sich, tritt er ein, gelangt er über zwei fünf- bis zehnstufige Treppen in eine Kammer. Das einfallende Licht gemahnt an die Finsternis, denn die Fenster der Kuppel sind aus blauem Glas. In dieser Atmosphäre der Finsternis erblickt der Besucher zur Rechten den Sarkophag Friedrich Wilhelms III., zur Linken den der Königin Luise. Dieser Anblick, der Vorgeschmack des Todes, mehrt das Beben des Herzens so sehr, daß der Betrachter, dem intensiven Empfinden hingegeben, wohl sagt: Oh Gott, so habe ich denn, ohne das Zeichen des Todesengels abzuwarten, aus freien Stücken Deinen Palast aufgesucht. Bedürftig des Vergebens und Vergessens, erweise göttlich Deine Gnade, vor schmerzhafter Strafe bewahre diesen Schuldbeladenen! Vertieft in stilles, inbrünstiges Gebet, unruhig zwischen Sein und Nichtsein, da ändert sich die Szene. Der Besucher verläßt das finstere Kämmerchen und betritt einen anschließenden kleinen hellen Raum. Hier findet sich die Erklärung fur den angstvollen Traum, hier liegen die selig Begrabenen auf einem Teppich von Marmor, begleitet von massiven marmornen Statuen. Die Seligen sind als Tote kenntlich. Beachtlich ist die Kunstfertigkeit des Bildhauers. Wo diese beiden Skulpturen erkennbarer Toter nebeneinander sich hinwenden, sitzt von göttlichem Glanz mit förmlichem Beinamen Jesus auf dem Thron Gottes, als wollte er die Toten trösten mit der Offenbarung göttlicher Herrlichkeit und Gnade. Der selige Friedrich Wilhelm, obwohl als Herrscher gekleidet, steckt bis zur Hüfte im Leichentuch! Sein Antlitz trägt die Spuren der Besetzung Preußens durch Napoleon den Großen während seiner Herrschaft, des frühen Todes seiner Gattin und des Kummers über die Wohnsitznahme in der schwarzen Erde, hatte er doch sein Leben in schönen Parks und großen Schlössern, entsprungen den eigenen gestalterischen Wünschen, vertraut mit Zierat und Üppigkeit verbracht.
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Überstieg die Pracht noch das größte Schloß, verbreitet nun des Grabes Sarg dumpfe Kargheit. Laß Dir Grab und Bildnis (Friedrich Wilhelms) eine Warnung sein, was auch geschehen mag, so sieht es aus, das Ende irdischen Lebens. Die Gemahlin Friedrich Wilhelms aber liegt bis zu den Schultern ins Leichentuch gehüllt. Ihr Antlitz ist so schön wie das einer liebreizenden Jungfrau. Wie unwürdig, daß der Himmel solch einen Leib unbarmherzig zu sich nimmt! Ihr Körper scheint angesichts dieser Ungerechtigkeit des Himmels unter dem Leichentuch zu erschauern. Ihr reizender silberner Arm zeigt, wie sie die Hand von dieser vergänglichen Welt zurückzieht. Ihr kristallner Hals ist gebeugt - eine Anklage gegen die Unerbittlichkeit des Himmels! Die edle Brust, der Sehnsucht voll, ist eingefallen, als winkte die Unbarmherzigkeit der Todesstunde ihre Klage zu. ... Ein Toter, wieviele Lebende - des Todeskampfes Schmeicheln giert nach des Lebens Opfer! Hinaus aus dieser Grabstätte, Abbild des Paradieses im Geiste, da findet sich der Besucher zurück im Park, als sei er, dem Grabe entstiegen, ins Paradies getreten. Hier nun will ich schließen, denn in der Beschreibung wird der persönliche Eindruck erneut lebendig; die Niederschrift des Erlebten weckt aufs Neue die Empfindung im Herzen.16 Die ungestillte Sehnsucht nach der Heimat, in die ihm, der sich höchste Auszeichnungen der europäischen Mächte erworben hatte, die Rückkehr verwehrt blieb, veranlaßte Sadullah Pascha, 1891 in Wien seinem Leben ein Ende zu setzen.
16 Aus: Nümüne-i Edebîyât-i Osmâniye. Hg. v. Ebuzziya Tevfik, Istanbul 1308/1891, S. 287-291.
... und die Polizei schützt den Reisenden in allen erdenklichen widrigen Umständen. "
Ahmed Midhat Ein Schriftsteller plaudert über Hotels, Polizei und das Theater als Lehrer des Volkes Ahmed Midhat Efendi (1844-1912), Leiter des ersten osmanischen Amtsblattes Takvim-i Vekayi (Kalender der Ereignisse) und der Staatsdruckerei, Begründer der Zeitung Terciiman-i Hakikat und populärster Schriftsteller der TanzimatZeit1, unternahm 1888 anläßlich seiner Delegation zum Orientalistenkongreß in Stockholm eine ausgedehnte Europareise, die ihn im September fiir drei Tage nach Berlin führte. Er verfugte über langjährige publizistische sowie politische Erfahrung 2 und eine Weitläufigkeit, die er sich in seiner zumeist auf dem Balkan verbrachten Jugend angeeignet und in den ersten Berufsjahren als Übersetzer und Herausgeber in Sofia erprobt hatte. In einem gut tausend Seiten starken Buch legte er 1891/92 Zeugnis seiner Eindrücke ab: Avrupa'da Bir Cevelan (Eine Rundreise durch Europa), zuvor bereits in Tercüman-i Hakikat in Fortsetzungen erschienen. Diese hauptsächlich deskriptiv dokumentarische „Ansammlung von in Worte gefaßten Bauzeichnungen und Plänen"3 behandelt auf etwa hundert Seiten Deutschland.4
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Ahmed Midhat gilt als der Schriftsteller der Tanzimat-Literatur (1859-1895), der mit seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken dazu beitrug, daß das Lesen bei den Osmanen zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung wurde. So war er in seinen etwa 200 Werken bemüht, eine einfache und verständliche Sprache zu verwenden. Schreiben war für ihn das „Mittel zur Volksbildung". Vgl. Behcet Necatigil: Edebiyatimizda tsimler Sözlügil. Istanbul 1983, S. 20-21 ; zu Ahmed Midhats Bedeutung für die osmanische Presse siehe auch Orhan Kologlu: „Osmanli Basini: Içerigi ve Rejimi" in TCTA, Istanbul 1985, Bd. 1, S. 87-88. Er wurde unter Sultan Abdülaziz wegen eines Artikels in der Zeitschrift Dagarcik im Jahre 1872 für drei Jahre nach Rhodos verbannt. Wolfgang Riemann: Das Deutschlandbild in der modernen türkischen Literatur. Wiesbaden 1983, S. 8. Ahmed Midhat: Avrupa'da Bir Cevelân. Istanbul 1307 (1889/90), S. 366-460. S. 923-933 behandelt „Konstanz". Anschließend ist er noch nach München gefahren. Seinen BerlinAufenthalt schildert Midhat in mehreren Kapiteln S. 373-441.
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Einem Hinweis im Reiseführer folgend, beschließt Midhat, mit seinen Begleitern, zwei Damen sowie einem betagten Professor, im Berliner Central-Hotel zu logieren: Schon in der Eisenbahn hatten wir uns entschlossen, im Central-Hotel zu wohnen, weil es mit hauseigener Post, Telegrafenamt und Telefonzentrale als eines der besten Hotels in Berlin galt. Außer dem hervorragenden Service für alle nur erdenklichen Bedürfnisse der Gäste gab es ... 500 Zimmer und Salons ... Doch, wie seltsam, als wir dort eintrafen, war für uns kein Zimmer mehr frei, und der Direktor schickte uns, höflich um Entschuldigung bittend, mit einem Angestellten zum Hotel Friedrich. Da auch dort fast alles reserviert war, gab man uns statt des benötigten Doppelzimmers für die Damen und zwei Einzelzimmern ... für den alten Professor und mich zwei Doppelzimmer erster Klasse, allerdings zum Preis der zweiten Klasse.5 Um derartigen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, empfiehlt Midhat die europäische Art des Vorab-Reservierens, die zudem den Vorteil biete, vom hoteleigenen Wagen abgeholt zu werden. Trotz der negativen Erfahrung gleich zu Beginn des Aufenthaltes gibt Midhat gern zu, daß Berlin in puncto Hotels „gleich nach Paris der zweite Platz" zukomme. Ihm fällt die Kontrolle der Hotels und Kutscher durch die Polizei auf, die „den Reisenden in allen erdenklichen widrigen Umständen schützt": Sobald er den Bahnhof verläßt, bekommt der Reisende von einem Polizeibeamten ein Schild aus Blech, groß wie eine Spielkarte, in die Hand gedrückt. Darauf steht die Nummer eines Wagens. Der Reisende kann dem Polizisten mitteilen, ob er einen Zweispänner wünscht, einen reinen Personenwagen oder etwa einen Wagen mit Platz für Gepäck. ... Die Wagen werden nicht in den Bahnhof hineingelassen, sondern stehen ein wenig abseits. Hält der Reisende seine Nummer hoch, tritt sogleich der entsprechende Kutscher an ihn heran, ihn zu begrüßen.... Befinden sich in der Aufbewahrung Gepäckstücke des Reisenden, so gibt dieser dem Kutscher seine Fahrkarte und muß sich um nichts weiter kümmern. Der Kutscher nun lädt mit seinem Kommissionär das Gepäck in den Wagen, verstaut auch das Handgepäck des Reisenden und bittet ihn mit höflicher Geste, nunmehr den Wagen zu besteigen. Die Nummer der Kutsche sollte man sich merken. Solange der Reisende diese Nummer hat, steht der Kutscher ihm zu Diensten. Beschwerden, die man bezüglich des Kutschers, des Kommissionärs oder auch der Hotelangestellten bei der Polizei vorbringt, werden höchst sorgfaltig und bevorzugt behandelt.
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Ein Schriftsteller plaudert über Hotels, Polizei und das Theater
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Selbst wenn der Reisende seine Beschwerde zurücknimmt, läßt die Polizei nicht davon ab, ihre Pflicht zu erfüllen. 6 Noch am Abend der Ankunft werden anhand eines Stadtplans „großen Maßstabes" und der Reiseführer Besichtigungspläne geschmiedet, die Karte entsprechend markiert. Midhat liebt es, in aller Frühe allein einen Erkundungsgang durch die besuchte Stadt zu unternehmen. Zuvor jedoch referiert er in Enzyklopädistenmanier Geographie und Geschichte der deutschen Hauptstadt.7 Seine Rundgänge fuhren den osmanischen Spaziergänger von einer Sehenswürdigkeit zur anderen, wobei er Gesehenes und Erfahrenes im Reisebericht mit exakten statistischen Daten untermalt. Auch mit freimütigem Werturteil hält er sich nicht zurück. So sagt ihm etwa eine Ausstellung über Instrumente und Methoden der Rettung Schiffbrüchiger wenig zu. Er hat Ahnliches bereits zuvor in Stockholm gesehen und hält den Nutzen solcher Rettungsmaßnahmen für „begrenzt". Im übrigen gebe es Wichtigeres und Interessanteres in Berlin zu sehen.8 Die „ungefähr zwanzig größeren und kleineren Theater" Berlins sowie das außerordentlich schwierige Unterfangen, eine Theaterkarte zu ergattern, faszinieren ihn9. Die Vorverkaufsstelle habe nur wenige Stunden täglich geöffnet, weshalb man ein Postkartensystem zur Platzreservierung erfunden habe: Auf diese [Karte] schreibt man seine Adresse und den Platz, den man reserviert haben möchte, und wirft sie in den Briefkasten. Entweder man bekommt dann die gewünschte Eintrittskarte zugeschickt oder aber die Karte zurück, mit zwei blauen Strichen entwertet: Es gibt keine freien Plätze mehr. 10 Merkwürdig allerdings erscheint ihm, daß dennoch „ein Drittel der Logen, Sessel und Stühle", wie er sich bei zwei Theaterbesuchen persönlich überzeugen konnte, unbesetzt blieben. „Für Ausländer" nun gebe es Erleichterungen. Für sie erledige die Hoteldirektion die leidige Reservierung. So hat Midhat, die Karten bereits in der Hand, gerade noch Zeit, sich zurechtzumachen, bevor er mit seiner Reisegruppe ins Opernhaus eilt. Man trifft erst bei geöffnetem Vorhang, nach Ende der Ouvertüre, zum Rigoletto ein. Midhat, der die Aufführung nicht recht genießen kann, „wohl weil mich jener Tag zu sehr erschöpft hatte", verliert sich in der Schilderung des Saales, „mit reichlich vergoldeter Ornamentik", des Publikums, in dem er zahlreiche prächtig uniformierte Offiziere ausmacht, der Art der Musik, „sehr sentimental und kunstvoll, auf liebliche Weise
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a.a.O., S. 375-376. a.a.O., S. 376. a.a.O., S. 410. Vgl. das Kapitel „Tiyatro", a.a.O., S. 410-414. a.a.O., S. 410.
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Ahmed Midhat
gespielt", sowie der aufwendigen Bühnendekoration und außergewöhnlich schönen Kostüme der Sänger. Lediglich eine Szene anrührender Trauer, in wunderbarer schauspielerischer Leistung dargeboten, ist ihm aus der gesamten Oper erwähnenswert. Zwischen den Aufzügen findet der erschöpfte Operngänger Gelegenheit, mit Madame Kellner, der Direktorin seines Hotels, die ihm die Opernkarten besorgt hatte, anregende Gespräche über die hohe Kunst des Theaters und ihre Funktion als Sittenlehre für das Volk zu führen. Der Zusammenklang von Musik, Text und Bühnenkomposition sei geeignet, so stellen beide übereinstimmend fest, den Menschen zu bilden und seine geistige Tätigkeit anzuregen. Midhat, selbst Autor zahlreicher Theaterstücke, gestattet sich einen Exkurs zum „menschlichen Grundbedürfnis nach Ermahnungen und Ratschlägen", welches auf vielerlei Art befriedigt werde, etwa in Kirchenpredigten oder gelehrten Büchern. Doch hinsichtlich der Wirkung auf die öffentliche Meinung übertreffe das Theater als Lehrer des Volkes alles andere, denn „das Geschehen, von dem es etwas lernen soll, spielt sich direkt und tatsächlich vor ihm ab." Da hier das Bühnenstück wie ein öffentlicher Prozeß fungiere, das Publikum aber als Richter, das Zustimmung und Unmut unmittelbar kundtue, sei allerdings auch der „Schaden durch schlechtes Theater" nicht von der Hand zu weisen. Den Angehörigen der schreibenden Zunft nun gereiche es zur Ehre, nur über moralisch gute und nützliche Stücke zu schreiben. Die Sitte, Theaterstücke früh beginnen und früh enden zu lassen, wie Midhat es bereits in Dänemark erlebt hat, erscheint ihm „hinsichtlich der Nachtruhe sehr lobenswert." Auch dem Schutz vor Dieben, mit denen er sich in Kopenhagen zu nächtlicher Stunde auseinanderzusetzen hatte, sei die frühe Stunde und die rasche Rückkehr ins Hotel dienlich. Dabei sind ihm die kurzen Entfernungen in Berlin angenehm - „alle Sehenswürdigkeiten liegen in einem Viertel zwischen dem Fluß Spree und dem Tiergarten, so daß sie bequem auch zu Fuß zu erreichen sind." Am nächsten Morgen fuhrt Midhat ein zweiter Rundgang11 durch eben jenes Viertel: Jede Straße, jeden Platz und jede Sehenswürdigkeit, die ihm unterwegs begegnen, zählt er auf. Die Besichtigung der Nationalgalerie kann den osmanischen Beobachter nicht fesseln, obwohl er die Müdigkeit vom Vortag abgeworfen hat. Erstaunt erfahrt er, daß die „sehr große" Königliche Bibliothek, die nicht so gut sortiert sei wie die Bibliothek in Stockholm, nur eine Stunde am Tag zur Mittagszeit geöffnet habe. Sie umfasse mehr als eine Million gedruckte Bücher und 15 000 Bände Handschriften, außerdem Noten. Auf Nachfrage erklärt der Führer ihm bei der Besichtigung, daß es im zweiten Stock einen Büchersaal gebe, in dem man zwischen 9 und 19 Uhr lesen oder Bücher ausleihen könne, allerdings nur
11 Vgl. das Kapitel „Berlinde Ikinci Cevelân", a.a.O., S. 414-^31.
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mit einer Sondererlaubnis. Midhat schätzt die Zahl der Bibliotheksangestellten auf zwanzig bis dreißig. Als nächstes besucht er die Königliche Galerie im zweiten Stock über einer Einkaufspassage. Hier findet er nicht, wie erwartet, Gemälde oder Antiquitäten vor, sondern „meisterhafte" Figuren aus Wachs und Gips berühmter deutscher Reisender und Abenteurer. Eine Figurengruppe etwa stellt einen Tropenarzt mit seiner kleinen Tochter in Afrika dar, sie auf einer Schaukel, er auf einem Stuhl sitzend, ihnen gegenüber einige tanzende Afrikaner. In einem anderen Ensemble liegt Wilhelm I. auf seiner Liegestatt; ihm zu Füßen stehen, von Kummer gezeichnet, Bismarck und Moltke. In einem großen Konzertsaal der Passage wird ein riesenhaft großes, doch erst zehn Jahre altes russisches Mädchen zur Schau gestellt. Midhat ist beeindruckt von der Größe des Geschöpfes: ihr Arm habe den Umfang eines Beines. Abends unternimmt er nach dem Besuch der Wagneroper Der fliegende Holländer einen Nachtspaziergang Unter den Linden zum Pariser Platz, durch das Brandenburger Tor und zurück bis zur Dorotheenstraße. Das nächtliche Berlin erscheint ihm sehr viel einsamer als etwa Paris. Die akribisch dokumentierende Sachlichkeit, mit der Ahmed Midhat seine Reiseeindrücke zu Papier brachte, zeigt eine andere Seite des Romanciers, der als bedeutender Vertreter einer Generation osmanischer Prosaschriftsteller gilt, die unter Beibehaltung der islamisch-osmanischen Tradition westliche Techniken adaptierten. Der jahrzehntelang geachtete Publizist, der einst mit dem Artikel Dekadanlar (Die Dekadenten)12 eine fundamentale Debatte über die türkische Sprachpolitik auslöste, verlor zunehmend an Zugkraft. Zuletzt lehrte er Welt- und Religionsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften, dem Vorläufer einer modernen Universität in Istanbul.
12 Dieser Artikel erschien am 1. März 1897 in der Zeitung Sabah und kritisierte die unverständliche Kunstsprache sowie die Tendenz, westliche Literatur nachzuahmen, in der neuen Literaturströmung Edebiyat-i Cedide. Vgl. Ekrem Için: „Tanzimat'tan Cumhuriyet'e Eleçtirinin Geliçimi" in TCTA, Istanbul 1985, Bd. 2, S. 437.
„Die Siegessäule... wahrlich eines der Wunder Deutschlands. "
Ahmed Ihsan Tokgöz Ein weitgereister Publizist vergleicht Berlin mit Paris Ahmed ihsan Tokgöz (1868-1942), Publizist, Übersetzer und Gründer der Zeitschrift Servet-i Fiinun, bereiste von Mai bis Juli 1890 Europa. Es war nicht nur das Leben in Europa, das, mit seinen Errungenschaften vielen Osmanen zum Vorbild geworden, ihn lockte, sondern die Möglichkeit, sich über die in Europa ausgereifte Methode der Zinkographie, eines Druckverfahrens fur Bildmaterial, zu informieren. Ahmed Midhats kurz zuvor publizierter Reisebericht Avrupa 'da Bir Cevelan (Eine Rundreise durch Europa) veranlaßte ihsan, ebenfalls die Veröffentlichung seiner Eindrücke zur Finanzierung seiner Reise im Nachhinein zu planen.1 So findet sich, in die Abschnitte nördliches, mittleres und südliches Europa unterteilt, in dem bald 600 Seiten starken Buch Avrupa'da Ne Gördum (Was ich in Europa sah, 1891/92) die Schilderung seiner Europareise in außerordentlicher Detailfulle. Die ersten Stationen Paris und London nehmen als „die Zentren Europas" größeren Platz ein, während die Deutschlandreise mit den Stationen Hannover, Hamburg, Berlin, Leipzig, Frankfurt und Freiburg auf rund achtzig Seiten verzeichnet ist. In Kapitel 18, Der erste Tag in Berlin, schildert ihsan, per Zug aus Hamburg anreisend, seine Ankunft in Berlin am 4. Juli 1890. Er steigt im Central, dem renommierten Hotel in der Friedrichstraße, ab, um sich „einmal ein großes Hotel aus der Nähe anzusehen." An drei Seiten von Straßen gesäumt, liegt das Central-Hotel in einem der nobelsten Viertel von Berlin. Es ist ein großes Hotel mit über 600 Zimmern. Hinter den drei Eingangstüren finden sich im Erdgeschoß die Zimmer der Hotelleitung und -Verwaltung, Gästezimmer, die Räume der Direktion, außerdem eine Bar, ein Winter- sowie ein Sommergarten, ein Musiksaal, drei Korridore, vier Läden, die Reiseartikel feilbieten, zwei große Speisesäle sowie Fahrstühle. ... Als ich, aus dem Wagen gestiegen, auf den Eingang zu1
Vgl. Ahmed Ihsan Tokgöz: Matbuat Hatiralarim. Hg. v. Alpay Kabacah, Istanbul 1993, S. 54.
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ging, fìihite ich mich wie im Handelsviertel von Galata um acht Uhr morgens, ein solches Treiben herrschte dort. Rund um das Hotel herum stapelten sich die Gepäckstücke Reisender.2 Mit Samt ausgekleidete Fahrstühle beeindrucken den jungen osmanischen Publizisten ebenso wie der prächtige Speisesaal, in dem er kurz nach der Ankunft als einer von 150 Gästen ausgiebig diniert. Der erste Weg auf Berlins Straßen fuhrt ihsan zum Postamt in der Königstraße, das er nach Studieren des Stadtplans im Hotel mit der Straßenbahn erreicht. Die vorbeiziehenden „breiten Straßen, die vielen Holzverkleidungen und großen Geschäfte" betrachtet der sich betont weltmännisch gebende Reisende, der zuvor mehrere andere Großstädte besucht hat, mit Enttäuschung. Ebensowenig befriedigt ihn der Service in der Post: An den blauen Kästen an beiden Türen und den Wagen, die hinein- und hinausfuhren, erkannte ich, daß dieses Gebäude die Post sein mußte.... Während selbst die sturen Engländer an den Schaltern fur postlagernde Sendungen Dolmetscher einsetzen, lassen sich die Deutschen nicht einmal zu dieser kleinen Geste der Höflichkeit herab. Weder am Eingang noch im Inneren der großen Post konnte ich eine einzige Person finden, die eine andere Sprache als Deutsch verstanden hätte! Ich stand Qualen aus, bis ich herausgefunden hatte, wo sich der Schalter fur postlagernde Sendungen befand.3 Auch Berlins Prachtboulevard Unter den Linden hält in ìhsans Augen dem Vergleich mit den Pariser Champs-Elysées nicht stand: Von der Straße Unter den Linden hatte ich schon viel gehört. Manchem erscheint sie schöner noch als die Champs-Elysées in Paris. ... Unter den Linden führt vom Brandenburger Tor, Fotografie anbei, zum Kaiserschloß. ... Warum sollte ich lügen: Die Gebäude, die ich nach dem Verlassen des Postamtes sah, die Straßen, die ich überquerte, besonders das Schloß und die Museen in der Umgebung, die prächtige Brücke und die Straße Unter den Linden, die, sehr breit angelegt, an dieser Brücke beginnt - dies alles ist tatsächlich sehr schön und dekorativ. Doch ... meine Augen sind an Hübsches und Stilvolles gewöhnt, sie sind nicht so leicht in Erstaunen oder Bewunderung zu versetzen. ... Es mangelt dem Boulevard an Atmosphäre, da die Bäume zwar in vier Reihen, jedoch weit auseinander stehen und verwildert sind. ... Zu beiden Seiten der vier Baumreihen, in deren Mittelpromenade sich Sitzgelegenheiten finden, ist die Straße befahren. An einer Seite der Hauptstraße liegen große Geschäfte, auf der anderen Gärten, die von Ketten, 2 3
Ahmed Ihsan Tokgöz: Avrupa'da Ne Gördüm. Istanbul 1308 (1891/92). S. 333. a.a.O., S. 336.
Ein weitgereister Publizist vergleicht Berlin mit Paris
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an kleine Marmorpfahle geschmiedet, begrenzt sind. Früher, da es noch keine Geschäfte gab, standen zu beiden Seiten Paläste, Theater und weitere Prachtbauten. Unter den Linden zieht sich 1500 Meter lang in einer Breite von 60 Metern hin. Über die vor 65 Jahren gebaute prächtige Schloßbrücke betrat ich die Insel. Die Brüstung schmücken acht Statuen, die, von Meisterhand gestaltet, die Welt des Militärs darstellen. Hinter der Brücke nimmt das eigentliche Unter den Linden seinen Ausgang. Hier ist ein Platz von 250 Metern Länge und Breite, der einst der Schloßgarten der Insel war. Heute wirkt er jedoch, obwohl rings von Bäumen umsäumt, eher kahl. Das Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Platz wurde 1871 fertiggestellt und gehört zu den außergewöhnlichen Kunstwerken.4 Häufig vergleicht íhsan Berlin mit anderen europäischen Hauptstädten, am liebsten mit Paris. Das Brandenburger Tor erinnert ihn an den Arc de Triomphe. Auf dem Weg zurück zum Hotel fallen íhsan Plakate einer Ausstellung auf, die ihn an Madame Tussaud in London oder das Museum Graven in Paris denken lassen. Akribisch zählt íhsan alle Sehenswürdigkeiten auf, beschreibt sie detailliert und zeichnet dem Leser Station für Station die Route nach, die er für seinen Rundgang wählt: Deutsche Akademie5, Hofoper, Schloß, Königliche Bibliothek, Universität, Opernplatz, Kronprinzenpalais und Zeughaus. Zurück am Brandenburger Tor, besucht íhsan den nahegelegenen Bezirk Tiergarten: Ich hatte erwartet, in Berlin mehr Polizisten zu Gesicht zu bekommen als in Hannover. Das stellte sich jedoch als Irrtum heraus. Gestalten, die Hände in den Taschen vergraben, schlenderten gelangweilt umher. Arme Leute verzehrten, auf Bänken unter Bäumen sitzend, ihr armseliges Abendbrot. Viele auffallig dekorierte, große Tabakläden lagen zu beiden Seiten der Straße, doch außer Zigarren gab es dort nichts zu kaufen. Ich schaute auf meine Uhr, sie war stehengeblieben; ich schüttelte sie, doch sie funktionierte nicht. Ich stellte sie neu, doch auch das nützte nichts. Ich ärgerte mich, da sie erst in Paris kaputtgegangen war und ich sie dort schnell fur sieben Franc habe reparieren lassen, denn fur einen Reisenden ist es wichtig, die Zeit zu wissen. Der Uhrmacher in Paris war verblüfft, weil meine Uhr auf der einen Seite türkisch und auf der anderen Seite europäisch war, und nahm fur eine winzig kleine Reparatur viel zuviel Geld. Ich ging zu einem Uhrmacher auf der Straße Unter den Linden. Als dieser meine Uhr untersucht hatte, verlangte er 15 Mark. Während er mit der Uhr beschäftigt war, betrachtete ich die neuen Uhren an der Wand und sah, daß sie fünf Mark kosten sollten. Deshalb beschloß ich, anstatt 80 Kurusch für die Reparatur zu zahlen, eine neue Uhr aus 4 5
a.a.O., S. 338-339. Hier ist unklar, was lhsan gemeint hat.
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Stahl für fünf Mark, d.h. 25 Kurusch zu kaufen, insbesondere nachdem der Uhrmacher mir mit Handzeichen zu verstehen gab, daß die Reparatur vier Stunden dauern sollte. So ging ich als Besitzer einer neuen Uhr Unter den Linden entlang und durchschritt bei Sonnenuntergang das Brandenburger Tor. Die Uhr fur fünf Mark hielt unbeschadet bis zu meiner Rückkehr in Istanbul; ich war zufrieden mit ihr. Auch unser Diener, dem ich sie schenkte, freute sich sehr. Doch muß ich sagen, daß ich es seltsam finde: als ich meine Uhr, die in Paris fur sieben Franc repariert wurde und deren Reparatur in Berlin 15 Mark kosten sollte, meinem alten Uhrmacher in Mahmudpaça zeigte, bekam ich sie nach zwei Minuten gegen Bezahlung von einem Kurusch wieder. Da war kein Schaden, der teuer repariert werden mußte, es hatte sich nur ein Draht in meiner Uhr verhakt.6 Die Siegessäule erscheint ihsan als „eines der Wunder Deutschlands"7, das er seinen Lesern mit einem Foto veranschaulicht. Der Abend im Hotelzimmer beschert ihm die Elektrizität als eine Errungenschaft der Zivilisation: Das Zimmer war dunkel, und es gab keine Kerzen. Drei elektrische Lampen fanden sich im Zimmer, doch ich wollte nach Kerzen fragen, da in den meisten Hotels, in denen ich logiert hatte, die elektrischen Lampen nicht benutzt wurden. Mein Blick fiel auf einen Schalter neben der Tür. Mit einem eigenartigen Gefühl drückte ich den Schalter - gleich war der Raum von Licht durchflutet.8 An seinem zweiten Tag in Berlin (Kapitel 19) durchstreift ihsan verschiedene Museen, die er seinen Lesern mit Hilfe seines Reiseführers penibel beschreibt. Anschließend geht er mit dem Pflichtbewußtsein eines Dokumentars die wichtigsten Straßen und Plätze Berlins ab: Königstraße, Alexanderplatz, am Rathaus vorbei über die Alexander- und Köpenicker Straße. Ich sah unter den Bäumen zu beiden Seiten des Kanals viele arme Leute, die dort vesperten. Seltsam, das Speisen im Freien scheint den Berlinern sehr zu gefallen! Bereits Unter den Linden hatte ich arme Familien beobachtet, die dort ihren Proviant verspeisten. Bei den Leuten hier jedoch handelte es sich ausschließlich um Arbeiter. Sie kommen von der Arbeit und treffen sich hier mit Frauen und Kindern, um gemeinsam die armseligen Speisen aus dem Vesperkorb zu verzehren.9 6 7 8 9
a.a.O., S. 342-343. a.a.O., S. 346. a.a.O., S. 348. a.a.O., S. 352.
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Des einsamen Spaziergangs müde, ändert der gewissenhafte Protokollant seine Route: Durch die Wilhelm- und die Leipziger Straße geht es zum Leipziger Platz und von dort über den Potsdamer Platz zum Tiergarten. Hier verweilt er zwei Stunden, bevor er mit einem abendlichen Besuch des Wachsfigurenkabinetts, dessen raffinierte Effekte ihn faszinieren, seinen Berlin-Aufenthalt beschließt. Nahm Paris auf dieser Reise noch einen Platz weit vor Berlin ein, so sollte sich dieser Eindruck bei ihsans zweitem Besuch als Mitorganisator der Studienreise von 1911 grundlegend ändern: Seine reservierte Haltung wich der Bewunderung für die „zivilisatorischen und industriellen Fortschritte" Berlins. 10
10 Aus dem „Nachwort zur türkischen Studienreise in Deutschland" in der Neckar Zeitung vom 19.9.1911, zit. nach Klaus Kreiser: „Damenbäder und Kanonengießereien. Zur osmanischen Studienreise nach Deutschland (Juni/Juli 1911)." In Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Istanbul 1997, S. 102. Vgl. das Kapitel Fünfzig offizielle Gäste in diesem Buch.
Die Europäer... stellen sich uns Türken als seltsame Geschöpfe vor, die sich nur mit einem Turban auf dem Kopfe, einem Krummsäbel im Gürtel und in gestreiften Pluderhosen wohlfühlen. "
Hüseyin Hulki Ein junger Arzt erfährt die Achtung Robert Kochs und die Huld des Kaisers In der osmanischen Delegation, die im November 1890 zu einer Studienreise über neuere deutsche Forschungen und Errungenschaften im Gesundheitswesen, insbesondere über Robert Kochs Tuberkulosetherapie, nach Berlin aufbrach, befand sich auch der junge Arzt Dr. Hüseyin Hulki (1861-1894). Als Facharzt und Dozent in der Abteilung Dermatologie und Venerologie der Militärakademie für Medizin (Mekteb-i Tibbiye-i Askeriye) in Istanbul gilt er als einer der Begründer dieser beiden Fachrichtungen im Osmanischen Reich. Mit seinem Band Berlin Hatirati (Berlin-Erinnerungen), erschienen 1891 in Istanbul, legte Hulki einen Bericht vor, der weit über schlichte Reiseeindrücke hinausgeht: In Fachgesprächen gewonnene Erkenntnisse hält er ebenso fest wie persönliche Empfindungen angesichts der Koryphäen, mit denen er Gespräche führte. So findet sich im zweiten Kapitel seiner Berlin-Erinnerungen1 eine ausführliche Schilderung der Begegnungen mit Robert Koch, einer „unter den Großen unserer Zeit herausragenden Persönlichkeit, einem zu der Zeit, als ich in Berlin weilte, vielbeschäftigten Mann, den zwei, drei Minuten sprechen zu können, als großer Erfolg galt."2 Aufgrund der „außerordentlichen Achtung", die man dank des Ansehens und der Bemühungen Sultan Abdülhamids II. den Osmanen in Berlin entgegenbrachte, und konkret durch die Vermittlung Dr. Sonnenbergs, Chefchirurg im Krankenhaus Moabit, und Dr. Rosenthals, Arzt der osmanischen Botschaft, erhält die osmanische Medizinerdelegation eine Einladung zum Gespräch. „Neu eingekleidet und ordengeschmückt" läßt sich die Gruppe zu Kochs Institut für Bakteriologie in der Klosterstraße 36 fahren, von dessen Größe Hulki sich beeindruckt zeigt. Hier warten bereits zahlreiche Ärzte aus aller Herren Länder auf eine Unterredung mit dem berühmten Mann, so daß die 1 2
Hüseyin Hulki: Berlin Hatirati. Istanbul 1308/1891, S. 30-46. a.a.O., S. 30. Vgl. auch Ilber Ortayh: „Berlin im Urteil türkischer Reisender und Intellektueller" in Berlin - Blicke auf die deutsche Metropole, hg. v. Gerhard Brunn u. Jürgen Reulecke, o. J. u. O., S. 227.
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osmanische Delegation trotz angeregter Gespräche mit Fachkollegen bald ein weiteres Ausharren für aussichtslos erachtet und sich zum Aufbruch entschließt. Doch Kochs Sekretär hält sie mit der Bitte, noch ein wenig Geduld zu haben, zurück. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Begegnung mit Koch, dem Begründer der Bakteriologie, dem Entdecker der Cholera- und Tuberkulosebakterien (1882), vor allem aber dem Entwickler einer Tuberkulosetherapie, packt Hulki nun doch das Lampenfieber. Er empfindet Stolz und Freude, ist sich jedoch zugleich unsicher, wie mit dem großen Gelehrten zu sprechen sei: Ich dachte darüber nach, daß Koch selbst bei den hervorragenden Medizinern unserer Zeit als vollkommener Lehrer galt. Mein Herz klopfte heftig. Das beklemmende Herzklopfen schnürte mir die Kehle zu und trieb Schweiß in meine Handflächen. ... Welch aufreibende Minuten mußte ich verbringen! ... Stolz ob der Ehre erfüllte mich, zugleich aber war ich befangen. Kaum half sich mein Verstand aus der Verlegenheit, indem er den Stolz opferte, da trat der Sekretär auf uns zu und bat uns, ihm zu folgen. Mit einander widerstreitenden Gefühlen erhob ich mich. Wieviele Gedanken beschäftigten meinen Geist! Ich war derart verwirrt, daß ich keinem dieser Gedanken einen Sinn geben konnte. Ich bekam sogar Herzstechen. So betrat ich Kochs Zimmer! Dieser vielleicht zwanzig Quadratmeter große Raum war schlicht eingerichtet. In einer Ecke stand ein Tisch aus hellem Mahagoni, wie in Schreibstuben gebräuchlich, sowie vier einfache Stühle, ebenfalls aus Mahagoni... Auf dem Tisch fanden sich Tinte, Schreibutensilien und ein paar ungeordnete Papiere, darunter auch unsere Visitenkarte. Der Raum enthielt keinerlei Schmuckgegenstände. Kaum hatten wir das Zimmer betreten, erhob sich Dr. Koch wie selbstverständlich, eilte auf uns zu und begrüßte jeden von uns nach europäischer Art freundlich und ungezwungen mit Handschlag.... Der Doktor rückte einen Stuhl heran und bat uns, selbst noch stehend, Platz zu nehmen. Er hieß uns als Kollegen willkommen und setzte sich ebenfalls. Sein unkompliziertes Verhalten, der herzliche Handschlag und die nette, schlichte Art der Anrede beruhigten mein aufgeregtes Herz. Schlicht wie der Raum war auch seine Kleidung. Seine Art strahlte eine Aufrichtigkeit aus, wie man sie bei einem lieben Freunde finden mochte. Worte für tadelnswerte Eigenschaften wie Arroganz und Stolz schienen ihm gänzlich fremd zu sein! Ich fühlte mich ermutigt ...3 Hulki bringt der Berliner Kapazität seine Achtungsbezeugung dar, wobei er es nicht versäumt, sich auf die „erlauchte Erlaubnis" des osmanischen Herrschers zu beziehen. Koch seinerseits spricht „Abdülhamid Han, der zu den größten
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Hulki, a.a.O., S. 34-37.
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Herrschern unserer Zeit gehört", seinen Dank aus für die Verleihung eines hohen osmanischen Ordens, ihm „ein Beweis für die Liebe zur Bildung" des „ruhmreichen Herrschers",4 dessen Wertes sich die Osmanen bewußt sein sollten. Erst, nachdem der Höflichkeit Genüge getan ist, wenden sich die Mediziner ihrem Fachgebiet zu. Koch bittet Hulki, seine Arznei bei den Leprakranken in Istanbul zu testen und ihn über die Ergebnisse zu unterrichten, was Hulki gern zusichert. Das Gespräch entwickelt sich zu einem Austausch über moderne Lösungen medizinischer Probleme wie etwa die Frage, ob Kochs Tuberkulosetherapie auch bei Lepra anzuwenden sei. Mit dem Wunsch nach einem erneuten Zusammentreffen vor der Abreise der Delegation sowie der Bitte an Hulki, „die Lepra im Orient" mikroskopisch zu untersuchen und auch hierüber Bericht nach Berlin zu geben, geleitet Koch seine Gäste auf den Flur. Hier erwartet der Sekretär nebst einer Schar eifriger Bediensteter die Delegation; Hulki bedankt sich mit einem großzügigen Trinkgeld für die zuvorkommende Behandlung. Mit wievielen Ärzten, Wissenschaftlern und Gelehrten er in Paris und Berlin auch gesprochen habe, schließt Hulki sein Kapitel über den Besuch bei Robert Koch, aus keiner Unterredung habe er so großen Nutzen gezogen wie aus dieser. Zudem sei die natürliche Bescheidenheit Kochs, für Hulki ein Zeichen für „Weisheit und Vollkommenheit", einzigartig. Eine flüchtige Begegnung mit Kaiser Wilhelm II. war für Hulki, ebenso wie für die Umstehenden, die Zeugen dieser Episode wurden, ein Ereignis, das es wert war, aus dem Besuchsalltag der osmanischen Ärzte herausgehoben und notiert zu werden. Unter den Linden, einer „fünfzig Meter breiten Straße mit zwei Wagenspuren, gesäumt von vier Reihen prächtiger Linden und beleuchtet von drei Reihen elektrischer Straßenlampen", kommt es, da Hulki mit zwei Kollegen dort promeniert, zur denkwürdigen Begegnung: Da hier die berühmtesten Prachtstraßen Berlins zusammentreffen, ist dieser Ort einer der belebtesten der ganzen Stadt. An einem Ende der Allee liegt das königliche Schloß, am anderen ein bekannter Park. Dieser ist ein beliebtes Ziel abendlicher Kutschfahrten reicher, vornehmer Herrschaften. An den meisten Kreuzungen stehen Schutzleute, die das ordnungsgemäße Verhalten der Verkehrsteilnehmer überwachen. Nähern sich etwa aus zwei einander gegenüberliegenden Straßen Wagen, gebieten die Uniformierten, um einem Zusammenstoß vorzubeugen, dem einen, langsam zu fahren.... Als wir nun auf dieser Straße gingen, kam es plötzlich zu einer aufgeregten Drängelei unter den Passanten. Selbst die Polizisten, die beim Dirigieren der Wagen stets gelassen blieben, wurden nervös. Aufgeregt gestikulierend brachten sie alle Wagen, die auf die Allee einbogen, am Straßenrand zum
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a.a.O., S. 38.
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Stehen. Die Menschen fanden sich unwillkürlich zu kleinen Gruppen zusammen. Alles schaute erwartungsvoll die Straße hinunter. Wir begriffen nicht, was vor sich ging, doch da alle innehielten, blieben auch wir vor dem Hotel Roma im Schatten einer großen Linde stehen. Neugierig blickten wir in die Richtung, auf die alle Aufmerksamkeit sich konzentrierte, und harrten der Dinge, die da kommen würden. Schon war kein Wagen mehr auf der Straße; die Passanten warteten dicht gedrängt auf den Trottoirs. Da schwebte aus der Ferne eine zweispännige Kutsche heran. Kutsche und Pferde waren prächtig geschmückt, der Kutscher trug ein Mütze aus Fell. In dieser prunkvollen Kutsche saß Seine Majestät Kaiser Wilhelm persönlich! Die Menge begann, ihrem Herrscher zuzujubeln. Rasch schlossen wir die Knöpfe unserer Mäntel und nahmen, wie aus der Heimat gewohnt, Haltung an, um dem Kaiser die Ehre zu erweisen. So warteten wir darauf, daß der mächtige Herrscher an uns vorbeiziehen würde. Wir, drei Männer mit Fes, erregten die Aufmerksamkeit der Umstehenden. Die kaiserliche Kutsche fuhr auf der glatten, ebenen Straße in so berauschender Geschwindigkeit dahin, daß die Speichen der Räder nicht zu erkennen waren. Die außerordentlich ebene Beschaffenheit der Straße ließ den Eindruck entstehen, die Kutsche schwebe, ohne den Boden zu berühren. Als nun der Kaiser nur noch etwa zwanzig Meter von uns entfernt war, wandte er sich, zweifellos als Respektsbezeugung unserem Sultan gegenüber, uns Dreien auf eine besondere Art zu. Der Befehlshaber einer der erfolgreichsten Armeen der Welt, der mächtigste Herrscher unseres Jahrhunderts, ausgezeichnet zudem durch das Zusammentreffen mit unserem erhabenen Sultan, dem großen Kalifen der Muslime, saß in der offenen Kutsche, ein Bein über das andere geschlagen. Sein Haupt war nach Art der preußischen Soldaten mit einem Helm bedeckt, die eine Hand lag am Heft seines Schwertes. Kaum hatte er uns bemerkt, da wandte er uns sein kaiserliches Antlitz zu und grüßte, die andere Hand zum siegverheißenden Helme führend, in soldatischer Manier. Ob dieser uns erwiesenen kaiserlichen Ehrung richteten die Umstehenden neidisch staunende Blicke auf uns. Wir indessen erwiderten den Gruß des friedliebenden, mit unserem mächtigen Sultan verbündeten Kaisers ergeben und respektvoll, wie es bei den Osmanen Herrschern oder Befehlshabern gegenüber üblich ist. Anschließend setzten wir gemächlich unseren Weg fort. Die Leute wichen ehrerbietig vor uns zurück und flüsterten sich zu: „Das sind die türkischen Ärzte!" Die besondere kaiserliche Aufmerksamkeit hatte uns in den Augen des Volkes von einem Augenblick zum anderen erhöht. Wie lobenswert sind doch Treue und Ergebenheit der Deutschen ihrem Kaiser gegenüber!5
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a.a.O., S. 62-66.
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Im vierten Kapitel seiner Berlin-Erinnerungen berichtet Hulki von der Besichtigung der Institute für Biochemie und Physiologie. Hier erweist er sich als durchaus kritischer Bewunderer, dem es nicht an Selbstbewußtsein fehlt: Die wissenschaftlichen Fortschritte der Europäer, insbesondere der Deutschen, übertreffen bei weitem unsere Vorstellungen. Wir Orientalen können uns nicht mit ihnen vergleichen. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß wir, bezogen auf ihre Fortschritte, 50 bis 60 Jahre hinter den Europäern zurückliegen. Dessen ungeachtet dürfen wir aber nicht übersehen, daß es seit einiger Zeit, insbesondere seit dem glücklichen Tag der Thronbesteigung des Sultans in der gesamten Wissenschaft sowie in der Medizin auch im Osmanischen Reich kleinere und keineswegs zu leugnende Fortschritte gegeben hat. Die Europäer aber halten uns für „Zulukaffern" oder Angehörige des Stammes der „Dahomey" und stellen sich uns Türken als seltsame Geschöpfe vor, die sich nur mit einem Turban auf dem Kopfe, einem Krummsäbel im Gürtel und in gestreiften Pluderhosen wohlfühlen. So war Professor Kusel baß erstaunt zu sehen, daß wir die Bezeichnungen auf den Schildern durchaus verstanden. Dieses Staunen aber zeigte uns, wie wenig man hier von den Fortschritten der Osmanen wußte. ... Ebenso überrascht zeigte sich Professor Waldeyer6 ... bei unserer Besichtigung des Instituts für Anatomie. Er hatte geglaubt, wir verstünden nichts von Autopsie.7 Hulki berichtet von zahlreichen Begegnungen mit Fachkollegen sowie von einigen Lehrveranstaltungen medizinwissenschaftlicher Kapazitäten in Berlin, an denen die osmanische Delegation teilnahm. Berliner Fachkliniken sowie Entlausungsanstalten schließlich schildert Hulki in dem Bestreben, Anregungen für den Aufbau moderner medizinisch-hygienischer Einrichtungen auch im Osmanischen Reich zu geben. Dr. Hüseyin Hulki verstand sich mehr als Aufklärer denn als Reisender in Sachen Medizin. Die Berlin-Erinnerungen zeigen ihn als weltoffenen, kritisch interessierten und engagierten jungen Arzt. 1894, kurz vor seinem frühen Tod, erschienen Berichte in demselben Tenor vom Kongreß für Dermatologie und Venerologie, an dem Hulki 1892 in Wien teilgenommen hatte. Bewußtsein schaffen durch die Darstellung europäischer Vorbilder - unter dieser Devise leistete er Pionierarbeit im Bereich deutsch-türkischen wissenschaftlichen Austausches.
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Wilhelm von Waldeyer-Hartz (1836-1921) war Professor der Anatomie in Breslau, Straßburg und Berlin. Hulki, a.a.O., S. 74-75. Vgl. auch Ortayh, a.a.O., S. 230.
... und nimm keine finanzielle Belohnung vom deutschen Generalstab an. ...Es verursacht Gerede und schadet Ehre und Ansehen..."
Ahmed Tevfik Pascha Der letzte Großwesir und seine preußischen Söhne Ismail Hakki und Ali Nuri Eine schnelle Karriere hatte den sprachgewandten, ungewöhnlich weltoffen erzogenen Ahmed Tevfik (1843- 1936) bereits 1868 mit 25 Jahren nach Berlin geführt. Damals nahm er die Aufgaben eines Zweiten Sekretärs an der Osmanischen Botschaft wahr. Nach Stationen in Petersburg und Athen kehrte er 1885 nach Berlin zurück, mit seinen 42 Jahren der jüngste von allen Botschaftern. Zehn Jahre lang übte Tevfik Pascha das Amt des Botschafters in Berlin aus und lernte in dieser Zeit nicht nur drei deutsche Kaiser, sondern auch den in Ungnade gefallenen ehemaligen Reichskanzler Bismarck kennen. Als einziger der in Berlin akkreditierten Diplomaten überbrachte er dem auf seinem Alterssitz in Friedrichsruh Grollenden zu dessen 80. Geburtstag am 1. April 1895 die Glückwünsche des Sultans Abdülhamid II. sowie einen Orden, worüber sich Bismarck sehr gerührt zeigte. Er ließ Tevfik Pascha während der Festtafel zu seiner Rechten sitzen und erhob sein Glas mit folgenden Worten: „Je bois à la santé de votre Auguste Souverain, le seul qui ne m'a pas oublié dans ma disgrâce." (Ich trinke auf das Wohl Ihres erhabenen Herrschers, der einzige, der mich, hier in Ungnade, nicht vergessen hat).1 Während der Reichstag es abgelehnt hatte, Bismarck zu gratulieren, war es Fürst Eulenburg gelungen, für Tevfik Pascha bei Kaiser Wilhelm II. zu vermitteln. Dieser hatte nach kurzer Bedenkzeit wissen lassen: „Was der Sultan seinem Botschafter aufgetragen hat, muß der Botschafter auch ausführen."2 Als an jenem Tage Tausende von Menschen an Bismarck vorbeizogen, stand Tevfik Pascha ganz in seiner Nähe und erregte mit seinem roten Fes nicht geringe Aufmerksamkeit. Als einen weiteren Höhepunkt mochte er die am 21. Juni 1895 von Kaiser Wilhelm II. persönlich vollzogene Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals empfunden haben: Zur Feier des Tages waren aus vielen Ländern Kriegsschiffe eingetroffen, und auch Sultan Abdülhamid hatte einen Kreuzer entsandt. Beim 1 2
Vgl. Çefik Okday: Büyükbabam Son Sadrazam Ahmet Tevfik Pcça. Istanbul 1986, S. 21. a.a.O., S. 20.
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Ahmed Tevfik Pascha
Abb.3: Der Kreuzer „Abdülmecid".
Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Kanals
1895
Eintreffen der Delegationen wurde von der deutschen Marinekapelle die jeweilige Nationalhymne gespielt, was im Falle der osmanischen Abordnung unter Tevfik Pascha zu einer gewissen Verlegenheit führte, da es zu dieser Zeit noch keine offizielle Hymne gab. Die Lösung, statt dessen das Lied „Guter Mond, du gehst so stille" zu intonieren, war so überraschend, daß sie später Eingang in den Anekdoten- und Zitatenschatz finden sollte.3 Das Wirken Tevfik Paschas in Berlin, aufmerksam verfolgt von Sultan Abdülhamid, ging zu Ende, als dieser ihn zurückrief und zum Außenminister ernannte. Damit endete auch die Berliner Kindheit seiner Söhne Ismail Hakki und Ali Nuri, die zehn Jahre in der Hauptstadt besonders unbeschwert aufwachsen konnten, da ihre Muttersprache Deutsch war.4 Wieder in der Heimat angelangt, erstreckte sich die Gunst des Sultans für ihren Vater Tevfik Pascha nun auch
3
4
Vgl. Çefik Okday : Der letzte Großwesir und seine preußischen Söhne, Göttingen 1991, S. 25. Etwas Improvisiertes als etwas lange Einstudiertes erscheinen zu lassen, heißt demnach „einen Türken bauen". Vgl. den Exkurs: „Die Türken und was von ihnen in der Deutschen Sprache blieb", in: Alles getürkt. 500 Jahre (Vor) Urteile der Deutschen Uber die Türken von Margret Spohn, Oldenburg 1993, S.123. Ihre Mutter war die Schweizerin Elisabeth Tschumi bzw. Afife Hamm, die Ahmed Tevfik 1879 während seiner Amtszeit als Geschäftsträger in Athen geheiratet hatte. Vgl. Okday, a.a.O. 1986, S. 12-13.
Der letzte Großwesir und seine preußischen Söhne Ismail Hakki und Ali Nun
Abb. 4 und 5: Ahmed Tevftk Pascha. Botschafter
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1885-95
auf sie: Sie wurden zu Adjutanten des Sultans ernannt, bald darauf zum Leutnant befördert und von da an jedes Jahr einen Rang höher eingestuft. 1909 kehrten die Brüder Ismail Hakki und Ali Nuri nach Berlin zurück, um auf Wunsch ihres Vaters „die beste militärische Ausbildung" zu erhalten. Sie hatten das Privileg, in eines der kaiserlichen Garderegimenter - die Zweiten Dragoner - aufgenommen zu werden und besuchten die Preußische Kriegsakademie. Tevfik Pascha war indes zum Botschafter nach London berufen worden5 und nahm aus der Ferne mit guten Ratschlägen am Leben seiner Söhne teil. So schrieb er an Ismail Hakki, der einen sehr positiv aufgenommenen Vortrag gehalten hatte: ... Und nimm keine finanzielle Belohnung vom deutschen Generalstab an. Es ist auch gesetzlich verboten. Es ist eine Ehre, daß das von Dir geschriebene Werk positiv aufgenommen wurde. Erkläre, wo erforderlich, daß Du es nicht fur Geld verfaßt und vorgetragen hast.... Es ist peinlich und verboten, daß ein osmanischer Offizier Geld von einer ausländischen Regierung annimmt. Nimm es auf keinen Fall an. Es verursacht Gerede und schadet Ehre und Ansehen. ...6
5 6
Ahmed Tevfik Pascha war von 1909-1914 Botschafter in London. Brief Tevfik Paschas an seinen Sohn Ismail Hakki vom 9. März 1914.
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Ahmed Tevfik Pascha
Von ihm, der als letzter Großwesir7 des Osmanischen Reiches in die Geschichte einging, existieren keine Aufzeichnungen über seine Berliner Jahre. Sein ältester Sohn Ismail Hakki jedoch widmete in einer Autobiographie dem Lebensabschnitt als Gardeoffizier des deutschen Kaisers ein anekdotenreiches Kapitel.8
7 8
Vom 20.10.1920 bis zur Abschaffung des Sultanats am 1.11.1922. Ismail Hakki Okday (1881-1977): Yanya'dan Ankara'ya, Istanbul 1975, S. 22-34.
„ Ein Offizier, der die ehrenvolle Uniform Preußens trägt, zittert nicht!"
Ismail Hakki Okday Von der Armee des Sultans in das Garderegiment des Kaisers Bald nach ihrer Ankunft in Berlin im Jahre 1909 kommt es zu einer Begegnung Ismail Hakkis und seines Bruders Ali Nuri mit dem Kaiser, dem seine beiden neuen Offiziere vorgestellt werden sollen. Zuvor waren auf Anordnung von Oberst Graf von Roedern ihre Namen in Tevfik I Ismail und Tevfik II Ali umgewandelt und in die Personalliste der königlichen Armee eingetragen worden. Die Tatsache, daß es im Osmanischen Reich keine Nachnamen gab und die zweiten Namen der Brüder verschieden waren, mochte dem Oberst wohl doch zu unordentlich erschienen sein: So wurden unsere eigenen Namen durch den Beschluß eines Obersten und eines Generals willkürlich geändert. Wir waren nun in das Dragonerregiment der Zweiten Garde aufgenommen, doch der Hofschneider hatte unseren Gehrock, den Waffenrock, die Litewka- und Hofballuniform noch nicht fertig. Deshalb versahen wir unseren Dienst in der türkischen Uniform. In der Döberitz-Kaserne wurde in diesen Tagen ein umfangreiches Kavalleriemanöver durchgeführt. Mein Bruder und ich nahmen daran also in der türkischen Uniform teil. Der deutsche Kaiser, König von Preußen, Seine Majestät Wilhelm II. befand sich in der Kaserne, um dem Manöver zuzuschauen. Der Regimentskommandeur Graf von Roedern hatte mich und meinen Bruder zu sich rufen lassen und gesagt: „Seine Majestät der Kaiser kann jeden Augenblick in der Kaserne sein. Wenn Sie Seine Majestät sehen, müssen Sie im Galopp auf ihn zureiten, zehn Schritt vor ihm anhalten, salutieren und Ihre Ankunft melden." Er fugte noch hinzu: „Das ist ein alter Brauch in der deutschen Armee. Jeder neue Offizier im Regiment muß das machen." Kurz darauf kam der Kaiser mit seiner Begleitung in Sicht. Wie uns geheißen, ritten wir im Galopp auf ihn zu. Als der Kaiser zwei Offiziere in türkischer Uniform auf sich zureiten sah, gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon. Das Fangspiel dauerte eine ganze Weile. Der Kaiser ritt vorneweg, und wir versuchten, ihn einzuholen, konnten ihm jedoch nicht einmal nahekommen! Schließlich hatte der Kaiser ein Einsehen und hielt sein Pferd an. Wir näher-
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tsmail Hakki Okday
ten uns ihm auf zehn Schritte und salutierten, indem wir die Hände an unseren Kaipak führten. Dann meldeten wir unsere Ankunft beim Dragonerregiment der Zweiten Garde, und der Kaiser sagte: „Wie konnte es denn nur passieren, daß Ihr meinen guten Freund und Euren Oberbefehlshaber, den großen Herrscher Sultan Abdülhamid, gestürzt habt?" Wir antworteten: „Eure Majestät, wir sind hier. Den Sultan haben wir nicht gestürzt, sondern das Parlament hat ihn entmachtet." Daraufhin lächelte der Kaiser, hob warnend den Finger und sagte: „Ihr Brüder, versucht das Gleiche bloß nicht in meiner Armee!" und galoppierte davon.1 Ein weiterer Grund zur Beunruhigung für den Oberst und Regimentskommandeur von Roedern sind die hohen Orden, die die Brüder als ehemalige Adjutanten des Sultans - durch seine Gunst alljährlich befördert - bereits aufweisen. Entsprechend ihrem Rang waren sie von Kaiser Wilhelm, als er dem Sultan einen Besuch abstattete und seinerseits reichlich Orden verteilte, mit dem RoteAdler-Orden II. Klasse ausgezeichnet worden. Von Roedern nimmt dies zum Anlaß, eiligst anfragen zu lassen, ob diese jungen türkischen Offiziere denn berechtigt seien, solche hochrangigen Orden zu tragen. Die Antwort des Kaisers lautet: „Die vom Kaiser verliehenen Orden dürfen für immer von diesen damit ausgezeichneten türkischen Offizieren getragen werden."2 Bei einem späteren Besuch seines Garderegiments erläutert der Kaiser sein besonderes Wohlwollen für die Söhne des ehemaligen Botschafters Tevfik Pascha und erklärt von Roedern, daß dieser von ihm hochgeschätzte Mann der Mitbegründer der deutsch-türkischen Freundschaft sei und einen großen Beitrag zur Entwicklung dieser Freundschaft geleistet habe. Während des Essens, bei dem von Roedern neben dem Kaiser sitzt, erhebt die Majestät das Champagnerglas zu Ehren der beiden türkischen Offiziere, die in Hofballuniform, mit sämtlichen osmanischen und anderen Orden geschmückt, teilnehmen und ihm formgerecht dankend ihre Reverenz erweisen. An einen anderen Vorgesetzten, den strengen, aber auch gütigen Major von Kock, erinnert sich Ismail Hakki hingegen mit großer Herzlichkeit, obwohl dieser ihm am eiskalten Morgen des 24. Januar 1910 einen gehörigen Denkzettel beim Frühappell verpaßt: Um zehn vor sechs wartete ich vor den Soldaten der preußischen Kavalleriegarde in Hab-Acht-Stellung auf Major von Kock. Es herrschte eine unbarmherzige, schreckliche Kälte. Ich konnte es nicht aushalten und zitterte fürchterlich, ohne etwas dagegen tun zu können. Punkt sechs Uhr kam unser Kompaniekommandant Major von Kock. Sein Gesicht war ganz rot, und er schien wütend zu sein. Mit harten Schritten trat er vor die Kompanie, blieb 1 2
Ismail Hakki Okday: Yanya'dan Ankara'ya. Istanbul 1975, S. 25-26. a.a.O., S. 28.
Von der Armee des Sultans in das Garderegiment des Kaisers
Abb. 7: Die Gardeoffiziere Ismail Hakki und Ali Nuri (ganz links im Bild der Kaiser)
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Ismail Hakki Okday
vor mir stehen und fragte mich in einer Lautstärke, daß alle es hören konnten: „Leutnant, warum zittern Sie?" „Weil ich friere, Herr Major." „Also deshalb zittern Sie. Sind Sie denn betrunken?" „Nein, Herr Major." „Sie sind also nicht betrunken. Sind Sie denn ein Hund?" „Nein, Herr Major." „Sie sind also kein Hund. Sind Sie denn eine Hure?" „Nein, Herr Major." „Sie sind also auch keine Hure. Dann müssen Sie wissen, daß auf dieser Welt nur Betrunkene, Hunde und Huren zittern. Ein Offizier, der die ehrenvolle Uniform Preußens trägt, zittert nicht!" Später stellte ich fest, nachdem ich es mit eigenen Augen gesehen hatte, daß tatsächlich nur die Betrunkenen, die Hunde und die Huren, die auf der Friedrichstraße auf Kunden warteten und dünne Seidenkleider trugen, zitterten. Major von Kock hatte also Recht gehabt.3 Auch als Studierender an der Kriegsakademie muß Ismail Hakki höchst ungewöhnliche Verbote beachten. So ist es strengstens untersagt, im Tiergarten, Unter den Linden oder in angrenzenden Straßen, wo eventuell der Kaiser vorbeikommen könnte, Handtaschen, Akten oder dergleichen zu tragen. Wilhelm II. pflegte mit großem Aufwand und Gefolge durch diese Straßen zu fahren und jeden zu bestrafen, der seinen Befehl nicht befolgte. Als dies wieder einmal geschieht und der Adjutant hinter einem Sünder her galoppieren muß, diesen jedoch nicht ausfindig machen kann, befiehlt der Kaiser dem Leiter der Kriegsakademie, General von Manteuffel, den schuldigen Offizier suchen zu lassen und zu bestrafen: General von Manteuffel ließ sofort alle 450 Offiziere, die an der Kriegsakademie studierten, im großen Konferenzsaal zusammenkommen und forderte den schuldigen Offizier auf, sich zu stellen. Als sich niemand meldete, atmete von Manteuffel auf und sagte: „Meine Herren, mit Stolz und Freude stelle ich fest, daß kein Offizier der Kriegsakademie schuldig ist. Die Sache ist damit abgeschlossen." Später erfuhren wir, daß jener Offizier unser Freund Oberleutnant Isenburg war - ein Mann mit goldenem Herzen, hilfsbereit und kunstliebend.4 Ismail Hakki ahnt zu dieser Zeit nicht, daß er einmal (1914) die Tochter des Thronfolgers Vahdeddin, Prinzessin Ulviye, heiraten wird und macht keinen Hehl aus seiner Zufriedenheit darüber, ungebunden zu sein und nicht wie 3 4
a.a.O., S. 32. a.a.O., S. 33.
Von der Armee des Sultans in das Garderegiment des Kaisers
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manch einer der Gefährten, nach Unterrichtsschluß am Tor der Kriegsakademie von der Ehefrau abgeholt zu werden, während die anderen ins Gasthaus gehen: Man nannte sie spöttisch „Wärterinnen". Der Offizier, der die Kriegsspiele an der Akademie leitete, war Major Herrgott von der bayerischen Armee. Nach den Spielen forderte er uns mit den folgenden Worten auf, ins Gasthaus gegenüber „Zum Schwarzen Ferkel"5 zu gehen, um Bier zu trinken: „Jetzt gehen wir zur dreckigen Sau!" Obwohl es tatsächlich „Zum Schwarzen Ferkel" hieß, sagte er immer „Zur dreckigen Sau". Natürlich konnten unsere verheirateten Freunde, die von ihren „Wärterinnen" abgeholt wurden, nicht mitgehen. Während wir in der „dreckigen Sau" des Major Herrgott Bier tranken, mußten sie mit ihren lieben Frauen in ihre bescheidenen, sauberen und gemütlichen Wohnungen zurückkehren.6 Als die beiden Brüder um ihre Beurlaubung bitten, weil sie zur Verteidigung ihres Landes am Balkankrieg teilnehmen wollen, wird ihnen vom Kaiser die Erlaubnis unbefristet erteilt. Sie kehren 1912 in die Heimat zurück, nehmen jedoch ihr Studium am 29. Oktober 1913 wieder auf. Der Abschluß wird ihnen mit folgenden Worten bescheinigt7: Zeugnis Die türkischen Offiziere Ali Tevfik Bey und Ismail Tevfik Bey haben als Leutnants im Preußischen 2. Garde-Dragoner-Regiment die Preußische Kriegsakademie besucht, und zwar vom 1. Oktober 1910 bis 3. Oktober 1912 und vom 29. Oktober 1913 bis 21. Juli 1914, und haben das Studium vollständig beendet. Vom 1. bis 21. Juli 1914 nahmen sie an der Schluß-Generalstabsreise teil. Die Unterbrechung war durch den türkischen Feldzug veranlaßt. Berlin, den 7. Oktober 1914. Stellvertretender Chef des Generalstabs der Armee. Gez.: Frh. v. Manteuffel General der Infanterie
5
6 7
Die berühmte kleine Weinstube an der Ecke Wilhelmstraße/Unter den Linden war ein Treffpunkt bekannter Dichter, Schriftsteller und Maler wie August Strindberg, Edvard Munch, Stanislaw Przybyszewski oder Heinrich Zille. Vgl. Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Berlin 1976, S. 698-699. Ismail Hakki Okday, a.a.O., S. 34. Das Dokument wurde uns ohne Angabe der Quelle von Çefik Okday, dem Enkel Tevfik Paschas, überlassen.
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Ismail Hakki Okday
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zu der am Dienstag.den 6 J u n i 1 9 0 5 um 5 Uhr Nachmiirags in der Kapelle des Köntgfichen Schlosses zu Berlin stattfindenden Vermahlung «slittali
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Abb.9: Einladung zur Vermählung des Kronprinzen
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Abb.21 und 22: Symbole der Waffenbrüderschaft
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... kein schöneres und imposanteres Bild auf der Welt als die Siegesallee. "
Ahmed Hikmet Müftüoglu Anmerkungen eines eiligen Diplomaten zu den Sehenswürdigkeiten Berlins und dem Gottesbild der Europäer Ahmed Hikmet Müftüoglu (1870-1927), Diplomat und Schriftsteller, hervorgegangen aus der Edebiyat-i Cedide (Neue Literatur), wurde nach 1908 zum einflußreichsten Vertreter des Turkismus, einer stark nationalistischen Strömung. Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer für deutsche und französische Literaturgeschichte übte er zeitlebens politische Ämter aus. Im Frühjahr 1910 reiste er im Auftrag des Ministeriums für Landwirtschaft und Handel durch Europa. Ein reger Briefwechsel und insbesondere sein Tagebuch1, das er für die daheimgebliebene Gattin Suat Hamm führte, geben Aufschluß über Eindrücke und Erkenntnisse des Reisenden. Von London über Belgien auf dem Schienenwege kommend, trifft Hikmet am 30. April in Berlin ein. Unterwegs fallen ihm die ausgedehnten Kiefernwälder und Schonungen zu beiden Seiten der Strecke auf. In den folgenden Tagen, während der zahlreichen Besichtigungen, vertieft sich dieser Eindruck: Das Zentrum Berlins ist ein einziger Park, und die Stadt wird durch diesen Wald in zwei Hälften geteilt. Wir sind nun schon drei Tage in Berlin und haben noch keine Zeit gefunden, aus diesem Wald herauszukommen, um die Innenstadt mit den Geschäftsvierteln zu sehen.2 ... Zwischen Berlin und Potsdam erstrecken sich große Kiefernwälder. Dort, wo es keinen Wald gibt, hat man Tausende von jungen Bäumen gepflanzt, als hätte man Felder angelegt. Hier sind Kiefern sehr beliebt. In unserem Hotel hat man sogar vor den zum Hof gehenden Fenstern in grünen Kästen winzige Bäumchen gepflanzt.3
1 2 3
Herausgegeben von M. Kayahan Özgül unter dem Titel Bîgâne Durmayin §inâmza. Müftüoglu Ahmed Hikmet 'in Mektup, Çiir ve Günlükleri. Istanbul 1996. a.a.O., S. 179. a.a.O., S. 181.
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Ahmed Hikmet Müftüoglu
Als schließlich nach der Abfahrt aus Berlin der Zug die Reisenden wieder stundenlang durch Wälder fahrt, die „eigens angelegt worden sind", stellt Hikmet Überlegungen über das Gottesbild der Europäer an: Bei uns werden all diese wunderbaren Werke der Natur von der Hand des allmächtigen Gottes erschaffen. Deshalb beugen wir uns dieser Macht und erwarten alles von ihr. Hier sind die Werke Gottes wohl nicht so reichlich, und deshalb erwarten die Europäer nicht so viel Beistand von ihm.4 In Berlin logiert Hikmet im Hotel Bristol, Unter den Linden, „für fünf Mark pro Zimmer". Sein erster Weg fuhrt ihn zur osmanischen Botschaft. Der Botschafter Osman Nizami Pascha läßt es sich nicht nehmen, dem in staatlichem Auftrag Reisenden sogleich persönlich die Straßenbautätigkeit im Berliner Umfeld zu zeigen. Bewunderung erfüllt ihn angesichts der breiten, in Mosaik gepflasterten Straßen: „ihre Sauberkeit ist nicht zu beschreiben; Frauen mit Besen in der Hand fegen sie unablässig".5 Begeisterung erweckt auch die Siegesallee mit „etwa vierzig einander gegenüberstehenden Statuen von Königen und Prinzen: Ich kann mir kein schöneres und imposanteres Bild auf der Welt vorstellen".6 Bereits der erste Tag in Berlin ist typisch für den Verlauf der nur sieben Besuchstage: Ein dicht gedrängtes Besichtigungsprogramm, in kurzen Stippvisiten absolviert, zudem von schlechtem Wetter begleitet, steht hinter offiziellen Verpflichtungen zurück. Hierzu gehören Einladungen der osmanischen Botschaft, bei denen auch Enver Bey, damals Militârattaché und späterer Kopf des jungtürkischen Triumvirats, zugegen ist. Nur der obligatorische Theaterbesuch fehlt am ersten Abend. Dafür erlebt der Wagner-Verehrer Hikmet, der begonnen hatte, ein Buch über Leben und Werk des Komponisten zu schreiben, am zweiten Abend einen Höhepunkt seines Berlinaufenthaltes. Endlich darf er den Tannhäuser erleben: ... eine wunderbare Musik. Ich weiß nicht, warum die Franzosen von Wagner nichts begriffen haben. Er ist schwerer und viel kunstvoller als die französische Oper. Tannhäuser habe ich nicht als so laut empfunden. Meine Seele wurde auf den Wellen dieser Musik fortgetragen, als wir um elf Uhr nachts das Opernhaus verlassen mußten.7 Für den nächsten Tag ist ein Potsdam-Besuch vorgesehen, doch eine überraschende Einladung der osmanischen Botschaft läßt Hikmet dorthin eilen. Un4 5 6 7
a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,
S. S. S. S.
185. 176. 177. 178.
Anmerkungen eines eiligen Diplomaten zu den Sehenswürdigkeiten Berlins
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terwegs verirrt er sich und trifft erst mit größerer Verspätung ein. Für Potsdam ist es anschließend zu spät. So wird statt dessen ein Ausflug mit dem Automobil nach Charlottenburg unternommen. Hier fasziniert ihn vor allem das Mausoleum, in dem die marmornen Ebenbilder von Königin Luise, Friedrich Wilhelm III., Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Auguste auf ihren Sarkophagen liegen. Schloß Charlottenburg indes enttäuscht ihn; lediglich das chinesische Porzellan und „der Salon, dessen Wände durch die glänzende Berührung der Blumen geschmückt ist", hält er für erwähnenswert. Der Abend wird im Varieté Wintergarten verbracht, dessen Decke „durch die vielen elektrischen Lampen an den Himmel erinnert". Den Potsdam-Besuch am folgenden Tag absolviert Hikmet mit wenig Begeisterung. Schlösser und Kirchen berühren ihn kaum. Aufmerksam betrachtet er jedoch einen „Wunschbaum" vor den Wohnräumen Friedrichs, „zu dem jeder, der einen Wunsch hatte, täglich zwischen elf und zwölf Uhr kommen konnte". 8 Im Park zu Sanssouci fasziniert ihn die üppige Fliederbepflanzung und in der Bibliothek des Schlosses der reichhaltige Bestand an französischen Büchern. Dem Verhältnis Friedrichs II. zu Voltaire widmet Hikmet nach Besichtigung des Voltaire-Zimmers besondere Beachtung. Selbst das Testament Friedrichs liege in dessen Handschrift auf Französisch vor. Zeit und Wetter nötigen den Besucher bald zur Rückfahrt nach Berlin; im Zug muß er sich mit einem Stehplatz begnügen. Schließlich nimmt ihm der morgens in Berlin angeheuerte Führer statt der vereinbarten sieben nun zwölf Mark ab. Auf dem Weg zum Hotel kommt er an einem Goethe-Denkmal vorbei und ist entsetzt über die Darstellung des „armen Dichters mit dem gekünstelten Ernst eines Juristen oder Diplomaten." 9 Hikmet verzichtet auf den für den Abend geplanten Besuch der Komischen Oper, nachdem man versucht hat, ihm und seinem Begleiter die sieben Mark teuren Eintrittskarten für insgesamt 26 Mark zu verkaufen. Statt dessen machen sie sich einen vergnügten Abend in Speiseund Tanzlokalen. Am nächsten Tag steht ein Besuch des Völkerkundemuseums auf dem Programm. Begleitet werden sie vom Imam der Botschaft: Hier waren Haushalts- und Alltagsgegenstände der Einwohner der deutschen Kolonien in Australien und Afrika ausgestellt. Erwähnenswert sind die mongolischen Schriften, die Abteilungen Buchara und Jemen, die hier ausgestellten Strohhüte sowie mannigfaltige Objekte aus Indien, China und Ja-
8 a.a.O., S. 180. 9 a.a.O., S. 181. 10 a.a.O., S. 182.
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Ahmed Hikmet MUftUoglu
Nach dem Essen wird der Reichstag besichtigt, den Hikmet sachkundig beschreibt: Die Fraktionen sitzen voneinander getrennt. Jeder Platz ist mit dem Namen dessen beschriftet, der dort sitzt. Wir sahen Bebels Platz. Auf dem Rednerpult steht eine Uhr, damit der Redner weiß, wie lange er gesprochen hat. Der Vorsitzende hat zwei Knöpfe vor sich, einen weißen und einen roten. Beginnt jemand zu reden, drückt er auf den weißen, und im ganzen Gebäude ertönt ein Glockenzeichen. Bei einer Abstimmung drückt er den roten, und sogleich erklingt überall ein anderes Glockenzeichen.11 In Hikmets Notizen findet sich auch die Schilderung des „Hammelsprungs": Gibt es bei Abstimmungen Unklarheiten, verlassen die Abgeordneten den Saal durch zwei Türen zu beiden Seiten des Saales. Auf der einen Tür steht JA und auf der anderen NEIN. Auf der NEIN-Tür ist ein Schafbock abgebildet, auf der JA-Tür ein Schaf. Hinter der JA-Tür befindet sich ein Vorraum, an dessen Wand bis zur Decke hinauf kleine Skulpturen hängen. Auf jeder steht ein goldener Buchstabe. Nacheinander gelesen, ergeben diese Buchstaben die Zeile „Erst das Vaterland". Hinter der NEIN-Tür befindet sich ebenfalls ein Vorraum, in dem mit Goldbuchstaben beschriftete Skulpturen hängen, die zusammen gelesen die Zeile „Dann die Partei" ergeben.12 Der Abend gehört einem russischen Ballett in der Komischen Oper. Auf dem Rückweg verirren sich Hikmet und sein Begleiter Yusuf Bey, wie schon einige Male zuvor, und beobachten zahlreiche Menschen, die in Erwartung des fur jene Nacht angekündigten Halleyschen Kometen in den Himmel schauen. Sie selbst lassen sich das Schauspiel allerdings entgehen. Der letzte Tag in Berlin führt Hikmet ins Zeughaus, dessen umfangreiche Waffensammlungen, insbesondere die „Dolche, Krummschwerter, Schilde, Panzer und Säbel der Inder, Perser und Türken", und Ausstellung militärischer Utensilien ihn begeistern: „Bei den Unsrigen finden sich wunderbar mit Türkis und Korallen verzierte Dolche."13 Zur Mittagszeit muß Hikmet ins Hotel eilen: Dorthin hat er den Botschafter mit Gattin sowie Botschaftsrat Fahreddin Bey zu einem Festessen eingeladen. Die Einladung gerät mit der vom Hotel attraktiv gestalteten Tafel zur allseitigen Zufriedenheit.
11 a.a.O. 12 a.a.O., S. 182-183. 13 a.a.O., S. 183-184.
Anmerkungen eines eiligen Diplomaten zu den Sehenswürdigkeiten Berlins
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Der anschließende Besuch im Kaiser-Friedrich-Museum bietet ihm eine „nur mittelmäßige Ausstellung" und im Untergeschoß gar Anlaß zur Aufwallung patriotischer Gefühle: Das „Schattenschlößchen", in der Nähe von Jerusalem entdeckt und dem deutschen Kaiser Wilhelm von Abdülhamid zum Geschenk gemacht14, nimmt hier mit seinen fünfzehn, zwanzig Meter langen und fünf Meter hohen Wänden und der wunderbar gearbeiteten und intarsierten Front die gesamte Stirnseite ein. Es stammt aus sassanidischer Zeit. Daß Abdülhamid solch ein wertvolles Kunstwerk dem Kaiser respektlos überließ, ist Grund genug, ihn zu verfluchen. Blutenden Herzens verließen wir das Museum, um anschließend den Berliner Dom zu besuchen. Hier finden sich keine Statuen. Allerdings sind in den vorderen Reihen zahlreiche Schilder angebracht, auf denen deutsche Namen stehen. Hier werden in der Kirche Plätze verkauft - welch materialistischer Geist! Man hat ein Gotteshaus in ein Handelskontor umgewandelt.15 Trotz des durchaus beachtlichen Programms bedauert Hikmet, wegen des Pfingstfestes und des schlechten Wetters Berlin leider nicht so gründlich wie die anderen Städte gesehen zu haben. Ein Jahr darauf sollte er im Rahmen der türkischen Studienreise erneut Gelegenheit haben, Berlin zu besuchen. Die im Ausland gemachten Erfahrungen mögen dazu beigetragen haben, daß Hikmet sich bald für nationalistische Kreise engagierte.16 Seine Sprache, in der Zeit der Edebiyat-i Cedide noch mit fremdsprachigen Wörtern und Zierat überladen, wurde nüchterner; seine Themen waren nun Vaterland und Nation. 17 Die junge türkische Republik erlebte ihn kurz vor seinem Tode als Berater im Außenministerium.
14 Anläßlich des Besuchs in Istanbul während der zweiten Orientreise Kaiser Wilhelms II. im Jahre 1898. 15 a.a.O., S. 184-185. 16 Hikmet gehörte 1912 zu den Begründern des Türk Dernegi, einem Verein, der sich dem Türkismus verschrieben hatte. 17 Mit der Gründung der Zeitschrift Türk Yurdu (1911) wurde Hikmet zum Verfechter eines von persischen und arabischen Elementen „gereinigten" Türkisch und einer türkischen Nationalliteratur, der Milli Edebiyati.
... des Lobes voll kann ich... berichten. "
Raçid Tahsin Tugsavul Eindrücke vom Kongreß der Psychiatrie und Neurologie Dr. Ra§id Tahsin (Tugsavul, 1870-1936), der 1896 seine medizinische Fachausbildung in Deutschland absolviert hatte und an der Militärhochschule fur Medizin (Askeri Tibbiyé) lehrte, gilt als einer der Begründer der osmanischen Psychiatrie und Neurologie.1 1910 reiste er als Delegierter zum IV. Internationalen Kongreß fiir Neurologie, der vom 2. bis 8. Oktober in Berlin stattfand. In seinem Tagungsbeitrag, auf Deutsch vorgetragen, befaßte er sich mit dem Stand der Neurologie und Psychiatrie im Osmanischen Reich. Referat und Verlauf des Berlinbesuchs hielt Tahsin in dem noch 1910 erschienenen Bericht „Berliner Kongreß über die Geistes- und Nervenkrankheiten"2 fest. Einleitend beschreibt er voller Begeisterung eine parallel zum Kongreß im Reichstag, dem gemeinsamen Veranstaltungsort, eröffnete Ausstellung, in der Pläne, Modelle und Statistiken verschiedener psychiatrischer Sanatorien und Krankenhäuser des Deutschen Reiches gezeigt werden. Besonderen Eindruck macht ihm der zweibändige Ausstellungskatalog, der den Kongreßteilnehmern gratis überreicht wird. Für die Beköstigung an den Kongreßtagen steht mittags ein Büfett bereit mit „günstigen, jedoch köstlichen heißen und kalten Speisen". Auch die ausgesucht höfliche Behandlung der Teilnehmer seitens der Kongreßleitung wie auch der Beamten und Bediensteten des Reichstags beeindrukken den osmanischen Gast. Vor und während des Kongresses werden für die Delegierten feierliche Bankette ausgerichtet:
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Auf Wunsch Professor Rieders, der 1898 mit der Reformierung der osmanischen militärmedizinischen Ausbildung betraut worden war, unterrichtete Tahsin als Facharzt fllr psychische und neurologische Erkrankungen die Studenten an der Militärmedizinischen Hochschule Gülhane. Für seine Verdienste wurde Tahsin vom deutschen Kaiser mit dem „RoteAdler-Orden" ausgezeichnet. Vgl. Mine Çehiralti: „1896-1933 Türk Psikiyatri Egitimi" in Tarih ve Toplum Nr. 184. April 1999, S. 19. Doktor Ra$id Tahsin: Berlin Emrâz-i 'Akliye ve 'Asabîye Kongresi. Istanbul 1326 (1910).
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Raçid Tahsin Tugsavu!
Bis weit nach Mitternacht dauerte das Festessen in einem Restaurant im Tiergarten. Die Herren trugen schwarzen Gehrock oder Frack, die Damen hatten große Toilette angelegt. Während des Festmahls saß meine Wenigkeit zusammen mit dem Vorsitzenden und den Generalsekretären am ersten Delegiertentisch. ... Die Musikkapelle spielte liebliche Melodien. Die angenehme Musik während des Essens, die bunt geschmückten Tische im Saal sowie die Toilette der Damen waren von außergewöhnlich anmutiger Schönheit und gewährten uns Erholung von unseren wissenschaftlichen Diskussionen und Disputen, die wir seit zwei Tagen beständig führten.3 Es folgen zahlreiche Ansprachen; auch Tahsin spricht einige Worte, und die Gläser werden erhoben auf die gastfreundliche Aufnahme, die Fortschritte in der Wissenschaft, insbesondere die wachsende deutsche Rolle in der Wissenschaft, und das Wohl des Kongreßvorsitzenden. Am Nachmittag des dritten Kongreßtages findet eine Ausfahrt „mit einem ungewöhnlich schnellen Zug" nach Potsdam statt, wo sich die Damen den Park von Sanssouci ansehen und die Herren Kliniken für Epilepsie und Psychiatrie besuchen. Weiter geht es per Schiff, von der deutschen Regierung exklusiv bereitgestellt, über den Wannsee zu einem Empfang des Regierungspräsidenten der Provinz Brandenburg. Erst nach einem abendlichen Bankett wird die Gruppe spät in der Nacht nach Berlin zurückgebracht. Der folgende Abend gehört der Berliner Stadtverwaltung, die die Kongreßteilnehmer in ihr „Schloß"4 in der Königstraße einlädt: Es ist ganz unmöglich, hier das Schloß zu beschreiben. Des Lobes voll kann ich nur von den geschmückten Kleidern der Portiers am Eingang, vom herzlichen Empfang der Kongreßteilnehmer durch den Bürgermeister und die Mitglieder der Stadtverwaltung, von dem Speisesaal, der uns 500 Delegierte nur mit Mühe faßte, und von den außergewöhnlich liebevoll geschmückten Tischen berichten. Ich hatte die Ehre, ... am ersten für die Delegierten bestimmten Tisch Platz nehmen zu dürfen. Zu meiner Rechten saß die Gattin Dr. Kraweses, zu meiner Linken der Erste Bürgermeister und mir gegenüber die Gattin des englischen Delegierten. Interessant und erinnernswert scheint mir, daß die Häupter aller Anwesenden im Saal unbedeckt waren. Nur meine Wenigkeit lenkte mit dem roten Fes und der offiziellen Militärkleidung die Aufmerksamkeit auf sich. Ebenso erregte das große Ölgemälde Interesse, welches den Berliner Kongreß darstellte. Auch Mehmed Ali Pascha, Kara Teodori und Sadullah Bey waren auf diesem Gemälde abgebildet.5
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Raçid Tahsin, a.a.O., S. 14. Gemeint ist das heutige „Rote Rathaus". a.a.O., S. 16-17.
Eindrücke vom Kongreß der Psychiatrie und Neurologie
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In der Abschlußsitzung am 7. Oktober wird Tahsin von den 500 Delegierten des Kongresses zum ständigen Mitglied gewählt. Nachmittags besucht er verschiedene Krankenhäuser, darunter das Rudolf- F/rc/zow-Krankenhaus. Am 8. Oktober endet der Kongreß nach dem Besuch weiterer „Heilstätten" in Dalldorf und Herzburg. Hatte Tahsin sich bei früheren Studienreisen in Europa während der „unheilvollen Zeit des Absolutismus" unter Abdülhamid II. stets gewünscht, noch länger bleiben zu können, drängt es ihn jetzt, ohne Aufschub an Reform und Fortschritt in der Heimat mitwirken zu können. Vierzehn seiner delegierten Kollegen lädt er nur eine Stunde nach dem offiziellen Ende des Kongresses zu einem späten Frühstück ein. Die Gruppe läßt ein gemeinsames Abschiedsfoto anfertigen, und schon ist Tahsin unterwegs zum Anhalter Bahnhof, um den Zug nach Wien zu besteigen. Der Spezialist für Neuropsychiatrie wurde nach der Zusammenlegung der militärischen und zivilen Medizin 1909 an der Medizinischen Fakultät in Istanbul tätig. Im Zuge der türkischen Universitätsreform von 1933, die, maßgeblich mit deutscher Hilfe umgesetzt, zur Gründung des modernen Universitätswesens in der Türkei führte, verlor Tahsin seine Lehrtätigkeit und wurde in den Ruhestand versetzt.
„Alle erfüllen ihre Pflicht genau, hundertprozentig und unbedingt. "
ismayil Hakki Baltacioglu Über das Verschmelzen von Disziplin und Kreativität in der deutschen Reformpädagogik Erst ein Jahr an der Istanbuler Ausbildungsstätte für Grundschullehrer Dariilmuallimin-i Iptidaiye als Dozent für Kalligraphie beschäftigt, hatte sich Ismayil Hakki Baltacioglu (1886-1978) 1 , Absolvent des naturwissenschaftlichen Zweiges der Akademie der Wissenschaften (Darülfünun Tabiiyé), bereits einen Namen gemacht als innovativer, auf Kreativität setzender Pädagoge für die bis dahin stiefmütterlich behandelten Fächer Kalligraphie, Kunst und Werken. Seine fachdidaktischen Aufsätze waren mit denen des Schulleiters Sati Bey2 ein Novum für den osmanischen Kulturkreis. So wurde der junge Pädagoge auf Empfehlung der Schulleitung 1910 vom Erziehungsministerium nach Europa geschickt, um sich vor Ort über den Stand europäischer Pädagogik, insbesondere dieser modernen Fächer, „an deren Pädagogik es uns mangelt"3, zu informieren. Nach einem intensiven Studienaufenthalt in Paris, wo sich der Gastschüler des renommierten Grundschullehrerkollegs École Normale de la Seine fast wie „Rousseaus Emile"4 fühlt und erste eigene Einschätzungen wagt, reist Ismayil Hakki weiter über England, Belgien und die Schweiz 1911 nach Deutschland. Die ab 1934 veröffentlichten Memoiren dienen dem 1933 im Zuge der Umstrukturierung des türkischen Bildungswesens aus dem Universitätsdienst Entlassenen nicht nur als Rechtfertigung seiner bisherigen Tätigkeit, sondern geben 1
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Vgl. Ismayil Hakki Baltacioglu: Hayatim. Istanbul 1998, S. 90-99. Die von Sohn Ali Y. Baltacioglu sprachlich redigiert herausgegebenen Memoiren erschienen erstmals 1936-41 als Serie in Ismayil Hakkis Zeitschrift Yeni Adam. Sati el-Husri (1880-1968), pädagogischer Reformer mit individualistischem Ansatz und Vertreter des Osmanismus, bevor er 1919 Istanbul verließ, um die arabische Nationalbewegung zu unterstützen; war 1919-21 Erziehungsminister in Syrien, dann Irak und später Direktor des Instituts für Arabische Studien in Kairo. Vgl. Niyazi Berkes: Arap Dünyasmda Islamiyet, Miliiyetçilik, Sosyalizm, Istanbul 1969, nach Büyük Larousse, Istanbul 1992, Bd. 20, S. 10218 und TCTA, Istanbul 1985, Bd. 2, S. 482. Baltacioglu, a.a.O., S. 96. a.a.O., S. 103.
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Ismayil Hakki Baltacioglu
ihm vielmehr die Möglichkeit, seine pädagogischen Ansichten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So schildert er ausfuhrlich die in den jeweiligen Ländern kennengelernten pädagogischen und philosophischen Ansätze, da „die Pädagogik einer Nation sich nicht außerhalb der Nationalphilosophie bewegen kann". 5 In Deutschland sind es Immanuel Kant mit seiner „Pädagogik der eisernen Disziplin" und seinen Imperativen sowie Arthur Schopenhauer mit dem ausdrücklichen „Lebenswillen" und dem Gespür für das Mystische und Tragische, die ihm den Blick auf „die deutsche Seele" öffnen. 6 Nun entwickelt Ismayil Hakki während seiner Reise eine „eigene, merkwürdige und doch einfache Methode", kultivierte Zivilisationen miteinander zu vergleichen. Habe er für den Vergleich von Frankreich mit England die Pensionsangestellten angeschaut, betrachtet er fur denjenigen zwischen Frankreich und Deutschland die Straßenreiniger: Soweit wir wissen, wird die Straße gefegt, und zwar ohne Wasser, nicht wahr? Der Chirurg Cemil Pascha7 führte uns vor, wie man Straßen schrubbt. Danach hat niemand je wieder gesehen, daß eine Straße geschrubbt worden wäre! In Deutschland jedoch werden die Straßen mit Bächen von Wasser geschrubbt. Mehr noch, sie werden auch getrocknet. Doch auch damit noch nicht genug: mit Gummibesen werden sie auf Hochglanz poliert! Mutet dieses Polieren auch wie eine gewöhnliche Reinigungsarbeit an, so ist es doch nicht einfach. Es gehört schon eine besondere Einstellung dazu, diese Arbeit auf allen Straßen Berlins mit derselben Sorgfalt, Regelmäßigkeit und Leidenschaft zu verrichten. Es gilt, an die Aufgabe zu glauben, sie als absoluten Befehl zu nehmen, der keine Kompromisse duldet, und sie bis auf den letzten Punkt zu erfüllen. Genauso verrichtet der germanische Straßenreiniger seine Arbeit, wie einen Gottesdienst. So sind alle Deutschen, so pflichtbewußt. Schauen Sie sich den Wachsoldaten vor dem Reichstag an, die blonden Kellner, die in den Restaurants bedienen, den Lehrer oder Professor, der pünktlich die Klasse betritt - sie alle erfüllen ihre Pflicht genau, hundertprozentig und unbedingt. Diese Art der Pflichterfüllung verdient Beachtung.8 Um diese unverbrüchliche Pflichtauffassung zu demonstrieren, greift ismayil Hakki in seinen Erinnerungen auf ein späteres Erlebnis mit dem deutschen Kindermädchen einer verwandten Familie zurück. Nicht allein, daß die junge Frau das fünf] ährige Mädchen ihrer Obhut zum Erstaunen der türkischen Beobachter
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a.a.O., S. 106. a.a.O., S. 150. Cemil Topuzlu (1866-1958), Mitbegründer der modernen türkischen Chirurgie und Vorreiter stadtplanerischer Arbeiten in der Türkei, übte 1911-1914 mit vorbildlichem Engagement das Amt des Bürgermeisters von Istanbul aus. Vgl. Büyük Larousse. Bd. 22, S. 11636. Baltacioglu, a.a.O., S. 151.
Disziplin und Kreativität in der deutschen Reformpädagogik
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jeden Abend pünktlich um neun Uhr zu Bett gebracht hätte; auch liebe sie ihren Gatten, den sie einmal wöchentlich an ihrem freien Abend besuchte, nicht „weil er mein Mann ist, sondern weil es meine Pflicht ist". Hier manifestiert sich dem Pädagogen die Kantsche Einheit von Tat und Absicht, die sich in der deutschen Disziplin fortsetze und in der deutschen „Musik, Architektur, Skulptur sowie in persönlichen und originellen Werken findet."9 In Berlin nimmt ismayil Hakki sich ein Zimmer in einer Pension im Stadtzentrum und sucht sogleich die osmanische Botschaft auf. Bei Botschafter Osman Nizami Pascha, kultiviert und hochgebildet, trifft er - anders als bei den osmanischen Vertretern in den zuvor besuchten Ländern - auf wohlwollendes Interesse und überdurchschnittliche Kenntnisse der Landeskultur: das Gespräch wird zu einem ebenso informativen wie anregenden Austausch. Ein mehrmonatiger Berlin-Aufenthalt schließt sich an, den Ismayil Hakki nutzt, sich gründlich in den Erziehungseinrichtungen der Stadt umzutun. Darunter bleiben ihm als wichtigste die Waldschule und die Gemeindeschule in Charlottenburg, das Werner-Siemens-Gymnasium am Viktoria-Luise-Platz sowie das PestalozziFroebel-Haus in Schöneberg im Gedächtnis10: Die pädagogische Vortrefflichkeit der deutschen Nation zeigt sich in den Gewerbeschulen. Meines Erachtens sind die Deutschen, wie die traditionellen türkischen Kupfer- und Eisenschmiede, in der Metallbearbeitung die besten. Eisen, so denke ich mit allen anderen, steht für Solidität und Widerstandsfähigkeit. Als ich jedoch die Eisenschmiedewerkstätten der Berliner Gewerbeschulen besuchte, geriet diese Auffassung ins Wanken. Ich sah, daß, wie Blei und Wachs, auch Eisen es gelernt hatte, sich dem menschlichen Willen zu beugen. ... Der Deutsche ist mit dem Eisen verschmolzen. Sieht man den Deutschen das Eisen bearbeiten, glaubt man, er spreche mit ihm." Hier verschmelzen eiserne Disziplin mit Kreativität, deren Eingang in die Pädagogik der osmanische Studienreisende insbesondere in der Grundschule des „Herrn Seinig" beobachten kann. Sowohl seiner Persönlichkeit als auch seiner Schule und seinem Buch Die redende Hand habe er am meisten zu verdanken. Seinig, der im Gegensatz zu „manch anderen Deutschen angesichts eines Ausländers nicht grollt und von Harem und Orient spricht, zeigt, was er tut, und sagt, was er denkt"12:
9 a.a.O. 10 Ismayil Hakki verweist mehrfach auf den „Brand von Cihangir" 1915, bei dem ihm sämtliche Unterlagen abhanden kamen, weshalb er auch hier keine „vollständige Liste" geben könne, a.a.O., S. 152. 11 a.a.O., S. 153. 12 a.a.O.
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Ismayil Hakki Baltacioglu
In Seinigs Schule sind alle Klassen ein einziges Laboratorium, eine Werkstatt. Über jeder Bank ist eine Steckdose angebracht. Wo nötig, können die Kinder den Stecker in diese Dosen stecken und über Strom verfugen. Merkwürdig ist nur, daß dieser innovative Lehrer, der Klassen als Laboratorien zu benutzen gedenkt, die Gestaltung dieser Klassenräume gar nicht verändert hat. ... Dieselben Bänke für zwei Schüler oder Reihen, dieselben geneigten Pultklappen, dieselbe Ordnung, derselbe Zwang. ... Alles ist beim alten geblieben, das Neue ist dem Alten aufgezwungen wie ein unpassender, falscher Flicken.13 Als Grund hierfür nennt Seinig die Bürokratie. Im Schulgarten erzählt er, wie er, in Selbsthilfe mit den Schülern, einen alten Baum in der Hofmitte zum Umstürzen gebracht habe, da die Schulleitung das Fällen untersagt hatte. Der Schulgarten an Seinigs Grundschule erweist sich als „reich wie ein Schulmuseum". Selbst die Mauern des angrenzenden Gebäudes sind genutzt und mit einer „Himmelskarte" verziert, „die Sterne darauf deutlich markiert, so daß sie noch von weitem zu sehen sind".14 Sehr beeindruckt ist der Pädagoge vom Kunstunterricht an Seinigs Schule: Seinig stellte einen Stuhl vor seine Schüler hin. Schaut ihn euch genau an, sagte er. Kurz darauf nahm er den Stuhl weg. Zeichnet diesen Stuhl, sagte er nun, als hänge er in der Luft, umgedreht und schräg.15 ismayil Hakki ist begeistert von der Phantasie und Logik, die diesen Unterricht prägen: „Die Kinder arbeiten mit Verstand und Gefühl zugleich." Des weiteren macht Seinig den Besucher auf Studien von Menschen und Tieren aufmerksam, „wie sie überall, an jeder Akademie, gefertigt werden". Doch während dort beispielsweise ein Kopf einmal gezeichnet werde, läßt Seinig seine Schüler jedes Motiv „20 bis 30 Mal, in den eigenartigsten, erstaunlichsten und höchst beachtlichen Positionierungen" zeichnen, „ein mächtiger Schlag gegen starren, langweiligen Unterricht." Seither tritt der osmanische Reformpädagoge für eine „personenbezogene, kreative Methode im Kunstunterricht" ein. Die „Hefe zu ihrem Teig" habe er zu einem guten Teil von Seinig bezogen.16 Persönlichen Erinnerungen gibt ismayil Hakki nur Raum, wo sie ihm exemplarisch für deutsche Mentalität stehen: Von Herrn Gross, einem befreundeten Schuldirektor, zum Abendessen eingeladen, besteigt er mit ihm die U-Bahn in Richtung Charlottenburg. Gross fordert den Gast auf, eine Fahrkarte zu kaufen:
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a.a.O., S. 153-154. a.a.O., S. 154. a.a.O. a.a.O., S. 155.
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Ich erschrak. So macht man das bei uns nicht. Man übernimmt die Fahrtkosten für den Gast. Doch ich bin mir noch nicht sicher, welcher Methode der Vorzug zu geben ist.17 Bei Gross daheim diniert der Gast mit dem Hausherrn, seiner Gattin, einer schweizerischen Französin, und den beiden Söhnen; der jüngere von 12 Jahren hat bei Tisch zu stehen: „Diesen Brauch gibt es auch in unserer alten Erziehung, weshalb er mich nicht befremdete."18 Als Gross' Gattin jedoch bald auf das klassische Thema zu sprechen kommt: „Die Türken nehmen viele Frauen, nicht wahr?", reagiert der noch ledige junge Osmane sarkastisch: „Wieviele sollen's schon sein, 60, 70. Ich zum Beispiel habe genau 60 in Istanbul." Erst Gross, „der Türken gegenüber Sympathie hegte", klärt die Sache auf. ismayil Hakki sind diese Familientreffen unverzichtbar, um sein Bild von „den Deutschen" zu vervollkommnen: Will man jemanden mit einem fremden Land bekannt machen ..., so setze man den Ausländer an den Tisch einer [einheimischen] Familie und verbringe einen halben Tag mit ihm. Ich meine das sehr ernst. Das Essen zeigt die Mentalität eines Volkes und den Grad seiner Zivilisiertheit besser als alles andere. Speisen, aus dem Unterbewußtsein der Nationen geboren, zeigen den Grad der Herrschaft über die natürlichen Dinge. Um die Kultur und den Geschmack der Türken zu verstehen, muß man ihren Reis, ihre Blätterteig- und Süßspeisen sowie ihr in Essig eingelegtes Gemüse probieren. Außerdem schafft das gemeinsame Essen die psychologischen Voraussetzungen für eine Verständigung.... Wenn Sie jemanden überzeugen möchten, laden Sie ihn zu sich zum Essen ein.19 Fast überstürzt endet Ismayil Hakkis Europareise, als sich das Klima ihm, dem Türken, gegenüber wandelt: Die Italiener stürmen Tripolis. ... Selbst die deutschen Frauen in der Pension, die stets sehr höflich waren, schienen nun ihre Gesichter abzuwenden. ... Es ließ sich in der Pension nicht mehr aushalten.20 Zurück in Istanbul, setzte Rektor Sati Bey den jungen Heimkehrer als Koordinator der Fächer Kalligraphie, Kunst und Werken ein, so daß er sein mitge17 a.a.O., S. 152. 18 a.a.O. Zu Baltacioglus Umsetzung von Erziehungsmethoden in der eigenen Familie vgl. Tuna Baltacioglu: Yeni Adam Günleri. Istanbul 1998. Der Sohn erinnert sich an einen strengen, doch die Kinder sehr ernstnehmenden und stets nach pädagogischen Grundsätzen handelnden Vater. 19 a.a.O., S. 153. 20 a.a.O., S. 155.
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Ismayil Hakki Baltacioglu
brachtes Wissen in der Praxis erproben konnte. Doch die in der Tradition verhafteten Daheimgebliebenen folgten ihm nur mit Mühe. Auf Intervention eines Kollegen wechselte ismayil Hakki 1913, in einer Zeit rasanter Reformbewegungen, an die Akademie der Wissenschaften (Darülfünun), den Vorläufer der Istanbuler Universität, um dort Pädagogik zu unterrichten. Der Grundstein für eine langjährige engagierte Lehrtätigkeit in Pädagogik, Soziologie, Kultur und Politik war gelegt. Der Ausschluß aus der Universität 1933 gab den Anstoß für die Herausgabe der Zeitschrift Yeni Adam2', die in nur sechs Jahren eine ganze Generation kulturell und politisch mitprägen sollte, und unterbrach die wissenschaftliche Tätigkeit des Reformpädagogen nur kurz.
21 Baltacioglu selbst gibt für die Herausgabe der Zeitschrift 1934 finanzielle Not an, a.a.O., S. 319. Sohn Tuna hält des Vaters „vielseitige Persönlichkeit" fllr den wichtigsten Grund, Tuna Baltacioglu, a.a.O., S . U .
„... so würde die deutsche Kraft genügen, die ganze übrige Kultur Europas aus sich heraus zu schaffen. "
Fünfzig offizielle Gäste Die Studienreise der osmanischen Delegation - ein Meilenstein in den deutsch-türkischen Beziehungen In einer Zeit der weltpolitischen Umbrüche war die Festigung alter Bündnisse und die Suche nach neuen Verbündeten für alle Seiten von größter Bedeutung. Im Osmanischen Reich hatte im Juli 1908 die jungtürkische Revolution das absolutistische Abdülhamid-Regime mit der Wiedereinsetzung der Konstitution abgelöst. Das Deutsche Reich bemühte sich um die Gunst neuer, unbelasteter Repräsentanten des osmanischen Staates. Auf Betreiben des turkophilen Journalisten Dr. Ernst Jäckh1 wurde 1911 eine osmanische Delegation von fünfzig Abgeordneten, Kaufleuten, Offizieren, Verwaltungsbeamten, Landwirten und Publizisten zu einer Informationsreise durch Deutschland eingeladen2. Ein Jahr lang hatten die vom Auswärtigen Amt unterstützten Vorbereitungen gedauert, bis schließlich sowohl die Finanzierung des Projektes durch ein deutsches Bankenkonsortium als auch die perfekte Organisation des Programms gesichert waren. Durch vier Königreiche (Preußen, Sachsen, Württemberg und Bayern) und zwei Hansestädte (Hamburg und Bremen) führte die Reise, in deren Verlauf die Gäste neben Industrie- und Rüstungsanlagen auch den deutschen Fortschritt auf kommunalem Sektor kennenlernen sollten: Kliniken, Feuerwehren, Straßenbahnen, Schlachthöfe, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Zoologische Gärten und Freibäder. Vorrangiges
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Der Heilbronner Journalist Ernst Jäckh (1875-1959) veröffentlichte die Reportagen über seine Ttlrkei-Reisen in dem Buch Der aufsteigende Halbmond-Auf dem Weg zum deutschtürkischen Bündnis. 4. Aufl., Stuttgart 1915. Nach Ilber Ortayli: ikinci Abdülhamit Döneminde Osmanli Imparatorlugunda Alman Nüfuzu, Ankara 1981, S. 119, wirkte der selbsternannte „Orientpolitiker" als von der deutschen Regierung unterstützter Verfechter der panturkistischen Ideologie. 1914 fand sich Jäckh unter den Gründern der Deutsch-Türkischen Vereinigung. Den Rahmen der Studienreise entnahmen wir Klaus Kreiser: „Damenbäder und Kanonengießereien. Zur osmanischen Studienreise nach Deutschland (Juni/Juli 1911)" in Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Nejat Goyunç zu Ehren. Hg. v. Klaus Kreiser und Christoph Neumann. Istanbul 1997, S. 86-114.
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Fünfzig offizielle Gäste
Ziel der als Studienreise deklarierten Propagandavorfuhrung war es, das Zerrbild von Deutschland als reinem Militärstaat zu korrigieren3. Die Gruppe erreichte per Eisenbahn aus Istanbul anreisend am 18. Juni Berlin.4 Ein prominentes Komitee, dessen Ehrenvorsitz Generalfeldmarschall Freiherr von der Goltz übernahm, empfing die Reisenden, die während der 27 Tage in Deutschland rund um die Uhr vorzüglich betreut werden sollten. Auf türkischer Seite leitete Ahmed ihsan Tokgöz die Reise, der, von seinem ersten Deutschlandbesuch 1890 enttäuscht, nun als Herausgeber der Zeitung Servet-i Fiinun maßgeblich an der Vorbereitung beteiligt war. An der Reiseleitung wirkten auf türkischer Seite außerdem noch Süleyman Numan (1868-1925) mit, Professor der Medizin mit Studienerfahrungen aus Berlin, und der Politiker und Publizist Hüseyin Cahid Yalçin (1874-1957), Herausgeber der bedeutenden und auflagenstärksten Tageszeitung Tanin. Hüseyin Cahid, fur eine scharfe Zunge und spitze Feder voller Ironie bekannt, erinnert sich in seinen 1936 vorgelegten Memoiren5: Einige Deutsche strebten die Gründung eines türkisch-deutschen Freundschaftsvereins an. Deshalb wurde eine türkische Delegation nach Deutschland eingeladen.... Die Deutschen taten alles, um uns auf dieser Reise zufriedenzustellen und unsere Augen mit dem glänzenden Fortschritt Deutschlands zu blenden. Ein Ausschuß, gebildet aus bedeutenden Persönlichkeiten, betreute uns mit einem auf die Minute festgelegten Programm rund um die Uhr. Wir sahen schon um 8 Uhr morgens den mächtigen, alten, jedoch rüstigen General Goltz würdevoll und ernst bereitstehen. Nicht ein einziges Mal fehlte ein Mittag- oder Abendessen.6 Eine der auffälligsten Vorlieben der Deutschen sind die Tischreden. Diese Reden beginnen mit der Suppe, und jedesmal, wenn das Gedeck wechselt, hört man eine Ansprache. Sie wird selbstverständlich ins Türkische übersetzt, und unsere Antwort wird auf Deutsch noch einmal wiederholt. Es kam oft vor, daß die Abendessen bis 23 Uhr in der Nacht dauerten. Unter diesen Umständen wurden die Bankette zu einer regelrechten Belastung statt zu einem Vergnügen.7 Gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft kommt es zu einem überraschenden Erlebnis, das die türkischen Gäste in eine gewisse Verlegenheit bringt:
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Vgl. Gustav von Hartmann (Direktor der Orientbank) in Münchener Neueste Nachrichten vom 13. Juli 1911, n. Kreiser, a.a.O., S. 87. Am 5. Juni nach osmanischer Zeitrechnung, also auch im Tagebuch Ahmed Hikmets. „Mejrutiyet Hatiralan (1908-1918)", veröffentlicht in Nr. 154-155 der Zeitschrift Fikir Hareketleri im Oktober 1936. a.a.O., Nr. 154, 3. Oktober 1936, S. 373. Vgl. auch Müftüoglu Ahmed Hikmefin Mektup, Çiir ve Günlükleri. Hg. v. M. Kayahan Özgül. Istanbul 1996, S. 9-10. Zit. n. Kreiser, a.a.O., S. 99.
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Die Studienreise der osmanischen Delegation
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