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German Pages 278 [280] Year 2006
Triviale Minne?
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
40 (274)
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden
Herausgegeben von
Ludger Lieb und Otto Neudeck
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018991-9 ISBN-10: 3-11-018991-7 ISSN 0946-9419 Bibliografische
Information
Der Deutseben
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2006 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Rinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgcstaltung: Sigurd Wcndland, Berlin
Vorwort Der vorliegende Band versammelt elf Beiträge einer Minnereden-Tagung, die vom 3. bis 6. Juni 2004 auf Schloß Eckberg in Dresden stattfand. Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung, die uns durch einen großzügigen Beitrag in die Lage versetzte, vorzügliche Rahmenbedingungen für intensive Gespräche über Minnereden und die Kultur des Spätmittelalters bereitzustellen. Unser Dank gilt sodann in erster Linie den Vortragenden, die sich allesamt nicht nur auf das Thema der Tagung eingelassen, sondern auch pünktlich ihre ausgearbeiteten Manuskripte eingereicht haben, sowie den weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung Ruth von Bernuth, Tobias Bulang, Beate Kellner, Alexander Lasch, Stephan Müller, Christine Stridde, Peter Strohschneider, Michael Waltenberger und Franziska Wenzel. Nicht zuletzt möchten wir uns auch bei Kristin Duschek und Linda Webers bedanken, die uns bei der Tagungsorganisation geholfen haben, bei Lucas Glombitza, der das Register erstellt hat, sowie bei dem freundlichen und umsichtigen Personal von Schloß Eckberg. Für die Aufnahme in die Reihe und konstruktive Kritik danken wir schließlich Werner Röcke und Ernst Osterkamp. Dresden und München, im März 2006 Ludger Lieb und Otto Neudeck
Inhalt
LUDGER LIEB u n d OTTO NEUDECK ( D r e s d e n / M ü n c h e n )
Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung SUSANNE KÜBELE (Erlangen) Die Kunst der Übertreibung. Hyperbolik und Ironie in spätmittelalterlichen Minnereden
1
19
JENS HAUSTEIN ( J e n a )
Geblümte Rede als Konvention?
45
M \ N F R E D KERN ( S a l z b u r g )
,Parlando'. Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität und europäischer Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu Rosenplüt und Boccaccio)
55
THOMAS HONEGGER ( J e n a )
Triviale Liebeserklärungen? Bemerkungen zu einem problematischen Sprechakt in der mittelenglischen Literatur
77
JACOB KLINGNER ( D r e s d e n )
,Der Traum' — ein Uberlieferungsschlager? Uberlieferungsgeschichtliche Beobachtungen zu einer ,populären' Minnerede des 15. Jahrhunderts
91
ANN MARIE RASMUSSEN ( D u r h a m / N C )
Masculinity and the Minnerede: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186 (Livonia, 1431)
119
WOLFGANG ACHNITZ ( M ü n s t e r )
Heilige Minne. Trivialisierung und Sakralisierung höfischer Liebe im späten Mittelalter
139
VIII
Inhalt
STEFAN MATTER (Fribourg)
Minneszenen in der bildenden Kunst des späteren Mittelalters und ihr Verhältnis zu Minnereden
165
SUSANNE BRÜGEL (Zürich)
Minnereden als Reflexionsmedium. Zur narraüven Struktur der ,Minnelehre'Johanns von Konstanz . . . .
201
MARGRETH EGIDI ( K o n s t a n z )
Ordnung und Überschreitung in mittelhochdeutschen Minnereden. ,Der M n n e Gericht' des Ellenden Knaben RALF S C H L E C H T W E G - J A H N (Bayreuth) Hadamars von Laber Jagd' als serielle Literatur
225 241
Expose der Tagung
259
Abkürzungsverzeichnis
263
Register I. Minnereden II. Handschriften und Drucke III. Namen, Werke, Begriffe, Sachen
265 266 267
LUDGER LIEB UND OTTO NEUDECK
Zur Poetik und Kultur der Minnereden Eine Einleitung Die größte Gruppe unter den weltlichen deutschen Texten des Spätmittelalters stellen die sogenannten ,Minnereden' dar. Diese insgesamt wenig bekannten Texte standen im Zentrum einer Tagung, die Anfang Juni 2004 in Dresden stattfand. Unter der leitenden Fragestellung, inwiefern diese Texte Aspekte des Trivialen aufweisen bzw. inwiefern sie eine Form der ,trivialen Minne' propagieren, diskutierten Nachwuchswissenschafder und renommierte Fachvertreter über die rhetorischen, philologischen und kulturwissenschaftlichen Dimensionen der Minnereden. Der vorliegende Band dokumentiert mit seiner Einführung und elf Beiträgen die Diskussionen und Ergebnisse der Tagung. 1 Im folgenden skizzieren wir zunächst die Problemlage, die sich im Blick auf die Erforschung der Minnereden ergibt (I.). In einem zweiten Schritt differenzieren wir mit Hilfe der Trivialliteraturforschung die Fragestellung, um verbunden damit Grundzüge einer Poetik und Kultur der Minnereden zu entwickeln (II.). Im letzten Abschnitt stellen wir dann die Beiträge des Bandes systematisch vor und ordnen sie in den Diskussionskontext der Tagung ein (III.).2
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2
Der Vortrag, den Michael WALTENBERGER auf der Tagung hielt, ist andernorts erschienen: Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 248-274. Neu hinzugekommen ist der Beitrag von Ralf Schlechtweg-Jahn. Das Expose zur Tagung, das wir im Frühjahr 2003 verfaßten und auf das sich mehrere Beiträgerinnen und Beiträger beziehen, ist am Ende des Bandes, S. 259-262, abgedruckt.
2
Liudger Ueb und Otto Neudeck i.
Über 500 ,Minnereden' 3 mit z.T. umfänglicher und variantenreicher Parallelüberlieferung sind aus dem späten Mittelalter erhalten. Dies läßt darauf schließen, daß innerhalb des deutschen Adels sowie städtischer Ober- und Mittelschichten ein besonderes Interesse an Texten von etwa 50 bis 600 Versen Umfang bestand, die nicht als Lieder oder auktoriale Erzählungen, sondern als zu lesende oder vorzulesende Ich-,Rede' Probleme, Bedingungen und Regeln der Minne darstellen und diskutieren. Dabei überrascht nicht der Sachverhalt an sich, denn ein — wie auch immer geartetes — Interesse an der Liebe ist seit Menschengedenken in allen Kulturen vorhanden. Staunenswert ist vielmehr die Art und Weise dieser textuellen Verhandlungen. Mit Schlagwörtern ließe sich die ,Gattung' 4 der Minnereden folgendermaßen umreißen:
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Forschungsgrundlage bilden immer noch die großen Arbeiten, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts erschienen sind, nämlich Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25) [vgl. demnächst die völlige Neubearbeitung dieses Repertoriums durch Jacob Klingner und Ludger Lieb: Handbuch Minnereden (mit Auswahledition); erscheint bei de Gruyter, Berlin]; Walter Blank: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform. Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34); Ingeborg Glier: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34). - Ein instruktiver Forschungsüberblick findet sich jetzt bei Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hg. von Hans-Jochen Schiewer. Bd. 2. Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C: Forschungsberichte 6), S. 197-255. Aufgrund der weitgehend fehlenden Institutionalität des Literaturbetriebs, wegen der Unmöglichkeit einer umfassenden Systematisierung und wegen des Fehlens kohärenter Merkmalsstrukturen sind die Minnereden nach modernen Kriterien kaum als Gattung zu bezeichnen. Doch ist es prinzipiell sinnvoll, den Gattungsbegriff auch für Texte des deutschen Mittelalters zu benutzen, wenn sich „klar umgrenzte Werkreihen in konkretem historischem Zusammenhang" rekonstruieren lassen; vgl. Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.—11. Oktober 1997. Hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193-210. Ob die Minnereden klar genug umgrenzt sind und der historische Zusammenhang konkret genug ist, wird man kontrovers beurteilen, je nach dem, welche Minnereden man im Blick hat. Unserer Einschätzung nach läßt sich der überwiegende Teil der überlieferten Minnereden als Textreihe mit klaren Grenzen und konkreten Zusammenhängen beschreiben, weshalb wir hier den Gattungsbegriff verwenden. - Neuere Definitions- und Differenzierungsversuche des überaus umfangreichen Textkorpus finden sich bei Wolfgang Achnitz: Kur^ rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden'. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137-149, und Ludger Lieb: Minnerede. In: RLW 2 (2000), S. 601-604.
Umleitung
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weitgehende Anonymität der Verfasser und meist fehlendes Autorbewußtsein bei gleichzeitig ostinater Ich-Rede; erhebliche Konventionalität auf allen Ebenen des Textes, 5 sprachliche und inhaltliche Stereotypie (Formeln, Schemata etc.); vielfach nur Bestätigung des immer schon Gewußten; Pointenlosigkeit; häufig ausufernde Rede (amplificatio) und gleichzeitig ständige Forderung nach Verschwiegenheit; Dominanz von — oft didaktisch vermittelten und aufzählbaren - Minnetugenden und Minneregeln, die nicht selten allegorisch dargeboten werden; ein Uberwiegen von diskursiven Elementen, während Narratives kaum je ein Eigengewicht erhält (typisch sind narrative Rahmungen von Minnegesprächen); meist weitgehende Ausblendung von institutionalisierten Geschlechterbeziehungen (Ehe, Familie, Genealogie, Kloster, Arbeitswelt etc.) wie auch von körperlichen und sexuellen Aspekten (Nacktheit, Berührung, Geschlechtsverkehr, Zeugung von Nachkommen etc.); zugleich Propagierung illegitimer und meist geheimer, aber moralisch unanfechtbarer (asexueller?) Beziehungen. Minnereden vermitteln nicht nur ein Wissen über die Liebe, sondern auch ein Wissen über das Reden von der Liebe (weshalb hier von einem spätmittelalterlichen ,Minnediskurs' gesprochen werden kann) 6 , und sie tun dies ganz anders als die heute noch faszinierenden Texte vormoderner Kulturen zum Liebesthema — wie etwa die Geschichten von Dido und Aeneas oder Tristan und Isolde. Zeichnen sich diese durch eine inkommensurable Mixtur von ästhetischer Subtilität und anthropologischer Universalität aus, formulieren Minnereden ihre selbstsicheren Aussagen über (heimliche) Liebe ohne großen ästhetischen Aufwand, wenn sie ihre unbedingten, ,ökonomischen' und quantifizierbaren Gesetze und Geltungsansprüche nachgerade lapidar propagieren. Der in ihnen stets als Träger der Minnereflexion und des Minnediskurses vorhandene IchSprecher entpuppt sich noch dazu — trotz all seiner Betroffenheitsbekun5
6
Zum Thema ,Konventionalität' vgl. jetzt Ludger Lieb und Peter Strohschneider: Zur Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ,Minnegericht'. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001. Hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und Rene Wetzel. Tübingen 2005, S. 109-138. Vgl. Rüdiger Schnell: Die ,höfische' Liebe als ,höfischer' Diskurs über die Liebe. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), S. 231-301.
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Ludger Lieb und Otto Neudeck
düngen (Minneleid, Minnefreude) — als papierene Figur, als „IchHohlform" 7 , deren anthropologische Authentizität eher fragwürdig bleibt. Aufgrund derartiger textueller Verhandlungen über die Minne sprechen uns die meisten Minnereden heute weder ästhetisch noch inhaltlich unmittelbar an. Dennoch bleibt die Tatsache staunenswert, daß Minnereden im Spätmittelalter immer wieder produziert und distribuiert werden, was auf ein — wie auch immer geartetes — Interesse an diesen Texten schließen läßt. Hier genauer nachzufragen, dürfte gerade einer Mediävistik angeraten sein, die sich kulturwissenschaftlich neu konstituiert und die zugleich ihre philologischen Kernkompetenzen nicht vernachlässigt. Selbst wenn viele Minnereden bei der ersten Lektüre ästhetisch wenig bieten mögen: Ihre textuellen Verhandlungen wie auch ihre kommunikativen Praxen sind — wie zu zeigen sein wird — kulturwissenschaftlich doch aufschlußreich, unter Umständen sogar brisant. Zu erwarten ist freilich nicht, daß eine Gattung wie die Minnerede sich gleichsam selbst für kulturwissenschaftliche und anthropologische Fragestellungen anböte; dazu fehlen ihr sowohl die entsprechenden Inhalte (anders als etwa dem Märe, in dem inhaltlich genuin anthropologische Themen wie Gewalt, Sexualität und Tod dominieren) als auch historische Daten, die den kulturellen Kontext der Texte sichtbar machten (solche sind allenfalls in Einzelfällen erkennbar und gewähren zudem meist große Interpretationsspielräume 8 ). Vielmehr ist die kulturanthropologische Dimension fast nur auf dem Weg philologischer Erschließung erreichbar, d.h. einerseits im Rückgriff auf die Überlieferung in Handschriften und Drucken und andererseits durch interpretatorische Arbeit an der rhetorischen, strukturellen und kommunikativen Verfaßtheit der Texte. In der gegenwärtigen und zukünftigen Minneredenforschung müssen daher Philologie und Kulturwissenschaft in enger Kooperation vorgehen. Wie dies aussehen könnte, mögen die Beiträge des vorliegenden Bandes exemplarisch illustrieren.
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8
Ingeborg Glier (Anm. 3), S. 394—397, hat als erste von ,Ich-Hohlform' gesprochen. Den Begriff verwendet später auch Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Mittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (MTU 87), S. 74 u. ö. Vgl. hierzu etwa Burghart Wachiiiger: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: DVjs 56 (1982), S. 386-406, bes. S. 401 ff.
Einleitung
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II. Um einen solchen Zugriff auf und eine Diskussion über die Minnereden anzuregen, stand die Dresdner Minneredentagung unter dem Titel „Triviale Minne?". Mit dem Begriff des Trivialen' wurde jener Aspekt in den Vordergrund gestellt, der die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Minnereden stets erschwert hat: die unübersehbare Dichte an Wiederholungen in diesem Textkorpus und die damit verbundene negative Bewertung der Minnereden. Zugleich sollte die Bezeichnung ,trivial' heuristisch dazu dienen, mittels eines forcierten Anachronismus zu einem besseren Verständnis des Phänomens der Minnereden zu gelangen. Der Begriff des Trivialen' erschien uns also in mehrfacher Hinsicht geeignet, Anstöße zu kritischer, gleichwohl produktiver Reflexion geben zu können, was — im Rückblick auf die Ergebnisse der Tagung - auch eingelöst wurde: 1. Der Begriff des Trivialen', genauer seine denunziatorische Komponente, provozierte erstens den Widerspruch, Minnereden seien alles andere als trivial, unter ihnen gebe es sehr wohl subtile ästhetische Gebilde, die von hoher Komplexität und keineswegs von einsinniger und erwartbarer Argumentation geprägt seien. Für einzelne Texte (insbesondere für Großformen wie die ,Minneburg' und Hadamars Jagd") oder Autorenoeuvres (wie etwa das des Hermann von Sachsenheim) läßt sich dies in der Tat zeigen, und eine Auffassung dieser Minnereden als unbedingt interpretierenswerte, komplexe literarische ,Werke' ist durchaus möglich. 9 Gleichwohl bleibt zu bedenken, daß die literaturgeschichtliche Konzentration auf gerade diese Gattungsvertreter und die an ihnen entwickelten Thesen kaum die dominanten Aspekte der Gattung als ganze treffen. Der Widerspruch gegen den ,Trivialitätsverdacht' kann also zwar den überaus wünschenswerten Effekt haben, Minnereden in der Germanistik überhaupt (wieder) ernst zu nehmen und wenig bekannte Werke des deutschen Spätmittelalters ins Forschungsgespräch zu bringen. Doch muß dabei stets bedacht werden, daß die Auffassung von Minnereden als ,literarische Werke' und die damit einhergehenden Erwartungen an den Untersu9
Welch kreatives Potential in manchen Minnereden steckt, zeigt ihre poetische Gestaltung, die den souveränen Rückgriff auf das tradierte Formen- und Themenrepertoire von vorgängigen, ,hoch-literarischen' Texte erkennen läßt. Dies demonstrieren beispielhaft bereits die kleineren Minnereden des Hermann von Sachsenheim. Vgl. hierzu Otto Neudeck: Erzählerische Selbstinszenierung zwischen Kultur und Natur. Zur immanenten Poetologie des Sexuellen in Hermanns von Sachsenheim ,Grasmetze'. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hg. von Alan Robertshaw und Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 204-213, sowie ders.: Gefahren allegorischer Kommunikation. Zur prekären Konstituierung adliger Exklusivität in einer Minnerede Hermanns von Sachsenheim (,Die Unminne'). In: PBB 124 (2002), S. 74-91.
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Ludger Lieb und Otto Neudeck
chungsgegenstand bereits poetologische Vorentscheidungen beinhalten, die den Blick auf die Gattung eher verstellen. Auch kann es nicht um eine ,Ehrenrettung' der Minnereden gehen — jedenfalls nicht in dem Sinne, daß nun endlich der Wert dieser Texte innerhalb des Koordinatenfelds neuzeitlicher Poetik und Ästhetik gefunden werden könnte. Würden die Merkmale des ,Trivialen' schlechthin negiert, geriete eine Beschäftigung mit den Minnereden zum einmaligen und fruchtlosen „Gestus der historischen Korrektur, der ,Wiedererweckung' des Marginalen, Entrechteten, Unterdrückten". 1 " Für eine auch kulturwissenschaftlich relevante Fragestellung muß sich der Blick auf die Texte grundsätzlich ändern. 2. Der Begriff des ,Trivialen' sollte daher zweitens dazu anregen, sich mit der modernen Trivialliteraturforschung und deren Einsichten und Problemkonfigurationen auseinanderzusetzen, um das Phänomen der Minnereden neu zu begreifen oder zu befragen. Die These etwa, daß sich der Begriff ,Trivialliteratur' in der Neuzeit klassifizierend nur auf „literarische Gattungen beziehen [kann], die völlig durch das in ihnen verwirklichte Schema bestimmt sind", und daß es daher „keine trivialen Einzelwerke, sondern nur triviale Gattungen" geben kann,11 führt im Blick auf die Minnereden des Spätmittelalters zu der Erkenntnis, daß die einzelne Minnerede ihren Status nicht als einzelnes (triviales) Werk erhält, sondern daß sie, indem sie ein Schema umsetzt, Repräsentant einer trivialen Gattung ist (und daher anonym überliefert, nicht leicht unterscheidbar und nicht als einzelne interpretierbar ist). Der Fokus der Untersuchung müßte sich demzufolge wieder mehr auf die gattungskonstituierenden Elemente und weniger auf den einzelnen Text richten. Fragt man, inwiefern die wichtigsten Merkmale neuzeitlicher Trivialliteratur (,Fiktionalität', ,Massenhaftigkeit', ,ästhetische Abwertung' und funktionale Abwertung 1 ) 12 auch auf die Minnereden zutreffen, entdeckt man allererst Problemlagen, die bislang weitgehend hinter dem Etikett ,didaktische Literatur' verborgen blieben: Ob Minnereden ,fiktionale' Texte sind, hängt vom Status ab, den man der Ich-Rede und ihrer Referentialität einräumt; ob Minnereden tatsächlich ein ,Massenphänomen' 10
11
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Christian Kiening: Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven. In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik. Hg. von Hans-Jochen Schiewer. Bd. 1. Bern u. a. 1997 (Jahrbuch für Internationale Germanistik C 5/1 [1996]), S. 11-129, hier S. 39. Zdenko Skreb: Trivialliteratur. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur. Hg. von dems. und Uwe Baur. Innsbruck 1984 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 18), S. 9-31, hier S. 18. Vgl. Günter Fetzer: Das gefesselte Bewußtsein. Zu Theoremen der Neuen Linken in der Trivialliteraturforschung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 11 (1979), S. 8 5 101.
Einleitung
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darstellen oder ob sie als ein solches nur aus der Perspektive der Forschung erscheinen, die die Minnereden aus spätmittelalterlichen Sammelhandschriften zusammensucht, vergleicht und ordnet, müßte neu bedacht werden; die Frage, ob die ästhetische Sorglosigkeit der Minnereden mit ihrer ,Abwertung' durch Trägerschichten des ästhetischen Geschmacks korrespondiert, wirft das Problem auf, welche Instanzen im Spätmittelalter überhaupt literarische Produktion bewerten (die Gelehrten? die Kleriker?); ob eine funktionale Abwertung im Sinne einer Popularisierung' des Themas Minne diagnostiziert werden kann, hängt wesentlich von einer Kenntnis der Kommunikationsgemeinschaften ab, für die und in denen Minnereden produziert und rezipiert wurden. 13 Auch für weitere Fragen nach literatursoziologischen und kommunikationspragmatischen Funktionen kann ein Blick auf die Trivialliteraturforschung aufschlußreich sein, denn hier wird etwa unter dem soziologischen Label des ,Bedürfnisfunktionalismus' eine „textkonstituierende Relation zwischen Textproduktion und Leserbedürfnissen" angenommen 14 (aufgrund derer moderne Trivialliteratur immer auch unter Ideologieverdacht gerät), und es werden textuelle Konstellationen mit textexternen gesellschaftlichen Konstellationen, etwa Herrschaftsstrukturen, in Verbindung gebracht. Ausgehend von derartigen Überlegungen wäre für den Bereich der Minnereden nicht nur zu fragen, welche Bedürfnisse mit der Produktion und Rezeption dieser Texte befriedigt werden (Unterhaltung?, Belehrung?, Präsenzerfahrung?), sondern auch, inwieweit in den stereotypen Konstellationen (ζ. B. Dominanz der Ich-Rolle, Exile-andReturn-Schema, Personifizierung innerer Zustände, Gerichtsszenen) spezifische Wissensordnungen und anthropologische Grundprobleme der spätmittelalterlichen Gesellschaft prozessiert werden — etwa die Quantifizierung und Enzyklopädisierung aller Lebensbereiche (auch des affektiven Erlebens), die Ausdifferenzierung des Individuums im Prozeß gesellschaftlicher Pluralisierung oder die Notwendigkeit von Imagination und Utopie in einer als gestört erlebten Welt. 15 In diesem Zusammenhang ist 13
14 15
Vgl. Peter Strohschneider: Ritterromantische Versepik im ausgehenden Mittelalter. Studien zu einer funktionsgeschichtlichen Textinterpretation der ,Mörin' Hermanns von Sachsenheim sowie zu Ulrich Fuetrers ,Persibein' und Maximilians I. ,Teuerdank'. Frankfurt/M. u. a. 1986 (Mikrokosmos 14); Achnitz (Anm. 3), S. 245. Darauf verweist Gabriele Scheidt: Der Kolportagebuchhandel (1869—1905). Eine systemtheoretische Rekonstruktion. Stuttgart 1994, S. 33. Für das Verhältnis von textinterner und textexterner Kommunikationssituation vgl. Ludger Lieb und Peter Strohschneider: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. von Gert Melville und Peter von Moos. Köln - Weimar - Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275-305.
8
Liudger Ueb und Otto Neudeck
im übrigen auf die ausgesprochen wirkmächtige Rolle von ,trivialer' Literatur für die Codierung von Gefühlen hinzuweisen: Ähnlich nämlich wie die moderne Trivialliteratur Emotionen codiert, einübt und durch Reiz und Befriedigung affirmiert, dienen Minnereden der Ausbildung und Tradierung eines literarischen Codes von Emotionalität, einer sprachlichen Bemächtigung, Bewältigung und Konstitution körperlicher Triebe. 16 Schließlich darf festgehalten werden, daß auch und gerade für die Projekte historischer Anthropologie und historischer Diskursanalyse ,triviale' Formen der Literatur von exemplarischer Bedeutung sind, weil sie „als populäre semiotische Kraftzentren [...] in vergröberter und vereinfachter Form die Episteme eines Zeitalters reflektieren und dabei selbst mitschaffen"." 3. Der dritte Aspekt, weshalb uns der Begriff des ,Trivialen' als Anstoß für das Tagungsgespräch über die Minnereden geeignet erschien, war die unübersehbare historisch-systematische Differenz zwischen neuzeitlicher Trivialliteratur und einer spätmittelalterlichen Gattung. Das Wissen um diese Differenz muß aber nicht notwendig zu einer Negierung des Begriffs führen (wie unter Punkt 1. beschrieben), sondern kann auch benutzt werden, um die (unter Punkt 2. angedeuteten) Konvergenzen zu einem spezifisch (spät)mittelalterlichen Begriff des Trivialen weiterzuentwikkeln.18 Folgende Differenzen sind zu nennen: Im Spätmittelalter fehlte ein aus differenzierter Literaturbetrieb. Für die kontinuierliche Pflege weltlicher Literatur standen hier nur bedingt Zeit und Kompetenz zur Verfügung. Der Adel kümmerte sich mehr um die festliche Repräsentation, für die Literatur nur bedingt taugte. Das Interesse der Kirche richtete sich in 16
Vgl. Otto Neudeck: Integration und Partizipation in mittelhochdeutschen Minnereden. Zu ästhetischen Kriterien vormoderner Literatur. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften / Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences 9 (2005), S. 1-13. Zur historischen Emotionalitätsforschung vgl. die Arbeiten, die in letzter Zeit im Umkreis des Berliner SFB 447 „Kulturen des Performativen" erschienen sind, verwiesen sei vor allem auf den Sammelband: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten. Berlin - New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1). Zur ,Codierung von Intimität' vgl. auch Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 60).
17
Laurenz Volkmann: Trivialliteratur. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart - Weimar 2001, S. 644£, hier S. 645. Vgl. zum folgenden auch Ludger Lieb: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. DFGSymposion 2000. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart - Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506-528.
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Einleitung
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erster Linie auf die Förderung und Verbreitung von geistlich-didaktischen oder liturgienahen Texten. Und die wohlhabend gewordenen Handwerker, Kaufleute und Händler mußten sich — so sie denn überhaupt Interesse an Literatur hatten — zuerst einmal die notwendigen Voraussetzungen für einen funktionierenden Literaturbetrieb erarbeiten (am frühesten gelang das wohl im Meistergesang). Ansätze eines Marktes für weltliche Literatur finden sich erst im Laufe des 15. Jahrhunderts. Die Alphabetisierung war zwar weiter fortgeschritten, doch von einer umfassenden Lese-, geschweige denn Schreibfähigkeit war man noch weit entfernt. Zudem suchten Sammler und Schreiber — eher rückwärtsgewandt — die oft nur schwer verständlichen Texte der ,Meister' des hohen Mittelalters durch Abschriften zu konservieren. Aus all diesen Gründen blieben literarische Neu-Produktionen nicht selten lokal und zeitlich begrenzte Einzelereignisse. Die Voraussetzung für ,Trivialliteratur' im modernen Sinne, nämlich die Ausdifferenzierung in eine ,hohe' und eine ,niedere' Literatur mit den entsprechenden Rezipienten, Distributionsformen und Autorenrollen war kaum gegeben. Auch medientechnisch bestehen erhebliche Unterschiede, vor allem weil die Minnereden noch weitgehend an die Handschrift gebunden sind.19 Für die Minnereden kann überwiegend noch eine enge, oft exklusiv personale Verknüpfung von Textproduzenten und -rezipienten vorausgesetzt werden, was im Zeitalter massenhafter Reproduzierbarkeit (bereits seit dem 16. Jahrhundert) kaum mehr gegeben war. Die handschriftliche Distribution ermöglicht und erfordert ein ganz anderes Involvment von Produzent und Rezipient als der Vertrieb von Druckerzeugnissen, die für einen Markt produziert werden. ,Trivial' im Sinne von niederer, anonym rezipierter und tausendfach vertriebener, billiger Literatur konnten Minnereden nie werden. Ihre Popularität, die die relativ hohe Zahl an überlieferten Texten irgendwie indiziert, ist schon nicht einmal zu vergleichen mit der Popularität etwa von gedruckten Schwankbüchern und Ritterromanen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 20 Eine soziologische und ästhetische Abwertung der Minnereden ist in den zeitgenössischen Diskursen ebenfalls kaum zu erkennen. Zwar gibt es vereinzelt Hinweise auf stadtbürgerliche Produktions- und Rezeptionskreise, die sich auch in sozialer Differenz zum Adel sahen. Doch lassen 19
20
Zum (partiellen) Übergang der Gattung von der Handschrift in den Buchdruck vgl. jetzt Jacob Klingner: Minnereden im Druck. Studien zur Gattungsgeschichte im Zeitalter des Medienwechsels. Diss, masch. Berlin 2004. Trivialliteratur in der frühen Neuzeit meint daher auch eher die Druckliteratur nach der Reformation, als es galt, aufgrund der Konfessionalisierung und der verstärkten Schulbildung erhebliche Lesebedürfnisse zu befriedigen. Vgl. z.B. Francis B. Brevart: Spätmittelalterliche Trivialliteratur. Methodologische Überlegungen zu ihrer Bestimmung und Erforschung. In: ASNS 224 (1987), S. 14-33.
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hudger Ueb und Otto Neudeck
sich Minnereden sicher nicht wie die Trivialliteratur als Literaturkomplex beschreiben, „den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren". 21 Um einen spezifischen Begriff von Trivialität für spätmittelalterliche serielle Literatur zu entwickeln, könnte man bei dem Gedanken ansetzen, daß Trivialliteratur sehr stark auf Bedürfnisbefriedigung abzielt. In diesem Sinne erfüllen auch Minnereden die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer zeitgenössischen Rezipienten. Statt Irritationen und Polysemien bieten sie erwartbare Handlungen und eindeutig decodierbare Texte. Anders aber als in der neuzeitlichen Trivialliteratur, in der die Trennung von Autor und Leser relativ starr bleibt,22 scheint die Trivialität der Mnnereden von einer andersartigen Praxis der Textproduktion und -rezeption geprägt zu sein. Kennzeichnend für diese - auch im Vergleich mit der deutschen Literatur des hohen Mittelalters — veränderte Textpraxis ist die Reduktion emphatischer Autorschaft und die Pluralisierung dichterischer Kompetenz auf der einen Seite und reziprok dazu die Verstärkung der Partizipation des Rezipienten auf der anderen Seite. Bei der Textproduktion äußert sich diese ,triviale' Textpraxis nicht nur in der Anonymität der Verfasser oder in der Konventionalität der Formen und Inhalte,23 sondern auch in einzelnen überlieferungsgeschichtlichen Phänomenen des Um- und Weiterschreibens von Texten. 24 Auf der Seite der Rezeption findet sie in der obligatorischen Ich-Rede, in der für jeden offenen ,Ich-Hohlform', ihren Ausdruck: Die Konventionalität der Ich-Rolle führt dabei sowohl zu einer Ent-Individualisierung als auch gleichzeitig zur Konstruktion von Individualität nach Maßgabe kollektiver Erwartungserwartungen. 25 Bei den
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Helmut Kreutzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. In: DVjs 41 (1967), S. 173-191, hier S. 185. Allerdings sind auch in der Trivialliteratur .Verschiebungen in der Textproduktion und Rezeptionszuweisung' beobachtbar, die jedoch hier nicht weiter ausgeführt werden sollen; vgl. Jörg Schönert: Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 272-299. Vgl. Lieb / Strohschneider (Anm. 5). Vgl. Neudeck (Anm. 16), S. l l f . ; Ludger Lieb: Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Minnereden. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. [Kolloquium Durham/Newcastle 2001], Hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon. Berlin - New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 143-161. Damit läßt sich die Rolle der Minnereden durchaus mit der Rolle der Beichtpraxis im Entstehungsprozeß neuzeitlicher Individualität vergleichen, wie sie Alois Hahn beschrieben hat: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Ziviüsationsprozeß. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 407-434; vgl. auch Lieb / Strohschneider (Anm. 5), S. 284-286.
Einleitung
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Minnereden ist also, analog zum Meistergesang, eine Grenzüberschreitung von Textproduzent und Rezipient zu konstatieren. 26 Spätmittelalterliche ,Trivialität' äußert sich daher auch in der Unabschließbarkeit der Textproduktion. Diese wiederum zeigt sich nicht nur in der Varianz der Einzeltextüberlieferung, 27 sondern auch darin, daß Minnereden typischerweise am Ende offen, unabgeschlossen sind bzw. eine Wiederholung einfordern. 28 Minnereden waren — so ist aufgrund der Uberlieferungslage zu vermuten — ursprünglich unfeste Texte, transitorische Konstrukte, Momentaufnahmen im Prozeß des Weiterdichtens 29 und — später auch — des Weiters chreibens. Findet das Reden über die Minne kein Ende, keine feste Form, so ergießt es sich anscheinend in immer neuen Schüben zu einer permanenten Selbstbestätigung von mehr oder weniger allgemeingültigen Prämissen und Leitideen. Offenbar mußte eine Minnereden-,Konversationsmaschine' 30 am Laufen gehalten werden — nicht um der Produktion von literarischen Texten willen, sondern zur kommunikativen Selbstvergewisserung einer wie auch immer gearteten (adligen? städtischen?) Interessengemeinschaft. Spätmittelalterliche Trivialität wäre dann insofern ein Massenphänomen, als ihr die Tendenz zu ,unendlicher' Wiederholung eingeschrieben ist. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der ,Trivialisierung' von Bedeutung, denn mit ihm läßt sich ein Prozeß fassen, der für spätmittelalterliche Literaturproduktion allgemein charakteristisch ist. Dominante Problemlagen, Paradoxien und Faszinationstypen hochmittelalterlicher Literatur geraten im Spätmittelalter zunehmend in die Verfügungsgewalt einer größeren Gruppe von Textproduzenten. In diesem Prozeß der P o pularisierung' werden die übernommenen Elemente älterer Literatur und Kultur so konfiguriert, daß sie nicht mehr nur dem ,Künsder', sondern im Prinzip jedem zugänglich werden. Wir haben für dieses Phänomen den 26 27
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Vgl. Lieb (Anm. 18), S. 524-528. Die Einzeltextvarianz in der Handschriftenkultur findet kein Pendant in der Trivialliteratur, die den Buchdruck voraussetzt. In gewissem Sinne wäre jedoch das Plagiat strukturell als Analogie anzusehen. Vgl. hierzu Ludger Lieb: Wiederholung als Leistung. Beobachtungen zur Institutionalität spätmittelalterlicher Minnekommunikation (am Beispiel der Minnerede Was Blütenfarben bedeuten). In: Wunsch - Maschine - Wiederholung. Hg. von Klaus Müller-Wille, Detlef Roth und Jörg Wiesel. Freiburg 2002 (Cultura 17), S. 147-165; demnächst auch ders.: Funktionen der Schrift in den Minnereden. Erscheint in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Konstanzer Kolloquium 2005. Hg. von Mireille Schnyder, bes. die Analyse des fünften Kapitels der ,Minneburg'. Vgl. Neudeck (Anm. 16), S. 11. Diese Formulierung ist übernommen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner, übersetzt von Monika Plessner. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1977, S. 163f., vgl. auch Lieb / Strohschneider (Anm. 5). S. 132.
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l^udger Ueb und Otto Neudeck
Begriff der ,Verfügbarkeit' gewählt, der mit den Begriffen ,Konventionalität' und ,Partizipation' vielleicht am besten den Kern einer spätmittelalterlichen Form von Trivialität treffen kann. Ob diese Verfügbarkeit durch die oft erhobene Forderung nach Heimlichkeit und die Betonung des elitären Status der Beteiligten nicht sogar noch gesteigert wurde oder ob es sich dabei nicht eher um Exklusionsmechanismen handelt, wäre zu diskutieren. Träfe letzteres zu, ließe sich - wenn auch paradox, aber genauer — von einer ,exklusiven Popularisierung' sprechen. Mit der Rede von der ,Verfügbarkeit' des Minne(reden)dikurses und seiner Versatzstücke kommt im übrigen die Kategorie der ,Leistung' in den Blick, die für eine historisch angemessene Beschreibung von literarischen Phänomenen geeignet erscheint. Eine solche Einschätzung findet sich auch in der Diskussion um die neuzeitliche Trivialliteratur, wenn in systemtheoretischer Perspektive gefordert wird, die - letztlich ideologisch bedingte — ästhetische Desavouierung von Unterhaltungsliteratur aufzugeben und durch eine wertungsfreie Analyse zu ersetzen, die primär auf die Funktion des Phänomens im Gesamtsystem Gesellschaft abhebt.31 Selbst wenn für die Entstehungszeit der Minnerden kaum von einem ausdifferenzierten System der Gesellschaft, geschweige denn von einem System der Literatur gesprochen werden kann: die Kategorie der Leistung' bietet einen Maßstab, um — jenseits ästhetischer Vorurteile — Geltung, Faszination und den überlieferungsmäßigen ,Erfolg' der Minnereden plausibel zu machen. Um schließlich dem Begriff des Trivialen auch historisch-semantisch eine Kontur zu geben und die Verwendung dieses Begriffs für mittelalterliche Literatur möglicherweise in Zukunft doch statthaft werden zu lassen, schließen wir uns einigen Beiträgerinnen und Beiträgern des vorliegenden Bandes an, die die Herkunft des Begriffes vom lateinischen trivium hervorheben. Wörtlich den Dreiweg, die Straßengabelung bezeichnend, einen öffentlichen Ort also, der für alle zugänglich ist, steht trivium hier für jene zuletzt genannte Perspektivierung des Trivialen als Verfügbarkeit. ,Trivial' meint somit, daß die Erörterung der Minne als eine offene Form der Wiedergebrauchsrede erscheint, an deren Produktion, Rezeption und (Re-)Produktion ein erweiterter Kreis von Interessierten beteiligt ist. Insofern trivium zudem auf jene Fächer des mittelalterlichen Elementarunterrichts verweist, mit denen in sprachlicher Hinsicht allgemeines und erlernbares Bildungsgut vermittelt wird, erscheint die Rede von der rhetori31
Vgl. hierzu die Überlegungen von Gabriele Scheidt (Anm. 14) zur ,Leistung' von Literatur im Gesamtsystem Gesellschaft., die an entprechende Reflexionen Luhmanns anschließen. Vgl. - neben anderem - Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar?. In: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, S. 245-266, hier S. 261.
Umleitung
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sehen Verfügbarkeit bzw. Verfügbarmachung eines Sprechens über die Minne, das ursprünglich nur von einem kleinen ständisch privilegierten Kreis gepflegt wurde, auch von hier aus berechtigt. ,Trivial' meint für mittelalterliche Texte dann eben auch, daß die Produktion solcher Texte bzw. das Reden über die entsprechenden Gegenstände erlernbar ist.
III. In den Diskussionen der Tagung wurden die hier dargelegten Grundzüge einer Poetik der Minnerede als ,trivialer' Gattung in vielfältiger Weise verhandelt. Als Ausgangspunkt des Gesprächs dienten dabei Beiträge, die fast durchweg vom konkreten, oft weitgehend unbekannten Textmaterial her argumentierten. Ein solches induktives Vorgehen stellt - so meinen wir - die Möglichkeitsbedingung für eine Überprüfung jener Thesen dar, die in unseren einführenden Überlegungen formuliert sind. Um den Zusammenhang etwas genauer darzustellen, werden im folgenden die Beiträge kurz vorgestellt und systematisch verortet. Angeregt durch die Systematisierung der modernen Trivialliteraturforschung, die ,Trivialität' zum einen als textimmanentes Merkmal begreift und zum anderen die Frage stellt, welche Funktionen diese ,Trivialität' in der kulturellen Praxis besitzt, fassen wir jene Beiträge zu einem ersten Block zusammen, die vor allem die minneredentypischen Wiederholungsformen innerhalb der Texte analysieren (1.). Der andere, größere Teil der Beiträge widmet sich der - in weiterem Sinne - kulturellen Funktion dieser rhetorischen Verfaßtheiten: Hierbei läßt sich noch einmal unterscheiden zwischen Abhandlungen, die eher den medialen und anthropologischen Kontext im Blick haben (2.), und solchen Untersuchungen, die Minnereden als Reflexionsmedium für kulturelle Problematiken beschreiben (3.). 1. Eine erste Gruppe von Beiträgen (ICÖBELE, HAUSTEIN, KERN, HONEGGER) beobachtet, provoziert durch den Trivialitätsvorwurf und in immanenter Perspektive, die (minnereden)typischen textuellen Wiederholungsformen. Vor allem geraten hier die sprachlichen Formeln und die rhetorischen Stilmittel in den Blick. Gefragt wird nach der Poetik und Rhetorik eines Sprechens über die Liebe, das in einer wirkmächtigen höfischen Tradition steht. Die Beiträge widmen sich u. a. der Frage, auf welche Weise die zumeist anonymen Verfasser von Minnereden an der höfischen ,Liebe' anknüpfen. Das heißt konkret: Wie haben sie die verschiedenen Traditionsstränge gebündelt und dadurch die ,Liebe' in all ihrer ambivalenten Kom-
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Ludger Lieb und Otto Neudeck
plexität rhetorisch bewältigt und zugleich verfugbar gemacht? — Als erstes Ergebnis darf man festhalten, daß die Verfasser eine Art von konventionalisiertem Master-Code der höfischen Liebe schaffen, dessen Attraktivität nicht zuletzt darin besteht, seine Nutzer als Mitglieder einer kunstsinnig-elitären Kommunikationsgemeinschaft auszuweisen. Die Attraktivität dieses Codes wird noch insofern gesteigert, als er einen festen Bestand an handlungsstrukturellen, motivischen, metaphorischen und lexikalischen Vers atz stücken aufweist, was ihm einen hohen Grad an Verfügbarkeit verleiht. Hierfür mag auch die recht hohe Zahl an einschlägigen Texten einstehen, die in der spätmittelalterlichen Überlieferung sedimentiert sind. Es handelt sich um Texte, deren Schematismus, deren Stereotypie und Serialität darin gründet, daß ein limitiertes rhetorisches Repertoire und seine Konventionen immer wieder neu kombiniert werden können und werden. Dabei gehen die Verfasser in ihrem ,Kombinationsspiel· bis zum Konventionsbruch, um die triviale Weisheit von der Allgegenwart und Allmacht, der Unbeständigkeit und Unfaßbarkeit der Liebe zu verdeutlichen. Dies zeigt sich etwa dann, wenn auf die ausgefallen-artifiziellen sprachlichen Mittel der ,geblümten Rede' zurückgegriffen wird, um die entgrenzenden und entgrenzten Vorstellungen von der Minne adäquat zum Ausdruck zu bringen (Jens HAUSTEIN). Hierzu gehören auch Beobachtungen von Susanne KÖBELE zum kalkulierten Aus-, ja Überreizen eines potenzierten hyperbolischen Sprechens, durch das in einer Minnerede (Brandis Nr. V. ,Der rote Mund*) der rote Mund der Geliebten höchst eindringlich vergegenwärtigt wird. Im Blick darauf stellt sich einerseits die Frage, bis zu welchem Grad einem solchen ,Zuviel', das den konventionellen Gebrauch des rhetorischen Stilmittels der Hyperbolik übertreibt und ad absurdum führt, ironische Qualität eignet. Andererseits darf erwogen werden, ob die potenzierte und bizarr anmutende Hyperbolik nicht darauf zielt, über quantitative Verdichtung und in nicht-diskursiver Weise die Gefühls- und Wahrnehmungsintensität zu steigern. Schlußfolgerungen solcher Art mögen spekulativ sein, unbestritten jedoch bleibt, daß die Minnereden eine Art Transmissionsriemen, einen Multiplikator und zugleich ein Experimentierfeld darstellen. Denn in ihnen werden die traditionell verfügbaren rhetorischen Möglichkeiten, über Liebe zu sprechen, immer wieder neu aufgegriffen und durchgespielt. Ihr ,Parlando', wie Manfred KERN den minneredentypischen Plauderton bezeichnet, ermöglicht Partizipation am Minnediskurs im Sinne von Anschlußkommunikation und Mitsprache eines größeren Publikums. Zwar mögen die enzyklopädisch verfügbaren Metaphern aufgrund eines topischen Gebrauchs bleich erscheinen; doch der Verlust an hermeneutischer ,Farbigkeit' geht einher mit einem Gewinn an Flexibilität, Zitierbarkeit und unerschöpflicher, eben enzyklopädischer Vorrätigkeit von Bildern
Einleitung
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und Sprechweisen. Damit aber erfüllen Minnereden als komplexe Reduktionsformen, in denen unterschiedliche Gattungsmuster, Sujets, Metaphoriken und Topiken kurzgeschlossen werden, eine wichtige Funktion. Denn sie tragen maßgeblich zur Verbreitung des elitären Minne-Codes bei, die auch im außerdeutschen Bereich stattfindet — wie der Blick auf die starke Rhetorisierung und Formalisierung von Liebeserklärungen in der altfranzösischen bzw. der mittelenglischen Literatur zeigt (Thomas HONEGGER).
Unabhängig von ästhetischen Qualitätsfragen bleibt daher festzuhalten: Geschaffen und ,kommuniziert' wird in den spätmittelalterlichen Minnereden ein festes rhetorisches Repertoire, ein spezifischer Code, ja eine ,Liebes-Grammatik', die einen überschaubaren Motiv- und Bildbestand, bewährte Argumentationsmuster sowie einschlägige Beispielfiguren und andere rhetorische Versatzstücke enthält. All dies ist verfügbar für diejenigen, welche regelgerecht teilhaben wollen und damit auch teilhaben können am Minnediskurs einer gehobenen Gesellschaftsschicht. 2. Unter der Perspektive der kulturellen Praxis rücken Fragen nach der kommunikativen, gesellschaftlichen und epochalen Funktion von Minnnereden in den Mittelpunkt, womit ihr Kontext in den Blick gerät: Inwieweit wird in diesen Dichtungen ein Gesellschafts- bzw. Sprachspiel faßbar, und welche Leistungen vermag dieses Spiel den Teilnehmerinnen' und Teilnehmern' - über das Lusorische hinaus - zu bieten? Stellt die ,Trivialisierung' der höfischen Liebe in den Mnnereden eine erlernbare Kulturtechnik im Dienst sozialer Distinktion dar, ein literarisches Kulturationsverfahren also, das nicht nur dem Adel als ExklusivitätsMerkmal dienen konnte? Verweist der überlieferungsgeschichtlich dokumentierte Erfolg ,trivialer' Rede über die Minne nicht zugleich auch auf eine umfassendere passive wie aktive Literarisierung? Jacob KLINGNER analysiert die sehr umfangreiche Überlieferungsgeschichte einer einzelnen Minnerede (Brandis Nr. 247: ,Der Traum1), um Aufschlüsse über das Verhältnis von Überlieferungshäufigkeit und Popularisierung zu gewinnen. Er weist darauf hin, daß reine Minneredenhandschriften des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts fast ausschließlich auf ,Literaturliebhaber' zurückgehen, die die Texte - zum Ausweis einer den Sammler selbst adelnden Traditionspflege — unverändert kopieren (lassen). Neben dieser Dominanz ,getreu-konservierender Überlieferung', in der nicht die Textproduktionsverfahren verfügbar und popularisiert' sind, sondern in der über die Texte selbst als zu konservierende verfügt wird, zeigt er aber auch auf, wie es in Einzelfällen zu einem kreativen Umgang mit dem verfügbaren tradierten Material kommt (ζ. B. bei Hans Folz).
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Liudger Lieb und Otto Neudeck
Ebenfalls im Rückgriff auf die handschriftliche Überlieferung macht Ann Marie RASMUSSEN darauf aufmerksam, daß die Dichtungen ein bevorzugter Ort für die Modellierung von geschlechtsspezifischen Identitäten sein können. So werden in den Texten und im Bildprogramm einer livländischen Sammelhandschrift (Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186) in dem Maße specific, late medieval representations of masculinity' entworfen, als den zurückhaltendwerbenden Vertretern der ,chivalric youth' solche einer aggressivdominanten ,adult masculinity' gegenübergestellt sind. Während hier die Pragmatik der Gattung in einer Konstruktion von Männlichkeit faßbar wird, die unterschiedliche Modelle wertend kontrastiert, hebt Wolfgang ACHNITZ in anderer Weise auf die lebensweltliche Anbindung von Minnereden ab: Anhand eines dilettantisch verfaßten Textes zeigt er paradigmatisch, wie ein städtischer Autor über eine Teilhabe am Code' (Luhmann) Aufnahme in den Kreis der Mnnekundigen sucht - das heißt in den exklusiven Kreis derer, die form- und sachgerecht über die höfische Liebe zu sprechen und zu schreiben wissen. Faßbar wird hier die Hoffnung bzw. das Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und Integration in eine Gruppe, deren elitärer Status durch diskursive Kompetenz gesichert wird. Die diskursive Kompetenz in Sachen höfischer Liebe schlägt sich aber nicht nur m Form von Minnereden und ihrer Überlieferung nieder, sondern auch in anderen Medien, in denen sie kunstvoll zur Schau gestellt wird. Darauf verweisen Beispiele, die Stefan MATTER aus dem Bereich der spätmittelalterlichen Kunst anführt: Ob auf Minnekästchen aus Elfenbein, auf Tapisserien oder in Freskenform - die bildhafte Darstellung von Motiven, Konstellationen und Figuren des Minnediskurses stößt auf das erhöhte Interesse der Zeitgenossen. Sie offenbart - über den repräsentativen Zweck hinaus - ein hohes Maß an kreativer Freiheit: In dem Maße, wie sie sich einem freien Kombinieren von verfügbaren Versatzstücken verdanken, erweisen sich die Produkte dieser Kultur - seien es Bilderzyklen oder Minnereden - als das Resultat erlernbarer Bricolage. 3. Die Leistung der Gattung erschließt sich aber nicht nur in Hinblick auf ihren ,Sitz im Leben' und damit den Kontext, in den sie eingelassen ist, sondern auch angesichts einer starken metatextuellen Komponente. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn die Minnedichtungen als Medium genutzt werden, um gesellschaftsrelevante Problemfelder ihrer Entstehungszeit oder gar epochale Strukturen zu reflektieren. Die Möglichkeit zur Reflexion aber verdankt sich einer poetischen Eigenheit, die wiederholt als konstitutives Element der Textgruppe bezeichnet wurde: die allegorische Faktur der Mnnereden. Sie erlaubt eine vor-diskursive Ausein-
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andersetzung mit grundsätzlichen Problemen, die die Menschen der spätmittelalterlichen Feudalgesellschaft betreffen und bedrängen, und sie vermag zugleich zur Selbstverständigung dieser Menschen beizutragen. Darauf verweist grundsätzlicher Susanne BRÜGEL im Blick auf die ,Minnelehre' des Johann von Konstanz, in der allegorisches Denken Grundlagen und Mittel für die Entfaltung und Ausgestaltung eines Reflexionsraums bereitstellt. Dies gelingt dadurch, daß — im Gegensatz bzw. komplementär zum Außen des Ich - ein Innenraum geschaffen wird, in dem sich das Ich mit der Liebe und ihren Zumutungen auseinandersetzt. Damit aber wird, ganz konkret verstanden, ein Raum geöffnet, in dem exemplarisch über Minne und die von ihr Betroffenen - oder allgemeiner: über Innerlichkeit — verhandelt werden kann. Welche Gegenstände zur Diskussion stehen, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen zeigen die Beiträge von Margreth EGIDI und Ralf SCHLECHTWEG-JAHN. EGIDI macht plausibel, daß der ,Ellende Knabe' die Minne in Hinblick auf ihre anökonomische bzw. ökonomische Logik hinterfragt. Minne erweist sich hier als eine Kippfigur, die einen Zwiespalt widerspiegelt: Ein anökonomisch-feudales Denken, wie es in der milteForderung zum Ausdruck kommt, wird mit einem ökonomischen konfrontiert - einem Denken, demzufolge Minnedienst im Sinne von Reziprozität immer zu belohnen sei. Demgegenüber richtet SCHLECHTWEGJAHN den Blick auf die Jagdallegorie Hadamars von Laber, in der Versatzstücke des Minne- und Jagddiskurses im Sinne einer seriellen Ästhetik kombiniert werden. Mit dem Handlungskonstrukt, das dadurch entsteht, thematisiert oder besser ,verbildlicht' Hadamar in innovativer Weise Probleme der höfisch-feudalen Machtkommunikation, wobei zugleich die Konstituenten dieser spezifisch mittelalterlichen Machtkommunikation reflektierend bewußt gemacht werden. Das Interesse an den Minnereden, die noch ein Jahrhundert zuvor im deutschsprachigen Raum Hochkonjunktur hatten, flaut im Laufe des 16. Jahrhunderts merklich ab, um schließlich völlig zu versiegen. Um erneut ein Interesse an diesen spätmittelalterlichen Texten zu wecken, dazu gilt es die sperrige und - auf den ersten Blick - so unattraktive Gattung in umfassenderem Zusammenhang zu betrachten. Ein solcher Zugriff auf die textuelle Verfaßtheit, die kontextuelle Einbindung und die metatextuelle Leistung der Minnereden macht für die Vormoderne exemplarisch deutlich, daß und wie kulturelles Wissen, das zunächst nur einem begrenzten Kreis vorbehalten war, Teil der Praxis und des kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft wird.
SUSANNE KÖBELE
Die Kunst der Übertreibung Hyperbolik und Ironie in spätmittelalterlichen Minnereden „Emen Engel! Pfuy! das sagt jeder von der seinigen! Nicht wahr? Und doch ..." (Goethe) „Aber was bedeutet a n Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung." (Musil)
I. veHtatis
transgressio
Übertreibungen sind riskant. Sie setzen die Wahrheit aufs Spiel (Übertreibungen ,lügen1), den Ernst (Ubertreibungen ,spielen') und den Kunstcharakter (Ubertreibungen wirken ,künstlich'). Das steht alles schon bei Quintilian, der die Ambivalenz hyperbolischer Rede mit einem Maßhaltegebot auffängt: Auch wenn jede Hyperbel notwendig das Glaubliche überschreite (ultra fidem), dürfe sie gleichwohl über ein bestimmtes Maß nicht hinausgehen (non tarnen esse debet ultra modum), werde doch auf keine andere Weise schneller Künstelei bewirkt. 1 Wer die Grenze des Angemessenen mißachte, provoziere allenfalls Gelächter, kein urbanes (risus urbanitatis), sondern ein vulgäres und törichtes (risus stultitiae). Kurz, Übertreibung darf nicht übertrieben werden. So bündig wie normativ definiert
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M. F. Quintüianus: Institutionis Oratoriae Libri XII. Ausbildung des Redners. Hg. von Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 3 1995, 8,6,73, S. 248f.: [...] seruetur mensura quaedam. quamvis enim est omnis hyperbole ultra fidem. non tarnen esse debet ultra modum nec alia via magis in caco^elian itur.
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Susanne
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Quintilian die Hyperbel in diesem Sinn als „schickliches Hinausgehen über das Wahre" ('Hyperbole: est haec decens veri superiectio).2 Die Auffassung der Hyperbel als Abweichung vom Maß bleibt bestimmend für die Rhetoriklehren des Mittelalters wie der Frühen Neuzeit, und sie bleibt zwiespältig. Unter der Voraussetzung, daß die Abweichung vom Maß eine Abweichung von der Wahrheit einschließt (veritatis excess i f f i ) , muß sie es durchweg bleiben. Galfrid von Vinsauf, in seiner vom frühen 13. Jahrhundert an bis ins 15. Jahrhundert weit verbreiteten ,Poetria nova', räumt der Hyperbel (superlatio) immerhin acht Verse ein. Im Abschnitt über die Tropen des Ornatus difficilis gibt er ihr einen Platz zwischen Metonymie und Synekdoche (v. 1013—1021)4 und bewertet sie wie folgt: Hyperbolische Rede — sprachliches Übermaß {excessus) - verdiene dann Lob, wenn sie vernünftig dimensioniert sei. Fehle ihr hingegen das angemessene Maß, beleidige sie Geist und Ohr. 5 Kürzer faßt sich Eberhard der Deutsche in seinem ,Laborinthus', einer Galfrid-nahen Dichtungslehre aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die im deutschen Spätmittelalter eines der „wichtigsten und verbreitetsten Schulbücher" werden sollte.6 Wieder ist hier die Hyperbel erläutert als im Einzelfall angebrachte „Tendenz über das Maß hinaus": „Mir kommt zu, den Gang der Rede weit über das Maß hinauszuführen, weiter als die strenge Regel des Wahren {yen regula recta) es fordert." 7 ,Wahrheit' meint in den zitierten Fällen die Verbindlichkeit des vorgegebenen Sachverhalts (res) oder Stoffes [materia). Kontextabhängig kann der Wahrheitsbegriff sich verschieben. So definiert Nicolaus Dybinus, der sowohl die ,Poetria nova' wie auch den ,Laborinthus' im 14. Jahrhundert ausführlich kommentiert, 2 3
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Quintilian (Anm. 1), 8,6,67. Superlatio est in dicendo veritatis excessio: Diese Hyperbel-Definition gibt im 12. Jahrhundert Thierry von Chartres in seinem Kommentar zur ,Rhetorica ad Herennium': The Latin Rhetorical Commentaries by Thierry of Chartres. Hg. von Karin Margareta Fredborg. Leiden 1988 (Studies and texts 84), S. 217-361: ,Commentarius super Rhetoricam ad Herennium', hier 344,86. Vgl. Edmond Faral (Hg.): Les arts poetiques du XII e et du XIII e siecle. Recherches et documents sur la technique litteraire du moyen age. Paris 1924. Nachdruck 1962, S. 194— 262. V. 1013-1021: Currat yperbolicus, sed non discurrat inepte \ Sermo: refrenet eum ratio placeatque modestus | Finis, ut excessum nec mens nec abhorreat auris. [Ich überspringe einige Beispielverse, die in v. 1020f. schließlich wie folgt kommentiert werden:] Mirifice laudes minuit modus iste vel äuget: \ Etplacet excessus, quem laudat et auris et usus (Faral [Anm. 4], S. 228f.). Franz Josef Worstbrock: Eberhard der Deutsche. In: 2 VL 2 (1980), Sp. 273-276, hier Sp. 275; Text nach Faral (Anm. 4), S. 337-377. Vgl. Hans Szklenar: Magister Nicolaus de Dybin. Vorstudien zu einer Edition seiner Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Rhetorik im späteren Mittelalter. München - Zürich 1981 (MTU 65), S. 85-99 (zu Dybinus' Kommentar des ,Laborin thus"). Faral (Anm. 4), S. 337—377, v. 415f.: Cursum sermonis mihi tendere convenit ultra \ Quam poscit veri r e g u l a recta pati.
Die Kunst der Übertreibung
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im geistlichen Kontext seiner ,Declaracio oracionis de beata Dorothea' 8 die Hyperbel (juperlado) zunächst allgemein als einen die Wahrheit überschreitenden Übertragungsvorgang: [...] diccio transsumitur ad significandum vltra vedtatem rei,9 In einem zweiten Schritt unterteilt er dann den hyperbolischen modus transsumpdonis (226,10) in einen Überbietungs-Vergleich (superlado cum comparacione, Beispiel: „Er ist langsamer als eine Schnecke", 226,22ff.) und in einen Modus, der außerhalb von Vergleichen angesiedelt sei (j-uperlado sine comparacione, 226,27ff.). Die Beispiele für diesen zweiten Modus, einen paradoxen „Vergleich ohne Vergleich" (comparacio sine comparacione), sind nicht zufällig aus dem religiösen Bereich hymnischer augmentacio laudis genommen. Paradox sind sie insofern, als sie, wie Dybinus es formuliert, in keinem Punkt des Vergleichs Vergleichbarkeit gewährleisten {in nullo gradu qualitatis uel acädentis). Wenn beide Übertreibungstypen, der Vergleich und der „Vergleich ohne Vergleich", bei Dybinus als excessus vedtatis gelten (226,18), als transgressio veritatis (226,36), ist das ein Zeichen für eine Erweiterung des Wahrheitsbegriffs. Iulius Caesar Scaliger, Mitte des 16. Jahrhunderts, zählt die Hyperbel ganz lapidar wieder zu denjenigen Figuren, „die mehr aussagen, als in der Sache enthalten ist": [Hyperbole:] genus figurarum, quae plus dicunt, quam in re sit,w und wie schon Quintilian, der die Hyperbel als „besonders kühnen" Tropus qualifiziert (8,6,67), nennt auch Scaliger sie, mit Bezug auf Aristoteles und Cicero, ein „Zuviel", einen sprachlichen „Exzess", der zum Überfluß neige {excessus ad exuberantiam), ja zur Überfüllung (redundantiam), aufgrund seiner riskanten Entfernung von „Mitte und Mittelmaß". 11 Halten wir vorerst fest: In der traditionsbildenden Tropustheorie der Rhetorik ist die Hyperbel - nicht ohne widersprüchliche Implikationen definiert als ,Überschreitung des Wahren'. Als rhetorischer Idealfall von Hyperbel gilt das rational regulierte ,maßvolle Übermaß'. In dieser Traditionslinie ,ersetzt' die Hyperbel einen usuellen Ausdruck durch einen inhaltlich übertreibenden. Verbindet man diese historische Perspektive mit einer systematischen, wird man freilich auch solche Fälle einkalkulieren, bei denen die Übertreibung nicht in einer einfachen Substitution aufgeht;
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Samuel P. Jaffe: Nicolaus Dybinus' Declaracio oracionis de beata Dorothea: Studies and documents in the history of late medieval rhetoric. Wiesbaden 1974 (Beiträge zur Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts 5), S. 226f. (vgl. auch S. 134-136). Ebd., S. 226,19f. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Bd. 2: Buch 3, Kap. 1-94. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, Kap. 73 (S. 502, Z. 8f.) Ebd., Z. 13ff.
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Susanne Köbeie
wie auch ihr Nachbartropus, die Metapher, nicht im Ähnlichkeitskriterium (im simile), die Ironie nicht im Gegenteilkriterium (im contranum).12 Daß die rhetorische Substitutionstheorie das Phänomen sprachlicher Übertreibung unterbietet, darauf macht Quintilian selbst aufmerksam, weswegen ich noch einmal auf ihn zurückkomme. Im Kontext der oben zitierten Stelle (8,6,75) führt er zugunsten der Hyperbolik ein Argument an, das man ein ,universalanthropologisches' nennen könnte: Der Wunsch, Dinge vergrößern zu wollen (cupiditas res augendi), liege in der Natur des Menschen, denn niemand sei mit dem Gegebenen zufrieden. Daß dieses Argument moralisch heikel ist, demonstriert der Folgesatz: Solche „Gier" nach Überschreitung des Gegebenen sei uns freilich nachzusehen, weil wir damit keine festen Behauptungen aufstellten {quia non adfirmamus).13 Quintilian macht demnach folgendes Zugeständnis: Übertreibungen, dezente Übertreibungen, seien grundsätzlich willkommen, weil sie — sprachlich, imaginativ — Möglichkeiten vervielfältigen, über die reine „Affirmation" des Gegebenen hinaus. Quintilian zieht aber noch eine weitere Differenzierung ein. Geradezu geboten seien Übertreibungen dann, wenn der darzustellende Gegenstand selber schon jedes Maß überschreitet (naturalem modum excessii).14 Das ist unmittelbar einleuchtend: Wenn der Gegenstand unabsehbar groß ist, bleiben der Maßstab {modus) und das Ausmaß [quantum) unbekannt. In diesem Fall sei es statthaft, übertreibend zu reden (amplius dicere), weil man besser zu weit gehe als hinter dem richtigen (Aus-)Maß zurückzubleiben. Das ist ein neuer Aspekt. Er besagt: Exzeptionelle Sachverhalte und Gegenstände verdienen, ja fordern sprachliche „Exzesse", setzen sie doch alle Relationen, alle Maßhaltegebote außer Kraft. Abseits der antiken Situation forensischer Persuasionsrhetorik läßt sich für in diesem Sinn grenzüberschreitende Übertreibungen an die h e r o i s c h e Hyperbolik denken, die sich bindet an die spezifische „Exorbitanz des Helden". 15
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Vgl. im Überblick Wolfgang G. Müller: Ironie. In: RLW 2 (2000), S. 185-189, bes. S. 185f. Zur Ironie im Umfeld der Linguistik vgl. Wolf-Dieter Stempel: Ironie als Sprechhandlung. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 205-235. Quintilian (Anm. 1), 8,6,75: [...] quia natura est omnibus augendi res velminuendi cupiditas insita nee quisquam Dero contentus est: sed ignosätur, quia non adfirmamus („[...] denn von Natur liegt in allen Menschen das Verlangen, die Dinge zu vergrößern oder zu verkleinern, und niemand gibt sich mit dem zufrieden, wie es wirklich ist. Jedoch finden wir Nachsicht dabei, weil wir ja keine festen Behauptungen aufstellen"). Ebd., 8,6,76: tum est hyperbole virtus, cum res ipsa, de qua loquendum est, naturalem modum excessit („Eine Stiltugend ist die Hyperbel dann, wenn der Gegenstand selbst, über den man sprechen muß, das natürliche Ausmaß überschritten hat"). Dazu Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1-35; Hans Ulrich Gumbrecht: Funktionswandel und Rezeption. Studien zur Hyperbolik in literarischen Tex-
Die Kunst der Übertreibung
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Nahe liegt darüber hinaus die Hyperbolik des H y m n i s c h e n , deren Intensität aus der Vorstellung der Unüberbietbarkeit Gottes resultiert (hierher gehören Nicolaus Dybinus' Vergleiche ohne Vergleich1). Nahe liegt drittens, weil auch sie nur immer wieder und nie vollständig gesagt werden kann, die Hyperbolik der L i e b e . Die Maßlosigkeit als Kunstmittel entspräche hier der Maßlosigkeit des Affekts. Für Wolframs von Eschenbach Willehalm, der alles drei zugleich ist - heroischer Held, heiliger Held und Minneheld - konnte Karl Bertau geradezu von einem „Zustand der Hyperbolik" sprechen,16 dessen Anstößigkeit Wolfram, Hyperbel an Hyperbel reihend, mit trockenem Witz verteidigt. Die zuletzt genannte Übertreibungskunst, die der Liebe, soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen.
II. minne und mä^e Sie, die Schönste, ich, der Leidendste: Diese Hyperbolik ist ein Grundmuster des höfischen Minnelieds seit seinen Anfängen. Heinrich von Morungen übertreibt die Negativsemantik der Liebe so: „Einen Baum hätte ich mit meiner Klage beugen können, ohne Werkzeug - sie schweigt" (MF 127,23); daß die Kritik, die auf die übertriebene Beständigkeit der Dame zielt, im selben Atemzug revoziert wird, gehört zum Spiel. Spätmittelalterliche Sänger, ihrerseits unter Überbietungszwang, um weder mit ihrer Liebe, noch mit ihrer Kunst unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle zu liegen, überbieten solche Hyperbolik noch einmal. So treibt der Tannhäuser die übertriebenen Forderungen der Dame mit einer Kette von Adynata ins Unmögliche (ich summiere aus den Liedern IX und X): „Ich soll ihr ein elfenbeinenes Schloß im Meer bauen, den Gral bringen, den Apfel des Paris, den Schutzmantel der Maria und die Arche Noah, soll ihr die Sterne vom Himmel, den Salamander aus dem Feuer holen und 1000 Lanzen verstechen wie Gahmuret - dann wäre ich ihr lieb."17 Der andere Pol solch skeptischer Unmöglichkeitsübertreibungen heißt dagegen: ,Der Liebe ist nichts unmöglich.' So steht es mit dem ganzen Gewicht einer lateinischen Sentenz auf dem Wagen der Minne in der ,Minnelehre' des
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ten des romanischen Mittelalters. München 1972 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 28). Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. Bd. 2: 1195-1220. München 1973, S. 1160ff. Johannes Siebert: Der Dichter Tannhäuser. Leben - Gedichte - Sage. Halle/S. 1934, S. 112ff.
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Johann von Konstanz (amori nulla sunt inpossibilia),18 einem Werk, das um 1300 den Minnesangdiskurs in eine allegorisch dominierte Erzählung umsetzt und mit der gelehrt-lateinischen Minnetradition zusammenbringt. Bleiben wir bei den spätmittelalterlichen Minnereden. In der 1404 entstandenen Minnelehre Eberhards von Cersne (,Der Minne Regel') 19 wendet sich das verliebte Ich an die Königin Minne mit der Frage: ,Wie eloquent muß ich denn sein, um sie zu gewinnen?' (v. 861f.). Die Antwort der Minne ist abweisend: ,Spar dir das Reden! Jupiter auf seinem Thron lacht über die Schwüre der Verliebten, die wirr sind (wunderlige wort, v. 872) und ohne Maß'. Wildegedanken würden sich ohnehin an keinen orden halten (v. 875f.). Aufs Küssen seien sie aus (Nach küssen irgedanken stad, v. 890). Aber auf einmal lenkt die Minne doch ein: ,Wenn du schon mal da bist', sagt sie, ,Du solltest es so versuchen: „Gehörten mir der Schatz der Nibelungen, das Gold der Griechen, alle Schätze Babylons [...] und das Land Hebron, ich gäbe alles dir, du, Schönste von allen'" (vgl. v. 971ff). Was lernt der Verliebte da? Wenn überhaupt geredet werden soll, dann garantiert Ubertreibung den Liebeserfolg. Liebesrhetorik ist Überbietungsrhetorik. Liebe und Ubertreibung gehören zusammen, auf der Ebene des Liebesaffekts (wilde minne, wildergedanc) und der der Darstellung von Liebe (wilde rede). Zur ,hohen' und ,süßen' Minne gehören hohes lop (vgl. v. 1003) und suße wordir (v. 1995). Er soll also zu ihr sagen: ,Du bist die Schönste, und ich leide am besten', und w i e das gesagt wird, soll auch am schönsten und besten sein, dauernd wiederholt und — je neu — überboten werden. Verlassen wir uns ein weiteres Mal auf Selbstauskünfte der Texte. In der bereits zitierten ,Minnelehre' Johanns von Konstanz geht es nicht nur nebenbei, sondern ganz programmatisch darum, wie man nach liebe werben sol (ν. 11). Eingeführt als eine am ,Maß' ausgerichtete rede von minnen (v. 3 und v. 14), schreitet der Text gleichwohl in Übertreibungen voran: Ihre Schönheit setze alle anderen matt (v. 69); hätte Paris sie gekannt, er hätte ihr den Apfel geben müssen (v. 95ff.); ihr roter Mund habe ihn entflammt (v. 109) usf. Vom Pfeil der Liebe getroffen, bettlägrig geradezu, bittet der Ich-Erzähler die Minne um Rat: ,Wie soll ich es ihr sagen?' (v. 967ff.). Empfohlen wird dem Leidenden hier eine kultivierte Brief-Rhetorik. Er solle nicht zu viel, nicht zu wenig und vor allem das maßvoll Richtige schreiben, unermüdlich (v. 981ff.). Das tut er. Sein erster dezenter Brief 18
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Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung hg. von Dietrich Huschenbett. Wiesbaden 2002, v. 726. Eberhardus von Cersne: Der Minne Regel. Mit einem Anhange von Liedern hg. von Franz X. Wöber. In musikalischer Hinsicht unter Mitwirkung von August W. Ambros. Wien 1861. Nachdruck Hildesheim - New York 1981.
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bewirkt immerhin ihr schamvolles Erröten (v. 1059), aber auch nicht mehr als das. ,Schreib ihr noch einmal', rät die Minne (v. 1170), ,schreib ihr, wie schön sie ist und wie sehr du leidest'. Aber sein zweiter Brief, rhetorisch ambitioniert, macht sie mißtrauisch: ,Wenn er nur halb so viel leidet, wie er behauptet, müßte er längst tot sein' (v. 1255ff.). Auch kein durchschlagender Erfolg. Anders gesagt: Der Zusammenhang von Liebe und Übertreibung ist so ambivalent wie der von minne und mä%e. Sichtbar wird an dieser Stelle, daß mit dem Gestus permanenter qualitativer Überbietung ein Dilemma verbunden ist, und dies keinesfalls nur im Kontext von Minnesang und Minnerede. Wie können einer exklusiven Runde von Schönsten und Besten der Allerbeste und die Allerschönste eingegliedert werden, ohne daß die Übertreibung die andern (schönsten Damen, besten Ritter, besten Erzähler) herabsetzte? Davon erzählt der höfische Roman. Weil der Spielraum innerhalb der Hyperbolik des höfischen Stils eng ist, weil Feste immer die prächtigsten, Pferde immer weißer als Schnee, schwärzer als Kohle sind und die Damen immer engelgleich schön, müssen die Unterschiede haarfein sein, und auf Dauer gestellt werden kann diese komplizierte Hyperbolik des höfischen Romans nur, indem sie ab und zu, schon bei Hartmann, „mit freundlicher Ironie" ans Publikum abgegeben wird.20 Ein Indiz für das der qualitativen Überbietung eigene Konfliktpotential könnte sein, daß dort, wo der Zusammenhang ,die Schönste dem Besten' entkoppelt ist, Gewalt ausbricht. Als Urszene für den ambivalenten Zusammenhang von minne und stnt gilt das Urteil des Paris, ein Erzählmotiv, das - die Gattungen querend - aus der Epik schon früh in die Lyrik einwandert (als sogenannte ,mythologische Rollenhypothese'21), zugleich ein so hohes diskursives Potential hat, daß die Szene, etwa in Konrads ,Trojanerkrieg', zu einer Art Minnerede im Roman tendiert: Die von Konrad kunstvoll als wechselseitige Überbietung komponierten Dialogbeiträge im Redewettstreit der drei Göttinnen wirken über weite Strek-
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Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ,Erec' Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30, hier S. 25. Daran anknüpfend Hans Jürgen Scheuer: Gegenwart und Intensität. Narrative Zeitform und implizites Realitätskonzept im ,Iwein' Hartmanns von Aue. In: Zukunft der Literatur - Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hg. von Reto Sorg, Adrian Mettauer und Wolfgang Pross. München 2003, S. 123-138, hier S. 127f. (die Funktion der Hyperbolik höfischen Stils als „Äquilibristik" „intensiver Größen" erläuternd). Vgl. außerdem Karl Bertau: Der Ritter auf dem halben Pferd oder Die Wahrheit der Hyperbel. In: PBB 116 (1994), S. 285-301. Weniger ergiebig dagegen: Alexander Garcia Düttmann: Philosophie der Übertreibung. Frankfurt/M. 2004. Dazu Rudolf Wilhelm Lenzen: Überlieferungsgeschichtliche und Verfasseruntersuchungen [sie] zur lateinischen Liebesdichtung Frankreichs im Hochmittelalter. Diss. Bonn 1973, S. 20-22.
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ken traktathaft-belehrend; 22 wie auch umgekehrt Konrads Descriptio der unwahrscheinlichen Schönheit Helenas (eine im Vergleich mit den Vorlagen breit expandierende Uberbietungstopik) in zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts separat überliefert ist als Minnerede unter Minnereden. 23 Diese Gattungsübergängigkeit gilt es im Auge zu behalten. Mein Anlauf war lang. Aber die Frage, was Übertreibung ist, als was sie galt, gehörte an den Anfang meiner Überlegungen. Aus ihnen ging hervor: Übertreibung ist eine Form sprachlicher Hervorhebung (Emphasis). 24 Wie ihr Nachbartropus, die Metapher, ist sie ein imaginatives Verfahren, ein grenzüberschreitend-erfinderisches, das den Gegenstand aus seinen (lebensweltlich, handlungsweltlich) realen, aus seinen buchstäblichen oder konventionellen Bezügen emphatisch herauslöst und mit jeweils neuer Bildintensität ,vor Augen stellt'.25 Aus ihrer Zwischenstellung zwischen „Wahrheit" und „Lüge" rührt die Ambivalenz der Hyperbel. Die Übertreibung „lüge" durchaus, gesteht Quintilian zu, „aber nicht so, daß sie betrügen will" (nec ita, ut mendacio fallen velit, 8,6,74). Für die eingebüßte Glaubwürdigkeit der Übertreibung entschädige die Aktivierung der Einbildungskraft, genauer: eine Überschußqualität über das hinaus, was ist (plus quam in re) oder wahr ist (ultra veritatem rei). Somit ergibt sich ein für hyperbolisches Sprechen konstitutiver Zusammenhang von I m a g i n a t i o n , Maß herstellender R e f l e x i o n und dabei durchaus gewahrter Anschlußfähigkeit für N a r r a t i o n . Auf eine Figur bloßer Substitution kann Übertreibung nicht von vornherein festgelegt werden. 26 Ob sie ein im angedeuteten Sinn projektives, grenzüberschreitendes Verfahren ist oder im Gegenteil bloßer Leerlauf, diese Frage nach der Funkti-
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Zuletzt Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ,Geblümten Rede'. Tübingen - Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), S. 129f. V. 19661—20054; dazu der Hinweis bei Wolfgang Achnitz: Kur% rede von guoten minnenl diu guotet guoten sinnen. Überlegungen zur Biiinendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden'. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137-149, hier S. 147 (mit Bezug auf Tilo Brandis). Zur Gattungsmischung vgl. Cora Dietl: Minnerede, Roman und historia. Der ,Wilhelm von Österreich' Johanns von Würzburg. Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 87); Rüdiger Schnell: Grenzen literarischer Freiheit im Mittelalter. I. Höfischer Roman und Minnerede. In: ASNS 218 (1981), S. 241-270. Vgl. Georg Michel: Emphase. In: RLW 1 (1997), S. 441-443 (u. a. mit Blick auf Hyperbel und Ironie). Zu dieser rhetorischen Kategorie vgl. Rüdiger Campe: ,Vor Augen stellen'. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Neumann. Stuttgart - Weimar 1997 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 18), S. 208-225. So etwa, das „terminologische Feld" der Rhetoriktradition resümierend, Michel (Anm. 24), S. 442: „Hyperbel: Ersatz einer usuellen Bezeichnung durch einen inhaltlich übertreibenden Ausdruck."
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on und ästhetischen Qualität der Übertreibung muß für jeden Einzelfall gesondert angegangen werden. Mein Ausgangspunkt war eine hyperbelkonstitutive Verbindung von Imagination, Maß herstellender Reflexion und Narration. Mit eben dieser Verbindung scheint Hyperbolik eine hohe Attraktion für die ab 1300 im deutschen Sprachgebiet einsetzende Textgattung Minnerede zu haben. Zwischen allen Sprechweisen angesiedelt, zur Seite des Minnelieds wie des Romans hin offen, sind Minnereden in verschiedener Hinsicht eine hochintegrative Gattung, deren anhaltende Beliebtheit daraus erklärbar ist, daß sie das problemüberschüssige ,alte' Minnethema neu aufladen. Mit ihrer auffälligen Integrations funktion treten sie nach vorne in dem Moment, als die Minnelyrik, thematisch und überlieferungsgeschichtlich benachbart, einen anderen (engeren) Weg einschlägt als bisher.27 Mit ihrer Grenzposition zwischen Lyrik und Epik, auch mit ihren flexibel wechselnden Anteilen buchstäblicher wie übertragener Redeweise wirkt die Gattung Minnerede einerseits experimentierfreudig. Anderseits verhält sie sich in hohem Maße traditionskonform. Diese Gleichzeitigkeit einer Attraktion und Erschöpfung des Minnethemas in den spätmittelalterlichen Minnereden ist irritierend. Mich führt sie zu der Überlegung, daß gerade die Hyperbolik ein privilegiertes und geschätztes Mittel gewesen sein könnte, i n n e r h a l b der strengen Konventionsbindung der Minne-Literatur Profil zu zeigen. Die amplifikatorische Übertreibung von Bekanntem (von rhetorischer, literarischer Konvention) wäre nach der einen Seite die trostlose Stereotypie der Gattung Minnerede. Umgekehrt will die Übertreibung das Bekannte qua Konventionsbruch ja gerade exklusiv machen; das wäre nach der andern Seite ihre schier unerschöpfliche Attraktion. Wie ein solches Zusammenspiel von Konvention und Konventionsbruch genau funktioniert, wie der von mir allgemein angesetzte Zusammenhang von Imagination, Reflexion und Narration für die Minnereden und ihre (virtuose? monotone?) ,Kunst der Überbietung' spezifisch wird, das möchte ich im folgenden anhand einer Konstellation von Texten beschreiben, die um ein hochkonventionalisiertes rhetorisches Detail gruppiert sind: um die hyperbolische Metapher vom rosenroten, feuerroten, blutroten, alle Röte überbietenden roten Mund. Der ,rote Mund' ist ein DescriptioDetail, mit dessen vorgegebener, schon hochmittelalterlicher Hyperbolik die spätmittelalterlichen Autoren ihr eigenes Spiel treiben, ein DescriptioDetail, in dem die beiden eingangs angesprochenen Mittelpunktthemen des höfischen Minnediskurses - Liebe als Affekt und Liebe als Sprache zusammenfallen. 27
Der Minnediskurs verschiebt sich auf die Minnerede. Darauf hat bereits Ingeborg Glier hingewiesen: Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34).
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Mich interessieren Formen und Funktionen der ,Roter Mund'Hyperbel. Fragen der Wertung stelle ich zunächst zurück. Erst zum Schluß versuche ich, von meinen exzentrischen Beispielen aus, die Frage aufzunehmen, ob und wie wir einen Zusammenhang von ,Konventionalität' und ,Trivialität' herstellen können in einer Epoche, in der Erneuerung an formschaffendes Vermögen gebunden ist, so daß von vornherein die Gleichung ,Konventionalität=Trivialität' nicht funktionieren kann.
III. Unter Ironieverdacht: ,Der rote Mund' Wie alle Tropen sind auch Übertreibungen der Gefahr der Abnutzung ausgesetzt. Die Gewöhnung an Übertreibung verdirbt das Mittel. Tote Hyperbeln gibt es deswegen so viele wie tote Metaphern. Mausetot scheint im Spätmittelalter die Hyperbel vom ,alle Röte übertreffenden roten Mund' der Gehebten. Im folgenden liste ich verschiedene Erscheinungsweisen dieser Hyperbel auf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber mit dem Interesse einer Dokumentation von Vielfalt. Denn der Modus q u a n t i t a t i v e r Verbreiterung - Übertreibung als Mttel der dilatatio/amplificatio kann abgehoben werden von Übertreibungen qua Ü b e r t r a g u n g (per similitudinem, per comparationem, per translationem·. hyperbolischen Gleichnissen, Vergleichen, Metaphern), 28 ,Übertragungs-Übertreibungen' also, die die Spannung zwischen Verbum proprium und Verbum translatum unterschiedlich rasch abbauen können, so daß dieser Modus seinerseits noch einmal binnendifferenziert werden kann. Weil obendrein Übertreibungen Übertreibungen anziehen, weil Hyperbeln, wie Quintilian sagt (8,6,68-70) „wachsen", nämlich ins immer Unwahrscheinlichere, haben sie außerdem eine Tendenz zur Ironie. (1) Ich beginne meine improvisierte Reihe mit dem einfachen Fall von Motivwiederholungen. Für wiederholungsrhetorisch generierte Hyperbolik kann Gottfried von Neifen stehen, in dessen Liedern, die auf allen Ebenen hochrepetitive Strukturen aufweisen, der rote Mund als eine Art Autorsignatur eingesetzt ist;29 häufig personifiziert, nicht selten auch als
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Quintilian (Anm. 1), 8,6,68f. Vgl., auf zehn Lieder verteilt, die Belege bei Claudia Händl: Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide. Göppingen 1987 (GAG 467), S. 277, Anm. 119 und auch S. 283. Hugo Kuhn zählt den ,roten Mund' 28 Mal in 190 Strophen: Minnesangs Wende [zuerst 1952], 2., vermehrte Aufl. Tübingen 1967 (Hermaea N.F. 1), hier S. 72, Anm. 57.
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metonymischer Phraseologismus 3 " auf der Stufe von min lip—ich: ,Sprich ja, lache, roter Mund!'. Bei Neifen kann sich das Signalwort ,rot' auf andere Minnesang-Leitwörter so weit ausdehnen (roter Gruß, roter Kuß), daß — über den einfachen Fall einer Enallage hinaus — Spannungen aufkommen zwischen buchstäblicher und übertragener Ausdrucksweise. Frauenlobs Lied 2, dessen Klagegestus auf den ersten Blick konventionell wirkt, setzt genau hier an.31 Es häuft unüberhörbar NeifenMaterial. Gleich zu Beginn fällt das erotische Signalwort ,roter Mund': ,Wanne sol din roter munt mich lachen an [...]?' (v. 6,5). Angesichts der Röte ihres Mundes bleibe den Rosen nur zu kapitulieren (Sprechet alle, rote rosen, | da^ ein munt mit roten siget, v. 7,3f.). Diesen Wettstreit nimmt u.a. die Genitivmetapher Diner lüste rosen auf (v. 8,5), über die das Lied eine erotische Spannung aufbaut. Der Abgesang der vierten Strophe bringt einen neuen Uberbietungsgestus, den zweiten nach dem Rotsein-Wettbewerb: ,Ich leide mehr als Iwein', und die letzte Strophe präsentiert eine dritte Konkurrenz. In der hypothetisch angesetzten Rolle des Paris formuliert das Ich einen Rachewunsch: ,Hätte ich den Apfel des Paris zu vergeben, ich enthielte ihn dir, Minne/Venus, vor'. (2) In diese Reihe gehören zweitens adjektivische Kompositmetaphern wie ,rosenrot', ,rubinrot', ,feuerrot', unauffällige Komposita, die gattungsund autorübergreifend weit verbreitet sind. Ihnen gegenüber wirkt die
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Weiterfuhrend dazu Harald Haferland: Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie. In: PBB 126 (2004), S. 36-64, bes. S. 44ff. Metonymie wird hier umfassend als kognitive Operation aufgefaßt und so verallgemeinert, daß Haferland auch von „narrativer Metonymie" sprechen kann (S. 55), außerdem - über die Kategorien ,Kontiguität' und .Partizipation' — den Bogen von sprachlichen Sachverhalten zur (rituellen, magischen) Praxis schlagend, den Begriff zum Schluß (Anm. 78) auf einer Metaebene metaphorisch entgrenzt einsetzt (Willehalms Schwertgeste sei „geradezu eine Metonymie der Bereitschaft zum Handeln"). In Bezug auf Wolfram textanalytisch ergiebig: Stephan Fuchs-Jolie: Die Gleich-Gültigkeit des Möglichen. Wege zu einer nicht-fragmentarischen Poetik von Wolframs ,Titurel'. Habilitationsschrift masch. 2003, bes. S. 18ff. ,Metapher, Metonymie und Mikrostruktur' (erscheint demnächst bei de Gruyter). Grundsätzlich dazu: David E. Wellbery: Ubertragen: Metapher und Metonymie. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hg. von Heinrich Bosse und Ursula Renner. Freiburg/Br. 1999 (Rombach Grundkurs 3), S. 139-155.
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Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. 2 Teile. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Klasse. 3. Folge 119/120), XIV,6-10. Zu diesem Lied Verf.: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung. Tübingen - Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), S. 58ff.
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Adjektivbildung bei Ulrich von Liechtenstein: chleinvelhit^eroter süe^er munt, geradezu monströs. 32 (3) Drittens finden sich Überbietungs-Vergleiche des Typs ,röter als ...'. Sie kombinieren die Farbe Rot häufig mit anderen Farben. Lieblingsklischee ist die Verbindung ,lilienweiß und rosenrot'. 33 Die übertreibungsanfallige Variationsanstrengung des Spätmittelalters belegt Anfang des 14. Jahrhunderts die ,Minneburg', die den rhetorisch konventionellen ,rotweiß'-Kontrast wie folgt aufgreift: Alle Königreiche gäbe ich für sie hin. Nie kann ich zur Ruhe kommen, es sei denn, sie tröstete mich, „meine Zucker-Traube, die glänzt wie eine rote Rübe, die mit Milch Übergossen ist" {Mich tröste dann min pucker tmb \ Die do sam ein rote rube \ Glent^et, die mit milch begoßen \ Ist [...]).34 Auf der Hand liegt, daß solch exzessive Vergleiche sich hier zusätzlich sprachlich-klanglich verselbständigen, eine nicht zuletzt reimgesteuerte Sprachklangfaszination, der gegenüber die regulative Kraft der Ratio zu versagen scheint. (4) Wiederum in der ,Minneburg' stößt man auf eine in enger Folge geschaltete Serie von ,Roter Mund'-Variationen. Ich nenne zum einen (a) eine steigernd angeordnete Folge hyperbolischer Vergleiche: Ihr roter Mund leuchte heller als ein Blitz, heller als die Sonne, ja Gottes Pinsel selber müsse ihn gemalt haben (v. 3406ff.); wollte man das Zop ihrer Schönheit nur halbwegs aufschreiben, ein Wagen würde zusammenbrechen unter der Last des Geschriebenen (v. 3460ff.); zum andern (b) eine tierallegorische Erweiterung des ,Roter Mund'-Topos: Ihr roter Mund erwecke sein totes Herz wieder zum Leben, so wie das Brüllen des Löwen dessen tote Kinder verlebendige (v. 3485ff.); drittens (c) eine narrativepisodische Erweiterung: Meister Arnold von Würzburg könne darauf verzichten, rote Farbe zu kaufen. Er halte nur seinen Pinsel an ihren roten Mund und verfügt schon für die Dauer eines ganzen Jahres über rote Farbe: [...] Er nem nür sin pensei rein Und habt in an ire η roten munt: Zu hant und an der selben stund 32 33
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Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 (GAG 485), Lied 41, Str. 5, v. 6. Vgl. zur literarischen Tradition der ,Lilien und Rosen' die Stellensammlung bei Werner Fechter: Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter. Forschungen über Ausdrucksmittel, poetische Technik und Stil mittelhochdeutscher Dichtungen. Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 23), S. 48-61. Die Minneburg. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift cpg 455 unter Heranziehung der Kölner Handschrift und der Donaueschinger und Prager Fragmente hg. von Hans Pyritz. Berlin 1950 (DTM 43), v. 4745-4748.
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So vil der rbte dar in schüße, Da^ ein gant^esjar dann fluße Paris varb genug dar mr.35
Die an dieses Lob anschließende Klage (v. 4516ff.) will ausdrücklich den Ubertreibungsspezialisten Wolfram überbieten: Ich leide schlimmer als Sigune, Willehalm und Amfortas zusammengenommen (v. 4532ff.). (Die Wolfram-Imitatio der spätmittelalterlichen Minnereden, wie sie auf ganz verschiedenen Ebenen stattfindet, ist ein eigenes, unerledigtes Thema.) (5) Metonymisch gestörte ,Roter Mund'-Metaphern, wie Wolfram sie liebt, sind ein komplizierter Sonderfall; auf sie komme ich unten zurück. (6) Das ,Roter Mund'-Motiv erscheint häufig in fester Verbindung mit den Augen; so bei Morungen (z.B. MF 130,27ff.), insbesondere mit perspektivisch verschobenem, gespaltenem Subjekt: ,m e i η e Augen und d e i n roter Mund haben mich verletzt'. Irritierend allegorisch gebrochen und zugleich ,real' ist Morungens berühmte Modifikation des roten Mundes im Narzißlied, das den Mund (dessen Rotsein) mit Blut in Verbindung bringt (MF 145,1). Sowohl den feuerroten wie den rosenroten Mund kombiniert eine Morungen-affizierte Minnerede aus der LosseSammlung 36 : Do sach ich manegen roden mi'int, der stünt recht, als er were inbuilt von kchte[r] flammen fure; [...]
so^ir stemme nye gesanc so einen münde erclanc, d[er] bran recht als ein(e) roselin, da£ in deme myen gebit schin, wanne i^ in dem do we ufgat, da bigronen love stad.
(7) Als ,rot-weiß'-Kontrasttopos innerhalb von Schönheits-Descriptiones ist der rote Mund in der höfischen Epik allgegenwärtig. Eine Schlüsselszene ist Enites Auftritt am Artushof, der bei Hartmann alle Ritter erschrecken läßt ihrer unwahrscheinlichen Schönheit wegen. 37 Enites schamvolles Erröten wird mit Rosen und Lilien zusammengebracht, ihre 35 36
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Ebd., v. 4472-4477. Zwölf mittelhochdeutsche Minnelieder und Reimreden. Aus den Sammlungen des Rudolf Losse von Risenach. Iig. von Edmund E. Stengel und Friedrich Vogt. In: Archiv für Kulturgeschichte 38 (1956), S. 174—217, hier S. 211, Nr. 11, v. 108ff. Hartmann von Aue: Erec. Hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB 39), v. 1698ff.
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leuchtende Schönheit in eine aufsteigend angeordnete Reihe farbästhetisch akzentuierter Vergleiche gefaßt (v. 1701ff.). Hartmann brilliert hier mit einer amplifikatorischen Ubertreibung, die „nicht nur sich meint", sondern funktionstragend wird, indeili sie Enites Schönheit als Rangkriterium aufbaut, worauf — im Blick auf Chretien — Worstbrock hingewiesen hat. 38 Man sieht, welch breites Spektrum vertreten ist, nach beiden Richtungen quantitativer Verbreiterung und qualitativer Übertragung, dies durchaus gattungsübergreifend. Am äußersten Rand des oben improvisierten Spektrums steht eine Minnerede, in der die ,Roter Mund'-Hyperbel über mehrere hundert Verse hin zum kuriosen Mittelpunktthema aufsteigt. Sie interessiert mich im folgenden. Wohl aus dem frühen 14. Jahrhundert stammend, 39 ist sie in zwei Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts überliefert. 40 Meine Beobachtungen folgen der 361 Verse umfassenden (Lang-) Version im Codex Karlsruhe 408, einer um 1430 wohl im Ostfränkischen entstandenen Sammlung von 114 Reimpaardichtungen mittleren Umfangs, überwiegend Mären, Fabeln, Tugendlehren, aber auch Minnereden. An 85. Stelle, in der Nachbarschaft anderer Minnereden, steht: Von der schönsten frawen genant \ derrotmunt. Daß sie mit einer Hyperbel beginnt, wird nicht verwundern: ,Alle Frauen, die ich je gesehen habe, sind ein Schlag in einen Bach gegen sie, die eine, die ich jetzt gesehen habe.' 41 Uberbietung, damit hatte ich begonnen, schließt die Uberbietung der literarischen Tradition ein. Deswe38 39
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Worstbrock (Anm. 20), hier S. 6-9. Vgl. Ingeborg Glier: ,Der rote Mund'. In: 2 VL 8 (1992), Sp. 264f.; Glier (Anm. 27), S. 1 1 8 121. Unter dem Aspekt einer von verschiedenen „Präsenzeffekten" gestützten „Ablösung des Phänomenalen vom Diskursiven" hat Michael Waltenberger diese Minnerede vor kurzem analysiert: Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Oer rote Mund. Ich danke ihm herzlich für die Überlassung des Typoskripts. Der Aufsatz ist mittlerweile erschienen in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 248-274. Codex Karlsruhe 408 und (die kürzere Version) cgm 714. Text der längeren Version in: Codex Karlsruhe 408. Bearbeitet von Ursula Schmid. Bern - München 1974, S. 503-512; vgl. auch die ältere Edition: ,Die altdeutsche Erzählung vom rothen Munde'. Hg. von Adelbert von Keller. In: ders.: Verzeichnis der Doctoren, welche die philosophische Facultät in Tübingen im Decanatsjahre 1873 bis 1874 ernannt hat. Tübingen 1874, S. 8-^20. Die Minnerede erscheint als Nr. 1 bei Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25). Was ich frawen je gesach. \ Daß ist als eyn slack in ein bach \ Wider eyn, die hon ich nu ersehen. (v. 1-3)."
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gen kommt unsere Minnerede schon in Vers 6 bei Wolfram an, der, auch das wenig überraschend, mit einem Superlativ eingeführt wird: ,Er, der Frauen so rühmen konnte, daß keiner ihm darin überlegen war' (v. 9f.) oder ,je überlegen sein wird' (Die merit also ver brynt, | daß nymmer sein gleich wirt, | Er hot ir aller lob ver irt, v. 16—18). Sodann läßt der Erzähler eine ganze Schar schönster Frauen aus Wolframs ,Parzival' Revue passieren: Beaflur, Orgeluse, Condwiramurs, Repanse de Schoye, Jeschute, Cunneware, und übertrumpft im selben Atemzug diese Schönheitsgalerie: ,Hätte Wolfram meine Dame gesehen, er hätte sie alle stehenlassen und, bei meinem Leben!, getobt hätte er, d.h. jedes Maß verloren.' ([...] Bey namen erwolt dan toben; \ Er hutff mir die ßusen loben \ Mit red vnd mit schalle \ Endlich far sie alle, v. 35—38). Der Reim toben : loben (v. 37f.) kann für den hier vorgeführten und, wie wir sehen werden, auch besprochenen Sprechakt hyperbolisches Lob' (hohes lop, v. 30) als ein Schlüsselreim gelten. Es handelt sich um eine stereotype, andernorts in der Regel negativ besetzte Reimverbindung, 42 wohingegen die inhaltlich naheliegende Reim-Kombination rüemen : blüemen in der zeitgenössischen Literatur kontextabhängig negativ o d e r positiv konnotierbar ist (rüemen kann, muß aber nicht den Verdacht des Maulheldentums transportieren); wieder anders das Reimpaar gieren : florieren, das wertneutral scheint. Die genannten Signalreime, auch wenn systematische Untersuchungen ausstehen, belegen eine graduelle Skala. Zu ihr paßt die gleitende Synonymik der Rhetoriken [excessus ad uberantiam, aber: redundantiam denotat hyperbole, so oben Scaliger). Dies alles zusammengenommmen zeigt einmal mehr, daß die Grenze zwischen rhetorischer Abundanz und Redundanz fließend ist. Zurück zur Minnerede. ,Aber ach!', fällt das Ich sich ins Wort, ,Wolfram ist tot. Dann lob' ich sie eben': Oer ist do\n\ hin, das mag nit sein; \ So lob ich doch die frawen meyn (v. 44f.). Vierzig Verse hat es gedauert, bis der Erzähler wieder bei sich und seiner Schönsten ist. Was nun folgt, ist eine Reihe sich überschlagender Übertreibungen. Den Anfang macht eine Hyperbel im Irrealis, die sich über fast dreißig Verse ausbreitet: Jeder, der sie gesehen hätte, müßte zugeben, sie ist die Schönste' (v. 47-73). Dem folgt eine Hyperbel, die wie ein dreigliedriger Syllogismus gebaut ist und, biblisch inspiriert (Is 30,26), mit dem Kontrast ,Diesseits/Jenseits' arbeitet: 1. Prämissa maior: Im Jenseits seien die Menschen sieben Mal schöner als die Sonne. 2. Prämissa minor: Sie, die Lieb42
Nur drei Beispiele: Hartmann von Aue: Klagebüchlein. Hg. von Ludwig Wolff. München 1972 (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 4), v. 1512ff.: [...] gibt aber temen ,ivie der tobet | da~ er s! über ma^e lobet', | der selbe ist äne rehten sin [...]; Johann von Konstanz (Anm. 18), v. 1833f.: ,ach geselle, wie du tobest, \ da~ du mir minne also lobest [...]außerdem die Variation der ,Minneburg' (Anm. 34), v. 4398f£, die den stereotypen Reim auffällig ausspart: Ich wird da von utisynnig \ Und tobig in dem hirne, | Wenn ich dasselbe durch kirne [...].
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ste, sei schon hier, im Diesseits, schöner als die Sonne. 3. Conclusio: Wie schön -wird sie erst dort, im Jenseits, sein, etc. (v. 74—84). Der nächste Superlativ greift auf Gott zurück (er habe sie als sein vollkommenstes Geschöpf geschaffen, v. 86ff.). Da hält der Erzähler inne: ,Wollte ich alle ihre Körperteile angemessen würdigen, dann längte ich meine Geschichte' (v. 90ff.). Die rhetorische Konvention einer umfassenden Descriptio personae ist damit beiseitegeschoben. Warum, sagt er auch gleich, im nächsten Vers: Diß ist ein red als hundert. Hundert Mal sei das alles schon gesagt worden, daß sie singulär schön sei, schöner als schön: Lobt ichyeklicb irgellt. Hie lengert ich daß mer mit. Diß ist ein red als hundert: Ir schon ist aus gesundert, Daß ich gar hoch mil kronen Irschen vber alle schone, (v. 90-95). 43
Ist dies ein Fall besprochener, gewußter Trivialität? Wir sollten unvoreingenommener sagen: gewußter Konventionalität. Jedenfalls ist der Reim v. 92f. überraschend, weil er die Exklusivität (aus gesundert) mit der Konventionalität (ein red als hundert) so eng koppelt. Jetzt muß er es also anders machen, wenn er weitermachen will. Er versucht es so: Sie ist mein ,Heiligtum' — das ist aber schon wieder ein Topos. Die Neuerung besteht im komischen Wörtlichnehmen (v. 96f£): Die Wallfahrer und Rompilger, die sich's gut gehen lassen und sich den Wanst vollschlagen, wenn die das für ehrenvoll halten, daß man sie bestreigt mit hejlgtum (v. 101), die täuschen sich. Haben sie doch nur tote Knochen (toten bein). Dagegen sein Heiligtum erlöse wahrlich von allem Unheil (von vnselden, v. 108). Denn jenes - die heiligen Knochen - spricht ja nicht, dieses aber - ,mein süßes Gesicht' - , es spricht, hört, sieht und lächelt liebevoll (v. 112ff.). In meinen Ohren klingt das wie eine WaltherAnspielung (wie ein schwaches Echo auf 66,2144). 43
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Man könnte sich auch eine andere als die in der Ausgabe von Schmid (Anm. 40) vorgeschlagene Interpunktion denken (einen Punkt statt des nach vorne öffnenden explikativen Doppelpunkts in v. 92). Dann ergäbe sich ein Kontrastargument: „Ihre Schönheit ist dagegen so exklusiv [...]". Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin - New York 1996, 67,32:
Ich bäte ein schäme bilde erkom, und owe, da™ ich^ ie gesach und ouch so vil %uo ime gesprach! e~ hat schiene und rede verlorn. Da was ein wunder inne, da^fuor ich enwei~ war. dä von gesweic da^ bilde iesa. sin lilienrdsevarwe [!] wart so karkervar, daζ verlos smac unde schtn. [...]
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Nun folgt erneut eine Passage, die sich einige Zeit auf der Metaebene aufhält. Die Kritik trifft diesmal nicht die ausladende Descriptio-Technik insgesamt, sondern eine konkrete Schmuckfigur, die wir schon kennen: den Rosen-Lilien-Tropus. Der sei kindisch, einfallslos, allenfalls eine Notlösung: Sp rech ich, das die frame mein Het Hilgen weis vnd rosen schein, Die red wer ein teil ^e grob, Wann rosen ist der kind lop, Oder der nit wegerß vinden kan, Man sec^t ein rosen dort hin dan. So es sey inder rosen %eyt Vnd als dasfeit mit rosen l y t , Vnd so sie vor dem taw auff gen Vnt spilent in rechter rot sten [...] (v. 116-125).
Im Anschluß folgt — der Erzähler muß es ja besser machen — ein hyperbolischer Vergleich, der über zwanzig Verse ausgreift: Selbst das Rot einer Rose, die das Rot aller Rosen auf sich vereinte, so daß sogar ihre Staubfäden rot wären, selbst diese rose cluck müßte verblassen angesichts der flammenden Röte ihres Mundes, den Gott selbst entzündet habe (v. 125148). Allmählich geht dem Autor beim Übertreiben die Luft aus. Er setzt neu an und kündigt die Erzählung eines großen Wunders an (v. 155). Scharnierstelle sind die Verse 150-153, die die Autorität der Literatur und die der Augenzeugenschaft nebeneinanderstellen (pointiert im Reim: von rot iehen : selber gesehen, v. 150f.). Genaugenommen folgen zwei Wundergeschichten, ein groß wunder und ein aller grost wunder ( y . 172); das Prinzip steigernder Wiederholung greift demnach auch in der Makrostruktur des Textes. Zunächst das ,große' Wunder: Ihr Mund sei so herausragend rot, daß seine Röte auf die Münder aller, denen sich ihr Gebet zuwendet, abfärbe (v. 155—164). Dieses groß wunder zieht sogleich zwei Wahrheitsbeteuerungen nach sich: Es ist wor, gelaubt mir (v. 165), und: Es ist wor, ich hons gesehen (v. 167). Das zuletzt beanspruchte Argument der persönlichen Augenzeugenschaft, das die eingangs beschworene fremde Augenzeugenschaft - als hypothetische: ,wenn Wolfram sie gesehen hätte ...' - nun überbietet, löst den Bericht des zweiten allergrößten Wunders' aus. Erzählt wird die folgende Geschichte: Sie, die Schönste, kniet vor dem Altar in der Kirche, in der Hand einen Psalter. Der Erzähler ist ganz in ihrer Nähe, so nah, daß er in ihrem Psalter mitlesen kann (hier ist eine dritte Wahrheitsbeteuerung eingeschoben: Es ist wor, gelaubt mir, v. 180). Da sieht Vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Walther von der Vogelweide: Ir reinen wtp, ir werden man. In: ZfdA 124 (1995), S. 1-25.
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er, daß sich die schwarze Tinte der Notenschrift rot färbt. Auch das weiße Pergament färbt sich rot, das es den äugen rot bot (v. 191) — ein unüberhörbares Wolframzitat 45 —, die weißen Wände stehen in Flammen, die Kirchenfenster brennen rot, brennen bis heute noch: ein Wunder. Zum Erstaunen des Ich liest sie, die Schöne, ganz ungerührt weiter im Psalter, laut, und zwar, nicht ohne erotischen Doppelsinn, die Psalm-Worte: ,Herr, öffne meine Lippen' (Domine labia mea aperies, ν. 204; vgl. Ps. 50,17).46 Der Psalter glänzt daraufhin in ihren weißen Händen, röter als die Sonne am Ostermorgen: [...] Rotter dann der sunden schein, \ Als sie an dem ostertag a u f f g e t | Vnd spilent in rechter rot stet (v. 207ff). Diese Formulierung gibt deswegen zu denken, weil der Autor, der in seinem oben zitierten metaphernkritischen Einschub (v. 124f.) den ,rosenrot-lilienweiß'-Topos als trivial gebrandmarkt hatte, im Blick auf diesen Vers seines eigenen Gedichts allen Grund hätte, sich zu beschweren. Die Formulierungen sind dieselben, hier wie dort, womit der Autor sich ein wenig die Pointe verdirbt. Jedenfalls, das Ich kann nur noch an Rot denken. Der Psalter geht in Flammen auf, und alle, die in ihrer Nähe stehen, sind geert und gewirdet (v. 241f.). Bei v. 243 ist dann Schluß: Das kan ir munt, derfraiven myn. Aber es folgen noch gut hundert Verse. Das hyperbolische Lob weicht einer hyperbolischen Klage (leyt vor allem leyt, v. 294): Sie versagt ihm den Gruß. Trotzdem will er ihr beständig dienen. Unüberhörbar übernimmt die Minnerede mit dieser Doppelung der Sprechakte ,Frauenpreis' und ,Klage' ein prominentes Minnelied-Strukturmodell. Ganz zum Schluß ist immer noch nicht Schluß. Der Erzähler wendet sich an sein Publikum, zunächst mit einer (letzten) Wahrheitsbeteuerung: ,Frauen, Mädchen, Männer, ihr denkt, ich scherze?' ([...] Ir went leicht, es sey myn spot? \ Es ist ivor, summer got!, v. 320f.), dann mit einem Appell: ,Ihr habt mir aufmerksam zugehört. Jetzt seid ihr dran! Ich kann schweigen.' (v. 348ff.) Damit ist abschließend die - unabschließbare - Hyperbolik ans Publikum delegiert. 47 45
46 47
Das phantastische Rotsein von Ithers Rüstung wird eingeleitet durch die Verse: Sin harnasch was gar so rot \ da~ e™ den ougeti rate bot (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann [...]. Berlin - New York 1998, v. 145,17f.). Zur das Auge bedrohenden Farbintensität vgl. Elisabeth Schmid: iveinditt ougn hänt stiegen munt (272,12). Literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Ρarrival. In: Wahrnehmung im Parzjval Wolframs von Eschenbach. Actas do Coloquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hg. von John Greenfield. Porto 2004, S. 229-242, hier S. 236: Rot als „Aggression des Auges". Die Verse 203 bis 300 fehlen in der kürzeren Fassung des cgm 714; dazu Keller (Anm. 40), S. 15; die Szene wird hier statt in der Kirche in der Küche angesiedelt. Als „textexterne Anschlußkommunikation" beschrieben von: Ludger Lieb und Peter Strohschneider: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. von Gert Melville und Pe-
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Die Geschichte zeigt, daß es gar nicht so einfach ist, zwischen toten und lebendigen, stereotypen und exklusiven Hyperbeln zu unterscheiden. Albern (der kind /op) oder ernst? Ironisch? Ironisch aus souveräner oder aus unsicherer Distanz? Ist die ,Ironie', die etwa darin liegen könnte, daß der Erzähler Formulierungen, an deren Repetition er zu leiden behauptet, selbst übernimmt, nur eine von uns wahrgenommene? Dann wäre sie vom Autor naiv übersehen? Was liegt vor, wenn einerseits die Abgedroschenheit von Formulierungskonventionen zum Thema wird, anderseits diese überboten werden sollen mit eben denselben Mitteln? Um einen Standort über dem singulären Phänomen zu gewinnen, sei nachträglich Wolfram ins Spiel gebracht, in gebotener Kürze, mit drei Beispielfällen, die kürzlich Elisabeth Schmid im anderen Kontext des Problems der Wahrnehmung im ,Parzival' zusammengestellt und analysiert hat:48 (1) Als Parzival Jeschute zum zweiten Mal antrifft, ist sie zwar äußerlich heruntergekommen, doch ihrem Mund konnte die erlittene Unbill nichts anhaben: smeζ ie kom, ir munt was rot: der muose alsölhe varwe tragen, man hetefiwerwol drtt^geslagen. (v. 257,18-20)
Der Vergleich ,feuerrot' wirkt auf den ersten Blick konventionell. Aber Wolfram läßt das hyperbolische Feuer nicht der Hitze des Mundes entspringen, sondern der Röte selbst. So steigert er die Farbe über alles vorstellbare Rot hinaus. Das ist durchaus ein Ansatzpunkt der oben vorgestellten Minnerede, die auf ihre Weise eine maximale Bild-Intensität sucht. (2) Der eifersüchtige Orilus hatte angekündigt, er werde Jeschute Grund genug zum Weinen geben: ich sol veliven iweren roten munt, [und] iwern ougen machen rate kunt. (v. 136,5f.)
Bleiche Lippen, rote Augen. Hier liegt eine metonymisch ausgelöste Uberkreuzung rhetorischer Konventionen vor: Die Röte geht vom Mund auf die Augen über, die als gerötete ein Indiz sind für erlittenes Leid. Sichtbar wird auf engstem Raum die Verbindung von Minne und Gewalt.
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ter von Moos. Köln - Weimar - Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275-305, hier S. 302 mit Anm. 50. Zum Schluß der Minnerede (Überlieferungsvarianz, Schreiberzusatz) vgl. Waltenberger (Anm. 39). Schmid (Anm. 45), S. 232-234.
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Wolfram bringt typisch Farben an Stellen unter, wo sie für die geltenden Schönheitsstandards nicht hingehören. 49 (3) die gäbe enpfienc der degen guot. do streich er von dem munde \pluot und kuste sines herben tritt, (v. 270,5—7)
Parzival besiegt Orilus im Zweikampf. Ein Kuß soll die Versöhnung von Orilus und Jeschute besiegeln. Aber Orilus, dem beim Kämpfen Blut aus der Nase gequollen war, hat einen blutverschmierten Mund. Sie küßt ihn trotzdem, und wieder wird — hier an dem buchstäblich blutroten Mund — der Zusammenhang von Minne und Gewalt erkennbar. Bereits mit diesen wenigen Wolfram-Stellen ergeben sich ganz verschiedene Konstellationen im Blick auf den feuerroten, fahlen, blutroten Mund und die naßroten Augen: metaphorisch gestörte Vergleiche stehen neben metonymisch gestörten Metaphern. Die Blutstropfenszene gehörte ebenso in diesen Zusammenhang (auch wenn die ,Rot-Weiß'-Semiotik hier wieder anders und komplexer ist). Immer wieder läßt Wolfram den roten Mund zum handelnden Subjekt von Überbietungsvergleichen werden (ir munt den bluomen nam irpris, Pz. 426,29). 50 Nicht Parzival, sondern dessen personifizierter roter Mund sitzt stumm neben Cundwiramurs; der Mund, der zu Füßen gehört, die in Steigbügeln hängen, usf.: eine merkwürdige, wolfram typische Verschiebung von logischem und grammatischem Subjekt. Verlassen wir damit das in der Lyrik (überwiegend der Neifen- und Morungen-Tradition) greifbare, in der Epik vor allem von Wolfram spezifisch umgesetzte ,Roter Mund'-Motiv und kehren zurück zur oben vorgestellten Minnerede ,Der rote Mund'. Unsere Beobachtungen lassen sich wie folgt zusammenfassen. Das organisierende Prinzip des Textes ist mit Händen zu greifen. Als eine Art Textgenerator fungiert die hyperbolische Metapher vom ,brennendroten Mund', die schon im Titel der Minnerede auf einen Superlativ zusteuert. 51 49
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Vgl. ebd., S. 233, außerdem Stephan Fuchs-Jolie: at na\ von rate (Tit. 115,1). Visualisierung und Metapher in Wolframs Epik. In: Wahrnehmung im Pargvat Wolframs von Eschenbach. Actas do Coloquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hg. von John Greenfield. Porto 2004, S. 243-278. In der im Aufsatztitel zitierten Titurelstelle ist die Röte (und Nässe) rotgeweinter Augen vertauscht mit der erotisch attraktiven Röte des roten Mundes, über das Ineinandergreifen metonymischer und metaphorischer Bezüge. Das Beispiel ist auch erwähnt bei Haferland (Anm. 30), S. 54. Deren Attraktivität — allgemein gesprochen — könnte damit zusammenhängen, daß der Weg von der anschaubaren Idealität zur erotischen Attraktivität so kurz ist, außerdem verbale (sprich ,ja!") und nonverbale Kommunikation (Lächeln, Kuß, Gruß) ineinander über-
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Die hyperbolische Text-Generierung funktioniert nach einem einfachen Muster: dem Muster steigernder Häufung im ersten Teil, dem Muster einer konkretisierten Metapher im zweiten Teil (wo das metaphorische ,Brennen' des Mundes auf die Handlungsebene übergreift). Evident ist weiter, daß mit literarischen Anspielungen gearbeitet wird. Vor allem Wolfram wird herbeizitiert, an dessen sprachlichen Habitus der Erzähler anzuschließen versucht, um stereotypen Konstellationen und langweiligem Mittelmaß, wie er sagt, zu entkommen. Mit der uneingeschränkten Übertreibung der Sprechakte lop und klage steht darüber hinaus der Minnesang im Hintergrund. Außerdem wird schwankartig die Ordnung der Minne mit der religiösen Ordnung konfrontiert (durchweg: Heiligtum, Reliquien, gro\ wunder.; Kirchenraum, Ostern, erotisiertes Psalmenzitat). Beide Textteile verbindet, daß das Prinzip der Übertreibung mit seinen Implikationen Übermaß und Überbietung auffällig dicht mitbesprochen wird (die Descriptio-Technik, der Rosen-Lilien-Topos, das ,νοη rot ieherf, die Wolfram-Imitatio). ,Der rote Mund' ist also auch ein Metatext, ein Text über literarische Konventionalität im Horizont von Imitatio und Aemulatio. Er wechselt häufig und offen die Ebenen. Das wiederum stellt eine Distanz her, einen bescheidenen Spielraum für: Ironie. Von diesen Überlegungen aus läßt sich zum Schluß zurückkommen auf die noch ausstehende Frage der Wertung. Unsicher ist nach wie vor, wie jene Techniken eingeschätzt werden sollen, mit denen die Minnerede ,Der rote Mund' das Mittel der Übertreibung nutzt, um i n n e r h a l b der Konventionsbindung der Literatur a u f z u f a l l e n . Immerhin konnten wir beobachten, daß der Text das Bewertungsproblem kennt und durchaus miterzählt, reimt er doch unter anderem die Exklusivität (aus gesunderl) unvermittelt auf die Konventionalität (diß ist ein red als hundert, v. 92f.), als wollte er markieren, daß Konventionsbrüche schneller, als es bemerkt werden kann, wieder zur Konvention werden. Daß der Erzähler den Trivialitätsverdacht für sich selbst ausblendet und ihn immer nur den andern zumutet, versteht sich von selbst. Programmmatisch unterscheidet er die Könner und die (hundertfachen) Stümper im Übertreiben und rückt als unübertroffenen Meister Wolfram sowie, in dessen Nachfolge, sich selbst weit nach vorn. Die Ausarbeitung einer Theorie spezifisch mittelalterlicher Konventionsbindung der Literatur steht noch aus.52 Für die Poetik der klassischen Antike hat Friedrich Nietzsche folgenden Vorschlag gemacht:
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gehen können. Die Vorstellung, daß man die Dame beim Sprechen küßt, also Kuß und Wort zusammenfallen, findet sich etwa bei Reinmar (MF 159,37) oder bei Walther (43,37). Vgl. dazu den Vorstoß von Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142.
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Susanne Köbele D i e künstlerische Convention. — Dreiviertel H o m e r ist Convention; u n d ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der m o d e r n e n Originalitätwuth keinen G r u n d hatten. Es fehlte ihnen alle A n g s t v o r der Convention; d u r c h diese hiengen sie ja mit i h r e m P u b l i c u m z u s a m m e n . Conventionen sind nämlich die für das Verständnis der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die m ü h v o l l erlernte g e m e i n s a m e Sprache [...].·53
Soweit Nietesches Sicht auf „künstlerische Conventionen", auf die Schemabindung und Vorlagenbindung der antiken Literatur, auf stereotype Konstellationen als Wissensspeicher und als „mühvoll erlernte gemeinsame Sprache". Eine ungelöste Stelle in einer Theorie spezifisch mittelalterlicher Konventionsbindung wäre der Stellenwert der Ironie, ein Problem, das ich auch für die auffällig übertreibenden Minnereden nur anstoßen konnte. Ironie wäre dabei nicht im engeren Sinn einer rhetorischen idissimulaÖö)-Figur geltend zu machen, die das Gegenteil des Gesagten anzielte, sondern, aus dem fest umrissenen Bereich der Rhetorik heraustretend, als eine Sprechhaltung, die die „Verstellung" der Ironie auf die literarische Konfiguration übergehen ließe: auf das Verhältnis von Autor-TextLeser/Hörer. 54 An mehreren Stellen ließ sich für den ,Roten Mund' ein solches Heraustreten des Autors aus seinem Werk beobachten, eine augenzwinkernde Interaktion des Erzählers mit dem Publikum, die das eingangs von mir skizzierte Risiko der Übertreibung mitdiskutiert: Je unwahrscheinlicher Übertreibungen, um so dringlicher der Wahrheitsbeteuerungsbedarf. Ubertreibungen lügen? E^ist wor (v. 78, 165, 167, 180, 321). Ubertreibungen spielen? ist kein spot (ν. 320). Übertreibungen wirken künstlich? ,Macht ihr es besser!' (v. 349). Im Blick auf die Gattung Minnerede schiene es mir auch lohnend, nach ironischen Reimen zu fahnden. Lohnend wäre darüber hinaus die Suche nach Texten, die die Gattung Minnerede als solche ironisch distanzieren, deutlicher noch als ,Der rote Mund' dies — vielleicht — tut. Ein Beispiel dafür, zum Schluß: Unter dem Namen ,der König vom Odenwald' 55 sind im Anschluß an Lieder Reinmars in der ,Würzburger Liederhandschrift' eine Reihe von Texten aufgezeichnet, reden, die das Genus der klassisch-höfischen lopRede parodieren und ihre komische Wirkung aus dem Gefalle von literari53 54 55
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II. Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 122, KSA 2, S. 604. Dazu im Uberblick Ernst Behler: Ironie und literarische Moderne. Paderborn u. a. 1997, bes. S. 21-69. König vom Odenwald: Gedichte. Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch. Mit einer Einleitung zur Klärung der Verfasserfrage, hg. und übertragen von Reinhard Olt. Heidelberg 1988, Nr. VII. Vgl. dazu Gisela Kornrumpf: Der König vom Odenwald. In: 2 VL 5 (1985), Sp. 78-82.
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scher Ambition und Gegenstandsniveau be2iehen. Sie gehören in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Eine dieser reden kündigt gleich im ersten Vers spehe funde an, beginnt dann aber mit einem unverborgen stereotypen Eröffnungsthema, nämlich mit einem Traum, wie sich das für eine Minnerede gehört. Dieser Traum häuft das gesamte topische Arsenal (Begegnung mit schöner Dame, Dialog, Belehrung): Unter einem Baum begegnet dem Ich eine schöne Dame. Eine höfische Kommunikation setzt ein, ausdrücklich voller *uht, umständlich (,Sag mir, König, wonach steht dein Verlagen?' - ,Ich will mich bei Dir niedersetzen'). Man kommt sich näher, Rede und Gegenrede gehen vorhersehbar hin und her. Dann kündigt die frauwe wolgetan im Flüsterton eine Frage an, doch unsere naheliegende Erwartung auf eine Minnefrage wird enttäuscht. ,Unterweise mich', wispert sie nämlich,,warum die Männer jetzt immer so lange Bärte tragen': „Du solt mich untermise, Die die langen berte tragen. Von den solt du mir etwa\ sagen. Wie sie da% nu gemeinen. " (v. 20-23)
Das Ich läßt sich nicht lang bitten, erläutert, systematisch numerierend von 1-10, verschiedene Semantiken des Barttragens, kulturhistorisch aufschlußreich, aber poetologisch deplaziert. Bärte, erfährt die Dame, bezeichnen fallweise einen Rachewunsch, Sühnebereitschaft, die Teilnahme an einer Wallfahrt, Männlichkeit, Eitelkeit oder die Lebensform des Mönchs. Die Dame dankt, dreht sich um. Während sie schon weggeht, läßt sie noch eine Bemerkung fallen: ,Gib acht - und wir sollten wohl davon ausgehn, daß der Gefragte selber einen Bart trägt —, mir gefiele es, wenn einem der Bart n i c h t in den W e i n h i n g e beim Trinken'. Was ist hier passiert? Durch die unerwartete Konfrontation des Traumeingangs mit dem literaturungewohnten Stoff, auch durch die zum Schluß hergestellte Verwirrung von zeichenhaftem und buchstäblichem Aussagestatus (Semiotik der Bärte/ ,hängt sie doch nicht immer in den Wein!') entsteht eine zugegeben mäßig witzige Pointe. Das in den reden des Spätmittelalters sonst allgegenwärtige Minnethema ist auffällig ausgespart, und nicht nur in dieser, sondern auch den anderen reden desselben Autors, die Titel tragen wie: ,Vom Lob der Kuh', ,Lob der Gänse', ,Vom Stroh' oder ,Die Badefreuden'. Soll das heißen: Die M n n e ist ein zu ,triviales' Thema? Oder braucht der Autor es umgekehrt gerade als abwesendes, zur Konstruktion seiner Pointe? Feststellbar ist jedenfalls auf der einen Seite die Sensibilität für eine gewisse Übersättigung, anderseits und zugleich das Bedürfnis, weiterzumachen. Durch den Kontrast der erzählten Situationen (Die Dame, die sich belehren lassen will, gibt selber eine schnippische Lehre zurück) entsteht ein ironischer Stilbruch, wie ihn auf andere Art auch bereits die Diskrepanz zwischen
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Inhalt (Bärte) und Form (Traumeingang) hervorgekehrt hatte. Gleich zu Beginn wurde der Minneredeneingang als Topos überspielt und mit theatralischer (übertreibender) Geste ad absurdum geführt.
IV. Schluß Damit bin ich am Ende meiner Überlegungen angekommen. Aus meinen Beobachtungen, die an der .hyperbolischen Hyperbolik' der Minnerede ,Der rote Mund' ansetzten, möchte ich abschließend folgende Schlußfolgerungen ziehen. (1) Übertreibungen betreffen stets das Verhältnis zu einer Grenze. Übertreibung gilt als Abweichung vom Maß. Nur konsequent wird, quer durch die Gattungen, das Minnethema von Anfang an als Relation von minne und mä%e verhandelt; ist es immer zugleich Stil-, Moral- und Affektdebatte. Im Spätmittelalter schließlich wird das Minnethema, längst Toposwissen und verfügbarer Bestand 56 , geradezu universal, Katalysator und Wertzentrum ganz heterogener Debatten. (2) Im spätmittelalterlichen Liebesdiskurs schließt die Überbietung besonders dringlich die Überbietung der literarischen Tradition ein. Wer spricht, muß sich vor dem Hintergrund des schon Gesagten mehr denn je Gehör verschaffen, ist er doch einer immer größeren Rivalität von Aufmerksamkeiten ausgesetzt. Der Effekt ist eine uneingeschränkte und gewissermaßen unendliche Übertreibung der Übertreibung, wie sie der ,Rote Mund', ganz und gar vom Unwahrscheinlichen' überwuchert, exemplarisch vorführt. (3) Der Übertreibung eignet eine Gleichzeitigkeit von Konvention (red als und Konventionsbruch {aus gesundert). Daraus resultiert ein paradoxer Effekt: Ein großer Teil der Minnereden (um so mehr die sogenannten ,geblümten') forcieren die Abweichung, den Konventionsbruch, und produzieren zugleich die Einzigartigkeit in Serie. hundert)
(4) Von der Lyrik erben die seriell produzierten Minnereden das Doppelthema Liebe und Sprache. ,Ich liebe' und ,Wie spricht man über Liebe?' sind asymmetrische Perspektiven, so daß - auch noch in den Minnereden 56
Ein Überblick bei Rüdiger Schnell: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern - München 1985 (Bibliotheca Germanica 25). Besonders auffallig verteilen in der ,Minneburg' die drei Prologstrophen das Wirken der Minne absteigend auf Gott, den Kosmos und das Ich.
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— unumgänglich Objekt- und Metaebene, Ich-perspektivisches und exemplarisches Sprechen ineinanderfließen. Auch das könnte ein geschätzter Reiz sein. Die Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Minnelyrik einerseits, die Konfrontation mit einer neuen Einstellung (Meisterschaft, Wissen) anderseits bewirkt, daß sich in den zunehmend wissensgesättigten, häufig allegorisch dominierten Minnereden ästhetische und theoretische Einstellung immer mehr berühren. Die Diskussion der Kontextbeziehungen würde auf die von der Forschung nicht ausgeleuchtete Frage führen, wie genau sich die Verlagerung des Minnediskurses vom Minnelied auf die Minnerede in überlieferungsgeschichtlicher, poetologischer und konzeptioneller Hinsicht auswirkt. (5) Die Beliebtheit der Minnereden könnte zusammenhängen mit der an Hyperbolik gebundenen hohen Flexibilität der Anteile Imagination, Reflexion, Narration. Was übertreibend vorgestellt, reflektiert, erzählt werden soll und warum gerade dies vorgestellt, reflektiert, erzählt werden soll, das bliebe von Fall zu Fall zu gewichten und zu bestimmen. 57 Wo aber, allgemein gesprochen, Imagination, Reflexion und Narration so flexibel zusammenspielen, liegt ein Ineinandergreifen der Aussageebenen nahe. Wörtlichkeit und übertragene Rede können wechseln (so, für unser Beispiel gesprochen, der buchstäblich und übertragen brennende rote Mund). Ebensogut können allegorische und narrative Ebene wechseln, kann Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches mit wechselnden Anteilen gegeneinander verrutschen: qua Übertragung und qua Übertreibung. (Der in dieser Hinsicht einschlägige, zum Schluß von mir zitierte Text über die Semantik des Barttragens hätte im Karlsruher Codex 408 eine Entsprechung in einer kleinen rede mit dem Titel Die sechs varb.ss) (6) Ist die ,Kunst der Übertreibung' in den spätmittelalterlichen Minnereden nun ,trivial? Die heikle Frage der Wertung wollte ich zugunsten einer ,rein' funktionalen Perspektive nicht ausklammern. Mein Vorschlag war eine Binnen-Differenzierung: Wer übertreibt, kann etwas zum Vorschein bringen, was sonst unbemerkt bliebe oder was unbemerkt geblieben ist. Das wäre die Erkenntnis chance der Übertreibung und zugleich ihr möglicher ästhetischer Gewinn: eine sprachlich-imaginative Vervielfälti57 58
Vgl. Bertau (Anm. 20), S. 286. Text in: Schmid (Anm. 40), S. 79-84. Hier läßt sich umgekehrt die Dame zeichenhaft Verschlüsseltes vom Ich erklären. Skeptisch fragt sie nach, warum und inwiefern die Frauen auf einmal mit der Farbe ihrer Kleidung ihren Herzenszustand verraten. Zwar ist sie einerseits mißtrauisch solcher Farbmarkierung gegenüber und klagt Verschwiegenheit ein, um die Gefahr der Manipulation und Übertreibung (!) zu bannen (v. 55ff. und 128). Anderseits läßt sie sich die Farbsemantik (Grün für den Liebesanfang, rot für das Feuer der Liebesqual, Blau für die Beständigkeit etc.) doch recht gern erklären.
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gung von Aspekten und Möglichkeiten durch Häufung, Zuspitzung, Übertragung, Ironie. Übertreibung kann aber ebensogut etwas zum Verschwinden bringen. Dann bliebe sie (diskursiv, ästhetisch) leer. Mit dieser Ambivalenz hyperbolischer Rede hatte ich begonnen. Nur eine Übertreibung, bei der die Steigerung von Reizen mit der Verfeinerung von Aufmerksamkeit einherginge, nur eine Übertreibung, die sich nicht erschöpfte in der Relation zum Gegebenen, wäre — vorläufig gespochen — ,nichttrivial'. Eine Antwort auf die Frage nach der Funktion der Minnereden könnte demgegenüber so aussehen: Übertreibung reagiert auf Übermächtiges, Undurchsichtiges. Für das Minnethema sind über die Jahrhunderte zwei Dauerirritationen stehengeblieben: ,Ist die Liebe wahr?' und ,Ist sie dauernd?' Nichts anderes beschwören die unendlichen Übertreibungen der Minnereden: die Unbeweisbarkeit (Unbegründbarkeit) und unmögliche Ständigkeit der Liebe. Neu? da^ alte spil, das älteste.
JENS HAUSTEIN
Geblümte Rede als Konvention? Regeln, auch solche, die literarischen Texten zugrunde liegen, treffen stets auf Erwartungen. Diese Erwartungen werden erfüllt, wenn die Regeln angewandt sind. Regelhaft konstruierte Texte nun lassen sich bestimmten Textgruppen zuordnen und je regelgerechter sie sind, je leichter fällt dem Rezipienten, zumal dem literarisch versierten, die Zuordnung. Regeln schließen aber auch, selbst wenn sie kompliziert und selbst dann, wenn sie nicht explizit formuliert sind, auf oft inkriminierende Art und Weise alles Unregelhafte aus. Minnereden sind zunächst einmal, und darüber dürfte in der Forschung Einigkeit herrschen, vergleichsweise hoch reglementierte Texte. Die strukturellen Regeln sind im Falle der Minnereden recht gut erkennbar und mehrfach beschrieben worden: Das „MinneredenKorpus", schreibt etwa Ludger Lieb, konstituiert sich „durch einen gemeinsamen Motivbestand [...], durch Versatzstücke [...] und stereotype Strukturen". 1 Freilich rufen im- oder auch explizite Regeln immer auch Verstöße gegen die Regeln auf den Plan. Diese Verstöße, wenn sie als solche erkennbar bleiben und nicht das ganze Regelsystem verschieben, setzen aber Regeln nicht außer Kraft, im Gegenteil: Sie bestätigen sie sogar. Regel und Regelverstoß gehören also zusammen, und je regelhafter eine Gattung ist, um so auffälliger tritt der Regelverstoß ans Licht. Solche Regelverstöße weist die Gattung ,Minnerede' nun nicht wenige auf. Der „thematisch-stilistischen Einförmigkeit" der Minnerede steht eine „Fülle von Überraschungen" entgegen. Mit Überraschungen sind Regelverstöße gemeint, Regelverstöße dann, „wenn man den Blick auf die Diskurse, auf Ausgeschlossenes und Zugelassenes, auf die Strukturiertheit der imaginierten Welten und Räume, auf kommunikationspragmatische und diskur-
1
Ludger Lieb: Minnerede. In: RLW 2 (2000), S. 601-604, bes. S. 602. Im vorhergehenden Absatz weist Lieb auf die gattungstypologischen ,Regeln' hin.
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Jens Haustein
sive Prozesse" lenkt. 2 Ein paar Hinweise auf solche Regelverstöße: Dem fast biedermännischen Ernst der allermeisten Minnereden in der Darstellung und Argumentation steht die Ironisierung des Minnegeschehens oder der Minnelehre in einigen Texten entgegen; 3 der motivischen Hermetik die gelegentliche Öffnung hin auf die Zeitkritik; 4 der Verbundenheit der höfischen Tradition gegenüber die — zugegebenermaßen — vereinzelte Freude am Obszönen und Fäkalischen; 5 dem ostinaten Frauenpreis dessen hier und da beobachtbare Ablehnung; 6 der vorherrschend diskursiven Form deren Aufhebung in der raumgreifenden Narration 7 oder der stilistischen Schlichtheit eine auffällige Freude an der sprachlich elaborierten Darstellung. Auf Letzteres möchte ich mich im folgenden konzentrieren und mich nach der Funktion der Stilmittel, die man dem ,Geblümten Stil' zurechnet, im Gattungskontext der Minnereden fragen. Nun kann man nicht über ,Geblümten Stil' reden, ohne sich, selbst wenn man sagt, was man darunter versteht, angreifbar zu machen. Denn die Positionen in der Forschung reichen bekanntlich von einer völligen Ablehnung des Begriffs 8 bis hin zu ganz unterschiedlich weit ausgreifenden Versuchen, ihn in sein historisches Recht zu setzen. 9 Ich werde mich auf das, was man ,Geblümten Stil' im engeren Sinne nennen könnte, konzentrieren, also auf den erkennbar gehäuften Einsatz von sogenannten Verschiebungstropen wie Metapher, Vergleich, Metonymie bis hin zur Katachrese, die sich ja häufig mit Genitivkonstruktionen oder anderen Auffälligkeiten der Syntax verbinden. Es wird im folgenden nicht so sehr um Allegorien, vor allem 2 3
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5 6 7 8 9
Die Zitate stammen aus dem Expose zur Tagung, vgl. in diesem Band, S. 259-262. ,Ironische Minnelehre'. In: Zwölf Minnereden des Cgm 270. Kritisch hg. von Rosemarie Leiderer. Berlin 1972 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 27), S. 108119 (= Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 [MTU 25], Nr. 350). Vgl. ferner den instruktiven Forschungsbericht von Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hg. von Hans-Jochen Schicwer. Bd. 2. Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C: Forschungsberichte 6), S. 197-255, hier S. 220 (mit Hinweisen auf weitere Texte). Vgl. dazu Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 216 (zu Meister Altswert). Etwa Spottgedicht auf abenteuerliche Minne'. In: Leiderer (Anm. 3), S. 120-129, oder ,Lob der guten Fut'. In: ebd., S. 130-134; vgl. auch Achnitz (Anm. 3), S. 220. Vgl. dazu Glier (Anm. 4), vor allem S. 230 (zu Nr. XVII, XVIII und XXXXVIII Hugos von Montfort). Vor allem in den großen allegorischen Dichtungen wie der ,Minneburg', aber auch in der .Minnelehre' des Johann von Konstanz. Kurt Nyholm: Studien zum sogenannten Geblümten Stil. Äbo 1971 (Acta Academiae Aboensis A 39/4). Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der .Geblümten Rede'. Tübingen - Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41).
Geblümte Rede als Konvention?
Al
nicht um die größeren allegorischen Konstruktionen gehen, wenngleich, wie bekannt, sich beides, der ornatus difficilis und die Allegorie, gerade in der Gattung Minnerede gern miteinander verbinden. In einer Hinsicht werde ich ganz undifferenziert vorgehen: Ich unterscheide nicht nach Texten aus verschiedenen Zeiten und Regionen — was gerade mit Blick auf die sprachlich elaborierten Minnereden durchaus noch zu leisten wäre —, weil es mir nicht um Besonderheiten einzelner Texte oder Textgruppen oder gar um literarische Abhängigkeiten (etwa innerhalb der ,Konstanzer Minneredenschule' oder etwa unter dem Motto ,Egen und die Folgen') geht, sondern um etwas eher Allgemeines: um die Funktion der Darstellungsmittel, die sich — jedenfalls auf einen ersten Blick — gerade nicht als ,schemagerecht', als ,seriell', als ,stereotyp' oder ,einsinnig' zeigen, sondern als extravagant, elaboriert, ambitioniert. Wie tragen sie zu der jeder Gattung inhärenten Spannung zwischen dem Erwartbaren und dem Bedürfnis nach Regelerweiterung oder gar Regelverstoß bei? Oder noch pointierter gefragt: Kann das stilistisch und in seiner Metaphorik Exzeptionelle — und die geblümten Minnereden von der ,Minneburg', über die Dichtungen eines Egen von Bamberg oder Hadamar von Laber bis hin zu den Texten der Hadamar-Tradition im 14. und 15. Jahrhundert 10 galten und gelten ja als Sonderfall — kann dies Exzeptionelle möglicherweise die eine Seite derjenigen Medaille füllen, auf deren anderer Seite das stilistisch und inhaltlich Konventionelle eingeprägt ist?
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Zu den prominentesten Kennzeichen des ,Geblümten Stils' gehört die Genitivkonstruktion, die es erlaubt, zwei Vorstellungsbereiche auf eine überraschende Art und Weise in eine Konstruktion zusammenzubinden. 11 10
11
,Minneburg 1 : Die Minneburg. Hg. von Hans Pyritz. Berlin 1950 (DTM 43). Egen, .Klage der Minne': Otto Mordhorst: Egen von Bamberg und ,die geblümte Rede'. Berlin 1911 (Berliner Beiträge zur germanischen und romanischen Philologie 43), S. 3—10. Egen,,Herze': ebd., S. 11-15. Hadamar von Laber, Jagd': Hadamars von Laber Jagd. Mit Einleitung und erklärendem Commentar hg. von Karl Stejskal. Wien 1880. ,Der Minne-Falkner': Hadamar's von Laber Jagd und drei andere Minnegedichte seiner Zeit und Weise. Des Minners Klage. Der Minnenden Zwist und Versöhnung. Der MinneFalknet. Hg. von J. A. Schmeller. Stuttgart 1850 (StLV 20), S. 171-208. Zu diesen Texten vgl. Glier (Anm. 4), S. 116-187; Hübner (Anm. 9), S. 84-86 und 139144. Karl Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958, bes. S. 153-157. Dazu vgl. Nyholm (Anm. 8), S. 82-90 und Hübner (Anm. 9), S. 19-22. Auch zahlreiche Bilder Frauenlobs beruhen auf Genitivkonstruktionen (die ihrerseits in größere bildhafte Syntagmen eingebunden sind),
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Ubiquitär sind in den entsprechenden Minnereden Konstruktionen, die Körperteile, vor allem das Herz, in den Vorstellungsraum der Natur, aber auch den menschlicher Kultur oder den des Kampfes eingliedern. Etwa nach folgendem Muster: mines herben velt (Egen, ,Klage der Minne', v. 27) mine^ hert^en inseln (,Minneburg', v. 2353) mines hert^en berk (,Minneburg', v. 2487) mines muotes schilt, der spielt von blickes sper (Egen,,Herze', v. 40f.) mins leides swefelketti^en (,Minneburg', v. 1568) myns sinnes helme (,Minneburg', v. 4269)
Diese Konstruktionen, die ja im Grunde die Grenzlinie zwischen dem Ich und seiner naturhaften oder aber kulturgeprägten Umgebung verwischen, werden ergänzt durch eine Unzahl bildhafter Ausdrücke, 12 die einerseits eine Perspektive nach Innen eröffnen, in ein Inneres, in dem das Ich nicht mehr mit sich allein ist, anderseits ein Betrachten des eigenen Ichs oder sich vom Ich diffundierender Körperteile von Außen erlauben. Nur ein paar einschlägige Beispiele: din [d. i. die Minne] kroun min het\e küt^elt, da^ sieb verhutzelt und valtic, runzelt wirdet. (Egen,,Klage der Minne', v. 53-55)
Dem Herzen können sogar, im Gegenzug zu solchen Verkrümelungstendenzen, Körperteile gewissermaßen entwachsen: Njm margram opfel wasser Und diner gute %ipperwin Und diner truwen malvasin Gitß in mynes hert^en munt! (,Minneburg', v. 2520-2523)
Oder: Es sind mins hert^en bend und bein Zu sammen auch gelidet (ebd., v. 2550f.).
Allerdings kann sich der Verstand sogar ohne diese Beine vom Körper entfernen, wenn auch nur krabbelnd: [...], da\ du mir schaffest suon mit minne gen einem mibe, nach der mins sinnes schibe inniclichen gabelt und snelliclichen krabelt. (Egen,,Klage der Minne', v. 72-76)
12
vgl. dazu Karl Stackmann: Bild und Bedeutung bei Frauenlob [1972]. In: ders.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hg. von Jens Haustein. Göttingen 1997, S. 249-271. Die bevorzugte grammatische Konstruktion solch bildhafter Ausdrücke ist der Genitiv, es begegnen freilich auch Vergleiche, Metaphern, Parallelismen u. a. Hadamar macht ausgiebigen Gebrauch von der figura etymologica (vgl. nur Str. 228).
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Im Rahmen solcher Vorstellungen vermag es nun nicht nur der Verstand, sondern, wie kaum anders zu erwarten, auch das Herz, den Körper zu verlassen: also die ml gehiure locket min her^e %uo %'ir, daζ ich an her^e bi mir blibe und gere von ir hilf
als der lern sins vatergilf. (Egen,,Klage der Minne', v. 84-88) Gerade dies Beispiel evoziert über das Bild des den Körper verlassenden Herzens mit Hilfe des Vergleichs eine weitere ,entgrenzende' Vorstellung: die von der Aufhebung der Zeitlichkeit des ursprünglich an die Zeit gebundenen Ichs. Das Ich wird unversehens alt und älter oder je nach Bild jung und jünger: ich wirde manger stunde \ vor rehter lieb alsame ein kint — freut sich beispielsweise Egen von Bamberg (,Klage der Minne', v. 38f.). Zudem zeigt es im Bild vom jungen Löwen, der die Hilfe des alten braucht, noch eine weitere ,Entgrenzung', die die traditionelle Gegenüberstellung von Ich und Gott in den überkommenen Bildern der antikabendländischen Theologie unterläuft. Vergleichbares geschieht in der ,Minneburg', wenn etwa das Ich der Dame entgegenruft: hege die sehs werk | Oer barmhert^ikeit \ An mir (v. 2488-2490), oder sich in die Rolle der Martha, der Schwester des Lazarus, imaginiert, die nun hier nicht Jesus, sondern der Dame zuruft: ,Fraw, fraw, werstu hie gewesen, Min freude die were wol genesen Und wer vom tod erlbset' (v. 2655—2657).
Ein anderes Beipiel verdeutlicht diesen Zusammenhang aufs schönste: ich raste al ein uf leides ric als de turteltube; der minnen stric legt mich in salamanders gluot; da rat mich pelicanus bluot; des brinne ich mit Penisen. (Egen,,Klage der Minne', v. 89-93) 13
Die kaum mehr als assoziative Vermischung der Bildebenen — hier die von Bildern der M n n e und ihrer Tätigkeit bzw. Wirkung mit solchen aus dem ,Physiologus' - hat bereits die zeitgenössischen Schreiber verwirrt und zu zahlreichen Fehlschreibungen animiert, Leser, auch frühe schon wie Püterich von Reichertshausen, der in seinem ,Ehrenbrief' (Str. 50) eine Glosse zum Verständnis geblümter Dichtungen verlangte, irritiert und die Germanisten bekanntlich enerviert oder gar heftig erbost. Geht
13
Ganz ähnlich funktioniert der Abschnitt .Minneburg', v. 3480-3500; vgl. auch ,Minneburg', v. 2637-2657, 3465-3471 oder Hadamar, Jagd', Str. 137-140. Zur Egen-Stelle vgl. Mordhorst (Anm. 10), S. 56.
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man einmal davon aus, daß hier keine entscheidenden Textverderbnisse 14 vorliegen, und auch nicht davon, daß wir — wie übrigens schon Mone oder Gervinus meinten 15 — womöglich den Schlüssel zu dieser Bildsprache nicht mehr zu Händen hätten, dann drängt sich die Frage nach der Funktion solcher Textpassagen auf; nach der Funktion von Textpassagen, in denen die Minne und ihre Wirkung auf das Ich durch Mittel des geblümten Stils in einen bildhaften, mal locker-assoziativen, mal gedanklich durchaus kohärent strukturierten Zusammenhang mit Phänomenen der Natur, der Religion oder Kunst gebracht wird. Es stellt sich dann also die Frage nach der Funktion des Stils für die Darstellung der Minne. Zunächst seien aber noch ein paar weitere Beispiele angefügt, die für diese Fragestellung einschlägig sind. Ein ja vielfach verwandtes Stilmittel der Bildebenenverknüpfung ist die Aufzählung: Min suße rein quintern gedon, Min süßer lutter rotten clank, Min p f i f f e n schal, min orgel sank, Min nachtigaln snebelin, Min lerchen munt, min yiselin, Leg mir driakkers trost stund In miner wunden sieben munt! (.Minneburg', v. 1490-1496)
Die Dame wird, ohne daß dies explizit gesagt wäre, mit Tönen verschiedener Instrumente verglichen, dann mit Vögeln, die ihrerseits, gewissermaßen in der Rolle eines Arztes, dem Ich ein Heilmittel in den kranken Wunden-Mund legen. Ralf Schlechtweg-Jahn schreibt über diesen Abschnitt, der sich noch über knapp zwanzig weitere Verse zieht: „Die extrem dichte und schnelle Folge der Bilder läßt keine Zeit mehr zum Nachdenken über die Bildbereiche und ihre Wahrheiten, der Reiz liegt offenbar in der schnellen Folge selbst." 16 An anderer Stelle heißt es etwas allgemeiner: Für ein Denken in Ähnlichkeiten muß gerade das ein schwindelerregender Ablauf sein, der die Grenzen zwischen den Bildbereichen zum Verschwimmen bringt. Während die Ähnlichkeiten in den großen Allegorien der ,Minneburg' die Bildbereiche klar voneinander abgrenzen und so Ordnung schaffen [...], so betont die Katachrese gerade die andere Seite der Ähnlichkeit, ihre Fähigkeit, zwischen allen Dingen Bezüge herzustellen und damit jede Ordnung aufzuheben. (S. 158)
14
15 16
Wenngleich eine durchaus lohnende Typologie von Überlieferungsfehlern in geblümten Dichtungen ganz sicher zeigen würde, daß sie gerade in ,dunklen', metaphernreichen Textabschnitten gehäuft begegnen. Die entsprechenden Zitate bei Schmeller (Anm. 10), S. Xlf. Ralf Schlechtweg-Jahn: Minne und Metapher. Die „Minneburg" als höfischer Mikrokosmos. Trier 1992 (Literatur - Imagination - Realität 3), S. 160.
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Ein weiteres vergleichbares Beispiel aus Egens ,Klage' lautet: reht sam ein valkenteryen rüret sie mins herben vogel scharpf, da von miner vröuden harpf leichlichen dissonieret. (Egen,,Klage der Minne', v. 100-103) 17
Gerade dieser Abschnitt könnte dazu verleiten, die sprachliche Verknüpfung der beiden Bildebenen Jagd und Musik etwa so zu rationalisieren: der kleine Vogel, der im Bauer des Herzens wohnt, piepst schrill aus Angst vor dem Falken; dies wird im Bild der schief klingenden Harfe der Freude aufgenommen. Was in diesem Fall, begibt man sich auf die Suche nach Textkohärenz, noch gerade einleuchten mag, will dies aber anderswo partout nicht. Immer wieder entzieht sich die Bildverknüpfung dem analysierenden Zugriff. Die ältere Forschung hat diese Beobachtung mit negativen Beurteilungen verbunden, so etwa Mordhorst, der immer wieder von Verstößen gegen die Einheit des Bildes', von ,unlogischen Bildern', von frappierenden Katachresen' spricht. 18 Sieht man einmal von der Wertung ab, die in solchen Ausdrücken liegt, ist hier etwas durchaus Richtiges gesehen worden: daß nämlich die Verknüpfung der auf die Minne bezogenen Bildbereiche offenbar nicht eigentlich der logischen Verknüpfung, des nachvollziehbaren Vergleichs, der auflösbaren Metapher bedarf. Der Grund dafür liegt in der spezifischen Minneauffassung, die voraussetzt, daß die Minne alle Seinsbereiche bestimmt und durchwirkt. Im Reden über die Minne lassen sich Natur, Mythologie, christliche Religion, Musik oder Literatur zusammenführen. 19 Die rhetorischen Mittel des g e b l ü m ten Stils', von der Anapher bis zur Metapher, verleihen diesem Gedanken von der allüberall strukturell vergleichbaren Wirkung der Minne seine bezwingende Anschaulichkeit. Nun sind selbstredend weder die rhetorischen Mittel des ,Geblümten Stils' noch gar der Gedanke, daß die Minne die universale Grundlage des Lebens im allgemeinen und des Ichs im einzelnen bildet, den Minnereden vorbehalten. Er deutet sich im 13. Jahrhundert bereits an und findet bei Frauenlob seinen prägnanten und auf spätere offenbar wirkenden Ausdruck. 20 So hat etwa Susanne Köbele ,den Fall Frauenlob' herausgehoben, 17 18 19
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Mordhorst (Anm. 10), S. 56, versteht diese Stelle offenbar anders als hier im folgenden paraphrasiert, wenn es bei ihm heißt: „Der Dichter [...] wie ein Falke angereizt [...]". Vgl. nur Mordhorst (Anm. 10), S. 56. Mit diesem Hillweis sei keineswegs das Verdienst von Mordhorsts Abhandlung geschmälert! Vgl. dazu auch Schlechtweg-Jahn (Anm. 16), S. 160£, und Anja Sommer: Die Minneburg. Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Mit der Erstedition der Prosafassung. Frankfurt/M. 1999 (Mikrokosmos 52), S. 224f. Dazu Ralf-Henning Steinmetz: Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300. Tübingen 1994 (Ml'U 106).
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weil „mit ihm Übergangsstellen beobachtbar und beschreibbar werden, weil das Traditionelle so unmittelbar, scheinbar unvermittelt an das Neue gekoppelt" 21 wirke. Bei ihm, Frauenlob, fallen im „Konvergenzpunkt einer absoluten, kosmisch entgrenzten Liebe [...] Perspektiven von /weltlich' und ,geistlich'" zusammen; ein Vorgang, „der eine Öffnung der Diskurse Poesie und Philosophie/Theologie" einschließe und sich mit einer „Ich-Emphase" verbinde, die auf einen ,absoluten' Standpunkt, auf den sich das Ich stellt, hindeute. 22 Vieles von dem ist in der einen oder andern Form in den Minnereden des 14. und 15. Jahrhunderts aufgenommen. Nur wenn man dies voraussetzt, erhalten Formulierungen, in denen das Ich etwa bei Egen von Bamberg sich in Bildern des ,Physiologus' in die Rolle Christi imaginiert oder sich doch mindestens ihr annähert, ihre Plausibilität. 23 Und so werden auch die religiösen, hoch-emphatischen Gebetseingänge etwa bei Egen, aber vor allem auch die EinleitungsStrophen der ,Minneburg' in Konzeption und Abfolge verständlich, in denen gewissermaßen der Uberschuß der göttlichen Minne — sin uberjlußig mynnen runs (I, ν. 20) — das Weltleben so formt, daß es von mynne glut (II, v. 4) bestimmt wird; eine Minnekonzeption, die in diesem speziellen Kontext zahlreiche, auch religiöse Bedeutungsräume öffnet. Sprachlicher Träger einer solch entgrenzenden und entgrenzten Vorstellung von der Minne, ihres Ursprungs in Gott, ihrer Wirkung und ihres Zieles sind in besonderer Weise die sprachlichen Mittel der Analogie, des Vergleichs, der Konvergenz. Sie sind gelegentlich ausgefallen, wirken unverbunden oder gar bizarr, aber sie sind dem Gedanken, den sie zur Anschauung bringen sollen, auf subtile Weise angemessen. Sie fuhren nicht aus der Minneauffassung des 14. Jahrhunderts und schon gar nicht aus der der Minnereden heraus, sondern sie tragen sie oder sollten dies zumindest tun. Wenn eben das Werk Frauenlobs als Bezugspunkt der rhetorischen Strategie wie der spezifischen Minneauffassung der hier zur Rede stehenden Gruppe von Minnereden herausgehoben wurde, dann darf doch ein Differenzpunkt nicht unterschlagen werden: Die agonale Struktur zahlreicher Frauenlob-Dichtungen erlaubt im Grunde nicht die Betonung gelehrter Meisterschaft als Teilhabe an der poetologisch-rhetorischen Tradition, sondern muß die individuelle Fähigkeit, die diese Tradition kennt und benutzt, aber hinter sich läßt oder übersteigt, herausstellen. Davon findet sich wenig oder gar nichts in den Minnereden. Im Gegenteil: Sie 21 22 23
Susanne Köbele: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung. Tübingen - Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 43), S. 213. Ebd., S. 211. Zu den naturkundlichen Metaphern und Allegorien in der .Minneburg' vgl. Sommer (Anm. 19), S. 45-60.
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geben sich als gelehrte Produkte gelehrter Verfasser, die ihrerseits von verehrten Meistern gelernt haben, stellen sich als Teil einer gemeinsamen Arbeit vor, als Beiträge eines Darstellungs- und Deutungsprozesses. So schreibt etwa der Verfasser der ,Minneburg' mit Blick auf die Aufgabe, das vierte Kapitel seines Werkes zu verfassen: Ich wolt auch g r i f f e n balde dar schriben, sagen und uζ legen. Erfur dann meisterEgen, Da% ich dit\ buchlin tichte, Ich wei£ in in der pflichte Und in der truwen die er hat, Da% er mir geh dar rat. Der rede mil ich mich hie niht Schemen: Sinen rot den mit ich nemen Zu h i l f f und auch stüre Zu diser abenture! Furba% ich lut erkenne: Mich wundert tqvor etwenne Wo er die äugen rede neme, Die er mit Worten kan beschrem. Mit sinem rat heb ich hie an
Da% virde capitel, als ich kan. (.Minneburg', v. 2706-2722)24 In diesem expliziten Bezug auf die durch Unterweisung erlernbare Kunst wird eine Traditionslinie erkennbar, die noch ins 13. Jahrhundert zurückreicht, etwa zu Konrad von Würzburg oder zu den Dichtern von .Minnesangs Wende'. Hugo Kuhn wendet ja auf die Dichtungen dieser Autoren Begriffe wie Schematismus', ,Formalismus' und sogar ,Manierismus' an25 und versucht zu zeigen, daß hinter dem Meistertum eines Burkhard von Hohenfels das rhetorisch fundierte Bestreben nach „formaler Objektivität" 26 erkennbar sei. Vielleicht etwas stark pointierend, aber im Grunde treffend faßt Gert Hübner die Position Kuhns folgendermaßen zusammen: „die Typik der benutzten Tropen spiegelt die geistesgeschichtliche Wende zum nominalistischen, am Wissen über die Wirklichkeit orientierten Spätmittelalter". 27 Das heißt nun freilich nicht, daß es Sinn machte, eine Traditionslinie etwa von Burkhard von Hohenfels zu Egen von Bamberg, zum Dichter der ,Minneburg', zu Hadamar und seinen Nachfolgern aus dem 15. Jahrhundert zu ziehen. Der gemeinsame Bezugspunkt scheint mir allerdings in der Absicht zu liegen, das Sprechen über die Minne bei allen Differenzen 24 25 26 27
Vgl. ganz ähnlich .Der Minne-Falkner', Str. 170. Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tübingen 2 1%7 (Hermaea N.F. 1), S. 2, 144-146. Ebd., S. 151. Hübner (Anm. 9), S. 19.
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der Auffassung in der Rhetorisierung objektivieren zu wollen. In dem durch die Stilmittel der Rhetorik einerseits legitimierten und sich anderseits der Stilmittel der Verähnlichung bedienenden Sprechens über die Minne wird das Bestreben erkennbar, die individualistischen Züge der Minne zurückzudrängen und ihre systematische Kraft und ihren beherrschenden Einfluß herauszuheben. Die geblümten Minnereden sind nicht in dem Maß wie andere didaktisch, weil sie gewissermaßen die Erörterung über die Minne in ihre sprachliche Ausgestaltung verlegt haben. Sie eröffnen der Minne einen weiten Einflußraum und zeigen sie als Teil einer übergeordneten Wirklichkeit, deren Gesetzen sie freilich selbst unterliegt. Ich komme abschließend noch einmal auf meinen Ausgangspunkt zurück. Die geblümten Minnereden, die, das liegt auf der Hand, erkennbar, ja provokativ gegen die Regel der „thematisch-stilistischen Einförmigkeit" verstoßen, sind auf Grund ihrer sprachlichen Gestalt wie auch ihres intertextuell dichten Verweisungszusammenhangs stets als Sondergruppe beschrieben worden. Dabei ist aber vielleicht nicht genügend betont worden, daß sie einen im 14. Jahrhundert doch konventionalisierten und ja keineswegs der Gattung Minnerede vorbehaltenen Gedanken ins Bild setzen, den der Allgegenwart der Minne, der anderswo in dieser Gattung diskursiv entfaltet wird. Ihre Besonderheit haben sie nur darin, daß dieser Gedanke mit den rhetorischen Mitteln des ,Geblümten Stils', mit Vergleichen, Parallelisierungen oder metonymischen Verschiebungen zum Ausdruck kommt. In dieser sprachlichen Realisierung einer gedanklichen Konvention liegt das Spezifische der geblümten Minnereden. Wenn Minnereden konventionell und regelgerecht sind, dann sind es diese wohl auch, nur sind sie es auf eine ganz eigene Weise.
MANFRED KERN
,Parlando' Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität und europäischer Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu Rosenplüt und Boccaccio) I.
In seinem Aufsatz „Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Minnereden" konzentriert sich Ludger Lieb auf das Problem der Varianz zwischen den Fassungen einer Minnerede und entwickelt dabei Kategorien, die für eine Produktionsästhetik der Gattung insgesamt programmatisch sind. 1 Lieb sieht Minnereden textuell im Fluß, spricht von weichen Textgrenzen, von den Phänomenen des Erneuerns, des Imitierens und des Weiterschreibens der vielfach unsichtbaren, weil als solche unmarkierten Schlüsse. „Die überlieferten ,Minnereden' wären weniger als Werke aufzufassen, sondern als punktuelle Manifestationen in einem stets weitergehenden Textproduktionsprozeß" (S. 154), so das Fazit. Trefflich vermag es die sonderbare Tatsache zu fassen, daß die Varianz zwischen den Fassungen „einer" Minnerede mehr ist als bloße überlieferungs- oder performanzbedingte Textabweichung, aber weniger als ein neuer Text. Abschließend fragt Lieb danach, was aus diesem Befund für die soziokulturelle und performative Pragmatik der Minnereden zu schließen wäre. Es sei möglich, daß der Sprecher oder Schreiber einer Minnerede mit deren Ich identifiziert worden sei — gewissermaßen im Sinne einer poetischen persona, wie wir sie auch aus der Lyrik kennen. 2 1
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Ludger Lieb: Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Minnereden. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. [Kolloquium Durham/Newcastle 2001]. Hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon. Berlin - New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 143-161. Zu Begriff und Konzept einer lyrischen persona vgl. Verf.: auctor in persona. Poetische Bemächtigung, Topik und die Spur des Ich bei Walther von der Vogelweide. In: Der acht-
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Minnereden wären demnach nicht bloß Texte, die ein kollektives Verständnis und Wissen um die Minne — also um einen poetischen Modus des Eros — memoriert und aktualisiert hätten. Vielmehr hätten sich einzelne permanent in diesen kollektiven „Text" eingeschrieben (was die Masse des Überlieferten und den spezifischen Charakter der Varianten erklären würde). Textuelle Konvention wäre — so Lieb — „von einer Authentizität [gedeckt], die niemals direkt ausgesprochen wurde" (S. 155). Auf vielleicht ungebührliche Weise verkürzt hieße dies: „Es wird so viel an Minnereden geschrieben, weil jeder liebt." Das scheint mir etwas zu lebenswirklich gedacht. Im Sinne der habituellen Textpraxis würde ich die Liebsche Formel eher abschwächen wollen und ganz unoriginell sagen: „Es wird so viel an Minnereden geschrieben, weil es jeder kann" - nämlich auch die, die es gerade nicht tun, die lesen oder zuhören. Masse, spezifische Varianz und Kollektivcharakter der Texte, ein Einverständnis zwischen Produzenten und Rezipienten, das auf wenig anstrengendem Niveau erreicht wird, produktions- und wirkungsästhetische Leichtigkeit der Gattung — dies alles mögen Kategorien sein, die den Begriff der „Trivialität" rechtfertigen. Er ist aus heuristischen Gründen und als vorläufiger, deskriptiver Begriff opportun. Seinem fundamental polemischen Charakter scheinen wir allerdings auch und gerade in der philologischen Arbeit nicht zu entkommen. Und vielleicht ist es ja die gewollte ironische Hinterlist der TagungsVeranstalter gewesen, daß wir uns fortwährend dabei ertappen sollten, wie wir in dieser unwissenschaftlichen, polemischen Seite des Begriffs unsere Zuflucht nehmen. Es ist jedenfalls ein Trost, ihn als geschmäcklerische Zuchtrute in Gedanken zu führen, wenn man sich etwa durch die knapp zweihundert eng bedruckten Minneredenseiten des Liederbuchs der Klara Hätzlerin schlängelt. In seinem Buch über die „Vermögen" unserer Disziplin, „The Powers of Philology", greift Hans Ulrich Gumbrecht zur Metapher vom Verzehr des Textes, 3 die der Mediävistik ja durchaus vertraut ist. „Eat Your fragment!", lautet eine der fröhlichen Devisen, die das Verhältnis der Philologinnen und Philologen zum Text beschreiben sollen. Ob dieser Imperativ gut tut, ließe sich nun grundsätzlich debattieren; der Verzehr von textuel-
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hundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide - Wolfger von Erla - Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hg. von Helmut Birkhan unter Mitwirkung von Ann Gotten. Wien 2005 (ÖAW. Philosophischhistorische Klasse. Sitzungsberichte 721), S. 193-217. Hans Ulrich Gumbrecht: The Powers of Philology. Dynamics of Textual Scholarship. Illinois 2003; deutsche Ausgabe: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2003, hier S. 17f., vgl. auch ders.: Eat Your Fragment. In: Collecting Fragments/Fragmente sammeln. Hg. von Glenn Most. Göttingen 1997, S. 315-327.
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lern fast food wie Minnereden mag jedenfalls zu rascher Sättigung oder aber zu Dickleibigkeit führen. Dabei gilt: plenus venter non studet libenter. Die deutsche Ubersetzung bringt Gumbrechts Titel in den irreführenden Singular: „Die Macht der Philologie". Diese Macht der Philologie erweist sich nun gegenüber der barocken Fülle der Gattung als „Ohnmacht". Wenn sie sich nicht eben vom Mahl fernhielt, versuchte die Philologie ihre Ratlosigkeit mit der ihr eigenen methodischen Beredsamkeit zu kaschieren. Indem sie sich etwa auf die Frage der Gattungssystemaük konzentrierte, um die eintönige Vielfalt der Texte in den Griff zu bekommen. So hat Wolfgang Achnitz gestützt auf Hans-Joachim Ziegeler den sogenannten „narrativen Typus" aus dem Textcorpus operativ ausgeschieden. 4 Bliebe als praktikables und bewältigbares Minnereden-Pensum nur der sogenannte „erörternde Typus". Der wiederum entspricht genau der spätmittelalterlichen Lieddichtung, wenn man diese ihrer ohnehin nur mäßigen Form entkleidet. Damit könnten wir also die Gattung als gesamte verschwinden lassen und die gewonnene Zeit der Muße dazu nützen, um uns aus dem Studiolo zu erheben und zu einem Spaziergange aufzubrechen. Und siehe da, vielleicht begegnen wir der personifizierten Minnerede und wir erleben das Gegenteil dessen, was Michel Beheim widerfährt, als er Frau Welt begegnet: 5 Vielleicht präsentiert sich uns die Minnerede von vorne als eine Gattung, die von den Kröten und Schlangen einer vermoderten Metaphorik und von den Eiterbeulen einer schwielenden Topik zerfressen ist. Dann aber wendet sie uns halb schon Geflohenen ihren wunderschönen Rücken zu, auf dem das Lilienweiß der Polyphonie mit dem Rosenrot der Hybridität gleich einer Juniwiese sein Farbenspiel treibt und uns den entsprechenden Lohn philologischer Arbeit verspricht. Gestärkt kehren wir zurück zum Geschäfte. Auf der Suche nach einer „Ontologie" der Gattung entläßt uns auch ein zweiter, traditionell philologischer Ansatz in die Aporie: Die Frage nach der Genese. Das zeigen Ingeborg Gliers Ausführungen zu den Vor-
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Wolfgang Achnitz: Kur~ rede von guoten minnen/ diu guotet guoten sinnen. Überlegungen zur Binnendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden'. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000/2001), S. 137-149; ders.: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hg. von HansJochen Schiewer. Bd. 2. Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C: Forschungsberichte 6), S. 197-255, hier S. 228ff. (vgl. auch Achnitz' Beitrag in diesem Band); Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen. Zürich - München 1985 (MTU 87). ,ain beispel von ainem weib, was vorn schan und hinden schraglich'. In: Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. Bd. 2: Gedichte Nr. 148-357. Berlin 1970 (D'l'M 64), Nr. 279, S. 442-445.
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stufen: 6 Sei es Hartmanns sogenanntes erstes Büchlein, seien es jene minnetheoretischen Exkurse, die wir als eingebettete Minnereden im höfischen Roman vorfinden — man denke an die hinlänglich bekannten Stellen in Gottfrieds ,Tristan' oder an Wolframs Fragen an Frau Minne im sechsten Buch des ,Parzival' (v. 291,Iff.). 7 Den Spaziergangstyp könnten wir als aus dem Ei der Pastourelle gepellt betrachten. Die „erörternden" Texte ließen sich wie gesagt als formal vereinfachte Lieder auffassen. Genetisch gedacht erweisen sich Minnereden also als entweder immer schon vorhanden oder als immer schon verschwunden, und wir finden uns in der gleichen Situation wie der Hase wieder, der mit dem Igel um die Wette läuft. Die Ursprünge der Gattung sind ebenso heterogen und von anderen Genres unabgrenzbar wie die Typen, die uns synchron vorliegen. Auch dies macht eine strenge typologische Differenzierung problematisch. Grundsätzlich könnten wir aber wenigstens behelfsmäßig sagen, daß in Minnereden - wenn ich das so paradox formulieren darf — komplexe Reduktionsformen vorliegen. Sei es formal, wie im Verhältnis zwischen Lied und Minnerede, sei es im Sinne des narrativen Kontexts, aus dem die Minnerede abstrahiert zu sein scheint,8 sei es konzeptiv und metaphorologisch, als sich die paradoxe Struktur des Minnesangs und die Bildlichkeit, die sie trägt, in der Minnerede ihrer hermeneutischen Vielschichtigkeit beraubt oder auch befreit zeigt. Ein gutes Beispiel gibt das ,Minnegericht'. 9 Das zentrale Motiv von der Bestrafung einer hartherzigen Dame reflektiert den Triumphzug Amors, von dem im fünften Gespräch des ersten Buches von Andreas Capellanus' ,De amore'111 berichtet wird. Bei Andreas dient die Episode als 6 7
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Ingeborg Glier: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 16-53. In den Dialogen zwischen Wolfram und Aventiure in Albrechts Jüngerem Titurel· wird das „Streitgesprächschema der Minnereden" erkannt von Hedda Ragotzky: Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolfram-Rolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. Stuttgart 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 20), S. 138. Zu den Affinitäten und Transfers zwischen späthöfischem Roman und Minnerede vgl. Cora Dietl: Minnerede, Roman und bistoria. Der „Wilhelm von Österreich" Johanns von Würzburg. Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 87). Ein konkretes Beispiel gibt die Beschreibung Helenas aus Konrads von Würzburg ,Trojanerkrieg'; der Münchner Codex cgm 714 überliefert sie separat als Minnerede, hierzu Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25), Nr. 2, S. 42. Vgl. die Beispiele der vorigen Anmerkung. Brandis (Aom. 7), Nr. 462, S. 180; Liederbuch der Clara Hätzlerm. Hg. von Carl Haltaus. Quedlinburg - Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8). Mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966, Nr. II 55. Andreae Capellani regii Francorum De amore libri tres. Ree. E. Trojel. Editio altera. München 1972, I.vi.D[*] ('Loquitur nobilis nobili), S. 80-110. Um seine Dame gewogen zu stimmen, berichtet der adelige Liebhaber von einem Ausritt in einen Wald. Von seinen
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allegorischer casus zur fin'amor, dieser casus zeigt sich im ,Minnegericht' der maßgeblichen appellativen und kontextuellen Pointen entledigt: Es fehlt die Rahmenhandlung mit der direkten Paränese des Liebenden an die Geliebte; die Bestrafte zählt nicht zum Gefolge des Gottes Amor und befindet sich nicht in dessen Totenreich; überhaupt bleibt der große metaphysische Bogen außer Betracht, den Andreas in der Verbindung von tHumphus mortis und tnumphus amoHs spannt. (Der Zug der „Minnesklaven" ist ja ein Zug von Toten.) Bei Andreas Capellanus fassen wir im übrigen jenes Potential der Ästhetik und Weltmächtigkeit, das die Bedeutung der europäischen Gattung der Liebesallegorie ausmacht. Ich werde darauf in Zusammenhang mit Petrarcas ,Trionfi' zurückkommen. Im Bereich der Metaphorik erkennen wir Reduktion generell in der Verfügbarkeit lyrischer Bildlichkeit. Betrachten wir das Phänomen im Kontext einer Minneredensammlung, wie sie im Liederbuch der Hätzlerin vorliegt, so können wir von einem enzyklopädischen Umgang sprechen, wobei das Enzyklopädische des Verfahrens weniger in der Systematik als in der Totalität der Anwendbarkeit und in der Verknüpfung unterschiedlicher Bildbereiche zu erkennen wäre. 11 Das Gold minnesängerischer Metaphorik wird in den Minnereden kurrente Münze. Reduktion von Komplexität in diesem Sinn legt den Begriff der Trivialisierung nahe. Die enzyklopädisch verfügbaren Metaphern erscheinen zwar bleich, der Verlust an hermeneutischer Farbigkeit geht freilich einher mit dem Gewinn an FlexiBegleitern plötzlich getrennt, stößt er auf einen Zug von Berittenen, vorneweg der Gott Amor, ihm folgt eine Gruppe edler, von ihren Geliebten begleiteter Damen, diesen eine nächste Gruppe von Damen, die sich der Schar ihrer Werber nicht erwehren können (es sind die allzu Lohnwilligen), den Schluß bilden sehr schöne, aber in abgerissenen Kleidern und auf jämmerlichen Mären einherreitende Frauen. Deren letzte, die schönste und am härtesten bestrafte, unterrichtet den Erzähler, es handle sich um einen Zug von Toten (Hie, quem vides, est exercitus mortuorum, S. 95), sie selbst sei unter denen, die für ihre Gnadenlosigkeit büßen. Der Erzähler erreicht durch seine Fürbitte vor Amor eine Linderung der Strafe. Der Gott beauftragt ihn, allen Frauen auf Erden vom Gesehenen zu berichten und lehrt ihn die duodeeimprindpalia amorispraeeepta (S. 105f.). Mit deren Mitteilung gibt Andreas zugleich die Genealogie seiner eigenen Vorschriften (regulae amoris Il.viii, S. 31 Off.); eine ähnliche ironische Beglaubigung und Entstehungsfiktion des Traktats stellt das briefliche Urteil der Marie de Champagne zu Gespräch F dar (I.vi, S. 152ff.). Poetologisch betrachtet ist am Text außerdem die Geburt der Novelle aus Gespräch- und Allegoriedichtung abzulesen. 11
Wie Peter Strohschneider in der Diskussion bemerkte, müßte man sich die MetaphernEnzyklopädie, die der Minnerede zugrunde läge, im Sinne von Borges' „chinesischer Enzyklopädie" vorstellen, also tendenziell willkürlicher als jene Ordnungssysteme, die wir gewöhnlich als „Enzyklopädien" bezeichnen; Jorge Louis Borges: Die analytische Sprache von John Wilkins. In: ders.: Inquisitionen (Otras inquisitiones). Essays 1941-1952. Übers, von Karl August Horst und Gisbert Haefs. (Werke. Hg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Bd. 7) Frankfurt/M. 1992, S. 113-117, und hierzu Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Koppen. Frankfurt/M. 1974, S. 17ff.
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bilität, Zitierbarkeit und unerschöpflicher, eben enzyklopädischer Vorrätigkeit von Bildern. Die überkommene Metaphorik erweist sich in den Minnereden als wenn schon nicht lebendig im Ricceurschen Sinn,12 so wenigstens als untot, als omnipräsenter und immer wieder unerwartet und unerwartet häufig auftretender Wiedergänger. Dabei besteht die Verschiebung von „semantischer Pertinenz", an der Ricoeur den Grad metaphorischer Lebendigkeit mißt, 13 eher in einer Quantifizierung des Überkommenen als in dessen qualitativer Umformung. Hier ist nun auf den Begriff der komplexen Reduktionsform zurückzukommen. Von komplexen Reduktions formen können wir deshalb reden, weil Minnereden unterschiedliche Gattungsmuster, Sujets, Metaphoriken und Topiken kurzschließen. Darin wiederum scheint die transgressive Produktivität der Gattung, die keine ist, zu bestehen. 14 Auf einen letzten Punkt, in dem wir Reduktion fassen können, möchte ich nur hinweisen: auf das Problem von Autorschaft und Anonymität. Auch die weitgehende Anonymität der Minnereden ließe sich als Symptom einer zur Verfügbarkeit gesunkenen Popularisierungsform verstehen (es ist problematisch, dies in dieser Kürze zu sagen, aber vielleicht ist in diesem Punkt auch eine gewisse Analogie zum Prosaroman gegeben). Eine Divergenz von Anonymität und Onymität besteht in der spätmittelalterlichen Literatur — grosso modo — auch zwischen anonymer Liederbuchlyrik und onymem Meistersang. Wenn dabei Onymität für Kanonizität und Traditionsbewußtsein, Anonymität aber für Pluralisierung und „Popularisierung" steht, so bildet sich in diesem Gegensatz eine der vielen Gradationen ab, von denen die europäischen Literaturen der Zeit in sich und in ihren interliterarischen Relationen geprägt sind. Auf anderem Terrain und auf anderem Niveau fassen wir eine solche Gradation auch in der Differenz zwischen lateinischer Literatur und der Literatur des „volgare" im italienischen Trecento. Wie Karlheinz Stierle gezeigt hat,15 wird sie von 12
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Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Französischen von Rainer Rochlltz. 3. Aufl. München 2004 (Übergänge 12); ders.: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik [1972], In: Theorie der Metapher. Hg. von Anselm Haverkamp. 2., ergänzte Aufl. Darmstadt 1996, S. 356-375. Hierzu auch Paul Ricceur: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1988 (Übergänge 18/1), S. 7f. Ich verstehe den Begriff der „Transgression" im Folgenden poetologisch, als Überschreitung traditionell vermittelter textueller Normen. Vgl. zum Begriffsgebrauch in der Literaturwissenschaft die Beiträge in: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hg. von Gerhard Neumann und Rainer Warning. Freiburg/Br. 2003 (Rombach Litterae 98). Spezifische Qualität hat der Begriff in der Gendertheorie, hierzu: Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. Hg. von Elfi Bettinger und Angelika Ebrecht. Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 5 (2000). Karlheinz Stierle: Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München 2003, S. 25-34.
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keinem geringeren als von Petrarca programmatisch reflektiert. Dies dokumentieren sowohl die Wertung, die Petrarca am eigenen lateinischen und italienischen Werk vornimmt, als auch seine Versuche, Boccaccio vom Dichten im „volgare" abzubringen und Dantes Autorität zu schmälern, indem er ihn zwar zum Kanonautor, aber eben zu einem des „volgare" stempelt. Die Angelegenheit ist eine höchst prekäre und kulminiert im Widerspruch zwischen der Betitelung des ,Canzoniere' als „Rerum vulgarium fragmenta" und Petrarcas lebenslanger Beschäftigung mit diesen Fragmenten volkssprachlicher „Nebensächlichkeiten". Wir können und müssen das nicht weiter ausführen. Wichtig ist das Bewußtsein von den Gradationen, das hier greifbar wird. Und derartige Gradationen müssen uns interessieren, wenn wir unser Corpus nicht nur im Kontext des deutschen, sondern des europäischen Spätmittelalters und im Kontext der europäischen Allegoriedichtung betrachten wollen. In dieser findet die Minnerede, wenn nicht ihr eigentliches, so doch ihr approximatives Äquivalent. Zumindest bildet die Allegoriedichtung den einen Endpunkt, den der Radius der Gattung berührt; der andere wäre vielleicht — wie unten zu zeigen sein wird — in der Novellistik zu sehen. Ich möchte die angesprochenen Aspekte im Folgenden am Umgang von Minnereden mit der überkommenen Metaphorik diskutieren. Dabei gehe ich von Johann von Konstanz aus und beziehe meine weiteren Beispiele aus dem Liederbuch der Klara Hätzlerin. Dies deshalb, weil mir eine pragmatische, überlieferungsnahe Auffassung der Gattung gerade in Hinblick auf die genannten Phänomene von Reduktion, Enzyklopädie und Transgression am zweckmäßigsten erscheint; ein typologischer Zugang verstellt hier eher die Sicht. Ein Corpus wie jenes der Hätzlerin läßt die Produktivität und die Pragmatik der Minnereden innerhalb eines Systems der spätmittelalterlichen Literatur, wenn man denn von einem solchen sprechen will, noch am ehesten begreifen. Wir sind hier unmittelbar auf die zeitliche Schichtung und die strukturelle Pluralität der Texte gestoßen, die die Handschrift vereinigt; ebenso auf das Phänomen der mehrfach „weichen Textgrenzen", wie es Ludger Lieb nennt. Der Begriff läßt sich gut auf den transgressiven Aspekt der Gattung übertragen. Das Verfahren der Transgression mag uns dabei vor allem an der Integration neuer Gattungsformen oder zunächst einfach nur poetischer Register einleuchten, etwa jenes der Novelle. Und spätestens an diesem Punkt verlieren nun Begriffe wie Reduktion und Trivialisierung auch ihre polemische Implikation.
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II. Der zweite, postallegorische Teil der ,Minnelehre' Johanns von Konstanz 16 beschäftigt sich im Wesentlichen mit dem Problem und dem Vorgang der Persuasion, der Überredung der Geliebten, in den „Hof der Liebe" einzutreten. Damit wird jener Gesprächstypus aufgegriffen, den Andreas Capellanus im ersten Buch von ,De Amore' seiner Theorie der fin'amor nachstellt und an dem er seine Kasuistik der Liebe entwickelt. Die Werbehandlung eröffnet ein ausführlicher Briefwechsel zwischen dem Erzähler und seiner Geliebten (v. 1046ff.). Dabei bedient sich der Liebende exzessiv aus dem metaphorischen Depot der Minnelyrik. Der appellative Einsatz einer Metaphorik, die bis ins kaum mehr Erträgliche rhetorisiert ist, bewirkt bei der Adressatin zunächst das Gegenteil: Sie antwortet in ihrem zweiten Brief mit einer regelrechten „Widersagung", mit der Ansage einer Fehde. 17 Gerade der Aufwand der Worte läßt sie auf die betrügerische Absicht des Werbers schließen: Vil rede ist nki gut (v. 1273), lautet die lakonische salutatio·. du wandast vil liht e f f e n mich, \ vnd sant mir ban din goggelspiel (v. 1280f.: ,Du willst mich wohl veräppeln und sandtest mir deshalb deine rhetorische Gaukelei'). Freilich hat sie sich unbewußt schon auf das Verfahren des Liebenden eingelassen, wenn sie in ihrem Schreiben selbst auf die bekannte Liebeskriegsmetaphorik einschwenkt. 18 Kein Wunder, daß ihre Sache gleich auch verloren ist. Dabei erstaunt die Leichtigkeit, mit der der Liebende zum Ziel kommt: Weder müssen die persuasiven Mittel geändert, noch muß die Ernsthaftigkeit des erotischen Anliegens anderswie, etwa — wie im ,Moriz von Craün' — durch Dienst nachgewiesen werden. Es reicht ein neuerlicher Wortschwall. 19 Die Geliebte nimmt zwar den dritten Brief noch als trvgemere (v. 1457) entgegen, doch tritt die Sinnesänderung so unmittelbar wie unmotiviert ein. Nach dem vierten Brief vereinbart man ein Stelldichein im Kräutergarten. Es verläuft ganz nach Etikette: Auf den Gruß der Dame und das obligate Verstummen des Liebenden folgt ein Liebesgespräch, dessen Höhepunkt 16
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Zitate im Folgenden nach: Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung hg. von Dietrich Huschenbett. Wiesbaden 2002. Die Ausgabe leidet unter zahlreichen Druckfehlern. Ich habe die Zitate daher mit der Ausgabe von Sweet (Johann von Konstanz: Die Minnelehre. Paris 1934) verglichen und fallweise korrigiert (Korrekturen sind durch nicht-kursive Setzung ausgewiesen). Zu Vers 1270 (ich ml imgent^elich versagen) bietet Hs. Β die Variante widersagen, Vgl. eben den Begriff des „Widersagens" (1270) und das Bild von Frau Scham, die als Meisterin der Dame in deren Herzen residiere (1289f.), was die beliebte Burgenallegorie reflektiert. Andernfalls, so könnte man einwenden, würde die Rede auch das Genre wechseln und zur Versnovelle geraten. Daß freilich schon Johanns von Konstanz ,Minnelehre' deskriptives und narratives Schema zu vereinigen weiß, zeigt der Traumteil.
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eine Aretalogie der Minne durch den Liebenden bildet. Hier verdiente einiges einen genaueren Blick, etwa die Metonymisierung der Geliebten zum lieben mvndelrot (v. 1802). Von Interesse ist für uns aber der ausufernde Reigen von Metaphern. Er läßt die Rede zum bloßen Spiel von Signifikanten geraten, dessen Zweck sich am Ende im klanglichen Effekt erschöpft. Im Lichte der jüngeren Diskussion um Diskursivität und Präsenz 20 ist man versucht in derartigen Fällen von Pseudo-Präsenz zu sprechen, die den diskursiven Zweck der Rede überlagert, wenn sie ihn nicht spielerisch oder ironisch konterkariert. Die letzten acht Verse geben hiervon einen hinlänglichen Eindruck: So verre ich mich versinne, minne dü ist ain schilt für truren. minne dü kann muren mangen schrin für sorgen sla. minne ist hier vnde da, minne ist ivise, minne ist tump, minne ist sieht, minne ist crvmp, minne ist, Jwie dich dunken gut. (v. 1824—1831)
Hart am Bildbruch kommen die Schreine zu liegen, die die Minne vor die Spur der Sorgen mauern soll. Wenn der sorgen sla an Wolframs ,Willehalm' (v. 280,8ff.) anklingt, 21 so mag uns dies bedeuten, daß in diesem gesamten Sermon metaphorische Erinnerungsformen vorliegen, die ihres ursprünglichen Kontexts und ihrer kontextuellen Folgerichtigkeit entzogen sind. (Der Ritt der Sorge ist bei Wolfram etwa vom Sujet her klar motiviert.) Dies gilt nicht bloß für intertextuelle, sondern auch für innertextliche Referenzen: Die Paradoxa einer Liebe, die einmal hier, einmal dort, einmal klug und einmal dumm ist, weisen zwar auf die Cupido-Allegorie zurück, lösen sich aber von jenem ikonologischen Gehalt, den sie dort hatten. Das Verfahren ist für den narrativen Verlauf und die elokutive Anlage der ,Minnelehre' generell signifikant: Das allegorische Tableau, das der Traumteil inszeniert hat, wird im zweiten Teil regelrecht inkorporiert. Die allegorische Gestalt der Minne geht in das Herz des Erzählers ein. Die Allegoreme sind nicht mehr an die allegorischen Körper Cupidos und der 20
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Vgl. vor allem Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2004, und Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mhd. Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9), v. 280,8-12: ir [Gyburgs] minne im [Wülehalm] sölhe helfe tuot, dav des maregraven muot wart mit vreuden undersniten. Diu sorge im was so verre entriten, si möhte erreichen niht ein sper.
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Minne als Metaphernspender rückgebunden, sondern vom konkreten Körper des Sprechenden absorbiert. Was in der Sphäre des Traumes als traditionelle und plausible Imagination von Seelenlandschaft und agierenden Personifikationen geschildert wurde, gerät zur rhetorischen Manier. Da der Körper des Sprechenden jene allegorische Signifikanz nicht übernehmen kann, in den Gesprächen mit einer im Herzen sitzenden Minne vielmehr selbst rhetorisiert erscheint, geht bildhafte Rede ihrer ikonischen Prägnanz verlustig und mündet in einen diskursiv „leeren" Ästhetizismus, der sich der Präsenz oder Pseudo-Präsenz des Klanglichen verschrieben hat. Dies scheint im letzten Vers unmißverständlich ausgesprochen: minne ist, swie dich dunken gut - „Liebe ist, was du willst", das kann nicht mehr sein als eine „semantische Hohlform", um den bekannten Begriff Ingeborg Gliers 22 zu variieren. Dem korrespondiert eine Gefährdung der Diskursivität des gesamten Textes zum Ende hin. (Ein ähnliches Problem stellt sich im übrigen schon in Ulrichs ,Frauendienst', der im zweiten, rede-artigen Teil ebenso auf der Stelle tritt.) Für die Güte von Johanns Text spricht, daß er das Problem selbst diagnostiziert: ach geselle, wie du tobest, da\ du mir minne also lobest vnde so vil von ir saist vnde du doch ml selber waist, da^es alles ist erlogen, (v. 1833-1837)
Diese Gegenrede der Geliebten bringt die Formelhaftigkeit der Rede des Liebenden auf den Punkt. Oder wenigstens läßt sie sich zunächst so verstehen. Die folgenden Verse schwenken freilich auf die übliche Topik zurück: Die Weisen behaupten genau das Gegenteil, nämlich daß Liebe Schmerz bereite und so fort. In dem Moment, in dem die Thematisierung einer diskursiv „leeren" Metaphorik anklingt, wird sie auch wieder zurückgenommen. Wenn der Text seine metaphorischen Strategien hier also reflektiert, so besteht seine Ironie nicht darin, sie zu konterkarieren, sondern im Gegenteil ihre Konventionalität zu steigern. Die rota rhetorica bleibt also im Schwung, solange die üblichen Topoi gegeneinander gesetzt werden können. Kommunikation scheitert interessanterweise dann, wenn sie wieder auf den konkreten Körper der angesprochenen „Person" zielt: Wenn der Wunsch des Liebenden — minne minnecliche mich (v. 1863) - eben nicht ein klangliches Spiel von Signifikanten bleibt, das den Körper der Geliebten zum ebenso bloßen Zeichenträger werden läßt wie den des Liebenden, sondern eine konkrete Aufforderung impliziert: so mä\ ich werden din wip (v. 1867), fragt die Geliebte ängstlich. Das rhetorisch
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Glier (Anm. 6), S. 394f. nennt die „Ich"-Figur der Minnereden eine „literarische Hohlform".
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schmucklose „Ja" des Liebenden provoziert ihre neuerliche Verweigerung. Daß sich die ,Minnelehre' nicht im Ornat einer ostentativ zelebrierten Rhetorik verliert (der natürlich auch den Reiz des Textes ausmacht), verdankt sich neben solchen Peripetien in den persuasiven Registern auch jener alternativen, grobianischen Redeweise, die die personifizierte Liebe gegenüber dem Erzähler pflegt: Daß er weiter werbe, gebietet sie mit der Rute (dasgebut ich mit der wide, ν. 2028).
III. Verfolgen wir diesen Typus der „leeren" Persuasion an einigen Beispielen aus dem ,Liederbuch der Klara Hätzlerin'. 23 Vorab ein paar kurze Bemerkungen zur Sammlung: Sie trägt bekanntlich den Namen der Schreiberin, die sie im Auftrag von Jörg Roggenburg in Augsburg 1471 angelegt hat. Roggenburg war vermutlich kein Angehöriger des Augsburger Patriziats, sondern zählte zum mittelständischen, Handel treibenden Bürgertum. 24 Das Liederbuch ist jedenfalls ein Zeugnis des Augsburger städtischen Literaturbetriebs. Wie schon sein Titel verrät, überliefert es rund 130 Lieder vorwiegend weltlich-erotischen Inhalts. Den Hauptteil bilden allerdings mit 250 gegenüber 100 Blatt die 85 Texte des Minneredencorpus, auf das in der Handschrift - im Unterschied zu Haltaus' Ausgabe - die Lieder folgen. Auf die Probleme der Anordnung kann ich hier nur allgemein eingehen. 25 Das Minneredencorpus umfaßt einen repräsentativen Querschnitt aus jenen Typen, die wir üblicherweise zur Gattung rechnen. Besonders dominant ist der Spaziergangstyp, es finden sich ein Extrakt aus der M n neburg (Nr. II 25; Brandis Nr. 485), Bekannteres wie Hermanns von Sachsenheim ,Grasmetze' (Nr. II 72; Brandis Nr. 246) oder Elbelins von Eselsberg ,Das nackte Bild' (Nr. II 68; Brandis Nr. 359) und zahlreiche Beispiele des sogenannten erörternden Typs, der wie gesagt besondere Nähe zum spätmittelalterlichen Lied zeigt. Wir stoßen aber auch auf einige geistliche Reden bzw. Lieder, auf Verserzählungen bzw. Mären, darun23 24
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Anm. 9. Burghart Wachinger: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: DVjs 56 (1982), S. 386-406, hier S. 403£; Johannes Rettelbach: Lied und Liederbuch im spätmittelalterlichen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 281-307, hier S. 285f. Prinzipielles zum Problem der generischen Klassifizierung von Reimpaartexten und zu den Formen ihrer Uberlieferung bietet Sarah Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300-1500. Columbia 1993.
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ter ein so berühmtes Beispiel wie das ,Herzmaere' (Nr. II 23)26 oder etwa Hans Rosenplüts ,Knecht im Garten' (Nr. II 76), auf den ich noch zurückkomme. Keineswegs untypisch, aber doch irritierend ist die mehr oder weniger unstrukturierte Anlage des Reden- wie des Liedteils. Systematische Anordnungskriterien lassen sich nicht finden. Manche kleinere Spuren einer motivierten Gruppierung können wir erschließen: So eröffnet die Sammlung vielleicht nicht zufällig mit dem ,Lob der Frauen' (Nr. II 1; Brandis Nr. 262), das seinerseits mit einem Schöpfungsbericht beginnt; zusammengestellt sind die Farbenlehren (Nr. II 19-21; Brandis Nr. 377, 382, 372) und die Grußadressen zum Neujahr (Nr. II 34-41; Brandis Nr. 161-168). Im letzten Viertel finden wir vermehrt Geistliches und allgemein Didaktisches, aber auch dies nach keinem stringenten Ordnungskriterium. Vielmehr folgt auf die Passionslieder des Mönchs, die sub specie aeternitatis ein guter Abschluß wären, noch die misogyne Satire ,Wie ain muoter ir dochter lernet puolen' (Nr. II 85; Brandis Nr. 351), ein Epilog der die Willkürlichkeit am Ende noch einmal kräftig dokumentiert. Schon rein materiell fassen wir also ganz gut den Aspekt der Transgression oder der „weichen Textgrenzen" im genetischen Sinn: Wenn man das Corpus der Reimpaardichtungen im Liederbuch der Klara Hätzlerin betrachtet, läßt sich einerseits ein gewisses Gattungsbewußtsein oder wenigstens ein Sammlungsinteresse erkennen, das auf Texte, die wir unter dem Begriff der Minnerede subsumieren, konzentriert ist. Wenn andererseits die Differenzkriterien der unterschiedlichen Redetypen auf die Anordnung der Sammlung offenbar keinen Einfluß haben, so könnten sich auf diese Weise Reduktion und Trivialisierung im Uberlieferungsmedium, im „performativen" Akt des Sammeins und Niederschreibens selbst manifestieren. Was die Problematisierung konventioneller Redeweisen nach dem Beispiel Johanns von Konstanz betrifft, so werden wir auch hier in unterschiedlichen Kontexten fündig. So etwa in der vom Erzähler belauschten altercatio zwischen einer höfischen und einer pragmatischen Adeptin der Minne (,Von der frawen alefantz ain rede'; Nr. II 56, Brandis Nr. 404): Die Pragmatikerin, später natürlich als übel wip benannt, meint auf das Lob des höfischen Liebhabers durch ihre Gesprächspartnerin, es sei Unsinn, sich einen zu suchen, der dich mit red bellen kann (v. 74). Eine Frau werde hier ebenso betrogen wie einer, der dem Echo lauscht:
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Insgesamt ist die Version rund 100 Verse kürzer als in der normalisierten Fassung Edward Schröders (Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Bd. 1: Der Welt Lohn, Das Herzmaere, Heinrich von Kempten. 10. Aufl. Dublin - Zürich 1970). Auffallend ist die rationalisierende Anweisung des Gatten an den Koch, alle anderen Speisen zu versalzen, damit seine Frau nur ja das Herz des Geliebten esse (v. 375ff.).
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Als der in ainen holen Ρerg Ruofft mid es herwider hört, Also bist du gar betört, I 'on seinem Spechtenymmermer (v. 80—83).
Wir erinnern uns an Morungens Ruf in den Wald (MFMT VIa.2, MF 127,12), der hier allerdings verkehrt herum ,gegendert' ist. Greifen wir nun ein Phänomen auf, dem wir ebenfalls bei Johann von Konstanz begegnet sind, nämlich jenes der Akkumulierung von Bildern, der Metaphernhäufung. Um die Pathologie seines Herzens zu beschreiben, spricht der Liebesleidende in der Klagerede Nr. II 46 (,Ach wie hab ich mein tag verzertt'; Brandis Nr. 26) zunächst von Lähmung (v. 22), dann davon, daß sein Herz niedersinke wie Blei und Stein. Dem jetzigen Zustand wird jener kontrastiert, als es noch in vollem Safte stand wie ein Zweig im Mai. Das Bild wird zu einer Mikroallegorie weiterentwickelt: Das Herz sei aufgeschossen, wie es die unfruchtbaren Bäume tun, dann aber sei die Blüte der Freuden rasch verdorrt, schließlich ward es zum dürren Ast, der vom Jammer krachend geknickt wird (v. 32-51). Die folgenden Verse greifen die Metapher des Versteinerns (v. 65) wieder auf und kombinieren sie mit dem Bildbereich des Liebesfeuers: Wie eine Kohle, auf die man Wasser gießt, sei die Freude verloschen (v. 62f.). Ähnlich hybride Kombinationen liegen auch in den anaphorischen Klagereden vor, ζ. B. in jener über das Meiden (Nr. II 30; Brandis Nr. 259). Wir könnten in diesen Fällen von kleinen metaphorologischen Enzyklopädien sprechen, in denen sich der enzyklopädische Charakter der gesamten Sammlung widerspiegelt: Kombinierbar ist alles, Text und Sammlung verfahren nach dem Prinzip des „bricolage", wie es Karlheinz Stierle nach Levi-Strauss skizziert hat: Dem Minneredner liegen wie dem Mythologen überkommene, fragmentierte Bildtopoi vor, die er ad libitum zusammenfügt, wobei den metaphorischen Bruchstücken mitunter ihre Herkunft noch anzusehen ist.27 Auch hier haben wir also Erinnerungsformen gegeben. Analoges beobachten wir an manchen Verdoppelungen: So wird beispielsweise in Rede Nr. II 47 (Brandis Nr. 425) in den Dialog mit Frau Venus ein Dialog von Herz und Leib eingekreuzt, wir finden eingelegte Briefe (Nr. II 54; Brandis Nr. 205), zweifache Exordien (so in der ,Grasmetze' Nr. II 72, die zunächst mit einem „moralisierenden" Prolog beginnt, auf den der Spaziergang als klassischer Eingangstopos folgt). Diese Formen eines textuellen Synkretismus erhärten den Eindruck einer gewissen Hypertrophie. Von einer bewußt „orchestrierten", dialogischen 27
Karlheinz Stierle: Mythos als ,Bricolage' und zwei Endstufen des Prometheusmythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik IV), S. 455-472; Claude Levi-Strauß: Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann. 10. Aufl. Frankfurt/M. 1997, S. 29ff.
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Hybridität im ursprünglichen Bachtinschen Sinn28 läßt sich kaum sprechen. Aber immerhin Hegen Heteroglossien vor, die das transgressive Moment der Gattung dokumentieren. Wir können den Aspekt der Transgression außerdem an intentionalen Stilbrüchen festmachen: dies nicht nur auf der Ebene eines Textes, sondern auch auf jener der gesamten Sammlung, zu deren Reiz ja offensichtlich zählt, daß sie unterschiedliche Redetypen, hohe wie obszöne, gegeneinander stellt. Schlaglichtartig greifen wir derartiges Potential in einigen Bonmots: Beispielsweise in unverhältnismäßigen Vergleichen wie: ich waiss wol, das nit jeder ist \ Babst, noch cardinal (Nr. II 5, v. 112f.; Brandis Nr. 247). 29 Mit diesem Satz tröstet eine Dame einen Liebenden, der befürchtet, mit seinen bisherigen ritterlichen Leistungen nicht allzu sehr geglänzt zu haben. Seine Aussichten scheinen nach diesem Apercu nicht eben günstiger. Daß der Liebende Geduld haben möge, belegt auch Rede Nr. II 7 (Brandis Nr. 236) mit einem exemplum a maiore ad minus·. Es ward Rom gestiftet nicht | Aines tages, als man da gicht (v. 278£). In Rede Nr. II 11 (Brandis Nr. 4) wird ein Bote nach Frau Minne ausgesandt. Seine lapidare Nachricht stellt sich gegen das übliche Pathos der Begegnung mit der Personifikation: fraiv mynn ist nit anhaym (v. 25). Besonders signifikant sind schließlich die Grobianismen, wie etwa der Ausruf der Grasmetze: Ach, nun merdum, Ihesu Chnst (II 72, v. 122); oder die Scheltrede der Teufel über das „üble Weib" (,Von ainem zornigen weib'; Nr. II 52). Welch Leid der Angetraute eines solchen Weibes zu gewärtigen hat, wird in einer Anaphernreihe nach dem Muster „will er dies, will sie das" gelistet, darunter findet sich auch: Will erfart^en, s j will scheyssen (v. 42); im übrigen kein besonders einleuchtender Gegensatz, hier ließe sich auch bei geringem guten Willen eine Einigung erzielen.
IV. Eine fundamentale generische Transgression fassen wir am Beispiel des schon erwähnten ,Knecht im Garten' (Nr. II 76, ,Wie ein fraw iren man betrog'). Es handelt sich um eine in acht Handschriften überlieferte 28
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Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von Rainer Gräbel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Gräbel und Sabine Reese. Frankfurt/M. 1979, hier bes. S. 244ff. Die Rede zählt zu den am häufigsten überlieferten (vgl. die Auflistung bei Brandis). Jacob Klingner verdanke ich den Hinweis, daß die Parallelüberlieferung zum überwiegenden Teil die Variante „Gawein und Parzival" bietet; es ist erstaunlich, daß die Überlieferungsgruppe, die das Liederbuch der Hätzlerin mit der sogenannten Bechsteinschen Handschrift und dem Berliner mfg 488 bildet, die Anspielung offenbar nicht mehr versteht und abändert; vgl. auch die entstellte Anspielung auf Tristan und Isolde (Soldan und Tristion, v. 221).
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Schwankminnerede, um es zunächst behelfsmäßig so zu nennen. Sie stammt nach Ausweis von sechs Überlieferungszeugen, nicht aber nach dem der Hätzlerin, von Hans Rosenplüt. 30 Dächten wir gattungstypologisch, müßten wir das Beispiel ausscheiden, weil es nicht einmal die Bedingung der „Ich-Hohlform" (Glier) erfüllt und der gängigen Gattungssystematik nach eindeutig zu den erotischen Schwankmären zählt. Daß es das ,Liederbuch der Klara Hätzerlin' dennoch in sein Minnereden-Corpus einbindet, hat aber seinen einsichtigen Grund. Dies zeigt uns bereits der Beginn. Wir sehen hier zunächst den Diener eines reichen Herren mit seiner Herrin in ein Werbegespräch vertieft. Er verhält sich dabei nobler, als es sein Stand erwarten ließe, da er in wohlgewählten Worten spricht, wie die Dame selbst feststellt: Sj sprach: dein %ttng ist ml verschmyrt, Die mir mit werten süss hofiert, Dein red ist guot vnd danqw häl, Doch sag ich dir, du würffestfäl. (v. 35-38)
A m Beginn steht hier dieselbe „metaphorologische" Reflexion der RedePartnerin, der wir schon bei Johann von Konstanz begegnet sind. Und ebenso wie dort läßt sich die Dame von Beginn an auf das Spiel der Metaphern ein, bis sie schließlich doch weich wird und der Stangen gert, wie sie sich ausdrückt: Deine wort haund mich durch waicht, Deine %ung hat so süss geschmaicht Mit wortern hübsch und suptil, Das ich mich dir ergeben will. (v. 71-74)
Das weitere ist rasch referiert: Der Diener soll sich unter dem Ehebett verstecken. Als sich die Eheleute niederlegen, berichtet die Dame ihrem Mann von seinen Zudringlichkeiten. Sie habe ihm zum Schein nachgegeben und ein Stelldichein im Garten versprochen. Der Gatte solle in ihre Kleider schlüpfen und ihn an ihrer statt erwarten, was dieser auch gleich tut. Nachdem sich die Liebenden vergnügt haben, marschiert der Diener in den Garten, beschimpft seinen verkleideten Herrn als Ehebrecherin und verprügelt ihn. Auf diese Weise von der Tugendhaftigkeit von Frau und Diener überzeugt, kehrt der verbläute Ehemann zurück, Diener und Dame können ihrer Leidenschaft hinfort ohne Bedenken nachgehen. Das Gespräch als Exordium des Schwankmäres zeigt uns, daß hier in das Redencorpus der Hätzlerin kein generis ch völlig fremder Typus einmontiert ist. Vielmehr fassen wir im Text selbst das Phänomen der Transgression, den Übergang von Rede zu Schwank. Wir können hier 30
Die Überlieferung ist aufgelistet bei Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. Besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, Nr. 105e, S. 387f.
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allerdings noch präziser werden: Der Text wechselt vom Modus der Minnerede ins Register einer verkappten Novelle. Rosenplüts ,Knecht im Garten' ist nämlich nichts anderes als ein Palimpsest der siebten Novelle des siebten Tages aus Boccacios ,Decameron'. Deren „Argumentum" lautet folgendermaßen: hodovico discuopre a madonna Beatrice l'amore il quale egli le porta: la qual manda Egano suo marito in un gardino in forma di se e con Lodopico si giace; il quale poi levatosi va e bastona Egano nelgiardino?x
Freilich hat sich einiges geändert: Rosenplüt behandelt so wie das „Argumentum" nur den zweiten Teil der Novelle.32 Zeit, Ort und Personen sind in dieser gattungsgemäß festgelegt bzw. haben ihre Namen, im Märe sind sie ebenso gattungsgemäß indifferent bzw. anonym. Auch ist das Milieu nicht jenes der städtischen Courtoisie. Bei Boccaccio macht der Liebende kein Aufhebens mit Worten, sondern gewinnt das Herz der schönen Bologneserin — wie es sich in der Nachfolge des dolce Stil nuovo gehört — mit seinen sospm. Er ,erredet' sie nicht, sondern ,erseufzt' sie. Begriffe wie jener von der „Subtilität" der Worte des Dieners (v. 73) und die konkrete motivische Gestaltung lassen die Referenzen auf Boccacio aber doch 31
Giovanni Boccaccio: Tutte le Opere. A Cura di Vittore Branca. Vol. 4: Decameron. Milano 1976, Novelle VII 7, S. 627-633. In der Übersetzung von Ruth Macchi P a s Dekameron des Giovanni Boccaccio. 2 Bde. Berlin - Weimar 1990, Bd. 2, S. 123): „Lodovico gesteht Madonna Beatrice die Liebe, die er für sie empfindet. Sie schickt ihren Ehemann Egano, in ihre Gewänder verkleidet, in den Garten und gibt sich Lodovico hin, der nachdem er sich wieder erhoben hat - Egano im Garten verprügelt." Der gesamte erste Teil der Novelle, der das Motiv der Fernliebe gestaltet, wird im Argumentum übergangen: Lodovico ist der Sohn eines verarmten Florentiner Edelmanns, der in Paris als Händler neuerlich sein Glück gemacht hat. Er schickt Lodovico an den Königshof, damit er seinem angeborenen Stande gemäß aufwachse. Lodovico hört dort von der unbeschreiblichen Schönheit Beatrices und beschließt nach Bologna zu gehen. Bei einem Fest sieht er Beatrice, fühlt sich in seinem Begehren mehr als bestätigt, verkauft seine Habe und tritt als Anichino in die Dienste Eganos. Während dieser zur Falkenjagd ausreitet, gesteht Anichino Beatrice seine Liebe, sie verspricht, ihn schon in der folgenden Nacht zu erhören. Das weitere wie oben. - Zu Motivparallelen in früheren Texten vgl. Marcus Landau: Die Quellen des Dekameron. Zweite sehr vermehrte und verbesserte Aufl. 1884. Nachdruck Niederwalluf bei Wiesbaden 1971, S. 131 f., und den Kommentar bei Branca, S. 1381f. Landau verweist auf das Fabliau ,De la bourgoise d'Orleans ou de la femme qui fit battre son mari', wo der Gatte allerdings selbst den Liebhaber spielt, außerdem auf den ,Romanz de un chevalier de sa dame et de un clerk' sowie auf das Märe ,Vrouwen stietekeit' (GA 11,27). Branca nennt außerdem Parallelen in lateinischen Chroniken. Bei allen Belegen handelt es sich um mehr oder weniger deutliche motivliche Analogien, die — wie immer in solchen Fällen - die Verfügbarkeit eines abstrakten Grundmotivs dokumentieren. Dessen Gestaltung und präzise Pointierung ist Angelegenheit des konkreten Textes. Und nur wo diese reflektiert ist, läßt sich tatsächlich von einer Referenz sprechen. Zur raschen Verbreitung der Novelle VII 7 vgl. den Kommentar bei Branca, S. 1382.
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Vgl. vorige Anmerkung. Eine Pointe der Novelle, daß der Ehebruch nämlich standesgemäß geschieht, muß damit bei Rosenplüt fehlen; der Gattung des Märe ist der Standesunterschied zwischen Dame und Liebhaber allerdings durchaus angemessen.
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kenntlich genug erscheinen. Hier liegt Präziseres vor als eine bloße Variation des Motivs vom com battu et content, dem wir ansonsten noch in den Mären vom ,Koch' und vom ,Schreiber' begegnen. 33 Im übrigen ließen sich auch ,Koch' und ,Schreiber' als Versionen nicht eines freischwebenden Motivs, sondern einer auf Boccacios Novelle VII 7 bezogenen literarischen Reihe verstehen. Auch innerhalb eines motivisch, narrativ und generisch so flexiblen und divergenten Systems wie der europäischen Kurzerzählung des Spätmittelalters bzw. der Renaissance sind also mitunter konkrete intertextuelle Prozesse nachweisbar. Sie geben Aufschluß über die Divergenz literarästhetischer Gegebenheiten und kultureller Milieus, eben weil sie „geheime" Interdependenzen im an sich Heterogenen erhellen (wie eben zwischen Novelle, Märe und Minnerede, florentinischer Urbanität und spätmittelalterlicher Nürnberger Stadtkultur). Nun läßt die Literaturgeschichte die deutsche Rezeption des ,Decameron' üblicherweise mit der Übersetzung des Arigo (entstanden nach 1460, Erstdruck 1476/77) beginnen. Ihre Voraussetzungen bilden, wie Mchael Dallapiazza und Christa Bertelsmeier-Kierst gezeigt haben, einerseits die Boccacio-Rezeption des frühen deutschen Humanismus, die zunächst um ,De claris mulieribus' und die latinisierten Novellen kreist, andererseits der spezifische Geschmack eines höfischen Publikums, auf den Steinhöwels Übersetzung von ,De claris mulieribus' (mit der ,Griselda' als hundertstes Exempel) und Niklas Wyles „Translatze" der lateinischen Fassung von ,Decameron' IV 1 (,Guiscardo und Ghismonda') zugeschnitten sind.34 Wieder sind wir auf die Inhomogenität der literarischen Prozesse im 15. Jahrhundert gestoßen, auf die Brüche und die partikulären Interessenslagen in Produktion und Rezeption von Literatur. Bedenkt man Hans Rosenplüts Lebensdaten (um 1400-1460), so wäre mit einer Entstehung des ,Knecht im Garten' im zweiten Viertel des 15. 33
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Auf beide Mären verweist Fischer (Anm. 30), S. 95, im Zusammenhang mit dem ,Knecht im Garten', ihre Entstehungszeit fallt vermutlich in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts; zum ,Schreiber' ebd., S. 399 (Nr. 117) und S. 516, zum ,Koch' S. 307 und S. 440f. (Nr. 4b). Michael Dallapiazza: ,Decamerone' oder ,De claris mulieribus'? Anmerkungen zur frühesten deutschen Boccaccio-Rezeption. In: ZfdA 116 (1987), S. 104-118; Christa Bertelsmeier-Kierst: Wer rezipiert Boccaccio? Zur Adaption von Boccaccios Werken in der deutschen Literatur des 15. Jahrhunderts. In: ZfdA 127 (1998), S. 410-426. Besonders Bertelsmeier-Kierst betont das zunächst auf die süddeutschen Höfe beschränkte Interesse am ,Decameron'. In diesem Kontext sei auch die Übersetzung Arigos zu sehen, deren aufwendige Drucke auf einen limitierten Rezipientenkreis hinweisen (ebd. S. 422f.). Als von Arigos Ubersetzung abhängig gelten auch jene Mären, in denen man bisher Rezeptionszeugen der Novellen des ,Decameron' erkannt hat, namentlich etwa ,Der enttäuschte Liebhaber' von Johannes Werner von Zimmern (1454—1494) und Hans Schneebergers ,Mönch als Liebesbote C'; hierzu Fischer (Anm. 30), S. 188 und S. 202. Bei Schneeberger sind Identität des Verfassers und Datierung allerdings strittig (der Autorname wurde auch als Entstellung von Rosenplüts Beinamen „schneperer" betrachtet).
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Jahrhunderts zu rechnen. 1432 hat Erhart Groß in Nürnberg die ,Griselda' zu seiner ehedidaktischen ,Grisardis' umgearbeitet. 35 Boccaccios ,Decameron' kann in Nürnberg also schon ab 1430 bekannt sein. In welcher konkreten Form ihn Hans Rosenplüt rezipiert haben könnte und ob seine Variante die zaghaft einsetzende und zunächst eben noch partikuläre Rezeption durch die Humanisten und im höfischen Milieu voraussetzt oder wenigstens in loser Form mit ihr zu tun hat, ist unsicher. 36 Zu denken wäre — unter Umständen, aber nicht zwingend - an mündliche Vermittlungs- und Reduktionsformen. 37 Wichtig ist, daß die moderne Gattung der Prosanovelle zu diesem Zeitpunkt (und auch noch nach Arigos Ubersetzung) entweder in bestimmte humanistische oder didaktische Diskurse eingebunden ist (so bei Groß, Steinhöwel und Wyle) oder dort, wo ihr narratives Material interessiert, wie bei Rosenplüt — der Transformation in die literarhistorisch „alte" Form des Reimpaarverses bedarf. Daß diese Transformation überhaupt möglich ist, verdankt sich natürlich der narrativen Affinität zwischen Märe und Renaissancenovelle, aber auch der generischen Offenheit der Minnerede. Im übrigen haben wir rund hundert Jahre später in der Lyrik den analogen Fall eines transformierenden Vorgriffs auf neue literarische Modelle vorliegen, die sich erst eine künftige, an der europäischen Literatur der Zeit orientierte Rezeption systematisch aneignen wird: Das sogenannte „italianisierte Lied" des ausgehenden 16. Jahrhunderts, namentlich bei Christoph von Schallenberg (1561-1597) und im ,Raaber Liederbuch' (um 1600), verarbeitet vermehrt an Petrarca geschulte italienische Vorbilder, weiß sie aber weitgehend - formal wie thematisch - in die überkommene Tradition deutscher spätmittelalterlicher Lieddichtung zu integrieren. 38
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Hierzu Dallapiazza (Anm. 34), S. 109, und ders.: Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption. In: Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen. Hg. von Volker Kapp und Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1991 (Erlanger romanistische Dokumente und Arbeiten 6), S. 181-193. Petrarca hat seine Übersetzung der ,Griselda' in das XVII. Buch seiner .Seniles' aufgenommen, hierzu Wilhelm Theodor Elwert: Die italienische Literatur des Mittelalters. Dante, Petrarca, Boccaccio. München 1980, S. 233f. Rosenplüts ,Hasengeier' wird als Inversion von Boccaccios ,Falkennovelle' betrachtet von Ingrid Kasten: Erzählen an einer Epochenschwelle. Boccaccio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fotuna vitrea 16), S. 164—186, hier S. 171 ff. Dallapiazza (Anm. 35), S. 185, vermutet eine mündliche Quelle für Erhart Groß. Gert Hübner: Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 31 (2002), S. 127-186; Verf.: Hybride Texte - wilde Theorie? Perspektiven und Grenzen einer Texttheorie zur spätmittelalterlichen Liebeslyrik. In: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29.
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Auch hier geht dem Neuansatz deutscher Lyrik um 1600 eine Phase der „letzten" Adaptation durch ein altes System voraus. In beiden Fällen ist der folgende, jüngere Rezeptionsmodus essentiell mit einem neuen Gattungs- und Kanonbewußtsein verbunden, das die maßgeblichen Autoren — sei es Boccaccio, sei es Petrarca — als Autoritäten begreift und die interliterarische Referenz aus der Anonymität in die Sphäre der Onymität hebt.
V. Wir könnten den ,Knecht im Garten' ein retrospektives Palimpsest von Boccaccios Novelle nennen. Stellt man das redenhafte Märe und die Renaissancenovelle einander gegenüber, werden die Gradationen in der europäischen Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts exemplarisch sichtbar. Diese Gradationen müssen uns wie gesagt interessieren, wenn wir unser Textcorpus im Kontext einer europäischen Epoche und im Kontext der entsprechenden europäischen Gattungen, zumal der Allegoriedichtung und - am Rande — der Novelle, betrachten wollen. Wie unterschiedlich produktiv die Zeugen dieser Gattungen innerhalb einer sich neu formierenden europäischen Literatur sind, läßt sich für die Allegoriedichtung an Petrarcas ,Trionfi c und ihrer Wirkungsgeschichte ermessen. Die Arbeit an den ,Trionfi' hat Petrarca 1352 begonnen (also etwa zur Entstehungszeit der ,Minneburg'). Der Text erweist sich in mehrfacher Hinsicht als prospektiv: Da ist das Modell der Seelenlandschaft, in der sich der Erzähler bewegt. Ihr Raum ist flächig. Petrarca übersetzt Dantes Programm der Vertikalität, wie dies schon Michail Bachtin genannt hat, in die Horizontalität.39 Karlheinz Stierle hat sich mit dieser fundamentalen topographischen Umgestaltung der allegorischen Raumbewegung ausführlich auseinandergesetzt. 40 Das Verfahren ist umso überraschender, als auch die ,Trionfi' deutlich von einer Bewegung in die Transzendenz bestimmt sind: Dies zeigt sich an der spiritualisierten Liebe zu Laura, die die BeatriceLiebe der ,Comedia' reflektiert, und ist auch an der Abfolge der Triumphzüge abzulesen: Triumph des Cupido, Triumph der Keuschheit, Triumph des Todes, Triumph des Ruhmes, Triumph der Zeit und schließlich Triumph der Ewigkeit. Die Immanenz als „horizontale" Denkform gerät mit der Transzendenz als „vertikaler" Denkform in Konflikt: So bei der Idea-
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November 2003. Hg. von Gert Hübner. Amsterdam - New York 2005 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 37), S. 11-45. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt/M. 1989, S. 89ff. Stierle (Anm. 15), S. 34ff. und S. 661-709.
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lisierung eines sinnlichen Liebeskonzepts (Triumph des Cupido) durch den Triumph der Keuschheit mit Laura als zentraler Gestalt und bei ihrer Auslöschung durch den Triumph des Todes, ferner bei der Uberwindung des Todes durch die Fama, den Ruhm, der wiederum der Zeit zum Opfer fällt, dies alles auf einem flächigen Szenentableau. Der Aspekt der Transgression wird in der weltumspannenden Totalität erkennbar, die Petrarcas Terzinen ausgehend von der Liebesallegorie entwickeln. Auch hier ist natürlich Dantes ,Comedia' der maßgebliche konkurrierende Text. Prospektiv ist ferner die Bedeutung der Mythographie. Schließlich erzeugen Petrarcas ,Trionfi' — so wenigstens Karlheinz Stierle — eine eigene ikonographische Tradition, die sich in der Renaissancekunst als äußerst produktiv erweist. Und auch die allegorischen Reigen des Barockdramas könnten den ,Trionfi' Wesentliches schulden; im Bereich der Lyrik ist Petrarcas Wirkung auf die folgenden Jahrhunderte ohnehin unumstritten. Demgegenüber läßt sich die literarhistorische Bedeutung der Minnereden und vielleicht generell die literarhistorische Bedeutung der deutschen Lyrik und Epik des 14. bis 16. Jahrhunderts eher in dem ermessen, was Poesie hier noch nicht ist. Die deutsche Literatur des Spätmittelalters erweist sich als retrospektiv: Der Untergang ihrer poetischen Formen läßt die Bedeutung des Neubeginns ermessen und dokumentiert die Diskrepanz zwischen den europäischen Literaturen der Zeit. Eine derartige Diagnose ist freilich billig und führte zu der bekannten, sozusagen institutionellen Verweigerung der Literaturwissenschaft. Vielleicht entkommen wir dem, wenn wir von einer „retrospektiven Produktivität" sprechen, wenn wir die Konventionalität der deutschen Literatur im Allgemeinen und der Minnereden im Besonderen als Basis dessen fassen, was über sie hinausgehen wird. Blicken wir hierfür noch einmal auf die Metaphorologie der Minnereden. Hervorzuheben scheint mir ihr artifizieller, mitunter spielerischer Charakter: Das Lusorische als produktives Moment der Trivialisierung haben Ludger Lieb und Otto Neudeck auch in ihrem Tagungskonzept angesprochen. 41 Mag sich der Lusus mitunter auf niedrigem Niveau bewegen, so scheint die poetische Anstrengung der höfischen Lyrik ihren Lohn in der Leichtigkeit zu erfahren, mit der die Minnerede traditionelle Bild- und Textmuster der esoterischen Enge endockt. Von lebendigen Metaphern im Sinne Paul Ricoeurs läßt sich wie gesagt nicht sprechen. Dafür erweisen sich die Bilder als zu kontingent und die „semantischen Pertinenzen" als zu fest. Zugleich konnten wir aber gerade an der traditionellen Metaphorik das Moment der Transgression festmachen. Zwar sind es nicht die Metaphern selbst, die im ,Knecht im Garten' transgressiv 41
In diesem Band, S. 261.
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sind, aber sie entwerfen einen narrativen Kontext, der sich als transgressiv (zur Novelle hin) erweist. Insofern könnten wir wenigstens von „untoten Metaphern" reden. Gerade ihr Gebrauch illustriert, auf welch ungenierte und formlose Weise in Minnereden geplaudert wird. Es ist ein Ton des „parlando", der die Minnereden kennzeichnet und der in mehrfacher Hinsicht signifikant scheint: Seine Verfügbarkeit korrespondiert mediengeschichtlich der Verfügbarkeit des neuen Schreibstoffs, des Papiers. Literarästhetisch spiegelt er sich in der Konventionalität, mit der die überkommenen poetischen Formen retrospektiv besprochen werden. Literarhistorisch und soziokulturell entscheidend könnte sein, daß dieses „parlando" literarische Erinnerung weiterträgt und Partizipation in doppelter Hinsicht ermöglicht: Zum einen, weil gerade die konventionellen Parameter textinterner Kommunikation jenen kommunikativen Freiraum schaffen, der zu einer textexternen Fortführung des Gesprächs einlädt, wie dies Ludger Lieb und Peter Strohschneider reflektiert haben. 42 Zum anderen insofern, als der unprätentiöse Ton neue Publikums schichten zur Teilhabe am literarischen Diskurs befähigt. „Jeder kann mitreden", auch der, der Minnereden bloß hört. Und schließlich mag dieses „parlando" durchaus nicht so harmlos sein, wenn wir seine Brüche in Stil und Bild, das Kippen konventioneller Rede ins Groteske, Gewalttätige und Exzessive kulturtheoretisch lesen. Immer wieder scheinen aus der harmlosen, trivialen Rede die erotischen, sozialen und soziokulturellen Oppressionen und die gender troubles hervorzubrechen. Im „parlando" mag sich also mithin ein bedrohlicheres Unbehagen formulieren als im großen Triumphaufzug der hohen Allegorie, weil es vom Gängelband der Ästhetik weniger gezügelt und sublimiert ist. Die „konservativen" narrativen und diskursiven Muster weisen dabei auf die Hartnäckigkeit und Zählebigkeit der von und in ihnen formulierten Denkformen und zeugen von der Exklusivität jener Versuche ihrer innovativen Überschreitung, die wir in den neuen Gattungen fassen. Sei dem wie immer: Vielleicht schuldet die Literaturgeschichte der retrospektiven Produktivität der Minnereden (und nicht nur dieser) mehr, als die Literaturgeschichtsschreibung zuzugeben bereit ist. In ihnen könnten wir jenen Hintergrundton, jenes Murmeln fassen, das noch in Hans Sachsens mittelalterlichen wie humanistischen Sujets anhält und auf dem um 1600 die neuen poetischen Töne ihre „musikalischen" Skalen errichten. Eine Bedingung ihrer Möglichkeit wäre das „parlando" und es würde 42
Ludger Lieb und Peter Strohschneider: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. von Gert Melville und Peter von Moos. Köln - Weimar - Wien 1998, S. 275-305, hier S. 299f.
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sich in jener Konventionaütät fortsetzen, die nicht bloß die spätmittelalterliche Literatur, sondern auch die barocke Lyrik und Epik jenseits von Opitz, Hoffmannswaldau oder Grimmelshausen kennzeichnet.
THOMAS HONEGGER
Triviale Liebeserklärungen? Bemerkungen zu einem problematischen Sprechakt in der mittelenglischen Literatur
I. E i n f ü h r u n g Das Thema der Tagung bzw. des vorliegenden Bandes verlangt von mir eine doppelte Brechung der Perspektive. Obwohl die Erscheinung der ,deutschen' Minne wie auch die der ,englischen' ,courtly love' einen gemeinsamen Ausgangspunkt in der im provenzalisch-französischen Kulturkreis zuerst faßbaren ,amour courtois' besitzen, unterscheiden sich die beiden kulturspezifischen Ausgestaltungen des Phänomens der höfischen Liebe nicht unwesentlich. So findet die Rezeption der höfischen Liebe in der englischen Literatur auf Grund der relativ spät einsetzenden volkssprachlichen Literaturproduktion erst im 13. und 14. Jahrhundert statt und auch dann in einer den geänderten gesellschaftlichen Umständen angepaßten Form. 1 Die mittelhochdeutschen Minnereden haben bedauerlicherweise kein Gegenstück in der mittelenglischen Literatur, auch wenn über und von Liebe geredet wird — sei dies in allegorisch-verschlüsselter Weise im mittelenglischen Rosenroman oder mit größerem Realismus in den mittelenglischen Romanzen. 2 Wer, wie, wann und aus welchem Anlaß über Liebe spricht, wechselt von Werk zu Werk und verhindert einen systematischen Zugriff. Ich habe mich deshalb auf die Untersuchung einer typischen, klar bestimmbaren Sequenz beschränkt: die Liebeserklä1 2
Die beiden Standardstudien zu diesem Problemkrcis sind Charles Muscatine: Chaucer and the French Tradition. Berkeley 1957, und William Calin: The French Tradition and the Literature of Medieval England. Toronto - Buffalo - London 1994. Siehe Thomas Honegger: Authors and Lovers: Presenting Amorous Interaction in Middle English Romance. In: Middle English from Tongue to Text. Selected Papers from the Third International Conference on Middle English: Language and Text (Dublin, Ireland, 1-4 July 1999). Hg. von Peter J. Lucas und Angela Lucas. Frankfurt/M. 2002, S. 137-152.
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rung. Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, die Funktion und Bedeutung der Liebeserklärung in der zwischenmenschlichen Interaktion kurz zu umreißen und — anhand ausgewählter Beispiele — auf die Problematik der ,Trivialisierung' dieses zentralen Sprechakts eingehen. ,Trivial' wird in diesem Zusammenhang mit Rückbindung an den ursprünglichen Sinn, d. h. als zum Trivium (genauer zur Rhetorik) gehörig, verwendet. Wie meine Ausführungen zeigen werden, unterliegt die Liebeserklärung im Zuge ihres Aufstiegs zum zentralen Sprechakt einer starken Rhetorisierung und Formalisierung. 3
II. Die Liebeserklärung: eine pragmatisch-linguistische Annäherung Die höchstwahrscheinlich ebenso einfache wie universale Pseudo-Formel ,1. Person Subjekt + Verb der Liebe + 2. Person Objekt', die mit der Anpassung an die Oberflächenstruktur der jeweiligen Sprache englisch ,1 love you', französisch J e t'aime' und deutsch ,Ich liebe Dich' ergibt, gilt als die prototypische Liebeserklärung schlechthin. 4 Natürlich hat die menschliche Kreativität unzählige Variationen und Umschreibungen erfunden, um dies auch mit anderen Worten (oder eben ohne Worte) auszudrücken. Dennoch: die explizite und ,on record' Erklärung der Liebe mittels dieser Pseudo-Formel scheint spätestens seit dem 12. Jahrhundert als beinahe unabdingbare Voraussetzung für die Etablierung einer Liebesbeziehung anerkannt zu sein.5 Dieser Umstand wirft die Frage auf, was denn nun die Liebeserklärung zu einem so zentralen Sprechakt macht, daß sie beinahe als ,sine qua non' gelten muß. Rein formal scheint sich eine Äußerung wie ,Ich hebe Dich' nicht von ,Ich liebe Monumentalfilme' zu unterscheiden. Beide geben genaueren Aufschluß über die gefühlsmäßige Einstellung des Sprechers gegenüber der genannten Kategorie/Person. ,Ich liebe Monumentalfilme' kann jedoch als reine Informationsvermittlung wahrgenommen und bis zur Verwendung im passenden Zusammenhang abgespeichert 3
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Siehe dazu auch die Ausführungen in Thomas Honegger: ,De arte (dis-)honeste amandi' — Amatory Theory vs Literary Reality. In: Authors, Heroes and Lovers: Essays on Medieval English Literature and Language / Liebhaber, Helden und Autoren: Studien zur alt- und mittelenglischen Sprache. Hg. von dems. Bern u. a. 2000, S. 73-106. Siehe dazu die Überlegungen in Alexander Schwarz: Die Liebeserklärung: Ein Sprechakt in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts. In: Love and Marriage in the Twelfth Century. Hg. von Willy van Hoecke und Andries Welkenhuysen. Leuven 1981 (Mediavalia Lovaniensia Series I, Studia 8.), S. 183-196. Siehe Alexander Schwarz: Sprechaktgeschichte. Studien zu den Liebeserklärungen in mittelalterlichen und modernen Tristandichtungen. Göppingen 1984 (GAG 398).
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werden — d. h. die Aussage erfordert keine unmittelbare substantielle Reaktion von Seiten des Hörers und bewirkt (unter normalen Umständen) keine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zwischen Sprecher und Hörer. Im Gegensatz dazu hat ,Ich liebe Dich' weitreichende Konsequenzen. Auf der oberflächlichsten Ebene informiert es zwar die Hörerin über den Gemütszustand des Sprechers, doch da die Adressatin selbst das Objekt des ,Liebens' ist, kann sie es nicht einfach abspeichern und zur Tagesordnung übergehen. 6 Die Liebeserklärung ist vielmehr ein Angebot des Sprechers an die Hörerin, ihre Beziehung zueinander grundlegend neu zu definieren. 7 Dieses Angebot schafft für beide Akteure neue Zwänge und beinhaltet substantielle Risiken. Beides ist eng miteinander verknüpft. Ich möchte jedoch zuerst über die Zwänge sprechen. Eine Liebeserklärung, die ,on record', d. h. explizit und unmißverständlich gemacht wird, ist in vielem mit einem ,adjacency pair' vergleichbar.8 Typische ,adjacency pairs' sind ζ. Β. Frage-Antwort. Hat der Sprecher eine Frage gestellt (erstes Element des ,adjacency pairs'), so wird jede Äußerung des Gesprächspartners zuerst einmal als Antwort, d. h. als potentielles, erwartetes zweites Element des ,adjacency pairs' interpretiert. Dasselbe gilt für Liebeserklärungen. Jede Äußerung oder Handlung der Gesprächspartnerin wird primär auf ihre Relevanz bezüglich der ausgesprochenen Liebeserklärung überprüft. 9 Natürlich kann die umworbene Person mit einer Ausweich- oder Verzögerungstaktik die ,endgültige' Beantwortung der Frage hinauszögern, aber auch dies ist eine sich unmittelbar auf die Liebeserklärung beziehende Reaktion. Es ist für die Gesprächspartnerin nicht möglich, nicht zu reagieren. 10 Aufschub gäbe es nur, wenn sie in Ohnmacht fällt und sich somit jeglicher weiteren bewußten Kommunikation entzieht. Eine Weige6
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Der Einfachheit halber, und in Übereinstimmung mit der traditionellen mittelalterlichen Verteilung der Geschlechterrollen, verwende ich die männliche Form für den Sprecher und die weibliche Form für den Hörer. Wir haben also die ,klassische' Situation mit dem werbenden Mann und der umworbenen Dame vor uns. Eine Liebeserklärung ist also eine Aussage auf der ,Beziehungsebene'. Zur Unterscheidung von Objekt- vs. Beziehungsebene, siehe Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein [zuerst 1983]. München - Zürich 1996, S. 72. Zu ,adjacency pairs' siehe Herbert H. Clark: Using Language. Cambridge 1996, S. 197f. Bereits J. L. Austin: How to Do Tilings with Words. (The William James Lectures gehalten an der Harvard University 1955). 2. Aufl. Hg. von J.Ο. Urmson und Marina Sbisa. Cambridge/Mass. 1975, S. 117, macht darauf aufmerksam, daß „many illocutionary acts invite by convention a response or sequel." Siehe Erving Goffman: Replies and Responses [zuerst 1976], In: ders., Forms of Talk. Oxford 1981, S. 5-77, hier S. 6: „The first pair part establishes a .conditional relevance' upon anything that occurs in the slot that follows; whatever comes to be said there will be inspected to see how it might serve as an answer, and if nothing is said, then the resulting silence will be taken as notable — a rejoinder in its own right, a silence to be heard [·..]." Siehe Erving Goffman: Behavior in Public Places. New York 1963, S. 33 und 35.
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rung, auf die Liebeserklärung einzugehen, kommt einer (zumindest temporären) Zurückweisung gleich. Eine Liebeserklärung schränkt deshalb die Handlungsfreiheit der Adressatin in einem empfindlichen Maße ein. Sie kann nicht anders als reagieren und sieht deshalb, um die englische Fachterminologie zu verwenden, ihr ,negative face' bedroht. 11 Für den Sprecher ist eine Liebeserklärung natürlich auch nicht ohne Risiko. Er muß in Kauf nehmen, daß sein ,Angebot' zur Neudefinierung der gemeinsamen Beziehung ausgeschlagen wird — was als Bedrohung seines ,positive face' anzusehen ist.12 Die Liebeserklärung kann nun als Maximalform einer ,positive face' Forderung gesehen werden, denn eine Zurückweisung der Liebe stellt das Selbstverständnis der ganzen Person in Frage. Dies ist ein wichtiger Punkt, der die Liebeserklärung von Äußerungen wie ,Ich liebe Monumentalfilme' unterscheidet. Während man ohne Probleme andere cinematische Präferenzen haben und auf der Objektebene differieren kann, verlangt eine Liebeserklärung nach einer Erwiderung der Gefühle. Eine tiefgreifende Nichtübereinstimmung auf der Beziehungsebene ist nicht zulässig. Die Liebeserklärung stellt jedoch nicht nur eine Gefährdung des positive face' des Sprechers dar; auch das ,positive face' der Interaktionspartnerin wird bedroht. Wenn diese nämlich den Sprecher nicht liebt, dann sieht sie sich gezwungen, ihn durch eine Zurückweisung zu verletzen, d. h. sie wird in eine Rolle gedrängt, die ihrem eigenen Selbstverständnis als Person zuwiderläuft. Wie aus dieser kurzen Darstellung hervorgeht, konstituiert die Liebeserklärung einen Sprechakt, der nicht ohne Komplikationen ist. Die moderne Forschung zur menschlichen Interaktion hat sich vertieft mit den möglichen Strategien zur Minimierung des ,face threat' Potentials beschäftigt.13 Die einfachste Lösung wäre natürlich, wenn man auf den gefährlichen Sprechakt verzichten bzw. die explizite ,on record' Liebeserklärung durch indirekte, sogenannte ,off record' Äußerungen ersetzen könnte. Aber gerade die Stärke der indirekten Äußerungen ist auch ihre größte Schwäche — man bzw. frau kann sich nicht sicher sein, was denn jetzt wirklich gemeint ist. Ich möchte diese Problematik nur kurz anhand des ,klassischen' Beispiels der Ambiguität bei Tristan und Isolde illustrieren. Thomas, in seinem Roman de Tristan, schildert folgende Situation: 11
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,Negative face' wird definiert als das Bedürfnis jedes Interaktionsteilnehmers, in seiner Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt zu werden. Siehe Penelope Brown und Stephen C. Levinson: Politeness: Some Universals in Language Use [zuerst 1978]. 2. Aufl. Cambridge 1987 (Studies in Interactional Sociolinguistics 4), S. 62. ,Positive face' wird definiert als das Bedürfnis jedes Interaktionsteilnehmers zu erfahren, daß seine Wünsche / Bedürfnisse von den anderen Interaktionsteilnehmem bejaht bzw. akzeptiert werden. Siehe Brown und Levinson (Anm. 11), S. 62. Grundlegend ist immer noch Brown und Levinson (Anm. 11).
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Tristran ad note chescun dit, Mes ele l'ad issiforsv'ee Par ,1'amer' que ele ad tant changee Que ne set si cele dolur Λd de la mer ou de l'amur, (Thomas, Le roman de Tristan, Carlisle Fragment) 14 Übersetzung: Tristan hat auf jedes Wort acht gegeben, aber sie [Iseut/Isolde] hat ihn so erfolgreich verwirrt durch [das Wortspiel mit] ,Pamer', daß er nicht weiß, ob ihr Leiden durch ,1a mer' (das Meer) oder durch ,l'amur' (die Liebe) verursacht wird.
Die erlösende Klarheit bringt in solchen Situationen eben nur die explizite Liebeserklärung. Diese sollte jedoch erstens nicht ganz ohne Vorbereitung der Angebeteten geschehen und zweitens eine möglichst breite Palette von flankierenden Maßnahmen beinhalten, die dazu dienen, den potentiellen Gesichtsverlust abzuwenden bzw. das Ausmaß der Zumutung zu mindern.
III. Modellhafte Liebeserklärungen Nach diesen eher theoretischen Vorüberlegungen möchte ich die skizzierte Problematik anhand eines konkreten Beispiels behandeln. Leider fehlen auf den britischen Inseln bis in das späte Mittelalter englische Texte, die uns als Grundlagen dienen könnten. England ist in diesem Bereich bis ins 13. Jahrhundert — und in vielen anderen Bereichen noch viel länger - Teil einer größeren frankophonen Kulturgemeinschaft. Die exemplarische Liebeserklärung wurde deshalb einem französischen Text entnommen: Richard de Fournivals Cornaus d'amours}5 Richards Text ist eine gelehrte Abhandlung und präsentiert die vorherrschenden kontemporären Ideen und Vorstellungen über die Liebe. Diese Konzepte, ob nun direkt über den Cornaus d'amours oder nur indirekt, beeinflußten die Darstellung der Interaktion zwischen höfischen Liebenden in der erzählenden Literatur Frankreichs - und gelangten in dieser Form nach England, wo sie in den englischen Ubersetzungen und Adaptationen der literarischen Werke auftreten. Richard de Fournival (ca. 1201-1260), der Verfasser des Consaus d'amours, war Arzt, Diakon und Kanzler der Kathedrale von Amiens und schrieb seine Abhandlung als Leitfaden in Sachen Liebe für seine (fiktive?) Schwester. Er beginnt mit einer systematischen Aufschlüsselung der un14 15
Tristan et Iseut. Les poemes francais, La saga norroise. Hg. und übersetzt von Daniel Lacroix und Philippe Walter. Lettres gothiques. Paris 1996, S. 332, v. 46-50. Ich verwende die Edition von Gian Battista Speroni: II Consaus d'amours di Richard de Fournival. In: Medioevo Romanzo 1 (1974), S. 217-278.
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terschiedlichen Arten der Liebe (,natürliche Liebe' zwischen Blutsverwandten, allgemeine Liebe, die auf der Tatsache beruht, daß Gott alle Geschöpfe geschaffen hat, geschlechtliche Liebe, etc.) und untersucht dann im Detail, was die ,leidenschaftliche Liebe' ausmacht. Er beläßt es jedoch nicht bei rein theoretischen Ausführungen, sondern gibt auch ganz konkrete Handlungsbeispiele — die für uns natürlich von besonderem Interesse sind. Die folgende Passage illustriert, wie ein höfischer Liebhaber sich einer Dame von hohem Stand nähern und wie er seine Liebeserklärung vorbringen soll. Zuerst, so Richard, muß der Liebende das Wohlwollen der Dame gewinnen, so daß sie ihm willig zuhört. Dann, wenn man mit der Dame spricht, soll der Liebende das Gespräch auf die Freuden der Liebe bringen, Geschichten über die Liebe erzählen und allgemein die Liebe als Gesprächsthema wählen. 16 Wenn er den Boden solchermaßen vorbereitet hat, dann kann er sich ein Herz nehmen und seiner Liebe folgendermaßen Ausdruck geben: ,Ma dame, vous estes la lumiere et la joie de mon euer; vous estes l'esperance de toute ma vie; vous poes faire vostre volenti de moi et moi metre a mort, se il vous piaist: je suis vostre sers, et apparellies α faire vos eonmandemans. Ma dame, que vous diroie je? je ne le vous puis celer; et, pour Diu, ne vous displaise mie, que vraiement je vous aim de tout mon euer; si vous pri, dame, pour Diu, que vous me retenes pour vostre ami et pour vostre serf, ou autrement lagrans valours de vous et haute amours qui s'est en moi herbegie m'ont mis a le mort!' (Richard de Fournival, Cornaus d'amours, S. 265; Hervorhebung hinzugefügt) Übersetzung: ,Meine Dame, Ihr seid das Licht und die Freude meines Herzens, die Hoffnung meines Lebens. Ihr könnt mit mir machen, was Ihr wollt - und sei es, wenn es Euch gefällt, mich töten. Ich bin Euer Diener, bereit, Euren Befehl auszufuhren. Meine Dame, was soll ich sagen? Ich kann es nicht länger vor Euch verhehlen und bitte Gott, daß Ihr es mir nicht übel nehmt, daß ich Euch wahrhaftig von ganzem Herzen liebe. Deshalb flehe ich Euch an, meine Dame, um Gottes Willen, akzeptiert mich als Euren treuen Freund und Diener; ansonsten wird all die hohe Tugend, die in Euch ist, und all die edle Liebe, die in meinem Herzen wohnt, mich ins Grab bringen.'
Der Liebeserklärung selbst werden Komplimente und Lobpreis vorausgeschickt, was typische ,positive face' Strategien sind. Ebenfalls wird versucht, die Einschränkung der Aktionsfreiheit der Dame infolge der Liebeserklärung durch die Betonung der hierarchischen Unterschiede und ihrer absoluten Befehlsgewalt abzuschwächen. Hinzu kommt, daß der Sprecher darauf hinweist, daß er der Dame nur deshalb so nahe tritt, weil es nicht mehr anders geht. Dieser Topos des ,Mitteilungszwanges' ist hier nur angedeutet und kommt in anderen Beispielen stärker zum Ausdruck. 16
Zur Wahl des richtigen Zeitpunkts, ein Thema einzuführen, siehe Emanuel A. Schegloff und Harvey Sacks: Opening up Closings. In: Semiotica 8 (1973), S. 289-327, bes. S. 299.
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Ein sehr schöner Zug ist, daß sich der Sprecher hier um einen gewissermaßen spontanen Stil' bemühen soll und deshalb Äußerungen wie ,Meine Dame, was soll ich sagen?' gleich in die Modell-Liebeserklärung eingebaut werden. Der zentrale Akt ist jedoch ganz klar die Verwendung der ,Pseudo-Formel', hier ,je vous aim'. Damit hat der Sprecher Stellung bezogen und was immer die Dame machen wird, sie kann seine explizite Liebeserklärung nicht ignorieren. Der ideale Liebhaber sollte die Dinge jedoch nicht einfach so belassen, sondern vielmehr gleich auch noch Vorschläge einbringen, wie die Beziehung zwischen ihm und der Dame gestaltet werden soll. J e vous aim' überfordert den Gesprächspartner möglicherweise und es wäre deshalb angebracht, die Sequenz mit konkreteren Vorschlägen abzurunden. Was der Sprecher nun indirekt vorschlägt, ist die Aufnahme einer typischen ,höfischen' Liebesbeziehung mit ihm als ,Diener' {serf), der sich im Dienste der Dame bewährt und so seine Position als ami (,Freund') verdient. Was nicht ausgesprochen wird, aber was wohl alle Beteiligten wissen, ist, daß in der höfischen Interaktion die Regel gilt: kein Dienst ohne Lohn. 17 Gelingt es also dem Liebenden, von seiner Dame als ,Minnediener' angenommen zu werden, so darf er sich auch Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete Belohnung für seine Dienste machen. Den Abschluß der Modell-Liebeserklärung bildet der Hinweis auf die Liebeskrankheit (,amor hereos'). 18 Der Sprecher weist darauf hin, daß er sicher des Todes ist, wenn ihm nicht von Seiten der Dame Hilfe angedeiht. Aber auch hier ist der Sprecher interessanterweise bemüht, die ,emotionale Erpressung' abzuschwächen. Er macht dies, indem er die Liebeskrankheit als unmittelbare Folge von zwei an und für sich äußerst positiven Elementen präsentiert, nämlich der ,1a grans valours de vous et haute amours', d. h. die hohe Tugend der Dame und die edle Liebe sind für sein Liebesleiden verantwortlich. Die meisten Modell-Liebeserklärungen in anderen Abhandlungen zur Liebe stimmen mit derjenigen aus dem Consaus d'amours in den wesentlichen Punkten überein. Ich verzichte deshalb auf eine detaillierte Analyse und stelle die Ergebnisse einer vergleichenden Analyse zweier repräsentativer Modell-Liebeserklärungen in tabellarischer Form zusammen.
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Siehe Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 10), S. 179-191. Zur Liebeskrankheit und ihrem medizinischen Status im Mittelalter siehe Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages: The Viaticum and Its Commentaries. Philadelphia 1990.
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Elemente Dienstverhältnis (JdA: 475f, 521-530, 535-544. RdF: 11-13, 16-17) Lob (JdA: 479-482, 549-550. RdF: 9-11) Herz (JdA: 477. RdF: 10, 16) Macht der Liebe (JdA: 484490, 497-504. RdF: 14) Liebesleid (JdA: 505-510. RdF: - ) Lebensgefahr (JdA: 493, 514— 518, 553, 566. RdF: 18-19) Appell an das Mitgefühl/ Mitleid der Dame (JdA: 483, 492, 567, 575. RdF: - )
Anredeformen19 Y-Anrede (JdA und RdF immer) χ & dame (& x) (JdA: 472-474, 510. RdF: 9, 13) χ & amie (& x) (JdA: 494, 512, 527, 550. RdF: - ) biele (& x) (JdA: 482, 522)
linguistische Strategien on-record Liebeserklärung => begehe den ,face threatening act' mit flankierenden Maßnahmen
Die Abkürzungen in der Tabelle verweisen auf Jaques d'Amiens: L'Art dAmours [JdA, ca. 1220]. Hg. von Gustav Körting. Leipzig 1868, und auf Richard de Foumival: Consaus dAmours [RdF, ca. 1240-60]. Hg. von Speroni (Anm. 15). Die Zahlen nach JdA verweisen auf die Zeilennummerierung in Körtings Edition, die Zahlen nach RdF auf die Zeilen auf Seite 265 von Speronis Edition.
IV. Die Liebeserklärung in mittelenglischen Romanzen Wenden wir uns nun den Liebeserklärungen in der mittelenglischen Literatur zu. Als Beispiel habe ich die Liebeserklärung aus der mittelenglischen Romanze Guy of Warwick (ca. 1300) ausgewählt.20 Guy, der Sohn des Truchseß, ist in Feiice, die Tochter seines Herrn, verhebt. Guy leidet unter den üblichen Symptomen der Liebeskrankheit (Schlaflosigkeit, Appetidosigkeit, Niedergeschlagenheit, Bleichheit, Befangenheit in der Gesellschaft seiner angebeteten Dame etc.) und findet erst nach längerem Zögern den Mut, Feiice seine Gefühle zu gestehen. Guye is to courte come, As man that is in sorowe nome. On knees before Felice he hym didde, And sorowfully seide in that stede, 19 20
Ich verwende die in der Linguistik üblichen Abkürzungen V = höflich-distanzierte Anredeform (Deutsch: Sie), Τ = informell-familiäre Anredeform (Deutsch: Du). Die mittelenglische Version beruht auf der französischen Romanze Gui de Warewic (12321242). Hg. von Alfred Ewert. Paris 1932.
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All with quakjng steuern; Thus he seide, and spake full euene: ,Felice the faire, forgoddis loue, mercy! On me haue reuthe for our lady, Thaty ne fynde the my fullfoo, For loueyyou praye, herken me to. Hense forewardey mil not hele The grete loue, that me doth fele: Shewey muste the peyne and sorowe Thaty haue for you euyne and morowe. Ye bee that thynge for whomy mourne, Froyou ne may my herte tourne: Ouere all thingey muste you loue, Whether it tourne benethe or aboue, Bot thaty shall loueyou aye, Whiles thaty lyue maye. Vnder heuen noo thinge is, Were it good oryuelywis, Thaty for the doo it [tie] wolde. My lif to lese thoughy shulde. Ye bee my lif and my dethy-wis: Withouteyou loste is all my blis. Well morey loueyou than me: Deyey shallfor loue of you pardee, Bot thou haue merg on me, Mys e l f y shallfor sorowe slee. Y f y e wiste the heuynesse, The grete peyne, and the sorowfulnesse, Thaty haue for you nyghte and daye (With true louey it sayefAnd you it might witterly see, I troweye wolde haue mercy on me.' (Zupitza 1966:21-23, Caius MS, 11. 341-376) 21 Ubersetzung: Guy kam an den Hof | wie ein Mann, der große Sorgen hat. | Er ging vor Feiice auf die Knie | und sagte dort niedergeschlagen | und mit zitternder Stimme; | dies sagte er und sprach: | ,Schöne Feiice, um Gottes Willen, hab Erbarmen! | Um Marias Willen hab Erbarmen mit mir, | daß ich Dich nicht als meinen Erzfeind haben werde; j aus Mideid, so bitte ich Euch, hört mir zu. | Von jetzt an will ich nicht länger verhehlen | die große Liebe, die ich fühle. | Zeigen muß ich den Schmerz und die Sorge, | die ich wegen Euch erleide abends und morgens (i.e. den ganzen Tag). | Euretwegen leide ich | und mein Herz kann sich nicht von Euch abwenden. |
21
Verwendete Edition: Guy of Warwick. Hg. von Julius Zupitza. Ediert von den Manuskripten Auchinleck und Caius I, II, III. Nachdruck der Ausgaben von 1883, 1887 und 1891 in einem Band. London - New York - Toronto 1966 (Early English Text Society Extra Series 42, 49 und 59).
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Thomas Honegger Von allen auf dieser Welt muß ich Euch lieben, | ob es nun aufwärts oder abwärts geht; | ich muß Euch ewig lieben, | solange ich lebe. | Auf Erden gibt es nichts, | sei es gut oder böse, | das ich für Euch nicht tun würde, | und sollte ich mein Leben verlieren. | Ihr seid wahrlich mein Leben und mein Tod. | Ohne Euch ist meine ganze Lebensfreude dahin. | Wahrhaftig, ich liebe Euch mehr als mich selbst; | sterben werde ich aus Liebe zu Euch, | außer Ihr habt Erbarmen mit mir, | werde ich mich aus Kummer umbringen. | W e n n Ihr den Schwermut, | den großen Schmerz und die Sorge kennen würdet, | die ich um Euretwillen Tag und Nacht habe, | (mit wahrer Liebe sage ich dies) | und Ihr dies wahrlich sehen könntet, | ich denke, daß Ihr dann Erbarmen mit mir hättet.'
Analysiert man nun diese Passage, so fällt auf, daß sich Guys Liebeserklärung beinahe eins zu eins mit den ,Modell-Liebeserklärungen' der Artes amandi-Tradition deckt. Elemente
Anredeformen
Dienstverhältnis (A&C: 361— 364) Lob (A: 357, C: 355-356, A&C: 365-366) Herz (A: 358, C: 356) Macht der Liebe (C: 351-352, 367 A&C: 357-360) Liebesleid (C: 353-354, A&C: 371-375) Lebensgefahr (A&C: 368, 370) Appell an das Mitgefühl/ Mitleid der Dame (A&C: 347, 369, 376)
überwiegend V(C) durchwegs T(A) Name & χ (A&C: 347)
Linguist. Strategien on-record Liebeserklärung = > begehe den ,face threatening act' mit flankierenden Maßnahmen
Dies fügt sich in die allgemeine Charakterisierung von Guy, der nicht nur ein vorbildlicher höfischer Liebender, sondern auch ein Modell-Ritter ist und sein Leben schlußendlich als Eremit im Ruche der Heiligkeit beschließt. Wie bei der Lektüre der Romanze sehr schnell klar wird, strebt der Dichter nicht nach einer tiefer gehenden Charakterisierung seiner Protagonisten, sondern gibt sich mit prototypischen Figuren zufrieden: der tugendhafte Ritter, der sich erst im Dienst seiner Dame bewähren muß, und die hochwohlgeborene Dame, die von ihrem Minnediener ritterliche und moralische Höchstleistungen verlangt. Die Liebeserklärung ist deshalb ebenso idealtypisch wie die Protagonisten selbst, und das Problem der ,Authentizität' der Liebe ist insofern nicht vorhanden, als daß hier gilt ,what you see is what you get' und Guy den Tatbeweis durch
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seinen Dienst nachliefert. Des weiteren ist der Dichter an einer detaillierten Darstellung und Vertiefung der Liebesbeziehung der beiden Hauptprotagonisten nicht interessiert. Die Gefühle Guys für Feiice dienen vor allem der Motivation der sich über mehrere tausend Zeilen erstreckenden Abenteuer, die er im Dienste seiner Dame zu bestehen hat. 22 Der Gebrauch von Modell-Liebeserklärungen für die erzähl technische Motivierung der nachfolgenden Abenteuer ist nur eine mögliche strategische' Verwendung dieses Elements. Die Tatsache, daß klare Vorgaben existieren, wie man eine Liebeserklärung zu machen hat, daß also die Liebeserklärung als Teil der ars amandi ,erlernbar' und somit,trivial' im Sinne als ,zum Trivium gehörig' ist, öffnet auch betrügerischen Absichten Tür und Tor. So wie der in der Gegenwart seiner angebeteten Dame befangene Liebende, der ansonsten keinen zusammenhängenden Satz hervorbringt, die Worte einer Liebeserklärung am Modell lernen kann, so ist es auch dem sich mit betrügerischen Absichten nähernden Mann möglich, Gefühle mit Hilfe der Standardliebeserklärung vorzutäuschen. Selbst die körperlichen Symptome der Liebeskrankheit, die oft als Prüfstein für die Echtheit der Emotionen angesehen werden, können imitiert werden. Bereits Ovid gab den Ratschlag, daß der Liebende seine Liebesschwüre unter Tränen vortragen soll - und falls keine Tränen kommen, soll er sich mit der nassen Hand über die Wangen fahren und so den gewünschten Schein herbeiführen. 23 Dies hat ein mittelalterlicher Übersetzer Ovids insofern abgeändert, als daß der Liebhaber für solche Gelegenheiten eine Zwiebel mit sich führen soll, die dann für den notwendigen Tränenfluß sorgt. Et se tu ne pues avoir lermes, en poins^ devise^ et en termes, tu porras un oignon tenir qui tantost les fern venir.u
Innerhalb des Kontextes der Kunst, eine Frau zu verführen, verkommt die Liebeserklärung zu einem rhetorischen Täuschungsmanöver, d. h. sie wird im wahrsten Sinne des Wortes ,trivialisiert'. Diesen Vorgang kann man sehr schön in der Liebeserklärung eines jungen Ritters in der mittelenglischen Romanze The Earl of Toulouse (ca.
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Siehe dazu auch Thomas Honegger: ,luf-talkyng' and Middle English Romance. In: Towards a History of English as a History of Genres. Hg. von Hans-Jürgen Diller und Manfred Görlach. Heidelberg 2001, S. 161-184. Ars amatoria I, v. 659-662 (P. Ovidi Nasonis amores, medicamina faciei femineae, ars amatoria, remedia amoris. Hg. von E. J. Kenney. Oxford 1994). La clef d'amors. Hg. von Auguste Doutrepont. Halle/S. 1890 (Bibliotheca Normannica 5), S. 43, v. 1097—1100. Ubersetzung: ,Und wenn du keine Tränen hervorbringen kannst, dann verbirg eine Zwiebel in der Hand. Dies wird dafür sorgen, daß die Tränen im richtigen Moment sofort erscheinen.'
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1350) beobachten. 25 Der Kaiser von Deutschland ist mit der schönen wie tugendhaften Beulyboon verheiratet, die er Tag und Nacht von zwei jungen Rittern bewachen läßt. Diese jungen Ritter verlieben sich nun in Beulyboon und zeigen die üblichen Zeichen der Liebeskrankheit (Blässe, Ausgezehrtheit). Sie gestehen sich schließlich gegenseitig ihre ,Liebe' zu Beulyboon und schmieden einen Plan, wie sie ihre Lust befriedigen können — denn, wie wir sehen werden, geht es hier um sexuelle Lust. So will der eine Ritter Beulyboon seine Liebe gestehen und sie verführen. Der zweite Ritter soll sie dann ,in flagranti' ertappen und damit die Kaiserin erpressen können, auch ihm zu Willen zu sein. Dies ist vielleicht nicht gerade die feine höfische Art, aber die beiden Ritter sehen anscheinend keinen anderen Weg, an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Wie aber gestaltet sich denn nun die ,Liebeserklärung' des ersten Ritters? Angesprochen, ob ihm etwas fehle, macht er Beulyboon folgendes Geständnis: l^ady, inyowys all my tiyste; Inwardelyy woldeye uyste Whatpayney suffuryou fore; Y drowpe,y dare nyght and day; My wele, my l i y t t y s all away, Hutye leue on my lore; Y baueyoiv louyd many a day, But toyow durstey neuyr say — My mornyngys the morel Hut ye do aftur my rede, Cet1enly,y am but de de: Of my lyfeys no store, (v. 553-564) Ubersetzung: Meine Dame, in Euch ist all meine Hoffnung. Ich wünschte, daß Ihr um die Schmerzen wüßtet, die ich Euretwegen innerlich erdulde. Ich erblasse, ich leide Tag und Nacht. Mein Wohlbefinden und mein Verstand sind gänzlich weg, außer Ihr schenkt mir Glauben. Ich habe Euch lange Zeit geliebt, wagte aber nie, es Euch zu sagen - um so mehr klage ich. Wenn Ihr mich nicht erhört, werde ich sicherlich sterben; meine Lebenskraft ist am Ende.
Formal wie auch inhaltlich unterscheidet sich diese Liebeserklärung kaum von denjenigen, die wir besprochen haben. Der junge Ritter spricht die Kaiserin mit den höfisch-höflichen Formen ,lady' und ,ye' an und verwendet die zu erwartenden traditionellen Topoi und Themen (Liebesleid, Lebensgefahr). Was jedoch beunruhigt, ist die Tatsache, daß dieser Ritter nur die Befriedigung seiner niedrigsten Triebe plant - um die Kaiserin
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Ich verwende die Edition: Middle English Metrical Romances. Hg. von Walter Hoyt French und Charles Brockway Haie [zuerst 1930]. New York 1964, S. 383-419.
Triviale Liebeserklärungen in der mittelenglischen Literatur
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dann gleich an seinen Kumpanen weiterzureichen. Die Liebeserklärung ist hier nur mehr ein Mittel zum Zweck der Verführung. Sie wird mißbraucht und ,trivialisiert'.
V. Die Liebeserklärung durch nicht-höfische Protagonisten Damit kommen wir zum letzten Punkt, dem Gebrauch von ,höfischen' Liebeserklärungen — oder zumindest dem Anzitieren — durch nichthöfische Protagonisten. Durch eine solche Verwendung erfährt die Liebeserklärung eine weitere Konventionalisierung, die bis hin zur parodistischen Verfremdung geht. Chaucers Fabliau ,Die Erzählung des Müllers' (ca. 1380) ζ. B. ist strukturell gesehen eine leichtfüßige Parodie der vorangehenden Romanze ,Die Erzählung des Ritters'. Auch im Fabliau wird um der Liebe willen gelitten, allerdings kommt der Student Nicholas in seiner Liebeserklärung gleich zur Sache: Andprively he caugbte hire by the queynte, And seyde, f f wis, but if ich have my mile, For deerne love of thee, lemman, I spiile.' And heeld hire harde by the haunchebones, And seyde, Xjemman, love me al atones, Or I ml dyen, also God me save!' (v. 3276-3281) 26 Ubersetzung: Und er packte sie verstohlen beim Schoß | und sagte: ,Bekomme ich nicht meinen Willen, | Geliebte, werde ich gewiß vor heimlicher Liebe zu dir vergehen.' | Und er hielt ihre Schenkel fest umschlungen | und sagte: .Geliebte, liebe mich sofort, | sonst werde ich sterben, so wahr mir Gott helfe!'
Es geht hier zwar nicht um höfische Liebe, und Alisoun ist auch keine hochwohlgeborene Dame, aber Nicholas scheint es dennoch für angebracht zu halten, in seiner Liebeserklärung' — zumindest auf der verbalen Ebene — an die höfische Tradition anzuknüpfen und sich als an ,amor hereos' leidenden Bittsteller zu präsentieren. Nicholas ist keineswegs ein Einzelfall und sowohl vor wie nach Chaucer finden wir Beispiele dafür, daß es auch für Angehörige der unteren Schichten zum guten Ton gehört, ihre Liebeserklärungen nach höfischem Vorbild zu gestalten. 27 Daß die höfischen Autoren die Darstellung dieser Nachahmungen in einem parodistischen Licht präsentieren, darf nicht verwundern. Der
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Ich verwende die Edition: The Riverside Chaucer. Hg. von Larry D. Benson. 3. Aufl. Oxford 1987. Siehe dazu Thomas Honegger: .Curteisie' in Dame Smth. In: Reinardus. Yearbook of the International Reynard Society 15 (2002), S. 71-86.
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Thomas Homager
primär nichthöfische Kontext erlaubt ihnen, in leichtherziger Manier das zu behandeln, was in der höfischen Literatur schwerwiegende Probleme aufwerfen würde.
VI. Schluß Die vorangehenden Ausführungen und Beispiele haben gezeigt, daß die Liebeserklärung unverzichtbare Voraussetzung zur Etablierung einer Liebesbeziehung ist und gleichzeitig einen Sprechakt mit sehr hohem interaktionellem Risiko konstituiert. Dies wurde sowohl von mittelalterlichen Gelehrten wie auch Dichtern erkannt, und Modell-Liebeserklärungen finden sich deshalb in Lehrtraktaten über die Liebe als auch in den Werken der höfischen Literatur. Damit wird die Liebeserklärung in doppeltem Sinne ,trivialisiert'. Auf der einen Seite wird sie, im positiven Sinne, zum Teil des Triviums, genauer der Rhetorik, und der genuin höfische Liebende bekommt eine Vorlage, wie er seine Gefühle in einer Form ausdrücken kann, die die interaktionellen Besonderheiten dieses Sprechakts gebührend berücksichtigt. Auf der anderen Seite besteht jedoch die Gefahr, daß die (höfische) Liebeserklärung zu einem auswendig gelernten Versatzstück verkommt, das zur Manipulation und Täuschung verwendet wird. Das Beispiel aus The TLarl of Toulouse wie auch die Verwendung durch nichthöfische Protagonisten in den Fabliaux (mit parodistischem Effekt) illustrieren diese Tatsache. Selbst wenn sich wahre Höfischkeit einer einfachen ,Trivialisierung£ im Sinne der ,Erlernbarkeit' entzieht, so ist die höfische Liebeserklärung nach den Regeln der Kunst durchaus ,trivialisierungsgefährdet'.
JACOB KLINGNER
,Der Traum' — ein Überlieferungsschlager? Uberlieferungsgeschichtliche Beobachtungen zu einer ,populären' Minnerede des 15. Jahrhunderts Im Tagungsexpose sprachen Ludger Lieb und Otto Neudeck vom „überlieferungsgeschichtlich dokumentierten Erfolg ,trivialer' Rede über die Minne". 1 Meine Ausführungen knüpfen hier an: an der in ihrer Quantität dank Brandis' Repertorium 2 sehr gut, in ihrer Qualität jedoch weniger gut zu überblickenden handschriftlichen und druckschriftlichen Überlieferung der Minnereden. 3 Mit „Erfolg" kann im Fall der Minnereden zweierlei gemeint sein. Einmal die große Zahl der heute noch erfaßbaren Mnnereden, d. h. die beeindruckende Zahl von - bei Brandis - über 520 Einzeltexten. Zum anderen die große Zahl der Uberlieferungszeugen bestimmter Texte, d. h. die mehrfache Überlieferung vieler Minnereden, vor allem im Rahmen spätmittelalterlicher Sammelhandschriften. Um den letzteren „Erfolg" ist es mir im folgenden zu tun. Für einige Texte ergeben sich stattliche Listen von 10, 15 oder gar 20 Überlieferungszeugen. Ingeborg Glier verwendet für diese Mnnereden
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In diesem Band, S. 259-262. Vgl. auch die Einleitung, S. 9 und 11. Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25). Im folgenden werden die einzelnen Minnereden mit ihrer Ordnungsnummer bei Brandis nachgewiesen. Bei einer u. a. auch von Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hg. von Hans-[ochen Schiewer. Bd. 2. Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C: Forschungsberichte 6), S. 197-255, hier S. 240, Anm. 149, angemahnten Neubearbeitung des Repertoriums sollten daher genauere Angaben zur Überlieferung - vor allem auch zur Art der Varianz — integriert werden.
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die Bezeichnung „Überlieferungsschlager". 4 Glier gibt nicht an, ab welcher Überlieferungshäufigkeit sie diesen Terminus gebrauchen würde. Setzt man als Kriterium für seine Verwendung 10 und mehr Überlieferungszeugen an, so finden sich im Repertorium von Brandis — neben den Großformen wie Hadamars von Laber Jagd' und der ,Minneburg' - die Texte ,Der Traum' 5 , ,Beichte einer Frau' 6 , ,Lob der Frauen' 7 , ,Die sechs Farben' 8 sowie sieben weitere Minnereden, 9 die als „ÜberlieferungsSchlager" zu bezeichnen wären. lu Ausgehend von den Begriffen „Erfolg" und „ÜberlieferungsSchlager" soll es im folgenden darum gehen, wie man die Überlieferungs situation der Minnereden bei reicher Überlieferung charakterisieren und welche Schlüsse man aus ihr ziehen kann. Wie gestaltet sich die Überlieferungsvarianz? Kann man eine umfangreiche handschriftliche Überlieferung als Ausweis und Dokumentation von besonderem Erfolg, von besonderer Popularität nehmen (wie es mein Untertitel impliziert)? Lassen sich dabei, um nochmals auf das Tagungsexpose einzugehen, Schlüsse ziehen auf Rezeptionsphänomene, die als „Trivialisierung", „Popularisierung des Elitären" oder „Demokratisierung der Kunst" gefaßt werden? Schließlich: kann man vielleicht in der Überlieferung eines sogenannten „Schlagers" charakteristische Züge der Gattung Minnerede erkennen? Oder anders gesagt: Können die „Schlager" in der Vielfalt ihrer Textzeugen ein Bild der gattungseigenen Überlieferungsphänomene ,in der Nußschale' liefern?
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Vgl. Ingeborg Glier: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 347. Brandis 247 und Tilo Brandis: Eine späte Minneredenhandschrift. In: Codices manuscripti. Zeitschrift für Handschriftenkunde 9 (1983), S. 19-25, hier S. 20; 21 Textzeugen. Brandis 340 und Brandis: Minneredenhandschrift (Anm. 5), S. 20; 20 Textzeugen. Brandis 262; 15 Textzeugen. Brandis 372; 14 Textzeugen. Nach Brandis sind ebenfalls mit 10 oder mehr Textzeugen vertreten: ,Der Widerteil' von Peter Suchenwirt, Brandis 403, 12 Textzeugen; ,Wer kann es allen recht tun', Brandis 52, 12 Textzeugen; ,Stiefmutter und Tochter', Brandis 351, 11 Textzeugen; ,Beständige und Wankelmütige', Brandis 405, 11 Textzeugen; ,Die rechte Art der Minne', Brandis 199 und Brandis: Minneredenhandschrift (Anm. 5), S. 20, 10 Textzeugen; ,Der unentwegte Liebhaber', Brandis 236, 10 Textzeugen;,Schule der Minne', Brandis 433, 10 Textzeugen. Die „Überlieferungspyramide" der Minnereden weist also mit 13 Texten, die zehnmal oder häufiger überliefert sind, eine weitaus breitere Spitze auf als etwa die der Mären, bei denen nur vier Texte diese Überlieferungshäufigkeit erreichen, vgl. Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. Besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 278.
Überlieferungsgeschichtliche
Beobachtungen «u
einer,populären'Minnerede
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I. Ich wähle dazu als exemplarisches Beispiel die Minnerede ,Der Traum' (Brandis 247). Es handelt sich um einen Text von etwa 300 Versen, der bisher nur am Rande literaturwissenschaftliche Beachtung gefunden hat.11 Die Handlung: Ein von seiner Geliebten getrennter junger Mann wälzt sich im Liebesschmerz in seinem Bett und schläft darüber ein. Im Traum erscheint es ihm, als käme die Geliebte in seine Kammer. Sie redet ihn an und verspricht Entschädigung für sein Leiden. Daraufhin wünscht er sich, nach Umarmung und Küssen, daß sie ihren Mantel ablege, dann daß sie zu ihm auf das Bett rücke, schließlich daß sie sich nackt unter seine Bettdecke lege. Jeder Bitte kommt die Dame erst nach einer kleinen Diskussion nach, in der sie jeweils warnt und mahnt, er möge ihre Ehre nicht verletzen. Der Geselle beteuert jeweils seine reine Gesinnung, greift aber bei der letzten Bitte auch zum Argument, die Geliebte würde sich im Unterhemd nur auskühlen, schließlich zur Erpressung, er stürbe sofort den Liebestod, sollte sie seine Bitte um nacktes Beieinanderliegen ausschlagen. Als sie ihn bittet, sich kurz umzudrehen, während sie das Hemd ausziehe, wacht er, von Lärm aufgeschreckt, auf. Ein Freund kommt in die Kammer, um den Langschläfer zum Aufstehen zu mahnen - er habe die Messe verschlafen und solle nun den höfischen Pflichten weiter nachkommen. Als der Freund ihn müde wie nach einem Turnier und verstört vorfindet, läßt er ihn weiterschlafen. ,Der Traum' ist die (nach heutigem Zählstand) insgesamt am häufigsten überlieferte Minnerede. Erhalten sind 21 Textzeugen in 17 Handschriften und einem Druck, die in einem Zeitraum zwischen ca. 1430 bis 1590 entstanden sind. Bei dieser umfangreichen wie zeitlich gestreuten und verschiedene Medien (Sammelhandschrift, Druck) benutzenden Überlieferung ist es in vielen Aspekten weniger Exemplarität als vielmehr Extraordinarität, die den Text so interessant macht. Zugleich gäbe es außerhalb der Überlieferungsgeschichte noch weitere Aspekte, für die sich der ,Traum' als Ausgangspunkt anböte, so ζ. B. die Editionslage 12 oder die 11
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Wilhelm Brauns: Hermann von Sachsenheim und seine Schule. Diss. Berlin 1937, S. 1113; Karl Geuther: Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin. Halle/S. 1899, S. 32f. und S. 73-80; Glier (Anm. 4), S. 337f.; Dietrich Huschenbett: Hermann von Sachsenheim. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts. Berlin 1962 (Philologische Studien und Quellen 12), S. 108-110; Walter Blank: ,Der Traum 1 . In: 2 VL 9 (1995), Sp. 1009-1011. Wie bei so vielen Minnereden, zumal bei denen mit reicher Überlieferung, fehlt für den ,Traum' eine Textausgabe, die neben einem präzisen historischen Textzustand (Handschriftenabdruck) die Breite der Gesamtüberlieferang berücksichtigt und dokumentiert. Mißlich ist unter anderem, daß mit dem Abdruck in Haltaus' .Liederbuch der Clara Hätzlerin' eine Textfassung kanonisiert ist, die einen bisweilen deutlich verballhornten, zumindest einen vom Rest der Überlieferung deutlich abweichenden Überlieferungszustand bie-
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Wanderung von Motiven, Szenen, Formulierungen sowie des Erzählgerüsts über Gattungs-, aber auch über Sprachgrenzen hinweg. 13 Nicht zuletzt gäbe der Gattungskontext des ,Traums' — das gesamte Feld der Minnereden, in denen der Traum von einer Erfüllung der Liebe 14 geträumt wird - ein interessantes Beispiel dafür ab, den als gattungsspezifisch diagnostizierten Hang zur Variation, zum „Umschreiben, Umschreiben und Weiterschreiben" 15 nachzuzeichnen. Zur Beantwortung der oben gestellten Fragen soll es hier aber nicht um den Vergleich verschiedener Minnereden gehen und somit auch nicht darum, wie die Texte eines thematischen Komplexes auseinander hervorgehen, sich aufeinander beziehen und voneinander absetzen. 16 Mit dem Blick auf die Mikroebene der Gattung, auf die Überlieferungen eines ein-
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tet. Wie genau solchermaßen ,moderne' Minnereden-Ausgaben im Fall der Überlieferungsschlager aussehen könnten, ist eine noch offene Frage. Im folgenden zitiere ich möglichst direkt nach den Handschriften. Wenn es um den .idealen' Gesamttextbestand geht, benutze ich, um eine Vergleichbarkeit der Versnummern zu erhalten, die bei den verschiedenen Textbeständen der Handschriften teilweise stark differieren, die Verszählung der ausfuhrlichsten Fassung, München cgm 713 (a). Minnereden von Art und Inhalt des ,'Traums' gibt es eine ganze Reihe. Vgl. u. a. Brandis 258 (,Besuch bei der Geliebten"); Brandis 250 (,Der glückliche Traum*); Brandis 251 (,Der Traum im Garten' vom Elenden Knaben); zu Brandis 252 (,Der Traum' von Hans Folz) siehe unten; der Beginn (v. 13-86) des Märe vom ,Ritter Sociabilis' bietet eine verkürzte, doch mit deutlichen Textanklängen aufwartende Version der ,Traum'-Erzählung, vgl. Fischer (Anm. 10), Nr. 122, S. 403; weiterhin existiert eine tschechische Bearbeitung der Minnerede: Das Gedicht vom ,Maitraum' (,Majovy sen") des Hynek von Podiebrad (14521492), Ausgabe: Versovane skladby Neuberskeho sborniku. Vyd. Zdenka Tichä. Praha 1960, S. 15f.; eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses der tschechischen Fassung zur Vorlage bietet Vilem Prazak: Nueberkuv sbornik a Majovy sen. Prispevek k poznani ceske poesie ν XV. stoleti a zvlaste literarni cinnosti hynka ζ Podebrad. Sbornik Filosoficke Fakulty University Komenskeho ν Bratislave, No. 22 (5), (1923f.) Bratislava 1924, bes. S. 78-80 (Schema) und S. 82f. (franz. Zusammenfassung); vgl. zum literaturgeschichtlichen Hintergrund auch Zdenka Tichä: Dve kapitoly ο bäsnickem dile Hynka ζ Podebrad. Praha 1964, bes. S. 76f. (deutsche Zusammenfassung); kritisch gegen letztere Arbeit: Pavel Trost: Zwei tschechische Minnereden. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 17 (1972), S. 289-294, hier S. 292f. Zuletzt hat Cora Dietl den Komplex ,Traum von erfüllter Liebe' als eine von sechs grundlegenden „Minnerede-Mustern" benannt, vgl. Cora Dietl: Minnerede, Roman und historia. Der „Wilhelm von Osterreich" Johanns von Würzburg. Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 87), S. 128-130. Ludger Lieb: Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Minnereden. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. [Kolloquium Durham/Newcastle 2001]. Hg. von Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon. Berlin - New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 143-161. Im Rahmen einer solchen Untersuchung wäre die Minnerede Brandis 250 (,Der glückliche Traum") ein lohnender Gegenstand. Der Text weist in Wortmaterial, Reimen sowie in der Art und Struktur der Argumente erstaunliche Parallelen zum Traum' auf, unterscheidet sich aber in zentralen Aspekten (Handlungsort Garten statt Kammer; Sprecher als Besucher der Dame).
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Beobachtungen 3u einer,populären'
Minnerede
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zelnen Werkes, eben eines „Überlieferungsschlagers", 17 öffnet sich ein noch weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu einzelnen Minnereden sind bisher rar,18 und die im Repertorium von Brandis gegebenen Initien und Textenden erlauben keine weitgehenden Schlüsse, ebenso die Angaben zum Versumfang, die zudem — zumindest im Fall des ,Traums' — häufig korrigiert werden müssen. 19 Daß mühsame philologische Basisarbeit durchaus lohnend sein kann, zeigt sich nicht zuletzt an Ludger Liebs Beobachtungen zu Textproduktionsverfahren, die sich auf den Befund varianter Überlieferung einzelner Minnereden gründen. 20 Ich nähere mich dem Gegenstand in drei Anläufen. Im ersten beleuchte ich die Gesamtüberlieferung des ,Traums' und die hier auftretenden Varianzphänomene, insbesondere auch den (zwei Mal auftretenden) Fall der Doppelüberlieferung des Textes innerhalb einer Handschrift. In den beiden anderen geht es um zwei signifikante Sonderfälle der Überlieferung, nämlich um die Bearbeitung der Mnnerede durch Hans Folz und den Weg des ,Traums' in den Druck.
II. ,Der Traum' ist, wie fast alle anderen „Überlieferungsschlager", vorwiegend im Rahmen größerer Sammlungen und immer zusammen mit anderen Minnereden überliefert. Die räumliche und zeitliche Breite der Über17
Ein solches Vorgehen tastet die Grenzen der Klassifizierung und Identitätsbestimmung der Textzeugen durch Brandis als ,ein Werk' / ,zu einer bestimmten Nummer X gehörig' nicht an, wenngleich eine solche Werkbegrenzung sich erst in jedem Einzelfall beweisen müßte. Methodisch taucht dabei das Problem auf, daß innerhalb des gesetzten Rahmens einer Brandis-Nummer nur eine gewisse Auswahl an Varianzphänomenen zu beobachten ist und gleichzeitig die Kriterien, nach denen die Texte als .Varianten zu X' oder .eigene (neue) Werke' betrachtet wurden, nicht offen liegen. Letztlich ergibt sich ein Zirkel: Die Brandis-Nummer als Abstraktion von den Überlieferungszeugen ist selbst wieder Ausgangspunkt für die Diagnose der Varianz in der Überlieferung. Für den Zweck dieses Aufsatzes wird ein pragmatischer Lösungsansatz verfolgt, indem diese Textidentitäten (=Brandis-Nummern) als Arbeitsgrundlage verwendet werden, ohne damit den Blick auf Beziehungen zu anderen (mit differierender Brandis-Nummer verzeichneten) Minnereden zu verhindern (vgl. unten die Ausführungen zu Brandis 252); eine ähnliche textgenetische Beziehung zwischen zwei .verschiedenen' Minnereden, Brandis 499 und 500, macht Lieb (Anm. 15), bes. S. 150-152 und 160f., wahrscheinlich.
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Auch zusammenfassende Studien zur Minneredenüberlieferung fehlen - trotz der bereits erfolgten ersten Aufbereitung des Materials durch Brandis. Einzige Ausnahme ist der knappe Versuch einer Überlieferungstypologie bei Glier (Anm. 4), S. 359-392. Letzteres auch, weil Brandis (aus pragmatischen Gründen) bisweilen Angaben und Bleistiftmarginalien von Bibliothekaren folgte, die zum Teil fehlerhaft waren. Vgl. oben, Anm. 15.
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Lieferung ist allerdings bemerkenswert. Die vermutlich früheste erhaltene Handschrift (Freiburg, UB, 362) ist auf das erste Drittel des 15. Jahrhunderts zu datieren, gut ein Drittel der Handschriften stammen aber erst aus dem 16. Jahrhundert, darunter die jüngste Handschrift (Berlin, SBB-PK, Hdschr. 115) von ca. 1590. Überlieferungsschwerpunkte liegen im Raum Augsburg sowie im nordbairischen und ostfränkischen Raum. Dabei kann man, wenn man sich überhaupt auf die größtenteils nur in Annäherung ermittelbaren chronologischen und geographischen Verortungen der Handschriften stützen will, eine allmähliche räumliche Ausdehnung konstatieren: Zur Mitte des 15. Jahrhunderts findet sich die Minnerede im ostschwäbischen Raum, im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts auch im nordbairischen und ostfränkischen sowie im nordalemannischen, schließlich an der Mosel und im 16. Jahrhundert in Sachsen und in Kärnten. Wichtig ist bei einer solchen Topographie des Minneredeninteresses der Hinweis, daß die Uberlieferung hier nicht unbedingt ein spezielles Rezeptionsinteresse am ,Traum' als einzelnem Text widerspiegelt, sondern oft lediglich durch die Verfügbarkeit in der Vorlagensammlung bedingt ist. Wie bei anderen hauptsächlich in Sammlungskontexten überlieferten Minnereden muß man davon ausgehen, daß der ,Traum' auch deshalb ein „Uberlieferungsschlager" ist, weil er häufig in jenen „Textkonvois" steht, die sich als mehr oder weniger geschlossene Überlieferungsgruppen von Sammelhandschrift zu Sammelhandschrift weitervererben. Die Unterscheidung der Rezeptionsphänomene, die hier naheliegt, ist eine zwischen Überlieferung „im Konvoi" und individuellerer', eher auf den Text gerichteter Auswahl und Integration in eine neue Sammlung. 21 Bei der Beantwortung der oben gestellten Fragen scheint mir eine solche Differenzierung notwendig, da sich ζ. B. die großen Sammelhandschriften des 16. Jahrhunderts im Fall des ,Traums' nicht als Dokumente des „spätmittelalterlichen Prozesses einer Popularisierung des Elitären" oder der „Trivialisierung" im Sinn eines Abrückens von ästhetischer Raffinesse zugunsten größerer Massenkompatibilität, sondern eher als (vielleicht retrospektiv zu deutende) Statements einer elitären Gruppe von ,Literaturliebhabern' deuten lassen. Diese ,Literaturliebhab er' kopieren ältere Sammlungen (bzw. lassen sie kopieren) zum Ausweis ihrer wiederum sie selbst adelnden Traditionspflege — ein Verfahren, daß Aussagekraft mehr für die Gattung und die Bewertung ihrer Stellung im Gesamtzusammenhang spätmittelalterlicher Kleinepik, als für den einzelnen Text besitzt. 22 21
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Individualität der Auswahl wird in solchen Fällen vor allem aufgrund des Fehlens von identisch zusammengesetzten Vorlagen vermutet, der Befund stützt sich also auf die kontingente Überlieferungslage. Aber auch wenn man in bestimmten Fällen ein auf den einzelnen Text gerichtetes Sammelinteresse annimmt, können ähnliche Prozesse der „Elitisierung" diagnostiziert werden:
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Bevor von reicher Überlieferung nicht nur auf besondere Popularität und besonderen Erfolg der Gattung an sich, sondern auch des einzelnen Textes geschlossen wird, empfiehlt sich also ein genauer Blick auf die Uberlieferungsverhältnisse. Oft wird nach einer solchen Untersuchung die „offensichtliche" Popularität eines Textes fragwürdig erscheinen. Wie unterscheiden sich nun die Textbestände der einzelnen Handschriften des ,Traums' voneinander? Festzustellen sind, was im Rahmen der Überlieferung anonymer Reimpaar-Kleinepik nicht verwundert, im Wordaut vielfach verschiedene (in den Reimwörtern und im Erzählschema insgesamt aber miteinander größtenteils übereinstimmende) Textzeugen. Es lassen sich dabei fünf Fassungen, fünf Handschriftengruppen mit mehrfach und jeweils relativ konstant (,getreu') überlieferten Textbeständen abgrenzen: 23 1. die Gruppe Freiburg, UB, 362 - London, BL, Ms. Add. 24946; 2. die Gruppe München, BSB, cgm 270 - München, BSB, cgm 379 Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, b IV 3 - München, BSB, cgm 5919 (a); 3. Die nordbairische Gruppe München, BSB, cgm 713 (Doppelabschrift) und Nürnberg, GNM, 5339a; 4. die Gruppe Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Ο 145 - Trier, Stadtbibliothek, 1120/128a - München, BSB, cgm 5919 (b) - Heidelberg, UB, cpg 313 — Dessau, Anhaltische Landesbücherei, Georg 150 8°; 5. Die Gruppe der Prager Hätzlerin-Handschrift (Narodn. Mus., Χ A 12), der eng angeschlossenen Ebenreuter-Sammelhandschrift (Berlin, SBBPK, Ms. germ. fol. 488) sowie der Handschrift Bechsteins (bis 2003 verschollen, nun in der UB Leipzig, Ms. 1709).
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Die jüngste Handschrift (Berlin, I-Idschr. 115), die um 1590 13 Minnereden überliefert, stammt nach Anschein der Marginalnotizen aus Alchimistenkreisen. Die Artes amandi rücken hier in die Nähe einer Geheimwissenschaft. .Fassung' oder .Handschriftengruppe' soll die Textzusammenhänge bezeichnen, die auf einer Gliederungsebene oberhalb des ,einzelnen Überlieferungszeugen', aber unterhalb des ,Werkes' Identität stiften. Für die Einteilung wurden vor allem textkrititische Kriterien, also gemeinsame ,Bindefehler' herangezogen. Letztendlich bleibt die Entscheidung, welche der gemeinsamen Varianten eine ,Gruppe' konstituieren, nicht theoretisch, sondern nur pragmatisch zu begründen. Das dürfte hier genügen, denn die vorgenommene Gruppeneinteilung soll nur zur groben Strukturierung der Fülle der Überlieferung dienen. Zur Problematik der Fassungsdefinition vgl. Bodo Plachta: Fassung. In: RLW 1 (1997), S. 567f., liier S. 568: „Die Frage allerdings, welchen Umfang die Textvarianz bzw. Textidentität haben müsse, um eine Fassung bzw. ein Werk zu konstituieren, blieb bei allen Definitionsversuchen kontrovers." Die Beobachtung der weitgehenden Übereinstimmung der Fassungen miteinander muß übrigens nicht verwundern. Sie ist, wie oben schon angedeutet, vorgeprägt durch die Einengung des Blickes auf eine Brandis-Nummer, liegen doch vermutlich eben gerade Kriterien wie Erzählschema- und Reimwortidentität der Textidentitätsbestimmung von Brandis zugrunde.
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Daneben stehen einzelne Textzeugen, die sich nicht klar einer der Fassungen mit mehrfacher Überlieferung zuordnen lassen (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Q 566; Berlin, SBB-PK, Hdschr. 115). Sichere Erkenntnisse zur Textgenese, auch im Hinblick auf eine hierarchische und chronologische Ordnung der Gesamtüberlieferung, sind anhand der heute erhaltenen Uberlieferungszeugen kaum zu gewinnen. Die einzelnen Fassungen stehen textkritisch mehr oder weniger nebeneinander. 24 Obwohl also über die „ursprüngliche" Textgestalt wenig Definitives zu sagen ist, lassen sich manche der Fassungen als aller Wahrscheinlichkeit nach „sekundäre" bestimmen. 25 So weist die letztgenannte Handschriftengruppe um die Hätzlerin-Handschrift 26 einige signifikante Wortvarianzen auf: Aus den höfischen Idealfiguren „Gawein" und „Parzival" werden u. a. „Papst" und „Kardinal" - eine inhaltliche Veränderung, die aber nun nicht mehr recht zum Kontext (einer Diskussion um ritterliche Tugend und den Nutzen, den Gral zu erringen) passt. In manchen Fällen erscheint es plausibel, einen „unterschiedlichen Formulierungs- und Gestaltungswillen" 27 der Redaktoren als Grund für die Varianz zwischen den Fassungen anzunehmen. In anderen Fällen könnte man Unterschiede zwischen den Fassungen, wenn man sich vor solchen schreibpsychologische Annahmen erfordernden Kategorien nicht scheut, auch als Ergebnisse von Verlesungen und Nachlässigkeiten interpretieren, die dann tradiert werden, also nicht über intentionale Redakti-
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Nur innerhalb der genannten Fassungen lassen sich Ansätze einer stemmatischen Ordnung der einzelnen Textzeugen rekonstruieren. So kann die Freiburger Handschrift nicht Vorlage der Londoner Handschrift gewesen sein, welche zudem die anzunehmende gemeinsame Vorlage beider Handschriften getreuer abbildet. Auch München cgm 270 und cgm 379 haben wohl eine gemeinsame Vorlage. Die Nürnberger Handschrift wiederum orientiert sich, direkt oder über eine Zwischenstufe, am ersten Eintrag des Textes in der Handschrift München cgm 713 (=a): Immer wenn dieser Text vom Text der zweiten Eintragung in derselben Handschrift (=b) abweicht (und hier ist, aufgrund der sonstigen Tcxtgleichheit mit dem Rest der Überlieferung, eine gemeinsame Vorlage von cgm 713 a und b vorauszusetzen, die von 713 b offensichtlich getreuer wiedergegeben wird), übernimmt Nürnberg diese Abweichungen. Eine ähnliche Ordnung in primäre und sekundäre Varianten hat für die Märenüberlieferung jüngst Klaus Grubmüller vorgestellt: Erzählen und Überliefern. „Mouvance" als poetologische Kategorie in der Märendichtung. In: PBB 125 (2003), S. 469-493, hier S. 486. Zur Gruppe und ihrem Verhältnis zueinander vgl. die Handschriften-Beschreibungen bei Hans-Dieter Mück: Unteruchungen zur Überlieferung und Rezeption spätmittelalterlicher Lieder und Spruchgedichte im 15. und 16. Jahrhundert. Die ,Streuüberlieferung' von Liedern und Reimpaarreden Oswalds von Wolkenstein. Bd. 1: Untersuchungen. Göppingen 1980 (GAG 263), bes. S. 100-108. Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: .Aufführung' und ,Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart - Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 118-129, hier S. 124.
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onsprozesse in die Überlieferung einfließen. 28 Kennzeichnend für die fünf genannten Fassungen ist jedoch ein weitgehend nur punktuelles ideosynkratisches Abweichen von der Restüberlieferung. Nur in einzelnen Fällen sind in stärkerem Umfang „intentionale" Reproduktionsvorgänge, in denen die von Ludger Lieb beschriebenen Verfahren des Umschreibens, der Kompilation, der Erneuerung und des Weiterschreibens angewandt werden, zu beobachten. Diese reichen dann von ständigem leichten Abweichen vor allem in der Wortwahl, wie in der Dessauer Handschrift, bis hin zu der großzügigen Umformung des Gesamttextes. Die oben vorgenommene Bündelung einzelner Textzeugen zu Handschriftengruppen (=Fassungen) lenkt den Blick aber auch darauf, daß man neben den stärker eingreifenden Reproduktionsverfahren auch eine relativ getreue, konservative Textüberlieferung beobachten kann. Mit,getreu' soll hier nicht gemeint sein, daß hier keine lockere Handhabung der Wortstellung, des Ersatzes oder Hinzufügung von Füllwörtern, der Anpassung an andere Sprachstände vorkommen oder keine versehentlichen Verschreibungen oder Versauslassungen. Es entstehen auch hier je neue und andere Varianten des Textes; „getreue Überlieferung" bedeutet in diesem Sinne nicht „Kopie" und schließt sogenannte „iterative" oder „kommutative" Varianten mit ein.29 Vielmehr soll der Begriff darauf hindeuten, daß der Schreiber hier anscheinend vom aktiven Einsatz von Textproduktionsver28
Der Schwund im Zeilenbestand, den z. B. die späte Fassung in der Berliner Hdschr. 115 aufweist, betrifft einzelne Verse oder Verspaare; dort wo einmal ein größeres Stück von 60 Versen fehlt, könnte man auch einen Blattverlust oder ein Überschlagen eines Blattes (mit der realistischen Zeilenzahl von 30 Zeilen pro Seite bei der Vorlage) annehmen. Ebenso kann man den Textausfall in der Trierer Handschrift als Abschreibeversehen deuten: Es gibt im Gesamttextbestand der Uberlieferung, wie auch in den meisten Fassungen, zweimal den Reim auf mb: Up (nimmt man die Verszählung der vollständigsten Handschrift, München cgm 713 [a], dann sind es die Verse 229f. und 272f.). Die Trierer Handschrift setzt nun nach dem ersten Auftreten des Reims (Rein trut selig mip | das mich nach urnr leip) den Text fort, der eigentlich nach dem zweiten Auftreten des m b : /$)-Reims folgt (v. 273ff.) — der Schreiber könnte, nach den Reimworten als Anhaltspunkt suchend, in der Vorlage verrutscht sein. Davon textgeschichtlich wohl unabhängig bietet auch die Heidelberger Handschrift dieselbe ,verrutschte' Fortsetzung der Verse 229f. {Ach nejn drut seligs mb | Das mich din charter lib) mit den Versen 273 und 274. Der Fehler wird hier aber anscheinend nach dem Eintragen dieser zwei Verse bemerkt, die ausgefallene Textpassage gleich eingefügt - wobei, um es passend zu machen, der zweite Teil (v. 255-272) vor den ersten (v. 231-254) gestellt wird, um vor v. 231 den besagten mb : /$>-Reim zu haben!
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Ein Problem bei dieser Begrifflichkeit ist sicher, daß keine methodisch trennscharfe Definition gegeben werden kann, was als reine Wortvariante und was schon als gruppenkonstituierende Form- oder Sinnvariante zu bezeichnen wäre. Karl Stackmann schlägt (bezogen auf die Arbeit des Editors) eine „pragmatische Lösung" vor, wenn er für diese Unterscheidung auf das zweifellos immer subjektive, aber im günstigen Fall „kompetente" Urteil des Editors verweist, vgl. Karl Stackmann: Varianz der Worte, der Form und des Sinnes. In: ZfdPh Sonderheft 116 (1997) (Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel), S. 131-149, hier S. 147.
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fahren abgesehen hat, ihm also eher eine kopierend-konservierende Einstellung zur jeweiligen Vorlage zugeschrieben werden kann als ein Wille (oder eine Inkaufnahme) zur Neu- und Umgestaltung. Beide Modi der Textüberlieferung, die ,getreue' (kopierendkonservierende) und die ,kreative' (fassungskonstituierende) sind fest in der Praxis mittelalterlicher Schriftlichkeit verankert. Sie sind nicht Minnereden-exklusiv, daher können die Beobachtungen, die anhand der Varianz zwischen den Uberlieferungsgruppen, wie auch der Varianz innerhalb der Fassungsstränge zu machen sind, nicht als Belege für eine neue besondere gattungsspezifische Offenheit der Minnerede für Variation genommen werden — in diesem, beschränkten Sinne scheint alles im Mittelalter handschriftlich Überlieferte im Fluß zu sein, nicht nur die Minnereden. Nun könnte man die Gültigkeit der Unterscheidung solcher Reproduktionsmodi anzweifeln, da durchaus in Frage steht, ob sich die Grenze zwischen getreuer Kopie und kreativer Umarbeitung wirklich scharf ziehen läßt — zumal für den mittelalterlichen Schreiber und Leser — und nicht doch eher graduelle Unterschiede anzunehmen wären. Ein interessantes Detail der ,Traum'-Überlieferung deutet aber darauf hin, daß eine solche Unterscheidung doch nicht völlig der historischen Grundlagen entbehrt, daß also auch zeitgenössisch eine solche Unterscheidung gemacht werden konnte. Es ist der Fall der Doppelüberlieferung des ,Traums' in der Handschrift München, BSB, cgm 5919. Diese Handschrift ist auch als ,Hausbuchsammlung Ulrich Mosds' bekannt und entstand im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts im Auftrag oder von der Hand eines Regensburger Kaufmanns. 30 In ihr sind neben dem ,Traum' auch andere Texte doppelt aufgenommen, was aufgrund der längeren Entstehungszeit mit vermutlich häufigerem Vorlagenwechsel nicht erstaunt. 31 30
31
Zur Handschrift vgl. Dieter Meyer: Literarische Hausbücher des 16. Jahrhunderts: die Sammlungen des Ulrich Mostl, des Valentin Holl und des Simprecht Kröll. 2 Bde. Würzburg 1989 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 2), Bd. 1, S. 3 - 8 (Forschungsbericht) und S. 31-133 (Handschriftenbeschreibung). Das nicht seltene Phänomen der Doppelüberlieferung von Texten in spätmittelalterlichen Sammelhandschriften scheint noch nirgends systematisch behandelt worden zu sein. Folglich steht auch für die Minnereden eine systematisierende und interpretierende Betrachtung der einschlägigen Fälle aus. Folgende Handschriften bieten laut Brandis zweimal dieselbe Minnerede: In Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 922, wiederholt sich in einem vom Rest der Handschrift zu unterscheidenden Faszikel 123ra-130va der Textblock 26ra-29vb mit den drei Minnereden ,Klage einer Liebenden' (Brandis 64), ,Liebesgespräch' (Brandis 239) und ,Der Minne Born' (Brandis 497; bricht auf 19vb unvollständig ab, Text vollständig ab 125ra); Heidelberg, UB, cpg 313 überliefert ,Der unentwegte Liebhaber' (Brandls 236) auf 272r-280v und auf 346r-354v sowie ,Frau Ehrenkranz' (Brandis 434) auf 238v245r und 472r-479r; München, BSB, cgm 713 bietet den ,Traum' auf 137v-146r, 213v223v und überliefert ,Beständige und Wankelmütige' (Brandis 405) auf 72r-81v und auf 200v—213r; München, BSB, cgm 5919 überliefert neben dem ,'Traum' auf 191v-198v, 220r—224v auch die ,Heimkehr des gefangenen Geliebten' (Brandis 227) auf 148v-153r
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Die erste Eintragung des ,Traums' steht innerhalb des ersten, reinen Minneredenteils der Handschrift (148v-210r) und ist nicht leicht zu identifizieren, denn die ersten Verse der aus der sonstigen Überlieferung bekannten Fassungen sind durch 28 völlig neue Verse ersetzt.32 Diese Verse verwenden keinen einzigen Paarreim und nur teilweise das Wortmaterial des sonst überlieferten ,Traum'-Anfangs. Bemerkenswert ist allerdings eine inhaltliche Akzentverschiebung: Statt einer verzweifelten Liebesklage äußert der Sprecher nun seine Freude und gibt zudem eine Vorausdeutung auf die Traumerscheinung. Ab Vers 29 folgt der Text relativ getreu dem Text der zweiten Fassung (München cgm 270-München cgm 379Salzburg; vgl. meine Synopse auf der folgenden Seite). Dadurch ergibt sich eine textliche Inkohärenz, denn der eben noch frohe Sprecher schläft nun vor Kummer ein. Beide Modi der Textüberlieferung, der eher freie, umschreibende und der eher vorlagengetreue, finden sich also innerhalb eines Textes, mit einer genau festzumachenden, ihren bewußten Einsatz nahelegenden Zäsur! Die Motivation für ein solches Vorgehen muß im Dunkeln bleiben. Erklären ließe sich es vielleicht als ,Fingerübung' im Umschreiben und Variieren eines Textes, die dann — aus welchen Gründen auch immer — abgebrochen wird. 33
32 33
und 243r-245v (letzteres ein Exzerpt von v. 44-152) doppelt, vgl. dazu bes. Meyer (Anm. 30), Bd. 2, S. 485—487; Nürnberg 2°966 überliefert das ,Lob der Frauen' (Brandis 262) auf 82v-83v, 97v, 98v und auf 119r-119v; Straßburg, Stadtbibl., A 94 (verbrannt), überlieferte ,Liebe und Schönheit' (Brandis 412) auf 16 (10 Verse) und 23f.; Stuttgart, WLB, poet.et.philol 4° 69 überliefert ,Das nackte Bild' (Brandis 359) auf 213r-213v (=38 Verse ohne Kennzeichnung innerhalb der .Werbung des Freundes', Brandis 230, eingeschoben) und 228v—238v; Wien, ÖNB, Cod. 2959 überliefert den ,Blumengarten' (Brandis 499) auf l r - 3 v und 9v, vgl. dazu Lieb (Anm. 15), S. 150f.; Wien, ÖNB, Cod. 13045 überliefert ,Von der Minne Schlaf von Peter Suchenwirt (Brandis 454), S. 213-223 und 484-488 (von jüngerer Hand, ggf. neuzeitlich). In Berlin, SBB-PK, Ms. germ, oct 186 liegt bei der .Schule der Minne' (Brandis 433) auf Bl. 1-14 und Bl. 102 eine Fehlbindung ursprünglich zusammengehöriger Blätter vor. Ob diese Interpolation eines neuen Beginns schon Teil der Vorlage war oder auf Mostl zurückgeht, läßt sich nicht mehr ermitteln. Denkbar wäre allerdings auch der Fall, daß hier der Anfang frei improvisiert oder aus dem Gedächtnis geschrieben wurde, weil er in der Vorlage schon fehlte (ggf. durch Blattverlust, bei einer plausiblen Zeilenzahl von 20 Zeilen pro Seite). Dann aber wäre erstaunlich, daß keine Reime des originalen Textbestandes wieder auftauchen, denen man im Rahmen der noch immer mündlich geprägten spätmittelalterlichen Kultur ein mnemonisches Beharrungsvermögen unterstellen würde. Eine weitere Möglichkeit wäre ein rein mechanisches Zustandekommen der Zäsur, dann nämlich, wenn (durch Blattverlust) hier der Beginn einer anderen Minnerede mit dem (um den Anfang gekürzten) ,Traum' zusammengefügt wäre. Daß diese andere Minnerede heute nicht zu identifizieren ist, muß angesichts der unikalen Überlieferung anderer Minnereden (Brandis Nr. 257, 214, 209) in unmittelbarer Nähe dieser Aufzeichnung nicht gegen diese Hypothese sprechen. Unwahrscheinlich wird die Annahme einer rein mechanischen Zusammenfügung allerdings dadurch, daß die Verse des neuen Beginns bei gleicher Ausgangssituation eine dem ursprünglichen ,Traum'Anfang genau entgegengesetzte Stimmung bieten, was kaum zufällig sein wird.
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München cgm 5919 (A), 191v-198v München cgm 5919 (B), 220r-224v [ab v. 29 = Uberlieferungsgruppe 2]
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ains tags Jch lag In meinem pett vnd enpflag vnd thet mit gedenckenn ringen Mich deücht Jn meinen synnen Wy mich mein zarte fraw an rieff da warchten (?) mein Synn tieff nach herczenlich lieb gar da kam fur mich furbar dy mynn Jn der aller liebsten gestalt dy mein alain hat ganczen gbalt vnd nymantz me (?) auff mein aidt der Jch mit rechter statichait Wil njmer vnterthan sein [192r] Mit dem freidenrichen schein der aller liebsten zartt mein hertz gar wunnyküch gestalt wartt myt mynniklicher lieb peklaitt ich gadacht für bar myr wer peraytt das paradeis mit seiner zir vnd solt aüch ewigklich mir peleiben stett vnd vnumkertt ich gedacht erst hat sich gemertt alle wollüst meines hertzen Jch pin ytzünd an smertzenn sünder erlost aüs aller pein
[= Uberlieferungsgruppe 4]
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Es ward nye mensch gestalt so feyn Das ir ayn möcht geieichen Jn dem über reichen warff jch mich dick her vnd hyn 30 yedoch kom myr Jn [syn] den sin das ich mich nider dünck vnd mych zü sammen smück vnd tet maniges seüfftgen tieff Jn der nott ich do entslyeff 35 [...]
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Sich fugt an ainem morgen das Jch gar vnverporgen lag Jn meines selbs pett grosz verlangenn jch da hett mit trawren gar vmb sessen Jch geduacht dick wil mein vergessen dy zart dy mincleich (1) Ach milter crist von himelreich (3) wy sol ich nü geparenn (2) müs Jch Jn Jüngen Jaren (4) Durch ain weib also sterbenn wil sy mich lassen verderbenn das ist ain vnsaglich ding Nu (?) hab ich mich In vrsprüng gentzlich ergebn In Ir gbalt Süst was manig falt Mein clag vnd auch mein nott Ich pat dick das der todt Mit seinen creften kem vnd mich von dem leben nem vnd sust von seinen sorgen grosz Ach wy manchen herten stosz Ich da pegundt [220v] aus meins herczen grundt Vnd manig claglich wort Ich von mir selber hortt Wan Ich Sünder ainig was da ich da ie genas das was ain michel wöndere dy das vnd aüch den plunder
warff ich dick her vnd hin doch kam mir in mein Sin das ich mich nider trückt vnd mich zü haüffen schmückt 35 vnd liesz manchen seüffczen tieff der not ich do entslieff
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Der zweite Eintrag des ,Traums' im cgm 5919 ordnet sich einer anderen, der oben genannten vierten Fassung (Weimar-Trier-Heidelberg-Dessau) zu. Wiederum wird der Text einigermaßen wortgetreu überliefert, die hauptsächliche Varianz zu den anderen Fassungen der Überlieferungsgruppe besteht in beträchtlichen Textausfällen. Tritt man ohne die Kenntnis der Gesamtüberlieferung an die Handschrift cgm 5919 heran und bemerkt die Doppelüberlieferung des ,Traums', könnte man die zutage tretenden Unterschiede zwischen den beiden ,Traum'-Einträgen als Ausweis der Offenheit der Gattung für beträchtliche Varianz und kreative Textreproduktion nehmen. Geht man aber vom Gesamtbild der Überlieferung aus, dann ist diese Handschrift (und besonders auch der erste ,Traum'-Eintrag, dessen kreative Umformung schnell abbricht) zugleich ein weiterer Beleg für das Vorherrschen eher getreu-konservierender Überlieferung besonders innerhalb der späten Sammlungen. Am Gesamtbild der ,Traum'-Überlieferung wird also deutlich, daß große Teile der sogenannten Massenproduktion der Minnereden nicht verstanden werden können als nur punktuelle Manifestationen einer ständig im Fluß befindlichen Tradition eines „Minne-redens", der Partizipation als Prinzip einer offenen Kunstform. 34 Aus den von Lieb vorgestellten Spuren kreativer Textreproduktionsverfahren kann man nicht unbedingt auf für die gesamte Minneredentradition gültige Textreproduktionsverfahren rückschüeßen. Eher sind diese Verfahren, wie er selbst feststellt, nur „eine Facette der Textproduktion von Minnereden". 35 Die in einer ganzen Reihe von Fällen vorliegende fassungsgetreue Überlieferung bekräftigt den traditionellen Werkbegriff: Hier wird die Integrität des Werkes nicht angetastet. 36 Wenn man dennoch eine gattungskonstitutive Offenheit und „Weichheit der Textgrenzen" bei den Minnereden annehmen will, müßte man dieses Phänomen, so scheint es zumindest, stärker von der Rede von Popularität und massenhafter oder breiter Überlieferung trennen. In der Masse der Überlieferung neigt jedenfalls der ,Traum' nicht dazu, in der Reproduktion nur ständige Neuproduktion oder Momentaufnahme vor dem Weiterschreiben zu sein. Dieser Befund legt eine grundsätzliche Differenzierung der in der Überlieferung festzustellenden Gebrauchsweisen 34 35 36
Vgl. Lieb/Neudeck, Expose, S. 262, siehe die Einführung in diesem Band, S. 10. Vgl. Lieb (Anm. 15), S. 154. Zu überlegen wäre allerdings, ob der Werkstatus nicht erst durch diese konservierende Überlieferung der Sammelhandschriften an die einzelnen Texte der Minneredentradition herangetragen wird, daher eigentlich sekundär für die Gattung ist, wie Ludger Lieb: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. DFG-Symposion 2000. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart - Weimar 2002 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506-528, hier S. 522, meint.
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der Gattung nahe: rein reproduktiv (in der Masse der Fälle) und (in den spannenden, aber selteneren Fällen) eher kreativ, indem die überlieferten Texte zur Grundlage der Umarbeitung werden. Auf zwei dieser spannenden Sonderfälle möchte ich im folgenden etwas ausfuhrlicher eingehen.
III. Der erste Fall ist die Bearbeitung des Textes durch Hans Folz. Durch einen besonderen Glücksfall der Uberlieferung lassen sich, ausgehend von der Handschrift Weimar Q 566, verschiedene Stufen seiner Beschäftigung mit der Minnerede dokumentieren. Möglich ist hier sozusagen ein Einblick in die „Werkstattsituation", der Aufschlüsse darüber verspricht, wie Folz mit dem überlieferten Material verfährt, wie er es umarbeitet. 37 Die Weimarer Handschrift 38 setzt sich zusammen aus siebzehn teilweise autographen, ursprünglich selbständigen Faszikeln verschiedener Herkunft, unterschiedlichen Inhalts und Alters. Das Konvolut bildete wohl so etwas wie eine „Handbibliothek", in der Folz ihm wichtige Reimpaarkleindichtung und Lieder aus eigener und fremder Produktion zusammenstellte. 39 Der heute am Beginn der Handschrift stehende, autographe Faszikel (datierbar um 1471-74 40 ) überliefert drei Minnereden: ,Beichte einer Frau' 41 (lr-4v), Peter Suchenwirts ,Der Widerteil' 42 (4v-9r) 37
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Bei seiner Diskussion der Folzschen Umformung des ,Traums' bezieht sich Johannes Janota nur auf den Abdruck der Prager Handschrift bei Haltaus und den Text der Folzschen Druckfassung, nicht aber auf die vor dem Druck liegende Handschrift Weimar Q 566 oder auf dessen Vorlage. Da die Prager Handschrift aber einen der Textgestalt der Folzschen Vorlage eher fernen Überlieferungszweig repräsentiert, haben Janotas Aussagen zur möglichen Bearbeitung der Vorlagen durch Folz nur begrenzten Wert. Die neueste (Teil-)Beschreibung der Handschrift findet sich jetzt in: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung. Mit Beiträgen von Michael Stolz. Hg. von Karl Stackmann. Berlin 2003 (DTM 84), S. XXI-XXIV. Vgl. auch Die Meisterüeder des Hans Folz. Aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q 566. Mit Ergänzungen aus anderen Quellen hg. von August L. Mayer. Berlin 1908 (DTM 12), S. VIII-XVI; Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer. München 1961 (MTU 1), S. LX-LXII; Hanns Fischer: Hans Folz. Altes und Neues zur Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. In: ZfdA 95 (1966), S. 212-236, hier S. 229f., sowie Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 30f.; Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. Bd. 1. München 1983 (MTU 83), S. 301-307. Vgl. Johannes Janota: Hans Folz in Nürnberg. Ein Autor etabliert sich in einer stadtbürgerlichen Gesellschaft. In: Philologie und Geschichtswissenschaft. Demonstrationen literarischer Texte des Mittelalters. Mit Beiträgen von Helmut Brackert u. a. Hg. von Heinz Rupp. Heidelberg 1977 (medium literatur 5), S. 74-91, hier S. 77. Janota (Anm. 39), S. 78. Brandis 340. Brandis 403.
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und ,Der Traum' (9r-13r). 43 Johannes Janota vermutet als Hintergrund dieser hier belegten Minneredenrezeption literarische Kontakte, die Folz während seiner Gesellenwanderzeit in Augsburg gehabt haben könnte. 44 Notwendig ist solch eine Annahme nicht, selbst wenn man Augsburg als Zentrum der Minneredenüberlieferung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts anerkennt. Denn der schon seit 1459 als Bürger in Nürnberg ansässige Folz hatte Kontakte zu literaturinteressierten Kreisen der Oberschicht um Anton von Haller, 45 denen eine besondere Beschäftigung mit Minnereden nachzuweisen ist.46 Auch der Textbestand, den der ,Traum' in der Weimarer FolzHandschrift bietet, deutet nicht zwingend auf eine Augsburger Vorlage. Vielmehr bietet eine in Nürnberg in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandene Kleinepiksammelhandschrift (London, BL, Add. 24946) den ,Traum' in textgeschichtlich naheliegendster Gestalt. Man kann also eine gemeinsame, in Nürnberg befindliche Vorlage der Londoner Handschrift und der Folz-Abschrift des ,Traums' annehmen. Die an manchen Stellen beträchtlichen Abweichungen der FolzFassung vom Text der vermutbaren (durch die Londoner Hs. repräsentierten) Vorlage gehen, wie Streichungen und Korrekturen von seiner Hand nahelegen, auf eine eigenständige Umarbeitung durch den Nürnberger Autor zurück. Zunächst scheint der zwischen drei- und vierhebigen Versen schwankende Text der Vorlage von Folz konsequent auf Vierhebigheit überarbeitet worden zu sein.47 Weiterhin signifikant sind Raffungen, Umstellungen und Auslassungen einzelner Verspaare oder ganzer Passagen. So streicht Folz zwei Verse (Weimar Q 566, v. 71£), die 43
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Alle drei Minnereden kommen recht häufig in Überlieferungsgemeinschaft vor. Im vierten Faszikel findet sich auf 64r-68v eine weitere Minnerede: ,Das nackte Bild' Elbelins von Eselsberg (Brandis 359), die ebenfalls von Folzens Hand, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt aufgezeichnet wurde. Vgl. Janota (Anm. 39), S. 78f. Ob Folz überhaupt während der Gesellenwanderung in Augsburg war (bzw. nicht auch später einmal), kann die von der Forschung immer wieder angeführte Stelle aus der Reimpaarrede ,Der Trinker' m. E. nicht beantworten, vgl. Folz, Reimpaarsprüche (Anm. 38), Nr. 30, v. 143-157. Haller scheint mit Folz gut bekannt gewesen zu sein, vgl. die Widmung für Anton Haller im Prolog des Pestregimen in Prosa (Folz, Reimpaarsprüche [Anm. 38], Nr. 45); v g l auch Johannes Janota: Hans Folz. In: 2 VL 2 (1980), Sp. 769-793, hier Sp. 791. Aus der Mitte dieses Kreises kommen u. a. Aufträge für Minneredenhandschriften (München egm 439 und Nürnberg 5339a) an denselben Schreiber, der auch als Schreiber eines Faszikels im fraglichen Folzschen Konvolut Weimar Q 566 festzumachen ist, vgl. Hansjürgen Kiepe: Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 15. Jahrhundert. München 1974 (MTU 74), S. 158. Dies geschieht auch bei der Bearbeitung des ,Widerteil' von Suchenwirt, die der ,Traum'Abschrift vorausgeht. Vgl. zur Metrik des streng vierhebigen Knittelverses Hubert Heinen: Die rhythmisch-metrische Gestaltung des Knittelverses bei Hans Folz. Marburg 1966 (Marburger Beiträge zur Germanistik 12).
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er zunächst aus der Vorlage (London, v. 79f.) übernommen und mit zwei neuen Versen ergänzt hatte, wieder aus — er gestaltet die Passage dann freier und verkürzender neu (die Verse London, v. 79—87, werden ersetzt durch Weimar Q 566, v. 71-74). 48 Gerafft werden vor allem die Diskussionen um die Dezenz der vorgebrachten Bitten und die darauf antwortenden Treueversicherungen (London, v. 146-157, v. 201-228, v. 2 7 5 283), Folz steigert also das Tempo der Handlung. Auch zwischen der Passage, in der sich die Liebenden umarmen, nachdem die Frau den Mantel abgelegt hat (London, v. 171-193), und der Bitte um nacktes Beilager (London, v. 227-235) ist der Wortwechsel gestrichen. Eingefugt zwischen diese beiden Sequenzen hat Folz eine bedeutende Erweiterung: Es ist eine an dem Körperlob-Schema der klassischen Rhetorik 49 orientierte, ausgesuchte Vergleiche bemühende Beschreibung der Schönheit der Geliebten (Weimar Q 566, v. 180-199). Sie beginnt mit der in der Vorlage (London, v. 192f.) bereits gegebenen Schilderung der aufgebundenen Haare (Weimar Q 566, v. 180f.) und endet beim lustvollen Blick auf das lügen tal der Frau (Weimar Q 566, v. 199).50 Solche Schönheitsbeschreibungen sind in der Minneredentradition weit verbreitet, wenn auch meist kürzer und nur auf Nennung der ,Schlüsselreize' des roten Mundes, der weißen Arme etc. beschränkt. 51 Folz fügt also ein Element laudativer Rede ein, das durchaus zur Gattungstradition paßt und den Text noch näher an andere Minnereden rückt. Die Folzsche Abschrift ist deutlich als ideosynkratische Bearbeitung mit eigenem „Gestaltungswillen" zu erkennen, die allerdings mit unter48
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Dabei wird auch die signifikante Minnereflexion der Vorlage (London, v. 84f.) gestrichen. Weiterhin fehlen die Frage nach den klaffern (London, v. 93f.) oder die Beschreibung des weckenden Gesellen (London, v. 299-302). Vgl. Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 549-553, bes. Sp. 550-552 („Descriptio") und 4 (1998), Sp. 915-922, hier Sp. 918 („Katalog"). Zur Wichtigkeit der Schönheitsbeschreibung für lateinische Poetiken des Mittclalters und die mittelalterliche Dichtung vgl. Joachim Suchomski: „delectatio" und „utilitas". Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern - München 1975 (Bibliotheca Germanica 18), S. 70, Anm. 217. Vgl. auch Ernest Gallo: The Poetria Nova and its Sources in early Theoretical Doctrine. The Hague - Paris 1971, S. 177-187. Beispiele zweier Sonderentwicklungen des Schönheitslobs, der ,Triginta'- und der ,Landschaftsliste' bringt Rolf Max Kully: Der Schönheitskatalog. Ein übersehenes literarisches Motiv. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. FS Heinz Rupp. Hg. von Rüdiger Schnell. Bern - Stuttgart 1989, S. 288-311. Daneben finden sich bei Folz noch kleinere Zusätze zum Text der Vorlage. Der Mann konfrontiert hier die Frau nach ihrem Erscheinen mit seinem Kummer (Weimar Q 566, v. 76—82), während sein Sehnen in der Vorlage implizit bleibt bzw. nur von der Dame (London, v. 68f.) oder in der einleitenden Gedankenrede, nicht aber im Dialog zur Sprache gebracht wird. Die Ritterschelte der Frau baut Folz um sechs Verse aus (Weimar Q 566, v. 103-107). So findet sich eine weitaus kürzere, nur auf das Gesicht beschränkte laus membrommPassage ζ. B. im ,Traum vom Liebesglück' (Brandis 248), v. 45-69.
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schiedlicher Intensität in die Vorlage eingreift — am stärksten durch die Vereinheitlichung in der Metrik, die Raffung der Dialogszenen und die Einfügung des rhetorisch ambitionierten Körperlobs. Ähnliche Bearbeitungstendenzen finden sich, in Ansätzen, auch in den anderen beiden Minneredenabschriften des Weimarer Faszikels. 52 Sie werden noch deutlicher sichtbar in der weiteren Verwendung des Stoffes durch Folz. Für seinen Minneredendruck ,Der neü Güllden Traum' 53 hat Folz die Vorlage etwa 10 Jahre später noch einmal bearbeitet und zwar so umfassend, daß (wie der Titel angibt) ein ,neuer Traum' entstanden ist.54 Unverändert bleiben das Handlungsgerüst sowie einige Zitate. Im Vergleich zur Abschrift werden die Erzählpassagen weiter gerafft, die Schlußerzählung vom weckenden Gesellen entfällt völlig. Dafür fügt Folz, zusätzlich zum in der Abschrift bereits eingefügten Schönheitslob (v. 170-218), noch zwei weitere, rhetorisch aufwendig gestaltete Rede-Passagen des Erzählers ein, die — wie schon die Schönheitsbeschreibung - beide in der Tradition laudativer Rede stehen, welche mit dem Begriff des blüemens zusammengebracht werden kann. 55 Zunächst gibt der Erzähler eine Schilderung seiner Liebesbrunst anhand von Tiervergleichen, die an die Attribuierung im ,Physiologus' erinnern (v. 3-37). 56 Ganz ähnliche Passagen sind in der
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In der Weimarer Handschrift sichtbare Bearbeitungstendenzen von Suchenwirts ,Widerteil' hat 1-Ians Blosen: Überlegungen zur Textüberlieferung und zur Textgestaltung bei einem Gedicht von Peter Suchenwirt. In: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen. Hg. von Hugo Kuhn, Karl Stackmann und Dieter Wuttke. Wiesbaden 1968 (Forschungsberichte 13), S. 123-132, hier S. 127, angedeutet. Neben durchgängiger Umformulierung zur konsequenten Vierhebigkeit, zugleich im Dienst einer Verdeutlichung des Inhalts, findet sich auch hier eine kleine Erweiterung, bezeichnenderweise im Rahmen der Beschreibung der Kleider der diskutierenden Frauen, verbunden mit einem Unsagbarkeitstopos (ich danke Hans Blosen für die freundliche und großzügige Überlassung eines bisher noch unveröffentlichten Vortragsmanuskripts von 1995, das detailliert auf die Folzsche Umformung eingeht). Bei der .Beichte einer Frau' stehen in der Folz-Abschrift metrische Glättung und kontinuierliche straffende Textkürzungen im Vordergrund.
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,Der neü Güllden Traum', Hans Folz, um 1483-1488 (GW 10157); Nachdruck: Nürnberg, Peter Wagner, 1495/96 (GW 10158). Textausgabe: Folz, Reimpaarsprüche (Anm. 38), Nr. 31, S. 262-270. Brandis 252. Die Bezeichnung als der neü...Traum kann, sofern man sie nicht lediglich als Element der Aufmerksamkeitsheische mittels des Signalworts ,neu' nimmt, einen Hinweis auf das geben, was im zeitgenössischen Verständnis identische und was nicht mehr identische Werke waren. Die Abschrift in Weimar Q 566 wird anscheinend von Folz noch als Variante der als Vorlage benutzten Traumerzählung gesehen; der Druck, obwohl im Handlungsgerüst weitgehend gleich, ist etwas ,Neues', d. h. nicht mehr nur Werkvariante, sondern eigenes Werk. Für eine engere Begriffsbestimmung, die aber durchaus auch die hier beschriebenen Fälle einschließt, plädiert Gert I-Iübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der „Geblümten Rede". Tübingen - Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), bes. S. 5. Zur Aufnahme der Physiologus-Tradition in den Minnereden v g l Glier (Anm. 4), S. 54f., 124f., 146 und 349. Die genaue Quelle von Folzens Vergleichen liegt im Dunkeln und
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Minneredentradition bei Egen von Bamberg 57 oder in der ,Minneburg' 58 vorgeprägt. Zum anderen ergänzt Folz ein Lob der Geliebten, das aus Vergleichen mit hervorragenden literarischen Frauengestalten besteht — Frauen, welche seine Dame noch übertrifft (v. 60—82).50 Einen vergleichbaren Bezug auf literarische Gestalten im Rahmen eines ausufernden Vergleichs bietet ζ. B. die Minnerede ,Liebesklage'. 00 In allen drei Fällen der Erweiterung der Vorlage greift Folz zu literarischen Bausteinen, die einerseits mit einem erhöhten rhetorischen Anspruch verbunden und andererseits fest in der Minneredentradition etabliert sind. Folz ergänzt also die stark auf die Erzählung des Vorgangs konzentrierte „erzählende Minnerede" der Vorlage vor allem um Elemente der „erörternden Minnerede". 61 Er hebt den Text damit ein Stück weiter von angrenzenden, novellistischen Erzählformen ab, rückt ihn mehr in
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müßte ggf. mit ergänzendem Blick auf das Gesamtoeuvre (und hier besonders auf den Meistersang) ermittelt werden. In der .Klage der Minne', Brandis 28. Dort finden sich, wie bei Folz, Salamander (v. 91), Phoenix (v. 93) und Pelikan (v. 92) als Beispiele. Vgl. ,Die Minneburg', Brandis 485. Eine Passage des Lobes der Frau in Tiervergleichen beginnt v. 3352, dabei wird u. a. auch der Salamander auf v. 3490-3500 beschrieben. Zu denken wäre vielleicht auch an einen naheliegenden Einfluß durch Heinrichs von Mügeln ,Der meide kränz', der sich ja in der Weimarer Folz-Handschrift Q 566 im vermutlich ältesten, in den 1440er Jahren (nicht von Folz) geschriebenen Faszikel findet. Allerdings ist der Reim im Rahmen der tierphysiologischen Beschreibung Oer Salamander in demfiir \ nicht lebet sunder erden stür (v. 1243f.), der sich mit den gleichen Reimworten auch in der Folzschen Schilderung findet (Der salamander in dem feiir \ Beflampt durch seyner labung steiir, v.7f.), in der Handschrift gar nicht mehr enthalten. Hier reicht ,Der meide kränz' nur bis Vers 864, quasi als eigenständiges Textkonvolut zu den ,artes', vgl. Stackmanns Entscheidung, die Handschrift als „Fassung eigenen Rechts" zu bezeichnen: „Das Stück fungiert in Folzens Sammlung [...] als selbständiges, keiner Fortsetzung bedürftiges Gedicht über die freien Künste" (Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln [Anm. 38], S. XLIX). Genannt werden Amelie, Isolde, Melusine und ihre Schwestern, Helena und Lucretia. Daß dieser Katalog aus der Erwähnung von Isolde und Tristan der Vorlage entwickelt wird, wie Janota meint, kann ich nicht erkennen (Johannes Janota: Liebe und Ehe bei Hans Folz. Von der Mtnnerede zum Lob der Ehe. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 174-191, hier S. 187). Die entsprechende Passage ist zumindest nicht in die dem Druck vorhergehende Fassung der Weimarer Handschrift Q 566 übernommen worden (dort v. 206f.: So deucht mich ich wer gleich genoss | Eracli auff seim guldin Tron). Brandis 40. Textausgabe bei Died (Anm. 14), S. 385-399. Vgl. die von Hans-Joachim Ziegeler eingeführte und zuletzt von Wolfgang Achnitz wiederbelebte narratologische Unterscheidung zwischen Ich-Erzählung („erörternde Minnerede") und auktorialer Erzählhaltung („Minneerzählung"): Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen. München 1985 (MTU 87), S. 74. Vgl. auch Wolfgang Achnitz: Kun? rede von guoten minnen/ diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden'. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000/2001), S. 137-149.
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die Nähe der „Minnerede im eigentlichen Sinn". 62 Der sonst straffende und Pointen zuspitzende Erzähler Folz führt mit dieser Steigerung des rhetorischen Aufwands 63 und der in den Vergleichen deutlichen Bezugnahme auf (antike und zeitgenössische) literarische Deutungsmuster seine Fähigkeiten als Dichter, „seine artistische Kompetenz als Sprachhandwerker, als ö^iZtoj-Künsder"64 vor. Man könnte für dieses Verfahren den Begriff der „Trivialisierung" aufgreifen — allerdings in einer wörtlicheren Bedeutung, im Sinne des „Triviums" und dessen, was allgemeines und erlernbares Bildungsgut ist. Daß es Folz dabei um eine schulmäßige Fingerübung geht, ein Spiel mit den eigenen rhetorischen Fertigkeiten, wird deutlich, wenn man das Schönheitslob der Druckfassung mit seiner ,Vorstufe' in der Weimarer Abschrift vergleicht. Der Drucktext geht nicht einfach aus der handschriftlichen Fassung hervor, sondern stellt eine eigenständige, doppelt so lange Ausarbeitung dar, die zwar strukturelle und inhaltliche Aspekte und die Plazierung innerhalb des Gedichts vom ersten Schönheitslob aufnimmt, aber sprachlich völlig neu gestaltet ist. Die ausführliche Liste der einzelnen zu beschreibenden Körperteile weist nun, in der Druckfassung, eine erstaunliche Übereinstimmung zu der Liste auf, die Galfred von Vinsauf in seiner ,Poetria nova' gibt.65 Folz orientiert sich also (direkt oder indirekt) an einem rhetorischen Schultext. 66 Zudem wird im Körperlob
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Er macht damit, folgt man Ziegelers Terminologie, aus einer Minnerede vom „Typ 4" eine des „Mischtypus" 3, vgl. Ziegeler (Anm. 61), S. 57ff. Für Ingeborg Glier ist allerdings fraglich, ob der betriebene rhetorische Aufwand ernst zu nehmen ist, vgl. Glier (Anm. 4), S. 349. Sie vermutet eine mögliche parodistische Absicht hinter den Einfügungen. Dagegen kann man einwenden, daß es Folz in der Regel überdeutlich macht, wenn er parodieren will, so zum Beispiel in seinen Spottrezepten und Almanachen: Folz, Reimpaarsprüche (Anm. 38), Nr. 33, 34 und 46. Hübner (Anm. 55), S. 389 (das Zitat bezieht sich auf Spruchdichter des 13. und 14. Jahrhunderts). Die enge Verbindung von rhetorischer „ars" und Minnerede besteht dabei schon lange vor Folz, seine „Rhetorisierung" des ,Traums' kann daher an bestehende Gattungstraditionen anknüpfen. Vgl. die Reihung nach Galfreds ,Poetria nova', ν. 568-602: Gallo (Anm. 49), S. 44. Vgl. ebd., S. 185, auch die Zusammenstellung der genannten Körperteile: Kopf - Haare - Stirn - Augenbrauen - Nase - Augen - Gesicht und Teint - Mund - Lippen - Zähne - Kinn Nacken - Hals/Kehle - Schultern - Ober- und Unterarme - Finger - Hände - Brust Taille - Bauch - Beine (Oberschenkel - Knie - Unterschenkel) - Füße. Folz läßt nur die Lippen und die Schilderung der Schultern, Arme, Hände und Finger aus (letztere werden zusammen mit den Füßen und Zehen beschrieben) und hält sich sonst exakt an die Liste und ihre Reihenfolge. Allerdings benutzt er nicht die Vergleiche des Galfred, was auf eine Übernahme der Reihe aus einer sekundären Quelle sprechen könnte oder für eigenen Umgestaltungswillen, wie er sich offensichtlich auch in den Divergenzen zwischen handschriftlicher und druckschriftlicher Fassung bei Folz zeigt. Breiter angelegte Untersuchungen zu den Quellen der literarischen und rhetorischen Bildung von Hans Folz fehlen. Dennoch scheint ein Kontakt mit Galfreds Poetik, die in
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des Drucks keiner der in der Weimarer Handschrift verwendeten Vergleiche gebraucht. In dieser Form läßt das nur den Schluß zu, daß Folz sich ganz bewußt um ,variatio' bemüht. Auch in anderer Hinsicht scheint Folz für die Druckfassung auf eine Verfeinerung seiner literarischen Mittel zu setzen. Die leicht zu entschlüsselnde Metaphorik der Weimarer Abschrift im Blick auf das lilgen tal der Frau findet sich nicht mehr. Vielmehr heißt es stattdessen: Noch ein cleinet an irem leib/ | Ich ir %ucht halben nit beschreib (v. 215f.). Die Negation betont das Ausgelassene und gibt zugleich der erotischen Phantasie des Publikums mehr Raum. Zusätzlich ist eine ,Höfisierung' zu konstatieren, wenn Folz mit dem Motiv der Verleumdung der Treue seiner Angebeteten (v. 56f.) einen Topos des Minnesangs integriert. 67 Die zusätzlich als Legitimation oder Motivation für das Beisammensein des Paares eingeführten Motive des Standesunterschiedes und des heimlichen Eheversprechens (v. 38—52), die von Janota als Propaganda für eine bürgerlich-kirchliche Ehemoral gelesen werden, 68 stehen zu dieser Tendenz nicht im Widerspruch, sondern können im Gegenteil als eine Form der Aktualisierung und Verständlichmachung .höfischer' Topoi für ein zeitgenössisches Publikum gedeutet werden: Der Standesunterschied schärft die Personenkonstellation, 69 die Winkelehe transponiert das höfische Motiv der ,tougen minne' in den städtischen Kontext des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Der Neugestaltung des ,Traums' war offensichtlich Erfolg beschieden. ,Der neü güllden Traum' erscheint nicht nur unter den Drucken der zweiten Druckperiode des Folzschen Privatverlags, sondern auch unter den Nachauflagen aus der Presse Peter Wagners. Das ist ein Beleg dafür, daß das Gedicht nicht nur dasselbe, sondern auch ein ähnlich großes Publikum ansprach wie Folzens neuaufgelegte Mären oder didaktische Reden — und dies, obwohl es unter Folz' Versuchen in der Gattung am
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der Behandlung von amplificatio und abbreviatio auch lateinische Schwanke wie den vom ,Schneekind' (v. 718-722: Gallo [Anm. 49], S. 52) als Beispiele benutzt, nicht undenkbar. Zur Verwendung des Verleumdungstopos auch in der Minneredentradition vgl. auch die ,Liebesklage' (Brandis 40, Ausgabe siehe Anm. 50), v. 281 ff. Janota (Anm. 59), S. 190. Bei aller Diskussion um die Folzsche Ehelehre sollte man auch nicht außer acht lassen, daß das Eheversprechen, wiewohl an prominenter Stelle piaziert, den Kern der Erzählung nicht berührt - nämlich den Vorgang der stufenweisen Verführung einer Frau, die kurz vor Erreichen des Ziels als Traumbild erkennbar wird und verschwindet. Auch die sehr allgemeine Aussage der Schluß-Moralisatio bei Folz, Reimpaarsprüche (Anm. 38), Nr. 31, v. 298-307, weist nicht auf eine vordergründige Ehedidaxe hin, wie Janota (Anm. 59), S. 188, annimmt. Das (zugegeben) in der Minneredentradition seltene, eher aus den Mären bekannte Motiv des Standesunterschieds, der eine offene Beziehung verbietet (Folz, Reimpaarsprüche [Anm. 38], Nr. 31, v. 44-49; vgl. zum Motiv Fischer [Anm. 10], S. 125ff.), ist schon in der Vorlage angelegt, wenn dort der Mann der Bittsteller ist, die Frau aber zur keyserin (London, v. 225) erhöht wird. Dieses klassische Gefalle der höfischen Minnekonstellation wird nun mit Angaben zum ungleichen Stand der Liebenden noch verdeutlicht.
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deutlichsten an die literarischen Muster der Minneredentradition anknüpft und einen dezidiert ästhetischen Anspruch in Form elaborierter Rhetorik präsentiert. Die Vermutung Gliers und Janotas, daß (besonders formale) Gattungsbesonderheiten abgeschwächt oder „entsorgt" werden mußten, damit die Minnereden von einem größeren Publikum goutiert werden konnten, läßt sich an diesem Beispiel nicht erhärten. Die bewußte und explizite Fortführung, ja Pflege der Gattungstradition durch Folz, die sich am ,Traum' exemplarisch zeigen lässt, ist bisher in der Forschung vernachlässigt worden. Vor allem wegen (sicher auch zeitbedingter) Umwertungen bei der inhaltlichen Füllung des Minne-Themas wurde Folz ein Abrücken von den Traditionen der Gattung unterstellt. 70 An der hier vorgestellten Reihe von Bearbeitungen des ,Traums' ist dagegen eine Tendenz zur Aktualisierung und Emendation des „Überlieferungsschlagers" ersichtlich - wobei keine beliebigen Bausteine und Verfahren angewandt werden, sondern solche, die aus der Gattungstradition vertraut und die mit einem besonderen rhetorischen Anspruch verbunden sind. Die Minnerede ist für und bei Folz eine Kunstfertigkeit und Rhetorik nahestehende, ja diese geradezu verlangende Gattung. 71
IV. Auch der zweite hier vorzustellende Sonderfall der Überlieferung hat mit dem Buchdruck zu tun, der ja für Fragen nach der „Popularisierung" gern herangezogen wird, gilt es im 15. und frühen 16. Jahrhundert doch als Ausweis besonderer Publikumswirksamkeit, wenn ein Text in den Druck kommt. Für die Minnereden gilt das Diktum, daß sie praktisch keine Druckrezeption erfahren haben. 72 Tatsächlich lassen sich aber etwa (je nach Zählung) 20-25 Minneredendrucke finden, darunter einige Mehrfachauflagen. Daß in dieser - zugegeben begrenzten - MinneredenDrucküberlieferung ein großes Potential liegt, wenn es darum geht, ein Verständnis der Texte „vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Gebrauchs situation und in ihren ursprünglichen Kommunikationszusammenhängen" 73 zu gewinnen, ist bisher von der Forschung noch kaum 70 71
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Vgl. Glier (Anm. 4), S. 350. Ein ähnlicher Kunstanspruch drückt sich in Folzens Verwendung des Traum-Motivs in einem ebenfalls gedruckten Strophenlied in Brembergers Hofton aus, vgl. Folz, Meisterlieder (Anm. 38), Nr. 97, S. 363-366. Neben der durch diesen Gattungswechsel vollzogenen Aufwertung' der Reimpaarrede stärkt Folz den Bezug zur Minneredentradition, indem er in der ersten Strophe einen - der ,Traum'-Überlieferung sonst fremden - Natureingang und einen Spaziergang des Erzählers voranstellt. Vgl. Ludger Lieb: Minnerede. In: RLW 2 (2000), S. 601-604, hier S. 603. Achnitz (Anm. 3), S. 245.
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erkannt. Inkunabeln und Frühdrucke lassen sich bestimmten Offizinen, und diese bestimmten Mitarbeiterkreisen und Auftraggebern sowie Kundenschichten zuordnen. Mithin lassen sich Auskünfte über die „situativen Bedingungen der Textproduktionssituation" gewinnen, deren „Verschleierung" durch die handschriftliche Überlieferung Ludger Lieb beklagt hat.74 Der ,Traum' ist, sieht man von der Umarbeitung des Hans Folz ab, nur einmal gedruckt worden. Der Druck entstammt der Presse, die Herzog Johann II. von Pfalz-Simmern 1527 in seiner Residenz in Simmern im Hunsrück einrichten ließ.75 Diese Druckerei, betrieben von Johanns Sekretär Hieronymus Rodler, hat zwischen 1530 und Rodlers Tod 1539 sechzehn ganz unterschiedliche, auf ihre Weise aber jeweils bemerkenswerte Bücher hervorgebracht. 76 Bei vielen läßt sich Johann als (Co-)Autor, Bearbeiter, Übersetzer oder Illustrator vermuten. 77 Der Simmerner Herzog kultiviert nicht zuletzt durch diese Druckprojekte ein Selbstbild als
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Vgl. Lieb (Anm. 15), S. 145. Zu Johann und seinen Werken vgl. Werner Wunderlich: Der anonyme Autor des ,Fierrabras' (1533) und der ,Haymonskinder' (1535). In: ZfdA 118 (1989), S. 193-202; ders.: Johann II. von Simmern. Autor und Gelehrter auf dem Fürstenthron. In: Euphorion 85 (1991), S. 1-37; ders.: Anonymität - Akrostichon - Autorschaft. Johann II. von Simmern. In: Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Hg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wunderlich. Konstanz 1992, S. 73-88. Vgl. Elsbeth Bonnemann: Die Presse des Hieronymus Rodler in Simmem. Eine fürstliche Hofbuchdruckerei des 16. Jahrhunderts. Leipzig 1938. Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1969. Bonnemann nennt zehn Drucke, zu denen neuere (bisweilen korrekturbedürftige) bibliographische Nachweise und Exemplarangaben bei Wunderlich, Johann II. von Simmern (Anm. 75), S. 17-22, zusammengetragen sind. Zu den weiteren Drucken vgl. die Zuweisungen im Registerband des VD 16. Bd. 25. III. Abt. Stuttgart 2000, S. 279f. So bei dem ,Turnierbuch' des Kaiserlichen Herolds Georg Rüxner (1530) oder dem .Büchlein von der Kunst des Messens' (1531), das eine populärwissenschaftliche' Anleitung zum perspektivischen Zeichnen in Anlehnung an zwei Werke von Albrecht Dürer ist. Der Text ist in Auszügen neu abgedruckt in dem Band: Bibliothek der Kunstliteratur. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. von Thomas Cramer und Christian Klemm. Frankfurt/M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 126), S. 88-116, S. 685-691 (Kommentar). Wunderlich sieht Johanns II. Übersetzertätigkeit für die in Simmem im Erstdruck erscheinenden Prosaromane ,Fierrabras' und ,Die Haymonskinder' aufgrund der hier aufzuweisenden Akrosticha seines Namens für erwiesen an (Kritisch dazu steht Beate Weifenbach: Die Haimonskinder in der Fassung der Aarauer Handschrift von 1531 und des Simmerner Drucks von 1535. Ein Beitrag zur Überlieferung französischer Erzählstoffe in der deutschen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. 2 Bde. Frankfurt/M. 1999 [Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 39], bes. S. 44—51, 67, 149-157 sowie 200-205). Analog dazu nimmt Wunderlich Johanns II. Autorschaft im Fall einer Minnegerichtsdichtung mit dem Titel ,Ein lustiger Spruch von der Buhlschaft' an. Der Text ist nicht bei Brandis verzeichnet und wird erst von Rheinheimer als Minnerede klassifiziert: Melitta Rheinheimer: Rheinische Minnereden. Untersuchungen und Edition. Göppingen 1975 (GAG 144), S. 272. Vgl. auch dies.: Ein lustiger Spruch von der Buhlschaft. In: 2 VL 5 (1985), Sp. 1085. Das nach dem Krieg verschollene Berliner Exemplar ist mittlerweile in Krakau (unter der Berliner Signatur 4° Yh 911) wieder aufgefunden worden.
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„Gelehrter auf dem Fürstenthron", als umfassend gebildeter Renaissanceherrscher. 78 Der Simmerner ,Traum' nimmt insofern eine Sonderstellung in der Produktion der Presse Hieronymus Rodlers ein, als daß er keine Originalproduktion ist, sondern einen im 15. Jahrhundert handschriftlich breit überlieferten Text aufnimmt. 79 Die reiche handschriftliche Überlieferung ermöglicht es, die Vorlage des Druckes bzw. der Druckbearbeitung relativ präzise zu bestimmen. 80 Der Vergleich des Drucktextes mit allen handschriftlichen Fassungen legt nahe, daß der Simmerner Bearbeiter eine 78
Dieses Bild zeigt auch heute noch Wirkung, wie ζ. B. die bisweilen etwas überschwenglichen Würdigungen der Persönlichkeit Johanns II. durch Werner Wunderlich belegen. Johann II. betätigt sich als Chronist und Genealoge, unterhält Kontakte zu Heidelberger Humanistenkreisen und wird als namhafter Beiträger im Vorwort zu Sebastian Münsters geschichtlich-geographischer Weltbeschreibung ,Cosmographei' (1550) genannt. Wenngleich auch nicht alle Drucke aus seiner ,Hofdruckerei' gleichermaßen prächtig und repräsentativ zu nennen sind, sieht Wunderlich die Drucke doch als „Ausdruck und künstlerisch-kostbare Vergegenständlichung jener Hofkultur, die die alte Tradition aufwendiger Schriftlichkeit und mittelalterlicher Buchkunst mit der neuen Technik des Buchdrucks verband und die dabei entstandenen Produkte auch als äußeres, sichtbares Zeichen und Merkmal fürstlicher Prachtentfaltung betrachtete" (Wunderlich, Johann II. von Simmern [Anm. 75], S. 22f.). In diesem Vorgehen, die Buchkunst als Teil einer adlig-gebildeten Repräsentation herrscherlicher Vollkommenheit zu benutzen, erscheint Johann II. also dem weitaus berühmteren Maximilian verwandt. Maximilian hat im Jahr 1508 die Residenz Simmern besucht: „Das Vorbild des Kaisers, der im selben Jahr auch einen Hofbuchdrukker berief und zu einem großzügigen Förderer der Druckkunst wurde, mag Johann II. angeregt haben, in seiner Residenzstadt ebenfalls eine Druckerei einzurichten" (Weifenbach [Anm. 77], S. 155). Die Simmerner Presse verwendet in den ersten beiden Drucken auch die für Maximilians Buchprojekte entworfene sogenannte ,Theuerdank'-Type Schönspergers. Dementsprechend exklusiv dürfte auch der Adressatenkreis der Prachtdrucke sein. Obwohl sich genaueres nur schwer feststellen läßt, kann man vermuten, daß die Erzeugnisse der Simmerner Presse der fürstlichen Verfügung unterlagen und hauptsächlich an verwandte und befreundete Hofkreise gehen. In der pfalzgräflichen Bibliothek in Heidelberg lassen sich Drucke aus Simmern schon im Jahrzehnt ihrer Entstehung nachweisen, eine andere Linie läßt sich zu den Grafen von Zimmern verfolgen, in deren Chronik ein weiterer Simmerner Druck, das bekannte ,Weltliche Klösterlein' als angebliches Werk Graf Wilhelm Werners (1483-1575) eingegangen ist. Kurt Matthaei: Das ,weltliche Klösterlein' und die deutsche Minne-Allegorie. (Diss.) Marburg 1907, S. 73f., versucht zu zeigen, daß die Zuschreibung falsch ist (vgl. auch Glier [Anm. 4], S. 339 und 2 VL 10 [1999], Sp. 835837). Allerdings wäre die Autorschaft von Wilhelm Werner für einen Simmerner Druck nicht abwegig, ist er doch ab 1536 als Johanns II. Beigeordneter am Speyrer Reichskammergericht tätig. Zahlreiche Anekdoten in der ,Zimmerschen Chronik' stellen das freundschaftliche Verhältnis der beiden heraus, vgl. u. a. Κ. A. Barack: Zimmersche Chronik. 2. Auflage 1881-1882, Bd. III, S. 119,2ff., S. 195,2ff. und S. 600,41 ff.-602.
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Im Fall des .Weltlichen Klösterlein' kann man mit Matthaei (Anm. 78), S. 68 und 73, eine frühere (auf 1472 datierbare) handschriftliche Vorlage annehmen. Bonnemann (Anm. 76), S. 31 f., vermutet, daß Johann II. zumindest als Bearbeiter und Umgestalter der früheren Vorlage fungierte. Der Druck geht nicht, wie man Walter Blank: Der Traum. In: 2 VL 9 (1995), Sp. 1009, verstehen könnte, auf die Berliner Hdschr. 115 (von ca. 1590!) zurück.
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Vorlage benutzt hat, die der ,ostfränkischen' Überlieferungsgruppe des ,Traums' zugeordnet werden kann und direkt auf die Handschrift München, BSB, cgm 713 zurückgeht:81 Mit der Handschrift Nürnberg, GNM, 5339a ist ein Textzeuge erhalten, der die Druckvorlage als Abschrift aus cgm 713 wahrscheinlich recht gut repräsentiert: Der Text dieser Handschrift steht dem Wordaut des Druckes insgesamt am nächsten, wenngleich er nicht die direkte Vorlage für den Simmerner Druck sein kann.82 Die im Druck sichtbare Bearbeitung ist eher zurückhaltend. So bleiben Textumfang und Textgrenzen, d. h. Anfang- und Schlußpassage weitgehend unangetastet. Änderungen im Vergleich zur Vorlage bestehen hauptsächlich in anderer Wortstellung,83 im Ersatz oder in Hinzufügung von Füllwörtern und der Anpassung an einen anderen Sprachstand und Wortschatz.84 In einigen Fällen könnte man vermuten, der Bearbeiter (oder das von ihm vorhergesehene Publikum) habe die Formulierungen der Vorlage nicht mehr recht verstanden, weshalb Um Formulierungen gewählt wurden.85 Andere Bearbeitungsaspekte führen in die gleiche Richtung der Verständlichmachung des nicht mehr unmittelbar Verstandenen: An zahlreichen Stellen werden zusätzlich Adjektive oder Adverben eingefügt, die das Gesagte verdeutlichen und ausmalen,86 ebenso werden häufig
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Dabei wurde offensichtlich der erste Eintrag in der Handschrift (München, BSB, cgm 713, 137v—146r) zur bestimmenden Vorlage, teilweise scheinen aber Textkorrekturen nach dem Wortlaut des zweiten Eintrags (München, BSB, cgm 713, 213v—223v) vorgenommen zu sein. Vgl. den Trennfehler Nürnberg, GNM, 5339a, v. 58 - Druck, v. 58. Ζ. B. die Umstellung von verderben und sterben (Druck, v. 17f.) Vgl. der Ersatz von gehes (Nürnberg 5339a, v. 253) durch jhäling (Druck, v. 259); Ersatz von mes^ner (Nürnberg 5339a, v. 302) durch p f a f f (Druck, v. 308). Interessant ist der mehrfache Ersatz von mantel durch rock (Druck, v. 53, v. 140, v. 143), da auch im ,Weltlichen Klösterlein' offensichtlich in der Umarbeitung der handschriftlichen Vorlage für den Simmerner Druck eine solche Ersetzung vorgenommen wurde, vgl. dazu die Anmerkungen von Matthaei (Anm. 78), S. 67. Vgl. Geschach dirye kein letzen (Nürnberg 5339a, v. 60) der Vorlage wird zu Vnd nun in freud vnnd lust setzen (Druck, v.60); began (Nürnberg 5339a, v. 152) der Vorlage wird zu bekhümmert den weggati (Druck, v. 160); (so wil) ich mich an dich an dich lassen gern (Nürnberg 5339a, v. 215) wird zu Das mil ich dich spiirn lassen gern (Druck, v. 221). So ζ. B. in dem Satz mit seinem sterben grausam khem \ vnd mich eilends von dem leben nem (Druck, v. 25f.). Weitere Stellen, an denen diese Bearbeitungstendenz sichtbar wird: Druck, v. 68, 72, 76, 80, 131, 158, 181,193-195, 293, 303, 307, 312.
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Einzelwörter durch Doppelfügungen ersetzt 87 und möglicherweise unklare Personenbezüge klargestellt.88 Auffallendste Abweichung zur Vorlage ist aber die Passage v. 85ff.: Hier sind die Verse der Vorlage unter Verwendung von Formulierungen und Versen und Verspaaren der Vorlage neugestaltet. Dabei fällt die Frage nach den merckern (Nürnberg, 5339a, v. 86f.) weg, auch der Verweis auf die fehlende ritterliche Bewährung in Preußenfeldzügen und bei Seereisen fehlt in der Druckfassung. Stattdessen werden aber neue Verspaare eingefügt: Einmal eine Betonung des Dienstverhältnisses, 89 dann eine kurze Charakterisierung des Frauendienstes in Kampf und Turnier. 9 " Wie schon bei den zahlreichen Belegen für die Arbeit an der Verdeutlichung' der Vorlage ist auch hier eine deutliche Bearbeitung mit eigenständigem „Formulierungs- und Gestaltungswillen" 91 erkennbar, mit der Tendenz, die handelnden Personen des Vorlagentextes in einem etwas edleren und ritterlicherem Licht erscheinen zu lassen. Die Dame hat nun nicht mehr, wie in der Vorlage, die höfischen Wachinstanzen in einem Moment der Schwäche überlistet. Zugleich wird im Vergleich zur Vorlage noch deutlicher gemacht, daß der Erzähler der Dame in der Art ehrenvollen ritterli87
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Aus Ein weil mir auch geprast \ der wit™ vnd auch der synn (Nürnberg 5339a, v. 76f.) wird Eyn gütte weil mir auch gebrast \ der wit? Vernunft vnd aller sinn (Druck, v. 76f.); aus durch meinen willen (Nürnberg 5339a, v. 133) wird mir dienst und willen (Druck, v. 141). Weitere Beispiele: Druck, v. 37f., 204, 241 f., 245, 271, 289. So ζ. B. der Text der Vorlage Ee das eiich solt geschehen (Nürnberg 5339a, v. 282), das zu Dann euch von mir solt geschehen wird (Druck, v. 288). Vgl. auch: Das ich darauf mocht gepauen (Nürnberg 5339a, v. 211) wird zu Vff ewer lieb recht spu bawen (Druck, v. 217). Vgl. Druck, v. 86-96: So ich bin in diesen stunden/ Von euch in demut heymgesucht/ Was eren thu ich ewer %ucht/ Oder wie soll ich mich neygenj Gen euch / der ich bin ganteygen/ Sie sprach gsel nit so hart erschrick/ Heb auff dein äugen/ mich anblick/ Von liebes crafft vnd rechter brunst/ Steh ΐζΐι dir meines hert^en gunst/ Vnd hab mich dir also ergebenI Όas eyns theyls mit dir will leben/ Vgl. dazu Nürnberg 5339a, v. 92-103. Druck, v. 105-110: Als mancher Held hat offtgetban/ Jn kempffens not vndfechtem plan/ Vmb Liebes willen offenbar/ Das macht mich gen euch vertagt gar/ Wie wagt ich so von hert^en gern/ Mein leib vnd leben euch ^un ern/ Vgl. dazu Nürnberg 5339a, v. 108f. Bumke (Anm. 27), S. 124.
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chen Minnedienstes verbunden ist. Die zweifache Streichung des Wortes gotri könnte das Bestreben andeuten, einem (durch die konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit?) in diesen Fragen sensibleren Publikum den Eindruck der Gotteslästerung zu ersparen — es hat aber auch eine Ent-Ironisierung zur Folge, indem offensichtlich im überlieferten Text ironische Momente (die Anrufung Gottes im Liebesverlangen; der höfische' Gruß in der Schlafkammer) zum Opfer fallen. Die Simmerner Bearbeitung verändert Sinn und Aussage des überlieferten Textes damit aber nur in unwesentlichem Ausmaß. Bringt man die von Ludger Lieb vorgeschlagene Typologie der Textveränderung innerhalb der Minneredenüberlieferung in Anschlag, so läßt sich die Simmerner Bearbeitung als ein klassisches Beispiel des ,Umschreibens' sehen, in welchem nur einzelne Elemente der Vorlage verändert werden, ansonsten aber ein relativ behutsamer Umgang mit der Texttradition zu erkennen ist. Bis auf den Einsatz verdeutlichender und oft auch dem metrischen Fluß entgegenkommender Füllwörter und der oben genannten zwei Zusatzbzw. Ersatzstellen, versagt sich der Bearbeiter einen weitgehenden Einsatz von Umschreibeverfahren, die ζ. B. noch Hans Folz' Umgang mit der ,Traum'-Überlieferung kennzeichneten. Innerhalb des hinter der Simmerner Presse vermuteten Programms herrscherlicher Repräsentation vertritt ,Der Traum' - und mit ihm die anderen beiden Simmerner Minneredendrucke - eher einen Zweig der Demonstration ungebrochener Pflege hergebrachter Traditionen. 93 Daß sich die Simmerner Presse gerade der Minneredentradition widmete, mag man für ein Zeugnis einer persönlichen literarischen Vorliebe Johanns II. ansehen - oder gar einer Art Famiüentradition der Verbundenheit mit dem Genre. 94 Wichtig ist dabei, daß sich diese Vorliebe in Simmern sowohl in eigenen kreativen Versuchen wie dem ,Spruch von der Buhlschaft' ausdrückt, hier Traditionspflege gleichzusetzen ist mit Partizi92 93
94
Einmal in der Anrufung Nürnberg 5339a, v. 8, dann im Willkommensgruß Nürnberg 5339a, v. 83. Man ist versucht, die in Simmern, besonders auch in der Umarbeitung des ,Traums' zu beobachtenden Phänomene mit dem Begriff der ,Ritterromantik' zusammenzubringen, vgl. dazu Peter Strohschneider: Ritterromantische Versepik im ausgehenden Mittelalter. Studien zu einer funktionsgeschichtlichen Textinterpretation der „Mörin" Hermanns von Sachsenheim sowie zu Ulrich Fuetrers „Persibein" und Maximilians I. „Teuerdank". Frankfurt/M. - Bern 1986 (Mikrokosmos 14). Spannweite und Aussagekraft des Begriffes problematisiert Klaus Graf: Ritterromantik? In: Zwischen Deutschland und Frankreich: Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Hg. von Wolfgang Haubrichs und Hans Walter Herrmann. St. Ingbert 2002, S. 517-532. Johanns Vorfahr Johann von Sponheim ( f l 3 2 3 ) wird im ,Lob der ritterlichen Minne' (Brandis 472), einer Zeit- und Totenklage um 1330-1350, als verstorbener Minneritter erwähnt (v. 317). Desgleichen in der .Schule der Ehre' (Brandis 481), v. 151, als gelehriger Schüler der Frau Minne.
Oberlieferungsgeschichtlicbe Beobachtungen
einer populären' Minnerede
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pation am Textgenerierungsprozeß, daß aber ebenso im Fall des ,Traums' ein relativ behutsamer Umgang mit der Texttradition zu erkennen ist, der die Uberlieferung nahezu unangetastet läßt.
V. Kann man aus diesem vielgestaltigen Bild der Gesamtüberlieferung eines „Überlieferungsschlagers" auf Überlieferungsbesonderheiten der Gattung Minnerede schließen? Man kann zumindest den vorsichtigen Schluß wagen, daß in der durch die Masse an Überlieferungszeugen naturgemäß größeren Diversität der Überlieferungsphänomene klarer hervortritt, was „Normal"- und was „Sonderfälle" der Überlieferung sind. Auf dem Gebiet der Textvarianz zeigt sich, daß eine eher werkgetreue Überlieferung überwiegt und daß Verfahren des Umschreibens, Ümschreibens und Weiterschreibens nur in Sonderfällen in stärkerem Maß angewandt werden. Die Textvarianz des ,Traums' nährt damit Zweifel an der Annahme einer Gattung prinzipiell und per definitionem offener Texte. Zugleich gibt sie einen Hinweis darauf, daß die Möglichkeit zum transformatorischen Übergang mit dem Textmaterial als einem bestimmten Reproduktionsmodus auch punktuell, mit und neben einem eher konservierenden Reproduktionsmodus, Verwendung fand. Die Überlieferung des ,Traums' zeigt aber auch, daß eine pauschale Etikettierung eines Textes als „Überlieferungsschlager" (abgesehen von allen anachronistischen Beiklängen) angesichts der qualitativen Unterschiede der einzelnen Überlieferungszeugen fragwürdig ist. Haltbare Aussagen über die Popularität des Textes dürfen sich nicht nur aus der Zahl der Textzeugen speisen. Sie bedürfen einer näheren Betrachtung der je eigenen Überlieferungseigenheiten der einzelnen Handschriften. Eine solche differenzierte Sicht auf die Überlieferung sollte der vorliegende Beitrag erarbeiten. Untersuchungen weiterer mehrfach überlieferter Minnereden scheinen lohnend, nicht zuletzt, um das hier vorgestellte Bild zu schärfen oder zu korrigieren. Noch ungelöst ist das (auch in diesem Beitrag an mehrfachen Stellen aufscheinende) methodische Problem einer auf das Einzelwerk, d. h. auf die einzelne Brandis-Nummer bezogenen Überlieferungsforschung. Besonders das Beispiel der Folzschen Umformungen zeigt, wie wenig aussagekräftig eine nur auf die Ebene der Überlieferung einer Brandis-Nummer eingeengte Betrachtung sein kann, wenn es um das Verständnis der Gattungsüberlieferung als größerem, eher thematisch zu gliedernden Überlieferungszusammenhang geht. Bei einem solchen, breiter angelegten Untersuchungsinteresse erschiene mir eine Betrachtung der von Glier als „Überlieferungsschlager" bezeichneten
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mehrfach überlieferten Minnereden dennoch sinnvoll. So könnte der Komplex ,Traum von Erfüllung der Liebe' ausgehend von dem ,Traum' als prominentestem Repräsentanten erkundet werden, das ,thesenhafte Streitgespräch' ausgehend vom ,Widerteil' 95 oder ,Beständige und Wankelmütige' 96 , der Frauenpreis vom ,Lob der Frauen' 97 . Als in der Überlieferung rein quantitativ dominante Texte könnten die „Überlieferungsschlager" eine ,Leitfunktion' bei der Betrachtung thematischer Textgruppen und damit größerer Gattungszusammenhänge der Minnerede einnehmen.
95 Brandis 403. 96 Brandis 405. 97 Brandis 262.
A N N MARIE RASMUSSEN
Masculinity and the Minnerede·. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186 (Livonia, 1431) What can codicology tell us about gender? What can Minnereden tell us about late medieval constructions of masculinity? This paper relates these questions and explores their importance by examining the Middle Low German compilation manuscript, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186, which according to its scribal signature was written in Livonia in the year 1431 (fol. 20v: Scriptum in livonia per Planus Johannis 1431). This manuscript contains two Mären or narrative, rhymed couplet texts (,Die treue Magd' [The Faithful Maidservant] and ,Frauentreue' [Women's Fidelity]); one romance text (,Flos unde BlankAOs'); two short poems (a Minnegleichnis and a love lyric by Regenbogen); and three Minnereden or discourses on love (,Schule der Minne' [School of Love], Streitgespräch zweier Frauen über die Minne' [A Dispute between Two Women about Love], and ,Des Minners Anklagen' [The Lover's Complaint]). 1 I will argue that the texts in this manuscript work in concert to create and explore a late medieval formation of masculine identity that, following the historian Ruth Mazo Karras, 2 I will call the chivalric youth, which in the manuscript is contrasted with adult manhood in the poetic narratives and in one of the manuscript's remarkable illuminations. The work of Sarah Westphal and other scholars has established a precedent for understanding medieval compilation manuscripts as being deliberately created anthologies, as it were, of texts that were carefully selected and arranged by scribal editors (perhaps for authors, patrons, or 1 2
The best discussion to date of this manuscript's codicology is Sarah Westphal: Textual Poetics of CTerman Manuscripts 1300-1500. Columbia, S.C. 1993, pp. 120-125. Ruth Mazo Karras: From Boys to Men. Formations of Masculinity in Late Medieval Europe. Philadelphia 2003.
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Ληη Mane Rasmussen
potential readers) in a textual environment characterized not by scarcity but by plenitude. Texts were at times selected and compiled according to genre, but often selection principles were thematic, with texts from different genres being arranged in such a way as to establish thematic amplification, or dialogue, or debate. In her study from 1993, Westphal names and traces these textual assemblages, which she calls constellations: „Constellations are a stable association of texts of two (or possibly more) genres in many manuscripts. [...] Constellation types represent a specifically medieval way of organizing the archive of literary texts that is, in turn, closely associated with material aspects of book production". 3 One of the most prevalent constellation types uncovered and studied by Westphal is what she calls the ,minne constellation', fixed associations of texts that discuss and elaborate notions of love. While many of the texts in minne constellations „tend to be more demanding in style" and „take an earnest view of courtly love or courtly marriage", 4 Westphal also shows that minne constellations have a firm typological profile. Mären are combined with Minnereden in groups of about four to eight texts. This constellation type defies modern critical judgement that courdy and fabliau-type texts were antithetical. They demonstrate, instead, the general compatibility between the erotic plots of the Mären and the topic of courtly love. 5
One of the manuscripts studied by Westphal is Berlin, Ms. germ. oct. 186, which she considers to be one long minne constellation, a conclusion with which I agree. As such, Ms. germ. oct. 186 exemplifies the chivalric literature that was so popular in the late Middle Ages in northern Europe and that, in Karras's words, „affected the ideals, interests, mentalities, and aspirations, if not actual behavior, of the knightly class [and] worked to reconcile several sets of competing ideals: romantic love, gentility, knightly prowess, and piety". 6 This study goes beyond Westphal's foundational work on the minne constellation, which itself signals throughout an awareness of gender as a category of analysis but does not undertake a sustained inquiry into the way gender works in these texts. Here I explore Ms. germ. oct. 186 as a chivalric minne constellation that develops and elaborates specific, late medieval representations of masculinity. First, a definition of masculinity is in order. According to Karras, ,„masculinity' does not refer to the male body, whose biological and anatomical features remain relatively constant among different men and over time, but rather to the meanings that society puts on a person with a male 3 4 5 6
Westphal (note 1), p. 104. Ibid., p. 10. Ibid., p. 104. Karras (note 2), p. 26.
Masculinity and the Minnerede
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body, which do change over time". 7 The sociologist Robert Connell says similarly that „masculinities are configurations of practice structured by gender relations. They are inherently historical and their making and remaking is a political process affecting the balance of interests in society [...]".8 In her study of formations of masculinity in late medieval Europe, Karras focuses on young manhood in three medieval walks of life: knighthood, the university, and the workshop. Karras discusses late medieval knightly masculinity as one set of medieval ideals about masculinity that emphasized social status, physical aggression, and the complex ideology of chivalry, a network of virtues that may have included some or all of the following: „skill in arms, bravery, loyalty, piety, chastity, humility, love and courtly accomplishment". 9 Her chapter on knightly masculinity develops at length the tension between military prowess, which one might also call „expertise in the use of violence", and the ideal of „gentility and courtliness". 10 Yet Karras touches only incidentally on what is the most salient characteristic of youthful knighthood in Ms. germ. oct. 186, the knight's mobility. Further, the model of the chivalric youth represented in Ms. germ. oct. 186 focuses exclusively on gentility, courtliness, and love service to women. The successful deployment of violence by young men, which in most of Karras's fictional and historical sources is crucial to knighthood, is conspicuously absent from this manuscript. Violence in this manuscript is by contrast deployed by the adult, married males who appear in the texts as antagonists and threats to the young men. These portrayals of masculinity become apparent when looking at the texts compiled in Ms. germ. oct. 186 in the order in which the manuscript presents them. The compilation opens with the Minnerede ,Schule der
7 8
9 10
Ibid., p. 3. Robert Connell: Masculinities. Cambridge 1995, p. 44. Studies of medieval notions of masculinity include studies of male homosexuality; see John Boswell: Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago 1980; Bernd-Ulrich Hergemöller: Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. Hamburg 1998; Mark D. Jordan: The Invention of Sodomy in Christian Theology. Chicago 1997; Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland 14001600. Chicago 2003. More recently, heteronormative formations of masculinity have been studied in essay collections: Clare A. Lees (ed.): Medieval Masculinities: Regarding Men in the Middle Ages. Minneapolis 1994 (Medieval Cultures 7); Jacqueline Murray (ed.): Conflicted Identities and Multiple Masculinities. Men in the Medieval West. New York 1999; Jeffrey Jerome Cohen and Bonnie Wheeler (eds.): Becoming Male in the Middle Ages. New York 1997. Karras (note 2), p. 24. Ibid., p. 25.
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Minne', 11 extant in ten manuscripts and characterized by a number of typical Minnerede features. The male narrator journeys through a wooded landscape, meeting on his way, one by one, six female personifications, each identified with a color, who instruct him in the art of courdy love. These figures are Dame Brown, whose name is ,Keep Silent Forever' (Swich jummermer)·, Dame Green, or ,Beginning of Happiness' (J^rauden anegeyn)·, Dame White, or ,Hope instead of Sorrow' (Höpen vor truren)·, Dame Red, or ,Love Ignited' (Leite entzünde)·, Dame Blue, or ,Doubt Nevermore' (Twiuele nummer nicht)·, and the final personification, Dame Black, who is never named. The female personifications are genteel, courdy, well spoken, and engaged in a number of learned and courdy pursuits: Dame Brown is versed in the secrets of plants; Dame White sits and paints, and after reading her lesson out loud to the narrator in the form of a letter shows him a book she has illuminated herself; Dame Red is a fine rider, and so on. Their names allude to the lessons they teach the narrator regarding courdy love. The text reaches a preliminary conclusion when Dame Blue (Dame Doubt Nevermore) receives the narator into her house or palace, and fetes and rewards him with gifts that symbolize his mastery of love: she dresses him in blue clothing, places him on a throne, gives him a scepter to hold, and calls him emperor, all symbolic transactions that underscore and support the teaching she articulates in words. However, the primarily logocentric world of the Minnerede temporarily breaks down when Dame Black enters the picture, for she relies (at first) on nonverbal communication for instruction, and her actions overturn and invert all of the courdy and genteel practices, gifts, and words that the narrator has hitherto received. Dame Black knocks over the throne, beats the narrator, binds him, throws him into a dungeon, and tortures and torments him so badly that he screams in pain. And as the narrator sits there, beaten, bound, and suffering, Dame Black begins torturing him verbally by presenting a series of negative judgments about his beloved: she talks too much, she misbehaves, she can't dance, she is untrue, she will never reward him, and so on. Clearly, Dame Black is testing the narrator, who remains steadfast and is liberated by her at the end of the poem. 12 In fact, because of the way the manuscript is bound, the folio 11
12
Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25), no. 433; Wilhelm Seelmann: Farbendeutung. In: Niederdeutsches Jahrbuch 8 (1882), pp. 73-85. Because Dame Black is never named, her identity is a question. If black is understood as the color of anger or rage (as in humoral theory), then she is Dame Anger. If, however, one pays less attention to her color and more to her activities, then her work in a forge might be related to numerous personifications of Dame Nature as a smith who forges new human beings (cf. Barbara Newman: God and the Goddesses. Vision, Poetry, and Belief iii the Middle Ages. Phüadelphia 2002, pp. 97-105). This would make the final scene of
Masculinity and the Minnerede
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upon which the last lines of this Minnerede appear is separated from the rest of the poem, appearing at the very end of the entire manuscript. The fictional universe of this text is genteel and courtly, replete with good manners, fine breeding, and discretion (Dame Black being the exception who proves the rule), and abounding in many forms of appropriate courtly knowledge, most notably the knowledge which the narrator seeks, instruction in the art of courtiy love. Some specifics about the representation of masculinity can also be discerned. The male narrator is mobile, and this mobility contrasts with the spatial fixedness of the female personifications. The narrator moves through this fictional world, traversing its entire territory, while the female personifications are confined to separate realms within it. Yet the narrator is incapable of navigating this world on his own, for he is apparently ignorant both of its geography and of its inhabitants. The female personifications act as guides, and as hosts or facilitators. Holding his hand, they lead him to the place where their sphere or realm touches that of the next female personification, where responsibility for the narrator passes from one female personification to another. The exception to this rule is provided by the transition from Dame Blue to Dame Black, who do not interact, so that Dame Black's physical assault on the narrator daydreaming on his throne comes as a total surprise. The female personifications are knowledgeable, but they are fixed in place and cannot pass over the boundaries between their spheres. The narrator is ignorant, and although he can move from one realm to another and across the boundaries, he cannot do so alone. Nor can he initiate a conversation with a female personification, and so he is dependent on their knowledge and indeed on their goodwill, not just toward him but more importantly toward one another. Once he has been passed on from one female personification to the next, the new personification delivers a mini-lecture on love, which the narrator submissively and passively receives. Throughout his manners are impeccable and he is well spoken. The narrator is mobile, curious, and courteous, but at the same time he is ignorant, dependent, and lacking in initiative, even passive, a condition that is literalized by the treatment he receives at the hands of Dame Black, who ties him up. As will become apparent, these attributes are all constructed in Ms. germ. oct. 186 as being characteristic of youthful knighthood.
the narrative into a kind of,birth' scene, in which the new lover is born through his testing (forging).
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Ann Marie
Rasmussen
The second text in the manuscript complilation is also a Minnerede·. Streitgespräch zweier Frauen über die Minne', 13 again a widely transmitted Minnerede, extant in nine manuscripts and featuring an eavesdropping male narrator. 14 The narrator is hiding behind a tree, eavesdropping on two disputing, nameless female figures, who are not presented as personifications. The women stake out opposing positions that are closely aligned with their experience: the maiden who has a beloved argues that it is better to love, while the maiden who has no beloved argues that living without a beloved is more rewarding. ,She who has a beloved' concedes that her opponent's arguments are more convincing but asserts that nevertheless she will not give up her beloved. At the end of the poem, the narrator steps out from behind the tree, but rather than entering into their discussion or alluding to it, as eavesdroppers generally do in related texts, he claims to be lost and asks for directions. In essential ways, the imagined universe and the poetics of,Schule der Minne' and Streitgespräch' are the same. Both texts are set in the springtime, in wooded landscapes, and presuppose a courtly milieu. Both are structured around the repeated, generic motif of two women conversing or one woman lecturing while a wandering male narrator looks on and listens. Although the women in .Streitgespräch' are not personifications, they share so many features with the female personifications in ,Schule der Minne' - they are knowledgeable, well spoken, genteel, yet featureless - that they seem to have been woven from the same cloth as Dames Brown, Green, White, Red, and Blue. Even their names, such as die onlieb (The Loveless One), are reminiscent of the female personifications. As Westphal puts it: „The positions they [the female speakers] represent imply a radical abstraction akin to allegory". 15 There is nothing here that contradicts or amends the emerging profile of the chivalric youth. This narrator, too, is on a quest for knowledge, although he uses subterfuge (eavesdropping) to gain it. His mobility is implied by his exit. He is young and unformed and in search of ,the right way', not just literally within the story but also figuratively in the sense that he wishes to learn the right way to love. His eavesdropping has shown him that one of the dangers of courtly love is that there are women who will lead a man on and in the end refuse him, the scenerio that will be enacted in the next story,,Frauentreue'. 13
14 15
Carl Haltaus (ed.): Liederbuch der Clara Hätzlerin. Quedlinburg/Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8). Neudruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966, no. II 9; Brandis (note 11), no. 401. See Ann Marie Rasmussen: Gendered Knowledge and Eavesdropping in the Late Medieval German Minnerede. In: Speculum 77 (2002), pp. 1168-1194. Westphal (note 1), p. 124.
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Masculinity and the Minnerede
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re 1: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186, fol. 20v: Naked figure behind curtain
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Ann Marie Ikasmussen
The first illumination in Ms. germ. oct. 186 appears where Streitgespräch' ends at folio 20v, and it supports these suppositions about the form of masculinity being elaborated in this manuscript [see figure l]. 16 The line drawing shows a naked figure grasping and apparendy peering out from behind an elaborately folded curtain, which is draped over a rod suspended above the figure's head. The figure is male, though this identification is complicated by the fact that a small rectangle corresponding to the figure's genital area has been carefully snipped out of the manuscript. Yet the short curly brown hair (which is a typical male hair style from the second half of the fifteenth century) and the nippleless, breasdess chest indicate masculinity, while the beardless face indicates youth. What the curtain and the youth have to do with one another remains a question, but interpreting the image in light of the preceding text suggests that the image shows us a voyeur-eavesdropper, representing the narrator's quest for knowledge and instruction as curiosity. The figure's nakedness poses a further conundrum, 17 but perhaps the white, smooth, hairless body suggests, above all, curiosity, noble status, and youth. The two Minnereden that make up the first twenty folios of Ms. germ, oct. 186 are now followed by two Mären, , Frauen treue' and ,Die treue Magd', which again take up roughly twenty folios. The youthful male protagonists of these two stories come to very different ends: in ,Frauentreue' the young, lovelorn knight dies, while in ,Die treue Magd' the wandering scholar has sex with his hostess. A short Minnegleichnis about roses separates them. This text functions, according to Westphal, as a kind of bridge between the stories, for its comparison between the closed and open roses could be suggestively expanded to the sexually restrained and sexually active wives of ,Frauentreue' and ,Die treue Magd'. 18 The two stories also present the reader with interesting elaborations of the manuscript's representations of masculinity because they introduce adult male characters who act as antagonists and foils to the youthful protagonists. The protagonist in the highly abbreviated version of ,Frauentreue' in this compilation, 19 a knight who excels in the service of women, is driven by the notions of courdy love and love service elaborated in the foregoing 16
17
18 19
It remains to be seen whether the images are contemporaneous with the manuscript, planned as a part of it, added later, made by the scribe who copied the texts, or produced by one or more other hands. In figure three, the written text overlaps the top of the drawing. See Valentin Groebner: Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum ,Trachtenbuch' eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), pp. 323-358, p. 329f. Westphal (note 1), p. 123. Kurt Burchardt: Das mittelhochdeutsche Gedicht von der ,Frauentreue'. Diss. Berlin 1910.
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Minnereden. Arriving in a strange town, this wandering knight asks a town dweller (borget) where he might espy the most beautiful women. Eager to help, the borger arranges to meet the knight in front of the church door the next day, where the knight sees and is immediately smitten by a gorgeous woman, who turns out to be none other than the town dweller's wife. de borger sprach, deme ntter tu eya welker duckeytpv nu de alder sconste vrauwe wesen by rechter tramve gy muten my der warheyt geyη yk weyt dat walgy hebt geseyn hir so manich t^art^e l i f f de rittertugede u f f des borgers i v i j f . (v. 103-110) [The town dweller said to the knight, ,ΑΙΙ right. Now, speak in good faith and say which of these women you find the most beautiful. You can tell me the truth for I know full well that you have seen many an elegant person here.' The knight pointed to the town dweller's wife.]
At this, the town dweller invites the knight to lodge in his home, where the knight pines ceaselessly for the virtuous wife, who is tormented by the knight's attentions, since she loves no one but her husband. The knight is then badly wounded in a single combat he has undertaken on her behalf, and although the wife wants nothing to do with him, her husband insists that she visit the sick man, who insists that she and she alone remove the iron spear tip that is embedded in his side.20 Some time later, the knight steals into the couple's bed chamber at night and awakens the wife. She is terrified and in seeking to lead the knight quietly out of the room, hugs him, but the embrace causes the knight to drop dead on the spot. She manages to get the corpse back into the proper bedroom, and in the morning it is discovered and carried to church. In the complete version of ,Frauentreue', the wife, recognizing too late the depth of the knight's devotion to her, collapses by his corpse and dies out of fidelity to him. Ms. germ. oct. 186 breaks off mid-couplet after the knight's corpse has been transferred from the bedchamber to the church, and so the wife's sacrifice of her life does not actually happen in this version, although the text's short prologue probably alludes to it: wot or to vrauden wart getalt myd truwen se dat gar vorgalt [whatever had been given to her (the wife) out of love, with loyalty she repaid it].
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This is the only scene involving physical intimacy in this text. The text makes clear the wife's reaction to the knight's demand that she pull the spear tip from his body; she is said to turn red with shame, and is able to carry out the act only because her maid urges her to do so.
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Ann Marie
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The knight is the only youthful figure in the entire manuscript to deploy violence, and on one level he is singularly unsuccessful, for he dies. But what is of greater interest here is the presence of another male figure, the borger or town dweller, who can be construed as the agent of the intrigue that drives the story. He directs the knight's attention to his wife, he brings the knight home to lodge, he insists that his wife minister to the knight. He is directive and controlling. In comparison to the husband, the knight is passive, long-suffering, and emotionally overwrought, yet similar to the foregoing narrators in his youthfulness, earnestness, and chivalric longings. Karras reminds us that in the late Middle Ages marriage was widely regarded as the mark of entry into adulthood for men.21 As a married man, the borger is a head of household and has attained full adult status, thus creating a powerful contrast to the wandering youthful knight whose mastery of the tenets of courtly love (exactly as set forth in the opening Minnereden) results in his undoing. Yet even though the knight and the married town dweller (merchant? craftsman?) represent different socioeconomic classes, the ideology of courtly love provides an agonistic link between them. According to Karras, „one core feature of medieval masculinity [...] is the need to prove oneself in competition with other men and to dominate others".22 Such a need to dominate and to compete structures the relationship between the two men in a rivalry that focuses on the wife and that is given form through the ideology of courtly love, which is enacted by the knight and thus creates the wife's value as a beautiful, virtuous woman. That is to say, the wife's value, which is controlled by the husband, is created by the knight's steadfast desire for her, a desire that the husband sets in motion and fuels, dismissing his wife's objections. The wife's beauty and virtue are made meaningful for both men through the knight's chivalric devotion to her, and the husband can dominate the knight by keeping before his eyes the woman whom he, the husband, controls. (Because the end of the story is missing, the wife's death and the husband's brief lament need not concern us here.) This is the first representation of a mature, adult masculinity in the manuscript, and the adult, married, domineering male town dweller is presented as an antagonist to the wandering, friendless, chivalric, lovesick, not-quite-adult knight. The youthful male protagonist of the comic, erotic story ,Die treue Magd'23 introduces yet another male profession into the manuscript compilation, that of the wandering scholar-cleric. The trusting nature and 21 22 23
Karras (note 2), pp. 9-11. Ibid, p. 10. Friedrich Heinrich von der Hagen (ed.): Gesamtabenteuer. 3 vols. Stuttgart 1850. Reprint Darmstadt 1961, no. 42, vol. 1, pp. 315-331.
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sweet good looks of this mobile, youthful fellow earn him the affection of the lady with whom he seeks lodging, and who, in the absence of her husband, joins him in bed. Early in the morning, however, the lady's husband and his two brothers unexpectedly return home. Inspired by Saint Gertrud, who is the young scholar's protectress, the wife's loyal maid sets fire to the barn, thus distracting the husband and brothers long enough for the student to make his getaway. The scholar belongs to a different profession than the wandering knight, yet this difference does not modify but rather amplifies the profile of youthful masculinity being elaborated in Ms. germ. oct. 186. Like the other chivalric youths, the scholar is mobile, curious yet naive, trusting, dependent, and passive — it is the wife who pursues him, not the other way around. As in ,Frauentreue', adult, married men appear as a danger and a threat to the protagonist (and indeed to the wife). What this Märe adds to the mix of texts in Ms. germ. oct. 186 is to clearly articulate the trait of the youth's desirability. As Westphal comments, „This triumvirate of women who cooperate to control and contain the danger of erotic adventure is balanced by the three men, the husband and his two brothers, who pose the threat. The student is in the middle, the object of interest for both triads". 24 The youth is an „object of interest", as Westphal puts it, to both the male and the female characters in this story. This suggests that we ponder the ways beyond erotic interest in which the chivalric youth is desirable in the other texts so far discussed. If Dames Brown, Green, White, Red, and Blue in ,Schule der Minne' could be imagined as desiring anything, then perhaps it would be the perfect pupil they find in the narrator, who is a willing and receptive student of their teachings. Driven by anger and aggression, Dame Black finds m the narrator the perfect object upon which to unleash her fury. The wandering knight is an object of intense interest to the borger-husband in ,Frauentreue', since the knight's devotion to the borger's wife increases her value and by extension his reputation. The next, roughly twenty-folio sequence in the manuscript compilation is filled by a single Minnerede, ,Des Minners Anklagen', 25 which is the only unicum in the manuscript. It features three female personifications, Dame Love, Dame Beauty, and Dame Constancy, who take turns disputing with one another, with the narrator, and with the narrator's beloved, who also enters into the text, at first angrily rejecting the narrator, then accepting him into her service, only to be berated in turn by Dame Constancy, who finally relents in her admonitions. One notes that a certain 24 25
Westphal (note 1), p. 122. Seelmann (note 11); Brandis (note 11), no. 457.
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amount of scorn, mockery, and rebuke is heaped upon the narrator by the personifications and by his beloved, all of which he endures steadfastly. The Minnerede closes with the narrator's praise of the virtue of constancy. Perhaps because the text begins midstream (a folio appears to be missing), there is no opening that might have established a setting. The most abstract of all the rhymed couplet texts in this manuscript, ,Des Minners Anklagen' returns to the chivalric values of love explored in the first two Minnereden and in ,Frauentreue', and elaborates them again in a strict format of disputation, emphasizing the didactic nature of the love discourse. 26 ,Des Minners Anklagen' is a serious text, and its earnest tone contrasts startlingly with the illustration that appears on the same folio as its closing lines, an illustration that highlights the manuscript's focus on constructions of masculinity and puts into visual form the notion of the chivalric youth being an „object of interest" to both women and men. Folio 66r shows an old knight pursuing a young knight in what appears to be a game of,catch me if you can' [see figure 2]. We see a bearded man with a receding hairline and red cheeks and dressed in mi-parte, riding what appears to be a hobby horse and carrying some kind of paddlestick. He is pursuing a naked male figure who is equipped with the identical implements and whose hair and body are similar to the youthful naked figure on folio 20v. The old man's clothing indicate his status as a knight; his beard, receding hairline, and red cheeks indicate his age. The implements may well be familiar tools used to teach jousting. Here, they are being used for ,horseplay' in both the literal meaning (the figures pretend to ride) and figurative meaning (physical play) of the word. Whether or not a homoerotic interest is implied in this image is open to debate, but clearly the desirability and youthfulness of the male narrator - his homosocial attractiveness - are given visual form through the depiction of this chase. A short and typical courtly love poem attributed to the poet Regenbogen (fl. around 1300) follows, and it is accompanied by a final illustration on folio 67v: a formal drawing featuring the heads of two unsmiling, smooth-skinned humans, each wearing an elaborately draped headdress that seems to follow the Italian fashion, each facing one another [see figure 3]. I am not sure whether these heads show two men or a man and a woman; the long curly hair that peeks out from the headdress of one provides no help, since such hairstyles are known for medieval men. What can be said for certain is that the faces are somber and earnest, marking a
26
When we recall that the dispute is a defining characteristic of the medieval clerical culture to which the wandering scholar in ,Die treue Magd' belongs, then we might posit more linkages across professions than are immediately visible.
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radically different emotional tone than the horseplay shown just one folio earlier. New sets of interest and desire that are congruent with the foregoing texts crystalize around the figure of the chivalric youth in the final text of the manuscript, the romance ,Flos unde Blankflos',2^ a Low German version of the Pan-European ,bestseller' about the child-lovers Floire and Blanchefleur. The story's protagonist, the Spanish, heathen prince Flos, has loved since childhood Blankflos, a Christian girl of noble origins whose mother is a slave attendant to the Spanish queen. This reciprocated love is perceived by the Spanish king (whose militant masculinity is enacted in the raid that opens the text in which Blankflos's father is killed and mother is made captive) as a threat to his dynastic aims. After a series of ruses fail that have been designed by the Spanish king and queen to alter Flos's devotion, they have her sold as a slave and tell Flos that she has died. Flos's suicide attempt forces them to tell him the truth, at which point he sets off in search of Blankflos, at last finding her in the tower harem of the Emir of Babylon, where after a series of successful tricks he manages to join her, and they are discovered in bed together by the Emir. A trial scene, in which the lovers demonstrate their devotion, is followed by an execution scene, in which the young lovers vie to be chosen to die in exchange for the life of the other. These demonstrations of fearless and undying love, enacted before the entire court, convince the Emir to pardon Flos and Blankflos, to marry them to one another, and to take Blankflos's loyal companion, Clarissa, as his wife. This story complicates the notion of the chivalric youth by giving him family, specifically, a mother and father, whose expectations and actions drive the story's plot.28 The dangerous, powerful adult males - in this story the Spanish king, Flos's father, and the Emir - are again present, and in this story they repeatedly torment Flos and threaten his life. Moreover, they are politically powerful figures, whose will to control and dominate extends far beyond Prince Flos to encompass all their subjects. As a father, the Spanish king has a stake in Flos's future, that is to say, in his marriage to a politically suitable partner. Familial responsibility and dynastic concerns overlap, and for the sake of love Flos rejects them all. Flos wins his Blankflos in the end, and it is striking that he does so not by deeds of arms but by persuading, bargaining, and trading. His youthful fidelity, his judicious use of gifts, and refined manners all augment the 27 28
Stephan Waetzoldt: Flos unde Blankflos. Bremen 1880 (Niederdeutsche Denkmäler 3). The mothers of the two protagonists play important roles as well, thus introducing the only depiction of maternality in the manuscript. On the German Floire/Blanchefleur texts see Katharina Altpeter-Jones: Trafficking in Goods and Women. Love and Economics in Konrad Fleck's Flore und Blanscheflür. Diss. Durham 2003.
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image of the chivalric youth. They contrast strongly in this story with a construction of mature, politically powerful masculinity as aggressive and bellicose. The object of Flos's desire is Blankflos, a desire that is fully reciprocated. The total reciprocity and unity of this kind of love - so passionately longed for in ,Frauentreue' and so steadfastly sought after as knowledge in ,Schule der Minne' and ,Des Minners Anklagen' - is given physical form in the representations of the lovers' physical appearance. The story asserts that they look so alike that even complete strangers comment upon it, as in the following remark, which can stand for many: twe so gelik ik nergen weit (v. 666: Never before have I known two people so alike). The Emir's discovery of Flos and Blankflos in bed together is complicated by the fact that even those gathered by the bedside cannot tell which of the sleeping pair is the woman and which the man: Do sprak de kemener altohant: 'Here, dat is mi unbekant, unde witle dat nemen up minen lift ik en weit nicht, welk de man is idder dat wif. (v. 1197-1200) [Then the chamberlain spoke up, | ,Loid, I don't know | and I swear by my life, I I can't tell which of them is the man and which the woman.]
How can this be? The text deploys concepts of male and female yet it would appear that the bodies of the two lovers are interchangeably identical. Other versions of the story help out the reader by noting that Flos is beardless. This recalls to mind the hairless, smooth body of the naked youth in two previous illuminations. It is in fact not easy for the modern reader to decide whether or not the youths in figures 1 and 2 discussed above are men or women, boys or girls, and in this sense these illuminations provide a fitting template for imagining the identically beautiful bodies of Flos and Blankflos. It seems clear that, following the recent work of James A. Schultz, the bodies of Flos and Blankflos are not sexed bodies as we would understand them (i.e., divided by physical characteristics into the categories of male and female), for their bodies are perceived by all who see them as being identical. 29 As Schultz suggests, it makes more sense to think of these bodies as being identical because they are aristocratic, courtly, young, not-yet-reproductive bodies: smooth, white, hairless, unmarked by physical labor and deprivation, fashioned poetically to literally body forth a chivalric ideology of love. What does clearly distinguish Flos and Blankflos from one another as male and female even at 29
James A. Schultz: Bodies That Don't Matter. Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried's Tristan. In: Karma Lochrie, Peggy McCracken, and James A. Schultz (eds.): Constructing Medieval Sexuality. Minneapolis 1997 (Medieval Cultures 11), pp. 91-110.
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this stage of life is, again, the opposition of mobility versus fixity. Blankflos is a household servant in Spain and is imprisoned in a tower in Babylon. Her mobility, like that of her mother, is never free but is rather the result of male violence or coercion. She does not move; she is moved. This marks her as female. Flos, on the other hand, moves freely through the world, and this freedom of movement, this mobility, marks him as male. I return now to one of the questions with which this essay opened: What do the Minnereden contribute to this manuscript's concerns? Because it is difficult to talk about gender without at least alluding to femininity as well, an answer can begin with examining how the Minnereden in Ms. germ, oct. 186 participate in the creation of femininity. In a very basic but profound way, the Minnereden are responsible for the fact that in the entire manuscript the female figures, whether personifications or characters in the stories, outnumber the male figures. The three Minnereden feature in total three male and twelve female figures, and because the Mären and the romance show parity in the number of male and female characters, the Minnereden determine that female figures predominate overall. In the manuscript compilation, the world in which the chivalric youth matures abounds with women, whether they are imagined as personifications or lovers, servants or mothers, and his relationships with them are intense and complex. Further, in the poetic universe of these texts, only women can be either ,real' (i.e., imagined as characters in a narrative) or ,abstract' (i.e., imagined as standing for a concept). Nor are the lines between the female abstractions and the female characters strongly drawn, as was already noted for Streitgespräch'. Like the female personifications, the servant Clarissa in ,Flos und Blankflos' has mastered the art of allegorical speech: Ga wi in de kameren din dar such ik eine blomen fin, de duchte mi so schone wesen, diner sorge soltu mal genesen; de sulve blome is also gedan se maket di diner sorgen an (v. 1005-1010). [Let's go into your chamber, and there I will seek out a fine flower, one that is, methinks, so beautiful that you will recover from your sorrow, for it is made in such a way that it will cure you of your sorrow.]
And even the wife in ,Frauentreue' seems in some ways like a personification of fidelity who has wandered unwittingly out of a discourse and into a narrative. All of this raises fascinating questions about the gendering of
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representational practices in the poetics of late medieval German literature that cannot be further explored here.3" In terms of discussing masculinity, the Minnereden establish and explore the world of feelings and emotions for the chivalric youth. The personifications break love down into component parts, defining and explaining its stages as they are named. They build, expand, and populate an inner world of precise yet contradictory emotions. The Minnereden, then, provide a kind of proto-psychology of love of a specific kind, courtly or chivalric love. This augmentation and expansion of an emotional world complements the Mären and the romance, which translate this psychology of courtly love into narratives that argue that such love can have powerful effects in the world. The psychology of courtly love explored in the Minnereden is, of course, deeply conventional, but emotions can be understood as cultural conventions that must be learned and shared in order to be legible not only to oneself but also to others. In this sense, the Minnereden promise to the right kind of youth - the idealized youthful knight in this manuscript — instruction in inhabiting and talking about a particular kind of inner life that is shown throughout all of the stories in the manuscript to be appropriate to the youth's station, his status, and his stage of life. The Minnereden emphasize that young men learn about this world from women, and only from women (even if they are personifications), who are never shown learning about love, but always as having deep knowledge of it. And it is important to note that all of the Minnereden in this manuscript dramatize and emphasize disputation, contradiction, and anger. Their psychology of courtly love is not that of easily harmonized feelings and emotions, but rather one of constandy changing emotions. In an inner, emotional world that is characterized by change and contradiction, the youthful chivalric lover is taught one primary thing: psychological stability is reached by holding fast to a single, beloved object. The emphasis on physical prowess and aggression in the construction of youthful knightly masculinity that Karras documents repeatedly in her study is, quite simply, absent in Ms. germ. oct. 186. The story of Flos and Blankflos does take as its theme the disconnect between the ideology of courdy love and the ordinary, late medieval upper-class politics of marriage alliances, but other important aspects of the clash between the reali30
For examples of excellent scholarship being done on this topic, see Newman (note 12) and Kathryn Starkey: Das unfeste Geschlecht. Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gastes. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 99-138.
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ties of late medieval warfare and the ideals of single combat and of love are missing. Even the death of the youthful knight in ,Frauentreue' as a result of single combat fought for love remains entirely within the Active universe of chivalric love ideals. Like the didactic literature of knighthood of the later Middle Ages, Ms. germ. oct. 186 „emphasizes the social aspect generally [...] at the expense of the military". 31 The chivalric youth represented in Ms. germ. oct. 186 is represented as being dependent, trusting, even clever at times (Flos; the narrator of ,Des Minners Anklagen") and desirable. This manuscript compilation explores the receptive and positive aspects of youthful, chivalric masculine identity formation and contrasts this ideal with a model of adult masculinity that is violent, domineering, or threatening. Characteristic of the construction of youthful knighthood is mobility and curiosity, not violence, which is associated exclusively with adult males. All of this suggests that Ms. germ. oct. 186 envisions youthful knighthood as a stage of life that is an attribute of a particular estate or class.32 Although there are similarities between this medieval notion of a youthful stage of life and our modern notion of adolescence being a biologically determined life phase, the most salient difference is that in the medieval world, or at any rate in this manuscript compilation, this stage of life is clearly marked as an attribute of class. The Minnereden of Berlin, Ms. germ. oct. 186, which are dominated by female personifications, expand on and deepen the positive qualities of the youth's trusting inexperience and desirability. The Minnereden suggest that late medieval, northern European chivalric youth culture included a cultural model for the knowledge of emotions, which in modern terms we might call a specific historical and cultural form of masculine subjectivity. Finally, the representations of masculinity and femininity in Ms. germ. oct. 186 suggest that the male youth's passivity and desirability do not create a confusion in his gender identity, that is to say, that these traits are not understood as being primarily feminine. Rather, the texts in this manuscript compilation suggest that the most important determinant of gender identity is mobility, with masculinity being associated with freedom of movement through space and femininity being associated with spatial fixity. In this regard, the model chivalric youth of Ms. germ. oct. 186, who travels freely through allegorical and narrative landscapes, is fully masculine.33 31 32 33
Karras (note 2), p. 45. See James A. Schultz: The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages. Philadelphia 1995. Warm thanks to Ludger Lieb and Otto Neudeck for inviting me to participate in the stimulating conference at which this paper was originally presented, and to Jacob Klingner for his kindness in helping me make fast and efficient use of the materials in the manu-
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Appendix Contents of Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ, oct. 186, the so-called ,Livländische Sammlung'. fol. lr—14v fol. 15r—20v fol. 20v fol. 21r-25v fol. 26v fol. 26ν end fol. 27r-42v fol. 43r-66r fol. 66r end
fol. 67r-67v fol. 67v fol. 68v-101v fol. 102r
,Schule der Minne' (Brandls 433) Streitgespräch zweier Frauen über die Minne' (Brandis 401) Scriptum in livonia per manus Johannis 1431 DRAWING: Naked figure behind curtain ,Frauentreue' (Fischer 38) 38-line Minnegleichnis of two roses on a branch scHptum in liuonia per manus Johannis post creationem mundi 7231. In liuonia schriptum est. ,Die treue Magd' (Fischer 80) ,Des Mnners Anklagen' (Brandis 457) scriptum in liuonia. DRAWING: Bearded, clothed man with a receding hairline who is riding a hobby horse and carrying a paddlestick pursues a naked figure carrying the identical implements. Regenbogen,,Liebeslied' (M.S.H. 3,452) DRAWING: Facing heads of two human figures in elaborately draped headdress, ,Flos unde Blankflos' ,Schule der Minne' (Brandis 433) (last page bound out of order)
script department of the Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. I am grateful to the students at Duke University in the fall semester, 2004, Kristen Dachler, Chris Kennedy, LaTarsha Pough, Julius Powell, Gabriela Wurmitzer, and Chunjie Zhang, who gamely translated ,Schule der Minne' into English as a class exercise and who enthusiastically debated the purpose and meaning of female personifications in medieval literature.
WOLFGANG ACHNITZ
Heilige Minne Trivialisierung und Sakralisierung höfischer Liebe im späten Mittelalter
I.
Zu Beginn des Hochmittelalters ist in der volkssprachigen Dichtung mit einem Mal die Liebe Gegenstand der Darstellung. Lyrische wie erzählende Texte thematisieren erstmals Gefühle, wie sie Männer und Frauen füreinander empfinden. Als ursächlich dafür werden in der Mediävistik diverse sozial- und geistesgeschichtliche Faktoren diskutiert: Man verweist auf eine ,Renaissance des zwölften Jahrhunderts', auf ein ,Erwachen des Selbst' unter dem Einfluß der Schule von Chartres, allgemein auf den Einfluß des Klerus, 1 aber auch auf eine erhöhte Mobilität der Menschen unter sich verändernden Gesellschaftsstrukturen und Rechtsnormen. Flingewiesen wird außerdem auf verschiedene, zum Beispiel technische, Innovationen auf ganz verschiedenen Gebieten. Den Beschreibungen solcher Tendenzen am Ende des frühen Mittelalters ist gemeinsam, daß sie den Beginn der Veränderungen um das Jahr 1050 herum konstatieren. Ansonsten aber stehen alle Erklärungsansätze relativ unvermittelt neben-
1
Vgl. Ursula Peters: Höfische Liebe. Ein Forschungsproblem der Mentalitätsgeschichte. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 1 13; C. Stephen Jaeger: The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courdy Ideals 939-1210. Philadelphia 1985; ders.: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Hellwig-Wagnitz. Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen 167); ders.: Ennobling Love. In Search of a lost Sensibility. Philadelphia 1999 (University of Pennsylvania Press): Timo Reuvekamp-Felber: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln - Weimar - Wien 2003 (Kölner Germanistische Studien N.F. 4).
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einander, so daß eine monokausale Begründung dieser Prozesse wenig plausibel erscheint und wohl eher von kumulativen Effekten auszugehen ist, die sich bald nach 1150 auch in der deutschen Literatur niederschlagen. Während in der frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung und noch im ersten weltlichen Versroman die Beziehung zwischen Mann und Frau lediglich als Mittel zum Zweck, zum Zweck der Fortpflanzung sowie des kontinuierlichen Fortbestehens von Herrschaftsansprüchen, inszeniert ist, ändert sich dies in der Mitte des zwölften Jahrhunderts. So gehen König Rother und die namenlose Tochter des Königs Konstantin von Konstantinopel noch in ihren Rollen als Vertreter und Vertreterin des west- bzw. oströmischen Reiches auf. Von Liebe ist an keiner Stelle der Brautwerbungsgeschichte die Rede; die Worte minne und minnen fallen eher zufällig und wie nebenbei in formelhafter Rede (etwa in den v. 96, 769, 2037, 4824 u. ö.) und beziehen sich dann unter anderem auf das Verhältnis des Menschen zu Gott (v. 5165).2 Doch nur eine Generation später erachtet es Heinrich von Veldeke bereits für sinnvoll, das Liebesempfinden seiner Protagonistin in einem Dialog zwischen Mutter und Tochter darzulegen, und selbst das Nibelungenlied zeichnet, zumindest in der Fassung C, ein Bild der Liebe zwischen Kriemhild und Siegfried, das dem Stoff offensichtlich nicht eigen ist. Zugleich entstehen in diesen Jahrzehnten gleich zwei deutschsprachige Bearbeitungen des französischen Tristanstoffs. Seit etwa 1170 wird so die Liebe, in den verschiedenen Spielarten der Hohen Minne, rasch zum zentralen Thema des höfischen Versromans und dann auch der Lyrik in Form des Minnesangs. Da nicht anzunehmen ist, daß die Menschen vor dem hohen Mittelalter solche Empfindungen nicht hatten, erscheint es sinnvoll, die Ursachen für das Entstehen eines literarischen Diskurses über die Liebe zwischen Mann und Frau nicht primär in außerliterarischen Veränderungen des 11. und 12. Jahrhunderts zu suchen, sondern nach den zugrundehegenden Bedingungen und Entwicklungen innerhalb des literarischen Systems zu fragen. Zu diesem Zweck liegen den folgenden Überlegungen systemtheoretische Vorstellungen zugrunde: Niklas Luhmann zufolge ist Liebe nicht nur eine subjektive Empfindung eines Menschen gegenüber einem anderen Menschen, sondern zugleich ein symbolischer Code, der Menschen befähigt, erfolgreich zu kommunizieren. 3 Sein systemtheoretischer Ansatz verfolgt gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse seit
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Rother. Hg. von Jan de Vries. Nachdruck der Ausgabe Heidelberg 1922, Heidelberg 5 1974 (Germanische Bibliothek 11,39). Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [zuerst 1982], Frankfurt/M. 7 2003, S. 9.
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der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, doch lassen sich zu seinen Beobachtungen Analogien in sehr viel älteren Systemen beschreiben. So bedient sich die adlige Hofgesellschaft schon seit dem frühen Mittelalter mit dem literarischen Sprechen über Liebe eines symbolisch generierten Kommunikationsmediums', das es ermöglichen soll, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen [...] Erfolg zu verschaffen. .Erfolg verschaffen' heißt dabei: die Aufnahmebereitschaft für Kommunikationen so zu erhöhen, daß die Kommunikation gewagt werden kann und nicht von vornherein als hoffnungslos unterlassen wird. Das Überwinden dieser Unwahrscheinlichkeitsschwelle ist vor allem deshalb wichtig, weil es anders nicht zur Bildung sozialer Systeme kommen kann; denn soziale Systeme kommen nur durch Kommunikation zustande. 4
Uber das Prinzip der Hohen Minne, insbesondere über die auf seiner Basis entwickelten Kommunikations- und Handlungsregeln, wie sie in der höfischen Dichtung entfaltet werden, konstituiert sich demnach auch die mittelalterliche literarische Elite als soziales System. Für die Liebeslyrik und speziell für das Phänomen der höfischen Liebe scheint, so Luhmann, das Hauptanliegen gewesen zu sein, als ,nicht vulgär' auftreten zu können. Deshalb die Marginalisierung des Bezugs auf Sinnlichkeit, deshalb Idealisierung, Sublimierung, gebundene Form und erst dagegen sich profilierende Freizügigkeiten. Die viel diskutierte Frage, ob die Minnesänger auf Erfüllung hoffen konnten oder nicht, betrifft ein durchaus nebensächliches Problem. Die Hauptsache war: sich im Zuge der zunehmenden Aristokratisierung der Schichtungsstruktur des Mittelalters von der vulgären, gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse distanzieren zu können. In all dem ist der Bezug auf Schichtung - und kaum der Bezug auf Individualität bestimmend, und dafür genügte eine Verlagerung der Liebe ins Ideale, ins Unwahrscheinliche, ins nur durch besondere Verdienste (nicht durch Ehe!) Erreichbare. 5
Neben dem Minnesang und dem höfischen Roman, deren Vorhandensein Luhmann mit seinem Ansatz soziologisch zu erklären versucht, existiert dabei von Anfang an auch eine praxisorientierte - man kann vielleicht sagen: nichtfiktionale Sachliteratur - zum Thema Mnne. Frühe Beispiele sind ,Der heimliche Bote' und Hartmanns ,Klage' sowie insgesamt die von Ingeborg Glier als ,Vorläufer' der Minnereden bezeichneten Werke: ,Das (zweite) Büchlein', Strickers ,Frauenehre' oder Ulrichs von Liechtenstein ,Frauenbuch'. 6 Redenartige Kleinformen sind erstmals aus dem Umfeld des Strickers überliefert; die Gattung der Minnereden nimmt dann ihren Aufschwung genau in den Jahrzehnten, in denen die Produktion des spät4 5 6
Ebd., S. 21. Ebd., S. 50f. Ingeborg Glier: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (MTU 34), S. 16-53.
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höfischen Minnesangs und des Versromans nachläßt. In poetologisch veränderter Form, konkreter und weniger artifiziell, werden in nichtsangbaren Reimpaarversen die gleichen Themen behandelt wie in der späten Lyrik, und wie das Minnelied des 13. Jahrhunderts sind auch die Minnereden beeinflußt vom klassischen Minnesang, von lateinischer, französischer und niederländischer Liebesdichtung, von hoch- und späthöfischer Versepik sowie von moraldidaktischem und geistlichem Schrifttum. Der nicht an mittelalterlichen Gesellschaften entwickelte, kommunikations- und systemtheoretische Ansatz Luhmanns ist bereits früher mit großem Erkenntnisgewinn auf Minnereden und -erzählungen übertragen worden. Peter Strohschneider und Ludger Lieb haben an mehreren Beispielen aufgezeigt, wie in diesen Texten programmatisch die Teilnahme an bestimmten Formen kommunikativen Handelns in der adligen Gesellschaft zum Thema erhoben wird: Innerhalb der sich seit Anfang des 14. Jahrhunderts entwickelnden Gattung werden intensive Diskurse über „kommunikative Grenzziehungen" geführt, die für das „Sprechen über die Liebe offenbar konstitutiv waren." 7 Die Vorstellung, daß das literarische Sprechen über Liebe nach den Regeln eines symbolischen Codes funktioniert, mit dem sich eine elitäre Gesellschaftsschicht gegenüber anderen Gesellschaftsschichten abgrenzt, eignet sich auch dazu, gesellschaftliche Funktionen literarischer Minnekonzeptionen im späten Mittelalter zu beschreiben. Ausgangspunkt dafür soll die gelegentlich anzutreffende Meinung sein, daß das in der hochmittelalterlichen Dichtung entwickelte Konzept der Hohen Minne in der spätmittelalterlichen Literatur, 8 und insbesondere in den massenhaft angefertigten Minnereden des 14. und 15. Jahrhunderts, konventionalisiert und trivialisiert werde. Der Begriff des Trivialen impliziert dabei fehlende ästhetische Qualität, stereotype Formelhaftigkeit und weite Verbreitung. Nach einer historisierenden Definition von Helmut Kreutzer aus dem Jahr 1967 ist Trivialliteratur aber auch jener Literaturkomplex, den die „dominierenden Geschmacks träger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren." 9 Demnach gäbe es ein — im folgenden näher zu bestimmendes — Gefalle zwischen den artifiziellen 7
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9
Ludger Lieb und Peter Strohschneider: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. von Gert Melville und Peter von Moos. Köln - Weimar - Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275-305, hier S. 304. Vgl. zum Beispiel Helmut Melzer: Trivialisierungstendenzen im Volksbuch. Ein Vergleich der Volksbücher ,Tristrant und Isalde', ,Wigoleis' und ,Wilhelm von Österreich' mit den mittelhochdeutschen Epen. Hildesheim - New York 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken B3). Helmut Kreutzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. In: DVjs 41 (1967), S. 173-191.
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Minneliedern des 12. und 13. und den schlichteren Minnereden des 14. und 15. Jahrhunderts. Mit dem Begriff ,Trivialliteratur', wie er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts abwertend in der Literaturwissenschaft gebraucht wird, 10 verbinden sich zwar Merkmale, die sich nur in Form eines Anachronismus mit Minnereden in Verbindung bringen lassen: So kann von Massenliteratur, die sich an eine breite (womöglich bürgerliche) Gesellschaftsschicht als Leser wendet, für den spätmittelalterlichen Literaturbetrieb natürlich nicht die Rede sein; ebensowenig spielen Konsumorientiertheit oder Kapitalisierungstendenzen eine Rolle.11 Anderes hingegen wird zu prüfen sein: Trivialliteratur gilt als einfache, ästhetisch minderwertige Gebrauchsliteratur mit hohem dialogischen Anteil, typenhaft dargestellten Figuren und unter Verwendung konstanter Grundmuster und Erzählschablonen; die Helden erleben ihre Abenteuer stellvertretend für die Rezipienten, oftmals in einer idealisierten Traumwelt, die sich trotz aller Klischees durch einen gewissen Realitätsanspruch auszeichnet. Trivialliteratur mit ihrem garantierten Happy-End stellt insofern eine Ersatzbefriedigung dar, die sich ideologiekonform und konservativ populären Themen wie Liebe, Tod und Abenteuer zuwendet. An einem Beispiel soll im folgenden untersucht werden, welche dieser Merkmale auf die Minnereden zutreffen, inwiefern also von einer Trivialisierung der Minne in der spätmittelalterlichen Liebesdichtung die Rede sein kann. Es soll darum gehen, die literarhistorische Position der Minnerede zwischen der Minnekanzone des hohen Mittelalters und der Trivialliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts zu beschreiben.
II. Bei dem ausgewählten Beispiel handelt es sich um eine Minnerede, die unikal im Manuskript Μ 67 der Sächsischen Landesbibliothek — Staatsund Universitätsbibliothek Dresden überliefert ist. Die Sammelhandschrift im Folioformat (305 χ 210 mm) setzt sich zusammen aus einer ersten Hälfte mit ,Der welsche Gast' des Thomasin von Zerclaere (fol. 6— 10
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Zur Begriffsgeschichte zusammenfassend Peter Nusser: Trivialliteratur. In: RLW 3 (2003), S. 691—695; grundlegend auch Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970; Jochen Schultze-Sasse: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. München 1971; Trivialliteratur. Hg. von Annamaria Rucktäschel und Hans Dieter Zimmermann. München 1976; Peter Nusser: Trivialliteratur. 2. Aufl. Stuttgart 1992. Vgl. dazu schon Francis B. Brevart: Spätmittelalterliche Trivialliteratur. Methodologische Überlegungen zu ihrer Bestimmung und Erforschung. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 224 (1987), S. 14—33.
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Abbildung 1: Die nackte Frau Minne. ,Wer nicht weiß, was rechte Liebe sei' (Nordbayern/Ostfranken [Nürnberg?], um 1450/70): Sächsische Landesbibliothek — Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, Manuskript Μ 67, Vorsatzblätter.
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102) und einer zweiten Hälfte mit Ulrich Boners ,Edelstein' (fol. 103145), Reden, Bispein und Verserzählungen des Teichners (fol. 146—209, u. a. fol. 173—175 ,Lehre von den Frauen1) und anschließenden Auszügen aus Freidanks .Bescheidenheit' (fol. 209-212: Bezzenberger Nr. 24, u. a. fol. 209 Von aller hande weihen) und aus Hugos von Trimberg ,Renner' unter der Uberschrift Hern freidangs gedieht von dem hof vnd von der weit lauf (fol. 212—225). Der Codex enthält umfangreiche Illustrationszyklen zu ,Der welsche Gast' sowie zu ,Der Edelstein' und wurde von zwei Schreibern (Hand 1 fol. 6-102, Hand 2 fol. 103-225) im nordbairischostfränkischen Raum, vielleicht in Nürnberg, zwischen 1450 und 1470 angefertigt. 12 Eine dritte Hand hat auf zwei ursprünglich frei gebliebenen Vorsatzblättern des nachträglich zusammengebundenen Codex einen Text eingetragen, der unter dem Titel ,Wer nicht weiß, was rechte Liebe sei' bekannt ist.13 Die gattungsgemäß anonyme Minnerede füllt die aufgeschlagene Doppelseite fol. 2v/3r, auf die sie quer zur üblichen Leserichtung eingetragen ist (siehe Abb. I). 14 Auf den ersten Blick zerfällt der Text rings um
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Franz Schnorr von Carolsfeld: Katalog der Handschriften der sächsischen Landesbibliothek zu Dresden. Bd. 2. Leipzig 1883. Nachdruck Dresden 1981, S. 467f. Mit der Handschrift beschäftigt sich die einschlägige Forschung zu den in ihr überlieferten Werken, vgl. insbesondere: Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Bd. 1. Hg. von Heinrich Niewöhner. Berlin 1953 (DTM 44), S. LXXXVIII-XC; Bernhard Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter. Göppingen 1977 (GAG 223), S. 323-326; Berndt Jäger: Durch reimen gute lere geben. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Freidanks im Spätmittelalter. Göppingen 1978 (GAG 238), S. 123-128, 138-142 und 217-221; Judith Arlene DeSpain Davidson: A critical Analysis of the textual Contamination of Thomasin von Zerclasre's ,Der welsche Gast'. Its Genesis and Significance. Diss. Massachusetts 1979; Ulrike Bodemann und Gerd Dicke: Grundzüge einer Uberlieferungs- und Textgeschichte von Boners .Edelstein'. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 424-468, hier S. 430; Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des ,Welschen Gastes' von Thomasin von Zerclaere. Hg. von Horst Wenzel und Christina Lechtermann. Köln - Weimar - Wien 2002 (Pictura et Poesis 15), S. 258f. und passim.
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Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25), S. 137f., Nr. 360. Vgl. Jürgen Schulz-Grobert: ,Wer nicht weiß, was rechte Liebe sei'. In: 2 VL 10 (1999), Sp. 878. Der Text ist mit kleinen Versehen ediert bei Gustav Ehrismann: Wer nicht weiß, was rechte Lieb sei. In: Germania 36 (1891), S. 319-320 (75 V.), und wird im Anhang zu diesem Beitrag neu abgedruckt (S. 164). Es handelt sich um eine Mischform aus Minnere^ (dazu Hans-Joachim Ziegeler: Redeß. In: RLW 3 [2003], S. 235-237) und Umneer^ählung (zum Unterschied vgl. Wolfgang Achnitz: Kur,ι rede von guoten minnen/ diu guotet guoten sinnen. Überlegungen zur Binnendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden'. In: Jahrbuch der Oswald von WolkensteinGesellschaft 12 [2000/2001], S. 137-149), insofern es sich einerseits um einen erörternden Text handelt, dessen Verben überwiegend im Präsens stehen, der aber andererseits durch Rede und Gegenrede eine narrative Struktur erhält. Neben den rein erörternden und den
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die Federzeichnung einer Figur in vier Teile. In den Ecken der aufgeschlagenen Doppelseite finden sich Spalten mit abgesetzten Reimpaarversen im Umfang zwischen 15 und 23 Versen. Diese Anordnung scheint auf den ersten Blick die Möglichkeit zu eröffnen, die vier inhaltlich und syntaktisch abgeschlossenen Blöcke in beliebiger Reihenfolge zu lesen oder sie gar als selbständige Stücke aufzufassen. Jedoch sind die letzte Zeile der Spalte oben rechts und die erste Zeile der Spalte unten rechts durch Paarreim miteinander verbunden (v. 60f.: versaget: vertaget), so daß die Leserichtung vorgegeben ist: von oben links über unten links nach oben rechts und unten rechts (insgesamt 75 Verse). Das Layout der Buchseiten orientiert sich demnach nicht am Inhalt des Textes, sondern hat rein pragmatische Gründe: Die Textspalten gruppieren sich rund um die Federzeichnung, die in jedem Fall zuerst vorhanden war. Die ersten beiden Zeilen oben links erweisen sich somit als Proömium nicht nur der ersten Spalte, sondern des gesamten Textes: Wer nicht ways% rechte lieb sey, \ der les^e dy geschafft (v. lf.). Der kurze Vorspruch präsentiert den Text als schriftlich konzipiert und als zum Lesen bestimmt; das Wort geschnjft weist auf einen literarischen Anspruch hin. Schon in den ersten beiden Zeilen erfüllt der Text daneben programmatisch die Gattungskonventionen: Die Minnerede will darin unterweisen, was richtige oder wahre Liebe sei. Dies geschieht durch eine Art Selbstvorstellung der rechten liebe, die sich in der dritten Zeile als sprechendes Ich zu erkennen gibt und offensichtlich mit der Figur zu identifizieren ist, die über beide Blätter hinweg dargestellt ist. Nach dem Vorbild des Gesprächs zwischen dem Ich-Erzähler und Cupido in Johanns von Konstanz ,Minnelehre' 15 benennt die personifizierte Liebe im folgenden einige ihrer körperlichen Merkmale und Eigenschaften, um sie anschließend in ihrer Funktion auszulegen: Die wahre Liebe ist nackt, blind, mit zwei Flügeln, aber ohne Arme und Hände. In dieser Gestalt hält sie Adelige, Stadtbürger, Bauern, Mönche und andere Kleriker, alle Menschen also, zum Narren (v. 7-12). Die Erläuterungen zu diesen vier Merkmalen präsentiert der nachfolgende Text unterteilt in vier artickel (v. 13): Die Verse 15-23 -widmen sich dem Attribut der Blindheit, der Abschnitt unten links (v. 24—39) wird mit der rhetorischen Frage eingeleitet, warum sich die Liebe ihrer Nacktheit nicht schämt, der Abschnitt oben rechts ist zunächst den Flügeln gewidmet (v. 40-51) und setzt nach
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erzählenden Texten liegt mit diesem dialogischen Typ eine dritte Bauform der sogenannten ,Minnereden' vor. Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung hg. von Dietrich Huschenbett. Wiesbaden 2002, v. 238-598. Vgl. dazu die Besprechung von Wolfgang Achnitz in: ZfdA 134 (2005), S. 99-109.
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einer freigebliebenen Zeile mit einer weiteren rhetorischen Frage fort, die auf das Fehlen der Hände und Arme zielt (v. 52-63?). Wo der letzte dieser vier Abschnitte aufhört, ist unklar, denn am Ende des Textes findet ein unmarkierter Sprecherwechsel statt, wie er mehrfach in Minnereden zu beobachten ist (s. u.). Die Attribute ,Blindheit' und ,Nacktheit' sowie die Flügel als Symbol für Schnelligkeit und das Fehlen der Arme und Hände als Ausdruck einer gewissen Freiwilligkeit des Liebesvollzugs werden aus jeweils zwei oder drei im minnedidaktischen Schrifttum weit verbreiteten Merksätzen oder Sentenzen hergeleitet: - Blindheit: Recht lieb kain äugen hot, wann stettew treu) aust(_ herben gat (v. 17f.); wa sich daζ herc^ gesellet an, als paid ein vngeschaffer man mit rechter lieb erwerben kan, Da^jm die frawen werden als holt Als dem schönen vmb silber vnd vmb go It (v. 19-23). - Nacktheit: wann lieb ψ lieb haymlich kumpt, die lieb bayden schemmen benympt (v. 26-31); Man sol froliehen greiffen dar an, Der man die frawen vnd die fraw den man (v. 28f.); verc^agt man tut selten gut, Greyfffrölich dar an, doch bis behut (v. 30f.). - Schnelligkeit: wie ferr %way lieb von ein ander sind, Ir hereζ sol doch sein als der wint, mit stürm sammen sullen fliegen (v. 42-44); vnd het der habich geschmeckt da^ as^ Er het sich ^γ beissen gesat^t (v. 48£); Wer nwn mit eren nach eren ring, es ist nit wunder ob im geling (v. 50£). - Freiwilligkeit: ein %artewfraw wolgemut, objr jr lieb in üben tut mit an greiffen oder mit mynnen spil, sy sol sich gen jm nicht weren vil (v. 54—57); vil dick da% von tieb geschickt, da^Jrawen kain vntrew weren nicht da%_ siejrem lieb versaget (v. 58-60); ganc\ lieb macht manichen man ver^ait, Der doch on %weifel ist ein gesell klug wann mynnen vonjn bayden wil haben fug (v. 61-63).
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Sicher ließen sich einige dieser Merksprüche in der Literatur des Mittelalters nachweisen; ähnliche Formulierungen finden sich zum Beispiel schon bei Frauenlob (s. u.) oder bei Johann von Konstanz. Es handelt sich jedoch nicht um Zitate und wohl nicht einmal um intertextuelle Verweise, denn was diese Sprüche besagen, ist verbreitetes Allgemeingut, und die Art und Weise ihrer Vertextung läßt eher darauf schließen, daß es der anonyme Autor dieser Minnerede selbst war, der es in Verse gekleidet hat. Was die geschnfft in Vers 6 als vntterschayde ausgibt, sind die stereotypen Bausteine einer konventionellen Minnerede, die der höchsten Autorität in Liebesfragen, Frau Minne persönlich, in den Mund gelegt werden. Die vorgetragene Lehre richtet sich an jemanden, der im Text vertraut als geselle angesprochen (v. 4 und 45) und immer wieder zum Zuhören aufgefordert wird: mit vntterschayde nym eben ware (ν. 6), Nym diser artickel eben war (v. 13), Nwn merck (v. 16, 32 und 41), da^ solt du bey disser red vernemen (v. 25), da\ sol du also verstan (v. 53). Frau Minne erteilt Ratschläge und gibt vor, ojfenberlich Wissen preiszugeben (v. 41), das nicht jedermann zugänglich ist. Ihre Unterweisungen richten sich nicht unmittelbar an den Rezipienten, sondern an ihr fiktives Gegenüber, von dem es heißt, daß es nicht betrogen worden wäre, wenn es diese Lehren der wahren Liebe schon früher gekannt hätte: Gesell, wer ich dir rechtgewest bekant, \ So werst du betrogen so gare (v. 4f.). Wie von Lieb und Strohschneider für die Gattung beschrieben, reflektiert demnach auch diese Minnerede ,kommunikative Grenzziehungen', indem sie ein Mitglied der Gesellschaft vorstellt, das nicht am Diskurs über die Liebe partizipiert. Die geschnfft selbst ist Bestandteil eines Initiationsritus, insofern sie kodifiziert, wie Frau Minne höchstpersönlich einen jungen Mann in die Geheimnisse der Liebe einführt. Den konkreten Anlaß für die Unterweisung liefert das Versagen des Mannes im Werben um eine bestimmte Frau, das ihm wie in den Versen 4f. (s. o.) auch in den Versen 33—39 und 45-49 vorgeworfen wird: Du bist bey deiner lieb gewest ein %age, Dann bettest du geworben frölichen, vil leicht bet sie geweret dich, 35 dai^ sag ich dirfür ware, da^gelawb mir mäniclich %ware. mit \uchten hast du verdinet hasse, da von hut dich hjn für dester bas^e. [...]
gesell, du hast dich lassen betrigen, 45 du hast gelockt ein steten Sperber und bist gewest der myηne ein werber, vnd het der habich geschmeckt da%_ as% Er het sich beissen gesat^t.
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Wie der Protagonist in Johanns von Konstanz ,Minnelehre' ist der Angesprochene seiner Dame zu zaghaft gegenübergetreten und deshalb erfolglos geblieben. 16 Mit unangemessener, weil übertriebener Wohlerzogenheit hat er die Mißgunst seiner Dame auf sich gezogen (v. 38) und erhält nun den Rat, beim nächsten Mal gutgelaunt (v. 28, 31 und 34: frölichert) und weniger zaghaft vorzugehen, weil die Frau für den Fall, daß sie ihn wahrhaft liebt, nur darauf wartet; wenn dies jedoch nicht der Fall ist, erkenne man es daran, daß sie einem Nebenbuhler das gewährt, was sie ihrem Freund versagt: vil dick da% von lieb geschieht, da^Jrawen kain vntrew weren nicht da%_ siejrem lieb versaget (v. 58f.).
Die Argumentations struktur der Minnerede läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die reble liebe ist dadurch definiert, daß die umworbene Dame steete triuwe im Herzen trägt; ist das Herz im Spiel, braucht ein Mann nicht zaghaft zu werben, denn in diesem Fall erhält er von seiner Dame, was er sich wünscht, und zwei Liebende können dann auch, wie es schon Frauenlob formulierte, ohne Scham nackt beieinander liegen: Fronwe, an dem bette sunder schäm 45 soltu bi liebem friunde sin. Ε£ wart nie vrouwen man so gram, tut sie im solche fuge schin, Ε£ mu^ ersenflen sinen mut. swa sich nu lieb gein liebe schämt, 50 da hat die minne nicht vol ir amt: schäm großer liebe unsanfte tut. Kein lieb sol schäm gein liebe han, da\ rate ich uf die triuwe min, So wirt in fröude kuntgetan 55 mit ganzer liebe sunder pin. Swa lieb gein liebe schäme hat, da enmag nicht rechter triuwe sin bi. lieb sol mit liebe wesen vri, snieman sehe, da% ist min ratP 60
Ist das Herz jedoch nicht involviert, handelt es sich also nicht um rehte liebe, dann verweigert die Dame entsprechend das Begehrte und ist untnuwe, indem sie sich, wie in der Dresdener Minnerede geschildert, mit ande16 17
Vgl. Johann von Konstanz,,Minnelehre' (Anm. 15), v. 1961-2032. Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. 2 Bde. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philolog.-hist. Klasse. 3. Folge 119/120), Nr. XIII,45f.
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ren Männern einläßt: Man darf dies wohl als Stellungnahme oder Kommentar zu der sehr viel indirekteren Liebeskonzeption des Minnesangs verstehen, nach der die Werbungsbemühungen des Mannes stets erfolglos bleiben. Während dort schon die Anfänge von dem Paradoxon bestimmt sind, daß es keine Liebe ohne Leid geben könne {fiep äne kit mac niht sin, MF 39,24), 18 besteht das wahrhaftige Liebesglück sowohl bei Frauenlob als auch in der Minnerede aus ganzer liebe sunder pin. Dem von Frau Minne belehrten Gegenüber der Minnerede ist der Zusammenhang zwischen %agheit und Mißerfolg am Ende deutlich: Sich um stcete tnuwe der Dame nicht gesorgt und ihre Bereitschaft zur Liebe nicht auf die Probe gestellt zu haben, erkennt er in Vers 68 als Fehler. Der Text verschränkt somit in jedem der vier artickelvier Ebenen miteinander: erstens die Auslegung der körperlichen Beschaffenheit der Frau Minne, zweitens eine allgemeine Unterweisung in Liebesfragen, drittens die individuelle Beratung im Fall der mißlungenen Werbung des angesprochenen Gegenübers und viertens die rituelle, an Schriftlichkeit gebundene Initiation eines jungen Mannes. Der in die Geheimnisse der Liebe Eingeweihte kommt am Ende des Textes selbst zu Wort (der Sprecherwechsel findet zwischen den Versen 61 und 66 statt, ohne daß der Ubergang präzise markiert wäre): Der Mann sieht ein, ein kint an der lere und deshalb stets erfolglos gewesen zu sein (v. 66f.), erhofft sich aber nach der Belehrung durch Frau Minne zukünftige Erlösung von seinem Leid (v. 74f.).
III. Der initiatorische Charakter des Geschriebenen setzt sich in der Materialität seiner Überlieferung fort. Durch die Plazierung der Minnerede in den vier Ecken des Doppelblattes wird der aufgeschlagene Codex selbst zu einem Gegenstand mit zeichenhaftem Charakter. Um den Text lesen zu können, muß man ihn in beide Hände nehmen und quer zur üblichen Leserichtung drehen. Öffnet man das Buch und dreht es in Leserichtung, tritt jedoch vor allem die nackte Figur dem Leser entgegen und nimmt ihn optisch gefangen. Die über 30 cm hohe Darstellung des Amor carnalis kommt erst auf diese Weise zur Geltung und wirkt dann sowohl erotisch als auch bedrohlich - ikonographisch zitiert scheint auf den ersten Blick der Topos von den Minnesklaven, die von der nackten Venus mit ausge-
18
MFMT, S. 66 (Dietmar von Eist).
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breiteten Armen bzw. Flügeln gefesselt werden (vgl. dazu die v. 10—12 und 64).19 Die Priorität und die Dominanz der Federzeichnung werden bestätigt durch alle Informationen, die das Doppelblatt über den Aufzeichnungsprozeß preisgibt: Zunächst sind die beiden leeren Blätter mit der Federzeichnung versehen worden; mit derselben Tinte und vermutlich von derselben Hand wurde anschließend der Text eingetragen. Die Farbe, mit der die Anfangsbuchstaben der Zeilen gerötelt worden sind, diente zuletzt auch dazu, Mund und Wangen der Frauenfigur sowie ihre Flügelspitzen rot auszumalen. 20 Der Eindruck, daß dem Urheber das Gesamtkunstwerk wichtiger war als der Text, scheint sich noch dadurch zu bestätigen, daß es sich bei dieser Minnerede wohl um ein Autograph handelt. So ist der Text an einigen Stellen ganz offensichtlich grammatisch und orthographisch fehlerhaft: In v. 5 fehlt vielleicht eine Negationspartikel, in v. 10 liegt mit wont vermutlich eine fehlerhafte Form von werden vor, in v. 11 muß es wohl manche statt manchen heißen, in v. 44 scheint das Pronomen zu fehlen, in v. 64 narre statt narren, in v. 65 so oder %uo statt ^ο (siehe dazu die Konjekturen von Ehrismann [Anm. 13]). Einige Male sind Schreibungen korrigiert worden: So wurde in v. 16 das r in merck über dem Wort nachgetragen, das η im Reimwort an (v. 19) ist als Korrektur aus einem bereits angefangenen Buchstaben entstanden, ebenso das / in wil (v. 6 3 ) , y und η in hyn (v. 39) sind aus i und m verbessert worden, das t in nicht (v. 57) scheint nachgetragen zu sein. Dazu passen Beobachtungen zur Metrik des Textes: Er beginnt mit reinen Reimen (v. 1—23), weist dann aber zunehmend Assonanz- und andere Halbreime auf wie scheme ·. vernemen (v. 24f.), kumt: benimt (v. 26f.), fröliehen : dich (v. 34f.), gestalt \ bekant (v. 40f.), as\\ gesat^t (v. 48f.), ringt: gelinge (v. 50f.) oder %eln \ gespiln (v. 71f.). Schließlich lösen sich die Reimstrukturen beinahe auf, wenn es am Ende der Verse 74f. und vri heißt. Den Versen 19—21 fehlt sogar ein Reimpartner, sofern nicht ein die Paarreimstrukturen zerstörender Dreireim vorliegt. Des weiteren sind die Verse 53f. in eine Zeile geschrieben worden, während nach Vers 50 eine Zeile leer blieb. Auch ist 19
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Vgl. dazu die Abbildungen im Anhang zu Erwin Panofsky: Der blinde Amor. In: ders.: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance [zuerst 1939], Aus dem Englischen übersetzt von Dieter Schwarz. Köln 1980, S. 153-202, und zu Norbert H. Ott: Minne oder amor carnalisi Zur Funktion der Minnesklaven-Darstellungen in mittelalterlicher Kunst. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 107-125. Durch einen während der Auslagerung im Krieg erlittenen Wasserschaden hat die rote Farbe am unteren bzw. linken Rand des Buches auf die jeweils gegenüberliegende Seite abgefärbt. So erklären sich auch die roten Flecken unter dem rechten Fuß der Figur, die auf den ersten Blick wie Blutstropfen wirken.
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der Versbau nur zu Beginn einigermaßen regelmäßig; zum Textende hin finden sich nicht nur immer häufiger überlange Verse, sondern auch solche, die gar keinen alternierenden Rhythmus mehr aufweisen. Aussagekräftig ist an diesem Befund nicht das (im Vergleich zu hochmittelalterlicher Literatur) niedrige Niveau des Versbaus. Die Abnahme der Qualität zum Textende hin spricht aber dafür, daß diese Minnerede im Dresdener Codex nicht einfach nur aufgezeichnet wurde, sondern daß sie während des Aufzeichnungsvorgangs überhaupt erst entstand. Somit hat sich allem Anschein nach ein früherer Besitzer des großformatigen, repräsentativ bebilderten ,Hausbuchs' mit moraldidaktischem und lebenspraktischem Inhalt auf freigebliebenen Vorsatzblättern selbst im Dichten versucht und seinen Bemühungen eine dilettantische Federzeichnung der personifizierten Minne vorangestellt. Wie bei zahlreichen anderen, vor allem außerhalb von Sammelhandschriften überlieferten Minnereden, handelt es sich offensichtlich auch bei diesem Text um eine spontan angefertigte Dichtung, scheinbar wenig geschickt zusammengesetzt aus den üblichen, allgemein verbreiteten Bausteinen und Motiven der Gattung. Aber handelt es sich deshalb um triviale Literatur? Textimmanent scheinen alle wichtigen Kriterien erfüllt zu sein: Die Rede bedient alle Gattungserwartungen, sie ist einfach und konventionell strukturiert, durch den Entwurf von Rede und Gegenrede nahezu ausschließlich dialogisch, inhaltlich und formal ohne besondere Raffinesse; die Figuren (Frau Minne und ein junger Mann) sind typenhaft, die Inhalte stereotyp. Als besondere Stilmittel sind lediglich die wiederholt eingesetzten rhetorischen Fragen und gelegentliche Apostrophen zu bemerken. Das Handwerkszeug, das zum Anfertigen einer solchen Minnerede nötig ist, kann man sich durch die Lektüre ähnlicher Texte aneignen. Für die überwiegend erzählenden Minnereden unter den Adhoc-Dichtungen ließe sich darüber hinaus durchaus behaupten, daß die Protagonisten in einer idealisierten Traumwelt agieren — Traum und Vision gehören neben dem Spaziergang zu den beliebtesten Einleitungssequenzen innerhalb der Gattung —, insofern erleben deren Helden ihre Abenteuer, zum Beispiel im Reich der personifizierten Minne, auch stellvertretend für den Rezipienten. Die rein erörternden Texte, die ,echten' Mnnereden also, sind noch dazu ausgesprochen wertkonservativ und insofern sicher ideologiekonform. Dies gilt selbst für das vorliegende Beispiel, auch wenn es in Abwendung von der eher platonischen Liebe des Minnesangs eine praxisorientiertere Minnekonzeption vorstellt. Selbst Merkmale wie ,Originalität', Innovation', ,Intertextualität' oder gar ,Metareflexion' (bis hin zu theoretischen Diskussionen über das Anfertigen von minnedidaktischen Texten), die in anderen Minnereden von einiger Relevanz sind und sich mit
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dem Attribut der Trivialität nicht vereinbaren lassen, spielen für den hier vorgestellten Text keine Rolle.
IV. In bezug auf die pragmatische, die kommunikative, gesellschaftliche und literaturgeschichtliche Funktion ist allerdings auch für diese Minnerede keines der Merkmale erfüllt, die sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive über neuzeitliche Trivialliteratur zusammentragen lassen. Für die Beschreibung der sozial- und kulturgeschichtlichen Leistung der Minnereden liefert ,Wer nicht weiß, was rechte Minne sei' vielmehr ein eindrucksvolles Beispiel, denn mit dem in der Dresdener Handschrift niedergeschriebenen Text versucht ein anonym gebliebener Autor, am spätmittelalterlichen Diskurs über Fragen der Minne teilzuhaben. Auch nach Beendigung der produktiven Phasen des Minnesangs und des höfischen Versromans, in denen der Diskurs über das Phänomen ,Liebe' in seiner ganzen Bandbreite im wesentlichen geführt worden ist, schließt sich eine elitäre, auch im 15. Jahrhundert noch immer ganz überwiegend adlige, Kommunikationsgemeinschaft weiterhin nach außen ab, indem sie durch die Fortführung des Diskurses in Minnereden und -erzählungen versucht, weiterhin exklusiv über Mttel und Fähigkeiten zu verfügen, die zur Teilnahme an diesem Diskurs befähigen. Und wie zuvor wird dieser Diskurs wesentlich von den Autoren der mittelalterlichen volkssprachigen Dichtung getragen und gesteuert. Anders als in Minnesang und Versroman werden jedoch in den Minnereden und -erzählungen des späteren Mittelalters diese kommunikativen Grenzziehungen jetzt selbst vorrangiger Gegenstand des Diskurses. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von dem seit Ovid und Andreas Capellanus konstant tradierten Wissen um die „Bedingungen der Minne auf die Frage ihrer erfolgreichen Kommunizierbarkeit, also auf die Voraussetzungen des Redens über die Minne": 21 Insofern liegt die These nahe, daß es in den [...] Texten weniger um dieses Wissen selbst gehe, als vielmehr um die Prinzipien seiner kommunikativen Aktualisierung, nicht also um das Wissen von der Liebe, sondern um das Wissen vom Sprechen über die Liebe sowie darum, dieses Sprechen über die Liebe heteronom begründeten Verfügungsinteressen zunächst einmal zu entziehen, wie sie zum Beispiel an die Ordnungen der Kirche, der Ehe, der Herrschaft anschließen könnten. 22
An Inhalten und Formen der deutschsprachigen Literatur seit dem 13. Jahrhundert läßt sich jedoch beobachten, daß das elitäre Wissen und die 21 22
Lieb und Strohschneider (Anm. 7), S. 282. Ebd., S. 304.
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Fähigkeit, die Regeln des Sprechens über dieses Wissen, den symbolischen Code, zu beherrschen, im späteren Mittelalter zunehmend ihren exklusiven Charakter verlieren. So ist beispielsweise das verstärkt festzustellende blüemen in den minnedidaktischen Werken Ausdruck der zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten aufblühenden Bemühungen, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Es manifestiert sich darin der Versuch ,dominierender Geschmacksträger' (Kreutzer), einfachere Formen der Minnerede durch erhöhten sprachlichen Aufwand ästhetisch zu diskriminieren: Auf dem weiteren Weg dieser literarischen Evolution entsteht der Meistergesang. Der hier vorgestellte Beispieltext demonstriert entsprechend die potentiell gegebene Möglichkeit für Außenstehende, durch affektive Teilhabe und durch das Erlernen des Codes die von einer Elite gesetzten kommunikativen Grenzen zu überwinden, denn jene Extravaganzen des Code, die eine Ausdifferenzierung einleiten und befördern, können nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft entworfen werden. Sie bleiben, wie Hochformen schlechthin, der Oberschicht, zunächst also dem Adel vorbehalten. Andererseits erzwingt die gesamtgesellschaftliche Evolution im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Systemdifferenzierung eine stärkere, möglichst weitgehende Inklusion aller Bevölkerungskreise in alle Funktionsbereiche. 23
So wenig, wie sich der junge Protagonist der Dresdener Minnerede innerhalb der elitären Kommunikationsgemeinschaft erfolgreich zu verhalten weiß, so unzulänglich sind die poetischen Möglichkeiten ihres unbekannten Autors. Wie sich der Protagonist Linderung aufgrund der Initiation durch Frau Minne erhofft, mag sich der vielleicht städtische Autor (Nürnberg?) durch die Verwendung des symbolischen Codes Aufnahme in eine elitäre Gemeinschaft versprochen haben. Diesem Zweck könnten auch schon der Erwerb und der Besitz des repräsentativen Buches mit Illustrationen zu Boners Fabeln und Thomasins ,Der welsche Gast' gedient haben. Aus der Mnnelehre in ,Der welsche Gast' (v. 1163-1706) mag sogar unmittelbar die Anregung zur Abfassung der Minnerede stammen, denn dort heißt es über die Liebe, wie häufig andernorts, daß sie blind sei und blind mache (v. 1197), und unmittelbar vorangehend fordert Thomasin darüber hinaus seine Rezipienten zu eigener sprachlicher und künstlerischer Kreativität auf: smer schrtben kan, der sol schriben; smer malen kan, der sol beliben ouch da mit; ein ieglicber sol 1095 tmn datζ er kan tuon ml. von dem gemalten bilde sint der gehöre und da% kint 23
Luhmann (Anm. 3), S. 54.
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gevreuwet oft: swer niht enkan versten swaζ ein biderb man 1100 an der schrift versten sol, dem si mit den bilden wol. d e r p f a f f e sehe die schrift an, so sol der ungelerte man diu bilde sehen, sit im niht 1105 diu schrift ^erkennen geschiht.2A
Der Versuch der Partizipation erfolgt im Fall der Dresdener Minnerede, wie schon das Layout der Buchseiten signalisiert, von den Rändern des literarischen Systems her und quer zu dessen Traditionen. Entsprechend gibt es keine Hinweise auf eine Abschrift oder auf eine sonstige Verbreitung des Textes. Doch vielleicht ist darin auch gar nicht seine intendierte Wirkung zu suchen: Die quasi-kultische Funktion des Geschriebenen erfüllte sich schon in der Niederschrift sowie in seiner unmittelbaren Präsenz als Zeichenfolge zwischen den Deckeln des Buches. Der Autor und Maler bediente sich zu diesem Zweck eines Funktionstyps aus dem Bereich der religiösen Praxis, dessen mediale Leistung immer schon in der Vermittlung des Unbegreiflichen und Unsichtbaren bestand. Die Komposition von Text und Bild im quer aufgeschlagenen Buch ist spätmittelalterlichen Frömmigkeits- oder Andachtsbildern vergleichbar, 25 insofern unter ,Andacht' einerseits eine innere Haltung mit der Hoffnung auf Linderung von Leid (Ablaß) und andererseits eine kommunikative Praxis der kontemplativen Betrachtung eines (nicht selten mit Text umgebenen) Bildes zu verstehen ist. Der Andacht ist stets das Moment der persönlichen Aneignung inhärent und die zentrale Funktion des Andachtsbildes ist es, 24
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Thomasin von Zerkliere: Der welsche Gast. Hg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Nachdruck der Ausgabe Quedlinburg Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 30). Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Zur Begrifflichkeit vgl. Berndt Hamm: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie. In: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 163-202. Allgemein zum Typus des Andachtsbildes Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion. 3. Aufl. Berlin 2000, S. 91-99; ders.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990; Erwin Panofsky: Imago Pietatis. Ein Beitrag zur Typengeschichte des,Schmerzenmannes' und der ,Maria Mediatrix'. In: FS Max J. Friedländer. Leipzig 1927, S. 261-308; Adolf Spamer: Das kleine Andachtsbild vom 14. bis zum 20. Jahrhundert. Nachdruck der Ausgabe von 1930. München 1980; Robert Suckale: Süddeutsche szenische Tafelbilder um 1420-1450. Erzählung im Spannungsfeld zwischen Kult- und Andachtsbild. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 11), S. 15-34; Karl Schade: Andachtsbild. Weimar 1996; Angelika Pürzer: Das Andachtsbild. Frömmigkeit im Wandel der Zeit. St. Ottilien 1998; Thomas Noll: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbilds im späten Mittelalter. In: ZfK 67 (2004), S. 297-328.
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IVolfgang Achnit~
Abb. 2: Stigmatisation des Heiligen Fran2iskus. Graduale des Johannes von Valkenburg (Köln 1299): UB Bonn, S 384, fol. 235v.
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eine als persönlich empfundene Gottesnähe zu fördern. Insbesondere der Typus des sogenannten Hausandachtsbildes besteht häufig aus Text-BildKombinationen in Form von Einblattdrucken oder kleinformatigen Druckgrafiken und dient durch seine dialogische Struktur als Mittel der persönlichen Erbauung, Meditation und Erinnerung als Vollzug des Glaubens in der Lebenspraxis. Frömmigkeits- oder Andachtsbilder sind insofern Ausdruck der lebendigen Hoffnung des Menschen auf den Beistand Gottes und der Heiligen in schwierigen Lebenssituationen, die schon allein durch ihren Besitz vor Leid, Krankheit und jähem Tod bewahren sowie auf Reisen und vor Unglück schützen sollen. Auch die Darstellung des Amor carnalis fordert zum Nachdenken auf und lädt zur Meditation ein aufgrund der irritierenden Anleihen bei einem ganz anderen ikonographischen Typus, der sich vor allem auf Frömmigkeits- bzw. Andachtsbildern findet: Die nackte Frauenfigur mit den ausgebreiteten, blutroten Flügeln und Wundmalen (Stigmata) an den Füßen weckt in zentralen Gestaltungsmerkmalen Assoziationen an den ikonographischen Typus der geflügelten Seraphim, wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Stigmatisierung des Heiligen Franziskus häufig ins Bild gesetzt werden (Abb. 2). Nach der Vision des Jesaja umschweben sechs-, später auch vier- und zweiflüglige Seraphim als Vermittler zwischen Gott und den Menschen lobpreisend den höchsten Thron. 26 Der Etymologie ihrer Bezeichnung zufolge handelt es sich um die in der Liebe Gottes brennenden Engel des ersten Chores; die ihrem Wesen entsprechende Farbe ist Rot als Widerschein der Liebe Gottes. 27 In der alttestamentüchen Beschreibung nach Jes 6,2 sind deutliche Parallelen zur blinden, geflügelten Venus mit Wundmalen auf den Füßen zu entdecken: „Jeder hatte sechs Flügel. Mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Gesicht, mit zweien bedeckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie."28 In der Dresdener Handschrift werden Attribute der Seraphim mit denen der Liebesgottheit verschmolzen, wobei das im Spätmittelalter mehrfach nachzuweisende Fehlen des zweiten und
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27
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Vgl. dazu Johannes Nikel: Die Lehre des Alten Testamentes über die Cherubim und Seraphim. Diss. Würzburg 1890; Philippe Faure: Vie et mort du seraphin de Saint Francois d'Assise. In: Revue Mabillon. Revue internationale d'histoire et de litteratures religieus. International Review for Ecclesiastical History and Literature, Nouvelle serie 62 (1990), S. 143-177. Vgl. dazu Heinrich und Margarethe Schmidt: Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst. Ein Führer zum Verständnis der Tier-, Engel- und Mariensymbolik. 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. München 1982, S. 167-170. Biblia Sacra. Iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robert Weber u. a. 2 Bde. Stuttgart 1969; Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Hg. von Diego Arenhoevel, Alfons Deissler und Anton Vögde. F r e i b u r g - B a s e l - W i e n 1968.
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dritten Flügelpaares die Darstellung einer unverhüllten, nackten Figur ermöglicht. Der gekreuzigte Seraph als Sinnbild Christi ist seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein Sonderthema innerhalb der Vitenszenen des Franziskus von Assisi. Diesem erschienen der Legende zufolge nach der Begegnung mit dem gekreuzigten Seraph auf dem Monte Alverna im Jahre 1224 an Händen und Füßen Wundmale der Nägel, wie er sie vorher an dem Gekreuzigten gesehen hatte.29 Die rechte Seite war wie von einer Lanze durchstochen und mit einer rötlichen Narbe umzogen.311 Auf einigen bildlichen Darstellungen ist dieses Stigmatisierungserlebnis mit Hilfe von Strahlen in Szene gesetzt, die von den Wundmalen des gekreuzigten Seraphs zu den frisch aufscheinenden Wundmalen des Heiligen reichen. Die Stigmata der personifizierten Minne, 31 die im Verbund mit den in blutroten Strahlen auslaufenden Flügelspitzen der Figur an die bei Bonaventura berichtete Stigmatisierung des heiligen Franziskus erinnern, sind „keine Wiederholung der Passion. Sie sind keine Wunden zum Tod, sondern Zeichen einer Liebe, die stärker ist als der Tod." 32 Auf dieselbe Weise wird ikonographisch gelegentlich der Einfluß der Venus auf die Minnetoren ins Bild gesetzt, zum Beispiel auf einem oberitalienischen Tablett vom Beginn des 15. Jahrhunderts, nur daß dort Augen, Mund und Herzen der Minnetoren durch Strahlen mit dem Schoß der nackten und geflügelten Venus verbunden sind.33 Eine solche Durchdringung der Ikonographie der männlichen oder weiblichen Liebesgottheit mit überlieferten sakralen Bild- und Vorstellungsmustern findet sich bereits in handschriftlichen Illustrationen des 13. Jahrhunderts: In den Miniaturen des allegorisch-erotischen Gedichts ,Li Romanz de la Poire' aus der Zeit um 1260/80 wird der „würdevolle Status des Minnegotts" ebenfalls durch den motivischen Rückgriff auf die Ikonographie der Seraphim unterstrichen (Abb. 3). Die Miniatur „stellt den Liebesgott majestätisch-frontal thronend über einem Paar dar. Während 29
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32 33
Vgl. dazu Chiara Frugoni: Ad imaginem et similitudinem nostrum. Der Heilige Franziskus und die Erfindung der Stigmata. In: Stigmata. Poetiken der Körperinschrift. Hg. von Bettine Menke und Barbara Vinken. München 2004, S. 77-112 (mit zahlreichen Abbildungen). Vgl. Hubert Schrade: Franz von Assisi und Giollo. Köln 1964, S. 108-114 und Abb. 19; Christoph Daxelmüller: Süße Nägel der Passion. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute. Düsseldorf 2001, S. 101-122 und Abb 18. „In der Geschichte der Stigmata [...] vollzog sich ein gender-Shifting - vom Beginn der Wundcrerscheinung am Körper des Franz von Assisi, über die weibliche Wundenmystik des Hochmittelalters und die Theatralisierung im Barock" (Bettine Menke: Nachträglichkeiten und Beglaubigungen. In: Stigmata [Anm. 29], S. 25-43, hier S. 32). Barbara Vinken: Via cruds. via amoris. In: Stigmata (Anm. 29), S. 11-23, hier S. 19. Abgebildet bei Eckard Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ,Ring'. Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), Abb. 50.
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notrceimmniimefr Abb. 3: Liebesgottheit als Seraphim. ,Li Romanz de la Poire' (Paris oder Picardie, um 1260): Bibliotheque Nationale Paris, Ms. fr. 2186, fol. 15.
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das Motiv des Faldistorium als repräsentative Sitzgelegenheit des Liebesgotts der zeitgenössischen Herrscherikonographie verpflichtet ist," wurde seine sechs flügelige Gestalt der Ikonographie der Seraphim entlehnt. „Dies ist im Gesamtzusammenhang einer Erotisierung und Profanisierung traditioneller sakraler Vorstellungsmuster zu werten, die sich im 13. Jahrhundert als Parallelentwicklung sowohl auf literarischer als auch auf bildkünstlerischer Ebene vollzog." 34 Im Gefolge dieser Entwicklung, und auch weil der Seraph mit dem gestürzten Luzifer identifiziert wird, können der Liebesgott und die Liebesgöttin auch als dämonisch-teuflische Wesen erscheinen. Es fällt schwer, im Rahmen dieses Deutungskontextes den Horizont einer Interpretation der Dresdner Minnezeichnung abzustecken. Der Text spielt durchaus auch auf geistliche Deutungsmuster an, indem er auf den paradoxen Zusammenhang zwischen Liebe und Leid hinweist. Am Ende klingt sogar die Differenz zwischen weltlicher Liebe und der Hoffnung auf Erlösung im ewigen Leben an: het ich ein newen rost, ich mit den gewin wol dar auf %elen, 70 Der mir worden ist von meiner liebesten gespilen. sie hat mich geeffet gar schone vnd gibt mir der welt lone; ye doch hoff ich der %eit sie macht mich alles leiden f r e j . 75
Das sich liebende Paar ist, so sehr es sich auch der Welt gegenüber verschließt, „nicht allein. Denn seine persönliche Intimität hat bei aller Weltabgeschlossenheit doch eine offene Grenze: Sie berührt sich mit der Sakralsphäre. Sie öffnet sich ihrer Natur nach zu dem Heiligen hin, das für alle da ist." 35 Für ein angemessenes Verständnis der Minnerede ist darüber hinaus jedoch das besondere Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild zu beachten. Maßgeblich ist der in der Text-Bild-Kombination gesuchte, persönliche Bezug des Dargestellten und Niedergeschriebenen zum Autor und zum Rezipienten, denn die in der Minnerede inszenierte Initiation eines Jünglings wiederholt sich im Vorgang der Bild- und Textproduktion und -rezeption. Durch das Einschreiben in den elitären Minnediskurs 34
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Markus Müller: Minnebilder. Französische Minnedarstellungen des 13. und 14. Jahrhunderts. Köln - Weimar - Wien 1996 (Pictura et Poesis 7), S. 182 mit Abb. 4 (Paris, Bibliotheque Nationale, Ms. fr. 2186, fol. 1, um 1260/1280); vgl. dort auch Abb. 112 (ebd., fol. 15) und 113 (New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 819, fol. 56, Ende 13. Jh.). Helmut Kuhn: Liebe. Geschichte eines Begriffs. München 1975, S. 20; vgl. dazu auch Alfred Karnein: Frauenliebe im wissenschaftlichen Diskurs des Mittelalters. Die Reaktion der Intellektuellen auf die Liebesliteratur der Höfe. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Hg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett und William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 14-26.
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beschwört der Verfasser die im Text angesprochene magische Kraft und die heilende Wirkung der Liebesgottheit, die insofern zur Heiligen stilisiert erscheint. Die durch die Profanisierung sakraler Muster entwickelte dialogische Spannung zwischen dem Liebenden und der nackten Frau Minne reicht schließlich in den Rezeptionsprozeß hinein: Durch das Ergreifen des Buches und den Nachvollzug des Dargestellten unterwirft sich nicht nur der Schreibende, sondern auch der Rezipient andächtig der Allmacht der Liebe. Wir hätten es dann wohl mit einer Art,Literatur von unten' oder vielleicht mit einer Mikrohistorie im Sinne Carlo Ginzburgs zu tun36 und die beschriebenen textinternen Merkmale von Trivialität wären tatsächlich Ausdruck eines gewissen Dilettantismus, ein Ergebnis mangelnder handwerklicher Fertigkeiten, die nur für den ,Hausgebrauch' ausreichen und gar nicht für eine öffentliche Verbreitung bestimmt waren, vergleichbar dem von Jacob Klingner in diesem Band untersuchten Autograph mit Minnereden aus dem Besitz des Hans Folz.37 Das heute in Dresden aufbewahrte Manuskript Μ 67 mit Bild und Minnerede war dem Besitzer und mutmaßlichem Urheber ein rituelles Kultobjekt.
V. Die rituelle Wiederholung des immer schon tausendfach Gesagten „vergegenwärtigt die Tradition, sie bindet die Vergangenheit in die Gegenwart" und läßt Autor und Rezipient „teilhaben an der Geltung dieser Tradition". 38 Die Vergegenwärtigung der Tradition durch die Beschwörung der heilenden Kraft der Minne lindert Liebesleid — darin spiegelt sich die affektive Seite der Liebe als Passion — und sie ermöglicht die Partizipation am literarischen System, indem sich sowohl der Autor als auch der Rezipient des symbolischen Codes bedienen — darin kommt die systembildende Kraft der Liebe zum Ausdruck. Während sowohl die affektgeleitete Liebe als auch die Verwendung von Sprache gewöhnlich und allgemein verbreitet sind, stellt die Kombination von beidem, das literarische Sprechen über die Liebe, einen Spezialdiskurs dar, der schon im hohen Mittelalter einer elitären Kommunikationsgemeinschaft vorbehalten blieb, die 36 37 38
Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 [zuerst 1976]. Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber. Berlin 1990. Vgl. dazu den Beitrag von Jacob Klingner in diesem Band, S. 91-118. Ludger Lieb: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. DFG-Symposion 2000. Hg. von Ursula Peters. Stuttgart - Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506-528, hier S. 513.
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sich zudem beständig um dessen Exklusivität bemühte. Das in der adligen Öffentlichkeit praktizierte Kommunizieren über Minne bewirkt jedoch ein Diffundieren der Inhalte und Formen des Diskurses über die Systemgrenzen hinweg nach außen, und es kommt infolgedessen zu solchen Effekten, die Luhmann ,Inklusionserfordernisse' nennt. Wer nicht weiß, was rechte Liebe ist, steht außerhalb des elitären Systems, und zunehmend mehr Außenstehende bemühen sich im späteren Mittelalter um Partizipation. Dies hängt unmittelbar zusammen mit einer kontinuierlichen Zunahme der Schreib- und Lesefähigkeit in der Bevölkerung sowie mit dem von Hugo Kuhn als ,Literatur-Explosion' bezeichneten, sprunghaften Anstieg der Verwendung von Schriftlichkeit in allen Lebensbereichen. 39 Da auch diese Entwicklungen letztlich durch Inklusionserfordernisse ausgelöst werden, bietet die Gattung der Minnereden ein ideales Feld, auf dem sich diese Prozesse studieren lassen. Nicht jeder kann im Mittelalter Minnereden schreiben, aber viele versuchen sich daran; vermutlich haben wir es zwischen dem späten 13. und dem späten 15. Jahrhundert mit insgesamt mehreren hundert Autoren zu tun.40 Das literarische Sprechen über Liebe ist in der deutschen Literatur des Mittelalters schon seit den Anfängen auch ein selbstreflexives Sprechen über das Dichten. Venus ist auch die Göttin der Dichtkunst, 41 und mit dem mittelhochdeutschen Wort minne ist stets beides gemeint, der subjektive Affekt und der symbolische Code. Diejenigen, die den symbolischen Code beherrschen und dessen Verwendung propagieren, sind - nach allem, was wir sehen - die mittelalterlichen Autoren. Sie stellen ihr Können gerade dadurch aus, daß sie die Minne als eine Chiffre verwenden, die auch für ihre eigenen Kompetenzen steht. Minne ist Gegenstand eines Interdiskurses, der einen seiner Höhepunkte in verdichteter Form in der in Minnereden und Streitgedichten häufig aufgeworfenen Frage findet, wer der bessere Liebhaber sei: der analphabete Ritter oder der schriftgelehrte Kleriker. Dieser in den Minnereden (auch) geführte Inter- oder Metadiskurs ist der Grund dafür, daß sie stärker von Umdichtungs- und Weiterdichtungsprozessen betroffen sind als andere kleinepische Gattungen (wie Mären, Fabeln, Bispel oder Reden mit anderer Thematik), in 39
40
41
Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Hg. von Burghart Wachinger. Tübingen 1980, S. 77-101, hier S. 78. Vgl. dazu Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hg. von Hans-Jochen Schiewer. Teil 2. Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C: Forschungsberichte 6), S. 197-255. Vgl. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer. Berlin - New York 2003, S. 639-662 (Art. Venus), hier S. 649.
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denen Vergleichbares nur in sehr viel geringerem Ausmaß zu beobachten ist. Die überwiegend erörternden Minnereden, zu denen auch das dialogisch ausgerichtete Beispiel der Dresdener Handschrift Μ 67 gehört, mögen textimmanent fast alle Merkmale von Trivialliteratur aufweisen. Ihre Genese und ihre Funktion sind im Mittelalter aber durch entschieden andere Mechanismen zu erklären als in der Neuzeit. Es ist nur dann sinnvoll, den mittelalterlichen Minnereden Trivialität zuzuschreiben, wenn man darunter die handwerkliche Fähigkeit zu immer neuer sprachlichrhetorischer Gestaltung des immer schon einmal Gesagten versteht, wie man sie zum Beispiel im Rahmen des Triviums erlernen konnte: die Fähigkeit des literarischen Sprechens über die Liebe.
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Wolfgang Achnit\
,Wer nicht weiß,
rechte Liebe sei'
Wer nicht wayss^ wa%_ rechte lieb sey, der les^e dy geschrifft vnd merck da bey: Ich pin dy rechte lieb genant. Gesell, wer ich dir recht gewest bekant, So werst du betrogen so gare. 5 mit vntterschayde nym eben ware: Ich sten hie nacket vndplint, Zwen ßügel mir gewachsen sind, ich hon kain arm noch kain hant, mit mir wont durch alle lant 10 Gemacht so manchen ä f f e n , adel, burger, bawer, münich vndpfaffen. Njm diser artickel eben war, wa\ t(i4 der lieb gehört darjn der fare: plint stand ich hye gar rayne, 15 Nwn merck, wie ich da^gemaine: Recht lieb kain äugen hot, wann stettew trew aus^ bereden gat. ivα sich da%_ herc^ gesellet an, als paid ein vngeschaffer man 20 mit rechter lieb erwerben kan, Da^jm die frawen werden als holt Als dem schönen vmb silber vnd vmb golt.
Mein fliigel hon ich ^u fliegen gestalt. merck, es wirt dir offenberlich bekant: wie ferr %way lieb von ein ander sind, Ir here^ sol doch sein als der wint, mit stürm sammen sullen fliegen, gesell, du hast dich lassen betrigen, du hast gelockt ein steten Sperber vnd bist gewest der mynne ein Werber, vnd het der habich geschmeckt da^ as% Er het sich \γ beissen gesatyt. Wer nwn mit eren nach eren ringt, es ist nit wunder ob im geling.
War vmb ich mich nacket nicht sebemme? da% solt du bey disser red vernemen: 25 wann lieb ·ψ lieb haymlich kumpt, die lieb bayden schemmen benympt. Man solfrölichen greiffen dar an, Der man die frawen / vnd die fraw den man. verengt man tut selten gut, 30 Greyfffrölich dar an, doch bis behut. Nvn merck, ob ich dir recht sage: Du bist bey deiner lieb gewest ein %age, Dann bettest du geworben frölichen, ml leicht het sie geweret dich, 35 da^ sag ich dirfür ware, da^gelawb mir mäniclich %ware. mit suchten hast du verdinet hasse, da von hüt dich hyn für dester bas^e.
ganc^ lieb macht manichen man ver^ait, Der doch on %weif el ist ein gesell klug wann mynnen vonjn bayden wil haben fug so mus\ ich narren sere clagen, Ach got, da·.ι ichye ward ζο %agen! 65 Ich bin gewest ein kint an der lere, dar vmb ernewt sich alc^eit mein schwere. Ich hon vmb stette trew gar ciain gelöst, %war, het ich ein newen rost, ich wolt den gewin wol dar auf %elen, 70 Der mir worden ist von meiner liebesten gespilen. sie hat mich geeffet gar schone vnd gibt mir der welt lone; ye doch hoff ich der %eit, sie macht mich alles leiden frey. 75
War vmb ich nicht arm vnd hend hon? da·.ζ sol du also verstan: ein ^artewfraw wolgemut, obj r j r lieb in liben tut mit an greiffen oder mit mynnen spil, sy sol sich gen jm nicht wereη vil. ml dick da£ von lieb geschickt, da^Jrawen kain vntrew iveren nicht da^ siejrem lieb versaget.
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Diplomatischer Abdruck nach der Handschrift Dresden Μ 67 (unter Auflösung der Abbreviaturen und Einfügung einer Interpunktion).
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Minneszenen in der bildenden Kunst des späteren Mittelalters und ihr Verhältnis zu Minnereden Wenn literarische Stoffe in einem Bildmedium gestaltet werden, so ist dabei meist ein kreativer Umarbeitungsvorgang zu beobachten. Die so entstehenden Bildzyklen „illustrieren nicht etwa einen schriftlich fixierten Text, den sie in Bilder umsetzen würden, sondern nehmen den literarischen Stoff lediglich zum Anlaß, mit den dem Medium Bildkunst eigenen Strukturgesetzen eine anderswo vielleicht auch schriftlich tradierte Geschichte völlig neu noch einmal zu erzählen. [...] Folglich unterscheiden sich auch die Deutungsmuster, unterscheidet sich ihr Appellcharakter in vielem von ihrer im Pergament- oder Papiercodex fixierten Textvorlage'." 1 Erst eine solche Betrachtungsweise, die nicht einfach einzelne im Bild ,umgesetzte' Verse verzeichnet, 2 läßt den Bildwerken ihr eigenes Recht zukommen, und erst sie erlaubt, deren Aussageintentionen mit unverstelltem Blick überhaupt wahrzunehmen und sie als Rezeptionszeugnis, aber eben auch als eigene ,Fassung' einer Erzählung zu würdigen. Sie schärft aber auch den Blick für den Umstand, daß im Bild überhaupt erzählt werden kann — und dies nicht nur im Rückgriff auf eine schriftlich
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Norbert H. Ott: Ikonographische Narrationen. Zu Gebrauchssituation und Deutungsangebot literarischer Bildzeugnisse in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Lares 65 (1999), S. 101-117, hier S. 102. Dies fuhrt dann üblicherweise zu Formulierungen wie: „Die Darstellung illustriert die Verse ...". Gerade auf dem Gebiet der Handschriftenillustration ist die Gefahr der zu nahen Anbindung an ,den' Text — üblicherweise den einer gängigen Edition — groß. Gänzlich auf dieser Ebene bewegt sich etwa Bettina Falkenberg: Die Bilder der Münchener TristanHandschrift. Frankfurt/M. u. a. 1986 (Europäische Hochschulschriften 28/67). Wesentlich reflektierter verfährt neuerdings Marcus Schröter: Der Wiener ,Eneasroman' (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2861) Heinrichs von Veldeke in Text und Bild. Untersuchungen zu Ikonographie und Textüberlieferung des ältesten höfischen Antikenromans in deutscher Sprache. Diss. Freiburg/Br. 2001.
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vorgeformte Geschichte, 3 sondern ebenso für Bildfolgen, die offenbar gänzlich unabhängig von einer Textvorlage entstehen. Solche sollen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Ich präsentiere zunächst einige Bildzyklen, die jeweils eine Liebesgeschichte in Bildern ,erzählen'. Es handelt sich dabei um ,Geschichten', die nicht auf einem Text beruhen beziehungsweise einen solchen illustrieren, sondern die alleine aus dem Formenvokabular der Minneikonographie gespiesen werden. Diesen Minnebilder-Zyklen schließen sich Überlegungen zu zwei Minnereden an — zum ,Schleiertüchlein' Hermanns von Sachsenheim und zu ,Der Minne Freud und Leid' des Elenden Knaben —, von denen aus auf zwei unterschiedlichen Ebenen Brücken zu den ,Erzählungen' der Bildfolgen geschlagen werden sollen. Es geht dabei nicht um direkt vom einen auf den anderen Fall übertragbare Konzepte, vielmehr sollen die Beispiele von verschiedenen Seiten typische Ausgestaltungen des multimedialen, text- und bildgestützten mittelalterlichen Minnediskurses beleuchten.
Das Münchner Minnekästchen Ich beginne mit einem altbekannten Objekt, dem sog. Münchner Minnekästchen (Abb. 1). Es ist das einzige Minnekästchen aus dem deutschsprachigen Raum, dem fortdauernd einige Aufmerksamkeit beschieden war; allerdings hauptsächlich unter der Fragestellung, ob es sich nicht vielleicht doch um eine romantische Fälschung des 19. Jahrhunderts handeln könnte. 4 3
4
Die meisten Arbeiten, die sich mit der Frage der Text-Bild-Beziehungen auseinandersetzen, gehen von Umsetzungen literarischer Texte aus. Das gilt — um nur jeweils einen neueren Titel zu nennen — für den Bereich der christlichen Ikonographie (Wilfried Franzen: Die Karlsruher Passion und das „Erzählen in Bildern". Studien zur süddeutschen Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts. Berlin 2002), für Stoffe des klassischen Altertums (Florian Weiland-Pollerberg: Amor und Psyche in der Renaissance. Medienspezifisches Erzählen im Bild. Petersberg 2004 [Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 20]) oder eben für den Bereich der höfischen Dichtung (Anne StephanChlustin: Artuswelt und Gralswelt im Bild. Studien zum Bildprogramm der illustrierten Parzival-Handschriften. Wiesbaden 2004 [Imagines Medii Aevi 18]). Daß es sich hierbei jeweils um kunsthistorische Arbeiten handelt, spiegelt die Forschungslage wider. Heinrich Kohlhaussen: Minnekästchen im Mittelalter. Berlin 1928, Nr. 16, Taf. 12f.; Horst Appuhn: Die schönsten Minnekästchen aus Basel. Fälschungen aus der Zeit der Romantik. In: ΖΑΚ 41 (1984), S. 149-160, hier S. 150; Georg Himmelheber: Das Münchner Minnekästchen - eine Chronik. In: ZfK 47 (1984), S. 243-247; Dorothea und Peter Diemer: Minnesangs Schnitzer. Zur Verbreitung der sogenannten Minnekästchen. In: FS Walter Haug und Burghart Wachinger. Hg. von Johannes Janota u. a. 2 Bde. Tübingen 1992, Bd. 2, S. 1021-1060, bes. S. 1037-1048; Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9
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Abb. 1: Das Münchner Minnekästchen, 2. Drittel 13. Jh., Bayerisches Nationalmuseum München, Inv. Nr. R 8071, Gesamtansicht. Nach Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9 (1995), S. 296-312.
Nachdem nun neueste Untersuchungen die mittelalterliche Herkunft des Kästchens 5 wohl unumstößlich erwiesen haben, ist der Weg frei für eine
5
(1995), S. 296-312; Christine Wand-Wittkowski: Die Inschriften des Münchner Minnekästchens: Eine Fälschung?. In: ZfdPh 117 (1998), S. 38-54; Jürgen Wurst: Pictures and Poems of Courtly Love and Bourgeois Marriage: Some Notes on the So-called Minnekästchen. In: Love, Marriage, and Family Ties in the Later Middle Ages. Hg. von Isabel Davis, Miriam Müller und Sarah Rees Jones. Turnhout 2003 (International Medieval Research 11), S. 97-120. Eine dendrochronologische Untersuchung hat ergeben, daß das Kästchen aus dem Holz einer vor 1250/1260 gefällten Linde gearbeitet ist. Zusammen mit der relativ frühen Nachweisbarkeit des Kästchens (1816) spricht alles gegen eine Fälschung, vgl. Göbel (Anm. 4). Für die Echtheit optieren auch eine Reihe neuerer Sprachgutachten, zuletzt Wand-Wittkowski (Anm. 4). In Zukunft ist die Münchner Dissertation von Jürgen Wurst zu vergleichen, die kurz vor dem Abschluß steht und von kunsthistorischer Seite den Nachweis der Echtheit des Kästchens zu führen versucht.
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eingehendere Auseinandersetzung mit den auf ihm dargestellten Szenen. In der Diskussion um die Echtheit des Münchner Minnekästchens ist meines Erachtens bis jetzt zu wenig herausgestellt worden, daß hier eine von Textvorlagen — und weitgehend auch von den auf dem Kästchen selbst angebrachten Inschriften — unabhängige ,Bildergeschichte' zweier Liebender erzählt wird. Das Kästchen ist aus Lindenholz gefertigt, und seine Maße betragen 8,3 cm (Höhe) χ 22,5 cm (Breite) χ 9,9 cm (Tiefe). Alle vier Seiten sowie der abgewalmte Deckel tragen ehemals weiß gefaßte und mit farbigem Stoff hinterlegte Durchbruchreliefs. Auf dem Deckel und in Zierleisten sind diese als Kerbschnitt- und Palmettenornamente gestaltet, die Seitenfelder jedoch zeigen insgesamt acht figürliche Szenen. Auf allen Innenwandungen sowie als rahmende Umschrift um die drei Medaillons auf der Vorderseite enthält das Kästchen einen längeren, an Minnereden erinnernden und „in lockerer Parallele zu den Minnebriefen gestalteten]" Text. 6 Es ist die mit Abstand ausführlichste Inschrift auf einem Objekt mit Minneszenen aus dem deutschsprachigen Mttelalter. 7 Der Text ist an eine Dame gerichtet, die in gängigen, wiewohl etwas unbeholfen gestalteten Formeln aus der Tradition des hohen Minnesangs gepriesen wird, verbunden mit der Bitte um Errettung aus Liebesqual. 8 2 Hie stat gescribin anmi lietti, da% ihc minirfroivin bitti seldi eri vndi längs lebin. Got hat ir tvgindi vil gigebin. Wort, sinni habi ihc niet, swenni sie min ogi siet, vnd ihc ir solti mini seninde clagi cvndin die ihc von irn scvldin tragi. Nu machi es, frowi, ein ende. Όineη drost dv mir sendi. [...] 5a
A.hc, gvndis dv mir armin, einv naht ligini an dinimi armi! yi/so ihc dikchi gidaht han. Dar vmbi ivolti ihc dir eginlihcchi sin vndir t dan. 6 7
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Walter Blank: Liebesgruß. In: 2 VL 5 (1985), Sp. 795f., hier Sp. 795. Einen Uberblick über solche Inschriften gibt es bis anhin noch nicht. Ich erarbeite derzeit einen „Katalog mittelhochdeutscher Texte in spätmittelalterlichen Minneszenen", der Inschriften auf Objekten, vor allem aber auch Spruchbandtexte u. ä. erhebt und der bis jetzt gegen zweihundert Nummern umfaßt. Es ist dies ein Feld, das in der literaturwissenschaftlichen Bearbeitung noch gänzlich brach liegt. Der Text wird zitiert nach Wand-Wittkowski (Anm. 4), S. 42. Dort auch eine literaturhistorische Einordnung und ältere Literatur.
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Ich möchte mich jedoch nicht auf den Text, sondern auf die achtszenige Bilderfolge konzentrieren. Diese stellt in einigen prägnanten Motiven eine Liebesgeschichte dar, die mit dem ersten Auftreten des Mannes bei seiner Dame beginnt und mit dem Stelldichein im Schlafgemach endet. Versuchen wir, der Geschichte in ihrem Erzählablauf zu folgen.
Abb. 2: Das Münchner Minnekästchen, 2. Drittel 13. Jh., Bayerisches Nationalmuseum München, Inv. Nr. R 8071, Vorderseite. Nach Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9 (1995), S. 296-312.
Die Handlung der drei Medaillons der Vorderseite (Abb. 2) ist konzentriert um die mittlere Szene, in welcher der Mann in leicht gebückter Haltung vor der sitzenden Dame dargestellt ist, die ihrerseits wie eine Verkündigungsmaria zurückhaltend die Hand erhebt. Im linken Medaillon schreitet dieser heran und im rechten steht ein schwungvoll bewegter Fiedler.9 Die aus dem Feudalrecht bekannte Ikonographie der inclinatio im mittleren Medaillon stellt den Liebhaber dar, wie er sich in den Dienst der Dame stellt.10 In ähnlicher Weise wie auf unserem Medaillon finden wir diese Szene etwa als Literalillustration (Abb. 3) in einem Canzoniere aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, die sich auf die in dem nebenstehenden Text geschilderte vasallische Devotionsgeste bezieht: masjonhtas, clis,perfar tot son comαη.λ1
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Daß dieser mit Venus ,beschriftet' ist, mag am ehesten vielleicht ein Hinweis auf ein Lied oder eine Melodie, vielleicht ein Verweis auf die folgenden Szenen der Rückseite oder auch schlicht ein Irrtum sein. Vgl. dazu Markus Müller: Minnebilder. Französische Minnedarstellungen des 13. und 14. Jahrhunderts. Köln u. a. 1996 (pictura et poesis 7), S. 129-141. Ebd., S. 134f. und Abb. 91. Nicht zufällig weiche ich hier auf ein romanisches Vergleichsbeispiel aus; während uns entsprechende bildliche Darstellungen auch im deutsch-
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iL Abb. 3: Canzoniere, Padua (?), Ende 13. Jh. New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 819, fol. 63v. Nach Markus Müller: Minnebilder. Französische Minnedarstellungen des 13. und 14. Jahrhunderts. Köln u. a. 1996 (pictura et poesis 7), Abb. 91.
Auf der Rückseite 12 des Kästchens (Abb. 4) sehen wir auf zwei Medaillons verteilt eine Pfeilschuß-Szene. Daß nicht Amor, sondern Venus oder Frau Minne direkt die Pfeile verschießt, kennen wir aus französischen wie deutschen und auch aus lateinischen Texten, im deutschsprachigen Raum scheint diese Darstellung sogar die Regel zu sein. Ich zeige als beliebiges Vergleichsbeispiel einen Teil des bemalten Deckels eines oberrheinischen
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sprachigen Mittelalter öfter begegnen, findet sich die Schilderung dieser Geste in den Texten nur sehr vereinzelt. Da die heute sich an der linken Schmalseite befindende Bettszene ehemals auf der rechten Seite befestigt war, verbietet sich eine Leserichtung, die kreisend um das Kästchen fortfahrt. Dazu sind Einkerbungen als Positionsangaben der eingesetzten Durchbruchreliefs erhalten, die auf eine entsprechende Leserichtung zu verweisen scheinen. Zu diesen Restauricrungsbefunden vgl. Göbel (Anm. 4), S. 304 und 300.
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Abb. 4: Das Münchner Minnekästchen, 2. Drittel 13. Jh., Bayerisches Nationalmuseum München, Inv. Nr. R 8071, Rückseite. Nach Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9 (1995), S. 296-312.
Kästchens (Abb. 5). Auf rotem Grund sind hier unter einer gotischen Architektur eine mit Pfeil und Bogen bewehrte Dame und der ihr ergebene Jüngling zu sehen, in dessen Brust ein Pfeil steckt. Leider sind die über die Figuren geschriebenen Wörter heute nicht mehr entzifferbar. Der ein Kästchen darbringende Jüngling im mitderen Medaillon der Rückseite des Münchner Kästchens stellt nicht, wie noch in der jüngsten Forschung behauptet, 13 das einzige mittelalterliche Zeugnis zur Verwendung von Kästchen als Liebesgaben dar, ist jedoch eine der wenigen bildlichen Darstellungen davon - wir werden gleich in einem Text einer Ubergabe eines solchen Kästchens begegnen. Ikonographisch schließt diese Darstellung an Dedikationsbilder an, wie sie hauptsächlich in der Buchmalerei überliefert sind. Im späteren Mittelalter wird diese Bildformel dann auch häufig so abgewandelt, daß nicht mehr dem Dedizierten ein Buch sondern der erwählten Dame das eigene Herz überreicht wird. 14
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So noch Göbel (Anm. 4), S. 298, unter Verweis auf Diemer und Diemer (Anm. 4). Allerdings möchte ich unter die einschlägigen Stellen nicht die bei Wurst (Anm. 4), S. 113ff., genannten metaphorischen Redeweisen, die vom Herzen o.ä. als Schrein sprechen, zählen. Das bekannteste Beispiel ist wohl die um 1430 anzusetzende Tappisserie aus Arras, die heute im Musee de Cluny in Paris aufbewahrt wird, Farbabb. ζ. B. in: Gabriele Bartz, Alfred Karnein und Claudio Lange: Liebesfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten. Stuttgart - Zürich 1994, S. 33. - Es würde sich hier die nicht auflösbare Frage anschließen, was denn der mögliche Inhalt des Kästchens hätte sein können - wenn nicht sogar der eingeschnitzte Text selbst den Inhalt dargestellt haben mag. Im letzteren Fall wären wir nicht nur formal, sondern auch inhalt-
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Abb. 5: Holzkästchen, oberrheinisch, um 1320, New York, The Cloisters Collection, The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund and Exchange, 1950, Innendeckel. Nach Michael Camille: Die Kunst der Liebe im Mittelalter. Köln 2000, S. 26.
Im rechten Medaillon der Rückseite folgt eine Kußszene, die hier wohl eine erste Annäherung der beiden Liebenden meint, nachdem sie sich ihrer Empfindungen füreinander bewußt geworden sind. Weiter als bis zu einer solchen Annäherung gehen die erotischen bildlichen Darstellungen meist nicht. So reduziert etwa der Illuminator einer französischen Handschrift des Lancelot-Romans aus den 1470er-Jahren die Fresken in Lanzelots Zelle (Abb. 6), die immerhin die ganze Liebesgeschichte von Lanzelot und Guinevra enthalten sollen, im wesentlichen auf eine solche Szene, die er demnach für geeignet hält, den Ehebruch Guinevras darzustellen. 15
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lieh den Dedikationsdarstellungen sehr nahe; zu deren Ikonographie vgl. Eva Lachner: Dedikationsbild. In: RDK 3 (1954), Sp. 1189-1197. Paris, Bibliotheque nationale de France, ms. fr. 116, fol. 688v, vgl. Roger Sherman und Laura Hibbard Loomis: Arthurian Legends in Medieval Art. London 1938, S. llOf. (dort
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Abb. 6: Paris, Bibliotheque nationale de France, ms. fr. 116, fol. 688v. Nach Michel Cazenave u. a.: L'art d'aimer au Moyen Age. Paris 1997.
Flankiert wird die Kußszene dort links von zwei Hofdamen Guinevras und rechts von dem vor der Königin knienden Lancelot. Durch die beiden stehenden Figuren in der mittleren und breitesten Arkade des kleinen
fälschlicherweise: fol. 667). Es ist die Bilderfolge, anläßlich derer Artus im deutschen Prosalanzelot ausruft: ist diß bedutniß ware von dißer schrijft [i.e. ,Darstellung 1 ], so hatt mich lumc^lot geschant mit der konigitu wann ich sehen scheinbarlich [i.e. ,offenkundig'] das er l y irgeschloffen hat (Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. germ. 147 hg. von Reinhold Kluge. 3 Bde. Berlin 1948-1974 [DTM 42, 47, 63], Bd. 3, S. 466). Zur Polyvalenz des Begriffes schrifftv^.. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 302-305. Zu den Miniaturen auch Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung - erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: LiLi 27 (1997), Heft 105, S. 62-85.
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Bilderfrieses wird der Kulminationspunkt des Geschehens auch bildkompositorisch deutlich akzentuiert. 16
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Abb. 7: Das Münchner Minnekästchen, 2. Drittel 13. Jh., Bayerisches Nationalmuseum München, Inv. Nr. R 8071, rechte Schmalseite. Nach Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9 (1995), S. 296-312. 16
Die Szene, in der Artus die Wandmalereien entdeckt, ist nur in zwei Handschriften illustriert, beide sind für denselben Besteller geschaffen worden. Die zweite Miniatur (Paris, BNF, ms. fr. 112, Bd. 3, fol. 193v) zeigt eine gänzlich andere Konzeption und Disposition der Wandmalereien: Die Wand ist in zwei Registern bis zum Sockel bemalt; oben sind drei Szenen zu erkennen, die von links nach rechts eine schrittweise Annäherung der beiden Liebenden darstellen - die dritte und letzte Szene ähnelt übrigens auffällig unserer sog. Hochzeitsszene auf dem Münchner Minnekästchen —, während das untere Register ganz mit einer Schlachtdarstellung ausgefüllt ist. Beide Miniaturen werden besprochen und abgebildet von Alison Stones: Images of Temptation, Seduction and Discovery in the Prose Lancelot. A Preliminary Note. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46/47 (1993/1994), S. 725-735, sowie von Uwe Ruberg: ,Lancelot malt sein Gefängnis aus'. Bildkunstwerke als kollektive und individuelle Memorialzeichen in den Aeneas-, Lancelotund Tristan-Romanen. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg 1996. Hg. von Dietmar Peil u. a. Tübingen 1998, S. 181-194.
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Als nächste Szene des Kästchens (Abb. 7) folgt das heute rechts angebrachte, ursprünglich auf der linken Schmalseite befestigte Relief. Bereits Friedrich Heinrich von der Hagen hat hier eine Hochzeitszeremonie gesehen, worin ihm die jüngere Forschung ausnahmslos gefolgt ist.17 Wir sehen links eine Dreiergruppe, in der offenbar auch unser Liebespaar auszumachen ist, in der Mitte eine weitere Figur, möglicherweise wiederum Venus, die ihre Arme um das Paar gelegt hat, rechts den bereits bekannten Fiedler. Der Mann, rechts in der Dreiergruppe, hält erneut seine Hände gefaltet vor sich, wie schon auf dem mitderen Medaillon der Vorderseite. Da gerade die Ikonographie rechtlicher Symbolhandlungen eine erhebliche Konstanz und einen großen Wiedererkennungswert besessen hat,18 ist gegenüber der Deutung als Hochzeitsszene einige Skepsis angebracht; eine solche hätte sich vermutlich anderer ikonographischer Muster bedient. Trotzdem wird man durchaus an eine Zusammenführung des Liebespaares denken dürfen. Die letzte Szene (Abb. 8), heute auf der linken (und ehemals auf der rechten) Schmalseite, scheint zwar gut verständlich - wir sehen den Mann, wie er von seiner im Bett liegenden Dame empfangen wird - , irritierend ist allerdings, daß diese Szene überhaupt existiert. Die bildenden Künste des Mittelalters bringen Bettszenen in der Regel nur dort, wo sie vom Thema gefordert werden und daher zu rechtfertigen sind, so im Bereich der höfischen Literatur etwa eine Miniatur im ,Münchner Tristan', die die für die Handlung unentbehrliche Zeugung Tristans durch Riwalin und Blancheflur zeigt.19 17
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Göbel (Anm. 4), S. 298; Wurst (Anm. 4), S. 101 f. Tatsächlich taucht eine solche Ikonographie der Hochzeitszeremonie, in der die mittlere Figur die Arme um die Schultern der zu Vermählenden und nicht wie zunächst üblich ihre Hände ineinander legt, aber erst rund hundert Jahre später und dazu noch südlich der Alpen auf, wie Edwin Hall: The Arnolfini betrothal. Medieval marriage and the enigma of Van Eyck's double portrait. Berkley - Los Angeles - London 1994 (California studies in the history of art. Discovery series 3), v. a. Plate 7 mit Text auf S. 55f£, in seiner materialreichen Studie zeigt. Dagegen hat die nicht bis in die uns interessierende Zeit reichende Arbeit von Gudrun Pamme-Vogelsang: Die Ehen mittelalterlicher Herrscher im Bild. Untersuchungen zu zeitgenössischen Herrscherpaardarstellungen des 9. bis 12. Jahrhunderts. München 1998 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 20), gänzlich anders aufgebaute Darstellungen. Vgl. dazu Gernot Kocher: Zeichen und Symbole des Rechts. Eine historische Ikonographie. München 1992. Erst im Spätmittelalter weicht in der Ikonographie die Verbindlichkeit der Gesten auf, zu beobachten etwa in den Illustrationen des ,Belial', vgl. Norbert H. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des deutschen ,Belial'. München 1983 (MTU 80), bes. S. 248f. Karin Lerchner: Lectulus floridus. Zur Bedeutung des Bettes in Literatur und Handschriftenillustration des Mittelalter. Köln u. a. 1993 (pictura et poesis 6), bringt keine einzige Darstellung einer Bettszene, die nicht im Zusammenhang einer Erzählung stünde. Dies hängt teilweise auch mit ihren Auswahlkriterien zusammen, zeigt aber, daß es zu der Zeit keine nennenswerte ikonographische Tradition der Bettszene gibt, die nicht an entsprechende Erzählungen gebunden wäre.
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Abb. 8: Das Münchner Minnekästchen, 2. Drittel 13. Jh., Bayerisches Nationalmuseum München, Inv. Nr. R 8071, linke Schmalseite. Nach Rudolf Göbel: Das Münchner Minnekästchen. Untersuchungen zur Echtheitsfrage. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 9 (1995), S. 296-312.
Was hat nun diese Szenenfolge zu bedeuten? Mit dem auf dem Kästchen enthaltenen Text hängt sie nur insofern zusammen, als auch in ihm von der Liebe gehandelt wird. Während in den Inschriften eine Dame gelobt und um sie geworben wird, stellt die Bilderfolge jedoch eine Geschichte dar, die bis zur sexuellen Vereinigung durchgespielt wird. Es ist dies eine erzählende Bildfolge, die in ihrer Zielgerichtetheit und inneren Logik dem entspricht, was wir beispielsweise von Illustrationszyklen höfischer Romane kennen: es ist gewissermaßen eine geglückte Minneaventiure, 20 allerdings ohne Aventiure, ohne Bewährungsprobe; 20
Stellvertretend für viele Arbeiten Norbert Otts zu diesem Phänomen sei verwiesen auf die Uberblicksdarstellung: Epische Stoffe in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 449-474.
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eine Liebesgeschichte, die ohne Hindernis zu ihrem glücklichen Ende findet. Und diese Geschichte ist, genauso wie die Inschriften, speziell für das Kästchen entworfen und auf dieses zugeschnitten, was sich nicht nur in der Anordnung der Einzelszenen, sondern auch im ikonographischen Selbstbezug mit der Integration des Kästchenmotives spiegelt.21 Bezeichnend ist meines Erachtens dabei, und nur darum geht es mir hier, daß die Bildergeschichte eine mit fortschreitender Handlung ist, die sich in der Form eines Textes nur als Erzählung denken ließe - am ehesten sonst noch als Stationenweg der Ovidischen^raakr amoris.22 Jedoch ist der auf dem Kästchen enthaltene Text eben gerade keine Erzählung und auch kein Traktat, sondern ganz im Gegenteil so beschaffen, daß er sich in den zentralen Punkten schlicht nicht zur Illustration eignete: Es ist eine typische Minneklage, wie wir sie ganz ähnlich bei Walther oder, dem Kästchen zeitlich näher, bei Ulrich von Lichtenstein finden. 23 Inhaltlich nimmt der Frauenpreis den weitaus größten Teil des Textes ein. Auch weitere Motive wie die Sprachlosigkeit sind zwar in der Minneliteratur der Zeit gängig, jedoch schlecht ins Bild zu setzen. Die kurze Bildbeschreibung sollte zeigen, daß wir auf dem Kästchen ein Bildprogramm haben, das sich weitaus stärker an ikonographischen als an literarischen Vorbildern orientiert, wenn es auch zwischen diesen beiden Bereichen selbstredend mannigfaltige Berührungspunkte gibt. Doch die punktuelle Verknüpfung von einzelnen Szenen der bildenden Kunst mit Textbelegen der Literatur bringt uns meist auch nur einen ebenso punktuellen Erkenntnisgewinn, der die spezifischen Eigenheiten der bei-
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Auch die Inschriften thematisieren übrigens die Überbringung des Textes resp. dessen Trägers wenn es heißt: [...] das ihc dir disgisant han (5b) und Ditien drost dv mir sendi (2). Auch damit würden sich alle Darstellungen interpretatorisch einbinden lassen, wenn auch die einzelnen Stufen (visus - alloquium/risus - con-/tactus - oscula -factum) nicht in klarer Abgrenzung und typischer Reihung erscheinen. Dagegen sprechen sich Diemer und Diemer (Anm. 4), S. 1025, Anm. 15, aus, die jedoch, symptomatisch für die Forschung, von einer genauen Umsetzung aller Schritte ins Bild ausgehen, die hier nicht gegeben ist. Bereits die Materialsammlung bei Karl Helm: Qutnque lineae amoris. In: GRM 29 (1941), S. 236-246, macht deutlich, daß bei größter Verbreitung in lateinischen wie auch in mittelhochdeutschen Texten sich direkte Abhängigkeitsverhältnisse kaum je nachweisen lassen. Einzelne Stufen können wegbleiben, umbenannt oder auch umgestellt werden. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Szenenfolge auf dem Münchner Kästchen nahdos unter die literarischen Zeugnisse einreihen. In diesem Sinne warnt bereits Helm vor ,,eifrigen[n] Parallelenjäger[n]" (S. 246). - Im Anschluß an Ovid, der die qutnquegradus dem Mittelalter hauptsächlich überliefert, könnte dann die sogenannte Kästchenübergabe auch als Überbringung einer Briefbotschaft zu verstehen sein, wie sie Ovid breit thematisiert, und die sogenannte Hochzeitsszene könnte dem colloquium im öffentlichen Raum entsprechen, das bei Ovid als Tanz im Rahmen eines Festes erscheint. Einzelne Belege bei Wand-Wittkowski (Anm. 4), S. 45ff.
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den Medien gerade verwischt, anstatt sie schärfer zu konturieren. 24 Eine getrennte Betrachtung ist zunächst gefordert, bevor man die Ergebnisse vergleichen kann. Wir haben also hier zwei Ausdrucksebenen, die jeweils den Gesetzmäßigkeiten ihres medienspezifischen Diskurses folgen beziehungsweise von ihnen mitbestimmt werden. 25 In Text und Bild wird eine Idee entwickelt, doch eben immer im Rahmen des im jeweiligen Medium Möglichen und Üblichen. Daß dabei zwei gänzlich unterschiedliche, je auch anders akzentuierte Gebilde entstehen, wollte ich versuchen deutlich zu machen. Die Frage nach der Abhängigkeit von Text und Bild stellt sich hier so, daß diejenige des Primats nicht von Relevanz ist. Was sich beim Münchner Minnekästchen als Text- und Bildträger an einem einzigen Objekt beobachten ließ, gilt es nun anhand weiterer Objekte genauer zu fassen und weiter zu differenzieren.
Torrechiara Unser nächstes Fallbeispiel fuhrt uns in eine andere Zeit und in einen anderen geographischen Raum. Abb. 9 zeigt eine Ansicht aus der Camera d'Oro auf Torrechiara, einem Kastell in der Nähe von Parma. Torrechiara wurde zwischen 1448 und 1460 von Pier Maria Rossi, Graf von Berceto und 5. Marchese von Sansecondo (1413-1483) auf den Ruinen einer älteren Burganlage erbaut; 26 in dieser Zeit müssen auch die Wandmalereien
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So wirkt denn auch das Urteil Walter Blanks (Anm. 6) etwas hilflos, wenn er in dem kurzen Verfasserlexikonartikel zunächst schreibt: „Die insgesamt 46 Verse kommentieren die Darstellungen vom Gang zur Geliebten bis zur Umarmung im Bett" (Sp. 795), um am Ende mit Kohlhaussen zu kritisieren: „Doch wird [...] der in den Darstellungen .folgerichtig geschilderte Liebesprozeß [...] durch die überaus wortreichen Inschriften eher verunklärt'." (Sp. 796) Die Konstanzer Dissertation von Florian Weiland-Pollerberg (Anm. 3) stellt ähnliche Überlegungen für einen spezifischen Stoff und dessen bildkünstlerische Umsetzungen in verschiedenen Bildmedien an - allerdings konzentriert sie sich als Folge ihres Medienbegriffes fast ausschließlich auf die Gebrauchszusammenhänge der Bildträger und weniger auf den inneren Aufbau der Erzählstruktur oder die Disposition der Szenen auf dem Bildträger. Der Bereich der Literaturwissenschaft wird dabei nicht berührt. Zur Architektur des Baus zuletzt Marie-Octavie Georges-Carreras: Le chateau de Torrechiara. Un bei exemple d'architecture „rossienne". In: Chateau et societe castrale au moyen äge. Hg. von Jean-Marc Pastre. Rouen 1998 (Publications de l'Universite de Rouen 239), S. 127-136; Gianni Capelli: Vicende storice e architettoniche. In: II Castello di Torrechiara. Storia, architettura, dipinti. Hg. von dems. und Pier Paolo Mendogni. Parma 1994, S. 11-107, zur Camera d'Oro bes. S. 74-79.
Abb. 9: Torrechiara, Camera d'Oro, Bembo-Werkstatt (?), um 1460, SO-Wand. Nach Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. 2 Bde. München 1996/1997.
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entstanden sein.27 Rossi war einer der mächtigsten und kriegserfahrensten Feudalherren in der Gegend von Parma. Er wurde am Hof der Visconti erzogen, eroberte später für Francesco Sforza die Stadt Parma und starb in hohem Alter 1483 im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Mailänder Herzog Lodovico II Moro. Pier Maria Rossi wurde im Alter von 15 Jahren in einer guten Verbindung verheiratet, lebte aber von den 1440er-Jahren an öffentlich in einer Beziehung zu Bianca Pellegrini, die für Pier Maria ihren aus Lucca stammenden Ehemann verließ. Für sie ließ Rossi ab etwa 1450 ein Kastell erbauen, das er in Anlehnung an ihren Namen Roccabianca nannte. Es scheint aber, daß Torrechiara der bevorzugte Aufenthaltsort von Pier Maria Rossi gewesen ist - und ob der malerischen Ausstattung kann man vermuten, daß es zugleich der bevorzugte Aufenthaltsort der beiden Liebenden war. Die Camera d'Oro ist ein quadratischer und kreuzrippengewölbter Raum. Er ist vollständig ausgemalt beziehungsweise in der Sockelzone mit Kacheln und Täfer versehen. Die vier Wände und die darüber liegenden Gewölbekappen weisen jeweils eine analoge Gliederung auf, wobei die Lünetten unter den Schildbögen des Gewölbes das Hauptregister darstellen. In ihnen ist in vier Einzelszenen und angereichert durch eine Fülle heraldischer Verweise eine Art ,Liebesgeschichte' von Pier Maria Rossi und Bianca Pellegrini dargestellt. Wenden wir unseren Blick zunächst in die Höhe (Abb. 10), so sehen wir in den Gewölbekappen viermal eine Pilgerin dargestellt, die sich vor einem im wörtlichen Sinne strahlend blauen Himmel bewegt. Diese Dame soll denn auch unzweifelhaft jeweils Bianca Pellegrini vorstellen. Auf einer 1457 geschlagenen Bildnismedaille von Gian Francesco Enzola sehen wir Bianca wie in den Wandmalereien in einem Pilgerhabit und mit Pilgerstab dargestellt (Abb. 11), selbst die so auffälligen gestrichelten Sonnenstrahlen, ein heraldisches Motiv aus ihrem Wappen, fehlen auf der Medaille nicht.
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Auf die Problematik der Zuschreibung soll hier nicht näher eingegangen werden, da sie für unsere Fragestellung nicht relevant scheint. Wie auch der größte Teil der Forschungsliteratur vor ihr schreibt Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Bd. 1: Anfänge und Entfaltung. München 1996, S. 364f., die Wandbilder Bonifacio und Benedetto Bembo zu, die in Cremona eine Malerwerkstatt betrieben. Von ihr nicht berücksichtigt ist die Zuschreibung von Pier Paolo Mendogni: La camera d'oro e gli altri affreschi. In: II Castello di Torrechiara (Anm. 26), S. 109-150, bes. S. 121-126: Mendogni spricht sich gegen Bonifacio Bembo, dessen Bruder Benedetto oder Francesco Tacconi aus und votiert dagegen für den dritten der Bembo-Brüder, nämlich Gerolamo.
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Abb. 10: Torrechiara, Camera d'Oro, Bembo-Werkstatt (?), um 1460, Gewölbe. Nach Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. 2 Bde. München 1996/1997.
Abb. 11: Bildnismedaille der Bianca Pellegrini, Glan Francesco Enzola, 1457, Neapel, Museo di Capodimonte. Nach Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. 2 Bde. München 1996/1997.
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In den Lünetten sehen wir in einem ersten Bildfeld (Abb. 9) die beiden Liebenden in einem stilisierten Gebäude stehen, in dessen Mitte auf einer Säule der nun dem antiken Formengut entsprechende Amor als nacktes geflügeltes und blindes Kind mit Pfeil und Bogen dargestellt ist. Tief in der Brust von Pier Maria steckt dessen Pfeil, auf den er mit seiner Linken weist. Der Bianca zugedachte Pfeil hängt von ihrer Brust herab, sie zeigt die Gestik des Erstaunens. fjpjj' Μ
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