Treitschke und Frankreich [Reprint 2019 ed.] 9783486766820, 9783486766813

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
I. HEINRICH VON TREITSCHKES PERSÖNLICHKEIT
II. POLITISCHE STELLUNGNAHME BIS 1860
III. TREITSCHKE ALS HISTORIKER
IV. POLITISCHE STELLUNG BIS 1870
V. FRANZÖSISCHE POLITIK NACH 1870
VI. TREITSCHKE ALS MENSCH
VII. RÜCKBLICK UND AUSBLICK
LITERATURVERZEICHNIS
Verzeichnis der angeführten Schriften
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Treitschke und Frankreich [Reprint 2019 ed.]
 9783486766820, 9783486766813

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TREITSCHKE UND FRANKREICH VON

IRMGARD LUDWIG

MÜNCHEN UND BERLIN 1934 VERLAG VON R. OLDENBOURG

BEIHEFT

33 D E R

HISTORISCHEN

ZEITSCHRIFT

Alle R e c h t e , e i n s c h l i e ß l i c h des Ü b e r s e t z u n g s r e c h t e s , v o r b e h a l t e n D R U C K VON R.OLDF.NBOURG

MÜNCHEN UND BERLIN

VORWORT.

Intolerante, extreme Nationalisten des ehedem feindlichen Auslandes haben sich zu der Behauptung berechtigt geglaubt, daß Treitschke, in Verkennung und Mißachtung fremdstaatlicher Kompetenzen, den Deutschen einen Geist der brutalen Machtpolitik und Selbstüberhebung gepredigt und eingepflanzt habe 1 ). In Anbetracht des maßgebenden Einflusses, den Treitschke als Persönlichkeit und als akademischer Lehrer auf Gesinnungen und Ideale der führenden Schichten des deutschen Kaiserreiches ausübte, ergibt sich für die historische Wissenschaft die Aufgabe, an Hand der Werke und Schriften des großen Historikers und Publizisten zu erforschen, wie er die auswärtigen europäischen Mächte gesehen hat, welche Anschauungen und Urteile es waren, die er sich im Laufe seines Lebens über die bedeutsamsten „Mitspieler des europäischen Konzerts" bildete. Das Thema dieses Buches nun ist dahin begrenzt, das Verhältnis des Politikers, des Historikers und des Menschen Treitschke zu unserem westlichen Nachbarstaat, zu Frankreich, darzulegen, Trennendes und Verbindendes in seinen Ansichten im zeitlichen Zusammenhang, in seiner historischen und persönlichen Bedingtheit zu erfassen. Wenn die öffentliche historische Neuorientierung in Deutschland heute in besonderem Sinn ein Zurückgreifen auf die Bekenner nationaler Geschichte befürwortet, so darf die Hoffnung ausgesprochen werden, daß die Feier des 100. Geburtstages Treitschkes am 15. September Anlaß sein wird, aus der Art, wie er die große deutsche Schicksalsfrage, das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich, in sich bewältigt hat, auch für die Gegenwart wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen, um so mehr, als das alte Problem zur Zeit brennender ist denn je. Denen, die jenseits der Grenzen dem deutschen Gedenktag mit Voreingenommenheit und Abneigung begegnen, möge dieses Buch Wegweiser zu einem gerechten Urteil sein. 1 ) Friedrich Meinecke, Besprechung des 3. Bandes Briefe, Hist. Zeitschr. Bd. 123. — Wohl als Einziger ergriff der italienische Publizist Benedetto Croce während des Weltkrieges für Treitschke Partei gegen Nationalisten und Demokraten, denen dieser Name ein verhaßter ist, „die ihr Mütchen an ihm kühlen wollen, als an einem über allé Maßen barbarischen Menschen und Schriftsteller", und fordert für Treitschkes „edle Persönlichkeit Achtung von Allen in allen Ländern". (Randbemerkungen eines Philosophen zum Weltkriege, Dezember 1915.)

1*

INHALTSVERZEICHNIS.

I. Heinrich von T r e i t s c h k e s Persönlichkeit a) 1848 b) Nationalismus und Weltbürgersinn c) Treitschke und die europäischen Mächte II. Politische Stellungnahme bis i860 a) Die Persönlichkeit Cavaignacs b) Der Staatsstreich c) Der Krimkrieg d) Der italienische Krieg

Seite

7 7 8 10 13 15 16

III. T r e i t s c h k e als Historiker A. Seine französische Geschichtsschreibung B. Der französische Volkscharakter C. Französische Staatsgcsinnung D. Die französische Revolution von 1789 E. Der französische Staat 1 . Der Despotismus Napoleons 1 2. Napoleon 1 3. Der französische Liberalismus 4. Die persönliche Tyrannis Napoleons III

44 50 57 63

IV. P o l i t i s c h e Stellung bis 1 8 7 0 a) Die Schleswig-Holsteinsche Frage b) Napoleon III c) Die deutsche Frage

72 78 84

V. F r a n z ö s i s c h e P o l i t i k nach 1 8 7 0 VI. T r e i t s c h k e als Mensch

19 23 30 38

96 Hl

VII. R ü c k b l i c k und Ausblick

120

Literaturverzeichnis

128

I. HEINRICH VON TREITSCHKES PERSÖNLICHKEIT.

Freiheit und Einheit — diese beiden Ideale, seit den Befreiungskriegen in den Herzen der deutschen Patrioten lebendig, waren es, die im Sturmjahr 1848, nach dem Fall des absolutistischen Systems in Preußen und Österreich, vom deutschen Volk zum ersten Male auf breiterer Ebene zum Ziel seines Strebens erhoben, machtvoll nach Erfüllung drängten, um deren Verwirklichung die für souverän erklärte deutsche Nation rang. Die politische Freiheit, als Selbstzweck, als Ideal empfunden, stand während der Revolution von 1848 im Vordergrunde des Kampfes, nach „Verfassung" ging ihr allernächstes Trachten, als eigentlichen und höchsten Kampfpreis aber ersehnten die Patrioten nicht konstitutionelle Erfolge, sondern, untrennbar von der Freiheit, die Vollendung der nationalen Einheit. Die Bewegung von 1848 sank in sich selbst zusammen, es blieb bei einem Vorspiel1); sie hat im Inneren die Grundlagen der näheren und weiteren deutschen Zukunft bedeutsam vorgebildet. Auf den von ihr geschaffenen Voraussetzungen aufzubauen, die Pläne von 1848 der Reifung und Verwirklichung zuzuführen, war erst der folgenden Generation vergönnt. An der Kraft des Partikularismus scheiterte für diesmal die Idee der nationalen Souveränität ; aber die Vorkämpfer der Reichsgründimg von 1871 empfingen von ihr die Grundrichtung ihres Lebens und Wirkens. Für den genialsten unter ihnen, für Heinrich von Treitschke, ward die 48 er Revolution zur entscheidenden Tatsache seiner Entwicklung. Unter den Eindrücken dieses Jahres erwachte er zu bewußtem Dasein, pflanzte sich dem Sohn der treu monarchischsächsisch gesinnten Offiziersfamilie das Ideal der nationalen Einheit in die Seele, welches sein gesamtes Denken und Wollen beherrscht, dem er in seltener Konsequenz sein ganzes Schaffen weihte. Der Gedanke an eine geeinte deutsche Nation, ihre Macht und Kulturgeltung in der Welt, war die zentrale Kraft, die ihn bewegte. Wohl lassen sich bei Treitschke Wandlungen und Ent*) Erich Mareks, Die europäischen Mächte und die 48 er Revolution, S. 84.



8



Wicklungen in seinen Anschauungen und Urteilen feststellen, doch geschieht aller geistige Fortschritt im Dienste seines unwandelbaren Ideals, an dessen überragende Größe er trotz wechselnder Ereignisse und Gesichtspunkte unerschütterlich glaubte. Weit entfernt, etwa in chauvinistische Enge und Unduldsamkeit zu geraten, bot seine Seele gleichzeitig einem freien Weltbürgersinn Raum. In seiner Jugend vermittelte ihm die Schule eine humanistische Erziehung, das klassische Persönlichkeitsideal wurde ihm fundamentales Bildungserlebnis; sein Lehrmeister war der Individualismus des 18. Jahrhunderts. Die nach klassischem Vorbild „frei entwickelte Persönlichkeit im nationalen Staat", das war die Synthese aus den weltbürgerlichen Elementen der vergangenen Epoche und dem modernen Nationalstaatsgedanken, die er in sich vollzog, und die eigentlicher Ausdruck seines Wesens ist. „Er vermochte es, inmitten der neuen politischen Zeit, humanistische und politische Ideale durch jene Kraft des Genius in sich zu vereinigen, die das Auseinanderliegende zusammenschließt und bezwingt"1). Auch in den Tagen der nationalen Staatsbildungen, wo die harte politische Notwendigkeit jedem Volke befiehlt, mit einseitigem Ernst an sich selber zu denken, tritt er dafür ein, daß der gesunde Kern jenes offenen, weitherzigen Weltbürgersinnes, dem die Deutschen vormals bis zum Übermaß huldigten, unverloren bleibe2). Was er sich davon bewahrt hat, ist die Bereitschaft der in starkem Nationalbewußtsein verwurzelten Persönlichkeit, überall imbefangen zu sehen und zu-lernen3), sich in die Eigenart fremden Volkstums zu vertiefen, sie anzuerkennen und zu würdigen, ohne darin aufzugehen oder aber in nationalistischen Eifer zu verfallen, vielmehr dadurch zu erhöhtem Verständnis für die dem angestammten Volke gemäßen Werte zu gelangen. Die Basis friedlicher Beziehungen unter der europäischen Völkergesellschaft sieht Treitschke im ungehinderten, geistigen Austausch, „im schönen Geben und Empfangen zwischen selbständigen Kulturvölkern"4); seine persönliche Einstellung zu den verschiedenen Nationen wird durch besondere, oft gefühlsmäßige Momente modifiziert. Betrachtete er doch das Weltgeschehen in erster Linie daraufhin, was es jeweilig für sein Vaterland zu bedeuten habe, und seine politische Meinung über die einzelnen Großmächte richtete sich nach deren Verhalten zu der brennenden deutschen Frage und dem späteren neuen deutschen ') ) ) 4 ) J

3

Erich Mareks, Gedenkblatt, S. 10. Briefe III, S. 373, an Márchese Guerrieri-Gonzaga, v. 17. 6. 1873. Briefe III, S. 513, an Fr. v. Treitschke, v. 24. 10. 1879. Hist. Polit. Aufs. III, S. 100.



9



Reich1),

wie es eben in seiner Art lag, „einem einzigen großen Grundgedanken alles unterzuordnen"2). Selbst in seinen historischen Werken ließ er sich durch die Intensität seines Gefühls zu leidenschaftlicher Stellungnahme hinreißen; wenn es galt, deutsche Belange zu verteidigen, dann verschmähte er alle „blutlose Objektivität" 3 ). Immer aber ist sein Beweggrund dabei ein tief sittlicher. *) Die Wandlungen, welche sich aus dieser Einstellung Treitschkes in seinem Verhältnis zu England ergaben, untersucht E . Leipprand, Treitschkes Stellung zu England, Stuttgart 1928. a ) Meinecke, Hist. Zeitschr. Bd. 123, S. 316. ' ) Briefe II, S. 351, an den Vater, v. 19. 11. 1864.

II. POLITISCHE STELLUNGNAHME BIS 1860.

Als Vierzehnjähriger erlebte Heinrich von Treitschke die deutsche Revolution. Politische Fragen traten zum ersten Male in seinen Gesichtskreis, denen er mit warmem inneren Anteil und einem für sein Alter ungewöhnlichen Ernst nachging. Was sich von dem historischen Ablauf im Kopfe des aufgeweckten, begabten Knaben widerspiegelt, wie die Grundtöne seines Wesens bereits damals, ab ihn die schicksalsschwere deutsche Bewegung von 1848 in ihren Bann zog, in Schwingung geraten, davon geben seine ersten politischen Briefe1) an den fernen Vater ein beredtes Zeugnis. In der Art, wie er Ereignisse und Gestalten erfaßt und beschreibt, sind alle Ansätze einer starken politischen Natur enthalten, es finden sich überraschend viele auf den Mann Treitschke und sein Lebenswerk vorausdeutende Züge. Das Wort des englischen Dichters Wordsworth „Das Kind ist des Mannes Vater" — für Treitschkes Leben erweist es seine Berechtigung. Mit frühreifem politischen Blick berichtet er von dem, was ihn bewegt, angefangen von den Zuständen der engeren sächsischen Heimat bis zur Verfassungsarbeit des deutschen Parlaments in Frankfurt. Vor allem begeisterten ihn die großen, am politischen Geschehen führend beteiligten Persönlichkeiten, ihnen schenkte er seine Aufmerksamkeit, sie beschäftigten ihn sogar im Spiel mit dem jüngeren Bruder2). Die Vorgänge, die ihn fesselten, betreffen fast ausschließlich das innerdeutsche Milieu, fremdländische Geschehnisse bekümmerten ihn kaum, mit der einzigen Ausnahme der französischen Präsidentenwahl, deren Resultat er „schrecklich gespannt"3) erwartet. Indessen erlaubt diese Äußerung keineswegs, daraus ein Interesse des Knaben Treitschke für die Entwicklung des französischen Staatswesens überhaupt zu folgern4); l

) Heinrich v. Treitschke, Briefe, Bd. I, 1834 bis 1858. ) Brief an den Vater v. 2. 12. 1848, Briefe I, S. 37. 3 ) An den Vater v. 23. 11. 1848, Briefe I, S. 34. *) Vgl. dazu Leipprand, S. 9; die diesbezügliche Stelle: „bis zu seiner Studentenzeit beschäftigten ihn fast ausschließlich die politischen Angelegenheiten Deutschlands. Nur die Entwicklung des französischen Staatswesens zog seine Aufmerksamkeit auf sich", kann sich nur auf die beiden zitierten Briefe stützen, da sich sonst in Treitschkes Briefen bis zur Studentenzeit keinerlei Erwähnung Frankreichs mehr findet. s



11



vielmehr beschränkte sich seine Anteilnahme deutlich auf die Person des Generals Cavaignac. Von den beiden Kandidaten für das Präsidentenamt der zweiten französischen Republik, Prinz Louis Napoleon und Cavaignac, galt seine Sympathie dem letzteren; er wünschte und erhoffte einen Wahlausgang zu seinen Gunsten 1 ), und zweifellos waren dabei persönliche Motive ausschlaggebend. Eine Wahl Cavaignacs, der in Frankreich seit dem Juniaufstand von den besitzenden Klassen als „Retter der Gesellschaft" vor dem drohenden Gespenst des Sozialismus gepriesen ward 2 ), hätten auch die gemäßigten Kreise des deutschen Bürgertums begrüßt, weil seine Persönlichkeit eine Gewähr für die Konsolidierung der französischen Verhältnisse zu bieten schien. Wie der vierzehnjährige Treitschke den Juniaufstand aufgenommen hat, wissen wir nicht, die politische Fragen berührende Korrespondenz mit dem Vater beginnt erst im Oktober 1848. Doch ist gewiß, daß das mannhafte, unerschrockene Auftreten Cavaignacs gegenüber den aufständischen Volksmassen, seine Ehrenhaftigkeit und sein streng soldatisches Pflichtgefühl, dank welcher Eigenschaften er keinerlei ehrgeizigen Mißbrauch mit den ihm von der Nationalversammlung anvertrauten, außerordentlichen Gewalten trieb, sondern seinem republikanischen Ideal die Treue hielt, bei dem Knaben einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Ein späterer Brief aus dem Jahre 1857 3 ) gibt in dieser Hinsicht ergänzenden Aufschluß. Darin schreibt er dem Vater, die Nachricht von Cavaignacs Tod habe ihn „menschlich ergriffen", es sei kaum zu begreifen, wie ein so unvergleichlich reiner Charakter in einer so tief verderbten Nation nur möglich war, ein solcher Beweis von Bürgertugend in einem solchen Volke, das sei unbegreiflich. Noch in „Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus" nimmt er im Abschnitt „Die Republik und der Staatsstreich" 4 ) den „reinen Charakter Cavaignacs" gegenüber „den unbillig harten Urteilen auch verständiger Franzosen" in Schutz 6 ), so scharf er die Februarrevolution im übrigen kritisiert, und betont, daß die Regierung Cavaignacs „unleugbar mehr Kraft und Mut bewährte, als ein deutsches Ministerium dieser Tage" 6 ). Den jungen Treitschke hat außerdem sicher das Bemühen Cavaignacs, zwischen den beiden extremen Parteien eine Mittelstellung zu be*) ) 8 ) «) s ) *) 2

Brief v. 23. 1 1 . 1848 an den Vater, Briefe I, S. 34. A. Stern, Geschichte Europas, Bd. 7, S. 38 ff. Brief v. 2. 11. 1857, Bd. I, S. 446. Hist. Polit. Aufs., Bd. III, S. 45 ff., Abschn. IV, S. 236 ff. A. a. O. S. 250. A. a. O. S. 2 5 1 .



12



1

wahren ), vielleicht auch dessen wiederholt und sehr nachdrücklich ausgesprochenes republikanisches Bekenntnis für ihn eingenommen, — er hatte fast zur gleichen Zeit in einer allerdings vorübergehenden radikalen Anwandlung dem Vater von einem theoretischen Republikanismus geschwärmt2). Zum Ergebnis der Wahl vom 10. Dezember 1848, aus der Louis Napoleon als Sieger hervorging, äußert sich Treitschke nicht mehr. Die deutschen Probleme prädominieren: was „unseres herrlichen Vaterlandes Macht und Größe"3) und aufs innigste damit verbunden, innere Freiheit zu mehren vermöchte, um daswar er fortan am meisten besorgt; wozu ihm „Sturm und Drang" von 1848 die grundlegenden Dispositionen geliefert hatte, das erarbeitete er sich in der Folgezeit zu geklärtem und dauerndem Besitz. Dabei fand er den unmittelbaren Anschluß an die Bewegung, deren Grundideen ihm am adäquatesten waren, an den Liberalismus, — einen Liberalismus freilich, nicht im Sinne einer bloßen Parteimeinung, sondern als diejenige geistige Haltung, wie sie für die reichsgründende Generation einzigartig ist: wurzelnd in der reichsten, der klassischen Epoche der deutschen Geistesgeschichte, erreichte er in den Jahren des staatlichen Werdens höchste Blüte und Fruchtbarkeit4). Für Treitschke wurde der Liberalismus Verkörperung seiner innersten Überzeugung, ein Teil seiner selbst. „Politische Ansichten sind nicht mehr politische Ansichten, sondern hängen mit der ganzen übrigen Denkweise eines Menschen innig zusammen", schreibt er 18545). Im allgemeinen hat Treitschke die Anschauungen der liberalen und nationalen Bewegung bis in die 6oer Jahre hinein geteilt und, gemäß seinem leidenschaftlichen Temperament, besonders radikal ausgesprochen. Auch er war zunächst in Ideologien und Doktrinen befangen und, wie seine Zeitgenossen, keineswegs imstande, realpolitische Notwendigkeiten zu erfassen; in einigen wesentlichen Punkten jedoch ging er schon sehr früh durchaus eigene Wege. Nationale und liberale Forderung deckte sich, ihm anfangs unbewußt, nicht unbedingt; die nationale überwog bei weitem, was ihn in innenpolitischer Beziehung zum unitarischen Staatsideal führte, auf außenpolitischem Gebiet veranlaßte, immer die deutschen Interessen als obersten Maßstab zu betrachten. Insbeson*) Vgl. den Brief v. 19. 12. 1851, Briefe I, S. 106. a ) Brief an den Vater v. 2. 12. 1848, Briefe I, S. 36. 3 ) Brief v. 31. 1. 1849 an den Vater, Briefe I, S. 46. 4 ) Wie ihn auch O. Westphal in seinem Buche „Welt und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus", Hist. Bibl. Bd. 41, dargestellt hat. ®) Brief v. 16. 7. 1854 an den Vater, Briefe I, S. 239.

— 13 — dere aber unterschied er sich von den übrigen Liberalen durch seine starke, kraftvolle Staatsgesinnung, sein Verständnis für Wesen und Notwendigkeiten des Staates, welches ihn bald befähigte, sein praktisches politisches Urteil von Formalismus und doktrinärem Denken, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts liberale Gepflogenheiten waren, mehr und mehr unabhängig zu machen und sich, in stetigem Ringen mit den augenblicklich herrschenden Stimmungen und Auffassungen, darüber zu erheben. Treitschkes Verhältnis zu Frankreich ist vorwiegend durch seine liberale Weltanschauung bestimmt. Solange er dem aktiven politischen Leben noch fem steht, reflektieren seine Briefe 1 ) nur die wichtigsten politischen Ereignisse in Frankreich, und aus diesen brieflichen Äußerungen spricht in erster Linie der liberale Treitschke. Noch in den 6oer Jahren, als er sich bereits von der liberalen Partei, ihrer von ihm herb getadelten Taktik wegen, zu entfernen begann, ging er in seiner Untersuchung über das französische Staatsleben von der Absicht aus, seinen Liberalismus zu verteidigen. Doch tritt gerade das, was seinem Liberalismus das individuelle Gepräge verleiht, sein Unitariertum, in seiner Stellungnahme zu Frankreich konsequent hervor. Für eine planmäßige theoretische Beschäftigung bot der französische Staat dem jungen Studenten nichts Anziehendes; seine Briefe beweisen, daß Frankreich damals ganz außerhalb seines geistigen Interessenkreises stand. Für den Aufbau eines deutschen Reiches, wie er es ersehnte, konnte ihm ein Land, dessen schöpferische Kraft nach einem sechzigjährigen politischen Ringen versiegt und zu innerer Freiheit dermalen unfähig schien2), nicht als Musterbeispiel dienen. Er, der die Zerrissenheit des eigenen Vaterlandes so schmerzlich empfand, wendete sich einem machtvolleren Vorbild zu, um daran zu lernen. Von Dahlmann, der seinem genialen Schüler eine überaus lebendige Explikation der britischen Verfassung gegeben hatte 3 ), noch speziell auf England hingewiesen, erfüllte ihn Bewunderung für die ruhige und stolze Größe des festgefügten englischen Staates mit seiner alten Verfassung4). Mit der nüchternen, völlig andersartigen Wirklichkeit des französischen Staatslebens hingegen geschah der erste Zusammenstoß aller seiner idealen und sittlichen Postulate. Am 2. Dezember 1 8 5 1 hatte der Präsident der Republik die Nationalversammlung gewaltsam aufgelöst und sich durch ein Plebiszit auf Grund des Seine Briefe bilden für diesen Zeitabschnitt die einzige Quelle. *) Vgl. Bonapartismus IV, Hist. Pol. Aufs., S. 278. 3 ) Vgl. Aufs, über Dahlmann, Hist. Pol. Aufs. Bd. I, S. 393. *) Vgl. Leipprand, S. 10.

— 14 — allgemeinen Stimmrechtes die Ermächtigung erwirkt, eine neue Verfassung zu verkünden1). Über diesen Staatsstreich waren in Deutschland breiteste Schichten empört, während ihm führende Staatsmänner als einem Sieg der Gegenrevolution, einem Triumph „der Ordnung und Autorität"2) Beifall zollten. Treitschke teilte die allgemeine Entrüstung nicht. Der Achtzehnjährige bewährte eine überraschende politische Einsicht; er reagierte darauf mit der Überlegung, welche Folgen die französische Affäre für Deutschland zeitigen könnte. Er habe mit vielen, die darüber sehr entrüstet seien, deswegen Streit gehabt, schreibt er dem Vater: „Ich denke aber, ich bin zunächst ein Deutscher, und daß die Katastrophe für Deutschlands Ruhe ein glückliches Ereignis ist, das liegt doch wohl auf der Hand"8). Treitschkes späteres realistisches Urteil, welches den Staatsstreich als unabweisbare Notwendigkeit begründete4), ist hier schon vorweggenommen; denn er verhehlte sich zwar nicht, daß es sich dabei um einen Rechtsbruch handle, was er beklagt, ist jedoch nicht diese Tatsache, sondern die Verwirrung der französischen Verhältnisse, die dahin geführt habe, daß man einen Rechtsbruch wie diesen gutheißen müsse6). Die Berechtigung eines energischen Regimes, in Anbetracht der Zerrüttung des Parteilebens, sah er vollkommen ein. Nur daß dieser Mann der starken Hand Napoleon hieß, war ihm zuwider. Er zweifelte ernstlich an dessen reiner Gesinnung8) und hielt ihn für einen gewissenlosen Egoisten. Louis Napoleon hatte es verstanden, sich um seiner ehrgeizigen Pläne willen geschickt im Hintergrunde zu halten und so den Eindruck eines ungefährlichen Menschen zu erwecken. Auch für Treitschke war es „gräßlich", daß man sich über den Sieg eines „unbedeutenden Menschen" freuen müsse7). Der erste Regierungsakt des Prinzen nach dem Staatsstreich, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, erregte Treitschkes heftiges Mißtrauen, er hielt diese nicht nur für unrecht, „der großartigen Lüge" wegen, die er darin erblickte, sondern auch für höchst unklug8), weil sie dem Volke den gefährlichen appel ä la nation garantierte, der den Massen gestattete, ihn eventuell gegen das Staatsoberhaupt anzuwenden. Vgl. Stern, Geschichte Europas, Bd. V I I , S. 712 ff. 2) 3)

*) 6)

*) ') 8)

A. a. O. S. 763. Brief v. 19. 12. 1851, Briefe I, S. 106. Im Bonapartismus I V , Hist. Pol. Aufs. I I I , S. 287. Brief v. 19. 12. 1851, Briefe I, S. 106. Brief v. 19. 12. 1851, Briefe I, S. 106. Brief v. 15. 12. 1851, an Klee, Briefe I, S. 104. Brief v. 6. 2. 1852, an den Vater.

— 15 — Uber das proteische Wesen, „die diabolische Halbwahrheit" dieses Systems war er sich sofort klar. Die neue Verfassung sah zwar eine Repräsentation auf breitester Grundlage vor, doch waren ihre Befugnisse aufs äußerste beschränkt, das auf zehn Jahre gewählte, allein verantwortliche Staatsoberhaupt hatte auch in der Gesetzgebung die alleinige Initiative, alle Minister waren von ihm abhängig. In dieser Verfassung seien beide Extreme vorhanden, konstatierte Treitschke, und daraus könne schwerlich etwas Gutes entstehen 1 ). Wenn er anläßlich des Krimkrieges schreibt, „ich bin ein eifriger Franzosenfeind" 2 ), so klingt in diesen Worten wieder seine Antipathie gegen den französischen Staatslenker hindurch. Die kriegerischen Aktionen, in die das Kaiserreich in den folgenden Jahren eingriff, berühren ihn nur insoweit, als sie der deutschen Einheitsbildung indirekt nützlich sein können, wie der italienische Krieg. Die europäische Frage, zu der sich die Spannung zwischen Rußland und der Türkei ausgewachsen hatte und an der sich Frankreich als Parteigänger der Türkei aktiv beteiligte, war ihm, wie alle für Deutschland irrelevanten Dinge gleichgültig, interne deutsche Angelegenheiten dagegen „tausendmal wichtiger" 8 ). Anfangs erachtete er die unheilbare Mißwirtschaft des türkischen Staates, unter der die christliche Rajahbevölkerung seufzte, nicht der Erhaltung durch bewaffnete Intervention wert 4 ); daher bezichtigte er England und Frankreich einer nur vom Neid auf die Beute diktierten Politik und nannte sie hinterlistig und feig6). Beim Studium der russischen Geschichte aber wurde ihm offenbar, daß Rußlands Ansprüche auf das Patronat über sämtliche griechische Christen der Türkei willkürliche waren®). Vom liberalen Standpunkt aus konnte er somit nicht umhin, anzuerkennen, daß Frankreich die Belange Europas vertrat, wenn es den „schamlosen Eingriff in das Völkerrecht" abwehrte und „den Störer der Ruhe Europas zu bändigen" unternahm7). Doch war er weit davon entfernt, hierin ein besonderes Verdienst Napoleons zu sehen. Eine Solidarität mit dem reaktionären Rußland 2)

Briefe I, S. 112, an den Vater v. 6. 2. 1852. Briefe I, S. 238 f., an den Vater v. 16. 7. 1854.

3)

Briefe I, S. 209 v. 18. 1. 1854. Mit demselben Argument suchten auch die englischen Liberalen Cobden und Bright dem Kriegseifer ihrer Nation zu wehren. Vgl. Stern Bd. V I I I . 4)

s)

Briefe I, S. 209, v. 18. 1. 1854, an den Vater. Briefe I, S. 214, an den Vater v. 15. 4. 1854. ') Briefe I, S. 238, an den Vater v. 16. 7. 1854. 6)



16



ablehnen1),

mußte er aber auch ein Kampf an der Seite der Westmächte, wie ihn die Kreise um den Prinzen von Preußen wünschten, damit „Rußland durch Handeln eine Lehre erteilt werde", wurde von Treitschke nicht diskutiert, eben weil ein solcher für Deutschland keinen Gewinn, wie er ihn erstrebte, versprach. In •diesem Punkte begegnete er sich unbewußt mit Bismarcks Parole „strenger Neutralität". Sodann traute er dem „entarteten" französischen Volke wohl nicht die nötige Stoßkraft zu, um eine •endgültige und befriedigende Regelung dieser Frage durchzusetzen und Europa von jenem russischen Einfluß zu befreien, der „von jeher nur auf die Schwächung der Selbständigkeit und Niederhaltung der Freiheit seiner Nachbarn hingearbeitet" habe8). In ungleich stärkerem Maße aktivierend wirkte der italienische Krieg auf Treitschke. Auch hier ist der Blick noch ganz nach innen gerichtet, die europäische Krise führte ihn bezeichnenderweise zur entschiedenen Formulierung seines kleindeutschen Programmes. Preußen soll an Österreichs Seite in den Krieg eingreifen, um Österreich den empfindlichsten Schlag beizubringen3), um es aus Deutschland hinauszudrängen. Nach dieser These orientierte er seine Haltung zu Frankreich. Als Gegner galten ihm beide; hinsichtlich der Kriegstaktik aber befürwortete er •schon eine Art Politik des staatlichen Egoismus. „Das trostlose Dilemma" zwischen zwei an sich gleich Unwürdigen wählen zu müssen, dem „pfäffischen Hause Habsburg, dem Erbfeind der •deutschen Einheit" und dem französischen Despoten, der in seinem Lande „Mann der Situation sei" und sich mindestens auf •das allgemeine Stimmrecht stützen könne4), sollte PreußenDeutschland dadurch überwinden, daß es die Partei unterstützte, von der dafür Zugeständnisse in der deutschen Frage zu erlangen wären. Einen solchen konkreten Vorteil versprach er sich von "Österreich als Kriegspartner, zumal da der Gedanke einer Frontstellung gegen Frankreich die öffentliche Meinung Deutschlands über persönliche Auffassungen hinweg beherrschte5). Treitschke dachte jedoch dabei nicht an einen Prestigekampf für das liberale Freiheitsprinzip; zu den Intentionen der süddeutschen Liberalen, •die dem Despotismus Napoleons ein Ziel setzen wollten, bemerkt !) Briefe I, S. 238. 2 ) A. a. O. 3 ) Briefe II, S. 35, an Bachmann, v. 16. 6. 1859. 4 ),Briefe II, S. 30, an Nokk, v. 15. 6. 1859. 5 ) Vgl. O. Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, S. 125.

— 17 — er nüchtern: „Sind wir die Vormünder der Franzosen?"1) Dem extremen Napoleonhaß Häussers, der über die „Schmach: und Gefahr" wetterte, daß in Europa die große Politik „von einem Räuberhauptmann und einer Diebesbande" gemacht werde2), neigte er ebensowenig zu, wie der „Napoleonvergötterung" Wilhelm Beselers8), nach dessen Meinung die napoleonische Gefahr überschätzt wurde. Gleichwohl lebte auch Treitschke in der Vorstellung, daß Napoleon irgendwelche dunklen Pläne hege, um in Fortsetzung der traditionellen französischen Politik die europäische Mitte in Schwäche und Ohnmacht niederzuhalten4). Darum war Treitschke im Unterschied zu Gervinus, welcher vor unbedachter Kriegshetze warnte und die neutrale Haltung der preußischen Regierung verteidigte5), für eine energische Kriegspolitik gegen Frankreich; Deutschland sollte nicht nur eine „imponierende Defensivstellung" einnehmen6), sondern unter Preußens Führimg schlagen, um eine Hegemonie Frankreichs und damit seines Despotismus zu verhindern, von der er allerdings fürchtete, sie werde einen verderblichen „moralischen Einfluß" auf die in Preußen sich anbahnende, von ihm so hoffnungsvoll begrüßte freiheitliche Entwicklung ausüben7). Die Beweggründe Napoleons, der doch zugleich für die schicksalsverwandte italienische Freiheitsbewegung kämpfte, vermochte Treitschke damals nicht unbefangen zu würdigen, weil sich seine Kombinationen allein auf das für Deutschland Aktuelle erstreckten. Der unerwartete Friedensschluß von Villafranca schien die Besorgnisse betreffs der vermeintlichen Absichten des Kaisers zu rechtfertigen. Treitschke glaubte zunächst ernsthaft, Napoleon habe Italien nur deshalb aufgegeben, um sich am Rhein entschädigen zu lassen8) und mutmaßte, die bisherigen Gegner, Frankreich und Österreich, hätten sich auf Kosten des unbequemen l) s)

Briefe II, S. 30, an Nokk, v. 15. 6. 1859. Deutscher Liberalismus I, S. 35, Häusser an Baumgarten, v. 14. 5.

1859. 3)

Briefe II, S. 40, an Ägidi v. 13. 7. 1859. Vgl. hierzu Briefe II, S. 23, an die Mutter, v . 29. 4. 1859. s ) Deutscher Liberalismus I, Gervinus an Baumgarten, v. 29. 4. 1859, S. 30. 4)

•) Diesen Gedanken hatte Baumgarten in einem Brief an Gervinus (v. 7. 5. 1859) ausgesprochen; Deutscher Liberalismus I, S. 54. ') Briefe II, S. 30, an Nokk, v. 15. 6. 1859. 8) „Mir ist, als sähe ich die geheimen Friedensartikel SchlesienRheinland vor diesen meinen Augen" schrieb Treitschke am 13. 7. 1859 an Nokk (Briefe II, S. 39). Beiheft d. H. Z. 32.

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Dritten geeinigt und würden sich nunmehr gemeinsam gegen Preußen wenden. Um diese Gefahr zu bannen, sollte Preußen in raschem Entschluß den Antrag auf Änderung der Bundesverfassung und Berufung eines deutschen Parlamentes in Frankfurt stellen1). Nach Beendigung des Krieges gehörte der absolute Gegensatz zu Frankreich weiterhin zu den Richtlinien der liberalen Politik2). Die Haltung des Kaisers ward mißtrauisch beobachtet und allgemein argwöhnte man französische Eroberungspläne. Daß die deutsche Einheit einmal in einem Kriege gegen Frankreich erkämpft werden würde, ahnte man bereits 1859 voraus. Auch 1860 wurde noch immer mit dem Gedanken, einen Nationalkrieg gegen Frankreich anläßlich der savoyischen, später der venezianischen Frage zu entzünden, gespielt3). Treitschke wollte für einen solchen Krieg, den auch er herannahen sah, nur einen rein deutschen casus belli geltend wissen und diesen sollte die Schleswig-Holsteinsche Frage abgeben. In der Einlösung dieser alten „deutschen Ehrenschuld" erblickte er die „erhabene positive Aufgabe" der preußischen Politik für die nächste Zukunft4). *) A. a. O. ») Vgl. Westphal, S. 145. A. a. O. S. 156. 4 ) Treitschke, Briefe II, S. 114.

III. TREITSCHKE ALS HISTORIKER.

A. SEINE FRANZÖSISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG. Wie wir sahen, beschränkte sich Treitschke in den Jahren der theoretischen Vorbildung für seinen künftigen Beruf darauf, in rein tagespolitischen Fragen zu Frankreich Stellung zu nehmen. Anregungen, die von Staat und Gesellschaft des Nachbarvolkes und seiner Geschichte ausgegangen wären, sind nirgends nachweisbar. Während er sich mit dem britischen Staat ausführlich auseinandersetzt, die Grundlagen von Englands Macht und Größe untersucht1) und sich an dem englischen Freiheitskämpfer Milton begeistert*), schreibt er bezeichnenderweise in der Rezension über Rochaus Geschichte Frankreichs8), die wirrenreiche neufranzösische Geschichte mache ihm „einen traurigen Eindruck" und sein Interesse daran sei „ein vorwiegend pathologisches"4). Wenn man überhaupt von einem Einfluß sprechen darf, so konnte sich dieser nur im negativen Sinne auswirken: seine Anschauung vom Wesen des Staates formulierte Treitschke im scharfen Gegensatz zur französischen Staatsauffassung, wie der Aufsatz über die „Freiheit"6) zeigt. Es ist somit kein Zufall, daß erst die in sich gefestigte Persönlichkeit, deren politische Entwicklung als nahezu abgeschlossen gelten konnte, von dem publizistischen, für die einmal gewonnenen Anschauungen geführten Kampf aus, zu einer kritischen Betrachtung der Institutionen des modernen französischen Staates und der politischen Gedanken, die seinem Aufbau zugrunde liegen, gelangte. In der Studie „Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus", einem Zyklus in der Reihe seiner großen historisch-politischen Aufsätze, *) In den beiden Arbeiten „Die Grundlagen der englischen Freiheit" 1858, Pr. Jahrb., Bd. I, S. 366 ff., „ D a s Selfgovernment" 1860, Pr. Jahrb., Bd. 6, S. 25 ff. а) Im Aufsatz über Müton, Hist. Pol. Aufs., Bd. I, S. 1 ff. 3) A. L. v. Rochau, Geschichte Frankreichs 1814—1852, I. Teil, 1814 bis 1837. 4) Rezensionen aus dem Literar. Zentralblatt 1858, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 498. б) Hist. Pol. Aufs., Bd. III, S. 3 ff. 2*



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schildert Treitschke die Ausbildung des zentralistisch-cäsaristischen Systems in Frankreich durch Napoleon I. und begleitet das Land des Bonapartismus vom ersten bis zum Sturze des zweiten Kaiserreiches. Die Arbeit zerfällt in fünf Teile, die in den Jahren 1865 bis 1868 zunächst in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlicht1), erst 1871 durch die neuesten Ereignisse berücksichtigende Betrachtungen ergänzt, in der ersten Gesamtausgabe der historisch-politischen Aufsätze vereinigt wurden. Sie trägt, gemäß ihrer langen Entstehungszeit, keinen ganz einheitlichen Charakter; das erste Kapitel nimmt eine gewisse Sonderstellung gegenüber den übrigen ein. Gegen die großpreußisch-unitarisch gesinnte Gruppe der Liberalen, unter denen sich Treitschke am leidenschaftlichsten für die Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen eingesetzt hatte8), ward, zufolge ihrer heftigen Fehde gegen den liberalisierenden Partikularismus, der Vorwurf erhoben, sie liebäugele mit dem Cäsarismus3). Da griff Treitschke den Vorschlag Mommsens, eine Besprechung der vie de César von Napoleon III. zu schreiben, dankbar auf, um in einer solchen Arbeit, zu der er sich „in Konsequenz seiner unitarischen Sünden"4) gedrängt fühlte, zu zeigen, „daß wir trotz alledem Liberale sind und bleiben"5), zugleich um seine Ideen über den Bonapartismus, die er „einem teilnahmlosen Freiburger Studentenpublikum" vorgetragen hatte®), einem weiteren Kreise zugänglich zu machen. So hält sich der Aufsatz „zwischen Rezension, politischer Streitschrift und historischer Darstellung"7); diese Grundtendenzen verleihen ihm eine aggressive Note, obwohl sich Treitschke darin um ein ruhiges, unparteiisches Urteil bemühte8); er wurde später ohne wesentliche Ändel ) Bonapartismus I, Das erste Kaiserreich, Freiburg 1865, Pr. Jahrb., Bd. 16, S. 197 ff. — Bonapartismus II, Alte und neue besitzende Klassen, Kiel 1867, Pr. Jahrb., Bd. 20, S. 357 ff. — Bonapartismus III, Die goldenen Tage der Bourgeoisie, Heidelberg, 1868 Pr. Jahrb., Bd. 21. — Bonapartismus IV, Die Republik und der Staatsstreich, Heidelberg 1868, Pr. Jahrb., Bd. 22. — Bonapartismus V, Das zweite Kaiserreich, Heidelberg 1869, Pr. Jahrb., Bd. 23.

*) In „Die Lösung der Schleswig-Holsteinschen Frage", Deutsche Kämpfe I, S. 9 ff. s ) Bonapartismus I, Hist. Pol. Aufs. III, S. 48. 4 ) Briefe II, S. 387 an Zarncke, v. 20. 3. 1865. 5 ) Briefe II, S. 392, an Mommsen, v. 10. 4. 1865. •) Briefe II, S. 415, an Mohl, v. 27. 9. 1865. ') Schiemann, S. 239. 8 ) Briefe II, S. 415.



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rangen in die Gesamtausgabe eingegliedert1). Die ursprüngliche Anlage des Ganzen schien zunächst auf zwei, das erste und das zweite Kaiserreich behandelnde Abschnitte berechnet2); als jedoch Treitschke die Studien für den Bonapartismus wieder aufnahm3), war ein bedeutungsvoller Wandel seiner Anschauungen eingetreten. Hatte er bereits 1864 eingesehen, „daß die Politik die Wissenschaft des Erreichbaren ist" und sich zu einer schrittweisen Lösung der deutschen Frage im Bismarckschen Sinne bekannt, obgleich er ihm zu dieser Stunde noch nicht zu folgen vermochte, und sich energisch von den doktrinären Bindungen der liberalen Partei befreit, so hielt er doch an der Uberzeugung von der Notwendigkeit des parlamentarischen Systems einstweilen fest. Die Schrift „Der Krieg und die Bundesreform"4) verlangt nachdrücklich eine entschlossene Änderung des Systems im Inneren und die Herstellung der verfassungsmäßigen Rechte des Landtages, insbesondere des Budgetrechtes8). Die Ereignisse von 1866 bahnten eine Abkehr von dem Glauben an die „alleinseligmachende konstitutionelle Doktrin" an'). Treitschke ermahnt die Liberalen, von dem Wahn abzustehen, Preußen lasse sich ohne weiteres nach belgisch-englischem Muster umgestalten7}; nicht Schwächung der exekutiven Gewalt, sondern Stärkimg der konservativen Kräfte des Staates fordert er für ein Preußen, das eine deutsche Mission zu erfüllen habe8). ') Die Ausgabe von 1871, in der der Aufsatz seine jetzige Form erhielt, enthält einige Zusätze, die einzelne Gedanken weiter ausführen, nur die für Treitschkes Urteil über Napoleon III. bezeichnende Wendung fehlt: „Der ernste Beobachter kann nur mit peinlichen Empfindungen diesen Lärm der Presse um die schwere literarische Niederlage des Fürsten betrachten, dem seit Cavours Tode niemand den Namen des ersten Staatsmannes der Epoche bestreiten darf." Pr. Jahrb., Bd. 16, S. 198. J ) Vgl. Briefe II, S. 421, wo Treitschke an Frau von Brockhaus schreibt: „Der zweite Teil wird einige Monate auf sich warten lassen;" ferner Briefe II, S. 438, an Hirzel, v. 28. 1 1 . 1865, in dem Treitschke seinen Plan für einen zweiten Band Aufsätze entwickelt, er sollte unter anderem den „Bonapartismus" in zwei Kapiteln enthalten. 3 ) Im Herbst 1866. 4 ) Deutsche Kämpfe I, S. 75 (Pr. Jahrb., Bd. 19, S. 677 ff.). ') A. a. O. und im Brief an Bismarck v. 7. 6. 1866, Briefe II, S. 477. •) Politische Korrespondenz v. 31. 12. 1868, Pr. Jahrb., Bd. 23, S. 126, Deutsche Kämpfe, S. 256. ') Politische Korrespondenz v. 10. Juli 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 101 ff. 8 ) Vgl. das Kapitel „Die konservativen Kräfte im preußischen Staat" in „Das konstitutionelle Königtum", Hist. Pol. Aufs., Bd. 3, S. 457 ff.



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Für den „Bonapartismus" ergab sich aus dieser Sinnesänderung die Einordnung in den umfassenderen Rahmen einer Untersuchung über den festländischen Parlamentarismus und die Gründe seiner Unfruchtbarkeit1). Als erste Beiträge hierzu waren die Kapitel „Alte und neue besitzende Klassen" und „Die goldenen Tage der Bouigeoisie" gedacht, wobei Treitschke den Abschnitt über das Julikönigtum zugleich mit einer herben Kritik des regierenden Liberalismus2) verband. In den beiden letzten Kapiteln zieht er die Schlußfolgerungen aus den bisherigen Ergebnissen und erläutert, wie das Wiederaufleben des Bonapartismus in einer neuen Form möglich und, nach dem Versagen der französischen Verfassungsexperimente, notwendig ward. Vom praktischen Bedürfnis ausgehend, in Erwägung der verschiedenen Eventualitäten einer Gestaltung des deutschen Staates, beschreibt Treitschke nicht den Fluß der Ereignisse, wie die meisten Historiker in Verfolgung des von Ranke eingeschlagenen Weges, sondern er betrachtet die Zustände, die sich „aus dem unendlichen Ringen der historischen Kräfte herausbildeten"; er will die Berechtigung der Lebensformen der Völker, die Bedingungen ihres Gedeihens und ihres Verfalles auffinden, die historischen Tatsachen für die politische Erkenntnis und Belehrung verwerten8). Er suchte in das innerste Leben der französischen Nation und ihres Staates einzudringen, um mit Hilfe der vergleichenden Methode die Eigenart seines Volkes und das ihr Gemäße mit klarerem Bewußtsein zu verstehen4). Primärer Antrieb und Leitmotiv war ihm auch im „Bonapartismus" letzten Endes der Kampf gegen Maximen, die dem eigenen Vaterlande zum Verderben gereichen konnten; aber ein unbefangener, lauterer, wahrheitsliebender Sinn5) vereinigte sich bei ihm ganz eigentümlich mit dem ursprünglichen Drang, zu überzeugen und zu warnen ') Briefe III, S. 190, an Freytag, v. 14. 11. 1867, desgl. Briefe III, S. 170 an Hirzel, v. 12. 9. 1867. f ) Briefe III, S. 171, an Wehrenpfennig, v. 16. 9. 1867. 3 ) Hist. Pol. Aufs., Bd. 2, Die Republik der vereinigten Niederlande, S. 395 f4 ) Hist. Pol. Aufs., Bd. 3, S. 436, Das konstitutionelle Königtum in Deutschland. 6 ) Um diesen Sinn für Wahrhaftigkeit, den er wiederholt als vornehmste Gabe der deutschen Historiker rühmte, im Unterschied zu den Franzosen, „die meist nicht wissen, was Wahrhaftigkeit ist", hat Treitschke imitier wieder gerungen; so schreibt er an Baumgarten: „Wenn ich Tatsachen erzähle, ist es mir rein unmöglich, etwas zu bemänteln". (Brief v. 30.1. 1870, Briefe III, S. 203; vgl. auch an Oberbeck am 28.6. 1873, Briefe III, S. 375; an Hirzel, Briefe II, S. 309 u. a.

— 23 — und befähigte ihn, weit über die selbstgezogenen Grenzen hinaus, zu einer freien und tiefen Ergründung der historischen Erscheinungen des Nachbarlandes, die, auf der Basis exakt betriebener Wissenschaft und unermüdlichen Gelehrtenfleißes beruhend1), noch heute den Anspruch auf Gültigkeit ihrer allgemeinen Resultate erheben darf1). Das Recht auf eine subjektive Meinung, auf einen ausgesprochen persönlichen Standpunkt billigte sich Treitschke auch als Historiker zu und wußte sich dabei in Gesellschaft großer Vorgänger in der Geschichtsschreibung3); doch bewährte ihn seine psychologische Begabimg, nach welcher er fremdes Volkstum aus dessen eigenen Wurzeln zu begreifen strebte4), und eine ergänzende, auf mehreren Reisen erworbene, praktische Vertrautheit mit demselben vor unfruchtbarer Negation und von vornherein absprechendem oder gar verdammendem Urteil; vielmehr war er davon überzeugt, daß für die Struktur des andersartigen französischen Staatsorganismus eigene Gesetze vorhanden seien und nicht mit mechanisch übertragenen Maßstäben gemessen werden dürfe. Aus völkischer Eigenart und Geschichte, charakterologisch und historisch-genetisch, erklärte er die Staatsform8). Im folgenden sei ein einheitliches Bild aus den zahlreichen verstreuten Bemerkungen Treitschkes über die seelischen Grundhaltungen des französischen Volkes entworfen, sofern sie ihn in bezug auf seine Arbeiten interessierten. B. DER FRANZÖSISCHE VOLKSCHARAKTER. Treitschkes Bemühen um ein Verständnis für französische Wesensart geht mit besonderer Eindringlichkeit auf einen Komplex von Charaktereigenschaften aus, die im Unterschied zur individualistischen Veranlagung der Deutschen, auf allen Gebieten des geistigen, politischen und kulturellen Lebens Zentralisation bevorzugen, wobei die im übergeordneten Ganzen gesammelten Kräfte bis ins Einzelschicksal hinein richtunggebend und bestimmend wirken. Treitschke sieht in dieser eigentümlichen Tendenz eine spezifisch französische Notwendigkeit, die zu Zeiten 1)

Briefe III, S. 169, an. Hirzel, v. 12. 9. 1867. Vgl. dazu das Werk A. Sterns „Geschichte Europas". *) Briefe II, S. 351, an den Vater, v. 19. 11. 1864. 4) Vgl. Briefe II, S. 411, an Frau Asverus, v. 30. 8. 1865. 6) Vgl. die Themastellung in „Bonapartismus I", S. 48, „Ist der Bonapartismus im Charakter und in der Geschichte des französischen Volkes begründet ?" 2)

— 24 — eine wahrhaft glänzende Blüte der Kultur und des Staates hervorgebracht1), in der jüngsten Epoche der französischen Geschichte jedoch zu einer Übersteigerung der Staatsallmacht geführt habe. Als bleibender Gewinn ist dem Zentralisationsdrang die Ausprägung eines scharf profilierten Nationalcharakters zuzuschreiben, indem alles nach Eigendasein Verlangende, die straffe Staatseinheit In-Frage-Stellende unmöglich gemacht wird. Aufschlußreich dafür erscheint Trritschke die Revolution, welche, die „geheimsten Neigungen des Volkes" aufdeckend, den Drang nach unbedingter Staatseinheit gebieterisch geltend werden ließ2). Mit Recht, meint Treitschke, rühmen sich unsere Nachbarn eines Vorzuges vor den anderen Großmächten: „Frankreich besitzt kein Irland, kein Polen, alle Provinzen sind mit ganzer Seele französisch"8) und mit Bedauern konstatiert er, „daß die Deutschen leider nicht jenen schönen instinktiven Nationalstolz" besäßen, „der in Frankreich jedes fremde Volkstum zwang, sich der nationalen Sitte unbedingt zu unterwerfen"4). In dem stolzen Gefühl für Nationalehre, in dem strengen Sinn für nationale Würde erblickt er die Quelle machtvoller nationaler Eigenart, welche es stets abgelehnt habe, fremde Institutionen blindlings nachzuahmen8) oder das Vaterland interner Parteigegensätze wegen vor dem Auslande bloßzustellen8), vielmehr den Größen des eigenen Volkes jederzeit Anerkennung zollt, „jedes große Talent als ein Stück vaterländischen Ruhmes hochhält"7). „Hochherzig" nennt Treitschke die Vaterlandsliebe der Franzosen, „die sich in den Tagen der Gefahr zum Heldentum steigert"8). . Die ethische Reinheit dieses ehrenhaften Patriotismus pflegt jedoch normalerweise keine ungetrübte zu sein; in seinen früheren Schriften neigt Treitschke dazu, einen Wesenszug in den Vordergrund zu schieben, die französische Eitelkeit, die sich dem nationalen Selbstbewußtsein verbindet und oft einen Geist der Überhebung, im Extrem „maßloser Selbstüberhebung der Nation" schafft9). Sie glaube als „Erbin altrömischer Traditionen"10) be*) Briefe III, S. 209, an Wehrenpfennig, v. 19. 4. 1868. ) Bonapartismus I, S. 51. 3 ) Bonapartismus II, S. 121. 4 ) Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 632. s ) Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 635. Treitschke zitiert Bismarck. •) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 542. ') Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 431. 8 ) Bonapartismus I, S. 54. •) L Bonapartismus II, S. 149. 10 ) Bonapartismus I, S. 76. 2

— 25 — rufen zu sein, sich „am glänzenden Vorbild der römischen Weltherrschaft zu sonnen"1), als „messiänisches Volk der Freiheit"2) erwählt, alle Welt mit „den Ideen, die den Namen Frankreichs tragen"3), zu beglücken. Der nationale Ruhm sei ein Phantom, unter dessen Einfluß selbst „Vernunft und Billigkeit verstummen"4). Ein starkes Propagandabedürfnis fördere die „anspruchsvolle Herrschsucht"6); Treitschke ist gerecht genug, mehrfach zu betonen, daß nicht allein unedle Motive4) dafür verantwortlich zu machen sind, sondern daß man, als die eine Ursache, den nationalen Stolz verstehen und anerkennen soll, zuweilen sogar einen „weitherzigen Idealismus", einen „hochsinnigen Zug", mit dem die propagandistischen Ziele vertreten werden7), wenn auch die zweite Quelle dieses Bestrebens sooft Treitschkes Feingefühl beleidigt, eben jene übersteigerte nationale Eitelkeit8), deren Befriedigung von fremder Seite mit Willkür verlangt wird. Nicht minder heischt das Volk auch von den eigenen Souveränen Nahrung für diese Leidenschaft; ihre Macht erhielten sie sich immer nur so lange, als sie diese Sehnsucht zu stillen vermochten, wofür Treitschke bezeichnend ist, daß selbst das Schicksal Napoleons I. keine Ausnahme darstellt9). Er vermißt engere Bindungen, die im Wechsel der Geschicke sich bewähren; der Begriff angestammter Treue fehlt10), die alte keltische Untreue, den „vollständigen Mangel an Pietät" 11 ) betrachtet er als französischen Erbfehler. Leichtfertig und schamlos erscheint ihm dieses ridendo frangere fidem12), widerwärtig das auch im geistigen Leben häufige Schwanken zwischen plumpem Autoritätsglauben und frevelhafter Frivolität13). Die Art, wie die Gebildeten den Soldatenkaiser zum Götzen erhoben, ihn zum „Wahngebilde nationaler Eitelkeit" machten14), sieht !) A. a. O. S. 77. Bonapartismus II, S. 149; Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 119. 3) Bonapartismus III, S. 187 und IV, S. 252 u. I, S. 79. 4) Bonapartismus I, S. 76. 5) A. a. O. S. 79 und III, S. 187. 6) Bonapartismus I, S. 79. ') Bonapartismus III, S. 187. 2)

8) Bonapartismus IV, S. 252 und Brief an den Vater, v. 6. 11. 1864, Briefe II, S. 343.

») Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 9. A. a. O. n ) Bonapartismus I, S. 49. la ) Bonapartismus II, S. 128. 13) Bonapartismus I, S. 59. 14) Bonapartismus IV, S. 264. 10)



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Treitschke abgelöst von „grenzenloser Untreue"1), als das Kriegsglück ihn verließ. Nur wo der französische Genius leuchtet, sind alle populären Sympathien wach; sogar die nüchterne Objektivität der Geschichte findet er in diesem Sinne umgewertet: Zusammenbruch und gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden schreibt die Eitelkeit der Franzosen nicht der Tatsache zu, daß bei ihnen das alte System noch weit verfaulter gewesen, denn irgendwo, sondern der genialen Kraft und Kühnheit des Esprit gaulois!2) Für Lob und Schmeicheleien, die dem französischen Namen gelten, zeigt sich höchste Empfänglichkeit; mit Undank und Unbill, so urteilt Treitschke, vergißt die Nation, daß keltisch-romanisches Blut die großen historischen Leistungen nicht ohne Hilfe des germanischen Elementes vollbrachte, von dem man sich in entschieden mißgünstiger Weise abgewendet hat, und dem Frankreich doch einen guten Teil seiner Größe schuldet3). Selbstbewunderung besteht als heftiges Bedürfnis; Treitschke berichtet seine Eindrücke darüber, wie in der Hauptstadt Paris alle historischen Denkmäler konzentriert sind, blendend und betörend zugleich, wie das Kulturgut eines ganzen Volkes an einer Stelle zusammengedrängt erscheint4). Er begreife, sagt Treitschke, wie eine eitle Nation in dieser krassen Zentralisation ihren Ruhm finden könne. Vermag die Zentralisation unter solchen Umständen die begehrlichsten Wünsche des Volkes nach Prestige und äußerem Glanz zu erfüllen, so hat sie auf politischem Gebiet eine Machtfülle der obersten Staatsgewalt begründet, die ein freies Staatsleben, wie es Treitschke versteht, unmöglich macht5), indem sie keinerlei Rücksichten auf die Rechte des Staatsbürgers nimmt, sich jedoch trotz dieser Einstellung als dauerhaft erweist. Die psychologische Erklärung für dieses ungewöhnliche Verhältnis bietet Treitschke eine allgemeine Charaktereigenschaft der Franzosen, ihr mangelhaftes Rechtsgefühl6). Auf den „sehr unentwickelten Sinn des einzelnen für Recht und Ordnung"7) stützten sich alle politischen Systeme in Frankreich und wußten sich durch Ausnutzung dieser „Untugend" zu behaupten; von seiten der Staatsgewalt wiederum wurde durch beharrliche Gesetzesverletzungen und Ausnahme2) 3) 4) 5) e)

')

Bonapartismus V, S. 422. Bonapartismus I, S. 79 und Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 119. Bonapartismus I, S. 76. Briefe II, S. 343, an den Vater v. 6. 11. 1864. Vgl. unten S. 33 ff. Bonapartismus I, S. 75. A. a. O. S. 54.

— 27 — gesetze dieses „ohnehin nicht kräftige Rechtsgefühl von Grund aus verwüstet" 1 ) und tyrannischer Gewalt, jenem altfranzösischen Charakterzug8), der Boden bereitet. Jahrhundertelange Gewöhnung an ungesetzliche Willkür läßt es Treitschke nicht verwunderlich sein, daß dieses Volk für das Recht fremder Nationen von jeher noch weniger Verständnis zeigte3) und sich durch Mißachtung 4 ) und naive Geringschätzung8) desselben auszeichnete. Im Zustande der Aufhebung normaler gegenseitiger Rechtsverhältnisse, im Kriege fast allein habe es seine reiche Begabung wahrhaft schöpferisch und genial8) entwickelt. Leicht erwachende, übermütige Kriegslust7) vereint sich mit einem glühenden kriegerischen Ehrgeiz; Treitschke zitiert den Ausspruch des Chateaubriand: „La France est un soldat" und urteilt: „Es ist, als ob es in Frankreich nur einen Ruhm gäbe, den Ruhm des Kriegers"8), Blinde Leidenschaft und Enthusiasmus dürften jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wie entsittlichend langwährender Kriegslärm auf Land und Leute wirkte, „wie tief Gewalttätigkeit, abenteuerlicher Sinn, die Sucht zu haben und zu herrschen in die Stille jedes französischen Hauses drang" 9 ). Haß und Neid, Habgier und Rachsucht10) sind häufig beobachtete Folgeerscheinungen. Einen weiteren Antrieb zu kriegerischem Umsturz erblickt Treitschke in einer anderen „nationalen Untugend", der rastlosen Neuerungssucht11), welche den Gegnern als Beweis französischer Unverbesserlichkeit dient. Unruhige, nervöse, wetterwendische Art, immer bereit, den Reiz des Neuen zu erproben, entspreche dem lebhaften gallischen Temperament. Treitschke verkennt dabei nicht, daß der Drang nach dem Unbekannten, der Hang zu Veränderung und Wechsel sich nur auf die wandelbaren, äußeren Formen bezieht und keine innere Haltlosigkeit bedeutet; ihr innerstes Wesen, das ist alles das, was ihre Eigenheiten und Eigenschaften umfaßt, haben die Franzosen stets zähe bewahrt 12 ). *) *) 3 ) 4 ) *) 4 ) 7 ) s ) •) 10 ) u ) 11 )

A. a. O. S. 68. A. a. O. A. a. O. S. 75Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 119. Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 43. Bonapartismus I, S. 75. A. a. O. und Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 9. Bonapartismus III, S. 205. Bonapartismus I, S. 75. von Treitschke an verschiedenen Stellen hervorgehoben. Bonapartismus III, S. 187. Vgl. E. Wechßler, Esprit und Geist, S. 118.



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Die Neuerungssucht erscheint in einem anderen Lichte, meint Treitschke, wenn man bedenkt, daß dieses unstete Volk seine wichtigsten politischen Gewohnheiten mit einer fast gedankenlosen Unbeweglichkeit festhält1). Auffällige Konstanz der Charakteranlagen kontrastiert mit dem besonderen Interesse für die Variabilität von Erscheinung und Gestalt ; dem ganzen geistigen Leben drückt diese spezielle Neigung ihren Stempel auf. Treitschke charakterisiert das überwiegender Orientierung nach formalen Gesichtspunkten gemäße formalistische Denken der Franzosen; er schildert die „Macht der Doktrin"2), den schablonenhaften und unhistorischen Charakter ihrer Bildung3), andererseits aber auch ihr feines Unterscheidungsvermögen für formale Differenzierungen, den besonderen Sinn für packende Wirkung4), „ein weniger stumpfes Schönheitsgefühl" bei diesem Volk des guten Tones „als bei den mit besserer Schulbildung versehenen Deutschen"5). Eindruck um jeden Preis wird durch „geschickte Mache"6) zu erzielen gesucht; selbst für abstoßende Dinge wird ein wirkungsvolles Arrangement getroffen: es gibt eine „Anmut des Lasters"7). Die „Gabe des Faiseurs", mit geringen Mitteln rasch und praktisch Vorteile zu gewinnen8), rechnet er zu typisch französischer Geisteshaltung. Auch die Phantasie geht mehr auf formale Gliederung als auf sentimentale Stimmung aus, sie sei mehr rhetorisch als poetisch9); rednerischer Prunk bereitet Freude10). Einseitigkeit formaler Virtuosität kennzeichnet den unfruchtbaren französischen Esprit, der mit den Dingen spiele, ohne sie zu beherrschen11). Vielleicht ein Unbefriedigtsein von seelischem Gehalt und Gefühlstiefe enthält Treitschkes Behauptung, daß „diese Nation mit all ihrem heißen Blute doch !) Bonapartismus II, S. 118. *} Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 10. Bonapartismus I, S. 79. Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 10. *) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 690. s ) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 89. «) Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 423. ') A. a. O. 8) Bonapartismus I, S. 51. ') A. a. O. S. 77. 10) Bonapartismus I I I , S. 2 1 7 ; Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 713. u) Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 423; daselbst kritisiert Treitschke Heine in bezug auf Eigenschaften, die „die Juden mit den Franzosen gemeinsam haben". An anderer Stelle (s. u. S. 115 f.) kommt indessen zum Ausdruck, daß die feingeschliffene, altfranzösische Ausprägung des esprit für Treitschke ein anziehendes Moment bedeutet. 3)

— 29 — niemals zur echten Poesie gelangt"1). Näher als sittlicher Ernst liege dem Franzosen leichte Lebensart2), die Lust an Spötterei3) und „neckischer Laune"4). Eine große Beweglichkeit des Geistes befähigt dazu, in neuen Situationen eine schnelle Konzentrierung aller Impulse auf neue Aufgaben zu vollziehen, ohne durch Reminiszenzen behindert zu sein. In diesem Sinne bewundert Treitschke die Spannkraft5), die „unverwüstliche elastische Lebenskraft dieses Volkes"6), welches nach dem langen dumpfen Schlummer der Kaiserzeit seine geistige Arbeit wieder aufnimmt oder, als das Zeitalter des militärischen Ruhmes kaum erst abgelaufen war, sich wieder auf politische und literarische Parteikämpfe wirft. Es ist ein lebendiges, nüancenreiches Charaktergemälde, zu dem sich die wichtigsten der von Treitschke berührten Merkmale der französischen Psyche zusammenschließen. So berichtet auch Robert Michels in seinen persönlichen Erinnerungen an Treitschke: in fließendem Vortrag zeichnete ihm dieser einmal „ein unbeschadet aller Kritik im ganzen glänzendes Bild vom Wesen des französischen Volkscharakters"7). Mag ihn die psychologische Fundierung seiner Darstellung auch hin und wieder zu einer gewissen Häufung der als am stärksten gegensätzlich empfundenen Momente verleitet haben, so darf man dennoch der Leistung seiner intuitiven Erkenntnis in ihren Hauptpunkten Gegenwartswert zuschreiben. Bei einer Bezugnahme auf ein Standardwerk wie E. Wechßlers „Esprit und Geist"8), das sich in seiner phänomenologischen Methodik auf den gewaltigen Fortschritt und die Vertiefung psychologischer Betrachtungsweise seit der Jahrhundertwende berufen kann, finden sich zu einer Reihe Wechßlerscher Stellen ein paralleler Ideengang und ähnliche UmschreibunBriefe III, S. 1 3 3 an E . v. Bodmann v. 27. 1. 1867; dieses Briefurteil zielt wahrscheinlich auf die französische Überbetonung eines wirkungsvollen Pathos (Bonapartismus I, S. 77), was sich auch in dem „gespreitzten Kothurnschritt der französischen Bühnen" (ebenda) widerspiegelt. *) Bonapartismus I, S. 78. 3 ) A. a. O. S. 59. *) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 690. ») Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 7. •) Deutsche Geschichte Bd. I, S. 555 u. 7 1 3 ; Bonapartismus II, S. 1x7. ') Robert Michels, Gustav Schmoller i. s. Charakterbildern, Internat. Monatsschrift, Bd. VII, 1914. 8 ) Eduard Wechßler, Esprit und Geist, Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen, Leipzig 1927.

— 30 — gen für die guten und schlechten Eigenschaften der Franzosen auch bei Treitschke1). C. FRANZÖSISCHE STAATSGESINNUNG. Einer eingehenden Analyse unterzieht Treitschke die speziell politischen Neigungen der Franzosen, ihre Staatsgesinnung und die ihr entsprechenden Bedürfnisse; sie bieten ihm eine unmittelbare Erklärung für die Lebenskraft des Bonapartismus, für den unerschütterlichen Bestand seiner Grundlage, der fest zentralisierten despotischen Verwaltungsordnung, welche, jeden Wechsel der Regierungssysteme seit Napoleon I. Tagen überdauernd,, .Frankreichs eigentliche Verfassung darstellt"2). Vor allen anderen politischen Forderungen haben die Franzosen den Ruf nach „Gleichheit" erhoben; Treitschke spricht von einem „Gleichheitstrieb", der sich in breiten Massen als „mächtigste der politischen Neigungen" geltend macht3). Von den beiden großen Ideenströmungen „Gleichheit" und „Freiheit", die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts heranbildeten und endlich vereint, den Ausbruch der Revolution von 1789 herbeiführten, erwies sich die égalité als die in der Volksseele tiefer verankerte; bei aller Begeisterung für die Freiheit strebten die Franzosen im Grunde doch nur nach der Gleichheit4) ; obwohl erst 1793 als Schlagwort unter den Menschenrechten auftauchend8), nahm sie von Anfang an den Primat ein. Durch eine restlose Verwirklichung dieser von Rousseau theoretisch fundierten Idee, dahin, daß jeder Franzose ohne Unterschied des gleichen politischen Rechtes teilhaftig und „Selbstwähler, also Selbstherrscher"6) sei, glaubten sie die politische Freiheit gewährleistet. Nach Treitschkes Auffassung jedoch ist „Gleichheit" ein zweideutiger Begriff, der ebenso als „gleiche ') Vgl. z. B. Wechßlers Beschreibung und Deutung betreffend die Neuerungssucht (S. 118); die Geschicklichkeit und Gewandtheit der Franzosen (S. 130); das Zurückdrängen des germanischen Elementes (S. 142); Eroberungsdrang und Geltungsbedürfnis (S. 147) ; das Streben nach gloire (S. 160) ; Rachedurst und Fanatismus (S. 220 f.) ; blinden Wahn und Haß (S. 226); französisches „Prestige" (S. 256); die Interpretierung der französischen Egalité (S. 158) (die Treitschkesche Auffassung darüber s. u. S. 31). J ) Bonapartismus I, S. 5 3 ; „Die europäische Lage am Jahresschlüsse", Korrespondenz v. 10. 12. 1877, Deutsche Kämpfe, S. 447. 3 ) Bonapartismus I, S. 81. 4 ) „Die Freiheit", Hist. Pol. Aufs., Bd. III, S. 9 f. s ) Bonapartismus I, S. 55. «) Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs. III, S. 10.

— 31 — Freiheit aller" wie „gleiche Knechtschaft aller"1) interpretiert werden kann; da sie aber als höchstes der politischen Güter begehrt wird2), deutet sie Treitschke im letzteren Sinne. Die These Rousseaus gilt ihm nicht für stichhaltig: wo alle gleich seien, gehorche nicht jeder sich selbst, sondern der Mehrheit, was sich praktisch nicht nur als unerträgliche Ungleichheit zum Nachteile jeder politischen Minderheit auswirkt8), sondern auch despotischen Begierden unter dem Namen der allgemeinen „Gleichheit" freie Bahn eröffnet4). Dennoch hat sich die égalité als lebenskräftigste der revolutionären Errungenschaften bewährt8). Dieses elementare Gleichheitsverlangen war keine Zufallserscheinung. Im Aufsatz über die „Freiheit" erklärt Treitschke diesen Drang als Ausfluß keltischen Bluterbes, das seit alten Zeiten immer wieder in der Tendenz der Franzosen hervorgetreten sei, sich als gleiche Masse6) in blinder Unterwürfigkeit um eine große Cäsarengestalt zu scharen7); im „Bonapartismus" hingegen beurteilt er den Gleichheitsfanatismus des neuen Frankreich billiger, als eine natürliche Reaktion auf den „gräßlichen Ständehaß", der aus der völligen Trennung der einzelnen Klassen unter dem Ancien Régime entsprang8) und dem Volke einen unauslöschlichen Haß gegen alle Ungleichheit, auf rechtlichem, sozialem und politischem Gebiet einpflanzte, wie Tocqueville in seiner von Treitschke als „glänzend"9) bezeichneten Arbeit über das Ancien Régime des Näheren ausgeführt hat10). Dieser scharfsinnige politische Denker, eine Persönlichkeit, der sich Treitschke in vielfacher Beziehung kongenial fühlte, was ethisch-liberale Geisteshaltung und dadurch bedingte Anschauungen und Urteile über das neue Frankreich anbelangt, hat das Verhältnis seines Volkes zu Freiheit und Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs. III, S. 10; Deutsche Geschichte I, S. 114. 2) Die Freiheit, S. 9. 3) Bonapartismus II, S. 134; „Zur Lage" 1881, Deutsche Kämpfe, Neue Folge, S. 144. 4) Die Freiheit, S. 9; Bonapartismus I, S. 57. 6) Bonapartismus I, S. 55; vgl. dazu Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen, der die „Gleichheit" als „immer schnurrende Sehne" bezeichnete. 4) Vgl. hierzu Wechßler über den Hang der Franzosen zu Einordnung in Schar und Menge, Mehrheit und Gemeinschaft, S. 88. 7 ) Hist. Pol. Aufs. III, S. 10. 8) Bonapartismus I, S. 55. 9) Bonapartismus V, S. 371. 10 ) Alexis de Tocqueville, L'Ancien Régime E t L a Revolution, Chap. I X , . p. 127 ff.

— 32 — Gleichheit ganz ähnlich Treitschke charakterisiert und auf die Wechselwirkung zwischen Gleichheit und Despotismus und ihre verhängnisvollen Folgen für wahre Freiheit hingewiesen, indem «r die Liebe zur Freiheit als oberflächlich und vorübergehend beschreibt, „da immer zugleich die Leidenschaft für die Gleichheit im Grunde der Herzen wohnt, . . . stets demselben Ziele zugewandt, mit hartnäckigem, oft blindem Eifer, bereit sich denen zu weihen, die sie gewähren lassen und die Regierung zu unterstützen, die sie begünstigt und ihren Gewohnheiten schmeichelt, Ideen und Gesetze, die der Despotismus nötig hat, um zu regieren" 1 ). Die Tatsache, daß dieser übermächtige Gleichheitstrieb, von Napoleon klug ausgebeutet, die politische wie die persönliche Freiheitsliebe erdrückte und somit den wenigen liberalen Institutionen, die 1789 unter überwiegend demokratischen geschaffen wurden, den Nährboden entzog, bedauert Treitschke im besonderen wegen der darauf beruhenden völligen Verbildung des Freiheitsbegriffes. Unter „Freiheit" verstehen die Franzosen nicht „das Recht, sein eigenes Selbst ungehindert auszubilden", vielmehr das Recht jedes einzelnen, seinem persönlichen Ehrgeiz Genüge zu tun2), „den unbeschränkten Wettbewerb aller um die von der Staatsgewalt angewiesenen Plätze"3). „Die gesamte Nation durchdringt sich mit eitlem, nach äußerer Ehre jagenden Sinne"4); „Stellenjägerei" im schlechtesten Sinne ist die unausbleibliche Folge solches trivialen Ehrgeizes und wird von Treitschke mit beißenden Worten gegeißelt, zumal nach der Julirevolution schien ihm „Frankreich auf dem Wege, eine Nation von Stellenjägern zu werden"6). Der Franzose zeigt trotz energischen Staatsbewußtseins und heftiger politischer Leidenschaft6) keine freudige, opferbereite Staatsgesinnung7) ; er ist zu sehr gewohnt, den Staat 1 ) L'Ancien Régime, Chap. X X , p. 320: „ . . . Pendant ce même temps la passion pour l'égalité occupe toujours le fond des coeurs, . . . toujours a attachée au même but avec la même ardeur obstinée et souvent aveugle, prête à tout sacrifier à ceux, qui lui permettent de se satisfaire et à fournir a u gouvernement qui veut la favoriser et la flatter les habitudes, les idées, les lois dont le despotisme a besoin pour régner." a)

Vgl. hierzu Wechßler, S. 158.

*) *) s) 8)

Bonapartismus I, S. 57. A. a. O. Bonapartismus III, S. 172. Bonapartismus I, S. 49; Deutsche Geschichte III, S. 142.

') Treitschke unterscheidet dabei scharf zwischen „ P a t r i o t i s m u s " und „ S t a a t s g e s i n n u n g " ; den opferbereiten Patriotismus der Franzosen nach Sedan 1870/71 faßt er als Ausfluß ihrer „Vaterlandsliebe" auf, „die

— 33 — „mit begehrlichem Sinne" zu betrachten, „nichts als Rechte von ihm zu heischen", ohne den ernsthaften Willen, das Empfangene durch Leistungen zu kompensieren und Pflichten gegen das Gemeinwesen zu übernehmen1); statt sich der aufopfernden alltäglichen Pflichterfüllung des freiwilligen Ehrendienstes in der Selbstverwaltung zu unterziehen, überläßt die Nation die Besorgung selbst ihrer nächsten Angelegenheiten der Initiative des Staates und seines besoldeten Beamtentums und begnügt sich, dieser Verwaltung kritisch zuzuschauen2). Unerläßliche Vorbedingung für ein gesundes öffentliches politisches Leben, für „politische Freiheit", worunter Treitschke eine geordnete Beteiligung der Regierten an der Leitung des Staates, verbunden mit gleichmäßiger Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen Staatsgewalt und Staatsbürger, versteht, ist für den liberalen Treitschke die tätige Anteilnahme der Staatsbürger an der Verwaltung ihrer Gemeinden3). In dem Fehlen der Selbständigkeit von Kreis und Gemeinde und in der dadurch bedingten geistigen Verödung der Provinzen sieht schon der junge Treitschke die Ursache der inneren Leiden des französischen Staates4). Es sind eben jene hohen ethischen Werte, die dem Staate durch die Selbstverwaltung zugute kommen5), um derentwillen Treitschke dieselbe hoch über die von einem besoldeten Staatsbeamtentum getragene bureaukratische Verwaltung stellt, trotz der zugestandenen größeren technischen Vollkommenheit und besseren Arbeitsteilung, die letztere an sich besitzt8). Während die Selbstverwaltung ein lebendiges Gemeinschaftsgefühl erweckt und zu Pflichtbewußtsein erzieht, wirkt eine sich in den Tagen der Gefahr zum Heldentum steigert" (s. o. S. 24), nicht aber als Kennzeichen einer wirklichen vertieften Staatsgesinnung, der „höchsten unter allen sittlichen Kräften der Nationen" (Parteien und Fraktionen, Hist. Pol. Aufs. III, S. 571), für deren Fehlen ihm die „schimpfliche Fahnenflucht", „zuchtlose Untreue", „mangelnde innere Autorität" (ebenda S. 572), der disziplinlose „wüste Radikalismus" (S. 567) und die Exzesse in Paris bezeichnend sind. Die Härte dieser Formulierungen dürfte zudem auf eine übermäßige Beeinflussung Treitschkes durch den als schimpflich empfundenen Sturz Napoleons III. zurückzuführen sein. 1 ) Bonapartismus I, S. 56; Bonapartismus IV, S. 334, auch Deutsche Geschichte III, S. 375. s ) Bonapartismus I, S. 54 und Bonapartismus II, S. 138. 3 ) Vgl. hierzu Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 110. *) Rezension von A. L. v. Rochaus Geschichte Frankreichs, Bd. II, 1859, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 566; konstitutionelles Königtum, Hist. Pol. Aufs. III, S. 437. «) Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs. III, S. 11. 8 ) Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs. III, S. 1 1 ; Bonapartismus I, S. 53. Beiheft d. H. Z. 32.

3

— 34 — alles bevormundende Fürsorge des Staates „entnervend" auf seine Bürger1) ; von der Betätigung für das Gemeinwohl künstlich ferngehalten, werden sie gedrängt, in ihren Privatinteressen aufzugehen, wodurch eine Selbstsucht der einzelnen Klassen hochgezüchtet wird, die echtes, ausgeprägtes Pflichtgefühl ersticken muß2). Inwiefern Treitschke die andere Voraussetzung „vernünftiger Freiheit, die unbedingte Autorität der Gesetze"8) in Frankreich für nicht gegeben erachtet, wurde bereits geschildert4). Weder erfüllt den Bürger ein starker gesetzlicher Sinn5), noch ist die Staatsgewalt geneigt, sich freiwillig jene Entsagung aufzuerlegen, die die Überlassung wesentlicher Verwaltungsrechte an die Bürger erfordert4). Auch die persönliche Freiheit, die unbeschränkte individuelle Entfaltungsmöglichkeit, deren Korrelat wiederum die politische Freiheit ist, hat demnach in Frankreich keine Stätte, denn der Despotismus, in welcher Form es auch sei, darf in seinem eigensten Interesse nur die „niederen Leidenschaften der Person" wie gewöhnlichen Ehrgeiz und Erwerbstrieb entfesseln7). Somit gelangt Treitschke zu dem Schluß, daß die Franzosen weder den Geist der Freiheit besitzen, noch ihr innerstes Wesen als ein „tiefsinniges, organisch zusammenhängendes System politischer Rechte, das keine Lücke duldet"8), zu erfassen vermochten. Bei einer Fülle schöner und glänzender Eigenschaften, meint Treitschke ein andermal, fehlen ihnen doch gerade „jene beiden, auf die sie sich am meisten einbilden: sie sind weder ein militärisches noch ein freies Volk"9). Entsprechend ihrem formalistischen Denken suchten sie vielmehr das Wesen der Freiheit ausschließlich in der Verfassung10), wofür Treitschke die parlamentarische Periode den Beweis liefert; im Kampfe um das formale Staatsrecht erschöpften sich die politischen Kräfte. „Die Charte, die ganze Charte, nichts als die Charte" war das beherrschende Schlagwort11). Dieser VerDie Freiheit, S. n . Bonapartismus III, S. 168. 3) Politik, Bd. I, S. 150. *) Vgl. oben, S. 26 f. 5) Bonapartismus III, S. 215; Bonapartismus V , S. 326. 2)

') Die ') Die 8) Die 9) Die II, S. 447. 10 )

Freiheit, S. 1 1 ; Bonapartismus V, S. 326. Freiheit, S. 19. Freiheit, Hist. Pol. Aufs. III, S. 12. europäische Lage am Jahresschlüsse 1877, Deutsche Kämpfe

Deutsche Geschichte, Bd. I I I , S. 702. " ) Bonapartismus II, S. 136.

— 35 — fassung aber den notwendigen Unterbau zu geben und den Staat von unten her zu reformieren, daran dachte keine der Parteien, auch die liberale nicht. In allen praktischen Fragen unterwarf man sich bedingungslos den Organen der despotischen Verwaltung, den Präfekten, von deren Befugnissen keine der parlamentarischen Parteien das mindeste gestrichen wissen wollte1), was nach Treitschke wiederum die Unfruchtbarkeit der parlamentarischen Kämpfe zur Folge hatte. Indessen vermeidet es Treitschke, trotz der Schärfe seiner Kritik, dem französischen Volk selbst unter solchen Umständen die Befähigung zu freiem Gemeindeleben und politischer Freiheit überhaupt grundsätzlich abzusprechen oder die Frage der Freiheit als Rassenfrage zu betrachten2), aber er war davon überzeugt, daß der Begriff der Freiheit in Frankreich immer in typisch französischer Färbung definiert werden und ihre Realisierung nur zu einem relativ bescheidenen Teil gelingen würde; denn in Anbetracht der eigentümlichen Volksneigungen und des Verlaufes seiner Geschichte beurteilte er die Aussichten auf Einführung der Selbstverwaltung ziemlich pessimistisch. Allerdings hatte der Gedanke der Selbstverwaltung allmählich auch in Frankreich Eingang gefunden, wenn auch später und langsamer als anderswo. Hier ist es wieder Tocqueville, der, nach seinem eigenen Bekenntnis, durchdrungen von einer ganz unzeitgemäßen Vorliebe für die Freiheit, um die man sich in Frankreich heute kaum mehr sorge8), sich für die Selbstverwaltung einsetzte. Das einzig geeignete Mittel zur Belebimg des mangelnden Gemeinsamkeitsgefühles und zur wirksamen Bekämpfung der durch den Despotismus großgezogenen „Laster" erblickte auch er „in der praktischen Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten"4). In seinem 1835 erschienenen Werk „De La Démocratie En Amérique"6) hatte er als erster Franzose seinem Volke die Idee der Selbstverwaltung am amerikanischen Beispiel erläutert und dabei eine Reihe von Gedankengängen entwickelt, die sich mit den Treitschkeschen eng berühren. Es könnten 1) Bonapartismus III, S. 175 f.; Bonapartismus II, S. 138; Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 375. *) Bonapartismus II, S. 116; Bonapartismus V, S. 332. 8) Tocqueville, L'Ancien Régime, Avant-Propos p. X V : „Plusieurs m'accuseront peut-être, de montrer dans ce livre un gôut bien intempestif pour la liberté dont on m'assure que personne ne se soucie plus guère en France." 4) L'Ancien Régime, Avant-Propos, p. X V I I f. 5) De La Démocratie En Amérique, Paris 1848 (12. Edition).

3*

— 36 — Treitschkes Worte sein, wenn er z. B. schreibt: „Zentralisation der Verwaltung ist nur geeignet, die Völker, die sich ihr unterwerfen, zu entnerven, weil sie unaufhörlich den Gemeingeist unter ihnen vermindert"1) ; „Gemeindefreiheit ist für die Freiheit dasselbe wie für die Wissenschaft die Elementarschule: Trägerin ins Volk. Ohne kommunale Institutionen kann sich eine Nation eine freie Regierung geben, aber sie besitzt nicht den Geist der Freiheit" 2 ). Wenn Treitschke gerade diesem Werke Tocquevilles eine epochemachende Bedeutung zuschreibt, an dem er doch das notwendige Rüstzeug für eine getreue Schilderung des amerikanischen Staatslebens, eindringende Sachkenntnis, vermißt3), so geschieht es allein in Würdigung seiner Aufgabe, den romanischen Völkern eine Lehre der Selbstverwaltung zu sein4). Unter dem zweiten Kaiserreich mehrten sich die Stimmen, die die Zentralisation als Quelle der Unfreiheit bekämpften. Die führenden Mitglieder der liberalen Publizistenschule beschäftigten sich theoretisch mit den Problemen der Dezentralisation. Treitschke begrüßt diese Erscheinung als neuerlichen Beweis des „alten schönen Idealismus", den auch die Epoche des despotischen Regimes nicht zu ersticken vermochte6). Freilich verfiel man in diesem Bestreben wieder ins entgegengesetzte Extrem. So griff Edouard Laboulaye in seinem Aufsatz „L'Etat et ses Limites"8) den längst überwundenen Humboldtschen Gedanken der „Freiheit vom Staate" wieder auf, ohne sich wie Treitschke mit der Forderung höchstmöglicher persönlicher Freiheit zu begnügen; er betrachtete den Staat nur als notwendiges Übel, dessen Tätigkeit auf ein Minimum beschränkt werden müsse. Vielfach ver1 ) A. a. O. Chap. V , p. 139: „Mais je pense que la centralisation administrative n'est propre qu'à énerver les peuples qui s'y soumettent, parce qu'elle tend sans cesse à diminuer parmi eux l'esprit de cité." 2) De L a Démocratie E n Amérique, chap. V, p. 94: „ L e s institutions communales sont à la liberté, que les écoles primaires à la science, elle la mettent à la portée du peuple" . . . „sans institutions communales une nation peut se donner un gouvernement libre, mais elle n'a pas l'esprit de la liberté." 3) Treitschke, Bund und Reich (v. 25. 10. 1874), Deutsche Kämpfe II, S. 229. 4) Daselbst setzt sich Treitschke auch mit der von Tocqueville aufgestellten dualistischen Bundesstaatstheorie auseinander, an der scharfe Kritik geübt wird. 6) Bonapartismus V, S. 327. 6) Edouard Laboulaye, L ' E t a t et ses Limites, Paris 1863; der Aufsatz war der Einsichtnahme nicht zugänglich, daher nach Treitschke referiert, vgl. Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs., Bd. III, S. 4, 18, 15, 19.

— 37 — banden sich mit dem Rufe nach Selbstverwaltung sogar ausgesprochen staatsfeindliche Tendenzen1). Immerhin beschränkte sich diese Bewegung auf eine kleine Gruppe von Intellektuellen; in den Mittelklassen, die als natürliche Träger der Selbstverwaltung in Frage kamen, fanden ihre Vorschläge keinen Widerhall. Die wenigen Versuche, die Napoleon III. unternahm, um sie in die Praxis umzusetzen, scheiterten nicht nur an dem Widerstände der Bureaukratie, sondern auch an der Teilnahmlosigkeit der bürgerlichen Kreise2). Anlagen und Neigungen der Franzosen, ihre tief verwurzelten bureaukratischen Vorstellungen und Gewohnheiten3), die ganze soziale Struktur des französischen Staates, die im zweiten Kaiserreich maßgeblich vom vierten Stand beeinflußt wurde4), ließen in Treitschke die abschließende Erkenntnis reifen, daß die zentralisierte Verwaltung doch eine nationale, „mit dem innersten Wesen des französischen Volkstums verwachsene" Institution sei8), und sein historisches Denken opponierte gegen die Befürwortung eines radikalen Abbruches dessen, was sich in uraltem, historischen Werdegang durchgesetzt hatte6). Als ultima ratio, gilt ihm daher, daß man sich mit dem gegebenen Sachverhalt, der dem nationalen Charakter eines großen Volkes entspricht, abfinden und ihn hinnehmen müsse7), wenn er auch eine uns fremde Weltanschauung widerspiegelt. Die entschiedene Formulierung der erlangten Überzeugung weist darauf hin, daß Treitschkes Anschauungen von Wesensart und darauf beruhend, von Staat und Gesellschaft Frankreichs, in gewissem Sinne endgültige für ihn selbst sind; durch ihre gründliche charakterologische Fundierung sind sie naturgemäß auf Dauer angelegt; wie fest sie in ihrer ursprünglichen Fügung bestehen, geht ebenso aus späteren Äußerungen über die verfassungspolitischen Kämpfe der dritten Republik8), wie aus seiner „Deutschen Geschichte" hervor, in denen zahlreiche, zum Teü wörtliche Übereinstimmungen mit dem „Bonapartismus" enthalten sind. J) 2)

Bonapartismus V, S. 331. Vgl. Bonapartismus V, S. 326 ff.

3)

Bonapartismus V, S. 332. *) Bonapartismus V, S. 333. 6) Bonapartismus II, S. 137; Bonapartismus V, S. 332; Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 144. '•) Bonapartismus V, S. 332. ') Politik, Bd. II, S. 506. 8) Vgl. Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877, Deutsche Kämpfe, S. 446ff.; „Zum Jahresanfang" (v. 10. 1. 1878), Deutsche Kämpfe, S. 478 ff.

— 38 — D. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION VON 1789. Ehe wir mit Treitschke nach der psychologischen Sondierung des Geländes, auf dem der französische Staatsbau emporgewachsen ist, weiterschreiten zu einer Prüfung der historischen Staatsformen selbst, des Bonapartismus und des geschichtlichen Erbgutes, welches ihm die französische Revolution vermachte, ist es aufschlußreich, die verschiedenartige Kritik, zu der diese weltbewegende Umwälzung Treitschke reizte, kennenzulernen und in den Rahmen seiner Gesamtstellung zu Frankreich einzuordnen. Über die große Revolution von 1789 lassen sich in den einzelnen Phasen von Treitschkes Leben sehr uneinheitliche, ja zwiespältige Urteile konstatieren. Anhänger, geschweige denn Verteidiger derselben ist er zu keiner Zeit gewesen; das Eine aber scheint zunächst gewiß, daß der junge Treitschke sie weit positiver bewertet hat, sofern diese Tatsache an Hand der spärlichen Bemerkungen über dieses Thema nachweisbar ist, als etwa später der Mann Treitschke. Aber auch dann noch steht billig Abwägendes hart neben zum Teil publizistisch Überspitztem, heftig Abweisendem1). Die Unterschiedlichkeit seiner Auffassungen darf daher gerade in diesem Falle wohl nur mit starken Einschränkungen als Merkmal seiner politischen Entwicklung angesprochen werden; sie hängt weniger mit dem grundsätzlichen Wandel gewisser Anschauungen zusammen, als vielmehr mit einem Wechsel der Aspekte, welcher jeweilig eine andere Verteilung von Licht und Schatten nach sich zieht. Treitschkes Ansichten über die französische Revolution gehen, wenn man von persönlichen Varianten abstrahiert, in der Hauptsache konform mit der liberalen zeitgenössischen Kritik, die nach seiner Meinung in Sybels Geschichtswerk ihren erschöpfenden wissenschaftlichen Niederschlag gefunden hat2). Gleich Sybel vertritt Treitschke weder das konservative noch das revolutionäre Prinzip; liberaler Blickrichtung gemäß, fesseln ihn in erster Linie die sozialen Errungenschaften der Revolution; er unterstreicht ebenso wie Sybel den sozialen Fortschritt und hält diesen, schon aus seiner antikonservativen Tendenz heraus, im ganzen für l ) Man vergleiche etwa die Ausführungen im konstitutionellen Königtum, Hist. Pol. Aufs. III, S. 438 ff. und in „Parteien und Fraktionen", S. 568 ff., zwei Arbeiten, die fast zu gleicher Zeit entstanden sind (1869 bis 1871). *) Es handelt sich um Heinrich v. Sybel, Die französische Revolutionszeit; s. u. S. 42 Anm. 4.

39 — höchst berechtigt und begrüßenswert1), während Einschränkungen und Bedenken heischende politische Argumente gegen die Revolution ihn anfangs weniger berühren. Der junge Treitschke war von der liberalen Nationalökonomie ausgegangen2). Demzufolge gilt sein unmittelbares Verständnis auch den Leistungen der großen Revolution für die Freiheit des modernen wirtschaftlichen Schaffens. Ihre weittragendsten Ergebnisse sieht er in der Schöpfung der modernen bürgerlichen, auf der Rechtsgleichheit basierten Gesellschaftsordnung an Stelle des alten unrationell organisierten Feudalstaates8), die dem dritten Stand als dem berufenen Träger des neuen wirtschaftlichen Zeitalters die nötige Handlungsfreiheit schenkte, ferner in ihren für das freie wirtschaftliche Kräftespiel bahnbrechenden nationalökonomischen Gesetzen. „Es liegt doch ein sehr guter Kern in dem Glauben der Menge, daß die Revolution ein durchaus neues Zeitalter für Frankreich heraufgeführt habe", schreibt er 1860, „ist es denn ein so Kleines, daß eine Nation, welche unter Ludwig XV. nur aus geschlossenen Korporationen bestand, heute einer unvergleichlichen sozialen Freiheit genießt ?"4) An Rochaus Werk hebt er rühmend hervor, daß dieser die „großen Errungenschaften der Revolution, insbesondere ihre nationalökonomischen Segnungen" mit Entschiedenheit verteidige5). In der Rezension über Tippeiskirchs „Alte Parlamente Frankreichs" stößt sich Treitschke daran, daß der Verfasser nicht nur die irrtümlichen Gedankengänge Tocquevilles über die Revolution übernommen, sondern sie noch übertrieben habe und die Bedeutung der Revolution unterschätze8). Die Einwände, die Tocqueville gegen die Zerstörung der alten Aristokratie wiederholt vorgebracht hatte, lehnt Treitschke 1860 rundweg als „Aberglauben" ab7). Tocque„Die unbedingte Verdammung der modernen französischen Geschichte gehöre heute zu den Glaubensartikeln der Konservativen", bemerkt Treitschke, Rochau zustimmend, in der Rezension über den zweiten Band von dessen Geschichte Frankreichs 1859, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 566. s ) Siehe das Thema seiner Dissertation „De productivitate laborum", Tübingen 1854; ausführlicheres hierzu bei Schurig, S. 42 ff. 3 ) Vgl. Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 531, Rezension der Arbeit von Tippeiskirch „Über die alten Parlamente Frankreichs" (1860), wo Treitschke eine schärfere „Hervorhebung der großen Verdienste der Revolution um die Einführung logischer Ordnung" für notwendig hält; vgl. dazu A. Wahl, Geschichte der französischen Revolution, 178g—99, S. 6. 4 ) Rezension der Arbeit Tippeiskirch, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 5 3 1 . 6 ) Rezension über Rochau, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 506. •) Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 531. ') A. a. O.

— 40 — ville spricht als Franzose trotz aller eingestandenen Mängel mit großer Sympathie von dem Adel des Ancien Régime1); er war überzeugt, daß im alten Adel noch genügend aufbaufähige Kräfte lebendig gewesen seien, die, dem neuen Staatswesen eingefügt, anstatt gewaltsam vernichtet, das sicherste Bollwerk gegen den Despotismus gebildet hätten2). Auch bedauerte er diese Entwicklung wohl deshalb, weil mit dem alten Adel eine Stütze mindestens der ländlichen Selbstverwaltung gefallen war; Treitschke hingegen schätzte letzteren überhaupt nicht mehr als politischen Faktor ein, seine politischen Möglichkeiten schienen ihm erschöpft; daher sei „die vielverschriene Nivellierung der Gesellschaft Frankreichs größtes Glück", und er bemerkt nachdrücklich, daß man nicht hierin die Gründe der heutigen Knechtschaft der Franzosen suchen dürfe3). Schon darum nicht, weil der alte Ständehaß der Franzosen nur durch Beseitigung der Standesprivilegien überbrückt werden konnte. Das Gebaren des zurückgekehrten Emigrantenadels der Restaurationszeit lieferte Treitschke einen weiteren Beweis für die Richtigkeit seiner These. Sozialer Hochmut und ausgeprägte ständische Selbstsucht dieser Aristokratie untergruben nach Treitschke die Stellung der bourbonischen Dynastie und waren die Mitschuldigen an ihrem Stürz4). Allerdings näherte sich Treitschke sehr bald der Tocquevilleschen Ansicht, insofern er zugibt, die bedingungslose Zerstörung aller Standesunterschiede sei einer der gewaltigsten Hebel des Despotismus6). Wenn er gelegentlich Verständnis heischt „für die Lebensbedingungen der ländlichen Selbstverwaltung, die überall aristokratisch ist"6), so geschieht dies jedoch ohne ähnliche Schlußfolgerungen wie bei Tocqueville. Unabgeschwächt besteht Treitschkes frühere prinzipielle Erwägung, daß ein Stand Vgl. Tocqueville, L'Ancien Régime", chap. X I , p. 170 f. a)

A. a. O. p. 171 : „II faudra regretter toujours qu'au lieu de plier cette noblesse sous l'empire des lois on l'ait abattue et déracinée. E n agissant ainsi, on a ôté à la nation une portion nécessaire de sa substance et fait à la liberté une blessure qui ne se guérira jamais." Ferner daselbst A v a n t Propos p. X V I : ,,. . . parmi toutes les sociétés du monde, celles qui auront toujours la plus de peine à échapper pendant longtemps au gouvernement absolu seront précisément ces sociétés où l'aristocratie n'est plus ou ne peut plus être" . . . 3)

Rezension über Tippeiskirch, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 531.

4)

Vgl. Bonapartismus II, S. 126 ff.

') Bonapartismus I, S. 57. «) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 112.

— 41 — als solcher in der Monarchie niemals Träger einer Selbstverwaltung werden dürfe, was sich letzten Endes nur im staatsfeindlichen Sinne auswirken müßte1). Obwohl Treitschke in reiferen Jahren allgemein dem politischen Geschehen eine stärkere Beachtung schenkte und die wichtigere Rolle zumaß, hielt er seine ursprüngliche Bejahung des sozialen Fortschrittes, den die französische Revolution gebracht hatte, aufrecht; auch leugnet er keineswegs einen gewissen Einfluß ihrer schöpferischen Gedanken auf die deutsche Entwicklung. Die Behauptung, Stein und Fichte hätten zu diesen „im schroffen Gegensatz" gestanden, hatte er 1860 „trotz Anscheins der Wahrheit" als grundverkehrt bezeichnet2); er rechnete es im Gegenteil Stein und seinen Mitarbeitern am großen preußischen Reformwerk hoch an, daß sie unbefangen genug waren, um von dem grimmig gehaßten Feinde zu lernen, und „die probehaltigen Ergebnisse der Ideen von 89 dankbar in die Heimat hinübertrugen"3). Die „Deutsche Geschichte" drückt sich indessen weit vorsichtiger aus; Treitschke betont hier vornehmlich die eigenste Initiative des Hohenzollernfürsten bei den sozialen Reformen, durch welche die ständische Gliederung des alten preußischen Staates beseitigt wurde4), sowie die völlige Selbständigkeit im politischen Denken Steins5), der, anders als Hardenberg, den Ideen von 89 in souveräner Unabhängigkeit begegnete und „nur einige ihrer probehaltigen Ergebnisse" auf deutschen Boden verpflanzte6). Bei der Besprechung der preußischen Agrargesetze erinnert Treitschke an den großen Unterschied zu den Gesetzen der französischen Revolution, welcher in der „ehrlichen Entschädigung" der Berechtigten liegt7). Diese Bemerkung stützt zugleich die Vermutung, daß sich Treitschke von extrem revolutionären Weiterungen, die aus begrifflicher Übersteigerung der gewonnenen ökonomischen Freiheiten resultieren können, ebenso distanziert wie Sybel, obgleich er sich nicht konkret darüber äußert. Sybel betrachtet die „weJ

) Rezension über Tippeiskirch, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 531. ) Rezension über Perthes „Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft (1862), Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 566 f. s ) Das konstitutionelle Königtum in Deutschland, Hist. Pol. Aufs. III, S. 438. 4 ) Deutsche Geschichte I, S. 149 u. 157. 6 ) A. a. O. S. 273. «) A. a. O. S. 279. ') Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 376. s

— 42 — -sentlichen Güter" der Revolution1) gefährdet durch eine falsche Auffassung sowohl der ökonomischen Freiheit, was schließlich zur Vernichtung des Eigentums selbst führen muß, als auch der politischen Freiheit, was nach seiner Meinung in Willkürherrschaft des Proletariats ausartet2). Sybels Urteil über die politische Revolution lautet im Kerne dahin, daß dieselbe soweit zu rechtfertigen sei, als sie den alten Feudalstaat überwand; sie betrat verhängnisvolle Wege, sobald die Staatsgewalt derart geschwächt wurde, -daß die Volksmassen eine unmittelbare Einwirkung auf Regierung und Gesetzgebung des französischen Staates erlangten3) und die Theorie der Menschenrechte durch die Herrschaft des Jakobinismus verwirklicht wurde, der den radikalen Umsturz aller historischen Daseinsformen erstrebte. Es ist ohne weiteres •einleuchtend, daß Treitschke, der sich allmählich zum Fürsprecher und überzeugten Anhänger einer starken, dabei doch liberalen Staatsgewalt entwickelte, der Sybelschen Darstellung grundsätzlich zustimmen mußte, ja sich mit dessen „strengem, aber gerechten Urteil" über die französische Revolution geradezu identifizieren konnte4). Ihren politischen Prinzipien und Theorien, denen Treitschke in Anbetracht der eigenartigen theoretischen Färbung der politischen Bewegungen seiner Zeit erhöhte praktische Bedeutung zumaß und die er darum in den Kreis seiner Untersuchungen einbezog, sobald die staatspolitischen Probleme in den Vordergrund seines Interesses traten, widmete er sich von Anbeginn mit mehr Skeptizismus und Kritik als den liberaler Dogmatik verwandten wirtschaftlichen und sozialen Ideen. Die Freiheitsgedanken der Revolution schienen ihm ein „unklares Gemisch"5), hervorgegan*) Wie z. B. Freiheit der Arbeit und des Eigentums, Gleichheit des Staatsschutzes für Arbeiter und Eigentümer, Befreiung des Bodens und des Gewerbes, Sturz der Feudalität und Beseitigung der Geburtsprivilegien. Französische Revolutionszeit, Bd. I, S. 234 u. 296. a)

A. a. O., S. 198. A. a. O., S. 128. 4) In einem Brief v. 12. 12. 1870 schreibt Treitschke an Sybel: „ D a s gerechte Urteil über die Revolution, das Sie zuerst vertreten haben, wird heute von der Geschichte unbarmherzig bestätigt und es wird bald zum а)

Gemeingute der Kation werden. . . Briefe III, S. 298 f.; ähnlich heißt es auch in „Parteien und Fraktionen": „ D a s scharfe, strenge Urteil über die Revolution, das in Wahrheit immer von allen bedeutenden Köpfen Deutschlands bekannt wurde und jüngst in Sybels Geschichtswerk erschöpfenden wissenschaftlichen Ausdruck gefunden hat, wird fortan ein Gemeingut unseres Volkes bleiben." Hist. Pol. Aufs. III, S. 569. б)

Die Freiheit, Hist. Pol. Aufs. I I I , S. 9.

— 43 — gen aus der unnatürlichen Verschmelzung zweier so wesensverschiedener Richtungen wie der Montesquieuschen Theorie von der Teilung der Gewalten und der Lehre Rousseaus von der Volkssouveränität, die sich „wie Feuer und Wasser miteinander vertragen"1). Was unter dem Schlagwort „Ideen von 89" die Runde durch die Welt machte, nannte er ein „trübes Chaos von despotischen und liberalen, einander feindlichen Gedanken"2). Je klarer die Realisierung seines Ideals eines geeinten Deutschland in greifbare Nähe rückte und damit die Notwendigkeit, einen neuen, innerlich starken Staat aufzubauen, desto eindringlicher ist er bemüht, den Zauber, den die Menschenrechte und die konstitutionellen Ideen der Revolution auf das staatspolitische Leben namentlich der deutschen Kleinstaaten jahrzehntelang ausgeübt hatten, zu brechen und darzulegen, daß ihnen eine Allgemeingültigkeit im Sinne eines „Evangeliums der Freiheit für die Welt" nicht zukommt3). Die völlige Abkehr von der „allzu lange" die deutsche Entwicklung beeinträchtigenden suggestiven Kraft der politischen Denkformen Frankreichs4), die eindeutige Kennzeichnung jenes „Kultus der Revolution" als „Götzendienst", war ihm ein nicht unwesentliches, freudig begrüßtes Ergebnis des Krieges von 18705). Mit der wachsenden Vertiefung monarchisch konservativer Gesinnung steigerte sich naturgemäß die Abneigung gegen das revolutionäre Element, und so schildert Treitschke die verhängnisvollen Auswirkungen der Revolution, als deren jüngste er den katastrophalen Zusammenbruch von 1870 und weiterhin die Exzesse der Kommune in Paris unter den Augen des deutschen Heeres betrachtet, in düstersten Farben6), nicht ohne daraus den Schluß zu ziehen, daß eine Bewegung, welche derartige Folgen zeitigen konnte, selbst in ihrem innersten Kern krankhaft gewesen !) Politik II, S. 145. ) Bonapartismus I, S. 70. 8 ) Eine der Aufgaben, die er sich in den beiden Kapiteln des „Bonapartismus": „Alte und neue besitzende Klassen" und „Die goldenen Tage der Bourgeoisie" (Hist. Pol. Aufs. III, S. 1 1 4 ff. u. S. 162 ff.) gestellt hatte. 4 ) Dies wird im 3. und 4. Band der Deutschen Geschichte ausführlich behandelt. 6 ) Vgl. „Parteien und Fraktionen", Hist. Pol. Aufs. III, S. 567; vgl. auch Treitschkes Brief an Baumgarten v. 9. xi. 1870: „Soviel scheint mir jetzt schon klar, daß die ganze Auffassung der politischen Freiheit, wie sie in Frankreich entstand und in den Kleinstaaten ausgebildet wurde, gar nichts taugt. Zu den segensreichen Folgen dieses Krieges rechne ich auch, daß die Hohlheit unseres kleinstaatlichen Liberalismus erkannt ward." Briefe III, S. 292. •) Parteien und Fraktionen, S. 567 f. 2

— 44 — 1

sein müsse ). Kein ursprüngliches, über die Gebundenheit des absolutistischen Staates hinaus wahre Volksfreiheit begehrendes, sittliches Bedürfnis bestimmte den Verlauf der Revolution, sondern ein roher Radikalismus, der leichtfertig zu gewaltsamem Umstürz alles Bestehenden bereit war und jegliche Bindung an die Vergangenheit leugnete, der ein Regiment der politisch unfähigen Mehrheit des Volkes propagierte und, da diese an ihrer Aufgabe scheiterte, zur auflösenden Anarchie führte, aus welcher der verschärfte Despotismus den einzigen Ausweg bot. Diese chaotischen Grundzüge, der Mangel an zielbewußten moralischen Impulsen, veranlaßte Treitschke zu dem Gesamturteil, daß man es mit einer Bewegung von unreinem Charakter zu tun habe2). Eine reale Bedeutung der Revolution jenseits der Grenzen Frankreichs wollte Treitschke nur insofern gelten lassen, als der revolutionäre Drang der Franzosen den ersten Anstoß für den Auseinanderfall „der verfaulten Theokratie des heiligen römischen Reiches gegeben hatte"3). Das Echte und Dauernde in den „gerühmten Ideen von 89" spricht Treitschke nicht als französisches, sondern als allgemeines Geistesgut der gesamten weltbürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts an; typisch .französisch dagegen seien die „krankhaften Anschauungen", welche die Revolution in falsche Bahnen leiteten, wie die Gedanken der Staatsallmacht, der Zentralisation und der unbedingten Gleichheit4). E. DER FRANZÖSISCHE STAAT. 1. Der Despotismus Napoleons I. Der Versuch einer kritischen Betrachtung der im 19. Jahrhundert in Frankreich gültigen Formen staatlichen Lebens stößt gleich zu Beginn auf das schwierige Problem des Bonapartismus, jene neue Staatsform, die sich schließlich aus den politischen Wirren der Revolution herauskristallisierte. „Ein modernes Gegenstück römischen Cäsarentums"8), trägt das Werk Napoleon Bonapartes den Stempel seiner Persönlichkeit und ist unter seinem Namen in die Geschichte eingegangen. Wie sehr dieses cäsaristische System auch in jeder Beziehung mit der Weltanschauung Treitschkes unvereinbar erscheint, so konnte und wollte er ihm doch eine innere Berechtigung für Frankreich nicht aberkennen !) 2 ) 3 ) *) *)

A . a. O., S . 569 (1871). Deutsche Geschichte, Bd. I V , S. 200 (1889). Parteien und Fraktionen, Hist. Pol. Aufs., S. 569. A\ a. O. Politik II, S. 202.

— 45 — und meint, daß es hier vor irgendwelcher anderen Staatsform den Gesetzen der politischen Logik entspreche1). Bereits 1853 hatte Treitschke sich — wenn auch nur zustimmend zu einer Arbeit des Nationalökonomen Knies2) — dahingehend geäußert, daß es im staatlichen Leben keine Einrichtungen gäbe, „die schlechthin für alle Staaten und Zeiten verwerflich seien" 3 ). Mit Erfolg war er bemüht, die psychologischen Vorbedingungen derselben durch Einfühlung in Charakter und Staatsanschauung der Franzosen aufzuzeigen4) ; auch vom historisch-genetischen Standpunkt aus mußte er diesen modernen Despotismus „als notwendigen Abschluß der historischen Entwicklung des französischen Staates" ansehen5). Ein Akt von historischer Notwendigkeit war schon die Usurpation der Staatsgewalt durch Napoleon am 18. Brumaire 1799. Obgleich sie mit Hilfe eines „schlecht vorbereiteten, mit unnötigem Aufwände von Brutalität und Lügen durchgeführten Gewaltstreiches" vor sich ging6), begegnete sie doch keinerlei ernsthafter Abwehr; die Spontaneität, mit der die Armee dem Rufe Napoleons folgte, sowie das begeistert zustimmende Votum der souveränen Massen kennzeichneten sie vielmehr als eine durchaus dem nationalen Willen gerecht werdende Tat. Am Ende der Revolution erlebte die schrankenlose Volkssouveränität noch einmal ihren höchsten Triumph, aber mit der Abgabe dieses Votums vernichtete sie sich selbst7), denn der Erwählte nahm niemals mehr Gelegenheit, die Volksstimme unmittelbar zu befragen. Napoleon hatte durch die Abstimmung die Vollmacht für die Neuordnung des Staates erlangt, und auch dies war eine notwendige Konsequenz der nach zehnjährigen politischen Kämpfen eingetretenen Lage der völligen politischen Ermüdung und Sehnsucht nach Ruhe8), zugleich für Treitschke insofern eine typische Auswirkung der französischen Staatsgesinnung, als eben ein Einzelner diese Aufgabe mit Hilfe abhängiger Werkzeuge löste9). Als „demokratischen Despotismus" hat Treitschke die Staatsbildung Napoleons definiert; hierin liegt schon angedeutet, welche !) Politik II, S. 205. ') Es handelte sich dabei um das Werk: Knies, Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode, Braunschweig 1853. 3 ) Im Brief an den Vater v. 22. 12. 1853, Briefe I, S. 203. 4 ) Vgl. oben S. 23—37. 6 ) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 171. •) Bonapartismus I, S. 48. ') Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 171. 8 ) Bonapartismus I, S. 49; Politik II, S. 204. ') Das konstitutionelle Königtum, Hist. Pol. Aufs. III, S. 437.

— 46 — Gesichtspunkte in seiner Darstellung derselben dominierend sindr die eigentümliche Verschmelzung des revolutionären und des despotischen Elementes aufzuzeigen, die dem Bonapartismus ein so schwer verständliches „janusartiges Wesen" verleiht1). Nicht nur seinem Ursprünge nach ist der Bonapartismus ein Produkt der Revolution; zum Fundamente seines neuen Staatsrechtes erhob Napoleon, als natürlicher Gegner der historischen Gesellschaftsformen2), die Idee der Volkssouveränität, von der schon einmal zur Zeit des Konventes, dieser Verkörperung „des allgemeinen Willens" Rousseaus8), eine schrankenlose demokratische Staatsgewalt abgeleitet worden war. Er proklamierte seine Staatsgewalt als eine ihm auf Grund des allgemeinen Stimmrechtes übertragene und sicherte sich auf diese Weise eine unumschränkte Machtfülle, wie sie keinem legitimen Herrscher' zur Verfügung stand4), eine despotische Macht, die er doch im Namen des souveränen Volkes ausübte; denn von der Rousseauschen Lehre von der Volkssouveränität, wie sie aus seinem Satz von der Gleichheit resultiert, sagt Treitschke, man beurteile sie zu mild, wenn man von ihr behaupte, sie führe zur Anarchie, also mittelbar zum Despotismus; sie sei vielmehr selbst durch und durch despotisch in ihrem Kerne, weil sie theoretisch die Allmacht des Staates begründe5). Diese mächtige Strömung in gesetzliche Bahnen gelenkt, in die „allein folgerichtige wohlgeordnete Form"6) gegossen zu haben, unterstreicht Treitschke als Verdienst Napoleons. Er betont dabei ausdrücklich, daß die despotische Methode Napoleons keineswegs ein absolutes Novum darstelle, sondern daß es sich vielmehr um die gesetzliche Manifestation eines Grundsatzes handle, der in der Geschichte des Landes fundiert, schon von den bourbonischen Königen gewaltsam angewendet worden war7). In der äußeren Form dem französischen Lieblingsglauben, mit der eigenen Geschichte gebrochen und ein neues Zeitalter begonnen zu haben, Rechnung tragend, stellte er auf demokratischer Im Brief an Robert v. Mohl v. 27. 9. 1865 schreibt Treitschke, der alte Napoleon habe „wirklich zwei Gesichter, ein despotisches und ein revolutionäres", Briefe II, S. 415; ferner Politik II, S. 204; Brief v. 25. 11. 1864 an Bachmann, Briefe II, S. 366. 2)

Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 172.

3)

Das konstitutionelle Königtum, Hist. Pol. Aufs. I I I , S. 434. Bonapartismus I, S. 55.

4) 6)

Das konstitutionelle Königtum, S. 433. A. a. O. S. 434; Bonapartismus I, S. 52 u. 68. ') Bonapartismus I, S. 52 u. 58. e)

_

47 —

Basis in vereinfachter Gestalt den „alten zentralisierten Beamtenstaat Richelieus" wieder her1). Die Hierarchie des neufranzösischen Beamtentums, ein übersichtlich gegliedertes System von Präfekten, Unterpräfekten und Maires für die Verwaltungseinheiten der Departements, Arondissements und Gemeinden und ihre zentrale Instanz, den Staatsrat, schuf er sich zum gefügigen Werkzeug seiner allumfassenden Staatsgewalt2). Sämtlich vom Staatsoberhaupt ernannt, waren die Beamten von ihm gänzlich abhängig und ihm allein verantwortlich, vollstreckten sie seinen Willen, ungebunden gegenüber den Regierten und allen gewählten Körperschaften, ja sogar rechtlich emanzipiert und vor dem Zugriff der Gerichte geschützt3). Durch diese Zentralisation der Verwaltung vollendete Napoleon die straffe Staatseinheit Frankreichs. Treitschke weist darauf hin, daß Napoleon wiederum ein elementares revolutionäres Verlangen erfüllte, indem er das Ideal der einen unteilbaren Nation mit so radikaler Folgerichtigkeit verwirklichte4), andererseits einen großen historischen Werdeprozeß zum Abschluß brachte, den die Revolution zwar am stärksten gefördert hatte durch die Beseitigung aller selbständigen Rechte und Privilegien der Provinzen und Gemeinden8), der sich aber schon in der ältesten französischen Geschichte angebahnt hatte6). Daß die Spitze dieses Systems nur eine monarchische sein konnte, war für Treitschke Selbstverständlichkeit, eine starke, ja despotische Monarchie geradezu Erfordernis angesichts des pyramidalen Verwaltungsaufbaus, der alle treibenden Kräfte des Staates in der Hauptstadt vereinigte, wodurch für unzufriedene Minderheiten stets die Möglichkeit bestand, sich durch Handstreiche des gesamten Staates zu bemächtigen7). Im Kaisertum Napoleons ward daher nur jene Staatsform restituiert, „die, eine Notwendigkeit für Frankreich, lediglich im Taumel der Leidenschaft preisgegeben worden war"8). Seine Überzeugung, daß dem französischen Staat, solange die napoleonische Verwaltungsordnung Geltung besitze, allein ein monarchisches Regiment zuträglich sei, hat Treitschke auch späterhin nicht korrigiert; schon aus. x) 2) 8) 4) 5)

«) ') 6)

Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 3. Bonapartismus I, S. 52. Bonapartismus II, S. 133 f. Bonapartismus I, S. 51; Deutsche Geschichte I, S. 171. Bonapartismus I, S. 51. A. a. O. S. 50. A. a. O. S. 54; Bonapartismus IV, S. 236 ff. Bonapartismus I, S. 54.

— 48 — •diesem Grunde betrachtete er die zweite Republik als ein Provisorium1), dem Napoleon III. notwendigerweise ein Ende machte, und glaubte auch nach 1870 nicht an eine Dauer der dritten Republik, die er ironisch als „wundersame Einrichtung einer Monarchie ohne Monarchen" bezeichnete2). Was den inneren Ausbau des Staates anbetrifft, sieht Treitschke das hervorstechendste Merkmal in der fortschreitenden Bureaukratisierung aller wichtigen Gebiete des Staatslebens. Die geeigneten Voraussetzungen hierzu bot die völlige Nivellierung der Gesellschaft, für welches Ziel Napoleon die Gedanken der Gesetzgebung der Nationalversammlung und des Konventes verwertete, soweit sie diesem Zwecke zu dienen vermochten3). Die Aufhebung aller Standesunterschiede wurde nicht nur formell in seiner Konsularverfassung garantiert, sondern das Prinzip der unbedingten Gleichheit de facto restlos durchgeführt4). Die große Rechtskodifikation, die unter seiner Regierung vollendet wurde, brachte einheitliches und gleiches Recht für alle Provinzen und Klassen5); die Neuordnung des Finanzwesens verteilte die Steuerlast durch ein kluges System von Grundsteuern und indirekten Abgaben gleichmäßig auf alle Volksklassen6). Die Realisierung dieses leidenschaftlichen Wunsches der Revolution bedeutete zugleich die Ausschaltung jedweder zwischen Individuum und Staatsführung stehenden Gewalt, das Fehlen einer Opposition von Seiten selbständiger Körperschaften oder Stände, in anderem Lichte wiederum eine wirksame Befestigung der despotischen Macht. Unberührt von den weitgreifenden Gleichheitsbestrebungen blieben jedoch die militärischen Einrichtungen des Staates. Napoleon handelte dabei, wie Treitschke darlegt, nach einem klaren Plan: nicht die demokratische allgemeine Wehrpflicht, sondern die Konskription bildete die Grundlage der Heeresorganisation; freies Avancement eröffnete jedem tüchtigen Soldaten eine ungehemmte Karriere, die sehr ausgedehnte Militärgerichtsbarkeit löste ihn vollkommen aus der bürgerlichen Ordnung heraus, so daß insgesamt eine Sonderstellung des Heeres innerhalb des Staatsganzen erreicht wurde: es diente dem Herrscher als ihm Vgl. hierzu Bonapartismus IV, „Die Republik und der Staatsstreich", Hist. Pol. Aufs. III, S. 236—288. 2 ) Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877, Deutsche Kämpfe II, S. 448; Politik II, S. 205. 8 ) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 1 7 1 . 4 ) Bonapartismus I, S. 55 f. 5 ) Bonapartismus I, S. 60. •) A. a. O. S. 61.

— 49 — persönlich bedingungslos ergebenes Machtinstrument1). Treitschke nennt es, neben dem monarchischen Beamtentum, die zweite Hauptstütze des napoleonischen Despotismus2). Daß außer dieser vielfach gesicherten unbestimmten Machtfülle eines Einzelnen, der über alle Machtmittel des Staates verfügte, eine mit autonomen Rechten ausgestattete Volksvertretung nicht existieren konnte3), schien Treitschke evident; darum sind ihm gerade die parlamentarischen Institutionen der napoleonischen Verfassung ein instruktives Beispiel für die „diabolische Halbwahrheit des Bonapartismus"4). Als widerwillige Konzession an die Ideen der Revolution empfunden, wurden die öffentlichen Körperschaften in bezug auf Zusammensetzung und Tätigkeitsbereich von Napoleon zu einem Schattendasein verurteilt. Aus einer vom souveränen Volk nach dem allgemeinen Stimmrecht einmalig erwählten Liste ernannte der Senat, ein Kollegium von Vertrauensmännern, „willenlosen Kreaturen" des Kaisers, wie Treitschke sie geißelt5), die Mitglieder des Tribunats und die Abgeordneten des gesetzgebenden Körpers; dem Tribunate stand ausschließlich das Recht der Beratung, dem gesetzgebenden Körper nur die Beschlußfassung über die vorgelegten Gesetze zu, die gesetzgeberische Initiative war beiden Körperschaften versagt. Diese Trennung von Aktion und Beratimg hält Treitschke für den entscheidenden Schlag Napoleons gegen das parlamentarische Leben6), und speziell daran fand er auch durch die Zusatzakte, die Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba verkündete und in der er unter dem Zwange der Not eine tatsächlich gewählte Volksvertretung gewährte und einige Uberale Forderungen, wie Pressefreiheit und Petitionsrecht des Parlamentes bewilligte, nichts geändert7). Das in konstitutionellen Staaten normale Verhältnis der gegenseitigen Ergänzimg von Verwaltung und Gesetzgebung sah Treitschke hier derart zugunsten der ersteren verschoben, daß letztere daneben nahezu verschwand und der Kampf der Revolution für eine Beteiligung des Volkes an beiden mit einem „leeren Scheingepräge wertloser parlamentarischer Vgl. Bonapartismus I, S. 62. ») Vgl. Politik II, S. 204. 3 ) Bonapartismus I, S. 67. 4 ) Bonapartismus I, S. 7 1 ; in gleicher Formulierung kehrt der Satz: „Die diabolische Halbwahrheit ist das Wesen des Bonapartismus" an zahlreichen anderen Stellen wieder. 6 ) Politik II, S. 204. •) Bonapartismus I, S. 67. ') Bonapartismus I, S. 68. Beiheft d. H. Z. 32.

4

— 50 — Formen" abgefertigt wurde1). So konnte Treitschke den Satz aussprechen, daß die napoleonische Verfassung in Wahrheit, ebenso wie die des bourbonischen Staates, nur eine Verwaltungsordnung sei2). Wie der unerbittlichen Konsequenz dieses Systems die Bewegungsfreiheit des politischen und sogar des privaten Menschen3) zum Opfer fiel, so geriet auch die religiöse und somit die geistige Willenssphäre unter die Botmäßigkeit des Staates. Getreu der altbourbonischen Tradition, erstreckte Napoleon das Einflußgebiet der allmächtigen Staatsgewalt selbst auf die Kirche, indem er die von der Revolution ausgesprochene Trennung von Kirche und Staat aufhob und eine Staatskirche errichtete mit einem besitzlosen, staatlich besoldeten Priesterstand und einer der weltlichen in Gliederung und Aufbau analogen geistlichen Bureaukratie4). Nicht überzeugungstreuer, religiöser Gesinnung, verlautet Treitschkes Kritik, sondern der politischen Berechnung als unentbehrlichem Mittel „zur Knechtung der Geister" verdankt der Katholizismus seine Wiedereinsetzung zur herrschenden Kirche Frankreichs5). Die innere Geschlossenheit und intransigente Logik des napoleonischen Staatsbaues verfehlte ihre Wirkung auf Treitschke nicht: es sei der „stolzeste, gescheiteste und bestgeordnete Despotismus" der Neuzeit6), so resümiert er in der „Deutschen Geschichte". Bei seiner vertieften sittlichen Auffassung vom Berufe des Historikers verwechselt er indessen die Erklärung historischer Tatsachen nicht mit ihrer Rechtfertigung. Sein Werturteil über den Bonapartismus, das er nicht verschweigen konnte, drückt sich in der besonderen Skepsis aus, die er gegenüber dem Schöpfer dieses Systems hegte. 2. Napoleon I. Treitschkes Verhältnis zu Napoleon I. ist, wie kein zweites zu einer Persönlichkeit der französischen Geschichte, stark im Subjektiven haften geblieben. Bei allem ehrlichen Bemühen um ein unbefangenes Urteil7) erweckt seine Charakteristik Napo1

) Deutsche Geschichte I, S. 1 7 1 ; vgl. auch Politik II, S. 204. ) Deutsche Geschichte I, S. 1 7 1 und an anderen Stellen, vgl. oben S. 30, Anm. 2. 3 ) Bonapartismus I, S. 71 u. 69. *) A. a. O. S. 66. 6 ) Bonapartismus I, S. 65. *) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 171. ') Vgl. die Briefe an Robert v. Mohl v. 27. 9. 1865, Bd. II, S. 415 und an Fr. Luise Brockhaus v. 1. 10. 1865, Bd. 3, S. 420. 2

— 51 — leons I. den Eindruck der Einseitigkeit, die immerhin verständlich wird, wenn man die verschiedenen politischen und persönlichen Motive, die sie bedingen, berücksichtigt. Nach dem Tode des großen Korsen bemächtigte sich unter der Regierung der volksfremd gewordenen bourbonischen Dynastie die unbeschäftigte Phantasie des französischen Volkes seiner Gestalt, und in dem Maße, wie die Erinnerung an die Leiden der Kaiserzeit verblaßte, wuchsen Legende und Mythos, die durch die volkstümliche Dichtung und die imperialistische Historik über ihn gesponnen wurden1). Die Tatsache, daß dieser Napoleonkultus sich nicht auf Frankreich beschränkte, sondern gerade in den ehemaligen deutschen Rheinbundstaaten unter dem Protektorate des liberalen Partikularismus empfängliche Volksmassen und sogar dichterische Glorifizierung fand2), mag Treitschke ein Ansporn gewesen sein, durch ein scharf und schonungslos entworfenes Bild zu zeigen, welchem Idol man dabei nachgejagt sei. Noch unmittelbarer aber gab das Werk Napoleons III.8) Treitschke Anlaß, seiner persönlichen Antipathie gegen den Korsen über die Kritik des Historikers hinaus die Zügel schießen zu lassen, denn Vergleiche wie sie der fürstliche Autor zwischen der „lauteren Hoheit Cäsars" und der „abstoßenden Größe" eines Napoleon gewagt hatte, dünkten ihn, so gesteht er in einem seiner Briefe, „eine Blasphemie"4). Nicht daß Treitschke „die Größe" Napoleons mit Absicht und um jeden Preis verneinen wollte. Ein produktives Wirken des Staatsmannes Napoleon wird keineswegs in Abrede gestellt, namentlich seine Leistungen auf dem Gebiete der Verwaltung, des Rechts- und Finanzwesens, der Heeresorganisation werden als unleugbar schöpferische gewürdigt5). Wenn er Napoleon hinsichtlich seiner europäischen Politik als „Schwert der modernen Hier sei auf die Dichtungen Bérangers, Victor Hugos, Lamartines, lerner auf das Werk von Thiers Histoire du Consulat et de l'Empire (1845 bis 1862) hingewiesen, um nur einige der bedeutendsten Namen zu nennen. Werden und Wachsen der „napoleonischen Legende" wird übrigens von. Treitschke selbst eingehend verfolgt; vgl. Bonapartismus II, S. 142 ff. !)

Hier wäre zu nennen: Heines Buch „ L e Grand" und die Novelle

von Hauff „ D a s Bild des Kaisers", in der ein wahrer K u l t mit dem Bilde des Kaisers getrieben wird. 3) E s handelt sich um die Histoire de Jules César par Napoleon III. *) Brief an Fr. Brockhaus v . 1. 10. 1865, Briefe I I , S. 421, 6) Im Eingang zu seiner Abhandlung über „Cavour" erörtert Treitschke, wie überholt die Goethesche Fragestellung sei, ob ein Napoleon zu den produktiven Menschen zu zählen wäre, und betont das Anrecht des Staats-



— 52 — Idee" bezeichnet, dem die Welt die Beschleunigung der allgemeinen Überwindung des Feudalismus, den Anstoß zur Ausbildung der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts und die wichtigste Vorarbeit hierzu durch die Zerstörung uralter partikularistischer Abneigungen1) verdankt, so antizipiert er damit dieselben Punkte, die die moderne Forschung dem historischen Urteil über Napoleon zugrunde legt; aber während heutzutage diese Kriterien in der Frage seines historischen Ranges allein ausschlaggebend sind, fallen bei Treitschke die menschlichen Mängel Napoleons schwerer ins Gewicht als seine allgemeine historische Sendung. Es sei unmöglich, „den Gewaltigen" und „seine übermenschliche Tatkraft" 2 ) nicht zu bewundern, sagt Treitschke, und fügt sogleich hinzu: „Aber noch unmöglicher ist es, ihn zu lieben"3). Die Anerkennung, die seinem „verständigsten stolzesten Absolutismus" gezollt wird, schließt nicht die Erkenntnis aus, daß der napoleonische Staatsbau auf die „schlechten oder doch auf die niederen Eigenschaften der Menschen" gegründet sei4). Nun war es allerdings Treitschkes Überzeugung, daß diese Erscheinung im Wesen eines jeden Despotismus liege6). Wie der erste, so mußte auch der dritte Napoleon Ehrgeiz und Habgier anstacheln, sein Volk auf materiellen Wohlstand und Lebensgenuß hinlenken, als Ersatz für die Freiheit, die sein System nicht bieten konnte, und so seine sehr ernsthaften Bemühungen um die Hebung des Volksniveaus selbst zunichte machen6). Was Treitschke aber bei Napoleon III. noch entschuldbar ist, nachdem die Versuche mit den verschiedensten Regierungssystemen erwiesen hatten, daß Frankreich vorerst nicht imstande war, politische Freiheit zu ertragen7), das wird Napoleon I. gegenüber zum persönlichen Vorwurf, denn er war es, der „mit bewunderungswürdigem Takt" die Freiheitswünsche der Revolution ignorierte und allen politischen Idealismus erstickte8). Seine Schöpfungen sind auf der scharftnannes gleich den Dichtern und Denkern zu den schöpferischen Geistern gerechnet zu werden (Hist. Pol. Aufs. II, S. 236 f.); vgl. auch Bonapartismus I, S. 70, 98 f.; Politik II, S. 203. Bonapartismus I, S. 97. *) Brief an Fr. v. Treitschke v. 22. 5. 1873 (v. Cornicelius i. Anm. wiedergegeben). Briefe III, S. 372. 3 ) A. a. O. S. 62. 4 ) Bonapartismus I, S. 62. 8 ) Vgl. oben S. 34. 8 ) Bonapartismus V, S. 370. ') Bonapartismus V, S. 326. s ) Bonapartismus I, S. 63, 70 f.

— 53 — sinnigen Vertrautheit mit den Schwächen des französischen Volkes aufgebaut, er arbeitete förmlich daran, die gefährlichen Leidenschaften seiner Untertanen systematisch großzuziehen1), und wurde hierbei von keinen Skrupeln gequält, weil er die Franzosen ohne Gemüt, zynisch und mit der Kälte eines Fremden beurteilte2). Mannigfache Beweise führt Treitschke ins Treffen, um die Behauptung, Napoleon sei „ein Fremdling auf Frankreichs Thron" gewesen3), zu erhärten. Vor allem seine europäische Politik! Die Grenzen der traditionellen französischen Staatskunst, die von jeher das Ziel verfolgt hatte, Frankreich die Hegemonie auf dem Festlande zu sichern, indem es die Führerschaft unter den lateinischen Nationen beanspruchte und diese Position durch wohlwollende Unterstützimg der deutschen Klein- und Mittelstaaten zu verankern trachtete, wurden von Napoleon sehr bald überschritten. Lediglich die Schaffung des Rheinbundes entsprach noch der bisherigen politischen Orientierung4). Phantastische, in ihrer Grundtendenz ganz unfranzösische Welteroberungspläne traten an ihre Stelle, wie sie nur in dem Kopfe eines „Heimatlosen"8), eines „Mannes ohne Vaterland"6) entstehen konnten, bei denen ihm die Franzosen ebenso gleichgültig wurden, wie andere Völker. Treitschke bestreitet ihm das Prädikat eines „nationalen Helden"7); schon in der physischen Erscheinung von unfranzösischem Habitus, vermißt er an Napoleon spezifisch gallische Nationaleigenschaften. Wohl aber offenbarten sich in der „Macht und Tiefe seiner Leidenschaft", in der Art seines Fühlens und Denkens8), und darin, daß er den Nachruhm als letzten Sinn des irdischen Strebens verehrte9), typisch italienische Wesenszüge. Darum ist Treitschke die italienische Napoleonbegeisterung eher einleuchtend, denn für die Italiener war er die Verkörperung eines alten nationalen Ideals, des „principe", wie ihn Machiavell verkündete10). Unbändiger Ehrgeiz lenkte Napoleon in seinem Handeln. Als er in der französischen Revolution ein günstiges Betätigungs1) 2) 3) 4) 6)

•) ') *)

Bonapartismus I, S. 72 f., 75, 78. Politik II, S. 203; Bonapartismus I, S. 83. Bonapartismus I, S. 8r. Vgl. Deutsche Geschichte I, S. 245; II, S. 177. Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 105; Bonapartismus I, S. 83. Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 105. Bonapartismus I, S. 82. A. a. O. S. 88.

•) A. a. O. S. 82. " ) A. a. O.

— 54 — feld erkannte, benutzte er sie als Mittel zum Zweck, als passendes „Sprungbrett", wie er geradesogut jede andere Gelegenheit ergriffen hätte, um sein Genie zu entfalten1). Ein vorwiegend militärisches Genie, verleugnete seine gesamte Politik niemals den Soldaten, der er von Anfang an war. Krieg und Eroberung war ihm Selbstzweck, die eigentlich belebende Kraft seiner Regierung, und seine bürgerlichen. Schöpfungen nur erdacht, um als Schemel seines Ruhmes zu dienen2), um die Verwirklichung seiner kriegerischen Pläne zu ermöglichen. Sein Staat trug einen ausgeprägten Machtcharakter. Nun ist Treitschke ja als energischer Verfechter der Lehre vom Staat als Macht, die er schon sehr früh entwickelte, bekannt3). Aber zwischen dem Machtbegriff eines Napoleon und der Treitschkeschen Theorie gähnt eine nicht zu überbrückende Kluft: Napoleon begehrte die Macht um ihrer selbst willen, ohne sie einem höheren ethischen Prinzip unterzuordnen, ganz im Einklang mit der Staatslehre Machiavells4), während Treitschke die errungene Macht erst gerechtfertigt weiß, wenn sie zur Erzeugung sittlicher Werte gebraucht wird. Was Treitschke noch unüberwindlicher von Napoleon trennte, ist die Einsicht, daß dieses Genie der Tatkraft und des Willens ein Mensch ohne Seelengröße war. Der größte Mann des Jahrhunderts stand bewußt außerhalb der Welt des Geistigen5). Selbst aller Ideale bar, kümmerte er sich nicht um das Seelenleben der Völker, die er beherrschte und vermochte nicht, mit ihren idealen Kräften zu rechnen. Er verachtete im Gegenteil jede Ideologie und bekämpfte sie, die ihm „halb lächerlich, halb l) a)

Bonapartismus I, S. 82. Bonapartismus I, S. 73.

a)

Vgl. Brief vom März 1855; Politik I, S. 32 f. *) Von Machiavells Staatslehre aber sagt Treitschke: ,,Das Entsetzliche dieser Lehre liegt nicht in der Unsittlichkeit der empfohlenen Mittel, sondern in der Inhaltlosigkeit dieses Staates, der nur besteht um zu bestehen." (Das politische Königtum des Anti-Machiavell, Hist. Pol. Aufs. Bd. IV, S. 428.) 5 ) „ K l i n g t es nicht lächerlich zu sagen, daß der größte Mann des Jahrhunderts im Grunde geistlos war ? Und doch muß das Abgeschmackte ausgesprochen werden." (Bonapartismus I, S. 91.) Besonders drastisch drückt sich Treitschke in einem Brief an seine Gattin aus: „Bei all seiner übermenschlichen Tatkraft bleibt er doch ein ideenloser Kerl." (Briefe III, S. 372.) Vgl. Anatole France, Le L y s Rouge, Paris, Calman-Lévy, S. 55 ff. ; in diesem Roman läßt Anatole France eine seiner Gestalten ein ähnliches Urteil aussprechen: . . . „II pensait de la vie et du monde à peu près ce qu'en pensait un de ses grenadiers. . . . Il garda toujours cette gravité eûfantine qui se plaît aux jeux de sabres et des tambours. . . . c'est

— 55 — schien1),

furchtbar" wo es nur anging. Über seinen völligen Mangel an innerer Vornehmheit, an „persönlicher sittlicher Würde" berichten zahlreiche Episoden, die das Bild seiner Persönlichkeit in unvorteilhafter, für Treitschke hassenswerter Weise ergänzen2). Mit der „Schadenfreude des Plebejers" delektierte er sich z. B. an der knechtischen Demütigung der deutschen Fürsten3) und bewährte sich immer wieder als „unritterliche", „vulgäre Natur"4) mit brutalen, gewalttätigen Trieben5), ohne den Adel eines echten Cäsaren. Ein „ordinärer Glücksritter", fehlte es ihm nicht an „plumper Prahlerei"6) und „eingefleischter Verlogenheit", denn der Sinn für Wahrhaftigkeit war ihm versagt7). Auch seine Familienpolitik verrät die kleinliche, vulgäre Note, symptomatisch für den „Helden der vollendeten Selbstsucht". Die Häufung negativer Züge auf der Persönlichkeit Napoleons läßt es notwendig erscheinen, darzulegen, inwiefern spezifisch Treitschkesche Geisteshaltung diese Einseitigkeit bedingt. Kerngedanke seiner Geschichtsschreibung ist immer gewesen, „das Ringen der Nationen um einen ihnen gemäßen Staat, der ihre idealen Güter zusammenfaßte und schützte", zu verfolgen8). Dieses Ringen der Nation zu ihrem eigenen zu machen, dafür hielt er die staatspolitisch führenden Persönlichkeiten verantwortlich. Das Ethos solcher Auffassung ist zutiefst in seinem preußischen Staatsgefühl9) begründet. Gemäß der in ihm lebendigen Norm des persönlichen Einsatzes für die wohlverstandenen Interessen des Volkes vermochte ihn nun die zweckpolitische, auf die Sicherung der eigenen Position berechnete Grundtendenz der innerpolitischen Leistungen Napoleons nicht zu befriedigen ; seine Kritik steigerte sich zu offener Ablehnung auf dem Gebiet, wo Napoleon aus der erworbenen Machtfülle den eigentlichen Nutzen cette vulgaire grandeur qui fait les héros. . . . Il n'est pas un génie intellectuel . . . et spéculatif. . . . A St. Hélène, quand il parle de Dieu et de l'âme, il semble un bon petit écolier de quatorze ans. (Vgl. Treitschke über die Memoiren Napoleons, Bonapartismus I, S. 95 f.) . . . Il manque de vie intérieur, . . . défaut particulièrement sensible chez Napoleon qui vécut jamais au de-dans de lui-même. x) а) 3) 4) б)

•) ') 8) »)

Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 171. Brief v. 4. 12. 1865 an G. v. Haselberg, Briefe II, S. 442. Deutsche Geschichte I, S. 168. Bonapartismus I, S. 92 f. A. a. O. S. 93. A. a. O. S. 94. Bonapartismus I, S. 95. Vgl. Meinecke, Die Idee der Staatsraison, S. 501. S. u. S. 124.

— 56 — zog, auf dem Gebiete seiner äußeren Politik. Hier entbehrte ihm das Wirken Napoleons am meisten des staatsmännischen Ethos, denn die Mehrzahl der von seinem vorwiegend militärischen Genie diktierten Pläne und Taten hatte nichts mehr mit einem organischen Aufbau auf den gewordenen Grundlagen zu tun. Treitschkes Schilderung der staatlichen Machtkämpfe Napoleons wird so zu einem „Sittengericht" über die handelnde Person1), Es kann kein Zweifel sein, daß dieser extrem wertende Standpunkt eine Überschätzung der freien Verantwortlichkeit enthält, daß er das Gegenspiel der beteiligten Gewalten, die aktiven, zum Teil Richtung bestimmenden Widerstände zu wenig als entlastend berücksichtigt. Napoleon gewissermaßen als „Eroberungsbestie"2) zu sehen — gegen diese „hergebrachte" Auffassung hatte sich Ranke gewandt8), der das Handeln Napoleons im Lichte der großen Weltverhältnisse, in die er sich gestellt sah, betrachtet und beurteilt wissen wollte. Im Rankeschen Sinne hat es später Max Lenz unternommen, Napoleon im Ringen mit jenen überindividuellen Kräften darzustellen, die vor ihm da waren und stärker waren als er, die „daher seinem Tun und Lassen Maß und Richtung gaben"4). Wenn demgegenüber Windelband als Jüngerer geneigt ist, zu betonen, daß bei aller Berücksichtigung der durch die Entwicklung des Staatensystems im 18. Jahrhundert hervorgerufenen internationalen Verhältnisse die ganze Art, wie der Machtkampf ausgetragen wurde, „letzten Endes doch wieder die Prägung erhielt durch die jede Norm sprengende Persönlichkeit des Imperators"6), so spricht l

) Meinecke, Die Idee der Staatsraison, S. 499. *) Vgl. z. B. Treitschkes Motivation von Napoleons russischem Feldzug (Deutsche Geschichte Bd. I, S. 382) aus dem „unzähmbaren Charakter des Weltherrschers. Wie der Löwe nicht bloß aus Hunger mordet, sondern weil er nicht anders kann, weil es seine Natur ist, zu rauben und zu zerfleischen, so konnte dieser Allgewaltige nicht einen Augenblick bei einem erreichten E r folge sich beruhigen. Ins Grenzenlose schweiften seine begehrlichen Träume." 3 ) In einer für den wissenschaftlichen Eigengebrauch bestimmten „Rezension der Rezension Dunckers" polemisiert Ranke gegen die hergebrachte Auffassung, Napoleon habe sich von vornherein mit dem Plane der Welteroberung getragen. „ E r erscheint, daß ich so sage, wie eine Eroberungsbestie, auf den Augenblick lauernd, wo er einen nach dem anderen seiner Nachbarn verschlingen könne." (Mitgeteilt v. Hinneberg i. Forsch, z. Brandenb. u. Preuß. Geschichte, Bd. V S. 483.) 4 ) Max Lenz, Napoleon, i. Monographien z. Weltgesch., Bd. 24, Vorrede zur 2. Aufl. 5 ) W. Windelband, Die auswärtige Politik der Großmächte 1494 bis 1919, S. 260.

— 57 — er im Treitschkeschen Sinne den freien persönlichen Kräften das Übergewicht zu. Zugleich aber ist damit gesagt, daß auch der strenge ethische Maßstab, mit dem Treitschke die Entschlüsse des Kaisers verfolgte, sich für ein entscheidendes Urteil über die einmalige Gestalt Napoleons als nicht ausreichend erweist. 3. Der französische Liberalismus. Nahezu vier Jahrzehnte nach dem Sturze Napoleons I. erlebte Treitschke selbst die Wiedergeburt des seinerzeit sowohl von den Zeitgenossen wie von der Wissenschaft totgesagten Bonapartismus. Wir schilderten bereits seine aus dem unmittelbaren Erleben heraus gewonnenen Eindrücke1). Hatte der siebzehnjährige Jüngling Treitschke schon die Notwendigkeit solchen Geschehens in ihrem Kern klar und richtig erkannt, so formte sich dem rückschauenden Historiker dies Ereignis als Fazit einer ganzen Epoche: des Zeitalters, da in Frankreich der Liberalismus seine uneingeschränkte Herrschaft behauptet hatte. Treitschkes Haltung zum französischen Liberalismus, die nach der Natur der Dinge keine andere als eine stark kritische sein konnte, blieb nicht auf rein historische Motivierung beschränkt; er wollte nicht nur untersuchen, wie das französische liberalistische Zeitalter dem neuen Bonapartismus den Boden bereitet hatte, vielmehr fanden bei ihm noch zwei weitere Gesichtspunkte ebenso wesentliche Beachtung. Die „Deutsche Geschichte" stellt in den umfangreichen Kapiteln über die deutschen Kleinstaaten dar, in welchem Maße das politische Gedankengut der Besiegten nach den Freiheitskriegen in die Lande der Sieger allerorten eindrang und zur geistigen Grundlage des kleinstaatlichen Liberalismus, des verhaßten liberalen Partikularismus wurde, „der sich so knechtisch vor den französischen Ideen beugte, wie einst die Dichtung in den Tagen Ludwigs XIV." 2 ). Der Tatbestand hinwiederum, daß Frankreich zum ersten und einzigen Male in Europa den Träger dieser Gedanken, den bürgerlichen Mittelstand, im ungeteilten Besitz der Macht gesehen, ließ Treitschke, obwohl er jede Gleichsetzung des französischen Bourgeois mit dem deutschen Bürger streng ablehnt3), doch davon >) Vgl. s. 13 it. •2) Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 573. 3 ) Im „Sozialismus und seine Gönner" wirft Treitschke der deutschen Sozialdemokratie vor, daß sie so unbefangen die „Schlagwörter der Klassenkämpfe des Julikönigtums" einfach auf Deutschland übertrage. „Der hartherzige Unhold, der den Arbeiter ausbeutet, ist die Bourgeoisie,

— 58 — überzeugt sein, daß man gewisse typische Züge eines liberalen Regimentes an dem französischen Beispiel studieren könne, und somit erstreckt sich seine schonungslose Kritik des französischen Liberalismus nicht nur zugleich auf den früheren deutschen Liberalismus, manches bedeutet auch einen Hieb auf die preußischen Liberalen im eigenen Lager. Verfolgen wir zunächst Treitschkes Auseinandersetzungen mit der ideologischen Vorstellungswelt des französischen Liberalismus, deren Mittelpunkt die konstitutionelle Doktrin, basiert auf der Montesquieuschen Theorie, bildet, denn hier schon beginnt seine prinzipielle Kritik. Wir haben darauf hingewiesen, wie abwegig ihm der Versuch einer Verbindung der Montesquieuschen Gewaltenteilung mit dem Rousseauschen Gedanken der Staatsallmacht, der in den Anfängen der Revolution von 1789 unternommen wurde, erschien1). Die neuerlichen Experimente in dieser Richtung, die nach der Liquidierung des ersten Kaiserreiches gewagt wurden, beurteilt er als von Anfang an zur selben Erfolglosigkeit verdammt. Daß man ein Parlament neben der napoleonischen Verwaltungsordnung forderte, um nach dem Muster der englischen Institutionen, die Montesquieu bei der Konzeption seiner Theorie vorgeschwebt hatten, „geteilte Gewalten" zu realisieren — darin erblickt er den Grundschaden des französischen Konstitutionalismus2). Schon vor Treitschke war sich die Forschung einig, daß Montesquieu die englischen Institutionen durchaus mißverstanden hatte, indem er eine Teilung der Legislative und der Exekutive annahm, die in der Praxis nicht vorhanden war. Aber dieses Mißverständnis wiegt bei Treitschke nicht so schwer, denn immerhin hatte sich Montesquieu dadurch, daß er überhaupt die Aufmerksamkeit auf das englische Vorbild lenkte, in seinen Augen ein „welthistorisches Verdienst erworben"3). Wogegen er sich indessen energisch wendet, ist seine „mechanische, formalistische Auffassung vom Staat", die, wie schon ausgeführt, ein unübersetzbares, dem deutschen Arbeiter unaussprechliches Fremdwort." Der wesentlichste Unterschied der beiden Nachbarvölker liege gerade in ihren sozialen Verhältnissen. „Die deutsche Bourgeoisie der Sozialdemokratie" sei ein verlogenes Zerrbild, „der deutsche Bürger ist von' ganz anderem Schlage als der französische Bourgeois". (Deutsche Kämpfe II, S . 177 ff.) Vgl. dazu auch Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 5 1 5 u. 680; desgl. Das konstitutionelle Königtum, Hist. Pol. Aufs. III, S. 446. ») Vgl. oben S. 42 f. 2 ) Bonapartismus II, S. 132. *) Vgl. „die Grundlagen der ISnglischen Freiheit", Hist. Pol. Aufs. IV, S. 2; Das konstitutionelle Königtum, Hist. Pol. Aufs. III, S. 432.

— 59 — zur allgemein französischen wurde 1 ). Als Jünger der Aufklärung glaubte Montesquieu blind an die Wirksamkeit vernunftgemäß konstruierter Verfassungen und rationeller Gesetze, gleichviel welchen Inhalts, wenn nur ihre absolute Herrschaft gesichert wäre. Diesem Vernunftsrechte gegenüber betont Treitschke mit Nachdruck seine historische Staatsauffassung, welche das Staatsrecht aus Natur und Geschichte der Völker ableitet, zumal der frühe deutsche Liberalismus, unter der französischen Ägide stehend, sich die „alte Naturrechtslehre" vom vernunftgemäßen Staate, zu deren Überwindung die deutsche Wissenschaft seit Herder längst neue Wege aufgezeigt hatte 2 ), ganz zu eigen gemacht hatte 3 ). Insbesondere gilt Treitschkes Vorwurf den beiden süddeutschen Führern, den Rotteck-Welcker, deren Doktrinen ihrem Ursprung und Charakter nach „französisch" seien4). Die für Deutschlands Entwicklung so gefährliche Invasion französischer politischer Dogmen und Formeln — die einerseits den Hang zum Sonderleben der kleinen Staaten, aber auch preußischer westlicher Gebietsteile bedenklich förderte5), andererseits Frankreichs traditioneller Politik, als Gönner und Anwalt der deutschen Kleinstaaterei aufzutreten6), Vorschub leistete7) — hat Treitschke in der Hauptsache der rheinbündlerischen Gesinnung des frühen Liberalismus8) zur Last gelegt, während er eine sicherlich nicht minder wichtige Voraussetzung dafür, die durch den allgemeinen politischen Druck der Reaktionszeit geschaffenen Zustände, nur nebenher streift 9 ). Uber einen anderen verhängnisvollen, auf der formalistischen Staatsauffassung beruhenden Mangel des französischen Konstitutionalismus, die Unterschätzung der Verwaltung und 1)

Vgl. oben S. 34 f. Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 5 und II, S. 109, auch Parteien und Fraktionen III, S. 576. 2)

*) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 109, und Parteien und Fraktionen III, S. 603. 4) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 109, 110; IV, S. 468. 6) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 386, 104; Bd. II, S. 330, 381; Bd. V , S. 263. «) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 22; Bd. II, S. 578. ') Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 291, 45 f., 56. 8) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 310. •) Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 5, meint Treitschke, daß dem „mächtigen Einströmen französischer politischer Gedanken in unser Leben" der Boden durch die radikale Literatur der 20er Jahre bereitet worden sei. Diese wurde aber durch die Repressalien der Metternichzeit (Burschenverfolgungen, Karlsbader Beschlüsse usw.) stark gefördert.



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ihrer Bedeutung für die Wirksamkeit der Verfassung selbst — wovon Montesquieu noch keinen Begriff hatte1) — belehrte ihn sein Studium des bureaukratischen Parlamentarismus der Franzosen; hier offenbarten sich ihm die Folgen einer verständnislosen Nachahmung des englischen Staates in grellstem Lichte. Da gesetzgebende und exekutive Gewalt niemals vollständig voneinander zu trennen sind, mußten die Kammern, wollten sie überhaupt Einfluß auf die Leitung des Staates ausüben und nicht auf die Dauer in faktischer Ohnmacht verharren, sich der Mithilfe der allmächtigen Bureaukratie vergewissern2). Das s'emparer du pouvoir der jeweils herrschenden Parteien bürgerte sich seither in Frankreich ein; nicht nur eine neue Art der Wahlkorruption, die Befürwortung der Kandidaten des Ministeriums durch die gesamte Bureaukratie, sondern auch eine zersetzende Korruption der Verwaltung im allgemeinen, die Ausbeutung der Bureaukratie durch die Parteien, war das unausbleibliche Resultat. Und so landete Frankreich letzten Endes immer wieder beim Despotismus, indem das despotische Regiment einer Person vom Parteidespotismus abgelöst wurde, was Treitschke sowohl für die beiden konstitutionellen Monarchien wie für die dritte Republik nachweist8). Welche Rückschlüsse Treitschke aus diesen Erfahrungen für sein eigenes Vaterland zog, bekundet ein Brief an Freytag, worin er schreibt: „Alles, was ich erlebe und erlerne, drängt mich jetzt zu der Einsicht, daß es für uns Deutsche höchste Zeit wird, der alten konstitutionellen Schablone durch eine verständige Verwaltungsreform erst einen Inhalt zu geben. Meine Studien über das neue Frankreich zeigen mir die Unfruchtbarkeit des bureaukratischen Parlamentarismus"4). Aber auch sonst vermittelte ihm der tiefere Einblick in das in Frankreich anschaulicher und geklärter als in den deutschen Verhältnissen zutage tretende Widerspiel der dem parlamentarischen Staate entgegenstrebenden politischen Kräfte mancherlei Anregungen8); schon darum ist Treitschke weit davon entfernt, den französischen Parlamentarismus in Bausch und Bogen für nutzlos zu erklären6). Obgleich er für das französische Staatsleben fast nur negative !) Vgl. Hist. Pol. Aufs. Bd. III, S. 432. 2) Bonapartismus I I , S. 140. 3) Vgl. dazu „Zum Jahresanfang", Pol. Korrespondenz v . 10. 1. 1878, Deutsche Kämpfe II, S. 478 ff. 4) Brief an Freytag v. 29. 8. 1868, Briefe III, S. 220; vgl. dazu Westphal, S. 261 ff. 6) Bonapartismus II, S. 115. •) A. a. O. und S. 139.



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Erfolge gezeitigt hatte, unterschätzte Treitschke deshalb doch nicht die Bedeutung seiner politischen Aufgabe, die er mindestens unter der bourbonischen Dynastie zu erfüllen hatte. Damals war das Parlament dazu berufen, die tiefen Gegensätze zwischen alten und neuen besitzenden Klassen, zwischen Adel und Bourgeoisie auszubalancieren1), und vermochte wenigstens zu verhindern, daß der Adel das Übergewicht erlangen und dem schwachen Königtum seinen Willen aufzwingen konnte. Um so vernichtendere Kritik läßt Treitschke der Herrschaft des französischen Bürgertums zuteil werden, welches mit der Julirevolution, nachdem die Aristokratie ausgeschaltet und die „englische Musterverfassung" hiermit „eine den demokratischen Sitten Frankreichs entsprechende Verbesserung erfahren hatte"2), die Leitung des Staates übernahm; denn dieses Bürgertum macht er für den schnellen und gründlichen Verfall des Parlamentarismus recht eigentlich verantwortlich. Der schwerwiegendste Vorwurf, den Treitschke dabei gegen das Bürgertum erhebt, ist der, daß es sein eigenes Klasseninteresse so ohne weiteres mit dem des Staates identifizierte. Die Bureaukratie ward schrankenloser denn je zum Besten dieser einen herrschenden Klasse ausgebeutet und von Korruption und Habgier ergriffen3). Da alle wesentlichen politischen Rechte an einen überaus hohen Census gebunden waren, „der Staat als Aktiengesellschaft" fungierte, wie es Treitschke bezeichnet4), stellten die Kammern keine tatsächlichen Volksvertretungen mehr dar, sie waren mitsamt der Krone nur Ausdruck ein und derselben sozialen Kraft, die den Staat dirigierte; Parteien, ohne die sich Treitschke kein lebendiges Verfassungsleben und keinen sinnvollen Ablauf der Parlamentsgeschäfte denken kann, hatten keine Daseinsmöglichkeit5). Zwar konnte man im Parlament stets von heftigen Kämpfen und Debatten und häufigen Ministerkrisen Zeuge sein, aber Treitschke führt dies nicht auf etwaige Gegensätze innerhalb des Parlaments zurück, sondern nur auf den persönlichen Ehrgeiz und unwürdige politische Ränkesucht einzelner8). Ständische Selbstsucht und Klasseninteresse, Kleinlichkeit und Engstirnigkeit erkennt Treitschkes kritischer Blick auch überall da als Triebfeder des Handelns dieser Bourgeoisie, wo sie die eigentlichen Belange des Staates zu wahren 1) 2) 3) 4) 6)

«)

Bonapartismus II, S. 139. Bonapartismus III, S. 163. Bonapartismus III, S. 171 ff. Bonapartismus III, S. 169. A. a. O., S. 176. A. a. O., S. 177.



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gehabt hätte. Armselig, von Angst und Neid diktiert1), so charakterisiert er ihre auswärtige Politik, für deren beschränktes Niveau ihm die „boshafte Feindschaft" gegen den jungen preußisch-deutschen Zollverein als besonders krasses Beispiel erschien. Treitschke kann es sich bei dieser Gelegenheit nicht versagen, die süddeutschen Liberalen derselben Kleinsinnigkeit zu zeihen, weil sie in ihrer blinden Bewunderung für den französischen „Musterstaat"2) sogar zu politischer Hörigkeit herabsanken und „den französischen Warnungen vor der preußischen Herrschsucht" williges Gehör schenkten3). Er knüpft daran die allgemeine Einsicht, daß der Mittelstand überhaupt nicht zu einer kühnen auswärtigen Politik imstande sei4). Ebensowenig vermag Treitschke in der inneren Politik, in ihrer Gesetzgebung positive und dauernde Leistungen für die Wohlfahrt des Volkes zu entdecken; selbst geringste nötige Reformen für Landbau, Handel und Verkehr scheiterten an dem kurzsichtigen Eigennutz der regierenden Klasse5). Unter allen ihren Versäumnissen aber hielt Treitschke die gänzliche Vernachlässigung der großen Massen6) für dasjenige, wodurch die Bourgeoisie ihren eigenen Sturz vorbereitete. In „herzlosen Standesvorurteilen" befangen, brachte sie kein Verständnis für die anders gerichteten Bedürfnisse und Ansprüche der Menge auf. Treitschke entschuldigt sogar „manche Sünden des französischen Sozialismus", das Entstehen der revolutionären Gesellschaftslehren und deren berechtigte Anklagen gegen die Einseitigkeit dieses Systems7), mit diesem Argument. Durch ihre offene Mißachtung der niederen Schichten verschuldete sie selbst das Abgleiten der *) Bonapartismus III, S. 186 ff. 2) Bonapartismus III, S. 173. 3 ) A . a. O. 4) Vgl. Bonapartismus I I I , S. 168. E s ist nicht unwahrscheinlich, daß Treitschke dabei auch an die preußischen Liberalen gedacht hat, die in ihren Parteiwünschen aufgingen und die Erfordernisse der auswärtigen Politik nicht erkannten, als sie Bismarck auch nach seinen Erfolgen in Schleswig-Holstein weiterhin hartnäckig bekämpften; vgl. „Die Parteien und die Herzogtümer", Deutsche Kämpfe I, S. 33 ff. (1865); in den Schriften des Jahres 1866 hält Treitschke den Liberalen immer wieder die geringen praktischen Erfolge des Liberalismus vor Augen. (Vgl. „Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, Deutsche Kämpfe I, S. 147; Pol. Korrespondenz v. 10. 7. 1866 und v. 10. 8. 1866 u. a.) 5) Bonapartismus III, S. 178—181. «) A. a. O., S. 182, 170 f. ') Vgl. Bonapartismus I I I , S. 228 f f . ; „Der Gönner", Deutsche Kämpfe I I , S. 177.

Sozialismus und seine

— 63 — politischen Leidenschaften ins Soziale, deren elementarer Ausbruch in der Februarrevolution auch das Julikönigtum und damit Macht und Einfluß der Bourgeoisie hinwegfegte, so daß Frankreich, nach einer kurzen republikanischen Episode, abermals für ein cäsaristisches System reif war. 4. Die persönliche Tyrannis Napoleons III. Nach dem Vorbilde des 18, Brumaire 1799 wurde die Verfassung, die sich die zweite Republik gegeben, wiederum durch einen Staatsstreich aufgehoben und die also vollzogene Usurpation der Staatsgewalt durch ein Plebiszit vom souveränen Volk mit überwältigender Mehrheit gutgeheißen1). In mehr als einer Beziehung trat der neue Bonapartismus das unveräußerliche Erbe des alten an. Die wesentlichsten Institutionen des ersten Konsuls, die despotische Verwaltungsordnung und die von ihm geschaffene Heeresorganisation, bildeten die Hauptstützen auch seiner Macht. Hinsichtlich der neuen Verfassung ist eine bewußte Anknüpfung an die erste Konsularverfassung unverkennbar2). Hier wie da sind alle Charakteristika einer Gewaltherrschaft gegeben: eine unbestimmte Machtfülle des vom Volke erwählten Herrschers ohne festumrissene Grenzen,, parlamentarische Einrichtungen, die danach geschaffen waren, niemals eine entscheidende Rolle neben dem despotischen Herrscher zu spielen. Zwar lag die Gesetzgebung in den Händen dreier Faktoren, ohne deren Übereinstimmung kein Gesetz zustande kommen konnte: des Kaisers, des gesetzgebenden Körpers und des Senates3). Aber auch dieser gesetzgebende Körper beschloß nur im ganzen über die vorgelegten Gesetze4), seine Sitzungen waren zudem nicht öffentlich, der Senat war ebenso unbedeutend wie der Napoleons I. und keineswegs etwa einer Pairskammer vergleichbar6). Die tatsächliche Initiative sicherte auch die neue Konsularverfassung der Exekutive, die eingehende Vorberatung der Gesetze besorgte die oberste Verwaltungsbehörde, der Staatsrat; die Ausführungsbestimmungen erließ der Kaiser selbst. Indessen, trotz dieser mannigfachen Gemeinsamkeiten des zweiten mit dem ersten Kaiserreich, will Treitschke doch das System Napoleons III. als durchaus selbständige moderne Staats») 3 ) 4 ) s )

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben S. 45. Stern, Bd. VII, S. 766. Bonapartismus V, S. 303. oben S. 49. Stern, Bd. VIII, S. 10.

— 64 — 1

form betrachtet wissen ), und mit gutem Grund. Waren auch die Fundamente und zum Teil die Formen dieselben geblieben, so offenbarten die tragenden Kräfte seines Staatsbaues einen modernen, auf andere Aufgaben und Ziele gerichteten Geist, den Treitschke selbst am treffendsten erfaßt: „Die Pyramide der alten napoleonischen Verwaltung, durch und für den Despotismus geschaffen, gegründet auf den Gedanken der Staatsallmacht, hat ihre naturgemäße Spitze gefunden in dem erwählten Selbstherrscher, der die Staatsgewalt zum Besten der Massen verwendet"2). Die Februarrevolution von 1848 darf als erste ausgesprochen sozialistische Revolution in Europa gelten: es war der vierte Stand, den sie zu Selbstbewußtsein und Einfluß führte. Aus der Einbeziehimg dieser Klasse in das politische Leben aber ergab sich •eine vollkommen veränderte soziale Struktur des Staates. Das Versagen des regierenden Liberalismus einerseits3) und diese veränderte, das Schwergewicht auf den vierten Stand verlegende soziale Struktur andererseits sind Ursache für Treitschkes, wie er selbst schon 1865 ankündigt, „weit milderes Urteil"4), als sich sonst wohl gerade von ihm über ein Staatswesen erwarten ließe, in welchem die materielle Wohlfahrt höchstes Ziel war und das sich durch •eine von Treitschke selbst konstatierte, für seine Zeit beispiellose Korruption und Verderbnis der öffentlichen Sitten auszeichnete5). Es konnte ihm nicht entgehen, daß dem absoluten Willen des Monarchen viele ebenso kühne wie einschneidende Reformen zu verdanken seien, zu denen der Parlamentarismus mit seiner einseitigen Parteiherrschaft nicht fähig gewesen war, wenn es ihm auch immer wieder ersichtlich schwer fällt, den Verdiensten eines Systems gerecht zu werden, das so eindeutig vom vierten Stand und dessen materialistischer Lebensauffassung beherrscht wurde6). 1

) Vgl. Bonapartismus V, S. 298. *) Bonapartismus V, S. 309. 3 ) Vgl. oben S. 60 ff. *) Beim Erscheinen des ersten Teiles der Abhandlung über den Bonapartismus, das „erste Kaiserreich". (Vgl. den Brief an R. v. Mohl v. 27. 9. 1865, Briefe II, S. 415.) 5 ) Vgl. dazu Bonapartismus V, S. 292, 299, 308, 312, 355, 362 ff. usw.; 1870 schreibt Treitschke: „. . . doch bekenne ich gern, daß ich die Korruption des Staates wie des Volkes bei weitem nicht hart genug geschildert habe. Ich möchte fast sagen, ich freue mich dieses Irrtums. Ich habe mir so oft einseitigen Nationalstolz vorwerfen lassen und nun zeigt sich's, -daß ich doch auch meinen Anteil habe an der deutschen Gutmütigkeit, die •das Fremde immer zu mild beurteilt." (Brief an Hirzel v. 1. 9. 1870, Briefe III, S. 285.) •) Bonapartismus V, S. 292.

— 65 — Aus der neuen Zweckrichtung der Regierung Napoleons III. zum Besten des kleinen Mannes, aus der unmittelbaren Verbindung der Person des Staatsoberhauptes mit den niederen Ständen1) resultierte eine besondere Stellung des Monarchen: „Sein Kaisertum war eine höchst persönliche Würde, die durch täglich erneute Fürsorge für das Wohl der Vielen behauptet werden mußte"2). Darum erkennt Treitschke der Staatsform Napoleons III. den Charakter einer persönlichen Tyrannis zu, staatsrechtlich auf das allgemeine Stimmrecht gestützt3). Letzteres hatte seine Gewalt nicht nur einmalig sanktioniert, es trat unabgeschwächt, nicht wie unter Napoleon I. durch das Listenwahlsystem verfälscht, bei jeder Wahl und jeder Änderung der Verfassung in Aktion. Treitschke sieht im allgemeinen Wahlrecht die einzig mögliche Konsequenz, die Louis Napoleon „aus den Volksneigungen und der Nivellierung der Gesellschaft" ziehen mußte4), obwohl eben Treitschke es war, der mehrfach als erklärter Gegner des allgemeinen Stimmrechtes dieses mit aller Schärfe bekämpft hat5). Für Deutschland sei es „ein ausheimisches Gewächs, ein verfrühter Versuch"6); zwar bemüht er sich 1870 einmal, die Bedeutung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes im Rahmen des Bismarckschen Werkes unbefangen zu würdigen und die positiven Gesichtspunkte, die in sozialer Hinsicht dafür sprachen, hervorzuheben7). Mit dem Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegimg aber bricht seine eigentliche Herzensmeinung sogleich wieder durch; so konnte er im „Sozialismus und seine Gönner" von „einem schweren Mißgriffe Bismarcks" A. a. O., S. 338. ) Bonapartismus V, S. 298. s ) A. a. O., S. 301 f. 4 ) Bonapartismus II, S. 142. *) Vgl. z. B. „Der Sozialismus und seine Gönner", Deutsche Kämpfe II, S. 1 1 2 ff.; desgl. „Bundesstaat und Einheitsstaat, 1. Aufl. 1865, S. 505; „Die Verfassung des norddeutschen Bundes", Deutsche Kämpfe I, S. 204. •) Bonapartismus II, S. 142 (1867). 7 ) „Auch wer nicht zu den Bewunderern des allgemeinen Stimmrechtes zählt (und der Schreiber dieser Zeilen zählt nicht dazu), kann doch nicht bezweifeln, daß diesem Wahlsystem in Deutschland die Zukunft gehört. Das allgemeine Stimmrecht räumt freilich den Mächten der Gewohnheit und der Dummheit einen ganz ungebührlichen Einfluß ein, bringt den politischen Sitten rohere Formen; doch es entspricht der allgemeinen Wehrpflicht, erhöht das Ansehen der Volksvertretung, zwingt die Besitzenden, die Wünsche der Arbeiter zu bedenken und zeigt diesen, daß der Staat ihnen gerecht werden will", heißt es im Konstitutionellen Königtum in Deutschland (1871), Hist. Pol. Aufs. III, S. 500. s

Beiheft d . H . Z 32.

5



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sprechen1)

und an anderer Stelle sogar seine sofortige Abschaffung fordern, um der Sozialdemokratie ihre Hauptstütze zu entziehen2). Denjenigen, die ein solches Wahlrecht zum Gradmesser der Volksfreiheit machen möchten, sucht Treitschke am französischen Beispiel „die zweischneidige Wirkung" des gepriesenen suffrage universel zu beweisen3): der härteste Absolutismus des 19. Jahrhunderts ist durch diese demokratischste Art der Kundgebung des Volkswillens begründet worden4). Wesentlichstes Merkmal der persönlichen Tyrannis aber ist ihm die Verantwortlichkeit des Staatsoberhauptes. Treitschke betont das Unerläßliche dieser Verantwortlichkeit jenen liberalen Doktrinären gegenüber, die sie durch das Dekret über die Erblichkeit des Kaisertums6) beseitigt wähnten. Er meint vielmehr, daß auch das erbliche Kaisertum an der rechtlichen Natur der Präsidentenwürde nichts geändert habe6) und der Grundsatz der Verantwortlichkeit nach wie vor insofern bestehe, als das Volk, wenn sein Gesamtinteresse nicht mehr gewahrt erschien, den Kaiser durch eine erneute Revolution stürzen konnte7), nicht jedoch nach dem Wortlaute der Verfassung, derart daß die Gewalt des Kaisers auch in einzelnen Fällen dem allgemeinen Stimmrecht durch die Einrichtung des Plebiszits unterworfen wäre. Dieser „appel ä la nation", den der Jüngling Treitschke als eine der ärgsten Torheiten Louis Napoleons einschätzte8), hatte sich ihm inzwischen eher als eine Waffe des Despotismus zur Vermehrung seiner Machtvollkommenheiten, denn als Beschränkung enthüllt9). Insofern trifft sich mit Treitschkes auch Sterns Auffassung, der von der Verantwortlichkeit sagt, daß es sich hier nur um „einen blendenden Schein" handle, weil der Inhaber der höchsten Gewalt, dem Zeit und Art der Fragestellung überlassen waren und dem alle Druckmittel der administrativen Verwaltung zur Verfügung standen, schon im voraus der Zustimmung des Volkes sicher sein konnte10). „Der Sozialismus und seine Gönner", Deutsche Kämpfe II, S. 159. In ,,Der Sozialismus und der Meuchelmord". (Vgl. Deutsche Kämpfe II, S. 507.) 2)

8) 4) 5)

•) ') 8) ') 10)

Bonapartismus V, S. 311. Bonapartismus IV, S. 285. Vom 18. 12. 1852. Bonapartismus V , S. 299. A. a. O., S. 299, 303, 309. Vgl. oben S. 14. Bonapartismus V, S. 299. Vgl. Stern, Bd. V I I I , S. 11 f.

— 67 — Wie der vierte Stand politisch die einflußreichste Klasse bildete, so bestimmte er auch wirtschaftlich eine neue Erscheinungsform, den „monarchischen Sozialismus". Der Staat selbst entfaltete eine rastlose Tätigkeit, um den Massen der Arbeiter Brot und Lohn zu sichern und durch umfassende soziale Reformen die Lebenslage des Arbeiters zu bessern1). Zum ersten Male wurde in Frankreich die Lösung des Arbeiterproblems durch direkte Staatshilfe versucht. Es kann nicht verwundern, daß Treitschke im ganzen dem monarchischen Sozialismus ziemlich skeptisch begegnete und ihn wohl mehr oder weniger als Experiment betrachtete; gerade wirtschaftstheoretisch bekannte er sich noch immer rückhaltlos zu dem alten liberalen Prinzip, wonach der Staat nur leitend und ordnend, Auswüchse verhindernd in das wirtschaftliche Leben eingreifen, nicht aber selbst aktiv auf diesem Gebiet tätig sein dürfe2), jedoch ohne diese Anschauungen dogmatisch zu verteidigen; er war sich sehr wohl bewußt, daß diese Theorie nicht mehr voll anwendbar war in einem Lande, welches schon Generationen lang blutige Klassenkämpfe gesehen, wo die bürgerlichen Klassen ihre Herrschaft in rücksichtsloser Selbstsucht und Geldgier mißbraucht und sich dadurch den Massen entfremdet hatten3). Zugegeben wird von ihm auch ohne weiteres, daß sich der neue Bonapartismus die größten Verdienste um den wirtschaftlichen Fortschritt erworben, daß er durch sein Eingreifen Arbeit und Wohlstand so tatkräftig gefördert hatte, wie keine französische Regierung zuvor4), daß schließlich der monarchische Sozialismus hinsichtlich seiner sozialen Reformen „neben vielem Überhasteten, Unreifen auch dauernde Werte geschaffen 1)

Vgl. Bonapartismus V, S. 334 ff. Bonapartismus V, S. 335 (1871); 1878 trat Treitschke dann vom •wirtschaftlich-liberalen Boden auf den des Bismarckschen Systems hinüber. 8 ) Vgl. oben S. 61 ff. und „Der Sozialismus und seine Gönner", Deutsche Kämpfe II, S. 178. 4 ) In der Rezension über Dunnoyers „Second empire" (1864) vermißt Treitschke, daß der Verfasser über „den gewaltigen Aufschwung der Volkswirtschaft, den Frankreich dem zweiten Kaiserreich verdankt", kein Wort sagt. „Wäre dem Verfasser vergönnt gewesen, das heutige Lyon und Rouen mit eigenen Augen zu sehen, so hätte er sich überzeugen müssen, daß die auf die Vergrößerung dieser Städte verwendeten Gelder in der Tat produktiv angelegt sind." Rezensionen aus dem literar. Zentralblatt 1865, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 644. Namentlich die Briefe von seiner ersten Reise nach Frankreich (September 1864) berichten über die tiefen Eindrücke, die ihm der wirtschaftliche Aufschwung des zweiten Kaiserreiches hinterlassen hatte. Vgl. dazu auch Bonapartismus IV, S. 287 f. 2)

5*



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1

hatte" ). In summa aber gelangt Treitschke doch zu dem Ergebnis, daß es Napoleon III. nicht gelungen sei, seine eigentliche Absicht zu erreichen, die arbeitende Klasse restlos dem Staate einzufügen, Arbeit und Kapital auf diese Weise zu versöhnen2). Denn wie sehr der Kaiser sich auch bemüht habe, durch laufende öffentliche Arbeiten, namentlich Bauten3), für die Existenz des Arbeiters Sorge zu tragen und durch großzügige Wohlfahrtseinrichtungen seinen Lebensstandard zu heben, so errang er sich damit weder Dank noch Anhänglichkeit der Masse4), statt dessen ward um so mehr ihre Begehrlichkeit geweckt, die sich in beständig wachsenden Ansprüchen an den Staat ausdrückte. Dazu kam die nach Treitschkes Meinung sehr verhängnisvolle einseitige Begünstigung des städtischen Arbeiters, welche die Landflucht6) bedenklich förderte und doch nur das Heer der beim Anblicke des Reichtums der Besitzenden Unzufriedenen vergrößerte, während der bodenständige Bauer, dessen überzeugter bonapartistischer Gesinnung man gewiß war, nachlässiger behandelt wurde und eher unter dem monarchischen Sozialismus zu leiden hatte6). Die Tatsache, daß das eigentliche Ziel des monarchischen Sozialismus, aus dem Arbeiterstande eine zufriedene Anhängerschar zu gewinnen, scheiterte, daß der vierte Stand vielmehr zum überwiegenden Teil bei den Wahlen für die Opposition stimmte, ihm eingeräumte Rechte, wie das der Arbeitseinstellung, sinnlos mißbrauchte7) und sich dem Hofe gegenüber als regierende, gefürchtete Klasse fühlte8), ist Treitschke Beweis genug, daß der Staatssozialismus keinen neuen fruchtbaren Gedanken bedeute; er hat sicherlich durchaus richtig erkannt, daß einseitige Massenbeglückung von oben in der Tat keine befriedigende Lösung des modernen Arbeiterproblems, welches in Frankreich zum ersten Male seine gewaltigen Schwierigkeiten aufwies, darstellen konnte. Aber seine Folgerungen, die er daraus zieht, zeigen ihn ganz in den Vorstellungen einer überwundenen Epoche befangen: ein sozial denkendes Bürgertum, welches seine Position als tragende Klasse des Staates nicht in ständischer Selbstsucht ausnützt, und *) «) ®) S. 342. *) s ) *) ') «)

Bonapartismus V, S. 335; vgl. auch S. 337 ff. A. a. O., S. 347. Treitschke spricht sogar von einer krankhaften Bauwut; a. a. O., Bonapartismus V, S. 345. A. a. O., S. 343. Vgl. Bonapartismus V, S. 347—350. A. a. O., S. 347. A. a. O., S. 346.

— 69 — eine nationale Monarchie, die über den Parteien steht und das Wohl aller vertritt, sind ihm die Mittel, um für Deutschland jede Form von Staatssozialismus überflüssig zu machen1). Freilich dürfen wir von ihm ja auch nicht erwarten, daß er die Lösung etwa in Richtung einer anderen Interpretation des Begriffes Sozialismus sucht, wie sie heute in Deutschland Gültigkeit besitzt, nämlich in der Überwindung des Klassenbewußtseins, in der Erziehung aller Volksschichten zum Bewußtsein, gleichwertige, sich ergänzende Glieder des Staates zu sein. Unter dem Gesichtswinkel der besonderen Rücksichtnahme auf den vierten Stand bemüht sich Treitschke, auch die weitgehende Knebelung der Gedankenfreiheit zu verstehen, die mit radikaler Strenge gehandhabt wurde. Mehr noch als sein Ahnherr bedurfte Napoleon III. der Kirche als einer Stütze seiner Tyrannis, und in der Erkenntnis, daß die Kirche „die einzige ideale Macht" sei, welche auf die bildungslose Masse einen wesentlichen Einfluß auszuüben und sie „vor dem Versinken in materialistische Begehrlichkeit zu bewahren vermochte", schloß der weltliche mit dem geistlichen Despotismus einen engen Bund2). Damit verhalf er aber der ultramontanen Bewegung zu einem bedeutenden Aufschwünge, was Treitschke deshalb für sehr gefährlich hielt, weil sie ihren Auftrieb nicht einer Erstarkung des Glaubens verdankte, sondern allein der Unterstützung der Regierung und der religiösen Indifferenz der Gebildeten, und daher, ohne ernstliche Gegenwehr zu finden, ihren Einfluß auf das gesamte Bildungswesen, Hochschule und freie Forschung inbegriffen, auszudehnen trachtete3). Der gleichen Absicht, alles zu unterbinden, was die Unzufriedenheit der Massen nach der politischen Seite hin zu erwecken geeignet wäre, schreibt es Treitschke zu, daß der Kaiser keine prinzipielle Pressefreiheit gestattete, wodurch bezeichnenderweise diejenigen Erzeugnisse der Literatur und der Presse am meisten betroffen wurden, die für den kleinen Mann in Frage kamen4), während man sich hinsichtlich der Presse der Gebildeten damit begnügte, sie durch Verteuerung, durch hohe Steuern den Massen zu verschließen. Uberhaupt war das Augenmerk des neuen Bonapartismus darauf gerichtet, jegliche Fühlungnahme der höheren Stände mit den niederen hintanzuhalten, um ein Übergreifen der Unzufriedenheit der langsam in Opposition gleitenden höheren Stände zu verhinVgl. „Das konstitutionelle Königtum", Hist. Pol. Aufs. I I I , S. 494. s)

Bonapartismus V, S. 374. Bonapartismus V, S. 378 ff. 4) A. a. O., S. 366 ff.

s)

— 70 — dem, ein Bestreben, das Treitschke nicht einmal so sehr zu tadeln vermochte angesichts der Beschaffenheit dieser Opposition. Denn wie beurteilt nun Treitschke diese erstarkende liberale Opposition, in der sich doch unzweifelhaft ein Drängen nach freieren Staatsformen kundgab? Es sind noch immer dieselben Vorwürfe, die er gegen die französischen Liberalen erhebt: keine neuen Gedanken und Ziele, statt dessen doktrinäre Wünsche, die lediglich auf die Restauration des abgewirtschafteten Parlamentarismus abzielen1), der Frankreich dem Despotismus in die Arme getrieben hatte. Die geringen praktischen Erfolge der einstigen Parlamentstätigkeit verglichen mit den Jahren des Kaiserreiches, da der Kaiser ungehindert vom Parlament aus eigener Initiative und allein durch sein Machtwort große Reformen durchsetzte, unter denen Treitschke der Übergang vom Prohibitivsystem zum Freihandel als die größte und imponierendste erschien2), nötigten ihn zu der Feststellung, daß der ungeminderte Despotismus weitaus Überragenderes geleistet hatte. Den Beginn des Verfalles datiert Treitschke von dem Moment an, als der Kaiser der liberalen Opposition nachgab und die Konsularverfassung im parlamentarischen Sinne umzugestalten begann8). „Der parlamentarische Bonapartismus ist die Lüge aller Lügen"4), mit diesem in der gleichen Prägung so häufig wiederkehrenden Satz opponierte Treitschke allen denen, die durch diese Umgestaltung, als deren Krönung die Berufung des liberalen Ministeriums Ollivier6) erfolgte, eine neue freiheitliche Ära für Frankreich angebrochen glaubten6). Ministerverantwortlichkeit und Redefreiheit seien nun einmal neben dem Bonapartismus V, S. 318 f. а)

Vgl. Bonapartismus V, S. 352—354.

s)

Sie begann mit dem Dekret v o m 24. 11. 1860, welches die Veröffentlichung der Kammerdebatten gestattete, in den nächsten zehn Jahren folgte eine Reihe von Dekreten, die weitere Rechte zugestanden. (Vgl. dazu Bonapartismus V , S. 317 und Bonapartismus I, S. 48, 49.) 4)

Bonapartismus V, S. 318.

б)

A m 2. Januar 1870.

•) Vgl. dazu unter anderem „Drei Briefe aus Paris" von einem ungenannten Korrespondenten der Preuß. Jahrbücher. Der erste dieser drei Briefe (v. 15. I. 1870) preist den zweiten Januar 1870 „als den größten Tag, den Frankreich gesehen, seit jener N a c h t des 4. August 1789, der Todesnacht des Feudalstaates". „ N a c h 80 Jahren blutiger Wirren der Versöhnungstag und zugleich die Geburtsstunde des freien modernen Staates." (Die Redaktion der Jahrbücher bemerkt zu diesem Satz, daß sie ihrem Korrespondenten auch da das Wort läßt, wo sie seinen Hoffnungen und Anerkennungen nicht unbedingt folgen kann.) (Pr. Jahrb., Bd. X X V . )

— 71 — selbst verantwortlichen Staatsoberhaupt unmöglich1), und dessen Berechtigung leitete er, wie wir sahen, aus Ursprung und Charakter des neuen Bonapartismus ab. So prophezeite Treitschke der parlamentarischen Phase des Bonapartismus keine Lebensdauer2). Deshalb wünschte er aber gerade in diesem Stadium mehr denn je Fortbestand und Festigimg der bonapartistischen Dynastie, „nicht um der Bonapartes, sondern um der Freiheit willen", wie er sagt, denn „wenn das Herrscherhaus sich befestigte, so blieb ein Fortschreiten zu freieren Staatsformen immerhin denkbar"3). Treitschke hoffte dabei wahrscheinlich, daß der Monarch selbst einmal eine durchgreifende Reform der Verwaltung verwirklichen könnte, ohne die ihm das parlamentarische System in Frankreich nicht lebensfähig schien; allerdings widerspricht er sich hiermit in gewissem Grade: er selbst hatte geschildert, wie sich der Despotismus durch seine parlamentarischen Konzessionen „entwurzelt und entkräftet" hatte4), woraus man doch den Schluß vermuten würde, daß ihm also auch die Kraft, eine derartige Reform herbeizuführen, nicht mehr zuzutrauen wäre. Fragen wir nach den Ursachen, die eine solche Inkonsequenz hervorzurufen vermochten, so ist es nötig, Treitschkes politische Stellungnahme zu Frankreich im Jahrzehnt der Reichsgründung näher ins Auge zu fassen. Hier wird sich zeigen, daß er die napoleonische Dynastie nicht allein „um Frankreichs Freiheit willen" erhalten wissen wollte, sondern mehr noch aus gewichtigen politischen Gründen. !) Bonapartismus V, S. 321. 2 ) „Ich bin sehr froh, daß ich an seine parlamentarische Phase niemals glauben konnte" schreibt Treitschke am 1. 9. 1870 an Hirzel, Briefe III, S. 285. *) Bonapartismus V, S. 423. ') A. a. O., S. 323.

IV. POLITISCHE STELLUNG BIS 1870.

Welche Gesichtspunkte nun waren dem Politiker Treitschke in jenem für Deutschlands Geschichte entscheidenden Jahrzehnt gegenüber Frankreich maßgebend, wie verhielt er sich zur Politik des Bonapartismus, wie vor allem zu Napoleon III. selbst ? Überblicken wir eingangs noch einmal die Gedanken und Hoffnungen Treitschkes zu Beginn des neuen Jahrzehntes. Die Ereignisse des Jahres 1859 hatten seine nationale Leidenschaft hoch aufflammen und der Einheitsidee neue starke Impulse zuteil werden lassen. Wir sahen, Treitschke mahnte bereits Preußen, die Situation von 1859 zu benützen, um für seine deutsche Aufgabe auf den Plan zu treten, und machte sogar konkrete Vorschläge für die Lösung derselben1). Darüber hinaus hat der Einheitsstaatsgedanke durch den raschen Fortschritt der italienischen Einheitsbewegung erst den richtigen Auftrieb empfangen; jedenfalls müht sich Treitschke in den nächstfolgenden Jahren immer wieder in Überlegungen um die Gestaltung des künftigen Deutschland, die schließlich in der Erklärung gipfeln: „Vor allem bin ich ein ganz radikaler Unitarier"2). Offensichtlich dachte er damals auch an eine sehr radikale Verwirklichung seines unitarischen Ideals, und zwar sollte Preußen, unterstützt durch eine Volksbewegung3), auf gewaltsamem Wege die widerstrebenden Dynastien beseitigen; eine friedliche Lösung schien ihm aussichtslos4). In Anbetracht dieser Pläne und Wünsche ist es natürlich, daß er mit größter Besorgnis auf Frankreich schaut, für dessen Eroberungsgelüste die Abtretung von Savoyen und Nizza6) auch ihm einen eindeutigen Beweis lieferte. Insbesondere war es die Begründung, „daß die geographische Notwendigkeit Frankreich zwinge, die westlichen Abhänge der Alpen zurückzufordern", welche Beunruhigung schuf und sogar die preußische Regierung Vgl. oben, S. 16 ff. ) Vgl. Briefe II, S. 144, an Bachmann v. 22. 4. 1861; an Nokk v. 23. 3. 1862, Briefe II, S. 207. 3 ) Vgl. Brief an Frensdorff v. 28. 12. 1859, Briefe II, S. 67. *) Vgl. Briefe II, S. 129 an Duncker v. 24. 2. 1861; Briefe II, S. 146 an Hirzel v. 24. 4. 1861; Briefe II, S. 162 f. an Klee v. 2. 7. 1861. »)Im Juli 1860 (vgl. Stern, Bd. VIII, S. 387 ff.). 2

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zum Protest veranlaßte ), um durch stillschweigende Duldung keinen Präzedenzfall zuzulassen, damit die These von den natürlichen Grenzen nicht eines Tages auf den Rhein angewendet würde. Die liberale Partei propagierte darum bekanntlich einen Präventivkrieg, um eventuellen ähnlichen Forderungen im Falle der deutschen Einigung von vornherein entgegenzutreten2). Treitschke gewann, sicherlich unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Vorgänge, eine grundlegende Erkenntnis für die Zukunft: „Frankreich und Rußland werden immer alles bekämpfen, was Deutschlands Macht erweitern kann®)". Er wird sich zu Ende des Jahres 1860 zum erstenmal darüber klar, daß die deutsche Einheit einst im europäischen Rahmen und zwar im Kampfe mit Frankreich erstritten werden müsse. In der allgemeinen liberalen Kampfstimmung nun, in die man sich zufolge der vermeintlichen Bedrohung durch Frankreich hineinsteigerte, weist er der nationalen Begeisterung ein festes, reales Ziel, indem er den eindringlichen Ruf erhebt, Preußen möge sich tatkräftig der Schleswig-Holsteinschen Frage annehmen4); er zweifelt dabei nicht im geringsten, daß dies den Krieg mit Frankreich bedeuten würde8), aber ist ebenso fest überzeugt, daß Schleswig-Holstein das einzige Kriegsobjekt darstellt, welches geeignet ist, alle Deutschen in einem gewaltigen Aufschwung an Preußens Seite zu führen8). „Wenn der Kampf mit dem Bonapartismus, der uns früher oder später doch bevorsteht, wegen dieser Sache zum Ausbruch kommt, dann vertraue ich auf einen glücklichen Ausgang, selbst bei unserer heutigen Bundesverfassung", schreibt er an Haym 7 ); denn er wußte sehr wohl, daß in Süddeutschland das deutsche Gefühl vorerst *) Vgl. Stern, Bd. V I I I , S. 385. 2 ) Vgl. oben S. 18. *) Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung v. 13. 12. 1860, Nr. 345. 4 ) Vgl. Briefe II, S. 144, an Frensdorff v. 25. xi. 1860 s ) „. . . ich wünsche ganz einfach, daß Preußen einen klugen und ehrlichen Schritt zugleich tut und den europäischen Krieg, der binnen einigen Jahren doch eintreten wird, selbst beginnt. Preußen soll endlich die deutsche Ehrenschuld von Dänemark einfordern, mag darüber immerhin der Kampf mit Napoleon ausbrechen.. . Dieser Kampf würde ein Volkskrieg, der Preußen unermeßlichen sittlichen Gewinn, wenn nicht gar die deutsche Krone bringen müßte." (Briefe II, S. 114.) •) Vgl. den Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung v. 13. 12. 1860, woselbst es heißt: „Kommt das Zerwürfnis mit Frankreich wegen SchleswigHolsteins zum Ausbruch, so hat Preußen mit glücklichem Griffe die schlechterdings einzige politische Frage erfaßt, über welche ganz Deutschland, Nord und Süd, Rechte und Linke wirklich eines Sinnes sind." ') Briefe II, S. 1 1 6 v. 24. 12. 1860.

— 74 — nur in der Form des Franzosenhasses lebte1). Wo Treitschke in diesen Jahren vor dem Schleswig-Holsteinschen Kriege, da er so ganz in dem Auf und Ab seiner deutschen Hoffnungen und Wünsche aufgeht, überhaupt Frankreich in Erwähnung zieht, geschieht es ausschließlich in Verbindung mit dem Gedanken eines möglichen Krieges mit Frankreich. Recht bezeichnenderweise ist dabei immer vom „Kampf mit dem Bonapartismus" die Rede2); es scheint, als verknüpfe er allein schon mit dem Namen Bonaparte die Vorstellung von einem neuen Eroberungsprogramm, als sei es nur eine Frage der Zeit, wann der Kaiser in die Bahnen Napoleons I. einlenken würde3); daher auch die beständige Sorge, der Krieg möchte einen Anlaß finden, der alle deutschen Stämme gegen den gemeinsamen Feind vereint. Andererseits ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß er deshalb einen baldigen Krieg mit Napoleon befürwortete, weil er sich davon das rascheste und zugleich radikalste Mittel versprach — vielleicht unter Nachwirkung des italienischen Vorbildes. Als höchst bemerkenswerter Ansatz realpolitischen Denkens ist zu verzeichnen, daß ihm damals schon eine Lösung der deutschen Frage auf dem Wege der großen Politik vorschwebte: tatsächlich ist ja die deutsche Einheit auf diese Weise erreicht worden. Immerhin besagt dies für den Augenblick nicht mehr als einen schwachen Auftakt; in seinem heißen nationalen Fühlen, wie es in den Jahren nach 1859 besonders lebendig aus ihm spricht, drängt er mit Ungeduld nach vorwärts, sich über die Schwierigkeiten der Einzelprobleme kühn hinwegsetzend. Als der erwartete Zusammenstoß mit Napoleon, den auch er in der allgemeinen Psychose um die Jahreswende von 1860/61 nahe bevorstehend glaubte4), ausbleibt, weicht die erregte Spannung einer besonnenen Einkehr: eine energische Politik Preußens erscheint ihm jetzt wiederum als Gebot der Stunde, solange die Dinge noch nicht reif seien, um „in Deutschlands erster Ehrensache", der Schleswig-Holsteinschen Angelegenheit, ein ernstes 1 ) Vgl. Briefe II, S. 146, an Hirzel v. 24. 4. 1861; dazu oben S. 16 u. 17, Anm. 2. 2 ) Vgl. Briefe II, S. 1 1 8 : „ E s ist recht gut, daß man sich in Berlin mit dem Gedanken eines Kampfes mit dem Bonapartismus befreundet" . . .; vgl. auch die oben zitierten Stellen. 8 ) Wenn Treitschke später im „Zweiten Kaiserreich" (1871) sagt, daß „die Meinung der Völker . . . zitterte vor der Stunde, da er unfehlbar in die Wege des Oheims einlenken" würde, dürfte dies wohl einer Art Selbstbekenntnis seiner eigenen Empfindungen um diese Zeit gleichkommen. (Bonapartismus V, S. 294.) 4 ) Vgl. Briefe II, S. 1 1 5 v. 3. 12. 1860.

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Wort zu wagen ). In diesem Zusammenhange beurteilt er sogar „die ruhige und ungereizte Haltung Preußens" seit der Begegnung König Wilhelms mit Napoleon III. in Compiegne 2 ) zustimmend 3 ). Daß er trotzdem Schleswig-Holstein als einzig geeignetes Objekt eines künftigen Kampfes mit Frankreich nicht aus dem Auge verliert, veranschaulicht seine Auffassung über Preußens Stellungnahme zum polnischen Aufstand. In der Konfliktszeit, und namentlich seit der Berufung Bismarcks, erleidet sein Vertrauen auf die Leitung des preußischen Staates einen heftigen Stoß, und seine Hoffnungen bezüglich einer erfolgverheißenden großen Politik sind, als sich Preußen mehr und mehr die nationalen Sympathien in Deutschland verscherzt, nahezu auf dem Nullpunkt angelangt. Während nun Bismarck in der richtigen Erwägung, daß ein autonomes Polen der preußischen Monarchie gefährlich werden könnte, Rußland eine Kooperation in den preußischen Gebieten zusagte 4 ), empfindet Treitschke dieses Handeln in seiner leidenschaftlichen Erbitterung als unbegreiflich töricht 6 ), weil es die Gefahr eines Krieges mit Frankreich heraufbeschwöre, der, um einer so schlechten Sache willen begonnen, es Preußen nicht einmal ermöglichen würde, „den Rhein zu behaupten — von Schleswig-Holstein gar nicht zu reden" 6 ). Denn diese Erhebung der russischen Polen, die sich in Kreisen der deutschen öffentlichen Meinung gewisser Sympathien erfreute, war nicht qualifiziert, Deutschland an Preußens Seite zu führen, wenn Napoleon zu einer Intervention schritt. In Frankreich war das Ringen der unterdrückten Polen überaus populär und bewog den Kaiser tatsächlich zu einem diplomatischen Feldzuge gegen Preußen, der indessen mit einem glatten Mißerfolge endete 7 ), wie denn überhaupt diese Einmischung, welche die Vernichtung Polens nicht aufzuhalten vermochte, eine Kette von diplomatischen Niederlagen eröffnete, die Napoleon im zweiten Jahrzehnt seiner Regierung erlitt. Inzwischen war die Schleswig-Holsteinsche Frage mit dem dänischen Verfassungsbruch vom 18. November 1863 8 ), schneller als man vermutete, in ihr entscheidendes Stadium eingetreten. !) „Aus Süddeutschland", Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 95. ) Im September 1861 (vgl. Stern, Bd. VIII, S. 461). s ) „Aus Süddeutschland" v. Nov. 1861, Hist. Pol. Aufs. IV, S. 94. 4 ) Durch die Militärkonvention vom 8. Februar 1863, s. Stern IX, S. 158 ff. *) Vgl. Briefe II, S. 257 v. 28. 2. 1863. •) Briefe II, S. 260, an Nokk v. 3. 5. 1863. ') Vgl. Stern IX, S. 162. «) Vgl. Sybel, Bd. III, S. 153 f.; Stern IX, S. 338 ff. a

— 76 — Die Gelegenheit zur Befreiung der Herzogtümer, die Treitschke so leidenschaftlich herbeigesehnt, war gegenwärtig und, mitgerissen von dem Strome der Begeisterung, der ganz Deutschland durchflutete, kämpfte zunächst auch er unter dem vollen Einsatz seiner Persönlichkeit für das Recht des Augustenburgers. Hinsichtlich der Folgen, die dieser beiderseitige Bruch eines international garantierten staatsrechtlichen Vertrages, des Londoner Protokolls, zeitigen mußte, darf Treitschkes früher ausgebildete Meinung in dieser Situation noch als geltend betrachtet werden. Ganz gewiß rechnet er mit einem Einspruch Frankreichs; Englands Haltung dagegen wird durchaus optimistisch eingeschätzt. „Uns scheint es undenkbar, daß England, das im Londoner Protokoll den Umsturz der legitimen Erbfolge nur genehmigt, nicht garantiert hat, einem entschiedenen nationalen Auftreten Schlimmeres als Neutralität und diplomatische Ränke entgegenstellen würde", heißt es in dem schon zitierten Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung1). Es muß dies als sehr wesentlich für unsere Darlegungen vermerkt werden. Bismarcks genialer Schachzug, die Lösung der Frage von der Basis des Londoner Protokolls aus in Angriff zu nehmen, wodurch allein dieselbe europäische Koalition vermieden werden konnte, die Preußen seinerzeit gezwungen hatte, das Protokoll abzuschließen, und sich dazu noch Österreichs Rückendeckung gegen Frankreich zu sichern2), erschien Treitschke, wie übrigens der gesamten Nation, als „nackter Verrat". E r durchschaut Bismarcks Bestreben, den europäischen Krieg zu vermeiden, sehr wohl3), aber in diesen Tagen des tiefsten Zweifels an Preußen enttäuscht es ihn bitter; um so mehr als er sich auf einen Krieg mit Frankreich, wie wir sahen, schon seit 1860 gedanklich vorbereitet hatte, ist er in diesem Moment über eine solche Politik gegen die Stimmung der Nation aufgebracht. Der Erfolg des siegreichen Waffenganges, die Wiedergewinnung der Herzogtümer, bewirkt in Treitschkes politischem Leben nach verschiedenen Seiten hin bedeutungsvolle Wandlungen. E r leitet nicht nur Treitschkes Versöhnung mit der preußischen Außenpolitik und damit die Wendung zu Bismarck ein4), sondern *) Vgl. oben S. 73, Anm. 3. *) Vgl. Mareks, Bismarck, S. 77. ) „In wenigen Tagen werden die Herzogtümer dem nackten Verrat anheim gefallen sein. Möglich — nicht wahrscheinlich — ist es, daß wir durch solche Nichtswürdigkeit für den Augenblick einem europäischen Kriege entgehen." (Briefe II, S. 316, an den Vater v. 20. 1. 1864.) 4 ) Vgl. darüber H. Katsch, S. 120 ff. s



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was für uns ausschlaggebend ist, auch einen grundsätzlichen Umschwung in seinem Verhältnis zu Napoleon III. Wider Treitschkes Erwarten war es England gewesen, das sich gegen die deutschen nationalen Wünsche wendete und in seiner offenen Dänenfreundlichkeit so weit ging, eine bewaffnete Intervention anzuregen, die aber von Napoleon rundweg abgelehnt wurde, weil Frankreich damit die nationalen Gefühle seiner Nachbarn verletzen würde und ein Krieg in dieser Sache das unheilvollste wäre, was Frankreich tun könne1). Er hatte zuerst das Londoner Protokoll für ein totes Papier erklärt, ja Napoleon selbst ließ Preußen die Annexion der Herzogtümer nahelegen und hoffte zeitweilig auf eine französisch-preußische Allianz. Auf der Londoner Konferenz trat er mit dem Plane der Volksabstimmung hervor. Nun war dieses Wohlwollen gegenüber Preußen natürlich durchaus kein selbstloses; er kalkulierte, daß die beiden Großmächte über ihre Beute früher oder später in Streit geraten würden und gedachte dann, die Schiedsrichterrolle zu übernehmen, um sein seit dem polnischen Aufstand wankendes Prestige zu festigen, wohl auch praktischen Nutzen zu ziehen. Diese Absichten wurden indessen der Öffentlichkeit erst nach 1870 bekannt, und Treitschke bemerkt rückschauend, „daß Napoleons Haltung gegen uns von jeher weit treuloser, weit nichtswürdiger war, als wir alle zur Zeit des Schleswig-Holsteinschen Krieges glaubten"2). Ursprünglich jedoch dürfte die Mäßigung des Kaisers ihren Eindruck auf Treitschke nicht verfehlt haben. Die bis dahin fast dogmatisch festgehaltene Ansicht, der Kaiser werde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, jede Machterweiterung Deutschlands, gemäß der altnapoleonischen Tradition, durch Krieg zu verhindern, war widerlegt; jetzt erst vollzieht sich in Treitschkes Auffassung über Napoleon eine prinzipielle Änderung, es weitet sich sein Blick, wird freier und unbefangener, und gestattet ihm, dem Kaiser als europäischem Staatsmann, seinen Erfolgen und Zielen, vor allem aber der Persönlichkeit des Mannes, der doch einen ihm so entgegengesetzten Geist verkörperte, gerechter zu werden. Ist diese Schwenkung auch allgemein im Urteil der Liberalen zu beobachten, so ist ihr Verlauf bei Treitschke ein viel langsamerer als bei den übrigen3). Und es ist nicht wahrscheinlich, daß Treitschke seine SchlußVgl. Stern, Bd. IX, S. 357; auch bei Geffcken „Das zweite Kaiserreich", Pr. Jahrb., Bd. X X X I . *) Bonapartismus V, S. 410 (1871). s) Charakteristisch hierfür ist eine Korrespondenz in den Pr. Jahrb. „Tagebuch aus Paris" v. Juni 1865, die die einzelnen Phasen dieser Wandlung der liberalen öffentlichen Meinung darstellt (Bd. XVI).

— 78 — folgerungen aus dieser Tatsache etwa jemals soweit trieb, wie die Preußischen Jahrbücher, die bereits 1861, in der Überzeugung, daß England der eigentliche Feind der deutschen Interessen sei, eine Neuorientierung der preußischen Außenpolitik, und zwar nach Frankreich hin gefordert hatten 1 ). Der Gedanke einer engeren Bindung an Frankreich, sei es in Form einer Allianz oder gar eines Bündnisses, um mit dessen Hilfe die deutsche Einheit zu erringen — ein Weg, der sich 1866 zu bieten schien, dem Bismarck aber auswich2) —, ist von Treitschke zu keiner Zeit diskutiert worden; in diesem Sinne ist seine politische Haltung zu Frankreich immer ziemlich konstant geblieben. Die Persönlichkeit des Kaisers jedoch sieht er von nun an in anderem Lichte. Wie in Treitschke damals überhaupt das tiefere Verständnis für realpolitische Notwendigkeiten erwachte, so ersetzen nunmehr auch sachlichere Momente als bestimmende Faktoren die früheren unklaren, stark gefühlsmäßig beeinflußten Vorurteile gegenüber Napoleon. Dazu mag seine erste Reise nach Frankreich im September 1864, die es ihm erlaubte, den Bonapartismus in seinem eigenen Milieu zu studieren, das ihrige beigetragen haben — man weiß, welche Einwirkung die Kenntnis von Land und Leuten auf seine Anschauungen ausgeübt hat —, wie andererseits die hierher zu datierenden ersten Vorarbeiten zum „Bonapartismus" die praktischen Studien von den historischen Quellen aus ergänzt haben mögen. Ohne dabei in den Fehler einer Überschätzung des Kaisers zu verfallen — nach wie vor nennt er ihn ausdrücklich seinen Gegner3) — und die persönlichen Schwächen wie die Mängel seines Systems zu übersehen oder gar zu beschönigen, findet Treitschke jetzt Worte der Anerkennung für seine zweifellosen Verdienste. So schon 1865, wenn er von Napoleon als einem Fürsten spricht, „dem seit Cavours Tode niemand den Namen des ersten Staatsmannes der Epoche bestreiten darf" 4 ). An Dunnoyers „Second Empire" tadelt er gleichzeitig ernsthaft dessen Kritik der Politik Napoleons als „einseitig und gehässig"; der Verfasser habe kein Auge für „die großen Verdienste Napoleons III. um Europa" 5 ). а ) Vgl. den Ausspruch Dunckers „Hätte England ein Privilegium auf die französische Allianz? Oder könnte man nicht Frankreich so gut die eine Hand reichen, wie England dies tut, und in der anderen sein Schwert schärfen ?" Pr. Jahrb., Bd. V I I I , S. 275; dazu Näheres bei Westphal, S. 159f. 2 ) Vgl. dazu Mareks, Bismarck, S. 92 f. 3 ) Bonapartismus III, S. 217 (1868). 4 ) Bonapartismus I, 1. Aufl., 1865. (Vgl. oben S. 21, Anm. 1.) б ) Rezensionen aus dem Literar. Zentralblatt, Hist. Pol. Aufs., Bd. I V , S. 644 (1865),

— 79 — „ E r will nicht sehen, daß die Zerstörung der russischen Übermacht und die Befreiung Italiens Taten sind, woran sich die kleinlichen und engherzigen Orleans nie gewagt hätten." In wenigen Sätzen ist hier bereits 1865 angedeutet, was fortan für Treitschkes Urteil über Napoleon und oftmals überraschende Rücksichtnahme im politischen Kampf, die er ihm zwischen 1866—1870 erwies, maßgebend ist. In diesen Jahren verzeichnen die publizistischen Schriften kaum ein mißbilligendes Wort über den Kaiser; erst 1871, nach Kenntnis der Hintergründe der deutschen Politik Napoleons, werden Einschränkungen in dieser Hinsicht gemacht 1 ), die aber das Gesamtbild, das er von der Persönlichkeit des Kaisers empfangen, nicht wesentlich modifizieren. Eingehendere Beschäftigung mit dem Wollen des Prätendenten wie dem Handeln des Kaisers, vor allem die Lektüre der „meisterhaften" Staatsschriften2), in denen er als Thronanwärter seine staatspolitischen Ideen und diejenigen seiner auswärtigen Politik niedergelegt hatte, welche der Kaiser alsbald in die Tat umzusetzen begann, vertieften Treitschkes Eindruck „eines ungewöhnlichen staatsmännischen Talentes" 3 ). Schon der Ausgangspunkt seiner europäischen Politik, die Abkehr von den Verträgen von 1815, die zwar geschaffen wurden, um Frankreich aus seiner Vormachtstellung zurückzudrängen, in der Folge jedoch mehr noch den aufstrebenden nationalen Staaten Italien und Preußen Hemmnis ihrer freien Entwicklung waren, mußte Treitschke für ihn einnehmen. Das Entscheidende aber ist für Treitschke, daß Napoleon III. die Bedeutung jener zwei machtvollen, das 19. Jahrhundert beherrschenden Bewegungen, der liberalen und der nationalen, gebührend erkannte4) und sie auf seine Weise förderte. E r hatte das Nationalitätenprinzip auf seine Fahnen geschrieben und bei seinen wichtigen Unternehmungen stets besonderen Wert auf den Beistand der liberalen öffentlichen Meinung gelegt, „der sechsten Großmacht", wie er sie einmal nannte6). In Würdigung dieser Leitmotive des Kaisers erschließt sich Treitschke nun auch vertiefter der Sinn der beiden großen außenpolitischen Aktionen Im 1871 vollendeten „Zweiten Kaiserreich" (Hist. Pol. Aufs. I I I , S. 289 ff.). 2 ) „ A n ihnen lernt man, wie bedeutend er doch ist; mehr noch, wenn man diese Schriften mit den Ergüssen seiner Genossen, Persigny u. a., vergleicht. Er bleibt auch mit der Feder der erste Mann seiner Partei", schreibt Treitschke an E. v. Bodmann am 16. 11. 1866, Briefe III, S. 1 1 2 . 3 ) Bonapartismus III, S. 214. *) Vgl. Bonapartismus V, S. 390. 6 ) A. a. O.



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des ersten Jahrzehntes seiner Regierung, vermag er die Auswirkungen dieser Kriege besser einzuschätzen und in ihrer ganzen Tragweite für Europa zu ermessen. Wohl erwartete sich der Zeitgenosse Treitschke von Napoleon keine befriedigende Lösung der orientalischen Fragen1), und in dieser Befürchtung behielt er auch recht, aber er hatte weiterhin eingesehen, daß der Erfolg Napoleons im Krimkrieg nicht eigentlich in den Ergebnissen für die unmittelbar Beteiligten zu suchen sei, sondern in der Umgestaltung der europäischen Machtverhältnisse, in der Beseitigung der Herrscherstellung Rußlands, was er insofern als Deutscher begrüßte, als damit der lastende Druck, den das halbasiatische Rußland bisher als Stütze der reaktionären Partei in Preußen ausgeübt hatte, entfernt wurde2). Treitschke gesteht Napoleon ohne Umschweife das Verdienst zu, sein Land mit diesem Kriege zur leitenden Macht des Festlandes erhoben zu haben, seine größte Leistung aber erblickt er darin, daß er diese Stellung benutzte, um eine positive Neuordnung Europas anzubahnen8), im Sinne des Nationalitätenprinzips und der Zerreißung der Verträge von 1815, um „den kühnsten und segensreichsten Gedanken seiner europäischen Politik'' zu verwirklichen4), die Befreiung Italiens vom österreichischen Joch, von der Treitschke sagt, sie bilde „den schönsten Ruhm seiner Regierung"5). Die Einwände, die gegen solch bedingungslos gezolltes Lob sogleich wach werden müssen, hat Treitschke selbst dabei keineswegs unerörtert gelassen. Der ursprüngliche Plan des Kaisers ging dahin, den Italienern das freie Selbstbestimmungsrecht zu verschaffen, um sie, nachdem Österreichs Vorherrschaft in Italien gebrochen wäre, der französischen Interessensphäre einzugliedern, und gemäß der wieder aufgegriffenen, nur mit modernen Mitteln verfolgten, alten nationalen Politik, Frankreich die einstweilen verlorene Führerstellung unter den romanischen Völkern aufs neue zu sichern. Daß er in diesem Sinne nur an einen italienischen Bund, „den ein starkes subalpines Königreich unter vorwiegend französischem Einfluß" leiten sollte6), gedacht hatte bei seiner Parole „Italien frei bis zur Adria" und somit nur unwissentlich Anstoß und AufVgl. oben S. 16. *) Bonapartismus V, S. 393. *) Vgl. auch „Der Krieg und die Bundesreform", v. 25. 5. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 97. *) Bonapartismus V, S. 293. ") Pol. Korrespondenz v. 10. 7. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 103. *) Vgl. Bonapartismus V, S. 400 und „Cavour", Hist. Pol. Aufs. II, S. 325.



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takt zur italienischen Einheitsbewegung gab 1 ), daß es nicht zuletzt das Resultat von Cavours feinem diplomatischen Spiel war, wenn der zaudernde Kaiser endgültig an die Ausführung seines Planes schritt2), daß er sich endlich für seine Bemühungen ausgiebig entschädigen ließ — alle diese Vorbehalte, wie auch der von Treitschke übrigens sehr kritisch beleuchtete Verlauf des ganzen Krieges, vermögen bei ihm nicht die eine große Tatsache zu verdunkeln, daß ohne seine Hilfe das kleine Piemont nichts gegen die Großmacht Österreich ausgerichtet hätte und die italienische Erhebung „vielleicht nie begonnen, sicherlich aber niemals triumphiert hätte" 3 ). Für jenen Friedensschluß von Villafranca, der die Italiener auf halbem Wege im Stiche ließ und der Welt so rätselhaft erschien, hat Treitschke nun eine ebenso einfache wie den Kern der Sache treffende Erklärung bei der Hand. E r berücksichtigt nicht nur die kleineren menschlichen Beweggründe, die Napoleon zu dem raschen Abschluß gedrängt haben mögen4), er motiviert ihn direkt mit Preußens drohender Haltung. Der „hochherzige" Entschluß des Prinzregenten, der einem von Grund aus unpolitischen Gefühle folgend, sich anschickte, die Waffen für die Verträge von 1 8 1 5 zu ergreifen, habe den Kaiser zur Umkehr bewogen, weil er sich in diesem Augenblick einem Angriff Deutschlands nicht gewachsen fühlte5). Denn alle persönlichen Sympathien für die Italiener und seine machtpolitischen Beweggründe berechtigten ihn doch nicht, „einen Kampf um Frankreichs Dasein zu wagen" 8 ). Seine eigene und seiner Zeitgenossen einstige Einstellung zu diesen Fragen charakterisiert Treitschke selbst indirekt in seinem späteren Aufsatz über Rochau, wenn er schreibt: „ W a r das noch Realpolitik, wenn Rochau zur Zeit des italienischen Krieges, entrüstet über die unheimlichen Pläne des zweiten Kaiserreiches, den Eintritt Preußens in den Kampf verlangte?" 7 ) Auch er hatte diese „unheimlichen Pläne" zeitweise gefürchtet und Preußens Eintritt in den Kampf befürwortet, allerdings mit der Spitze gegen Österreich8). Eine gleicher*) Bonapartismus V, S. 399. s ) Vgl. Cavour, S. 309 ff. 3 ) Bonapartismus V, S. 293. *) Unter diesen erwähnt Treitschke auch die körperliche und seelische Abspannung des Kaisers, den Eindruck von dem grauenvollen Schlachtfelde von Solferino usw. (vgl. Cavour S. 338). s ) Cavour, S. 339. •) A. a. O., S. 338. ') ,,A. L. v. Rochau" (Heidelberg v. 20. 1 1 . 1873). Hist. Pol. Aufs. Bd. IV, S. 194 f. ") Vgl. oben S. 16 f. Beiheft d. H. Z. 32.

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maßen unbefangene Beurteilung erfährt die von den Italienern so schwer verwundene Abtretung von Savoyen und Nizza; sie kann als Rechtfertigung nicht nur für das Handeln Cavours, sondern auch Napoleons III. gelten. Treitschke legt besonderen Ton auf die Feststellung, daß Cavour des Kaisers Hilfe auf dieser Grundlage gewann, als die beiden Staatsmänner zu Plombiere1) „ihre Verschwörung schürzten" und Cavour also auch, sofern er es überhaupt verantworten konnte, sein Vaterland mit fremder Unterstützung zu befreien, den Lohn dafür zahlen mußte2). Er weist außerdem daraufhin, daß Napoleon mindestens im Hinblick auf Savoyen keinen willkürlichen Länderraub beging, weil er dieses Land mit einigem Rechte auf Grund des Nationalitätenprinzips fordern konnte, in dessen Namen er den Krieg führte; denn Savoyen sei nach Sprache und Sitte seiner Bewohner mehr mit Frankreich, als mit Italien verwandt3). Überdies trennt Treitschke dabei nachdrücklich zwischen dem Kaiser und seiner Nation: der Makel dieses Handels sei weniger dem Kaiser denn der französischen Nation anzulasten, deren Ländergier sich wiederum „schamlos" offenbarte, nachdem die edelmütigen Impulse verrauscht waren4). Hiermit berühren wir einen Umstand, in welchem sicherlich der eigentliche Schlüssel zu erblicken ist, der Treitschke diese neuen Perspektiven in seinem Urteil über Napoleon erschlossen hat: das latente, aber beständige Mißtrauen früherer Jahre gegen den Kaiser war zum nicht geringen Teil der Befürchtung entsprungen, er werde, ähnlich dem ersten Bonaparte, sich die gefährlichen Leidenschaften seines Volkes5) als willkommenes Werkzeug zunutze machen. Statt dessen hatte er sich von den altnapoleonischen Weltmonarchieplänen entschieden abgekehrt und ebenso bedeutende wie „verständige, moderne Gedanken" in seiner Politik entwickelt, als „erster Regent seit Heinrich IV." nicht nur um Frankreichs, sondern auch um das Wohl Europas bemüht6). Für seine Person hatte er sich von dem alten Vorurteil der französischen Nation befreit, daß Frankreichs Größe allein von der Schwächung seiner Nachbarn abhänge, was in Treitschke die Hoffnung verstärkte, er werde auch die innere Notwendigkeit Am 20. 7. 1858, vgl. Cavour, Hist. Poi. Aufs., Bd. II, S. 325; Bonapartismus V, S. 398. 2 ) Cavour, S. 347. 8 ) Bonapartismus V, S. 402; Cavour, S. 348. *) A. a. O., S. 348. 6 ) Vgl. oben S. 24 {., 27 f. «) Vgl. Bonapartismus V, S. 388.

— 83 — der deutschen Einheitsbewegung begreifen1), wobei er sich allerdings einer Schwäche des Kaisers, der zuweilen zutage tretenden gewissen Halbheit seines Denkens, der zu „geringen geistigen Kraft, um einen schweren Gedanken bis in seine letzten Folgerungen festzuhalten", bewußt war2). Was aber für den deutschen Unitarier Treitschke das meiste sagen will: Napoleon lenkte seine Politik selbständig, immer zwar als kalt rechnender Realpolitiker3) und oftmals mit Unterschätzung der sittlichen Kräfte der Völker, wie der italienische Krieg gezeigt, aber auch unbeeinflußt von chauvinistischen Erregungen seiner Nation. Dies hatte Treitschke am offenkundigsten der Schleswig-Holsteinsche Krieg bewiesen, als der Kaiser, gestützt auf seine große Autorität, der öffentlichen Meinung seines Volkes trotzte und eine Reserviertheit beobachtete, die ihm bei seiner eigenen Nation nur Spott und Tadel eintrug4). Für Treitschke ein weiteres Argument, daß der Kaiser, ebenso wie in wirtschaftlichen und Bildungsfragen, auch in politischen das Durchschnittsniveau der Franzosen weit überragte; denn die Mehrheit seines Volkes, voran die liberale Opposition, wollte in ihrem wütenden Deutschenhaß von keiner irgendwie gearteten Machterweiterung des östlichen Nachbarn wissen. Schon seit 1859 übertönte der Haß gegen Deutschland jedes andere französische Gefühl6); „Ministerverantwortlichkeit und Feindseligkeit gegen Deutschland", um diese beiden Dogmen drehte sich das Denken und Trachten der französischen Liberalen, konstatiert Treitschke6). Das Geheimnis des napoleonischen Aufstieges vom unbeachteten Prätendenten zum mächtigsten Manne seiner Zeit scheint Treitschke, außer in der „eisernen Beharrlichkeit seines Charakters"7) und der klugen Taktik zur Erreichung seines Zieles8), nicht minder in der während seines langjährigen Flüchtlingsdaseins erworbenen „überlegenen Weltkenntnis"9) zu liegen, die ihn befähigte, seine Nation wie eine fremde, ganz unvoreingenommen zu sehen und sie scharf und richtig zu beurteilen. Treitschke meint, es sei ihm dies allerdings durch sein unfranzö2

) ') 4 ) 5 ) •) ') 8 ) *)

Pol. Korrespondenz v. 10. 7. 1866; Deutsche Kämpfe I, S. 105. Bonapartismus V, S. 390; Bonapartismus III, S. 21g. Bonapartismus V, S. 403 u. a. A. a. O., S. 296. A. a. O., S. 405. Bonapartismus V, S. 318. Bonapartismus III, S. 209. Bonapartismus IV, S. 261. Bonapartismus III, S. 2x9.

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— 84 — sisches phlegmatisches Temperament erleichtert worden1). Immerhin ist es merkwürdig, daß Treitschke, der das Unfranzösische an Napoleon I. so stark unterstrichen hat 2 ), den letzten Bonaparte so ganz als Franzosen wertete; es fällt niemals eine entsprechende Bemerkung, während seine Zeitgenossen ihn seiner Natur und seinen Anschauungen nach mehr als Kosmopoliten denn als Franzosen begriffen3). Auch erörtert Treitschke in keinem Falle die Frage, wie diese überlegene weltmännische Art auf die Franzosen wirken mußte, ob seine völkerbeglückenden Ideen, die er mit den Machtmitteln Frankreichs realisieren wollte, nicht von den Franzosen als gegen ihre Lebensinteressen verstoßend empfunden wurden und dazu beitrugen, daß sich seine Stellung in seinem Volke trotz aller Erfolge nicht endgültig festigen konnte, ob diese nicht vielmehr gerade dadurch mehr und mehr erschüttert wurde4). Die Auffassung Treitschkes, daß der Kaiser, speziell in Sachen der großen Politik, durch seinen freieren Blick weit über seinem Volke und seiner Umgebung stand, sei eingeprägt: nur von der Basis der sehr wesentlichen Differenzierung, die er zwischen Kaiser und Nation trifft, vermögen wir den Politiker Treitschke zwischen 1866 und 1870 richtig zu verstehen. Es ist mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß Treitschke bei Ausbruch des deutschen Krieges fest auf die Neutralität Napoleons gerechnet hat. Schon seit März des Jahres 1866 erwägt er in seinen Briefen die Kriegsaussichten6) ohne jede Erwähnung des Auslandes®); in dem Aufsatz „Der Krieg und die Bundesreform" bezeichnet er die in Süddeutschland verbreitete Überzeugung, Napoleon III. werde sich „nach heute beginnendem Kriege morgen auf unsere rheinischen Lande stürzen", geradezu als irrig; „er steht zu hoch über den kleinlichen Anschauungen des Herrn Thiers und sieht zu weit in die Zukunft, als daß er seiner jungen Dynastie das Danaergeschenk einer meuterischen Provinz bringen !) A. a. O., S. 208. 2 ) Vgl. oben S. 53 f. 8 ) So auch heute Stern (vgl. Bd. V I I I , S. 3). 4 ) Im „Tagebuch aus Paris" (Pr. Jahrb. Bd. X V I ) wird beispielsweise schon 1865 darauf hingewiesen, daß seine weltmännische Bildung ihm in seiner Politik wohl viel genützt, bei den Franzosen aber ebensoviel geschadet habe. (Verfasser ungenannt.) «) Vgl. Briefe II, S. 464 an Hirzel v. 25. 3. 1866; Briefe II, S. 467, S. 471 u. a. s ) Da seine Briefe allezeit den besten Spiegel für seine augenblicklichen Eindrücke und Meinungen bilden, so ist es nur zu wahrscheinlich, daß er sich mit diesem Gedanken damals überhaupt nicht befaßt hat.

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sollte" ). "Unter dem ersten Eindruck jener entscheidenden Abstimmung in Frankfurt vom 14. Juni denkt Treitschke einen Moment schreckhaft an die mögliche Einmischung europäischer Mächte, — „es liegt ja auf der Hand, daß dieser Wahnsinn die Einmischung des Auslandes geradezu provoziert", schreibt er in höchster Erregung2)—, wohl aber nur in dem Sinne, daß er davon eine aufschiebende Wirkung3) für den unvermeidlichen und notwendigen Kampf der beiden Großmächte um die Vorherrschaft in Deutschland befürchtet. Ganz gewiß war er sich der großen Gefahren, die damals gerade und allein von Napoleon her drohten, nicht oder mindestens nicht im vollen Umfange bewußt. Ohne genügende Sicherung gegen Westen, mit der größten Wahrscheinlichkeit, daß Napoleon, sowohl im Falle der Niederlage wie des Sieges Preußens, Ansprüche auf deutsche Gebietsteile geltend machen würde, zog Bismarck in diesen Krieg4), im Bunde zwar mit Italien, das jedoch von Frankreich abhängig war und jederzeit abtrünnig werden konnte, sobald es sein Kriegsziel, Venezien, erreicht hatte, wissend, daß Napoleon auf Preußens Niederlage spekulierte und durchaus im Bilde5) über dessen geheime Verabredungen mit Österreich6). Wenn Treitschke in der politischen Korrespondenz vom August sagt, die Haltung des Kaisers Napoleon beim Beginn des deutschen Krieges habe ihm neuerdings Anrecht auf den Namen eines großen Staatsmannes gegeben7), so dürfte er damit jenen offenen Brief Napoleons an seinen Außenminister im Auge haben8), worin der Kaiser, in dem Bestreben, der Welt seine friedfertigen Absichten zu verkünden, aufmerksame Neutralität verhieß, solange das europäische Gleichgewicht nicht gestört werde; auch hatte er in diesem Dokument mehr Zusammenhang und Kraft für Preußen im Norden unter anderem für wünschenswert erklärt9). l

) „Der Krieg und die Bundesreform" (v. 25. 5. 1866). Deutsche Kämpfe I, S. 99. 4 ) Briefe II, S. 482 v. 14. 6. 1866 an Baumgarten. 3 ) Dies scheint uns aus dem weiteren Text des oben zitierten Briefes hervorzugehen, „von diesem Beschluß bis zur Kriegserklärung gegen uns ist freilich noch ein weiter Weg, es liegt ja auf der Hand . . . " Briefe II, S. 482. *) Vgl. hierüber Brandenburg, Reichsgründung, II, S. 157. 5 ) Vgl. Mareks, Bismarck, S. 84. «) Vom 12. Juni 1866, vgl. Stern, Bd. I X , S. 483 ff. 7 ) Pol. Korrespondenz v. 10. 8. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 153. (Pr. Jahrb., Bd. 18, S. 221.) ») Vom n . Juni 1866 (vgl. Stern, Bd. I X , S. 486 f.). *) Die Vermutung, daß Treitschke dieser Brief bekannt war, wird gestützt sowohl durch die polit. Korrespondenz v. 10. 7., wie durch die



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A m Tage nach Königgrätz betätigte Österreich formell die versprochene Abtretung Venetiens, um das preußisch-italienische Bündnis zu sprengen und seine Südfront zu vollem Einsatz gegen Norden freizumachen. Treitschke befaßt sich mit dieser Tatsache in der Juli-Korrespondenz; aus der Art der Mitteilung läßt sich sogleich schließen, wie er darüber dachte: er schiebt die Schuld und die Verantwortung für diese unbequeme Einmischimg allein auf Österreich, wahrscheinlich nicht ohne politischen Zweck, denn er verschärft das österreichische Ansuchen um Vermittlung 1 ) in „bewaffnete Einmischung, die vom Hause Lothringen erbeten" worden sei2), vielleicht um Österreich in Deutschland zu diskreditieren3). Bezeichnend bleibt, daß Treitschke fast vertrauensvoll auf den Kaiser schaut, das alte Mißtrauen ist gänzlich verflogen; abgekartetes Spiel anzunehmen, liegt ihm damals fern. In den Erörterungen über die durch den österreichischen Schritt geschaffene Lage baut er auf den ehrenhaften Sinn der italienischen Nation, die sich nichts schenken lassen werde, mehr noch aber auf die Vernunft und Einsicht des Kaisers, der sich immer bisher jungen aufstrebenden Kräften wohlgesinnt erwiesen hatte und darum doch nicht den alten verfallenden Kaiserstaat stützen würde4). Die nach verschiedenen Seiten hin bemerkenswerte vom 10. 8. 1866. In der Juli-Korrespondenz formuliert Treitschke die vermutlichen Wünsche Napoleons in betreif Deutschland ähnlich wie sie in dem zitierten Dokument vorkommen: festere Organisation und engere Bindung der Mittelstaaten, mehr Kraft und Zusammenhang für Preußen im Norden, für Österreich Erhaltung seiner großen Stellung in Deutschland (vgl. Stern, Bd. I X , S. 486 f.), wenn er daselbst schreibt: „Napoleon würde vermutlich am liebsten sehen, wenn der Süden Deutschlands der österreichischen, der Norden der preußischen Schirmherrschaft verfiele und die Könige von Napoleons I. Gnaden den besten Teil ihrer Selbständigkeit retteten." (Pr. Jahrb., Bd. X V I I I , S. 96; Deutsche Kämpfe I, S. 105.) Die August-Korrespondenz spricht davon, daß Napoleon ein „wohlarrondiertes starkes Preußen als sicheren Verbündeten" wünsche (Pr. Jahrb., Bd. X V I I I , S. 221). Im „zweiten Kaiserreich" (1871) hat Treitschke dieses Dokument heftig angegriffen (vgl. Bonapartismus V, S. 413). 1 ) Vgl. Brandenburg, Reichsgründung II, S. 172. *) Polit. Korrespondenz v. 10. 7. 1866 (Deutsche Kämpfe I, S. 105), (Pr. Jahrb., Bd. 18, S. 96). 3) Unwahrscheinlich wäre, daß Treitschke deshalb gleich von bewaffneter Einmischung spricht, weil zunächst zu erwarten stand, daß Napoleon mindestens mobilisieren werde, um seiner Vermittlerrolle mehr Nachdruck zu verleihen. *) Polit. Korrespondenz v. 10. Juli 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 105 (Pr. Jahrb., Bd. XVIII, S. 96).

— 87 — August-Korrespondenz verrät eine unvermindert freundliche Stimmung für den Kaiser. Die große Kompensationsforderung vom 29. Juli 1 ) war Treitschke übrigens bekannt2). Um so mehr muß der achtungsvolle Ton, in welchem die Korrespondenz über den Kaiser spricht, zunächst verwundern. Wiederum dürften politische Gründe dabei von Bedeutung gewesen sein. Treitschke hatte diese Mitteilungen privatim empfangen, ohne die Erlaubnis, sie publizistisch auszunützen, er war also gezwungen, sich auf „diplomatische Anspielungen" zu beschränken8); außerdem wirbt er an dieser Stelle entschieden für die vorläufige Mainlinie, die den deutschen Patrioten schwer genug einging, und durfte daher nicht ihren Zorn gegen Napoleon aufreizen. Aber abgesehen von diesen politischen Motiven, zweifelt er auch persönlich nicht daran, daß diese ungeheuerlichen Forderungen keinesfalls auf die Initiative des Kaisers zurückgingen4), und vermied wohl darum Angriffe gegen ihn. Eines indessen zeigten ihm diese Vorgänge mit aller Deutlichkeit und er versäumt nicht, es vor der Öffentlichkeit auf das nachdrücklichste zu betonen, nämlich „daß die Mißgunst gegen Preußens Kräftigung unleugbar die in Frankreich vorherrschende Gesinnung sei"6) und daß in des Kaisers nächster Umgebung gefährliche Einflüsse am Werke seien, um ihn in seiner Mäßigung zu beirren, so daß er „kaum imstande war, dem Drängen der nationalen Scheelsucht zu widerstehen"8). Den diplomatischen Rückzug Napoleons, das endliche Resultat seiner unentschlossenen und schwankenden Politik betrachtet Treitschke denn auch nicht als Niederlage, sondern als Sieg seiner „staatsmännischen Weisheit"; insbesondere das Rundschreiben vom 16. SepNeben Landau und dem Saarkohlengebiet wurde die Rheinpfalz mit Mainz als Entschädigung für das Zugeständnis der preußischen Annexionen verlangt. a ) E r habe sie von Keudell, der rechten Hand Bismarcks, schreibt er an seine Braut (am 9. 8. 1866, Briefe III, S. 44), die Geschichte solle aber nicht in die Zeitungen kommen. Im Datum dürfte sich Treitschke geirrt haben, nach dem Brief vom 9. 8. soll die betreffende Note am 8. eingetroffen sein, die Unterredungen darüber zwischen Benedetti und Bismarck fanden aber schon am 5. und 7. August statt. (Vgl. Stern, Bd. I X , S. 561 f.) 3 ) „Die Gefahr ist näher als die Presse wähnt", heißt es in der AugustKorrespondenz. (D. K. I, S. 154.) *) „Ich glaube, der Kaiser hat nicht aus eigenem Antriebe gehandelt", schreibt er an die Braut am 9. 8. 1866 (Briefe III, S. 44); „man glaubt, er habe in nervöser Aufregung gehandelt" an Baumgarten v. 17. 8. 1866, Briefe III, S. 47; vgl. auch die Polit. Korresp. v. 10. 8. a. a. O. s ) Polit. Korrespondenz v. 10. 8., Deutsche Kämpfe I, S. 153. •) A. a. O., S. 154.



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tember 1866, in dem der Kaiser allen unmittelbaren Anspruch und Einspruch fallen ließ, scheint in seiner Begründung1) nachhaltig auf ihn gewirkt zu haben; er wertet es noch 1871, als er den tatsächlichen Sachverhalt dieser Monate besser überbücken konnte und auch anders beurteilte, als „eine ernste Lehre für den nationalen Übermut", die der Kaiser seinem Volke erteilt habe2). Die von Bismarck zwar nicht ungern, aber doch erst unter dem Druck Frankreichs beschlossene Mainlinie3) akzeptiert Treitschke vorderhand als das einzig Zweckmäßige, er sah in dieser Konzession an Napoleon aus zwiefachen Gründen kein Opfer, ja eher einen Vorteil. Einmal hielt er sie tatsächlich aus Rücksicht auf den Kaiser für das unumgängliche Gebot der Stunde. „Größeres als die Einigung Norddeutschlands will der Kaiser nicht dulden und wenn er es wollte, so würde seine Nation ihre Stimme dawider erheben"4). Treitschke hegte damals die Meinung, daß es Preußen nicht zum Besten gereichen würde, durch Nichtachtung dieser Bedingung des Nikolsburger Friedens des Kaisers innere Stellung unnötig zu schwächen5), damit seine Autorität stark genug zur Abwehr des Kriegseifers seiner Nation wäre, solange die norddeutsche Staatsentwicklung im Gange und eine einheitliche Heeresorganisation noch nicht durchgeführt sei. Damit aber eine möglichst straffe politische Organisation im Norden zustande käme, wollte er die Südstaaten vorläufig außerhalb des neuen Bundes belassen wissen, weil ihre vorzeitige Aufnahme ohne genügende Vorarbeit für die Einigung, nur um den zu hohen Preis einer recht losen föderativen Verfassung möglich gewesen wäre6). 1 ) Zitiert in der Polit. Korrespondenz v. 8. 7. 1867 (Verfasser ungenannt, Pr. Jahrb., Bd. X X ) : „Der Kaiser glaubt nicht, daß die Größe eines Landes von der Schwächung der Völker abhängt, die es umgeben, und erblickt das wahre Gleichgewicht nur in der Befriedigung der Wünsche der Nationen Europas." (Vgl. auch bei Stern, Bd. I X , S. 572.) s ) Vgl. Bonapartismus V, S. 416. 8 ) Vgl. Mareks, Bismarck, S. 89. 4 ) Polit. Korrespondenz v. 10. 8. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 1 5 3 . 6 ) Mit demselben Argument, nämlich daß Preußen ein Interesse daran habe, den Kaiserthron zu stützen, weil von einem Wechsel des Regimes Preußen nur Ungünstiges zu erwarten habe, plädierte der preußische Gesandte Graf Goltz sogar dafür, dem Kaiser eine kleine Grenzberichtigung zuzugestehen, damit die französische Nation befriedigt würde. (Goltz an Bismarck v. 31. Juni 1866, Akten des Auswärtigen Amtes, wiedergegeben bei G. Roloff, Bismarcks Friedensschlüsse mit den Süddeutschen, Hist. Zeitschr., Bd. 146, S. 17.) 6

) Vgl. Polit. Korrespondenz v. 10. 8. 1866, S. 159.

Deutsche Kämpfe I,

— 89 — Mit dieser Argumentation ist Treitschke bis 1870 herauf entschieden gegen den Beitritt der Südstaaten aufgetreten1). Nur daß Sachsen, dessen Annexion er mit verletzender Schärfe verlangt hatte2), durch Napoleon seinen staatlichen Bestand rettete, verzieh er nicht: „Wir fürchten, Deutschland wird einst in dem langen Sündenregister der Franzosen auch noch die schwere Schuld verzeichnen müssen, daß Frankreichs Einmischung, indem sie die Krone der Wettiner rettete, einen ehrenwerten deutschen Stamm entsittlicht hat" 3 ). Die Erkenntnis von der schicksalhaften Notwendigkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationen, von denen die eine sich die Einigung ihrer Glieder nicht auf die Dauer verbieten lassen konnte und die andere doch ihre ererbte Nutznießung aus Deutschlands Schwäche, ihre darauf beruhende Vormachtstellung nicht ohne Kampf hergeben würde, dringt in den folgenden Jahren bei Treitschke endgültig durch4). Er denkt noch immer sehr hoch von Napoleon selbst und glaubt nach wie vor an seine persönliche Friedensbereitschaft, aber er verhehlt sich nicht, daß der Kaiser mit seiner höheren Auffassung einsam steht und fragt sich immer wieder mit wachsender Besorgnis, wie lange er die Kraft besitzen würde, der durch die preußischen Erfolge angeschwollenen nationalen Leidenschaft seines Volkes, die einer mächtigen Woge gleich ihm entgegenbrandete, standzuhalten6). Die Schwierigkeiten seiner innerpolitischen Lage rücken auch für Treitschke die Möglichkeit bedenklich näher, daß der Kaiser wieder eigenes Gutdünken zu einem törichten Kriege fortgerissen werden könnte6). Im vollen Bewußtsein des Ernstes der Situation ist er ein unablässiger Mahner zur Einigkeit der politischen Parteien; er sucht besonders den Liberalismus zu einem x

) So im Frühjahr 1870, wo er sich gegen die Aufnahme Badens in den Norddeutschen Bund wendet; „unser Haus muß erst weit und fest genug gebaut sein, um eine zahlreiche und etwas rauflustige Bewohnerschaft zu ertragen" (vgl. „Badens Eintritt in den Bund" v. 5. März 1870, Pr. Jahrb., Bd. X X V , S. 328 ff.). *) In „Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten" v. 30. 7. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 122 ff. 8 ) „Zum Jahresanfang 1867" (Dez. 1866), Deutsche Kämpfe I, S. 207. 4 ) Vgl. Korrespondenz v. 10. 8. 1866, Deutsche Kämpfe I, S. 166; Briefe III, S. 220, an Freytag v. 29. 8. 1868. s ) Vgl. Korrespondenz v. 10. 8. 1866; Korrespondenz v. 10. 9. 1866 (Deutsche Kämpfe I, S. 183); „Zum Jahresanfang 1 8 6 7 " (Deutsche Kämpfe I, 210). •) „Zum Jahresanfang 1867", Deutsche Kämpfe I, S. 210.

— 90 — festen Bunde mit Bismarck zu führen1) und erinnert die Parlamente an ihre Pflicht, rasche und erfolgreiche Arbeit zu leisten, damit der norddeutsche Bund, vor allem aber sein Heer recht bald organisatorisch so weit gediehen wäre, daß er allen Eventualitäten ruhig und sicher entgegensehen könne. Als der französische Anspruch auf Luxemburg im Frühjahr 1867 den Frieden zu bedrohen schien, wähnten die Preußischen Jahrbücher dies allerdings als günstige Gelegenheit, die unausbleibliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationen sogleich herbeizuführen, zumal der Kaiser in seiner schwachen Lage bei energischem Auftreten Preußens leicht von der Volksstimme mitgerissen werden würde und der mangelhafte Rüstungszustand Frankreichs die Aussicht auf einen raschen Sieg erhöhte; sie forderten daher für Preußen auf jeden Fall Unnachgiebigkeit, weil ein Weichen aus Luxemburg den Franzosen, „wenn auch nicht dem Kaiser Napoleon", nur Anreiz zu weiteren Erwerbungen bieten würde2). Obwohl Treitschke nicht als Verfasser der Korrespondenz zeichnet, dürfte er sich doch mit dieser Forderung identifiziert haben, denn er nimmt diese Kritik an der diplomatischen Haltung Bismarcks 1870 nachdrücklich zurück8) und meint, Bismarck habe damals recht daran getan, den Kampf in Ehren zu vermeiden, um die Welt im Frieden an die deutsche Einheit zu gewöhnen. Die Luxemburger Affäre endete zwar mit einem Vergleich, wobei Napoleon vor der Welt wie vor seinem Volke gleichwohl als eigentlich Unterlegener dastand: für einen geringfügigen moralischen Erfolg hatte er wiederum auf die erhoffte Entschädigung für Königgrätz verzichten müssen, so daß die Vermutung immerhin nahe genug lag, er werde nun diese, ihm, als vom Volke Erwählten, doppelt empfindliche Schlappe wettzumachen suchen müssen. Trotzdem bemerken wir bei Treitschke, was die Person des Kaisers anbelangt, keinerlei Argwohn gegen seinen Friedenswillen, er mag dem müden und gealterten Mann wohl schon rein physisch keine energische Kriegspolitik mehr zugetraut haben; daß Napoleon III. keine Feldherrnnatur war und keinen militärischen Ehrgeiz besaß, hatte ihn schon der italienische Krieg gelehrt4) . Wenn von der französischen Seite her bald Anzeichen einer Vgl. Briefe III, S. 131, v. 12. 2. 1867. ) Vgl. Polit. Korrespondenz v. April 1867, Pr. Jahrb., Bd. X I X , S. 469 (Verfasser ungenannt). s ) Vgl. „Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes" v. 3. Aug. 1870, Deutsche Kampfe I, S. 311. 4 ) Vgl. „Cavour", Hist. Pol. Aufs. II, S. 338 (1869). 2

— 91 — stärkeren Aktivität gegen Preußen auftauchten, die auch der deutschen Öffentlichkeit nicht verborgen blieben1), so deutet er diese als Beweis des wachsenden Einflusses der Kriegspartei am Höfe, die in ihren Wünschen als Exponent der gesamten französischen Nation gelten konnte, über deren Absichten er sich freilich nicht im Zweifel war 2 ). So ist es erklärlich, daß er 1870 nicht, dem Kaiser, sondern allein dem Volke die Verantwortung für den Kriegsausbruch zuschreibt; der Kaiser erschien ihm vielmehr als ein vom politischen Neide der alten Bonapartisten Gedrängter, von Herrschsucht, Habgier und Eitelkeit seines Volkes vorwärts Gestoßener, als er, zudem schlecht beraten und durch unwahre Berichte getäuscht, den verzweifelten Kriegsentschluß faßte 3 ). Dementsprechend lautet auch die Kriegslosung, die Treitschke der eigenen Nation eindringlich zuruft: Wir kämpfen gegen Frankreich, nicht gegen Napoleon!4) Darum verwirft er den „einseitigen Haß gegen den Dezembermann", den die deutsche Presse entwickelte. Denn der Sinn dieses Krieges solle allein dahin aufgefaßt werden, daß der französische Übermut gezügelt, daß der „rohe Ausbruch der altfranzösischen, nicht der napoleonischen Politik" abgewehrt würde8). Leitender Gesichtspunkt nach einem deutschen Siege, an den er mit unerschütterlicher Gewißheit glaubte, müsse einzig und allein die Sicherung des Lebensraumes der deutschen Nation sein; daher wären dem französischen Staat entsprechende Bedingungen aufzuerlegen, und zwar in erster Linie die Herausgabe Elsaß-Lothringens als eines nach Natur und Geschichte kerndeutschen Landes, trotz aller französischen Uberkleidung6); nicht aber dürfe sein Herrscherhaus geschwächt werden. Treitschke befürchtete anscheinend, der ein*) So wurde z. B. die Salzburger Entrevue (18.—23. Aug. 1867) zwischen dem französischen und dem österreichischen Kaiserpaar auch in den Preuß. Jahrbüchern besprochen. (Pr. Jahrb., Bd. X X , S. 3 2 1 ff.) a ) Vgl. „Zum Jahreswechsel 1869" (v. 31. Dez. 1868), Pr. Jahrb., Bd. X X I I I , S. 1 1 5 ff.; Deutsche Kämpfe I, S. 264. a ) Vgl. „Die Feuerprobe Kämpfe I, S. 3 1 5 .

des norddeutschen Bundes",

Deutsche

4

) Vgl. a. a. O., S. 3 1 8 und „Was fordern wir von Frankreich ? " ebd., S. 325*) „Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes", S. 319. •) In dem Aufsatz „Was fordern wir von Frankreich?", der seine ganze leidenschaftliche Erregung dieser Tage widerspiegelt, unternahm es Treitschke, an Hand von Charakter und Geschichte der Elsaß-Lothringer diese Forderung eingehend zu begründen.

— 92 — seitige Napoleonhaß könnte, ähnlich wie 18x5, das Verlangen nach Absetzung des Kaisers laut werden lassen1). Den Sturz Napoleons mag er denn auch mit gemischten Gefühlen aufgenommen haben. Als ein Unglück betrachtete er ihn fraglos für Frankreich, das nun, ohne dem Zügel einer starken Staatsgewalt unterworfen zu sein, nachdem es zu der für seine Eigenart „verderblichsten aller Staatsformen" zurückgekehrt sei, wiederum in zermürbende Parteienkämpfe verfallen würde2). Ein Gedankengang, wonach ein Wechsel des Regimes als außenpolitische Schwächimg Frankreichs vorteilhaft sein könnte3), ist Treitschke auch jetzt noch vollkommen fremd. Im Gegenteil, er erblickte darin durchaus keinen Vorteil deutscherseits, weil der ersehnte rasche Friedensschluß, wie er sogleich richtig erkannte, damit erheblich in Frage gestellt würde; denn keine der Parteien würde sich zunächst mit dem Odiom eines unglücklichen Friedens belasten wollen. Menschlich tragisch aber muß ihn das Geschick des Mannes berührt haben, der bei allen Fehlern und schweren Mängeln doch Erhebliches für sein Volk geleistet hatte, von dem er im „Zweiten Kaiserreich" (1871) sagt, sein Kaisertum habe den „Verfall Frankreichs" nicht verschuldet, sondern um zwei Jahrzehnte aufgehalten; ihm allein sei es gelungen, den französischen Staat dank seiner Klugheit und der Gunst des Glückes zu einer Machtfülle emporzuheben, die weit über die sittliche Kraft 4 ) der Nation hinausreichte5). Hinsichtlich seiner deutschen Politik übt Treitschke an dieser Stelle naturgemäß schärfere Kritik, denn gerade im wesentlichsten Punkt seiner Erwartungen hatte der Kaiser schwer enttäuscht; er konstatiert, daß Napoleon, der in der italienischen Frage so viele Beweise selbständigen Denkens gegeben hatte, Deutschland gegenüber in den „anmaßenden Vorurteilen der Durchschnitts*) Vgl. „Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes": „Wehe uns, wenn dies berechtigte volkstümliche Gefühl uns heute ebenso mißleitete, wie uns einst der legitimistische Haß gegen den ersten Napoleon mißleitet hat." (Deutsche Kämpfe I, S. 318.) 2 ) Vgl. den Brief v. 25. 9. 1869, an Fr. v. Treitschke (bei Cornicelius in der Anmerkung wiedergegeben): „Kein Mann und keine Partei ist imstande, den Kaiser zu ersetzen." Briefe III, S. 254; vgl. auch „Parteien und Fraktionen", Hist. Pol. Aufs. III, S. 567. 8 ) Wie etwa Bismarck schon 1866 geäußert hatte: „Der Wechsel, welcher es auch sein möchte, würde Frankreich außenpolitisch schwächen." (Vgl. Roloff, Bismarcks Friedensschlüsse mit den Süddeutschen, Hist. Zeitschr., Bd. 146, S. 17.) 4 ) S. unten S. 1 1 8 . «) Bonapartismus V, S. 289.

— 93.— 1

franzosen" befangen blieb ). Über seine Politik von 1866 namentlich zeigt er sich recht gut unterrichtet2) und durchschaut seine Taktik, die darauf abzielte, „bequem zu ernten, wo er nicht gesät" 3 ): daß ihm daran gelegen war, Preußen zunächst in den Krieg hineinzustoßen, durch den Hebel des preußisch-italienischen Bündnisses, um Italien nach den ersten Kämpfen Venetien zu verschaffen und Preußen dann der verstärkten Front Österreichs auszusetzen, und bei der erhofften preußischen Niederlage kampflos seine Wünsche auf deutsches Gebiet erfüllen zu können — Pläne, die in ihrem „kläglichen Schwachsinn" nur in Erstaunen setzen könnten4). Welche Absichten seiner Loyalität von 1864 zugrunde lagen, daß er schon damals insgeheim begehrliche Wünsche nach Verschiebung seiner Ostgrenze hegte5), konnte Treitschke freilich nur ganz entfernt ahnen6). Dennoch hat er die Grundlinie der napoleonischen Politik gegenüber Deutschland in dieser ersten Periode, die er sogar bis in den Neuenburger Streit7) zurückverfolgt 8 ): Erwerb rheinischen Landes, sei es mit oder gegen Preußen, richtig erkannt, wenn auch, hauptsächlich durch den Mangel an greifbarem Unterlagenmaterial bedingt, nur in ungefähren Umrissen. Sehr anschaulich vergegenwärtigt er besonders die politische Denkweise des Kaisers, diese schleichende und bohrende Art, Politik zu treiben, wie er in seiner grüblerischen Natur beständig über der Landkarte saß, neue Kombinationen ausbrütend, wie er womöglich ohne eigenes Risiko, zur Verwirklichung seiner Projekte gelangen könnte. Als 1866 alle schlauen Berechnungen an Bismarcks Meisterschaft gescheitert waren, glaubt Treitschke, Napoleon habe nun diese Intentionen begraben und ernstlich daran gedacht, Preußen gewähren zu lassen9); es habe ihn aber der erwachte nationale Zorn der Franzosen über den deutschen Aufstieg gezwungen, diese Versuche fortzusetzen, um das beleidigte Selbstgefühl seines Volkes zu befriedigen; Treitschke hält auch jetzt noch daran fest, daß er „in diesen letzten schwächsten Jahren seiner Regierung noch immer A. a. O., S. 414. ) Vermutlich an Hand der von Bismarck im Juli 1870 veröffentlichten Aktenstücke. 3 ) Bonapartismus V, S. 413. *) A. a. O., S. 412. ») Vgl. Oncken, Rheinpolitik Napoleons III., Bd. I, S. 17 ff. •) Vgl. oben S. 77. ') 1856, vgl. Stern, Bd. VIII, S. 233 ff. 8 ) Vgl. Bonapartismus V, S. 410. •) Bonapartismus V, S. 416. a

— 94 — weiser und mäßiger gewesen sei als die ungeheure Mehrzahl seiner Landsleute" 1 ). Was Treitschke dabei völlig entging, ist, daß Napoleon selbst die Initiative zur konsequenten Weiterführung seiner Rheinpolitik ergriff und, als er eingesehen, daß mit Preußen nichts zu erreichen sei, nach dem Luxemburger Handel auch persönlich verletzt, einen Kurswechsel vollzog, um fortan aktiver denn je gegen Preußen zu arbeiten, nach seiner eigentümlichen Art tief geheim, oft über die Köpfe seiner Minister hinweg2), Fäden spinnend mit Österreich und Italien, die wenigstens in der Konzeption seiner Gedanken eine förmliche Einkreisung Preußens bezweckten, um es zu zermalmen3). Pläne, deren Dunkel erst heute, soweit es bei der ganz persönlichen Politik des Kaisers überhaupt je möglich ist, durch Onckens Publikationen gelüftet ward. Treitschke spielt auf die letzten Verhandlungen 1870 und auf die französische Wühlarbeit in Süddeutschland nur an4), wie es ja bei dem damaligen Stande der Kenntnisse nicht anders zu erwarten ist. Seine noch immer unveränderte Unterscheidung zwischen Kaiser und Nation — sogar für die Zeit nach der Salzburger Zusammenkunft der Monarchen, die in dem Entschlüsse geschah, „die Einheit Deutschlands nie zu dulden", unterstreicht Treitschke neuerliche Versuche Napoleons, „die grollende Nation zu beschwichtigen"6) — hat ihn im ganzen aber doch wohl zu einer zu humanen Beurteilung Napoleons verleitet; trotz der nachträglichen Einsicht früherer, unvermutet „nichtswürdiger" Politik gegen Preußen überschätzt Treitschke noch 1871 eine gesinnungsmäßige Wurzel in Napoleons Ideen, so, wenn er das Lavalettesche Rundschreiben6) als durchaus ernsthaft gemeint begreift: die Logik der Tatsachen, das stolze und sichere Emporwachsen des deutschen Staates, scheinen ihm ihren Zauber auf den nüchternen Sinn des Staatsmannes ausgeübt und zu der Verkündung einer großartigen Ansicht der Zukunft geführt zu haben, zur Anerken!) A. a. O., S. 418. 2 ) Diese Art der Arbeitsweise hat Treitschke im „Cavour" selbst treffend gezeichnet. 3 ) Vgl. Oncken, Rheinpolitik, Bd. I, S. 76 ff.; über die Dreibundverhandlungen zwischen Frankreich-Österreich-Italien 1868—1869, Bd. III, Akten Nr. 648—718; über den Austausch der Monarchenbriefe, 1869, Akten Nr. 719—762; über den militärischen Meinungsaustausch Frankreich-Österreich, Bd. III, Nr. 763—811. 4 ) Vgl. „Was fordern wir von Frankreich?" Deutsche Kämpfe I, S. 3 3 1 ; „Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes", ebenda, S. 3 1 5 ; Bonapartismus V, S. 420. 5 ) Bonapartismus V, S. 421. •) Vgl. oben S. 88, Anm. 1 u. 2.

— 95 — nung der Notwendigkeit mächtiger nationaler Staaten, und zu einer Rüge der eigenen übermütigen Nation. Des zweckpolitisch phrasenhaften Kernes dieses Aufrufes wurde sich Treitschke nicht bewußt. Er berücksichtigte zu wenig, daß Napoleon auf dem Felde der realen Politik als Kaiser der Franzosen einzig seine machtpolitischen Interessen wahrte und das Nationalitätenprinzip nur als Mittel zum Zweck gebrauchen würde. Wenn Treitschke noch im „Bonapartismus" nicht verleugnet, wie lange er die Hoffnung nährte, Napoleon werde es schließlich doch für Deutschland gelten lassen1), so hat er sich letzten Endes wohl aus einer vermeintlichen persönlichen Note darin eine grundsätzliche Bedeutung versprochen. Es scheint uns dieser Trugschluß zugleich eine Lehre, daß die in der historischen Betrachtungsweise so fruchtbare Methode psychologischer Fundierung auf das Verstehen politischer Entwicklung nur bedingt anwendbar ist und aus ungenügender Trennung zwischen beiden Irrtümer resultieren können. Wenn Treitschkes Ringen um ein realpolitisches Denken als innerer Kampf um diese reinliche Scheidung der Gesichtspunkte erklärt werden darf, so ist es bei ihm als deutschem Menschen, an dem wir am meisten sein großes deutsches Wollen in seinem Lebenswerk bewundern, verständlich, daß auch in seiner Beurteilung der zeitpolitischen Ereignisse trotz beabsichtigter Objektivität und Abstraktion das Mitschwingen seiner Herzensgesinnung fühlbar ist und zuweilen die streng sachliche Argumentation beeinträchtigt. Mag Treitschkes Auffassung, historisch gesehen, zeitlich und persönlich gebunden erscheinen, höchst bedeutungsvoll ist sie, wenn wir uns in den Geist vertiefen, in dem die besten Deutschen diesen Krieg geführt wissen wollten, und wenn wir bedenken, welche Wirkung Treitschke auf die Jugend und als größter Publizist seiner Zeit besaß. Besonders bezeichnend ist die maßvolle Gegnerschaft, die er der französischen Nation bewies: obgleich er ihr die Alleinschuld für diesen Krieg zuschreibt, plädiert er doch im Interesse des Völkerfriedens für einen gerechten und maßvollen Frieden, der dem besiegten Feind nicht mehr auferlegt als das Notwendige2). Einmal meint er, die Altersmüdigkeit des Kaisers habe eine Verminderung der persönlichen Widerstände zur Folge gehabt (Bonapartismus V, S. 418); ein andermal erörtert er die Denkmöglichkeit, daß die Okkupation Belgiens auf der Basis einer Erklärung des Nationalitätenrechtes hätte geschehen könne . (Vgl. Bonapartismus V, S. 420.) 2 ) Friedenshoffnungen (vom 25. September 1870), Deutsche Kämpfe I , S. 38.

V. FRANZÖSISCHE POLITIK NACH 1870.

Die Frage des künftigen Verhältnisses zwischen den beiden Völkern beschäftigte Treitschke bereits im Kriegssommer 1870. Wie unvermeidlich ihm im Laufe der vorangegangenen Jahre eine kriegerische Auseinandersetzung auch erschienen war, in seinem tiefen Verantwortungsbewußtsein hatte er davon kaum gesprochen, ohne zugleich die schweren Schläge zu bedenken, die den beiderseitigen Beziehungen damit vielleicht auf Generationen hinaus zugefügt werden mußten1), und deshalb seine Feder niemals dazu mißbraucht, den schwelenden Brand zu schüren. Aus dieser geistigen Haltung heraus geschieht es auch, daß er schon mitten im brausenden Siegesjubel über die deutschen Waffenerfolge, in den stolzen Tagen der erfüllten Hoffnung auf das Ende der deutschen Zwietracht, recht eindringlich seine Stimme erhebt, Auswüchse des volkstümlichen Franzosenhasses zu dämmen, in Rücksicht auf das letzten Endes doch wieder notwendige friedliche Nebeneinanderleben der beiden Nachbarn. Welche Gesinnung von der Gegenseite auf lange Zeit zu erwarten sein würde, darüber gab er sich bei seiner Kenntnis der französischen Mentalität zunächst durchaus keinem Optimismus hin; später hat er freilich die Unversöhnlichkeit des französischen Revanchegeistes, die sich eher steigerte, je mehr der Krieg verjährte, mit wachsendem Bedauern wahrgenommen. Alles in allem aber gleitet Treitschkes aktiv-politisches Interesse an Frankreich jetzt merklich ab — insofern bedeutet der Krieg von 1870/71, wenn auch keinen Wendepunkt, so doch eine fühlbare Zäsur in seinem Gesamtverhältnis zu Frankreich. Der Widerstand, den es vermöge seiner Vormachtstellung der deutschen Einigung entgegengesetzt hatte, war in gemeinsamem Ringen überwunden, der geistige Einfluß seiner politischen Gedanken gleichermaßen gebrochen — ein Ergebnis, das Treitschke des öfteren mit besonderer Genugtuung bucht2) und dem militärischen *) Vgl. Briefe III, S. 47, an Baumgarten v. 1 7 . 8 . 1 8 6 6 ; s. unten S. 1x4, Anm. 1. s ) Vgl. dazu oben S. 43, Anm. 5; „die Zeiten sind längst dahin," schreibt er 1877, „da die bewundernden Nachbarvölker sich gedrungen fühlten, jede neue politische Offenbarung, die den Staatsweisen an der

— 97 — und politischen Gewinn als ebenbürtig zur Seite stellt. Der Politiker wie der im Grunde vom politischen Kampf ausgehende Historiker sahen sich am Ziel: Frankreich war geschlagen und in schweren inneren Kämpfen befangen und also vorderhand nicht in der Lage, in der großen Politik eine bedeutsame Rolle zu spielen, weshalb auch die Gefahr, die in der beständig wachen Revanchestimmung lag, für Treitschke nicht so wesentlich ins Gewicht fiel. Den eigentlichen Gegner und ebenso mißtrauischen wie mißgünstigen Neider des jungen aufstrebenden Reiches, das sich nunmehr in der Mitte Europas konstituiert hatte, glaubte er vielmehr sehr bald in der anderen der beiden Westmächte, in England, erkennen zu müssen; in der englischen Wirtschaftsmacht und Weltgeltung erblickte er das stärkste Hemmnis der Entfaltung von Deutschlands Größe und nationaler Kraft, und darum befehdete er es schließlich nicht minder heftig als die alten Feinde der deutschen Einheit; verschiedene Motive, neben dem politischen nicht weniger das geistige, den deutschen Idealismus vor der zunehmenden Bedrohung durch den materialistischen Anglo-Amerikanismus zu bewahren1), haben dahin gewirkt, ihn einseitig gegen England Partei ergreifen zu lassen, was umgekehrt dazu beitrug, seine bisherige politische Haltung gegenüber Frankreich in eigenartiger Weise zu verändern. Treitschkes Gedankengänge über die außenpolitische Situation des Reiches in den ersten Jahren nach der Reichsgründung decken sich zunächst durchaus mit der Bismarckschen Linie der auswärtigen Politik: den Dreikaiserbund der konservativen Ostmächte betrachtet auch er als Grundlage des europäischen Friedens. Indessen, schon in seiner Bewertung der beiden deutschen Bundesgenossen geht er von Anfang an über die auf Gleichgewicht und Vermittlung zwischen beiden abgestimmte Politik Bismarcks hinaus. Ohne Frage erschien ihm Rußland als das wichtigere Glied des Dreikaiserbundes. „Auf dem Bunde Rußlands und Deutschlands ruht heute der Friede der Welt und die neue Ordnung des Staatensystems", schreibt er 1874 2 ). Denn Österreichs Widerstandsfähigkeit schätzte er, besonders für den Kriegsfall, sehr gering ein 3 ); vielleicht dachte er auch an RußSeine aufging, bei sich daheim gelehrig einzubürgern." (Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877, Deutsche Kämpfe II, S. 446.) Vgl. Leipprand, S. 90. *) „Ein Wort über russische Kirchenpolitik", Deutsche Kämpfe II, S. 269. 3 ) Vgl. den Brief an Th. Nöldeke v. 5 . 7 . 1 8 7 6 : „Einen Weltkrieg würde das liebe Donaureich schwerlich überleben." (Briefe III, S. 430); ferner Beiheft d. H. Z. 3«.

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— 98 — land als Gegenpol im Falle des Zustandekommens einer „Koalition der katholischen Mächte", speziell zwischen Österreich und Frankreich, die ja zu Zeiten des Kulturkampfes ebenfalls Gegenstand von Bismarcks Besorgnis gewesen ist 1 ). Den Dreikaiserbund „versöhnend und vermittelnd aufrecht zu erhalten", hauptsächlich im Hinblick auf Rußland, dahin umreißt er die Aufgabe Deutschlands beim Beginn der großen Orientkrise2), ohne sich jedoch darüber zu täuschen, welch erhebliche Schwierigkeiten der Lösung dieser Aufgabe entgegenstanden8); tatsächlich ist ja der Dreikaiserbund an dieser Krise zerbrochen. In dem Aufsatz „Die Türkei und die Großmächte" unternimmt es Treitschke denn auch, die Öffentlichkeit von der Berechtigung der russischen Ansprüche auf dem Balkan, mehr noch von der Notwendigkeit eines guten Einvernehmens mit „dem besten Bundesgenossen, den Deutschland je gehabt"4), zu überzeugen. Die letzten Gründe dieses warmen Eintretens für die Aufrechterhaltung des russischen Bündnisses — Österreich wird ebenfalls daran erinnert, daß es nur im Einverständnis mit Rußland hoffen könne, einen heilsamen und mäßigenden Einfluß auf die türkische Katastrophe zu erlangen6) — aber verrät der Aufsatz, wie Treitschke selbst in vertraulichen Mitteilungen an seine Freunde bekennt, nur „zwischen den Zeilen". Es war die feste Überzeugung, daß bei einer Trennung von Deutschland die germanophobe Stimmung in Rußland die Oberhand gewinnen und sich mit der französischen Revanchebewegung verbinden würde, daß also eine französisch-russische Allianz die Folge wäre, die Treitschke gleichbedeutend mit „Weltkrieg" ist8). Diese plötzlich so lebhafte Bean Nokk v. 24. 4. 1876: „Mir graut davor (vor einem Kriege) nicht weil ich am Siege zweifelte, sondern weil Österreich in diesem Sturme leicht zerbersten kann." (Briefe III, S. 415.) *) Vgl. Wahl, Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 23 f.; Mareks, Bismarck, S. 172 f. 2) „Die Türkei und die Großmächte" v. 20. 6. 1876, Deutsche Kämpfe II, S. 403. 3) „ G o t t weiß, wie lange diese Freundschaft dauern wird," schreibt er an seine Gattin (am 1. 5. 1876), daselbst vergleicht er die Lage von 1876 der von 1821, mit der sie „verzweifelte Ähnlichkeit" zeige; „die drei Ostmächte ehrlich entschlossen, im Orient freundlich Hand in Hand zu gehen und doch trat der Gegensatz der Interessen bald genug hervor." (Briefe III, S. 425). 4) 5)

„Die Türkei und die Großmächte", Deutsche Kämpfe II, S. 363. A. a. O., S. 402.

•) E r hielte es für seine patriotische Pflicht, schreibt Treitschke an den Bischof Teutsch am 5.8. 1876, „in Fragen der auswärtigen Politik

— 99 — fürchtung einer französisch-russischen Allianz ist offensichtlich auf seine Eindrücke von der sog. „Krieg-in-Sicht-Krise" vom Frühjahr 1875 zurückzuführen. Die damalige akute Spannung zwischen Deutschland und Frankreich aus Anlaß der mit großer Energie betriebenen Reorganisation der französischen Armee hatte Treitschke als heftiges Alarmsignal, daß der Revanchegeist in Frankreich am Werke sei, aufgefaßt; die kurz hingeworfenen Sätze seines Briefes an Nokk 1 ), in denen er die Tatsache bespricht, spiegeln seine tiefe Erregung über die bald erreichte zahlenmäßige Überlegenheit der französischen Armee2); er prophezeit den Krieg in 1 bis 2 Jahren, wobei ihm im Augenblick sowohl die Möglichkeit eines Präventivkrieges wie die eines Angriffskrieges von Frankreich aus durch den Sinn schießt. Für den Dreikaiserbund befürchtete er damals anscheinend noch immer eine Sprengung durch ein mögliches Abschwenken Österreichs im Sinne jener schon 1874 angedeuteten Koalition der katholischen Mächte3). Bezüglich der russischen, wie er allerdings zugeben muß, vorwiegend dynastisch basierten Bündnistreue aber äußert dieser Brief noch keine Zweifel, er glaubt sie im Gegenteil wiederum vollkommen gesichert4), dank der Sendung Radowitz8). Offenbar hielt sich Treitschke dabei an die lauten Beteuerungen über Wert und Bedeutung der deutsch-russischen Freundschaft, die Radowitz in Petersburg empfing, während in Wirklichkeit die diplonichts zu schreiben, was die Aktion unseres Auswärtigen Amtes erschweren könnte." Darum habe er, in der Hoffnung, daß der Leser zwischen den Zeilen lesen würde, einen Hauptgedanken seines Aufsatzes nicht offen ausgesprochen, nämlich daß „sobald wir uns von Rußland trennen, die russischfranzösische Allianz und damit der Weltkrieg zustande kommt." (Briefe III, S. 433.) Ähnlich an Nöldeke v. 5. 7. 1876: „Einen wichtigen Punkt, den ich aus Klugheit nicht öffentlich berühren mochte, haben Sie übersehen. Alle Feinde Deutschlands im Auslande hoffen auf den Zerfall des Dreikaiserbundes; sollen wir mit Österreich gegen Frankreich und Rußland kämpfen ?" (Briefe III, S. 430.) Vom 24. 4. 1875, Briefe III, S. 414. ) „Die französische Linie um 172 Bataillione stärker als die deutsche", heißt es daselbst, „Beust und die Erzherzöge unablässig tätig und die Ungarn finanziell so herunter, daß sie im entscheidenden Augenblick schwerlich werden widerstehen können." (Briefe III, S. 414.) 3 ) Vgl. oben S. 98. *) „Zum Glück sind wir Rußlands sicher; die Sendung Radowitz' war sehr nötig und hat gut gewirkt. Walujew, unser bester Freund zunächst Zar Alexander ist wieder obenauf an dem sonst durchweg deutschfeindlichen Hofe." (An Nokk, Briefe III, S. 414.) 5 ) Im Februar-März 1875. 2





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matische Mission Radowitz', die neben der Bereinigung einiger kleiner Differenzen, einer Sondierung der Beziehungen Rußlands zu Frankreich galt, kein befriedigendes Resultat lieferte1). Erst das Nachspiel der Krieg-in-Sicht-Krise im Mai 1875 mag Treitschke zu der Einsicht seiner Überbewertung des deutsch-russischen Verhältnisses gebracht haben, sicherlich bildet es den eigentlichen Anstoß für seine beim Ausbruch der Balkankrise zutage tretende Befürchtung der französisch-russischen Allianz; hatte sich doch Rußland, nachdem die eigentliche Krise schon beendet war, im Verein mit England bereitwilligst auf jene vom französischen Außenminister, Herzog Decazes, angestiftete, sehr illoyale diplomatische Intrige eingelassen, die Bismarck vor aller Welt jeder Grundlage entbehrende Pläne zuschob, und eine überflüssige, sehr wenig freundschaftliche Friedensintervention in Berlin unternommen, welche die deutsch-russischen Beziehungen innerlich stark erschütterte2). Diese erste gemeinsame Aktion der beiden Flügelmächte Deutschlands war jedenfalls Beweis genug, daß eine Verbindung zwischen Frankreich und Rußland gar nicht so ferne lag, wie Treitschke dies bis dahin wähnte, während das soeben noch von ihm verdächtigte Österreich sich allein jedem Eingriff versagt hatte. Offiziell hat Treitschke die Idee einer französischrussischen Allianz lange Zeit energisch abgeleugnet, denn es schien ihm, wie er in einem Briefe an den Bischof Teutsch bemerkt, „verkehrt, eine solche Möglichkeit überhaupt zuzugeben"3). In dem Aufsatz „Deutschland und die orientalische Frage" spottet er sogar über die Behauptung der Türkenverehrer, daß die Furcht vor einem französisch-russischen Bündnis den Gang der deutschen Staatskunst bestimme4). „Dieser Bund ist nun schon seit zwei Menschenaltern das Schoßkind aller politischen Phantasten Frankreichs, Lamartine nannte ihn den cri de la nature"6). Für eine solche radikale Verschiebung aller Machtverhältnisse des Weltteils fehle vorderhand jeder Boden; daß Zar Alexander die Hand seines bewährten deutschen Bundesgenossen zurückstoßen sollte, um die seinige dem ultramontanen und republikanischen Frankreich zu reichen, sei ein höchst unwahrscheinlicher Fall6). i) a ) 4 ) S. 413. ') •) S. 413.

Vgl. dazu Wahl, Deutsche Geschichte, I, S. 352. Vgl. Mareks, Bismarck, S. 174; Wahl I, S. 360 ff. Briefe III, S. 433, an Teutsch v. 5. 8. 1876. „Deutschland und die orientalische Frage", Deutsche Kämpfe II, Vgl. auch Bonapartismus IV, S. 252; Deutsche Geschichte II, S. 463. „Deutschland und die orientalische Frage", Deutsche Kämpfe II,



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Vollends nach dem Attentat vom 13. März 1881, dem Alexander II. zum Opfer gefallen war, und zumal Rußland wieder in die Bahnen des Dreikaiserbundes zurücklenkte, gilt ihm das von den revanchelustigen Franzosen ersehnte Bündnis vorläufig noch mehr als indiskutabel1). Erst im letzten Band der „Deutschen Geschichte", der verschiedentlich Bemerkungen enthält, die, obzwar auf frühere historische Situationen angewandt, doch deutlich wahrnehmbar aus seiner politischen Gegenwart geschöpft sind, gesteht er den Bündnisfall zögernd ein 2 ). Während nun Treitschke 1876 aus den soeben besprochenen Gründen Bismarcks Bestrebungen um den Weiterbestand des Dreikaiserbundes eifrig seine publizistische Unterstützung leiht, artet sein Bemühen, die liberale Öffentlichkeit von der „Phraseologie des Krimkrieges", „von der Russenfurcht des Jahres 1854" 8 ) abzuziehen, in offene Angriffe aus gegen den aktivsten russischen Gegenspieler auf dem Balkan, gegen England; die englische Orientpolitik, die auf die Fortexistenz eines so „überlebten Staatsgebildes" abzielte, wie es die Türkei nach Treitschkes Meinung darstellte, wird mit einer Fülle heftiger und, wie Leipprand sie charakterisiert, unvernünftiger Vorwürfe überhäuft4). Zu einer Zeit, da Bismarck verschiedentliche Versuche unternahm, die Beziehungen des Reiches zu England auszubauen, um das in seiner bisherigen Form als unzulänglich erwiesene Dreikaiserbündnis durch ein gewisses Gegengewicht zu korrigieren und gerade Rußland einige Schranken seiner Bewegungsfreiheit aufzuerlegen8), brach Treitschke mit England; was sich bei ihm schon 1870/71 angebahnt hatte, das besiegelte der Verlauf der Orientkrise endgültig; hatte er doch aus dem Dunkel der Balkanwirren die ersten Umrisse des modernen englischen Imperialismus hervortreten sehen8). Diese ganz subjektive leidenschaftliche Kampfstimmung l ) „Zur Lage" v. 10. 4. 1881, Deutsche Kämpfe, Neue Folge, S. 143. *) Daselbst heißt es: „Rußland und Frankreich waren durch keinerlei Gemeinschaft der Interessen aufeinander angewiesen; was gleichwohl den Gedanken eines französisch-russischen Bündnisses jetzt wieder belebte, war allein der Haß gegen das erstarkende Mitteleuropa und da dieses Empfinden im Westen wie im Osten die Gemüter wirklich beherrschte, so konnte vielleicht dereinst noch eine Zeit kommen, ,wo der krankhafte politische Plan sich verwirklichte." (Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 463.) (1894.) 3 ) „Deutschland und die orientalische Frage", Deutsche Kämpfe II, S. 416. *) Vgl. Näheres bei Leipprand, S. 60 ff. *) Vgl. Rothfels, Bismarcks englische Bündnispolitik, S. 21. *) Vgl. Leipprand, S. 67.



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gegen das Inselreich, die ihn fortan bis an sein Lebensende beherrschte, beeinflußte naturgemäß auch aufs stärkste seine europäischen Kombinationen; insbesondere in bezug auf Frankreich erwachsen daraus neue Gesichtspunkte, deren Spuren schon in dem Aufsatz über die Türkei verfolgbar sind. Mit dem Unterton der Anerkennung vermerkt er hier die einsichtsvolle französische Politik und „die vielen Proben behutsamer Mäßigung"* die der Herzog Decazes gegeben habe 1 ) — derselbe Minister, der doch ein Jahr zuvor erst böswillig gegen Deutschland intrigiert hatte 2 ). Und wenn er bei der Besprechung der mutmaßlichen Haltung der einzelnen Großmächte von Frankreich sagt, als Mittelmeermacht könne es den übermäßigen englischen Einfluß im Südosten nicht wünschen8), so klingt daraus die Hoffnung, es werde also auch nicht die englische Orientpolitik unterstützen. Damit ist schon ein Gedanke angedeutet, auf den Treitschke seither immer wieder zurückkommt^ Um die Jahreswende 1877 zeigt sich ganz klar, worauf seine Schlußfolgerungen hinauslaufen: er beklagt geradezu, daß sich Frankreich in seiner auswärtigen Politik gleichsam selbst festgenagelt habe aus Haß gegen Deutschland. „Frankreich verurteilt sich freiwillig zu untergeordneter Stellung in der Staatengesellschaft und vernachlässigt absichtlich seine großen und berechtigten Interessen im Mittelmeer, worüber man sich mit Deutschland sehr wohl verständigen könnte" 4 ). J e mehr sich in der Folge Treitschkes Gegensatz zu England versteift, desto betonter erscheint der Wunsch, Frankreich möge sich der Vorteile einer praktischen Zusammenarbeit mit Deutschland bewußt werden und auf seine unnatürliche, allein von der Revanchestimmung diktierte Isolierung verzichten., Als Basis einer Verständigung behält er dabei immer die Mittelmeerfragen im Auge; denn die Mittelmeerwelt krankte nach seiner Meinung, außer an der Fäulnis des osmanischen Reiches, an dem Hauptübel der britischen Fremdherrschaft zur See 5 ); hier erblickt er darum auch die geeignetste Angriffsfläche gegen England 6 ). „Die Türkei und die Großmächte", Deutsche Kämpfe II, S. 400. ) Vgl. Wahl I, S. 362 ff.; Egelhaaf, Geschichte der neuesten Zeit. Bd. I, S. 100f. 3 ) „Die Türkei und die Großmächte", Deutsche Kämpfe II, S. 400. 4 ) „Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877", Deutsche Kämpfe II, S. 452. 5 ) „Deutschland und die orientalische Frage", Deutsche Kämpfe II, S. 418. ') Vgl. „Die Türkei und die Großmächte", S. 361: „die Zeit wird und muß kommen, da Gibraltar den Spaniern, Maltha den Italienern... und das a

— 103 — Zugleich aber dürfte sich Treitschke eine, ihm dringend geboten erscheinende Entlastung der deutschen Westgrenze davon versprochen haben1), falls es Frankreich mit deutscher Unterstützung ermöglicht würde, seinen Einfluß in dieser seiner natürlichen Interessensphäre zu vergrößern. Insofern begegnet er einigen Gedankengängen, die Bismarcks französische Politik seit der Mitte der 70er bis in die 80er Jahre hinein bestimmten. Um die Revanchebewegung abzulenken, hatte sich Bismarck bereits 1875 prinzipiell entschlossen, die französische Kolonialpolitik zu unterstützen; so setzte er sich 1881 nachdrücklich für die Ergreifung von Tunis durch Frankreich ein2). Daneben aber begünstigte Bismarck auch eine gewisse englisch-französische Annäherung, die ihm aus demselben Grunde erwünscht war; durch das friedensselige England sollte ebenfalls ein Druck auf die französische Aggressivität ausgeübt3) und Frankreich zudem das Gefühl der Isolierung erspart werden, um es nicht Rußland in die Arme zu treiben; in diesem Sinn befürwortete der Kanzler später das Kondominat der beiden Mächte in Ägypten4). Nach Treitschkes Kombinationen hingegen hätte eine aktivere französische Mittelmeerpolitik dazu dienen sollen, Frankreich mit England zu entfremden, als gangbarster Weg, es zu näherer Fühlungnahme mit Deutschland und letztlich zum Anschluß an eine gemeinsame Front der kontinentalen Staaten gegen das Inselreich zu bewegen5), Mittelmeer den Völkern der mediterranischen Lande gehören wird". Vgl. weiter „Zum Jahresanfang" 1878, Deutsche Kämpfe II, S. 484f., bezeichnend auch was Treitschke im 5. Band der Deutschen Geschichte über Bunsen sagt: „Wie zornig klagte Bunsen, als die Mittelmeermacht Frankreich sich in ihrem Hafen Toulon einige neue Kriegsschiffe erbaute; er meinte, „es wäre eine Wohltat für Europa, wenn England die Anmaßung der Bourbonen im Mittelmeere demütigte". An der mediterranischen Fremdherrschaft der Briten fand dieser Deutsch-Engländer nichts auszusetzen." (S. 526.) „Ein tragisches Schicksal bleibt es doch", sagt Treitschke später einmal, „daß unsere diplomatische Tätigkeit so ganz aufgehen muß in der Behütung der neuen Westgrenze und für andere große Aufgaben der auswärtigen Politik keine Kraft mehr frei hält", wobei an die Kolonisation gedacht ist. („Zur Lage" 1883, Deutsche Kämpfe, N. F., S. 272 f.) >) Große Politik, Bd. II, S. 291; III, S. 387 t. 3 ) Vgl. Bismarcks Diktat für das Auswärtige Amt v. Nov. 1879, Große Politik III, S. 1 3 1 f. (auch das Diktat v. Okt. 1876, Große Politik II, S. 69ff ). 4 ) Große Politik III, S. 394!. ') Vgl. „Unsere Aussichten" v. 15. 1 1 . 1879: „Der Kampf um Asiens Zukunft scheint in der Tat heranzunahen. (Zwischen England und Rußland.) Ein solcher Krieg berührt aber so viele Lebensfragen des Abend-

— 104 — die als die leitende Idee namentlich der letzten Periode seines Lebens angesprochen werden darf, der er nach der deduktiven Art seines Denkens, alles übrige unterordnete. Im Rahmen dieser Gedankenreihe, die sich Treitschke aus der Orientkrise ergab, ist seine erste und einzige eingehendere Betrachtung der innerfranzösischen Verhältnisse nach 1870, am Jahresschlüsse 1877, von symptomatischer Bedeutung; den unmittelbaren Anlaß dazu bildete die innerpolitische Krise Ende des Jahres 1877, das Frankreich heftige parteipolitische Kämpfe zwischen Republikanern und Ultramontanen gebracht hatte, wobei es sich im Kerne um die Frage der konstitutionellen oder parlamentarischen Regierungsform handelte. Die Kammerwahlen vom Oktober 1877 hatten zum ersten Male eine klare republikanische Mehrheit geschaffen, die schließlich den widerstrebenden klerikalen Präsidenten der Republik, den Marschall Mac Mahon zwang, sein ultramontanes Ministerium durch ein dieser Mehrheit entsprechendes republikanisches zu ersetzen1). Treitschke beobachtete den Verlauf dieser Krise mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit, jedoch nicht um dieser untergeordneten verfassungspolitischen Kämpfe, sondern um der bedeutungsvollen Zusammenhänge willen, die sie mit den europäischen Machtverhältnissen verknüpften. Was die streitenden Parteien anbelangt, so mißtraute er beiden gründlich, mehr noch als der ultramontanen der republikanischen — obwohl sie damals den Ruf einer Friedenspartei genoß — weil sie zwar versteckter, aber besonnener und beharrlicher als die andere auf den Vergeltungskrieg, den eigentlichen Angelpunkt auch ihres Programmes, hinarbeitete. Ein durchschlagender Erfolg der einen wie der anderen erschien ihm gleichermaßen verhängnisvoll und auf jeden Fall die Kriegsgefahr bedenklich näher rückend2). Darum dünkt ihn unter diesen Umständen ein Kompromiß als das im deutschen Interesse annehmbarste8). Im übrigen aber glaubte er noch immer nicht, daß die Republikaner ihren momenlandes, die Unterwerfung des östlichen Mittelmeeres unter Englands Alleinherrschaft wäre für die anderen mediterranischen Lande, vor allem für Frankreich, so ganz unannehmbar, daß die französische Republik in dieser Krisis ihre bisherige zuwartende Haltung nicht mehr wird behaupten und die letzte Entscheidung kaum anders als durch irgendeine europäische Koalition wird erfolgen können." (Deutsche Kämpfe, N. F., S. 14. Siehe unten S. ixo). *) Am 14. 12. 1877. *) „Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877", Deutsche Kämpfe II. S. 4533 ) Der eb.?n zitierte Aufsatz wurde am 10. 12. 1877 verfaßt.

— 105 — tanen Vorteil zu behaupten vermöchten. Es wurde schon in anderem Zusammenhange dargelegt, weshalb Treitschke die republikanische Staatsform als eine für Frankreich unpassende und auf die Dauer nicht haltbare Institution ansah 1 ). So betrachtete er auch den Beschluß von 1875, durch welchen die Republik manifestiert wurde2), nur als einen „Notbehelf" 3 ), ein Provisorium, über welches die letzte Entscheidung noch ausstand. Diesen Wendepunkt vermutete er jetzt in Bälde erreicht. Eine friedliche Entwicklung des Staatswesens sei nicht mehr zu erwarten, schreibt er in der am 10. Dezember 1877 verfaßten politischen Ubersicht, „selbst wenn der gegenwärtige Streit notdürftig beigelegt werden sollte. Die Leidenschaften der Parteien flammen zu heiß, der Widerspruch der republikanischen Phrase und der harten Tatsache der napoleonischen Verwaltung ist unversöhnlich. Das Beste, was wir Frankreich wünschen können, ist rasche Entscheidung durch niederschmetternden Schlag" 4 ). Ohne Zweifel dachte Treitschke dabei an einen Staatsstreich5), und zwar von Seiten der Bonapartisten6). Wenn er der Sache der Bonapartisten noch immer Aussichten zubilligte in einem Augenblick, in dem die Monarchisten, unter denen die Bonapartisten zudem in der Minderheit waren7), soeben eine offenkundige Niederlage erlitten hatten, so deshalb, weil er auf Grund seiner früheren historischen Erkenntnisse den Bonapartismus, trotz seines sittlichen Tiefstandes, als einzige Partei wertete, die „ein erreichbares Ziel" verfolge; sein Ideal sei „die einzige Verfassung, die sich der Verwaltungsordnung des Staates harmonisch einfügt" 8 ). Bei aller Gemessenheit der Treitschkeschen Ausdrucksweise wird man dennoch !) Vgl. oben S. 47 f. u. S. 92. l ) Am 30. i. 1875 hatte die Nationalversammlung ein Gesetz angenommen (mit 353 gegen 352 Stimmen), wonach an der Spitze der Republik ein Präsident mit siebenjähriger Amtsdauer stehen sollte. 3 ) „Die europäische Lage am Jahresschlüsse' , Deutsche Kämpfe I I , S. 448. *) A. a. O., S. 455. ') Vgl. die Eingangsbemerkung dieser politischen Übersicht: „Frankreich treibt wieder einmal einem Staatsstreich zu." (A. a. O., S. 446.) *) „Immer deutlicher hebt sich am Horizonte Frankreichs das Gestirn des vierten Napoleon empor. Der Stodenbock, der am 4. 9. 1870 auf dem Altar der nationalen Eitelkeit feierlich geschlachtet wurde, ist unverkennbar noch am Leben und erfreut sich bester Gesundheit." (A. a. O., S. 455.) ') Die Wahlen vom 14. 10. 1877 hatten 320 republikanische Abgeordnete und 210 Monarchisten ergeben, darunter 100 Bonapart iste». •) „Die europäische Lage", Deutsche Kämpfe, S. 456.



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sagen dürfen, daß eine solche Lösung ihm mindestens nicht unsympathisch gewesen wäre. Welche Motive aber, so müssen wir uns fragen, ließen ihn einer Restauration des Bonapartismus geneigt sein, wobei er sich •doch in einem geradezu elementaren Gegensatz zur Auffassung Bismarcks befand? Die republikanische Staatsform in Frankreich ist bekanntlich immer ein ganz wesentlicher Faktor der gesamten Bismarckschen Bündnispolitik geblieben, welche Abwandlungen sie auch erfahren hat. Fast brutal schlug er Versuche, diese seine Absichten zu durchkreuzen, nieder, wie die Affäre Arnim zur Genüge beweist1). Er lockerte sein System der Isolierung Frankreichs2) erst, als der republikanische Charakter des französischen Regimes eindeutig zutage trat. Dagegen scheint Treitschke zunächst von der Überlegung ausgegangen zu sein, daß eine Rückkehr zur monarchischen Staatsform zugleich mit einer inneren Konsolidierung auch eine gewisse Stetigkeit der äußeren Politik gewährleisten würde, indem allzu häufige Parteien- und Ministerwechsel, die in parlamentarischen Staaten oft auf unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten gerade hinsichtlich der äußeren Politik beruhen, wegfielen3). Gewichtigstes Argument aber war wohl, daß er sich von einer monarchischen Staatsführung, und zwar im bonapartistischen Geiste, erwartete, sie werde die freiwillige Isolierung preisgeben und eine vernünftige Interessenpolitik, in seinem oben angedeuteten Sinne, pflegen4) und nicht auf dem unfruchtbaren Revanchestandpunkt beharren. Die Voraussetzung zu dieser Annahme liegt in der Umbildung seines Urteils über den Charakter der Revanchebewegung, die sich anscheinend unter den Eindrücken seiner Frankreichreise von 1876 vollzogen hat. Verschiedene Bemerkungen weisen darauf x ) Vgl. dazu Mareks, Bismarck, S. 1 5 1 f.; Wahl, Deutsche Geschichte I, S . 22. a ) Vgl. o. S. 103, Anm. 2. Rothfels, Bismarcks engl. Bündnispolitik, S . 60. s ) So schreibt Treitschke beispielsweise über den Abschluß des italienischen Bündnisses: „Den Herzensneigungen der Italiener... würde ein Bündnis mit dem stammverwandten Frankreich unzweifelhaft willkommener sein als ein Bund mit dem vielhundertjährigen Feinde, dem tedesco.. Erst nach mannigfachen bitteren Enttäuschungen hat die italienische Regierung den Mut gefunden, diesen Verirrungen offen entgegenzutreten. Sie mußte erst lernen, wie unzuverlässig die auswärtige Politik Frankreichs bleibt, solange die wunderbare Staatsform der parlamentarisch-bureaukratischen Republik mit ihren ewigen Ministerwechseln besteht." („Zur Lage" v. 20. 5. 1883, Deutsche Kämpfe, N. F., S. 271t.) 4

) Vgl. o. S. 102 ff.

— 107 — hin, daß er die Revanche nicht als ein aus den Tiefen des Volkes aufsteigendes Verlangen, sondern mehr als eine vom Ehrgeiz der Berufspolitiker am Leben erhaltene Bewegung beurteilte 1 ). Die friedliche Gesinnung der breiten Massen, das starke Ruhebedürfnis des Landes wird in seinen tagespolitischen Schriften immer wieder hervorgehoben 2 ); bezeichnenderweise führt Treitschke den Wahlerfolg der Republikaner von 1 8 7 7 nicht etwa auf eine Lebendigkeit des republikanischen Ideals im Volke, sondern auf die offiziell zur Schau getragene Friedensliebe dieser Partei zurück 3 ). Auf seiner Reise hatte er einen „entschieden unmilitärischen Charakter der heutigen Franzosen" konstatiert 4 ) und überhaupt den Eindruck mitgenommen, „daß die Masse des Volkes ganz gewiß nicht so grimmige Empfindungen des Hasses gegen uns hegt, wie wir einst gegen Napoleon I . " „Aber selbstverständlich", fügt er in einem Briefe an Tudichum hinzu, „ist die nichtswürdige Pariser Presse jederzeit in der Lage, die wetterwendische Nation in einen Krieg gegen uns zu hetzen" 5 ). Daraus hat er wohl gefolgert, daß ein unmittelbar auf die Masse gestütztes Regiment deren Friedensstimmung besser Rechnung tragen würde, was sich dann auch in einer friedlicheil Politik nach außen auswirken müßte 6 ). „Die Hoffnung auf die Revanche beherrscht alle französischen Berufspolitiker mit verschwindenden Ausnahmen, obgleich die Masse des Volkes entschieden den Frieden wünscht." („Die europäische Lage am Jahresschlüsse", Deutsche Kämpfe II, S. 452.) *) Vgl. „Die Türkei und die Großmächte", Deutsche Kämpfe II, S. 400; „Die europäische Lage am Jahresschlüsse", ebenda; „Zum Jahresanfang 1878", ebenda S. 478. 3 ) „Dem Scheine der Friedensliebe verdanken sie ihren jüngsten Wahls i e g " , . . . „die Masse will R u h e . . . und hegt das unbestimmte Gefühl, daß die geistlichen Ratgeber des Präsidenten das Land leicht in einen unheilvollen Krieg stürzen können." („Die europäische Lage", Deutsche Kämpfe II, S. 453.) 4 ) „Mir machen die heutigen Franzosen, trotz der massenhaften, nicht mehr ganz unsauberen Soldaten, überall den Eindruck einer entschieden unmilitärischen Nation", schreibt er an Frau v. Treitschke am 13. 9. 1876, Briefe I I I , S. 437; vgl. auch Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 709. e ) Briefe III, S. 437, v. 2. 10. 1876; vgl. auch den Brief v. 13. 9. 1876: „Die Wut gegen uns ist in der Presse und unter den Pfaffen noch ungeheuer —• ob auch unter dem Volk möcht ich bezweifeln." (Briefe III, S. 437) und den Brief v. 22. 9. 1876 an Fr. v. Treitschke (Briefe III, S. 440). *) „Der Bonapartismus verspricht dem Gleichheitsfanatismus, der Bigotterie und der Ruheseligkeit der Massen gleichmäßig gerecht zu werden." (Die europäische Lage, S. 456); „so wirken in der Tat viele ehrenwerte und klägliche Motive zusammen, um den gedankenlosen friedfertigen



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Der historische Entwicklungsgang des französischen Staatslebens hat diesen Erwartungen nicht entsprochen. Hatte Mac Mahon schon in der Frage des Ministeriums nachgeben müssen, so sah er sich, als auch in den Senatswahlen vom Januar 1879 die Republikaner den Sieg errangen, schließlich genötigt, den Präsidentenstuhl dem Republikaner Grevy zu überlassen1). Gerade diese republikanische Ära aber stand sichtlich unter dem Zeichen der deutsch-französischen Zusammenarbeit, wie sie sich Treitschke gewünscht hatt% an deren grundsätzlicher Tendenz selbst die Ministerschaft des von Treitschke, übrigens mit einigem Rechte, als das eigentliche Haupt der Revanchebewegung gefürchteten Gambetta2) nichts zu ändern vermochte. Bismarck gelang es in der Tat, wenigstens auf absehbare Zeit, durch stete bereitwillige Förderung der französischen Kolonialpolitik den unruhigen Nachbarn in kolonialpolitischen Erfolgen und Kämpfen festzulegen und seine Gedanken von der Vogesengrenze abzulenken, welche Politik andererseits nicht ohne Einfluß auf das deutschenglische Verhältnis blieb. Vermied er es auch streng, den Anschein zu erwecken, die beiden Mächte gegeneinander aufzustacheln — einen englisch-französischen Krieg bezeichnete er einmal als ähnliche Kalamität für Deutschland wie etwa einen österreichischrussischen3) —, so war ihm doch ein gewisser Spannungszustand zwischen beiden, als Folge der wachsenden Rivalität Frankreichs in Afrika, im Interesse der deutschen kontinentalpolitischen Position recht vorteilhaft. Auch spielte er zeitweilig das deutschfranzösische Einvernehmen gegen England aus4) und schritt, als die Bemühungen, seine Überseepolitik auf dem Wege der deutschenglischen Verständigung durchzuführen, mißlangen, sogar soweit, England mit einer Assoziation der anderen handeltreibenden Nationen gegen das britische Seemonopol zu drohen5), was freilich keinen totalen Umschwung seiner englischen Politik bedeutete, wie bei Treitschke, sondern nur als momentanes politisches Pressionsmittel angewendet wurde. Haufen, der beim allgemeinen Stimmrecht den Ausschlag gibt, fttr die Herrschaft des vierten Napoleon günstig zu stimmen." (Ebenda, S. 456.) Vgl. Egelhaaf, Geschichte der neuesten Zeit, Bd. I, S. 82. J ) Vgl. Brief v. 9. 7. 1880: „Mit einem Male kann Gambetta am Ruder sein", schreibt Treitschke darin an Nokk, „und dann kommt die Revanche". (Briefe III, S. 518; auch den Brief v. 31. 1. 1880 an Hirzel, Briefe III, S. 518.) 3 ) Vgl. Große Politik III, S. 431. *) Vgl. den Erlaß Bismarcks v. 5. 5. 1884, Große Politik IV, S. soff, u. 58f. 5 ) Vgl. Große Politik III, S. 4 1 3 ! .

— 109 — Treitschke hat auch in dieser Periode der Zusammenarbeit nie ganz den Argwohn gegen das republikanische Regiment überwunden. Nach dem Rücktritt Mac Mahons beurteilte er die inneren Verhältnisse Frankreichs noch immer als so ungeklärt, daß er ein Wiedererwachen der Kommune nicht für unmöglich erachtete und sich gedrungen fühlte, angesichts „der dunklen Wolken, die am westlichen Horizont aufsteigen", die Deutschen zur Eintracht zu mahnen1). 1881 muß allerdings auch er eingestehen, daß die Haltung der Republik gegen das Ausland „in den letzten drei Jahren musterhaft besonnen" war2), und 1883, „daß sich Frankreich an die neue haltbarere Machtverteilung zu gewöhnen beginnt" 3 ). Völlig unbegründet war sein Mißtrauen indessen nicht, in diesem einen wesentlichen Punkte hat er immerhin recht behalten ; jede französische Regierung war im Grunde deutschfeindlich, auch die opportunistische Richtung unter den Republikanern war nur vorübergehend zur Zusammenarbeit mit dem alten Feinde bereit und hatte die Revanchepläne zwar zurückgestellt, aber keineswegs aufgegeben, wie denn auch mit dem Sturze des Ministeriums Ferry 4 ) diese Bewegung jäh ins Gegenteil umschlug und die radikalen Kräfte wiederum die Oberhand gewannen. In der Person des Generals Boulanger verkörperte sich die Idee des Rachekrieges. Im Winter 1886/87 spitzte sich die Lage derart bedenklich zu, daß Treitschke den Krieg mit Frankreich für „vollkommen sicher" hielt, ja er fand es anscheinend gar nicht einmal ratsam, dem drohenden Ausbruch auszuweichen8). Wie Treitschke über die Gefahr des Zweifrontenkrieges, die sich zum ersten Male recht deutlich abzeichnete, gedacht hat, wissen wir nicht, wie wir denn für das letzte Jahrzehnt seines Lebens auf einige wenige briefliche Bemerkungen und private Überlieferungen „Zur Lage" v. 10. 3. 1879, Deutsche Kämpfe II, S. 52of. ) „Zur Lage" v. 10. 4. 1881, Deutsche Kämpfe, N. F., S. 145. 3 ) „Die ersten Versuche deutscher Kolonialpolitik", Deutsche Kämpfe, N. F., S. 351 (1884). 4 ) Im Oktober 1885 (vgl. Egelhaaf I, S. 201). 5 ) Vgl. den Brief v. 25. 3. 1886 an Nokk: „Mit der französischen Republik geht es schnell abwärts, der Krieg kann über Nacht hereinbrechen." (Briefe III, S. 578); am 28. 1. 1887 schreibt Treitschke an Hirzel: „Ich halte die Lage für sehr ernst und den Krieg mit Frankreich für vollkommen sicher, wenn nicht etwas ganz Unerhörtes geschieht. Sollen wir etwa warten, bis Boulanger seine 86 Millionen zur Panzerung der Ostfestungen verwendet hat ? Bis jetzt ist unser Belagerungspark diesen Wällen noch überlegen. Also müssen wir schlagen, wenn es in Ehren nicht anders geht." (Briefe III, S. 587.) 2



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angewiesen sind; persönliche Umstände, der Abschied von der alten Stätte seines politischen Wirkens, den Preußischen Jahrbüchern, und die konzentrierte Arbeit an der „Deutschen Geschichte" brachten es mit sich, daß er zu den aktuellen Themen der auswärtigen Politik nicht mehr öffentlich Stellung nahm. Soviel ist indessen gewiß, daß Treitschke im Prinzip ein Zusammengehen Frankreichs und Deutschlands noch immer als das wirksamste Mittel betrachtete, die „kontinentalen Intrigen der perfiden Inselländer" abzuwehren1). Freilich mußte er sich selbst sagen, daß vorderhand alle Voraussetzungen hierfür mangelten, und wenn er schreibt, er beklage es tief, daß sich die Franzosen so auf das Elsaß festgenagelt und „sich dadurch von uns, ihrem natürlichen Verbündeten, getrennt hätten" 2 ), so liegt darin sein Eingeständnis und die Resignation, daß dieser Gedanke lediglich ein frommer Wunsch bleiben mußte3). Auffällig ist der Ton von Sympathie, der hierbei laut wird, für den die eine Erklärung, seine Antipathie gegen England und infolgedessen Hinneigung zu Frankreich, also eine Erklärung aus rein politischen Motiven, offenbar nicht ausreicht; es entsteht die Frage, inwiefern vertieftere Bindungen des Menschen Treitschke, der sich zeitlebens in einfühlendem Verstehen um die Problematik französischer Wesensart bemühte, als wirksam angenommen werden dürfen. ') So erzählt Robert Michels in seinen persönlichen Erinnerungen an Treitschke, daß er sich (1891) prinzipiell für eine Verständigung mit Frankreich ausgesprochen habe, als wirksamstes Mittel, den kontinentalen Intrigen der perfiden Inselländer entgegenzutreten. (Gustav Schmoller in seinen Charakterbildern, Internat. Monatsschrift, Bd. VIII, 1914.) Vgl. ferner die mündlichen Angaben Prof. Michels' bei Leipprand, S. 74, Anm. 149. 2 ) Briefe III, S. 6i6f. an Lotte Hegewisch v. 7. 9. 1890. 3 ) Vgl. was Treitschke im V. Bande der Deutschen Geschichte (1894) über das preußisch-französische Verhältnis nach 1815 sagt: „Durch die unversöhnliche Rachsucht der Franzosen wurden Preußen und Frankreich ein Vierteljahrhundert auf eine Stelle festgebannt; beide Staaten waren verhindert, ihre natürliche Interessengemeinschaft zu erkennen und der friedlichen Welteroberung, welche Englands Handelspolitik in der Stille einleitete, rechtzeitig entgegenzutreten." (Deutsche Geschichte V, S. 62f.)

VI. TREITSCHKE ALS MENSCH.

Überblicken wir Treitschkes Haltung zu Frankreich, so charakterisiert sie sich, wenn sich auch die schroffen, absolut negierenden Formen seiner Jugend weitgehend abgeschliffen und gewandelt haben, in machtpolitischen Belangen immer als eine gegnerische, mit der einzigen Ausnahme seines Alters, da er diese Gegnerschaft als gezwungen und im Grunde unnatürlich empfand; dort, wo es sich um politische Ideale handelt, ist sie, bis zuletzt,, stets eine kämpferische gewesen mit dem Ziele der unbedingten Abwehr französischer Einflüsse auf das deutsche politische Leben. Jedoch, es hieße den ursprünglichen tiefsten Sinn dieses Kampfes für absolute geistig-politische Unabhängigkeit verkennen, würde man ihn als Selbstzweck begreifen. Das Bewußtsein der Kraft zur schöpferischen Gestaltung seines Staatswesens, ohne sich an fremde Vorbilder zu klammem, wollte er seinem Volke festigen,, damit es, ruhend in dieser Kraft und am Rückhalt eines starken,, nach eigenen Bildungsgesetzen geformten Staates, endlich den Weg zu jener ruhigen Selbstsicherheit fände, deren Fehlen, wie er in seiner „Deutschen Geschichte" bekundet, ein Unheil für beide Völker war 1 ) und die ihm doch als unerläßliche Vorbedingung galt für möglichst unbegrenzten Austausch auf dem weiten Gebiet, wo er wahrhaft fruchtbar sein konnte, auf dem Gebiet der kulturellen Beziehungen. Man darf sagen, es gehört zu den Glaubenssätzen Treitschkes,. daß der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der modernen abendländischen Kultur, im Gegensatz zu der des klassischen Altertums, auf dem Bedürfnis wechselseitiger Ergänzung zwischen den einzelnen Kulturnationen beruht, da es keinem Volke beschieden ist, nach allen Richtungen hin produktiv zu sein, ja daß im unbehinderten Aufnehmen, selbständigen Verarbeiten und Umbilden fremder Kulturelemente eine immer wieder verjüngende Kraftquelle der modernen europäischen Völker liegt2). Und zumal zwei so hochbegabte und doch so verschieden geartete Völker, wie das x

) Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 701. ) Vgl. „Die Freiheit", Hist. pol. Aufs. III, S. 3 f . ; Bonapartismus I, S. 1 0 1 ; „Parteien und Fraktionen", Hist. pol. Aufs. III, S. 578. 2



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deutsche und das französische, schienen ihm zu gegenseitiger Ergänzung berufen. Von diesem Standpunkt aus blieb es fürTreitschke immer ein freilich schicksalhaftes Verhängnis, daß der eigenartige Verlauf der deutschen Geschichte, hauptsächlich die unorganische Entwicklung des Einheitsgedankens und der dadurch bedingte Mangel an gesundem nationalen Selbstbewußtsein, den Deutschen kein ausgeglichenes Verhältnis zu ihren Nachbarn ermöglichte, sondern ihr Urteil über die Franzosen sich beständig in Extremen bewegte, zwischen grimmigem Haß und ebenso maßloser Bewunderung und Überschätzung hin und her schwankte1). Von jenen Geistesrichtungen aber, die diese Stimmungen auch in das geistige Leben der Nation hineintrugen, hat sich Treitschke mit aller Deutlichkeit distanziert. Schonungsloser als er ist kaum jemand mit dem frankophilen jungdeutschen Radikalismus, der alle seine Ideale in Frankreich suchte, ins Gericht gegangen; mit unnachsichtiger Strenge hat er seiner Mitwelt das von Grund aus undeutsche Wesen dieser Literaten unter Führung von Börne und Heine enthüllt, deren Verhöhnung und Verspottung alles Deutschen die Jugend dem nationalen Denken entfremdete und die ihm in ihrer sklavischen Bewunderung und Nachahmung des für „vornehmer" gehaltenen Französischen tiefen Abscheu einflößten2). Aber auch die „teutonische Schwärmerei", die von den Anhängern des Turnvaters Jahn gepflogen wurde, empfand er als nichts weniger denn eine gesunde und erfreuliche Erscheinung, vielmehr als bedauerliche Folge der „krankhaften Verbitterung" gegen das Ausland, vornehmlich gegen Frankreich, die sich der jungen Generation nach den Freiheitskriegen bemächtigt hatte3). Der rauhe Franzosenhaß dieser jungen Teutonen und ihre „Deutschtümelei" muteten ihn letzten Endes als ebenso abwegig an, wie die dadurch ausgelöste radikale Reaktion, die Frankophilie des „jungen Deutschland". Das weltbürgerliche Element in Treitschke, im Geistigen immer sehr aktiv, empörte sich gegen dieses Wettern über „welsches Wesen und welschen Tand", über „die französische Schmutz- und Giftsprache" und erschwerte ihm erheblich das Verständnis für die ihm ohnehin in ihrer Derbheit fernstehende Persönlichkeit Jahns und seiner Scharen4). Die meisten Bedenken aber hegte er hinsichtlich der „prahlerischen Selbstgefälligkeit und hochmütigen Überhebung", die sich hinter x

) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 301; Bd. III, S. 701. ) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. III. S. 701; Bd. IV, S. 433ff.; Bonapartismus II, S. 152 f. 3 ) Vgl. Deutsche Geschichte I, S. 301. *) Vgl. Deutsche Geschichte II, S. 390ff. 2

— 113 — diesem Aburteilen in Bausch und Bogen verbargen, er vermochte sie nicht nur als Auswüchse jugendlich überschäumender Begeisterung zu entschuldigen. Treitschke hielt es demgegenüber gerade erst recht für geboten, die politischen Spannungen durch Auffinden des beide Völker Verbindenden zu überbrücken und hat mit besonderem Nachdruck auf ihre Gemeinschaft vieler Kulturgüter hingewiesen, wie sie sich ihm in der gotischen Kunst offenbarte1), und selbst im Code Napoleon, dieser so ganz auf die Bedürfnisse des französischen Staatslebens zugeschnittenen Schöpfung Napoleons I.2), Elemente des altgermanischen Rechtslebens aufzuzeigen gewußt3). Er fühlte sich verpflichtet, an die wertvollen Anregungen und Bereicherungen zu erinnern, die das französische Kunstschaffen dem deutschen vermittelte, daß ein Schiller als Dramatiker sich an der strengen Komposition der französischen Tragödie bildete4), daß in der Malerei Schadows Schule dem technischen Können wieder zu Ehren verhalf, indem sie es „nicht verschmähte, von den Franzosen zu lernen"6). Neidlos, ja freudig hat Treitschke stets bekannt, wieviel die deutsche politische Arbeit den Ideen, Taten wie auch den Irrtümern der Franzosen verdankt6) und unumwunden zugestanden, daß „wir noch immer manches von der älteren, tiefer durchgebildeten Kultur des Westens lernen können"7), wie ihm die Jahre nach dem Eintritt aus kleinstaatlicher Enge in die den Deutschen neuen großstaatlichen Verhältnisse, insbesondere die Wirren der Gründerzeit zu beweisen schienen, ohne doch dabei seiner nationalen Würde das mindeste zu vergeben. Nicht allein, daß er dem anders gearteten Volkstum der Franzosen, auch dann, wenn es ihm fremd und schwer zugänglich war, aus dem Adel eigener, alter Kultur heraus mit einer vollendeten Toleranz begegnete; in allen Fragen des geistigen Lebens, im persönlichsten Miterleben und Empfinden alles Großen und Schönen, was der französische Geist hervorgebracht, hat er jene Art in sich hochgehalten, die er stolz eine „echt deutsche" nennt8), dankbare Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber i) A. a. O., S. 45. a ) Vgl. o. S. 48, Anm. 5. a ) Deutsche Geschichte II, S. 222 f. 4 ) Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 202. s ) Deutsche Geschichte, Bd. IV, S. 458. •) Vgl. Bonapartismus V, S. 424. ') Vgl. „Die europäische Lage am Jahresschlüsse 1877", Deutsche Kämpfe II, S. 447; „Die Türkei und die Großmächte", Deutsche Kämpfe II, S. 363. 8 ) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. II, S. 12. Beiheft d. H. Z. 32.

8

— 114 — allem, was die französische Kultur an Wertbeständigem der Welt geschenkt, als Erbe der weltbürgerlichen Epoche des klassischen deutschen Idealismus, und so von der geistigen wie auch von der menschlichen Seite her für seine eigene politische Gegnerschaft einen Ausgleich erzielt und ihr das Scharfe und Verletzende genommen. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen den Gedanken, daß die notwendige und gesunde Austragung machtpolitischer Gegensätze auch eine Schranke im kulturellen Austausch bedingen müsse; darum bedauerte er schon im voraus die Entfremdung, die im Gefolge eines Krieges auftreten könnte1). 1870 aber verursachte es ihm ernste Besorgnis, daß die auflodernde patriotische Begeisterung wieder in die alten teutonischen Entgleisungen zurückverfallen und abermals ein „fratzenhaftes Teutonentum" auferstehen könnte2). Freilich wird die etwas „unzeitgemäße" Note dieser Auffassung Treitschkes nur dann richtig verständlich, wenn man berücksichtigt, daß hier ein Mensch sprach, der in der Selbstsicherheit und Festigkeit seines nationalen Fühlens an den stimmungsmäßigen Schwankungen der vaterländischen Gesinnung, denen die Volksmasse unterworfen ist, keinen Anteil und nichts übrig hatte für deren vergröberte Bedürfnisse, sie nach außen hin zu dokumentieren. Es sollte die erwachte nationale Leidenschaft vertieft, nicht überspannt und verflacht werden! Treitschke war eher geneigt, dort eine gewisse ursprüngliche Schwäche und innere Unzulänglichkeit zu argwöhnen, wo sich übertrieben patriotische Neigungen geltend machten; aus dieser Logik heraus kam er beispielsweise zu der eigenartigen Schlußfolgerung, daß die Idee, die E. von Bändel zu seinem monumentalen Hermannsdenkmal auf der Grotenburg bei Detmold veranlaßt hatte, nämlich ein Symbol zu schaffen für* den ewigen Kampf der Germanen wider die welsche, insbesondere die französische Tücke, von den Franzosen als Zeichen einer heimlichen germanischen Schwäche gedeutet werden und sie nur in ihrem Eigendünkel als „Kulturbringer" bestärken möchte8). Ebensowenig mochte er sich aus ähnlicher Einstellung mit den Sprachreinigungsbestrebungen befreunden, denen doch bei der Angewohnheit des Deutschen, seine Vgl. die Briefe v. 17. 8. 1866 (an Baumgarten, Briefe III, S. 47) und v. 28. 1. 1887 an Hirzel, Briefe III, S. 587; ferner „Zum Jahresanfang 1867", Deutsche Kämpfe I, S. 210; „Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes", Deutsche Kämpfe I, S. 306 u. 3 1 2 . 2 ) Friedenshoffnungen v. 25. 9. 1870, Deutsche Kämpfe I, S. 383; Die Feuerprobe des norddeutschen Bundes, ebenda, S. 320. 3 ) Vgl. Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 225.

— 115 — Sprache mit überflüssigen Fremdwörtern zu belasten, ein gesunder Kern durchaus nicht abzuleugnen ist, zumal uns der übermäßige Gebrauch derselben vom Ausland häufig gerade als Mangel an Achtimg vor der eigenen Kultur ausgelegt wurde. Treitschke, als meisterhafter Beherrscher seiner Muttersprache in Wort und Schrift, hatte auch da keinen Sinn für die propagandistischen Methoden zur Sprachverbesserung; er spottete über diese Beschwörungen „grimmiger Teutonen, alle Fremdwörter ohne Pardon aus dem Heiligtum der deutschen Sprache zu entfernen"1), ohne sich andererseits darum zu bekümmern, ob nicht diesem Verlangen eine für weitere Volkskreise notwendige Abwehr zugrunde lag. Hierbei dürfte allerdings auch noch eine äußere Ursache, sein fast an Taubheit grenzendes Gehörleiden, eine Rolle spielen, indem ihm der unmittelbare Anstoß dazu, die vielfach französierende Umgangssprache, eigentlich nicht vertraut war. Neben dieser, aus einem tiefen sittlichen Idealismus entspringenden Geisteshaltung, ist es bei Treitschke noch ein zweites Moment, das ihn von allen „teutonischen" Haßgefühlen fernhielt und, obschon im gegnerischen Lager stehend, persönlich ein edles Maß beobachten ließ. Zweifellos haben Geist und Wesen des „trotz alledem glänzenden Volkes"2), vielleicht gerade weil sie von diesem so deutschbewußten Menschen als völlig heterogener Art erlebt wurden, einen starken Reiz auf ihn ausgeübt. Im einzelnen gab es gewiß auch manche Eigenheiten des französischen Charakters, die verwandte Saiten seiner eigenen Natur berührten und zum Mitschwingen brachten. So hat er, selbst ein glühender Patriot, dem ausgeprägten Nationalstolz, der wohl höchsten Tugend der Franzosen, seine Hochachtung nie versagt; die unvergleichliche Elastizität der französischen Psyche, die geistreiche Lebendigkeit zogen ihn immer wieder in ihren Bann, ebenso wie der verfeinerte romanische Schönheitssinn seine Wirkung auf die Künstlerseele in ihm nicht verfehlte. Ganz besonders hatte es ihm der altfranzösische Esprit angetan3), wie ihn, gepaart mit liebenswürdiger Anmut, ritterlicher Galanterie und feingeschliffener Sitte das vornapoleonische Frankreich so hoch kultiviert hatte und wie er x)

Vgl. „Luxemburg und das deutsche Reich", Deutsche Kämpfe I I ,

S. 385. 2)

Vgl. Briefe II, S. 366, an Bachmann v . 28. 1 1 . 1864.

*) Rabelais' Gargantua hatte er sich bezeichnenderweise als den „getreuesten wählt".

Vertreter des altfranzösischen Esprit

zum

Reisebegleiter

(Briefe III, S. 437 v. 13. 9. 1876 an Fr. v. Treitschke.)

8*

ge-

— 116 — in Molteres genialen Kunstwerken verewigt ist1). „Die Nation gefällt mir besser als den meisten Deutschen", dahin faßt Treitschke die Eindrücke seiner ersten Frankreichfahrt zusammen2), zumal sich ihm schon das Reisen an sich in dem schönen Lande immer genußreich und anregend gestaltete, von wo er stets dankbar für alles Geschaute, freilich auch mit geschärftem Blick für die Vorzüge seines eigenen Vaterlandes zurückkehrte8). Die „menschliche Liebenswürdigkeit" der Franzosen zählt offensichtlich zu den nachhaltigsten Erlebnissen seiner beiden letzten Reisen4), nicht ohne bei ihm Gegensympathie zu erwecken. Die geistige Annäherung der beiden Nationen, die unter der Regierung Napoleons III. so verheißungsvoll eingesetzt hatte mit der Aufnahme, welche die deutsche Wissenschaft in der französischen Gelehrtenwelt gefunden, hat er nicht nur im allgemeineren Interesse des kulturellen Austausches, sondern auch aus diesem persönlichen Gefühl heraus mit ehrlicher Freude vermerkt, wie er andererseits deutsche literarische Erscheinungen, die sich bemühten, den Deutschen das Verständnis für das französische Leben zu erschließen und die „unberechtigten absprechenden Urteile über Frankreich", die zu seiner Zeit vielfach im Umlauf waren, zu berichtigen, warm begrüßte6). Treitschke glaubte um so mehr an die Fruchtbarkeit eines solchen Austausches als ihm seine eigene Erfahrung dafür Zeugnis lieferte in seinen Beziehungen zu Tocqueville, der ihm von den französischen Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts wohl am nächsten gestanden hat und in seinem Vaterlande kaum höher eingeschätzt wurde als von Treitschke. Wir sahen an anderer Stelle, wie eng verwandt viele Gedankengänge Tocquevilles mit denen Treitschkes sind6); bei Treitschkes Methode, sich auf ein Minimum von Quellenbelegen zu beschränken, gibt erst ein eingehenderer Vergleich darüber Aufschluß, wie häufig er Tocquel ) Vgl. Briefe II, S. 343 v. 6. 1 1 . 1864 an den Vater; vgl. Bonapartismus I, S. 63.

*) Briefe II, S. 343 v. 6. 11. 1864. s)

Briefe II, S. 341; Briefe III, S. 439 v. 19. 9 . 1 8 7 6 an Fr. v. Treitschke; Briefe I I I , S. 438 v. 15. 9. 1876; Briefe III, S. 436, v. 13. 9. 1876. l ) Vgl. den Brief v. 7. 9. 1890 an Lotte Hegewisch: „ I c h muß die Franzosen sehr loben; sie sind ein liebenswürdiges geistreiches Volk, mensch-

lich wie w i r . . . " (Briefe III, S. 616); an Hirzel v. 19. 9. 1890, Briefe I I I , S. 617. *) Vgl. Bonapartismus V, S. 369; Rezension über Kreyßig, Studien zur französischen Kultur und Literaturgeschichte (Berlin 1865) aus dem Literar. Zentralblatt, Hist. Pol. Aufs., Bd. IV, S. 645 f. •) Vgl. o. S. 31 f., 35 f.

— 117 — ville als seinen Gewährsmann benutzt, wie gründlich er seine Werke studiert hat. Dennoch wird man keinesfalls von irgendeiner direkten Abhängigkeit sprechen können. Einmal war es die beiden gemeinsame ethisch-liberale Weltanschauung, von Treitschke ganz aus seinem Selbst heraus entwickelt, die ihn an Tocqueville fesselte; sicherlich hat sich Treitschke an dem scharfgeschliffenen Denken Tocquevilles geschult und von dem älteren gereiften Geist reiche Anregung und Ansporn zu innerem Fortschritt empfangen. Insofern dürfen wir hier von einem Muster eines echten geistigen Austausches, wie ihn Treitschke allgemein ersehnte, reden, als das, was in ihm an wertvollen Anlagen vorhanden war, durch die Beschäftigung mit Tocqueville weitgehend gefördert, aber in voller Selbständigkeit weitergebildet wurde und ihn daher auch zu Kritik und Überwindung einzelner Theorien Tocquevilles führte 1 ). In dem Menschen Tocqueville hat Treitschke stets den wahrhaften Edelmann alten Schlages hochgeachtet und verehrt2). Nach 1870, als die politischen Krisenstoffe, wenigstens von deutscher Seite, nicht mehr eine so unbedingte Trennung zwischen den beiden Völkern bedeuteten, ließ Treitschke seiner menschlichen Sympathie noch etwas weiteren Raum; so dürfte sie dem aus seiner Ansicht über die allgemeine politische Weltlage erwachsenen Wunsch nach politischer Verständigung mit Frankreich8) begünstigend entgegengekommen sein. Obschon Treitschke die Schwächen des französischen Charakters rücksichtslos entblößt hat4), klingt trotz seiner zum Teil recht schroffen Urteile immer wieder eine gewisse Sympathie mit der „in allen ihren Verirrungen stets liebenswürdigen Nation" an5). Eine selten vornehme und loyale Gesinnung bewies er den Franzosen insbesondere da, wo er Dinge erwähnt, die seiner reinen, einem strengen Ethos huldigenden Natur innerlich zuwiderliefen; wenn er moralische Angelegenheiten bespricht, vermeidet er es peinlich, über keltische Leichtfertigkeit, Frivolität und sittliche Verderbtheit hochmütig abzuurteilen6); kleinliches Moralisieren lag seiner großzügigen !) Vgl. o. S. 36, Anm. 4; S. 39t. ) Vgl. Bonapartismus V, S. 308; a. a. O. S. 375 u. 363; von Tocquevilles letztem Brief und seinem Tode (am 16. 4. 1859) fühlte sich Treitschke tief ergriffen. (Vgl. Briefe III, S. 1 1 6 , an E . v. Bodmann v. 21. 1 1 . 1866.) ») Vgl. o. S. 102 ff.